Götterbilder - Gottesbilder - Weltbilder: Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike. Band I: Ägypten, Mesopotamien, Persien, Kleinasien, ... 9783161498862, 3161498860

Im Zentrum der beiden Bände steht der komplexe Zusammenhang zwischen Gottesbildern und Weltbildern in Ägypten, Persien,

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Band I: Ägypten, Mesopotamien, Persien, Kleinasien, Syrien, Palästina
Vorwort zur zweiten Auflage
Vorwort zur ersten Auflage
Inhaltsverzeichnis
REINHARD G. KRATZ und HERMANN SPIECKERMANN: Einleitung
1. Grundsätzliches
2. Die Trias „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder“ im Spannungsfeld von Polytheismus und Monotheismus
3. Fragen und Aufgaben künftiger Forschung
Ägyptische Religion
FRIEDRICH JUNGE: „Unser Land ist der Tempel der ganzen Welt“ Über die Religion der Ägypter und ihre Struktur
1. Die Bedingtheiten der Betrachtung
1.1 Religion in der säkularen und pluralistischen Gesellschaft
1.1.1 Religion als Objekt der Wahl und als Bedürfnis des Gefühls
1.1.2 Die Ausgliederung des Weltverstehens
1.2 Der Prototyp der frühen heidnischen Religion?
1.2.1 Das Bild von der ägyptischen Religion
1.2.2 „Tiergötter“ und tierköpfige Mischwesen
1.2.3 Die Vielheit der Götter
2. Die Entschlüsselung religiöser Sprache
2.1 Die Sinngebung der Anderen
2.2 Eine Kette von Repräsentationen
2.3 Der ontische Logos
3. Die Strukturen der Wirklichkeit
3.1 Der logische Aufbau der Welt
3.1.1 Personale Chiffrierung und die Entstehung des Kosmos
3.1.2 Zwischen Himmel und Erde
3.1.3 Die Genealogie des Kosmos
3.2 Die Phänomenologie des Sonnenlaufs
3.2.1 Die Sonne am Tag und die Gestalten Res
3.2.2 Descensus ad inferos, oder: Der Abstieg in die Gegenwelt
3.2.3 Die Nachtfahrt des Sonnengottes
3.3 Gott und die Dynamik der Weltkonstituenten
4. Das große Rollenspiel
4.1 Der Ort der menschlichen Gesellschaft
4.2 Die Herabkunft all dessen, was im Himmel bestimmt ist
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
HEIKE STERNBERG-EL HOTABI: „Die Erde entsteht auf deinen Wink“ Der naturphilosophische Monotheismus des Echnaton
0. Einleitung
1. Der historische Rahmen
2. Echnaton und der Anbruch einer neuen Ära
3. Echnatons Gott tritt in Erscheinung
4. ‚Traditionelle’ versus ‚Neue’ Sonnentheologie
5. Echnatons neue Sonnenstadt: Achet-Aton (Tell el Amarna)
6. Der naturphilosophische Monotheismus des Echnaton: der Große Hymnus an Aton
7. Die Verbannung der alten Götter: Amun wird entmachtet
8. Ende und Neubeginn
Anhang: Der „Große Aton-Hymnus“ des Echnaton von Amarna
SUSANNE BICKEL: Die Verknüpfung von Weltbild und Staatsbild Aspekte von Politik und Religion in Ägypten
1. Staatsbildung und Königtum
2. Symbole des Staates
3. Die religiöse Ebene
3.1 Positionierung des Königs
3.2 Der König als Sohn der Götter
3.3 Die Organisation der Götterwelt
3.4 Bewältigung von Opposition
Religionen in Mesopotamien
ANNETTE ZGOLL: Vielfalt der Götter und Einheit des Reiches Konstanten und Krisen im Spannungsfeld politischer Aktion und theologischer Reflexion in der mesopotamischen Geschichte
1. Teil. Hermeneutischer Zugang: Wie auf Erden, so im Himmel?
A. Historisch-originäre und systematisch-wissenschaftliche Perspektiven
B. Verankerung und Ausweitung
2. Teil. Systematischer Zugang: Begriffswelten und Wirkungsfelder
A. Kategorien der Interferenzen zwischen Götterwelt und Menschenwelt
B. Interferenzen I: Personale Interaktionen
C. Interferenzen II: Zwischenpersonale Strukturen
D. Interferenzen III: Politisch-gesellschaftliche Strukturen
E. Interferenzen IV: Politisch-gesellschaftliche Interaktionen
3. Teil. Historische Verankerung: Die Eine und die Vielen
A. Tradition und Neuerung: Die Ausgangssituation
B. Autonomie contra Zentralismus: nin-me-šara als Zeuge
C. Konflikt und Lösungsansätze: Ein Prozeβ
Die Position Inanas
Inanas Aufstieg
Konsequenzen: Eklat mit der Stadt
Strategien gegenüber den vielen Gegnern des einen Reiches
Strategien gegenüber dem Stadtgott von Ur
Alle Götter im Prozeβ
Konzepte in nin-me-šara. Ein Resümee
4. Teil. Konstanz und Wandel: Entwicklungslinien
BRIGITTE GRONEBERG: Aspekte der „Göttlichkeit“ in Mesopotamien Zur Klassifizierung von Göttern und Zwischenwesen
I. Einleitung
II. Konzeptualisierung von Götterordnungen
III. Göttermanifestierungen: Die Götterkörper
IV. Welt und Unterwelt als binäre Einheit
V. Hierarchische und binäre Götterkonzepte
V.1. Der Körper der „Zwischenwesen“
V.2. Die Göttlichkeit der „Zwischenwesen“
V.3. Die Göttlichkeit mischwesenhafter Götter
V.4. Kulte für Unterweltgötter und „Zwischenwesen“
VI. Konzeptualisierungen von Göttlichkeit: am Beispiel von Ištar und ihren Dämonen(göttinnen)
V.1. Ištars Macht zwischen Fruchtbarkeit und Tod
VI.2. Ištar als Morgen- und Abendstern
VI.3. Ihre dämonenhaften und unreinen Konnotationen
VI.4. Ardat-Lilî oder Kilili? Die „geflügelte Göttin“ auf dem Burney-Relief
VII. Ausblick
ASTRID NUNN: Kulttopographie und Kultabläufe in mesopotamischen Tempeln: drei Beispiele
Einleitung
I. Der Tempel und seine Bauteile
1. Die Vorbereitungen zum Bau eines Tempels
2. Der Tempel
a. Das Tor
b. Der Hof
c. Die Cella
d. Die restlichen Räume im Tempelareal
II. Die Kulthandlungen
1. Das Beten
2. Singen und Musikspielen
3. Libationen und Rauchopfer
4. Das Opfern
III. Zwei Feste: Das ak tu-Fest und das Fackelfest
1. Das akītu-Fest oder Neujahrsfest
2. Das Fackelfest in Uruk
Schluß
Zoroastrische Religion
PHILIP G. KREYENBROEK: Theological Questions in an Oral Tradition: the Case of Zoroastrianism
Introduction
Aspects of Zoroastrianism
A survey of development of ‘theological’ thought
The Cosmogony
The cult
History
On the early Transmission of Zoroastrianism
The Sacred Texts
The Priestly Tradition
From priests to laity
The question of ‘theology’
The Zoroastrian Sources
The Old Avestan Texts
The Young Avestan Texts
The Achaemenian Inscriptions
The Middle Persian texts
The Evidence of modern Parsis
Conclusion
ALBERT DE JONG: One Nation under God? The Early Sasanians as Guardians and Destroyers of Holy Sites
Religionen in Kleinasien und Syrien-Palästina
DANIEL SCHWEMER: Das hethitische Reichspantheon Überlegungen zu Struktur und Genese
1. Einleitung
a) Zum Konzept des Reichs- oder Staatspantheons
b) Historische Voraussetzungen
2. Politische Theologie: die Schwurgötterlisten der Verträge
3. Die Verehrung aller Götter in Ritual und Gebet
a) Gebete an die Versammlung aller Götter
b) Die Verehrung aller Götter des Landes im Rahmen des AN.DAH.ŠUM-Festes
c) kaluti-Opferlisten für alle Götter
4. Das Felsheiligtum Yazılıkaya: Kult für das Staatspantheon der späten Großreichszeit?
ASTRID NUNN: Aspekte der syrischen Religion im 2. Jahrtausend v.Chr.
Einleitung
I. Der Ahnen- und Totenkult
a. Die erste Hälfte des 2. Jahrtausends: das syrische Binnenland mit Mari, Ebla und Qatna
b. Die zweite Hälfte des 2. Jahrtausends: Ugarit, Ibn Hani und Alalah
c. Bestattungsort und Kultort der divinisierten Könige
d. Ikonographische Folgen
II. Die Rolle der Familie im Westen
a. Auf der religiösen Ebene
b. Auf der ikonographischen Ebene
III. Menschliche Gefühle werden thematisiert
a. Die größere Sensibilität der Götter
b. Die ikonographischen Folgen
Zusammenfassung (Tabelle 1)
HERMANN SPIECKERMANN: „Des Herrn ist die Erde“ Ein Kapitel altsyrisch-kanaanäischer Religionsgeschichte
1. Das älteste Zeugnis der Psalmen
2. Die hurritisch-hethitische Religion und Hesiods Theogonie
3. Die altsyrische Religion nach dem Baal-Epos aus Ugarit
4. Rückblick und Ausblick: Polytheismus – Monolatrie – Monotheismus
HERBERT NIEHR: Die phönizischen Stadtpanthea des Libanon und ihre Beziehung zum Königtum in vorhellenistischer Zeit
1. Einleitung
2. Die phönizischen Königsstädte des Libanon in vorhellenistischer Zeit
3. Die Panthea
3.1 Die Hauptgötter
3.2 Die Hauptgottheit als „Herr(in)“ der Stadt und als Gott „in der Stadt“
3.3 Stadtübergreifende Verehrung von Gottheiten
3.4 Das Pantheon als Ganzes
4. Zum Zusammenhang zwischen Politik und Pantheon in den phönizischen Königsstädten des Libanon
4.1 Der König vor der Gottheit
4.2 Der König als Tempelerbauer und Stifter
4.3 Der König als Priester
ERIK AURELIUS: „Ich bin der Herr, dein Gott“ Israel und sein Gott zwischen Katastrophe und Neuanfang
1
2
3
4
5
REINHARD G. KRATZ: „Denn dein ist das Reich“ Das Judentum in persischer und hellenistisch-römischer Zeit
I. Jerusalem
II. Elephantine
III. Alexandria
IV. Qumran
Autorenverzeichnis
Sachregister
Band II: Griechenland und Rom, Judentum, Christentum und Islam
Inhaltsverzeichnis
Griechisch-römische Religion
WALTER BURKERT: Mythen – Tempel – Götterbilder Von der Nahöstlichen Koiné zur griechischen Gestaltung
1.
2.
3.
HEINZ-GÜNTHER NESSELRATH: Die Griechen und ihre Götter
1. Anthropomorphismus
2. Nicht Weltenschöpfer, aber mächtig: die Stellung der griechischen Götter in der Welt – und die Menschen
3. Ein ‘Polytheismus’ par excellence
4. Die ‘doppelten’ Götter: lokale und ‘panhellenische’ Prägung
HEINZ-GÜNTHER NESSELRATH: Tempel, Riten und Orakel Die Stellung der Religion im Leben der Griechen
1. Die Orte der griechischen Religion: Heiligtümer, Götterbilder und Tempel
2. Riten, Gebete, Opfer, Feste: Die Praxis der griechischen Religion
3. Ein wichtiges Angebot an den Menschen: Zukunftsdeutung durch Orakel und Seher
DOROTHEE GALL: Aspekte römischer Religiosität Iuppiter optimus maximus
ULRICH SCHMITZER: Friede auf Erden? Latinistische Erwägungen zur pax Augusta
Urchristliche Religion
REINHARD FELDMEIER: „Abba, Vater, alles ist dir möglich“ Das Gottesbild der synoptischen Evangelien
1. Jesus Christus als das Bild Gottes. Hinführung
2. Vater und Herr. Jesu Gebet
3. Der allmächtige Vater und der angefochtene Sohn. Gethsemani
4. Gottesliebe
5. „und ist ein Wunder vor unseren Augen“
REINHARD FELDMEIER: „Der das Nichtseiende ruft, daß es sei“ Gott bei Paulus
1. Die Herausforderung: Der Gekreuzigte als Bild des lebendigen Gottes
2. Wie Paulus nicht von Gott spricht
3. Gottesprädikate
4. Gott in Christus
5. Erkennen als ‚Erkanntsein’. Gotteserkenntnis bei Paulus
6. Der lebendige Gott als der ‚Lebendigmachende’
Rabbinisches Judentum
HANS-JÜRGEN BECKER: Einheit und Namen Gottes im rabbinischen Judentum
Islamische Religion
TILMAN NAGEL: Schöpfer und Kosmos im Koran
I
II
III
TILMAN NAGEL: Die Anthropologie des Islams
I
II
III
IV
TILMAN NAGEL: Die muslimische Glaubensgemeinschaft als die Verwirklichung des göttlichen Willens auf Erden
I
II
III
IV
Schlußbemerkung
Die christliche Religion im Orient
MARTIN TAMCKE: Im Schatten von Schah und Kaliph Christsein östlich der griechisch-römischen Welt
1. Einleitung
2. Die Welt des Persischen Reiches ist nicht die des Imperium Romanum, und die Christen Persiens gleichen nicht denen Roms
3. Eine Legende charakterisiert die Geschichte mit Byzantinern und Muslimen
4. Die Not mit den Omajaden
5. Das neue, alte Weltbild
6. Unter den Abbasiden
7. Ausblick
MARTIN TAMCKE: Zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühl Christsein im Haus des Islam
1. Einleitung
2. Schutzverträge
3. Kultureller Austausch
4. Bewußte Koexistenz
5. Der Dialog des muslimischen Emirs mit dem syrisch-orthodoxen Patriarchen Johannan I.
6. Die Gottesfrage im Dialog des syrisch-orthodoxen Patriarchen Johannan I. mit dem muslimischen Emir
Nachwort
ANDREAS BENDLIN: Nicht der Eine, nicht die Vielen Zur Pragmatik religiösen Verhaltens in einer polytheistischen Gesellschaft am Beispiel Roms
1. Zu den Grenzen der Darstellbarkeit: Polytheismus in Rom
2. Pantheon oder Panthea? Stadtrömische Lokalreligion
3. Vielheit und Einheit
4. Der Blick des Ethnologen
JAN ASSMANN: Gottesbilder – Menschenbilder: anthropologische Konsequenzen des Monotheismus
Autorenverzeichnis
Sachregister
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Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) · Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)

17

Götterbilder Gottesbilder Weltbilder Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike Band I Ägypten, Mesopotamien, Persien, Kleinasien, Syrien, Palästina Herausgegeben von

Reinhard Gregor Kratz und Hermann Spieckermann

2., durchgesehene Auflage

Mohr Siebeck

Reinhard Gregor Kratz, geboren 1957; Studium der evangelischen Theologie und Gräzistik in Frankfurt a.M., Heidelberg und Zürich; 1987 Promotion; 1990 Habilitation; Professor für Altes Testament in Göttingen. Hermann Spieckermann, geboren 1950, Studium der evangelischen Theologie und Altorientalistik in Münster und Göttingen; 1982 Promotion; 1987 Habilitation; Professor für Altes Testament in Göttingen.

e-ISBN PDF 978-3-16-151150-9 ISBN 978-3-16-149886-2 ISSN 1611-4914 (Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Studienausgabe in zwei Bänden 1. Auflage 2006 © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg gebunden.

Vorwort zur zweiten Auflage Drei Jahre nach Erscheinen sind die beiden Bände vergriffen, mit denen wir die ersten Früchte des Göttinger Graduiertenkollegs „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike“ vorlegen konnten. Aufgrund des breiten Interesses an den sowohl an die Fachwelt als auch an ein breiteres Publikum gerichteten Überblicken und der anhaltenden Nachfrage hat sich der Verlag zu einer Neuauflage entschlossen, die wir sehr begrüßen. In ihr sind die Beiträge weitgehend so belassen, wie sie waren, nur Versehen wurden korrigiert. Das Graduiertenkolleg hat im Jahr 2008 die letzte Evaluierung erfolgreich überstanden und befindet sich nunmehr in seiner dritten, bis 2011 währenden Phase. Sowohl die Arbeit des Kollegs als auch die Diskussion in der Forschung sind inzwischen weiter fortgeschritten. In der Diskussion wurde gelegentlich der Ruf zu einer mehr systematischen und fächerübergreifenden Darstellung des Gegenstands laut. Doch nach wie vor halten wir es für verfrüht, nur das Große und Ganze in den Blick zu nehmen, und sehen in seriösen Überblicken und Fallstudien aus den einzelnen Disziplinen den besten Ansatz zur interdisziplinären Arbeit. An die in diesen beiden Bänden dargebotenen Beiträge haben sich weitere Bände zu verschiedenen Themen angeschlossen: „Die Welt der Götterbilder“ (BZAW 376, Berlin 2007); „Vorsehung, Schicksal und göttliche Macht“ (Tübingen 2008); „Divine Wrath and Divine Mercy (FAT II/33, Tübingen 2008); „Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns“ (BZAW 390, Berlin 2009); „One God – One Cult – One Nation“ (erscheint 2010); weitere werden folgen. Die Auswahl der Themen folgte dem Dreischritt, den der Titel des Graduiertenkollegs zum Ausdruck bringt: von den bildlichen Darstellung der Götter über die Gottesvorstellungen bis hin zur Deutung der Welt im Lichte der Gottesvorstellungen. Aus all diesen Beiträgen und den im Rahmen des Graduiertenkollegs angefertigten Dissertationen der beteiligten Disziplinen haben wir gelernt, daß es nicht auf die globalen Theorien, sondern auf die Nuancen ankommt. Wir danken den Autoren für Ihr Einverständnis zum Nachdruck ihrer Beiträge, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finanzielle Förderung sowie dem Verlag für seine Bereitschaft, mit dieser Neuauflage wie mit manchem anderen Band die Arbeit des Graduiertenkollegs zu unterstützen. Göttingen, Dezember 2008 Reinhard G. Kratz und Hermann Spieckermann

Vorwort zur ersten Auflage Die beiden vorliegenden Bände enthalten überarbeitete Vorträge (FAT 2. Reihe, Band 17 und 18), die im Rahmen des Graduiertenkollegs „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike“ an der Georg-August-Universität in Göttingen gehalten worden sind. Die Mehrzahl der Vorträge geht auf eine zweisemestrige Ringvorlesung unter dem gleichnamigen Thema in den Jahren 2004 und 2005 zurück, einige weitere auf ein Symposion zum Thema „Pantheon und Politik. Ihr Zusammenspiel in der orientalischen und klassischen Antike“ im Oktober 2004. Allen, die sich mit ihren Beiträgen beteiligt und dadurch die umfassende Publikation ermöglicht haben, sei herzlich gedankt. Ohne Förderung und Unterstützung wäre ein solches Projekt undenkbar. Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Etablierung des Graduiertenkollegs und für die Bereitstellung der finanziellen Mittel, die die Erstellung der Druckvorlagen und den Druck allererst ermöglicht haben. Dankbar sind wir auch für die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Mitherausgebern der Reihe „Forschungen zum Alten Testament“, Prof. Dr. Bernd Janowski und Prof. Dr. Mark S. Smith, sowie mit dem Hause Mohr Siebeck, namentlich mit Dr. Henning Ziebritzki. Schließlich sind die beiden Mitarbeiterinnen, stud. theol. Friederike Neumann und stud. theol. Sarah Oltmanns, zu nennen, die die Hauptlast der Organisation sowie die Erstellung des Registers und der Druckvorlagen übernommen haben. Ohne ihren kundigen und verläßlichen Einsatz wäre die Publikation nicht möglich gewesen. Beiden gilt unser besonderer Dank. Göttingen, im Dezember 2005 Reinhard G. Kratz und Hermann Spieckermann

Inhaltsverzeichnis REINHARD G. KRATZ und HERMANN SPIECKERMANN Einleitung ..............................................................................................XI

Ägyptische Religion FRIEDRICH JUNGE „Unser Land ist der Tempel der ganzen Welt“ Über die Religion der Ägypter und ihre Struktur.......................................3 HEIKE STERNBERG-EL HOTABI

„Die Erde entsteht auf deinen Wink“ Der naturphilosophische Monotheismus des Echnaton ............................ 45 SUSANNE BICKEL

Die Verknüpfung von Weltbild und Staatsbild Aspekte von Politik und Religion in Ägypten.......................................... 79

Religionen in Mesopotamien ANNETTE ZGOLL

Vielfalt der Götter und Einheit des Reiches Konstanten und Krisen im Spannungsfeld politischer Aktion und theologischer Reflexion in der mesopotamischen Geschichte ................ 103 BRIGITTE GRONEBERG Aspekte der „Göttlichkeit“ in Mesopotamien Zur Klassifizierung von Göttern und Zwischenwesen............................ 131 ASTRID NUNN Kulttopographie und Kultabläufe in mesopotamischen Tempeln: drei Beispiele ................................................................................................ 167

X

Inhaltsverzeichnis

Zoroastrische Religion

PHILIP G. KREYENBROEK

Theological Questions in an Oral Tradition: the Case of Zoroastrianism.................................................................... 199 ALBERT DE JONG

One Nation under God? The Early Sasanians as Guardians and Destroyers of Holy Sites ........... 223

Religionen in Kleinasien und Syrien-Palästina DANIEL SCHWEMER

Das hethitische Reichspantheon Überlegungen zu Struktur und Genese .................................................. 241 ASTRID NUNN

Aspekte der syrischen Religion im 2. Jahrtausend v.Chr. ..................... 267 HERMANN SPIECKERMANN

„Des Herrn ist die Erde“ Ein Kapitel altsyrisch-kanaanäischer Religionsgeschichte..................... 283 HERBERT NIEHR

Die phönizischen Stadtpanthea des Libanon und ihre Beziehung zum Königtum in vorhellenistischer Zeit ..................................................... 303 ERIK AURELIUS

„Ich bin der Herr, dein Gott“ Israel und sein Gott zwischen Katastrophe und Neuanfang.................... 325 REINHARD G. KRATZ

„Denn dein ist das Reich“ Das Judentum in persischer und hellenistisch-römischer Zeit ............... 347

Autorenverzeichnis .............................................................................. 375

Sachregister ......................................................................................... 377

Einleitung REINHARD G. KRATZ und HERMANN SPIECKERMANN

1. Grundsätzliches Der Zusammenhang zwischen Gottesbildern und Weltbildern gehört in der Religionsgeschichte zu den allenthalben evidenten Phänomenen.1 Wo Menschen Geschichte und Kultur über größere Zeiträume teilen, gehören die religiösen Grundlagen der Gemeinschaft, wie sie sich in Kulten, Mythen und anderen religiösen Vollzügen manifestieren, zu den unverzichtbaren Stützen eines auf Dauer angelegten Zusammenlebens. Gründungsmythen von (Stadt-)Staaten und Völkern, Glaubensgemeinschaften und Großreichen rekurrieren nicht selten auf eine imaginierte Urzeit, in der Götter und (die allererst zu erschaffenden) Menschen Konflikte untereinander austragen, deren Bewältigung sowohl das Verhältnis zwischen Göttern und Menschen als auch die Weltverhältnisse bleibend formt. Die auf diese Weise gestaltete Korrespondenz von Gottes-, Menschenund Weltbild präsentiert sich in der Religionsgeschichte außerordentlich vielfältig. In den vorliegenden Beiträgen wird das Phänomen in Kulturkreisen untersucht, die geographisch mit den Namen Persien und Vorderer Orient, Ägypten und Mittelmeerraum zu umreißen und zeitlich nur durch einen stark überdehnten Begriff der Antike abzudecken sind. Die Religionen Ägyptens und Mesopotamiens vermitteln etwa vom dritten Jahrtausend v.Chr. an elaborierte Gottes- und Weltbilder; andere, wie etwa die hurritisch-hethitisch-altsyrischen Religionen, gewinnen vor allem im zweiten Jahrtausend v.Chr. Gestalt, wiederum andere, wie die Religion der Achämeniden, die Lehre Zarathustras sowie die Religionen Israels, Griechenlands und Roms, in verschiedenen Stadien des ersten vorchristlichen Jahrtausends, das Christentum und der Islam im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Alle strahlen weit über ihren Ursprungsbereich aus, und für viele gilt, daß sie in der Zeit des Hellenismus und der Spätantike entschei1

Vgl. AHN, G., Art. Weltbild II. Religionswissenschaftlich, RGG4 8, 2005, 1407– 1409; GANTKE, W., Art. Welt/Weltanschauung/Weltbild IV/1. Weltbild, Religionsgeschichtlich, TRE XXXV (2003) 562–569 (Literatur); G LADIGOW, B., Art. Gottesvorstellungen, HRWG III (1993) 32–49 (Literatur); STOLZ, F., Weltbilder der Religionen. Kultur und Natur, Diesseits und Jenseits, Kontrollierbares und Unkontrollierbares (Theophil 4), Zürich 2001; T OPITSCH, E., Art. Weltbild, HRWG V (2001) 355–366 (Literatur).

XII

Reinhard G. Kratz und Hermann Spieckermann

dende Transformationen erfahren haben, durch die sie vital geblieben sind und die Entstehung neuer Religionen befördert haben. Die spezifische Gestalt des Christentums wäre ohne die Synthese von Judentum und Hellenismus sowie die philosophische Religiosität der römischen Kaiserzeit kaum vorstellbar. Vergleichbares gilt für die Entstehung des Islam. Er hat am Ausgang der Spätantike wesentliche Voraussetzungen im Kulturkontakt der vorislamischen arabischen Religion mit Judentum und Christentum, situiert in hellenistisch-römisch geprägtem Milieu. Judentum, Zoroastrismus, Christentum – in diesem Kontext vor allem das Christentum der Orientalischen Kirchen – sowie Islam sind somit der Antike und Spätantike im Blick auf die Bewußtwerdung ihrer Weltgeltung besonders verpflichtet. Sie haben in unterschiedlichem Maße die Weltgeschichte geprägt und sind mit ihren Gottesvorstellungen, Menschen- und Weltbildern bis in die Gegenwart einflußreich. Unter veränderten geschichtlichen Bedingungen und deshalb in veränderter Gestalt geben sie bis heute Anlaß zu geistiger, im Extremfall gewaltsam ausgetragener Auseinandersetzung. Der Einfluß auf individuelle Lebensführung und politische Weltanschauung ist unverkennbar. Dabei hat die griechisch-römische Antike bei weitem nicht nur Vermittlungsdienste geleistet. Parallel zur Ausbreitung der christlichen Religion hat sie in Form einer philosophisch geprägten Religiosität weitergewirkt, die von der Spätantike an vor allem durch Stoizismus und Neuplatonismus befördert worden ist. In unterschiedlichen Konfigurationen hat dieses Erbe in Renaissance, Aufklärung und Gegenwart immer wieder Impulse für eine humanistische Religiosität gegeben, die sich mit einer Kritik des jüdischen, christlichen oder islamischen Monotheismus verbinden kann. Die damit zuweilen einhergehende Favorisierung des Polytheismus resultiert aus dem Eindruck, daß in ihm die verläßlichere Basis für die individuelle Freiheit und die Wahrung des weltanschaulichen Pluralismus zu finden sei.2 Die Religionswissenschaft ist mit dieser Problematik seit längerer Zeit befaßt. Die Kulturwissenschaften sind spätestens seit der gegenwärtigen Konfrontation mit politisch-religiös grundiertem Fanatismus stärker an den gesell-

2

Mit unterschiedlichen Akzentsetzungen vgl. M ARQUARD, O., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981; DERS., Aufgeklärter Polytheismus – auch eine politische Theologie?, in: T AUBES, J., Religionstheorie und Politische Theologie Bd.1: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München–Paderborn–Wien– Zürich 1985 2, 77–84; MOMIGLIANO, A., The Disadvantages of Monotheism for a Universal State, Classical Philology 81 (1986) 285–297; SCHMIDT, F., Polytheism: Degeneration or Progress, in: SCHMIDT, F., The Inconceivable Polytheism. Studies in Religious Historiography (History and Anthropology 3), London 1987, 9–60; T AUBES, J., Zur Konjunktur des Polytheismus, in: B OHRER, K.H., Mythos und Moderne, Frankfurt 1983, 457– 470.

Einleitung

XIII

schaftlichen Implikationen des Zusammenhangs von Gottes- und Weltbildern interessiert.3

2. Die Trias „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder“ im Spannungsfeld von Polytheismus und Monotheismus Die vorliegenden Beiträge erheben bewußt nicht den Anspruch, das soeben absteckte Themenfeld Gottesbilder und Weltbilder umfassend bis in die Gegenwart zu verfolgen. Dies liegt in der Absicht begründet, die in geschichtlicher Distanz wahrzunehmenden Optionen des Verhältnisses sine ira et studio zu analysieren, unsachgemäße Generalisierungen zu vermeiden und dem Forschungsbedarf bei den historischen Phänomenen und Konstellationen selbst, implizit aber auch im Blick auf ihren möglichen paradigmatischen Charakter für die Gegenwart, zu entsprechen. Will man sich in diesem umfassenden Themenfeld nicht von einem interessanten Phänomen zum anderen treiben lassen, bedarf es einer geschärften Perspektive, die den Zusammenhang von Gottesvorstellungen und Weltbildern, die nie ohne Menschenbilder sind, brennpunktartig erfaßt. Ein solcher Brennpunkt besteht in dem spannunsvollen Verhältnis von Polytheismus und Monotheismus.4 Er rückt die Thematik der Gottesbilder und 3

Vgl. ASSMANN, J., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München–Wien 1998; DERS., Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Ägypten, München–Wien 2000; DERS., Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München–Wien 2003. 4 Zur Terminologie Polytheismus, Henotheismus, Pantheismus, Monolatrie und Monotheismus, zu ihrer Geschichte und gegenwärtigen Verwendung vgl. BENDLIN, A., Art. Pantheon III. Klassische Antike, DNP 9 (2000) 265-268; G LADIGOW, B., Art. Polytheismus, HRWG IV (1998) 321–330 (Literatur); LANCZKOWSKI, G., Art. Polytheismus, HWPh 7 (1989) 1087–1093; AUFFARTH, C., Art. Henotheismus/Monolatrie, HRWG III (1993) 104f.; AHN, G., Art. Monotheismus und Polytheismus I. Religionswissenschaftlich, RGG4 5 (2002) 1457–1459; LANCZKOWSKI, C./HÜLSEWIESCHE, R., Art. Monotheismus, HWPh 6 (1984) 142–146; LANG, B., Art. Monotheismus, HRWG IV (1998) 148–165 (Literatur); DERS., Art. Urmonotheismus, HRWG V (2001) 280–283; weiterführende Studien: AHN, G., »Monotheismus« – »Polytheismus«. Grenzen und Möglichkeiten einer Klassifikation von Gottesvorstellungen, in: Mesopotamica – Ugaritica – Biblica. FS K. Bergerhof, hg. von M. Dietrich/O. Loretz (AOAT 232), Neukirchen-Vluyn 1993, 1– 24; ASSMANN, J., Monotheism and Polytheism, in: J OHNSTON, S.I. (Hg.), Religions of the Ancient World. A Guide, Cambridge Mass.–London 2004, 17-31; GLADIGOW, B., Strukturprobleme polytheistischer Religionen, Saeculum 34 (1983), 292–304; DERS., Polytheismus. Akzente, Perspektiven und Optionen der Forschung, Zeitschrift für Religionswissenschaft 5 (1997) 59–77; D ERS., Polytheismus und Monotheismus. Zur historischen Dynamik einer europäischen Alternative, in: K REBERNIK, M./OORSCHOT, J. VAN (Hg.), Polytheismus und Monotheismus in den Religionen des Vorderen Orients (AOAT 298), Neukirchen-Vluyn 2002, 3–20; P ORTER, B.N. (Hg.), One God or Many? Concepts of

XIV

Reinhard G. Kratz und Hermann Spieckermann

–vorstellungen entschieden ins Zentrum und erlaubt, die Begriffstrias „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder“ in dreifacher Hinsicht zu entfalten. Zum ersten ist mit der Spannung von Polytheismus und Monotheismus das Verhältnis von Götterbildern und Gottesbildern angesprochen.5 Darstellungen von Gottheiten in Götterbildern und Göttersymbolen sind komplexe religiöse Vorstellungssyndrome, zu denen Ikonographie, Kulte, Mythen und andere Traditionsmedien ihren je eigenen Beitrag leisten. Die üblichen, durch ein bestimmtes Verständnis des Dekalogs beförderten Gleichsetzungen, nach denen Polytheismus die bildhafte Verehrung von Göttern sei, Monotheismus die bildlose Gottesverehrung, sind in solcher Pauschalität falsch. Zum zweiten ergeben sich aus der Konzentration auf die Gottesbilder in der Spannung von Polytheismus und Monotheismus Konsequenzen für den Stellenwert der Weltbilder. Sosehr die Gottesvorstellungen unter dem Einfluß politischer, sozialer, kultureller und mentaler Gegebenheiten und Veränderungen stehen, sowenig sind sie allein als Funktion solcher Konstellationen und Prozesse plausibel zu machen. Gottesbilder sind weder pure Projektionen von Weltbildern noch umgekehrt. Daß der Zusammenhang zwischen beiden immer gegeben ist, leidet keinen Zweifel. Doch daß die Mehrzahl der zur Verfügung stehenden Quellen das Begründungsverhältnis in einem Gefälle von den Gottesbildern hin zu den Weltbildern wahrnimmt, muß hermeneutisch ernst genommen werden, ehe man neuzeitlichaufklärerisch den Verstehensprozess zugunsten der Weltbilder umkehrt und ihn als den einzig legitimen dogmatisiert. Man wird zu verstehen versuchen müssen, wieso die weitaus meisten Quellen aller in das Projekt einDivinity in the Ancient World (TCBAI 1), Casco Bay 2000; STOLZ, F., Einführung in den biblischen Monotheimus, Darmstadt 1996. Überblicke über die Religionen des Vorderen Orients im Blick auf die in ihnen bezeugten polytheistischen und monotheistischen Konfigurationen gibt der gerade genannte, von M. Krebernik und J. van Oorschot herausgegebene Band; vgl. außerdem: OEMING, M./SCHMID, K., Der eine Gott und die Götter. Polytheismus und Monotheismus im antiken Israel (AThANT 82), Zürich 2003. 5 Über Stellenwert und Funktion der Götterbilder ist in neuerer Zeit eine umfassende und kontroverse Diskussion geführt worden; vgl. unter den neuesten Publikationen: KEEL, O./UEHLINGER, C., Göttinnen, Götter und Göttersymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg–Basel–Wien 1992, 52001; VAN DER T OORN, K., The Image and the Book. Iconic Cults, Aniconism, and the Rise of Book Religion in Israel and the Ancient Near East (CBET 21), Leuven 1997; B ERLEJUNG, A., Die Theologie der Bilder. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bilderpolemik (OBO 162), Freiburg (Schweiz)–Göttingen 1998; C. U EHLINGER , Images as Media. Sources for the Cultural History of the Near East and the Eastern Mediterranean (Ist Millenium BCE) (OBO 175), Freiburg (Schweiz)–Göttingen 2000.

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bezogenen Religionen die Weltbilder als Konsequenzen und Funktionen der Gottesbilder betrachten. Zum dritten ist die Zuspitzung auf die Frage nach dem Verhältnis von Polytheismus und Monotheismus selbst eine Problemanzeige. Sie zielt auf die verbreitete Anschauung, daß die drei großen, weitgehend bildlosen monotheistischen Religionen des Judentums, des Christentums und des Islams im Raum des Vorderen Orients und des Mittelmeerraums als Kampfansage gegen einen blühenden Polytheismus mit dem Ziel seiner Beseitigung entstanden seien. Dieses Urteil ist derart pauschal nicht aufrecht zu erhalten. Neuere religionsgeschichtliche Untersuchungen haben zu der Einsicht geführt, daß die Verhältnisse innerhalb der einzelnen Religionen zum Teil sehr viel komplexer sind, als es die zur Geltung gelangte Selbstsicht der Religionen und manchmal auch ihre kritische Erforschung vermitteln. Differenzierungsbedarf besteht sowohl für die polytheistischen als auch für die monotheistischen Religionen. Unter den ersteren ist vor allem die ägyptische Religion zu nennen, die jenseits der personen- und zeitgebundenen henotheistischen Sonnenreligion des Echnaton explizite Reflexionen zum Verhältnis von Einheit und Vielheit der Götterwelt, ja, zum Verhältnis von Gott und Welt, vor allem seit der Ramessidenzeit kennt.6 Unter den monotheistischen Religionen sind es vor allem die vorexilische Religion Israels und ihre nachexilische Transformation zum Judentum, die durch neuere epigraphische und ikonographische Evidenz ein vielgestaltigeres Bild vermitteln. Zwar sind Gelehrte wie J. R. Smith und J. Wellhausen allein durch kritische Lektüre des Alten Testaments bereits im 19. Jahrhundert zu ähnlichen Schlüssen gelangt, doch die Selektionsprozesse der Forschung waren diesen Einsichten seinerzeit nicht günstig.7 Gerade am Beispiel des vorexilischen Israel, aber zum Teil auch noch des nachexilischen Judentums, wird die Insuffizienz der zur Verfügung stehenden Begrifflichkeit Polytheismus – Monolatrie – Monotheismus für die zu bezeichnenden Phänomene der (praktizierten oder konzeptionellen) Ein-GottVerehrung bewußt.8 Demgegenüber zeigen andere Beispiele, etwa die 6

Vgl. HORNUNG, E., Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 1971; D ERS., Das Denken des Einen im alten Ägypten, in: Polytheismus und Monotheismus in den Religionen des Vorderen Orients (A. 4), 21–32; ASSMANN, J., Monotheismus und Kosmotheismus. Ägyptische Formen eines »Denken des Einen« und ihre europäische Rezeptionsgeschichte, SHAW.PH 1993/2. 7 Vgl. SMITH, W.R., Lectures on the Religion of the Semites, Edinburgh 1889, 31927, deutsch: Die Religion der Semiten, Freiburg 1899; WELLHAUSEN, J., Prolegomena zur Geschichte Israels, 1883 2, 18995, Nachdruck der 6. Ausgabe von 1927, Berlin 2001. 8 Aus der Fülle der Literatur vgl. D AY, J., Yahweh and the Gods and Goddesses of Canaan (JSOT.S 265), Sheffield 2000; KEEL, O./UEHLINGER, C., Göttinnen (A. 5); KÖCKERT, M., Von einem zum einzigen Gott. Zur Diskussion der Religionsgeschichte

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Reinhard G. Kratz und Hermann Spieckermann

Identifikationstendenzen in den altsyrisch-kanaanäischen Religionen, die um die Identität ihrer zahlreichen Wettergottheiten wissen, sie aber unter verschiedenen Namen in ihren Reichspanthea führen und zugleich als Lokalgottheiten mit (abgesehen vom Stadtnamen) kaum unterscheidbarer Identität verehren, wie Polytheismus, Konzentration auf bestimmte Gottheiten und Götteridentifikation bei gleichzeitiger Wahrung der Vielzahl der Identitäten zusammengehen können. Auch die Frage, welche religiösen Konstellationen durch den Begriff Monotheismus angemessen bezeichnet werden, eröffnet ein weites Feld. Dies betrifft das Verhältnis von Monotheismus und Dualismus etwa im Zoroastrismus9, aber auch in den tendenziell dualistischen Konzeptionen der Apokalyptik in Judentum (Qumran) und Christentum. Es betrifft schließlich das Verhältnis von Polytheismus und Monotheismus im Nebeneinander von römischer Religion und entstehender christlicher Religion in der römischen Kaiserzeit. Die durchaus mögliche Koexistenz polytheistischer und monotheistischer Systeme ist komplex und enthält Potentiale gegenseitiger Bereicherung, aber auch tiefgreifender Konflikte. Kann einerseits der „pagane Monotheimus“ der Kaiserzeit mit seiner gleichzeitigen Affirmation der polytheistischen Voraussetzungen fruchtbare Impulse durch Stoa und Neuplatonismus an die frühchristliche Religion weitergeben10, stellt andererseits der exklusive Monotheismus der Christen, welcher den Kaiserkult und damit die bedeutende staatserhaltende Dimension der römischen Religion in Frage stellt, politischen Sprengstoff bereit.11 Wo die wahren Monotheisten zu suchen sind, ist angesichts der gegenseitigen Wahrnehmung unklar: unter den paganen Philosophen, wie die Gebildeten der Zeit mehrheitlich gemeint haben, oder unter den Juden und Christen, wie vor allem deren Selbstbeurteilung gelautet hat. Der exklusive Monotheismus der letzteren wollte paganen, durchaus nicht böswilligen Zeitgenossen indessen als Atheismus, Aberglaube und Menschenhaß erIsraels, BThZ 15 (1998) 137–175 (Literatur); DERS., Wandlungen Gottes im antiken Israel, BThZ 22 (2005) 3–36; N IEHR, H., Der höchste Gott. Alttestamentlicher Glaube im Kontext syrisch-kanaanäischer Religion des 1. Jahrtausends v.Chr. (BZAW 190), Berlin– New York 1990; SMITH, M.S., The Early History of God. Yahweh and the Other Deities in Ancient Israel, Grand Rapids 1990, 22002; DERS., The Origins of Biblical Monotheism. Israel’s Polytheistic Background and the Ugaritic Texts, Oxford 2001 (Literatur). 9 Vgl. B OYCE, M., A History of Zoroastrianism (HdO I), Leiden–Köln 1975, 192– 246; B OYD, J.W./CROSBY, D.A., Is Zoroastrianism Dualistic or Monotheistic?, JAAR 47 (1979/80), 557–588. 10 Vgl. FOWDEN, G., Empire to Commonwealth. Consequences of Monotheism in Late Antiquity, Princeton 1993; ATHANASSIADI, P./FREDE, M., Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999. 11 Vgl. P RICE, S. R. F., Rituals and Power. The Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984, 22002.

Einleitung

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scheinen.12 In eine andere, aber ebenso komplizierte und konfliktreiche Konstellation sahen sich später die orientalischen Kirchen gestellt, deren Trinitätslehre dem herrschenden Islam nur schwer als konstitutiver Teil einer sich als strikt monotheistisch und bildlos verstehenden Religion zu vermitteln war. Die genannten religionsgeschichtlichen Phänomene lassen erkennen, daß die eingebürgerte Antonymie Polytheismus – Monotheismus ein durchaus geeignetes Netz ist, um kompatible Konstellationen einzufangen, die sich in den verschiedenen Kulturen mit der Trias „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder“ verbinden. Zugleich aber wird deutlich, wie sehr die Begriffe lediglich heuristische Funktion haben können. Beide Begriffe, für sich oder als Paar, charakterisieren ganz unterschiedliche religionsgeschichtliche Phänomene und Konstellationen: die spannungsvolle Komplementarität von Polytheismus und Monotheismus, die – sei es faktische, sei es bewußt herbeigeführte – Simultaneität, aber auch die intolerante Exklusion, ohne daß es geschichtlich in irgendeiner Weise evident wäre, daß mit dem Polytheismus ein höheres Toleranzpotential verbunden sei als mit dem Monotheismus. Die Begriffe Pantheismus, Monolatrie und Henotheismus sind bei der Konturierung des Problemspektrums bewußt nicht gebraucht worden, um beim Überblick die Sache nicht komplizierter als unbedingt notwendig zu machen. Zweifellos spielt jedoch der durch sie zu erzielende Differenzierungs- und Erkenntnisgewinn in manchen Kulturkreisen eine gewichtige Rolle.13

3. Fragen und Aufgaben künftiger Forschung Die in den beiden Bänden vorliegenden Beiträge dokumentieren somit eindrücklich, wie wenig die in den Blick genommenen Religionen und Kulturkreise zu einfachen Theoriebildungen im Blick auf das Verhältnis von Polytheismus und Monotheismus einladen. Dies ist um so bemerkenswer12

Vgl. HARNACK, A. VON, Der Vorwurf des Atheismus in den ersten drei Jahrhunderten (TU 28/4), Leipzig 1905; K LAUCK, H.-J., »Pantheisten, Polytheisten, Monotheisten« – eine Reflexion zur griechisch-römischen und biblischen Theologie, in: DERS., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien (WUNT 152), Tübingen 2003, 3–53; FELDMEIER, R., Der erste Brief des Petrus (ThHK 15/I), Leipzig 2005, 1–9; W ILKEN, R. L., Die frühen Christen. Wie die Römer sie sahen, Graz u.a. 1986. 13 Zum Henotheismus vgl. VAN SELMS, A., Temporary Henotheism, in: Symbolae Biblicae et Mesopotamicae. FS F. M. T. de Liagre Böhl, Leiden 1973, 341–348; Hartmann, B., Monotheismus in Mesopotamien?, in: Monotheismus im Alten Israel und seiner Umwelt (BB 14), Fribourg (Schweiz) 1980, 49–81; V ERSNEL, H. S., Ter Unus. Isis, Diomysos, Hermes. Three Studies in Henotheism (Studies in Greek and Roman Religion 6,I), Leiden–Boston–Köln 1990, 21998.

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Reinhard G. Kratz und Hermann Spieckermann

ter, als gerade im Raum der behandelten Religionen die Ausbildung eines strikten Monotheimus erfolgt ist. Zwar sind die Unterschiede im Verständnis des Monotheimus zwischen Judentum, Zoroastrismus, Christentum und Islam weithin bekannt, wenn auch die Vorgeschichte des Monotheismus in manchen der genannten Religionen noch längst nicht hinreichend erforscht ist. Unbekannter sind hingegen die Vielfalt, in der sich der Polytheismus präsentiert14, und das Akkomodationspotential, das der Polytheismus hinsichtlich des Monotheismus in sich birgt. Überall dort, wo die Hierarchisierung reicher Götterwelten erfolgt, wo Götterkonzentrationen und Götteridentifikationen stattfinden, wo zeitweiliger Henotheismus in bleibend polytheistischem Kontext durchgesetzt wird, wo praktizierte Monolatrie eine Tendenz zum Monotheismus annimmt, wo Gott oder Göttlichkeit, göttliche Einheit oder das göttlich Eine in Anbetracht der Vielheit der Götter ins Verhältnis zur Welt gesetzt werden, ist die präzise Bestimmung des Verhältnisses von Polytheismus und Monotheismus unabdingbar. Um das Problem zu verdeutlichen und den nach wie vor bestehenden Forschungsbedarf auf diesem Feld abzuschätzen, muß man sich nur einmal die enorme Leistungsfähigkeit polytheistischer Systeme vor Augen führen. Polytheistisch verfaßte Religionen sind hochgradig funktionalisiert. Jeder Bereich öffentlichen und privaten Lebens liegt in der Verantwortung bestimmter Gottheiten und ihrer irdischen Experten. Die Gottheiten sind in nationalen Hierachien und Stadtpanthea organisiert. Wechselbeziehungen, „Götterexport“ und Götteridentifikationen sind möglich. In allen genannten Bereichen kommt dem spiegelbildlichen Zusammenhang von göttlicher und irdischer Herrschaft, kurz: von Religion und Politik bzw. von Göttern/Göttlichkeit und Welt eine Schlüsselfunktion zu. Man kann geradezu sagen, daß die Tendenz zur Identifikation von Gott und Welt die differentia specifica des Polytheismus ist und umgekehrt die Unterscheidung von Gott und Welt als differentia specifica des Monotheismus angesehen werden kann.15 Die genannte Eigentümlichkeit des Polytheismus scheint ihm ein hohes Potential sowohl an Stabilität als auch an Flexibilität zu verleihen. Es gewinnt bereits in der Antike dort besonders klare Konturen, wo sich die philosophische Reflexion des Phänomens annimmt.16 14

STOLZ, F., urteilt: „Der Polytheismus ist erstaunlicherweise relativ wenig systematisch erforscht“ (Wesen und Funktion von Monotheismus [2001], in: D ERS., Religion und Rekonstruktion. Ausgewählte Aufsätze, hg. von D. Pezzoli-Olgiati u. a., Göttingen 2004, 248–267, 251). 15 Vgl. KRATZ, R. G., Theologisierung oder Säkularisierung? Der biblische Monotheismus im Spannungsfeld von Religion und Politik (im Druck). 16 Paradigmatischen Wert hat in dieser Hinsicht CICEROS Schrift De natura deorum; vgl. P LASBERG, O./AX, W., M. T. Cicero, De natura deorum, Leipzig 21933; CICERO, M. T., Vom Wesen der Götter. Lateinisch – deutsch, hg. von O. Gigon/L. StraumeZimmermann, Sammlung Tusculum, Zürich–Düsseldorf 1996.

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Vor diesem Hintergrund stellt sich eine Reihe von Fragen, etwa die, ob der Polytheismus möglicherweise ein signifikant höheres Akkomodationspotential als der Monotheismus besitzt.17 Es scheint, als könne er etwa gegenüber „insulären Monotheismen“ gewisse Toleranzpotentiale aktivieren, die allerdings auf der Voraussetzung beruhen, daß den nationalen Göttern unbedingt Verehrung zu zollen ist, weil andernfalls die Stabilität der Welt in Frage steht. Sodann dürfte der Polytheismus kaum angemessen erfaßt sein, wenn man seine spezifische Kompetenz allein in der engen Bezogenheit von Gottesbildern und Weltbildern mit primär legitimatorischem Interesse erkennt.18 Nicht selten führt auch innerhalb polytheistischer Systeme die Destruktion von Gottesbildern (bis hin zur Präferierung apersonaler Gottesbilder) zur Konstruktion neuer Weltbilder (mit oder ohne komplementäre Gottesbilder) sowie zu verändertern Normen der Lebensgestaltung, ohne daß legitimatorische Interessen die Steuerung ausübten. Ein eigenes Kapitel ist die enge Bezogenheit des Monotheismus auf den Polytheismus. Monotheistische Religionen haben ihre Voraussetzungen im Polytheismus und brauchen ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Selbstvergewisserung als bleibendes Gegenüber. Daß sie selbst polytheistisches Erbe ins sich haben, ist davon noch einmal zu unterscheiden. Es gibt keine monotheistische Religion ohne polytheistische Vorgeschichte und ohne kontinuierlichen polytheistischen Kontext. Insofern ist es berechtigt, im Blick auf die Gründungsphasen der monotheistischen Religionen von „insulären Monotheismen“ und im Blick auf die Phasen ihrer Konsolidierung und Etablierung von „mitlaufenden Polytheismen“ zu sprechen.19 Sowohl die Absorption anderer Götter in einer Gottheit als auch die Depotenzierung und Eliminierung bestimmter Mächte mit numinosem Anspruch führt zu einem prinzipiell anderen Weltverhältnis, als es in polytheistischen Religionen gegeben zu sein scheint. Die Differenz zwischen Gott und Welt ist 17

Vgl. die Hinweise zu polytheistischen Akkomodationsversuchen bei G LADIGOW, B., Polytheismus und Monotheismus (A. 4), 8f. 18 SABBATUCCI, D.s These, die in diesem Zusammenhang Welt und Staat als zwei differente Perspektiven in ein Ablösungsverhältnis bringt, indem er den Polytheismus als religiöses Welterklärungsmodell versteht, welches durch die in Rom geborene Idee des Staates abgelöst worden sei, ist abwegig: „Il politeismo nasce in Mesopotamia e muore a Roma. Nasce come un modo di pensare sistematicamente il mondo per mezzo di dèi; nel politeismo romano l’ogetto del pensiero sistematico cessa di essere il mondo e diventa lo stato: è il principio della fine. Ciò che resta è il ‚pensiero sistematico’ operante per divinità; è questo che a Roma genera l’idea di stato (res publica)“. (Politeismo I. Mesopotamia, Roma, Grecia, Egitto, Roma 1998, 121). 19 GLADIGOW, B., Polytheismus und Monotheismus (A. 4), 6–15; hingegen dürfte die These, daß der „Bestand ‚insulärer Monotheismen’ ... das erklärungsbedürftige Problem einer mediterranen Religionsgeschichte (sei), nicht so sehr das Weiterlaufen polytheistischer Muster in einer Europäischen Religionsgeschichte“, überzogen sein (11).

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Reinhard G. Kratz und Hermann Spieckermann

ursprungshaft und bringt Mensch und Welt in ein Verhältnis exklusiver Abhängigkeit von Gott. Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf hat qualitativen Charakter; nur göttliche Stiftung eines Welt- und Menschenverhältnisses durch Offenbarungen und Mittler vermag ihn zu überbrücken. Die Machtkonzentration in einer Gottheit ist exklusiver Herrschaftsanspruch und zugleich Befreiung von vielen Mächten, die sowohl Menschen in Götterkonflikte verwickeln als auch weltliche Herrschaftsansprüche numinos legitimieren. Welcher Art der exklusive Herrschaftsanspruch ist, hängt davon ab, wie das Wesen des einen Gottes von seinen Verehrern erfahren wird. Auch die Erfahrung von Macht partizipiert an der prinzipiellen Unterscheidung von Gott und Mensch bzw. Welt. Daß es gerade im Bereich der Kontingenzbewältigung, also bei Widerfahrnissen der Lebens- und Weltbedrohung, monotheistische Religionen besonders schwer haben können, solche Erfahrungen in das Gottesverhältnis zu integrieren, ist bekannt. Doch ein prinzipieller Unterschied zu polytheistischen Religionen besteht in dieser Hinsicht nicht. Vielmehr sind es andere Fragen, die im Blick auf den Unterschied zwischen polytheistischen und monotheistischen Konzeptionen weiter erforscht werden müssen. Dazu gehört die Frage des Begründungs- und Abhängigkeitsverhältnisses von Gottes- und Weltbildern in monotheistischen Religionen. Dieses Verhältnis stellt sich unter der prinzipiellen Voraussetzung der generischen Differenz von Gott und Mensch bzw. Welt anders dar als in polytheistischen Religionen, deren Eigenart gerade in der Identifizierung von Gott und Welt besteht. Das Verhältnis bedarf eingehender Klärung angesichts der Tatsache, daß monotheistische Religionen ein nicht weniger reiches Legitimationspotential für Weltverhältnisse und Weltbilder entfalten können als polytheistische Religionen. Entscheidend ist nach allem das Problem, wo die Bruchlinie zwischen polytheistischen und monotheistischen Religionen verläuft. Wenn es stimmt, daß monotheistische Religionen weder ohne polytheistischen Hintergrund noch ohne polytheistische Begleitung sind, ist nach plausiblen Modellen zur Erklärung des Übergangs zu fragen. Grundsätzlich gilt zu klären, ob es sich um einen kontinuierlichen evolutinären Prozeß handelt oder ob es – bei aller Anerkenntnis rekonstruierbarer vorauslaufender Entwicklungen – eines revolutionären Sprungs bedarf. Womöglich gibt es das Eine und das Andere.20 Im Einzelfall ist sodann nach sachlichen Bruchstellen Ausschau zu halten. Hier wäre nicht zuletzt die Funktion der Soteriolo20

Zu unterschiedlichen Sichtweisen in teils unterschiedlichen, teils denselben Religionen vgl. J. ASSMANN, Monotheismus (A. 6); H ORNUNG, E., Der Eine (A. 6), 227–255; KEEL, O., Gedanken zur Beschäftigung mit dem Monotheismus, in: Monotheismus im Alten Israel und seiner Umwelt (BB 14), Fribourg 1980, 11–30; P ETTAZZONI, R., Der allwissende Gott, Frankfurt (Main) 1960; K ÖCKERT, M., Wandlungen (A. 8), 30–33.

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gie zu untersuchen. Sie scheint polytheistischen Religionen ihrem eigenen Wesen nach fremd zu sein.21 Vielleicht nehmen Vorstellungen wie die des Schicksals und der Providenz stattdessen eine wichtige Rolle ein. Möglicherweise ist es gerade die Soteriologie, die in monotheistischen Religionen durch Dramatisierung zur Bruchstelle mit polytheistischen Religionen wird und durch den Universalitätsanspruch, daß das Heil exklusiv in der Macht eines Gottes liegt, zur Intoleranz führt. Allerdings beruht diese Erwägung auf der allererst zu beweisenden Annahme, daß die Soteriologie in polytheistischen Religionen tatsächlich einen geringeren Stellenwert hat. Die gestellten Fragen markieren die Aufgaben zukünftiger Forschung. Wer auf diesem Gebiet weiterkommen will, findet in den Beiträgen der beiden Bände reiches Material und substantielle Erkenntnisse. Auf diesem Fundament kann man gut weiterbauen.

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Vgl. BRELICH, A., Politeismo e Soteriologia, in: BRANDON, S.G.F., The Saviour God, Manchester 1963, 37–50.

Ägyptische Religion

„Unser Land ist der Tempel der Ganzen Welt“ Über die Religion der Ägypter und ihre Struktur Friedrich Junge

1. Die Bedingtheiten der Betrachtung 1.1 Religion in der säkularen und pluralistischen Gesellschaft 1.1.1 Religion als Objekt der Wahl und als Bedürfnis des Gefühls Beginnen möchte ich meine Darstellung der Religion der Ägypter – eine Religion, die um Christi Geburt schon zweieinhalb Jahrtausende alt und bereits ihren letzten Zeitgenossen exotisch wundersam geworden war – mit einigen allgemeineren Überlegungen, die die grundsätzlichen Positionen ein wenig beleuchten sollen, mit denen man zu tun hat, wenn man sich mit solchen Religionen wie der ägyptischen befassen will. Religion ist uns hier und heute in Europa immer noch vor allem in Gestalt der christlichen Religion vertraut, wir sind mit ihr sozialisiert worden, wir begegnen ihr als Institution, als Kirche und sie ist auch heute noch eine gesellschaftliche Macht. Aber die christliche Kirche ist nicht mehr die „allein selig machende“: Man hat die Wahl unter einer Vielzahl von Religionen und Glaubensgemeinschaften, von christlichen, jüdischen und muslimischen, von Denominationen, Sekten und Heilslehren, ganz nach Herkommen oder jeweiliger individueller Befindlichkeit. Und man hat die Freiheit, auch keine zu wählen. Religion ist segmentär differenziert und Gegenstand individueller Selbstselektivität, sie fordert Parteigängerschaft, Selbstbindung, einen Glaubensentscheid. Religion ist zudem im Sinne gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung nur noch für gewisse gesellschaftspolitische, vor allem aber für die emotionalen und affektiven Bedürfnisse der Menschen zuständig. Für diejenigen, die sich zu ihr bekennen, gibt sie dem Dasein einen Rahmen und Welt, Leben und Schicksal Sinn; sie kann die Herzen entflammen, Angst und Enttäuschung absorbieren und die Schrecken der Welt ertragen helfen. Außer bei bestimmten fundamentalistischen Richtungen sind aber das Verstehen der Welt und die Biologie des Lebens, die rationalen und kognitiven Komponenten des Daseins Sache anderer Institutio-

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Friedrich Junge

nen, etwa von Philosophie, Psychologie und Naturwissenschaften. Während die Wahrheiten der Religion als affirmativ gelten, auf der Versicherung von Autoritäten beruhen, sollen die der Wissenschaften logisch und beweisbar sein. 1.1.2 Die Ausgliederung des Weltverstehens Aber es war nicht immer so, daß Pluralität, Bekennertum und Affektbezogenheit die Merkmale von Religion waren. Unter weltgeschichtlicher Perspektive ist es noch gar nicht so lange her, daß es für einen Einwohner Europas unmöglich geworden war, einer anderen Religion als dem Christentum – oder was man darunter verstand – anzugehören: In seinem Horizont gab es gar keine andere und Gottes Existenz war intersubjektiv zwingende Gewißheit; er konnte sich gar nicht zur Religion bekennen, weil er ihr selbstverständlicher Bewohner war. Vor allem aber war Welterklärung integraler Bestandteil der Religion, sie gab Auskunft über die Welt, ihre Mechanismen und Funktionen und den Ort des Menschen darin. Neben Glaube ist sehr wohl Wahrheit ein Medium der Kommunikation gewesen, und auf dem Hintergrund des geoffenbarten Axioms, daß Gott sei, waren ihre dogmatischen Ableitungen durchaus von Logik und ihre Aussagen vom Bemühen um Rationalität bestimmt. Die Ausgliederung des Weltverstehens aus der Befugnis Gottes ist Teil eines historischen Prozesses, der so nur in Europa stattgefunden hat. Der Prozeß beginnt, mit der Ausdifferenzierung der physikalischen Komponente dieses Verstehens, in der frühen Neuzeit, und in der Erzählung davon, wie diese Sinngebungskonkurrenz entstanden ist, wird meist die Ansicht verbreitet, die beginnenden Naturwissenschaften hätten die Vernunft auf ihrer Seite gehabt und mußten sie gegen die religiöse Unvernunft, die Borniertheit oder den Zynismus der Theologen durchsetzen. Man muß aber sehen, daß die Geschichte eine andere Dimension hat: Jene Theologen waren nicht zynisch oder gänzlich von gestern und die Existenz Gottes war ihnen Gewißheit, aber sie ahnten, daß das Prinzip ihrer Welterklärung in Frage gestellt war. Die Welterklärung, die Metaphysik der christlichen Theologie war durchaus auch rationale Wege gegangen, aber eben die platonisch-aristotelischen Wege der Erkenntnis durch das reine Denken, das die Empirie hintangestellt hatte. Das lange Nachdenken hatte ein geschlossenes System der Welterklärung erzeugt, nur überforderten die neuen Erklärungen zunächst die Integrationsfähigkeit des Systems. Auch ohne nun das Auseinanderbrechen der einheitlichen Weltsicht im einzelnen zu verfolgen, weiß man einigermaßen, was passierte: Die Zuständigkeit Gottes für die Welt ist immer mehr zurückgedrängt worden,

„Unser Land ist der Tempel der Ganzen Welt“

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und mit der Aufklärung wird schließlich auch die Zuständigkeit der Religion für Moral, Gesellschaft und Tradition weitgehend aufgehoben. All dies aber, diese lange Entwicklung ist wegzudenken, wenn man verstehen will, was eine Religion wie die ägyptische ausgemacht hat. Man muß sich gewissermaßen zurückdenken in das Christentum des europäischen Mittelalters, um die Analogie des Verstehens gewinnen zu können: Daß Gott existiert, ist nicht Glaube, sondern Wissen, und Welterklärung ist rationale Erklärung der Welt aus Gott; er ist der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erden, den der Mensch liebt und fürchtet und von dem er abhängig ist. Und ich habe mir zur Aufgabe gestellt, im folgenden genau jenen Aspekt der ägyptischen Religion ins Auge zu fassen, nämlich ihre rationale und welterklärende Komponente, sozusagen ihre Dogmatik oder Systematik. 1.2 Der Prototyp der frühen heidnischen Religion? 1.2.1 Das Bild von der ägyptischen Religion Zuvor ist aber noch ein weiteres zu bedenken: Auch wenn wir im Zweifelsfall keiner Religion mehr anhängen, sind wir als europäische Betrachter doch von den Inhalten der christlichen Religion und den Formen ihrer Ausübung geprägt. Sie ist maßgeblich an der Ausformung unserer kulturellen Äußerungen beteiligt, ob wir wollen oder nicht; aus diesem kulturellen Inneren heraus wird unser Blick auf andere, fremde Religionen gesteuert. Und diesem Blick mag es zunächst überaus unwahrscheinlich vorkommen, daß Gott in einer so gewissermaßen urtümlichen Religion wie der ägyptischen überhaupt so großartige Prädikate zuerkannt werden können wie Allmacht und Schöpferkraft. Bei Adolf Erman, einem der maßgeblichen Ägyptologen des späten 19. und frühen 20. Jh. liest sich das in seiner Darstellung „Die Religion der Ägypter“, die jahrzehntelang die Vorstellungen geprägt hat, so: „Wenn der einfache Mensch über etwas nachsinnt, was er doch mit seinem Verstande nicht recht begreifen kann, so nimmt er nicht die Überlegung zu Hilfe, sondern die Phantasie“1; und weiter bei Erman: „... Unklarheiten und Widersprüche gehören nun einmal zum Wesen einer jeden Religion und wer diese als einen klaren Gedankenbau hinstellen will, der nimmt ihr das, was eigentlich doch ihre Lebensluft ist: Das Mystische, das Übersinnliche. Das allein macht sie dem Menschen teuer, sie ist nicht aus seinem Verstande entsprossen, sondern aus seinem Gefühl“2; mit der Theologie aber 1 2

Erman, Religion der Ägypter, 14. AaO, 2.

Friedrich Junge

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komme man „zu dem trübsten Teile der ägyptischen Religion, zu den Deutungen und Phantasien, denen die Priester ihren Glauben unterworfen haben“3, und die „uns ein Greuel“4 sind: „für dieses Barbarentum sich zu erwärmen, kann man von niemandem verlangen“5. Das ist nun die objektgewordene Form des spätpositivistischen Umgangsstils eines Abendländers mit fremden und frühen Religionen, für den Religion ein Bedürfnis des Gefühls ist, den religiöse Welterklärungsmuster befremden und dem sich religiöse Symbolsprachen noch nicht erschlossen haben. Aber er steht eben auch in einer langen Tradition. In den letzten Phasen des römischen Reiches wurde in den heidnischen Oberschichten der ägyptischen Weisheit zwar noch großer Respekt gezollt und genossen die ägyptischen Kulte noch hohe Verehrung6, trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, gehörte die ägyptische Religion zu denen, die die besondere Verachtung der frühchristlichen Theologen – durchaus auch in der Nachfolge antiker Autoren, etwa Juvenals oder Lukians7 – auf sich gezogen hatten: sie war die paradigmatische Religion des „goldenen Kalbes“, bei der sich alles zu finden schien, was man verabscheute: Götzendienst, also die Anbetung von Göttern aus Stein, Holz und Metall, und exemplarische Vielgötterei. Das Schlimmste von allem aber: die Tierverehrung, der Tierkult8, der in der Außensicht so besonders merkwürdig oder gar abartig erscheint. Sehen wir einmal, was einer jener Theologen, Epiphanius, Bischof von Zypern in der 2. Hälfte des 4. Jh., stellvertretend für viele dazu zu sagen hat9: „Weit ärger noch gingen die Ägypter in die Irre, als sie nicht nur ihre eigenen Leidenschaften vergöttlichten wie die Griechen, sondern sogar Tiere, gefiederte Vögel und vierfüßige Bestien, zu Wasser und zu Lande, und selbst solche, die ihnen der heilige Gott zu ihrem Dienst angewiesen hatte. Sie stürzten die Ordnung der Dinge um, und so, als wären sie Tiere in Geist und Seele, verehrten sie die Tiere ihres Landes leidenschaftlich, machten Götter aus ihnen und schämten sich dessen nicht: den bellenden Hund, die herumschleichende Tiere fressende Katze, die unzüchtige Ziege, das blökende Schaf, das gezähnte Krokodil und den giftfressenden Ibis, das Wiesel, den Falken, den höchst unterwürfigen Raben und die glitschige, abstoßende Schlange.“

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AaO, 88ff. AaO, 12. 5 AaO, 1. 6 Vgl. Junge, Isis. 7 S. dazu Hornung, Der Eine und die Vielen, 1f. 8 Man vergleiche das entsprechende Stichwort im „Lexikon der Ägyptologie“, das auch die zugehörige Literatur aufführt. 9 Epiphanius, Ancoratus 103, zitiert bei Smelik/Hemelrijk, Who knows not what monsters demented Egypt worships?, 1985f. 4

„Unser Land ist der Tempel der Ganzen Welt“

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1.2.2 „Tiergötter“ und tierköpfige Mischwesen Nun, in gewisser Weise sind solche Aussagen durchaus beobachtungsadäquat, scheinen sie richtig zu sein, wie man leicht feststellen kann, wenn man ägyptische Gottheiten einmal Revue passieren läßt. Ich will dies hier einmal tun, wobei ich die Namen dieser Gottheiten geben werde und das, was man auf den ersten, an den griechischen Göttern geschulten Blick ihre Zuständigkeiten nennen könnte: Da ist Apis, der berühmteste aller Stiere und Herold des Gottes Ptah von Memphis, das Urbild des goldenen Kalbes (Abb. 1).

Abb. 1: Apis

Aber da ist auch der große Gott Amun-Re, als „König der Götter“ ihr aller Herr, verehrt als Bock oder als Nilgans, oder aber wiedergegeben als Widder (Abb. 2).

Abb. 2: Kultformen Amuns – Amun als Widder, Gans oder Bock

Und nicht minder bedeutsam die Falkengötter, die Varianten des Gottes Horus sind, dem Gott des Himmels und des Königtums. Oder der Gott

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Thot in Paviangestalt, der Gott des Mondes, der Schrift und der Schreiber, im Hofstaat des Gottes Amun sein Wesir; eine andere seiner Gestalten ist der Ibis – Thot, den die Griechen Hermes genannt haben, und der als der „dreimalgrößte“ Thot, Hermes Trismegistos, im Dom von Siena neben Moses Platz gefunden hat. Und unter diesen Gestalten sind auch solche, die uns das empathische Verstehen ihrer Verehrung wirklich sehr schwer machen, etwa die nilpferdgestaltige Göttin Thoëris – ausgerechnet diese Göttin ist von den Griechen dann allerdings mit Athene gleichgesetzt worden, was einen vielleicht schon wieder ein wenig nachdenklich machen kann. Noch einen Grad abstruser mag einem das Bild der Göttin Meretseger vorkommen, die den Kopf einer Kobra trägt (Abb. 3).

Abb. 3 links: Thoeris; rechts: Thoeris und Meretseger

Aber mit diesem Bild wird man auch schon mit der für Ägypten so charakteristischen Klasse der tiermenschlichen Wesenheiten konfrontiert, den merkwürdigen Kombinationen aus Menschenkörper und Tierkopf: Da wird im Relief etwa der Sonnengott Re abgebildet, der den Falkenkopf des Horus trägt, Re als Harachte, „Horus des Horizonts“, der Gott der aufgehenden und der untergehenden Sonne (Abb. 4). Dann die zwei- und dreidimensionalen Abbildungen des schakalköpfigen Gottes Anubis, der Psychopompos, der Toten- und Seelenbegleiter der Ägypter; oder der löwenköpfigen Sachmet, der Sendbotin des Herrn der Götter, die Unglück, Krieg und Tod bringt und wieder zurücknimmt. Und noch einmal eine besondere Merkwürdigkeit – Chepri, der Gott der Morgensonne und der Auferstehung, mit dem Skarabäus, dem Mistkäfer als Kopf (Abb. 5).

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Abb. 4: Re-Harachte und Hathor als Westgöttin

Abb. 5 links: Chepri; rechts im Detail

Und wenn die Götter menschengestaltig wiedergegeben werden – die Mehrheit ist es –, tragen sie noch die Embleme auf ihrem Kopf, die ihre „tierische“ Abkunft zeigen, wie etwa die schöne Göttin Hathor mit dem Kuhgehörn und dem, was man den ägyptischen Götternimbus nennen kann, die Sonnenscheibe; auf Hathor kann freilich auch noch in Gestalt einer Kuh verwiesen werden. 1.2.3 Die Vielheit der Götter Das Bild, das man sich von der ägyptischen Religion gemacht hat, ist nun nicht nur durch ihren ausgeprägten Götzendienst, von Tierkult und theriomorphen Gottesgestalten bestimmt, sie ist gleichermaßen berüchtigt

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durch Vielgötterei. In der Tat, die Zahl der göttlichen Wesenheiten ist Legion. Diese göttlichen Wesenheiten sind in den Darstellungen zu bestimmten Zeiten und auf bestimmten Darstellungsträgern allgegenwärtig, sei es etwa in den Dekorationen der Gräber, sei es auf den langen Wandflächen der großen Tempel, auf denen sich der König Gott für Gott und Göttin für Göttin verehrend zuwendet. Neben all den vielen und gewissermaßen klein wirkenden göttlichen Wesenheiten gibt es aber auch die nicht kleine Anzahl der großen Götter, groß, weil sie viele Tempel und Heiligtümer haben und eine bedeutende Rolle in den metaphysischen Zusammenhängen spielen, auf die ich noch kommen werde. Im Bereich des Tempelkults sind sie in der Form von Kleinfamilien – Vater, Mutter, Kind, sprich: Sohn – organisiert; die wichtigsten von ihnen sind neben dem Sonnengott Re: – Amun-Re von Theben, der Götterherrscher, Urgott und Gott des Lebenshauches, der Schöpfer und Erhalter der Welt; und seine göttliche Gemahlin, die Muttergöttin Mut; – Ptah von Memphis, der Gott der festen Erde und des Existenzbeginns, Schutzherr der Handwerker (Abb. 6). – und Osiris, der Gott der Unterwelt und des Totenreiches, über den ich noch ausführlicher sprechen werde (Abb. 6).

Abb. 6 links: Ptah und rechts: Osiris

Vor allem aber ist da Isis, die göttliche Gemahlin des Osiris, die Große, die Gottesmutter, wie ihre Beinamen lauten, die ihren Sohn, den Gott Horus auf dem Schoß hält – Isis, die einmal der wichtigste religiöse Export Ägyp-

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tens in die hellenistische und dann römische Welt sein wird und deren ikonographischen Übergänge in die Gottesmutter der Christen so sind, daß die Grenzziehung eines scharfen und geschulten Blicks bedarf. Es ist schon etwas Bedenkenswertes, das diese eigenartige und nicht selten verlästerte Religion für viele Zeitgenossen dennoch eine so hohe Anziehungskraft besaß.

Abb. 7: Wiedergabeweisen der Isis lactans bis in die Kaiserzeit

2. Die Entschlüsselung religiöser Sprache 2.1 Die Sinngebung der Anderen Beim Vorübergehen der Bilder – das auch als eine einfache Phänomenologie der ägyptischen Götterbilder genommen werden kann – dürfte die erste Erfahrung, die man gemacht haben wird, die des Fremden und Befremdlichen gewesen sein, nicht anders als es den antiken und christlichen Zeitgenossen der ägyptischen Religion gegangen ist und endlich auch den Wissenschaftlern des 19. und auch noch des 20. Jh. Die Fremdheitserfahrung wirkt auch dann noch, wenn man diese oder jene Darstellung als ästhetisch gelungen ansehen oder ihr eine gewisse Erhabenheit zuerkennen mag. Dem Verstehen stellen sich Sperren entgegen – was freilich eine Selbstverständlichkeit ist: Es ist die Religion einer anderen Gesellschaft, und sie ist in den kulturellen Ausdrucksformen dieser anderen Gesellschaft kodiert. Dem bloßen Augenschein wird sie sich nicht erschließen, und die Konzepte, die berühmte Kulturanthropologen, Psychologen, Soziologen und in ihrem Gefolge Ägyptologen auf dem Augenschein aufge-

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baut haben, sind aufs Gröbste in die Irre gegangen. Natürlich lag es nahe, die Entstehung der tiergestaltigen Götter in die menschliche Vorzeit zu verlegen und dies als Merkmal einer Stufe in der Entwicklung von Religionen anzusehen. Diese Religionsevolution10 sollte von Fetischismus und Animismus zu Totemismus und Zoolatrie, der Verehrung von Tieren, geführt haben; die Übergangsform zum Anthropomorphismus, der Verehrung von Gottheiten in Menschengestalt, wäre dann in Ägypten noch zu greifen gewesen. Daß dies wissenschaftliche Fiktionen waren, die nur dem Zweck dienten, die Anderen besonders anders zu machen, hat endlich Claude Lévi-Strauss gezeigt, als er das „Ende des Totemismus“ einläutete11. Was bleibt, ist, daß diese anderen religiösen Konstrukte entschlüsselt und in die der eigenen Kultur übersetzt werden müssen. Man geht vielleicht weniger fehlt, wenn man als Grundlage einer Dekodierung annimmt, daß den Religionen bestimmte allgemeine Inhalte gemeinsam sind: Sie bedienen die Bedürfnisse der Menschen nach Geleitetwerden und sinnhaftem Leben, und sie verwandeln, wie Niklas Luhmann sagt, „Unbestimmbares in Bestimmtes oder doch Bestimmbares“12. Inhalte, die der Bestimmung harren, können sein: – Das Sein selbst: die Welt als solche und ihre Formen, Himmel und Erde, Sonne, Mond und Sterne, die Lebewesen und ihre Umstände; – die Bedingungen des Menschseins: woher man kommt, wohin man geht, warum man reich ist oder arm, stark oder schwach; – das Dasein also, die gesellschaftliche Existenz, wie sie ist, Geburt und Tod, Schicksal und Erfahrung; – nicht zuletzt natürlich: richtiges und falsches Verhalten. Wie also, lautet die Frage, hat die ägyptische Religion diese Dinge bestimmt und in einen Sinnzusammenhang gebracht? Sinnzusammenhänge herzustellen aber hat wiederum alle Religionen gleichermaßen vor ein Grundproblem gestellt: Wie nämlich gewinne ich die Kenntnis von Dingen, die sich der Erfahrbarkeit entziehen? Und dann, wie vermittle ich meine Erkenntnisse in den Erfahrungsbereich, der uns offensteht, welcher Sprache bediene ich mich? Auch hier zeigen alle Religionen eben die den Menschen möglichen Lösungen: Erkenntnis ist ein Produkt des Denkens, und meine Gedanken-Erkenntnis vermittle ich durch Erzählungen und in einer Sprache, die sich symbolischer und allego10

Als ein repräsentativer Vertreter kann etwa Émile Durckheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris (1912) 31937, angesehen werden. 11 Lévi-Strauss, Das Ende des Totemismus. 12 Luhmann, Funktion der Religion, 33.

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rischer Ausdrucksformen bedient. Man denke nur an die Gleichnisse in der Bibel oder gar speziell an die dunklen Worte der Johannesapokalypse, die ganz großen Einfluß auf die Formensprache Europas gehabt hat. 2.2 Eine Kette von Repräsentationen Aber man kann noch ein anderes bedenken: Ägypten und seine kulturellen Formen sind in Antike und Spätantike nicht das ganz Fremde gewesen, es war keineswegs gänzlich außerhalb des europäischen Wahrnehmungshorizonts. Neben dem vielen, was bewußt wahrgenommen und übermittelt worden ist: Richtiges und Falsches, meist jedenfalls das Merkwürdige, das außerhalb des kulturell Gewohnten liegende – neben diesem sind viele Formen und Inhalte unbewußt, außerhalb der direkten Wahrnehmung in die hellenistisch-römische, dann europäische Formensprache diffundiert und ihr anverwandelt worden. Recht verstanden, können sie Zugänge bilden für ein tieferes Eindringen in jene dennoch fremde Welt. Ich will somit den Versuch machen, einen ikonographischen Weg zu beschreiten, der hinabführt in die Tiefen der Zeit und im hohen Mittelalter beginnen soll, bei der Äbtissin und Mystikerin Hildegard von Bingen13. In ihren, im „Buch der göttlichen Werke“ niedergelegten Visionen tritt der welterschaffende Gott in Gestalt der Allegorien seiner Kräfte in Erscheinung – sie sagt: „Im Jahre 1141 der Menschwerdung Jesu Christi, des Gottessohnes, als ich 42 Jahre und 7 Monate alt war, kam ein feuriges Licht mit Blitzesleuchten vom offenen Himmel hernieder“. Unter anderem erscheint ihr die Schöpferkraft Gottes, der Heilige Geist, Charitas genannt – die Liebe Gottes also als der „schöpferische Eros“, das „welterzeugende Wohlwollen“. Charitas ist als geflügelter junger Mann dargestellt, der aber merkwürdigerweise das Haupt des väterlichen Alten auf seinem feurigen Kopf trägt; er hält das Lamm des Erlösers in den Händen und tritt den schlangenumwundenen Satan nieder (Abb. 8). In noch wieder einer anderen Vision wird nun die die Schöpferkraft hervorbringende und sie begründende Kraft Gottes, seine Allmacht, Potentia, als eine Gestalt (quae omnipotentem Deum designat) im Gefieder- oder Schuppenkleid mit dem Gesicht eines Greises in der Magengrube, mit feurigem Strahlenhaupt, Cherubimflügeln und Löwenfüßen wiedergegeben – Gottvater in seiner Erscheinungsform als Allmächtiger. Nun mag einem dies alles schon ausreichend merkwürdig vorkommen, aber immerhin, es ist das europäische Mittelalter, es sind religiöse Aus13 Hier und im folgenden beziehe ich mich auf Clausberg, Kosmische Visionen, 92ff.; das angeführte Zitat findet sich dort S. 60; Abb. 8 ist nach den Tafeln 7 und 24 dort zusammengestellt.

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Abb. 8 Allegorien der Gotteskräfte (Hildegard v. Bingen. Buch der göttlichen Operationen); links: Charitas und rechts: Potentia

drucksformen unserer eigenen Vergangenheit. Ikonographisch gehen diese Darstellungsweisen in ihren bestimmenden Elementen auf einen in der Antike und Spätantike verbreiteten ägyptischen Darstellungstyp zurück, der, in das europäische Repräsentationssystem transponiert, von einer gnostischen Unterströmung des Christentums bis in das Hochmittelalter, bis hin zu Hildegard von Bingen getragen worden ist14. Das sind einmal die sog. „Horusstelen“. Diese Stelen (s. Abb. 9a) geben ein Kind wieder, mit einem Greisenhaupt darüber, das Untiere, Krokodile niedertritt und mit den Händen Schlangen und Wüstentiere ergriffen hat – von den Übeln befreit. Der Typus geht, wie Heike Sternberg-el Hotabi15 gezeigt hat, auf einen älteren zurück, bei dem der Dargestellte als „Horus, der Retter / der Erlöser“ benannt ist. Der Text, der gewöhnlich auf den Horusstelen steht, wird so eingeleitet: „Du Alter, der sich verjüngt zu seiner Zeit, Greis, der Kind wird“ 14

Hierzu Clausberg, Kosmische Visionen, 121ff. und speziell zu „Horus auf den Krokodilen“ und Bes-Pantheos A.A. Barb, Three elusive Amulets, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 27, 1964,10ff. 15 Sternberg-el Hotabi, Horusstelen.

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Abb. 9a links: Stele vom Typ „Horus auf den Krokodilen“; b rechts: Bes Pantheos

– was als Aussage so sicher noch nicht weiterhilft, auf die ich aber noch einmal zurückkomme. Dem Augenschein erschließt sich die Bedeutung dieser Stelen allerdings auch nicht. Festhalten läßt sich zunächst eigentlich nur: Der Wunsch, jene Liebe Gottes darzustellen, die die Welt erschaffen und den Erlöser gebracht hat, der von ihren Übeln befreit, kann offenbar auch eine solche ikonische Form aufgreifen oder sich ihrer bedienen. Nun sind die Horusstelen häufig mit einem anderen Darstellungstyp vergesellschaftet, mit dem sog. „Bes Pantheos“, dem „Allgott-Bes“ – Bes ist eine ziemlich häßliche und zwergenhafte Gestalt, die als Schutzgott ausgerechnet der Gebärenden gilt (Abb. 9b). Auf diesen Bes Pantheos nun geht das Hildegardsche Bild der Potentia, der Allmacht Gottes, ikonographisch zurück – Schwanz eines Falken, der auf Horus verweist, vierflügelig, der Greisenkopf auf dem für Kindhaftigkeit stehenden Zwergenkörper, Löwenkopfknie und Schakalssandalen, Herrschaftszeichen und gepackte Untiere in seinen vielen Händen, auf einer Schlange stehend, die sich in den Schwanz beißt und weitere Untiere einschließt. Diese Gestalt kann auch in Zeichnungen auf Papyrus auftreten, etwa so, wie hier wiedergegeben16: flammenumzüngelt und mit sieben Köpfen; 16

Umschlagbild von Assmann, Ägypten (Zeichnung von Aleida Assmann), nach S.

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wenn ihre votivgaben- und vignettenhafte Kleinheit sie nicht wieder harmlos machte, könnte man sie eine wahrhaft apokalyptische Schreckensgestalt nennen – von der aber der zugehörige Text schon weit verständlicher spricht:

Abb. 10 „Der Bes mit den sieben Köpfen: Er verkörpert die ‚Machterweise‘ Amun-Res ... des großen Löwen, der von selbst entstand; des großen uralten Gottes im Anfang; ... des Königs der Götter, Herrn des Himmels, der Erde, der Unterwelt, von Wasser und Bergen; dessen, der seinen Namen verbirgt vor den Göttern; des ‚Starken‘; des Riesen von Millionen Ellen, des [Stark]armigen, der den Himmel über sich hält; ... aus dessen Mund der [Lebensodem] kommt, um alle Nasen zu beleben; er geht auf als Licht, die Erde zu erleuchten; der Nil steigt von den Ausflüssen seines Körpers, um jedermann täglich ... am Leben zu erhalten.“ (pMag. Brooklyn 47.218.156)

Im Grunde wird hier auf eine eigene Weise nichts anderes gesagt als das, was Hildegard in ihren bildlich und sprachlich zum Ausdruck gebrachten Visionen auch sagen wird: Gottes Allmacht und Schöpferkraft treten als eigene, vom ihm abgespaltene Gestalten in Erscheinung, werden von personhaften, aber nicht-menschlichen Wesen verkörpert, die in StellvertreSauneron, Le papyrus magique illustré de Brooklyn, Wilbour Monographs III, New York 1970, Tf. IV; der zitierte Text nach Sauneron, aaO, Tf. IV+IVa, 1.1–5, S. 23–26.

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tung des fernen und verborgenen Gottes agieren. Potentia und Charitas sind genauso Hypostasen Gottes, wie dies auf ihre Weise Horus, der Erlöser, und Bes Pantheos gewesen sind. 2.3 Der ontische Logos Was aber hat diese Kette von Repräsentationen nun gebracht, abgesehen davon, daß sie ein interessantes oder gar amüsantes Beispiel interkultureller Diffusion und Transformation abgibt? Sie hat vor Augen geführt, daß ein Prinzip religiöser Sprache, ein der Religion eigener Code generalisierter Symbolisierung auch in Ägypten das ist, was ich nunmehr personale Chiffrierung17 nennen will: Eigenschaften Gottes, seine Liebe, seine Macht, genauso wie Konstituenten oder Ereignisklassen von Welt und Wirklichkeit erhalten den Status von Wesenheiten, von Entitäten, die kommunizieren und agieren. Das ist zunächst einfach ein Mechanismus von Sprache allgemein, der Bildung von Substanzen – „Substantiven“ – durch Benennung; unbewußt personalisieren wir so ununterbrochen, alltagssprachlich oder poetisch, etwa „Der Morgen kam; es scheuchten seine Schritte den leisen Schlaf, der mich gelind umfing ...“ – der Morgen hat Beine und der Schlaf Arme, mich zu umfangen. Mache ich dies ganz bewußt und um zu erklären, fülle ich meine Welt mit einer Unzahl von Wesen, die Ereignisklassen meiner Welt umgreifen, die aber dennoch nicht von dieser Welt sind. Es betritt der ontische Logos die Bühne, heißt, die Aussage, die durch Rede den Redegegenständen Substanz zumißt und ihnen eine Form von Sein gibt. Die Rede über die Welt erzeugt in ununterbrochener Folge eine Spezies von Wesenheiten, die als solche zwar nicht von dieser Welt sind, aber mit ihr zu tun haben – die in einer eigenen Welt agieren, aber den aus der Rede gewonnenen Bezug zu Formen und Ereignissen der Menschenwelt haben. Der ontische Logos hat zwar durch die Erzeugung selbständiger Wesenheiten eine ihm eigene Form der Objektivität; er erlaubt eine Beschreibung, die absieht von der Eingebundenheit der beschreibenden Subjekte in das Beschriebene, und ist daher in seinen platonistischen – oder besser: neuplatonistischen – Varianten eine Form der philosophischen Rede gewesen. Er gestattet aber seinen Symbolisierungen und Chiffrierungen auch, in ihnen Personen zu sehen, die man auf sich beziehen und denen man sich verehrend zuwenden kann. Zum zweiten aber hat die Repräsentationskette darauf geführt, daß die Ikone dieser Wesenheiten Montagen und Verweisfiguren sind (Abb. 9 u. 10): Der Greis ist mit dem Kindkörper zum Zwergen verbunden, der Vo17

Luhmann, Funktion der Religion, 33.

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gelschwanz verweist auf Horus, Schlangen, Gazellen und Krokodile sind nicht sie selbst, sondern stehen für das Unheil, das niedergetreten oder gebändigt ist. Die ganze monströse Montage gibt eine Entität wieder, die ihr eigenes Sein über die tierhaften Konnotationen von der rettenden und schöpferischen Allmacht Amun-Res bezieht, die durch diese Wesenheit vergegenwärtigt wird. Und so wie Bes Pantheos sind alle göttlichen Tiere und tiermenschlichen Wesenheiten am Ende auch nur Verweisfiguren – im Grunde von keiner anderen Funktion als der Helm bei Athene und der Blitz bei Zeus, aber zu gleicher Zeit klar machend, daß die so Charakterisierten nicht von dieser Welt sind.

3. Die Strukturen der Wirklichkeit 3.1 Der logische Aufbau der Welt 3.1.1 Personale Chiffrierung und die Entstehung des Kosmos Ich will mich nun einer der Inhalte von Religion zuwenden, die nach meinen Aussagen vorhin für die Menschen wichtig sind und daher zum allgemeinen Inventar von Religionen gehören sollten – nämlich: Wie ist die Welt so geworden wie sie ist? Welchen Grund hat das Sein? Erste Antwort: Daß Gott es geschaffen hat natürlich; Bes Pantheos hatte die Macht Amun-Res verkörpert, die in der Schöpfung zur Wirkung kam. Aber: In diesen Aussagen stehen sich Welt und Schöpfer nur gegenüber; wie Gott sie geschaffen hat, davon wird nicht erzählt. Was aber erzählt wird, ist – unter verschiedenen Formen – eine Göttergenealogie, die so geht18:

Abb. 11 18

S. hierzu und zum folgenden auch Assmann, Ägypten, 144ff. (5.4).

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1 Schu, „Sohn des Re“ 2 Nut 3 Geb

Abb. 12: Die Chiffren der Weltstruktur

Der Gott Atum erwacht und findet sich im Nun, der großen Flut; er erzeugt ungeschlechtlich den Gott Schu und die Göttin Tefnut, die ihrerseits, nun geschlechtlich, Gott Geb und Göttin Nut hervorbringen und diese wiederum die Gottheiten Osiris, Isis, Seth und Nephthys; Osiris und Isis endlich gebären Horus (Abb. 11). Nun sagt das zunächst vielleicht nicht viel mehr, als daß eine Reihe von Gottheiten von Atum abstammen; man kann aber an diese Gottheiten noch ein wenig näher herangehen: In dieser skizzenhaften Zeichnung von einem Papyrus (Abb. 12)19 lassen sich durch Beischriften und Dingrepräsentanz neben anderen Gottheiten mindestens drei der Götter identifizieren, die in der Genealogie auftreten: Geb, Nut und Schu. Die Geb genannte Gestalt streckt sich aus und ist mit Pflanzen, Schilfblättern angetan, Nut wölbt sich über ihn, mit Sternen bedeckt, der falkenköpfige Sonnengott Re-Harachte fährt offenbar im Boot über ihren Rücken; zwischen Geb und Nut Schu, der Nut emporhebt – die Beischrift nennt Schu „Sohn des Re“, der doch eigentlich Sohn Atums sein müßte: das wird sich noch aufklären. Seine unmittelbare Evidenz macht aus diesem Bild ein Bild des Weltgebäudes: Geb ist nicht nur der Gott der Erde, sondern er ist das, was wir mit dem Begriff Erde bezeichnen; Nut ist nicht nur die Göttin des Himmels, sondern der Himmel selbst, an dem die Sterne stehen und über den die Sonne ihre Bahn zieht – sie ist das „Firmament“, um es mit diesem alten Ausdruck zu sagen, der den Himmel als eine feste Kuppel versteht. Vielleicht sollte ich um der Genauigkeit oder Angemessenheit willen anführen, wie die Ägypter gesagt hätten: Die Erde ist der Ba des Geb, der Him19

Darstellung abgewandelt nach Schäfer, Weltgebäude der Ägypter.

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mel der Ba der Nut – Ba als die Fähigkeit der Götter, Gestalt anzunehmen und sich zu manifestieren, ihre Fähigkeit zur Metamorphose. – Der Gott Schu aber trennt Himmel und Erde, er steht anscheinend für das, was man bei uns früher einmal „Äther“ genannt hat, die unsichtbare, in ihrer Bewegung als Wind erfahrbare und als Atemluft lebensnotwendige Substanz zwischen Himmel und Erde. Was heißt das nun für die Genealogie der Götter? Daß, wenn die zweite Generation nach Atum Himmel und Erde sind, alle Glieder der Genealogie Kategorien sind, Konstituenten der Welt, und daß somit der ganze Stammbaum die Genealogie der Welt ist; sie bildet die Entstehung der Welt ab20. Nun war Schu, jene personal chiffrierte Substanz, die Himmel und Erde trennt, ihr Vater – was aber ist Tefnut, ihre Mutter? In einem philologischen Einkreisungsverfahren, das ich hier nicht nachvollziehe, das aber bei Jan Assmann nachgelesen werden kann21, erweist sich Tefnut als Ma’at, das Prinzip der richtigen und gerechten Ordnung. Und die Bestimmung des Gottes Schu hatte noch nicht ausgereicht: Er ist vielmehr der Gott des Lebens selbst, der sich auch in der lebensnotwendigen Luft manifestieren kann. Also: Himmel und Erde sind die Kinder von Leben und Ordnung – ein wenig übersetzt: Aus der Verbindung des Lebensprinzips mit dem allgemeinen Prinzip der Ordnung und Gerechtigkeit entsteht das feste Gehäuse, das den Lebewesen Raum ist. 3.1.2 Zwischen Himmel und Erde Nun muß ich hier allerdings ein wenig umformulieren. Schu trennt seine Kinder genaugenommen erst, nachdem die Verbindung von Geb und Nut, Himmel und Erde Frucht getragen hat, heißt, nachdem aus ihnen die dritte Generation dieser Theogonie hervorgegangen ist, Osiris, das Schwesternpaar Isis und Nephthys (s. Abb. 13) sowie Seth (Abb. 14). Eben für sie ist der Raum zunächst einmal geschaffen worden, den ihre Eltern, Geb und Nut bilden. Ihr göttliches, ihr kategoriales Sein und Handeln aber, mit dem sie den Raum zwischen Himmel und Erde füllen, muß anders erzählt werden als das ihrer Vorfahren. Zwar gebären auch sie einen Gott, aber das Kind von Isis und Osiris, das die vierte Göttergeneration bildet, Horus, muß zum einen gewissermaßen in das Handeln seiner Elterngeneration einbezogen werden, und zum anderen ist Horus allein und bleibt es – er wird keine Nachkommen mehr haben, mit ihm endet die Theogonie, die mit Atum ih20 Systematisch zu den ägyptischen Konzepten der Welterschaffung Allen, Genesis, und vor allem Bickel, La cosmogonie. 21 Assmann, Ma’at, Kap. VI; ders., Ägypten, 209ff.

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Abb.13: Osiris (zweiter von rechts) mit Horus (links daneben), Isis und Nephthys (beide rechts daneben) sowie Thot (ganz links)

Abb. 14: Seth

ren Anfang nahm. Lassen Sie mich die Geschichte in der folgenden Weise zusammenfassen: Seth, genealogisch Bruder des Osiris und Onkel des Horus, stellt ihnen beiden nach, erfolgreich bei Osiris, erfolglos bei Horus, den die kluge und mächtige Isis, die Große, die Gottesmutter, beschützt und der mit ihrer Hilfe Seth schließlich besiegen wird. Osiris ist ein göttlicher König, der

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nun abtreten muß und gewissermaßen in eine andere Seinsweise übergeht, die, wenn er nicht ein Gott wäre, Tod genannt werden müßte; Isis und Nephthys betrauern ihn und halten die Nachtwache an seiner Bahre. Mit dem Sieg über Seth aber wird Horus Nachfolger des Osiris in der Herrschaft – und Horus bleibt für alle Ewigkeit, für all die Ewigkeit, die der ägyptischen Welt zugemessen sein wird. Als Weltkonstituenten gelesen, hat das Zusammenwirken von Osiris, Isis, Nephthys und Seth im festen Raum der Lebewesen zwar mit dem Lebendigen zu tun, hat aber, anders als bei den anderen Konstituenten, eine agonale Komponente und einen gewissen Anteil an Unbestimmtheit. Osiris steht für den Tod, ohne am Ende eigentlich tot zu sein – oder anders gesagt: wenn von ihm gesprochen wird, dann war er tot, ohne es noch zu sein. Seth verkörpert Vergänglichkeit, Störung und Zerstörung, ohne am Ende erfolgreich zu sein; man könnte ihn beinahe eine tragische Figur nennen, als jemand, der stets das Böse will, aber doch immer nur das Gute schafft, weil Isis seine Anstrengungen ins Positive wendet. Isis – aber auch Nephthys, die von Osiris Anubis empfangen hat, Grenzgänger wie Isis Grenzgängerin ist, Isis trotzt der Vergänglichkeit, sie ist die Macht der Bewahrung und der Persistenz des Lebendigen trotz Tod und aller Gefährdung; sie ist dies als Hüterin und Gefährtin des Osiris und Mutter des Horus, durch die das Gegenwärtige aus dem Vergangenen hervorgeht und die beide vermittelt. Die Ereignisklassen, die von den personalen Chiffren erfaßt werden, lassen sich wie folgt zusammenfassen: – – – –

Alles Dahingeschwundene ist Osiris; alles Gefährdende ist Seth; alles Neuwerdende ist Horus. Und alles mutterhaft Hütende und Bindende ist Isis.

Horus also ist das paradigmatische Kind, das er auch bleibt, wenn er erwachsen und mächtig geworden ist, das Junge, das Neue, die unbestrittene Herrschaft und das gegenwärtig Lebende. Durch Horus aber verliert seine Elterngeneration ihre Unbestimmtheit: Gewissermaßen von der Horusgeneration aus gesehen, hat Seth zunächst gewonnen und ist der Vater verstorben; aus der Sicht ihres Sohnes hat Isis ihn postum von Osiris empfangen – der doch in seiner Sphäre ganz lebendig ist. Sie, Isis, ist die Mittlerin zwischen Osiris-Sphäre und Horus-Sphäre, die mächtige und, wie es heißt: zauberreiche Grenzgängerin. Von Horus’ Gegenwärtigkeit aus ist Osiris das „Gestern“, wie das sog. Totenbuch sagt22 (s. Abb. 15). 22 TB 17,9; s. zur Übersetzung Rößler-Köhler, Kapitel 17, 214, oder Hornung, Totenbuch, 60 (5).

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Demnach sind dritte und vierte Generation jener Göttergenealogie auf komplexere Weise ineinander verwoben als die Sphären ihrer Vorfahren. Sie beide zusammen sind die Bestimmungen des Lebendigen. Die HorusSphäre ist die der agierenden Lebewesen und ihrer Gegenwart, die OsirisSphäre aber jene, die als Welt des Gestern die Sphäre des Horus umgreift. Und sie, die Osiris-Sphäre ist diejenige, die mit Tod und Zerstörung in die Horus-Sphäre eingreift und das Zerfallende, Gestorbene und Vergangene zu sich nimmt, ihm bei sich eine eigene Seinsweise gewährend, die nun ohne Ende sein wird. Mit Isis aber enthält diese Sphäre auch die Macht der liebenden Bewahrung und der künftigen Wiedergeburt des Alten im Neuen. Und Osiris, Isis und Horus sind das Modell der soziomorphen Dreiheit – Familie –, die das Prinzip der kultischen Organisation der ägyptischen Götter ist. Nun hatte meine Erzählung von der ägyptischen Welt noch einen Schönheitsfehler, den ich hier beseitigen möchte: Der Raum zwischen Himmel und Erde ist die Welt des Lebendigen und der Lebewesen; sie selbst sind bislang nur als Objekt zur Sprache gekommen, weil sie keine Konstituenten sind. Der einen Gattung der Lebewesen gehört an, was Geb hervorbringt an Pflanzen und Getier, das andere ist die Gattung Mensch. An welcher Stelle aber ist sie zur Welt gekommen? Nachdem Schu und Tefnut durch Parthenogenese aus Atum hervorgekommen waren, mußte Atum weinen, weil seine Tochter Tefnut wieder eine Zeit fern war von ihm – und aus den Tränen Atums sind die Menschen geworden23. Auch sie sind eine Hervorbringung des Einen, der sich selbst erschuf, aber nicht wie die Welt eine substantielle Hervorbringung, sondern eine akzidentelle – um es in scholastische Termini zu kleiden. Erst nach ihnen, den Produkten der Gottestrauer, ist die Welt in Gange gekommen und für sie eingerichtet worden. 3.1.3 Die Genealogie des Kosmos Betrachten wir die Theogonie, die die Weltentstehung abbildet, noch einmal, nun als Ganzheit. Gott kommt zu sich im Nun, dem großen Urozean, und aus ihm entstehen in einer Kette von Ausdifferenzierungen paarweise die Konstituenten der Welt. Jedes Konstituentenpaar trägt alle noch folgenden in sich. Das Prinzip des Weltaufbaus folgt aus der Kombination des Lebens mit der Ordnung, Schu mit Tefnut-Ma’at; sie sind die Bedingungen der Möglichkeit des festen Weltgebäudes aus Himmel und Erde wie seine Hervorbringer. Himmel und Erde schließlich sind die Bedingungen und das Gehäuse für die Strukturierung des Lebendigen und seines Daseins. Alles aber war in Atum und ist von seinem Fleische, die Welt ist Gott. 23

S. dazu etwa Bickel, La cosmogonie, 93 (74); 199ff.

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Also: Die Existenz beginnt, wenn Atum in den Worten „ich bin der große Gott, der von selbst entstand“ zu sich kommt. Er ist der Zündfunke des Seins; vor ihm war nichts – vor ihm war das Nichts als Grenzlosigkeit, Urfinsternis und die ungestalte Urmaterie Nun, „Präexistenz“. Aus ihm aber, der damit zum „Allherrn“ wird, entfalten sich eines nach dem anderen die Weltzeitalter, aus dem Einen werden die Vielen. Und was mit Atum begann, nimmt seine letzte Form an als Zeitalter des Horus, dem Gott und Herrn des hic et nunc, der Jetztzeit – sagen wir, als der göttlichen Chiffre für das Holozän (Abb. 15).

Abb. 15: Schema der Kosmogonie

Aber man muß sehen, was man noch hat: Die Welt hat ihre Geschichte, die zeitliche Komponente aber zieht auch eine strukturelle nach sich. Die Weltkonstituenten entstehen nacheinander, aber sie vergehen nicht, sondern bleiben; sie sind die Schalen des Daseins, seine Sphären. Im Innersten dieser in Seinsschalen geordneten Welt ist der Ort der Menschen und ihrer Mitwesen. Horus ist die kategoriale Hülle ihrer Lebenswelt. Um sie herum ist die Sphäre des Osiris und seiner Generation. Sie ist vor Horus entstanden und somit von ihm und seiner Sphäre aus die Welt des Gestern; die Horus-Sphäre und ihre Gegenwärtigkeit ist somit umhüllt von der Sphäre des Vergangenen, die freilich auch die Sphäre der liebenden Mutter ist, die jene, die Horus-Sphäre zur Welt gebracht hat (s. Abb. 15).

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Die Welt insgesamt ist von Nicht-Sein umgeben, eine Existenzkapsel im pleroma, dem Urstoff; sie ist eine Insel des Seins, die in den Fluten des Weltenmeeres schwimmt. Aus der Art, wie die Welt entsteht, folgen die Regeln, die sie bestimmen: die auf Dauer gestellte Kosmogonie begründet die Kosmologie. Eine Anmerkung: Wenn diese Abstraktion der ägyptischen Welt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ptolemäischen Weltbild hat, so liegt dies sicher weniger daran, daß der Astronom Ptolemaios ein Ägypter war, sondern das es eben ein solches Bild ist, das entsteht, wenn die einzigen Instrumente der Erkenntnis Anschauung und Denken sind. 3.2 Die Phänomenologie des Sonnenlaufs 3.2.1 Die Sonne am Tag und die Gestalten Res Die Einheit der Differenz ist in der Kosmogonie thematisiert, so läßt sich vorläufig zusammenfassen; die Welt in der Vielheit ihrer Erscheinungsformen und ihrer göttlichen Chiffrierungen ist eins in Atum, die Welt ist Gott. Aber in diesem Bild scheint eine wesentliche göttliche Größe zu fehlen, nämlich, wo ist die Sonne und der große Gott Re, dessen Ba, Manifestationsform sie ist, oder auch: Re-Harachte mit dem Falkenkopf, „Re, Horus des Horizonts“? Betrachten wir noch einmal jenes Ikon des Weltgebäudes, das Nut, Geb und Schu in ihren Funktionen wiedergegeben hatte. Über Nut, das Himmelgewölbe, zieht die Sonnenbarke ihre Bahn, aufsteigend im Osten, hinab im Westen, ihrem Untergang entgegen; in der Barke Re-Harachte, zusammen mit zwei seiner kosmischen Hilfskräfte, Wesenheiten, deren eine an ihrer Feder leicht als Ma’at, die Richtigkeitsordnung, zu erkennen ist, die andere ist Heka, die „Zauberkraft“, die „Magie“ (Abb. 16). – Zwischenbemerkung: Was man gewöhnlich Magie oder Zauberkraft nennt, ist nichts anderes als die Macht der Götter, in die Welt einzugreifen, eine Fähigkeit, die selbstverständlich ist in einem Denkzusammenhang, dessen Regeln durch die Göttlichkeit der Welt bestimmt ist; „Magie“ in unserem Sinn wird es erst, wenn man solches Eingreifen von Göttern in einer Welt erwartet, deren Regeln die von Physik und Biochemie sind. – Die Sonne zieht also als Repräsentantin göttlicher Macht über den Himmel, und in den Hymnen an den Sonnengott wird ihr Lauf so angesprochen24:

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Assmann, Liturgische Lieder, 336.

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1 Schuh, „Sohn des Re“ 2 Nut 3 Geb 4 Heka 5 Re-Herachte 6 Ma‘at

Abb. 16: Das Weltgebäude

– „er [der Sprecher] hat Re betrachtet in den drei Gestalten, die er annimmt; er hat ihn angebetet am Morgen in jenem seinem Namen ‚Chepri‘ er hat ihn gepriesen am Mittag in jenem seinem Namen ‚Re‘ er hat ihn besänftigt am Abend in jenem seinem Namen ‚Atum‘.“ Zum ersten erweist sich daran, daß Atum eine Gestalt Res ist – oder anders: der Sonnengott Re steht am Weltanfang, hat aber als Zündfunke des Seins jenen Namen Atum, den er als Sonne des Abends führt – er ist ReAtum, wie die ägyptischen Theologen die Aspektualisierung Gottes chiffrieren, Re in der Gestalt Atums.

Abb. 17: Schema des Sonnenlaufes

Zum anderen aber stehen die Phasen des Sonnenlaufes, die in den Gestalten Res personal chiffriert sind, wie alle Gottheiten für eine Unzahl von Ereignisklassen; sie lassen sich ausschnittweise etwa so wiedergeben25: 25

AaO, 337

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Zeit

Morgen

Mittag

Ort Bewegungsphasen Gestalten Lebensalter Phasenmetaphern

Osten Zenith Aufgang Überfahrt Chepri Re Kind Mann Geburt-Aufzucht Sieg-Herrschaft

27 Abend Westen Untergang Atum Greis Alter-Sterben

Man kann auch so sagen: Chepri, der Gott, dessen Verweisfigur der Skarabäus ist, ist die Gestalt des Sonnengottes, die für morgendliche Frische, kindhafte Zukunftsfähigkeit und jugendliche Kraft steht, Re selbst für triumphale herrscherliche Macht und Atum hier gewissermaßen für Alter und Schwäche, erfahrungsgesättigt, aber dennoch – was so gewiß nicht zu dem Atum der Kosmogonie paßt und noch einer Klärung bedarf. Deutlich ist aber auch, daß sich in die personale Chiffrierung des Sonnenlaufs diejenige hineinschiebt, die Horus, Sohn der Isis, ausgemacht hat: Die Kindhaftigkeit und ihre Konnotationen – so wie Atum eine Gestalt des Re war, so ist auch die Re-Gestalt Chepri eine Erscheinungsform des Horus; oder umgekehrt: Horus kann eine Erscheinungsform des jugendlichen Sonnengottes sein. Und das ist der Grund, warum Re Harachte heißt: „Re als Horus des Horizonts“ oder „der Horizonte“. – Auch hier eine Zwischenbemerkung: Ich glaube, es wird allmählich deutlich, was den Stil der religiösen Welterklärung ausmacht, auf welche Weise in Ägypten unbestimmte zu bestimmter Komplexität gemacht wird: Ereignisklassen, die personal chiffriert sind, werden als solche Chiffren in Kommunikation versetzt oder für identisch erklärt – und Identitätserklärungen sind Erklärungen. Erlauben Sie mir, ein etwas simples Beispiel zu geben: Zu sagen, daß der Abendstern mit dem Morgenstern identisch ist und beide Erscheinungsformen des Planeten Venus sind, ist eine Erklärung. – 3.2.2 Descensus ad inferos, oder: Der Abstieg in die Gegenwelt Dieses Ineinanderschieben von Weltkonzepten hat aber noch eine ganz andere Qualität. Der Sonnenlauf hat eine sichtbare Komponente und eine unsichtbare. Die Anschauung vermittelt, daß die Sonne am Abend verschwindet, müde und schwach geworden, und daß sie am Morgen wieder aufgeht, kräftig und strahlend; wo sie sich aber des Nachts befindet, das erschließt sich nur dem Denken. Sehen wir uns ein letztes Mal das Ikon des Weltgebäudes an (Abb. 16). Auf ihm ist dargestellt, daß das herabsinkende Sonnenschiff mit weitgeöffneten Armen von einer Gottheit in Empfang genommen wird, die die

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Doppelkrone des Herrschers trägt und bezeichnet wird als „Vollendeter Gott, Herr der Duat“ und „Vollendeter Gott, in dem die Duat ist“ oder „der in der Duat ist“. Das ägyptische Wort Duat wird üblicherweise als „Unterwelt“ übersetzt, die aber, wie man gleich sehen wird, doch noch etwas anderes ist. Herr der Duat ist Osiris. Osiris also nimmt den altgewordenen Re-Atum des Abends in Empfang, und bei ihm befindet er sich in der Nacht und erhält die Kraft zurück, die ihn morgens wieder neu sein läßt. 1 „Dies ist Osiris, der die Duat umfängt“ 2 „Dies ist Nut, die Re empfängt“ 3 „Dieser Gott und die Götter, die mit ihm sind, haben sich niedergelassen in der Tagesbarke“ 4 „Erkenntnis“ 5 „Ausspruch“ 6 Schu 7 Geb 8 Isis 9 Nephthys 10 „Diese Arme kommen hervor, daß sie jenen Gott emporheben“ 11 Nun

Abb. 18: Schlußbild des sog. „Pfortenbuches“

Das alles aber, Sonnenlauf am Tage, abendlicher Empfang und morgendliche Übergabe kann auch noch eine ganz andere ikonische Fassung erhalten (Abb. 18). In der Mitte das Sonnenschiff, in dem nun der Sonnengott als morgendlicher Chepri-Skarabäus dargestellt ist, der seine Re-Gestalt als Sonnenscheibe oder Sonnenball vor sich herschiebt. Die Beischrift sagt, was geschieht: „Dieser Gott und die Götter, die mit ihm sind, haben sich niedergelassen in der Tagesbarke“; unter den Göttern der Schiffsmannschaft finden sich Isis und Nephthys sowie Geb und Schu, gesteuert aber wird das Schiff von den Gottheiten „Erkenntnis“ und „Ausspruch“ –

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der ontische Logos, das welterschaffene Sprechen in Person. Eine wahrhaft bedeutungsgeladene Mannschaft! Die Gestalt, die das Schiff nun mit seinen Armen an den Himmel hebt, ist Nun selbst, der Urozean: „diese Arme kommen hervor, daß sie jenen Gott emporheben“, sagt die Beischrift. Über dem Schiff nun und auf dem Kopf stehend zwei Gestalten, die sich nicht ikonisch, nur durch ihre Beischriften erschließen. Bei der einen steht: „Dies ist Nut, die Re empfängt“, bei der anderen, die sich kreisförmig in sich schließt: „Dies ist Osiris, der die Duat umfängt.“ – Nut, die Himmelsgöttin also, die den Sonnengott auf seiner Tagfahrt trägt, und die selbst von Osiris getragen wird, und Osiris selbst, der die Hülle der Duat ist – oder anders: Die Duat ist das, was von Osiris umhüllt wird, sie ist das, was den Inhalt seines Weltzeitalters, des Zeitalters und der Seinsschale des „Gestrigen“ ausmacht26. Nun ist die Symbolstruktur dieses Bildes gegenüber dem vom stillgestellten Weltgebäude verschoben (s. Abb. 16) – sein Gegenstand ist die Dynamik des Sonnenlaufes, die Mechanismen der Tagwelt und des Hier und Jetzt. Beide Bilder zusammen aber beschreiben in ihren Komponenten ikonisch hinreichend genau, wie die Konstituenten der Welt ineinandergreifen: Re wird herabsinkend vom Herrn der Duat, Osiris, empfangen und befindet sich des Nachts in der Welt, die von Osiris umfangen wird (Abb. 19).

Abb. 19: Schema des Sonnenlaufes 26 Die vollständige Bibliographie des Bildes bei Hornung, Pforten des Jenseits, 289ff.; die Version hier ist die des Alabastersarkophags Sethos’ I., farbige Wiedergabe des Bildes im Grab Ramses’ VI. (Mittelteil zerstört) bei Hornung, Tal der Könige, 143 (109).

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Die Osiris-Welt ist die Rückseite der Re-Welt, und die Duat ist die der Tagwelt reziproke „Gegenwelt“, in die die Sonne hinabsinkt und die sie in der Nacht durchzieht, um am Morgen wieder aufgehen zu können. Aus der Perspektive der Menschenwelt, die durch die Präsenz Re-Harachtes, des Sonnengottes in Horusgestalt, bestimmt ist, stellt es sich als die allnächtliche Verwandlung des greisen Atum in den jugendlichen, horusäquivalenten Chepri dar, dessen täglich erneuerte Energien die Welt am Leben erhält. 3.2.3 Die Nachtfahrt des Sonnengottes Die Tagwelt ist durch die Phasen der Sonne und ihre Kraft in ihrer Struktur und ihrer Dynamik evident; nicht so die Nacht: Der Raum, den die Sonne in der Nacht durchwandert, kann nur vom weltkonstruierenden Denken ausgeleuchtet werden. Die Weise, in der dies geschieht, wie das Denken die „Kosmographie der unsichtbaren Wirklichkeit“27 ausgestaltet, ist niedergelegt in den sog. Unterweltsbüchern28, mit denen ein großer Teil der Gräber der ägyptischen Könige des Neuen Reiches dekoriert worden sind. Diese Gräber sind nichts anderes als gebaute und gestaltete Modelle jener Welt, der Duat, die von ihrem Dekor beschrieben wird, etwa vom Buch Amduat, das Buch „dessen, was in der Duat, der Gegenwelt ist“. Die Nacht ist in ihm wie der Tag in zwölf Stunden eingeteilt, die als Räume von durchaus gewaltiger Erstreckung gefaßt sind – nach Christian Leitz von einem Gesamtumfang, der annähernd dem tatsächlichen Erdumfang entspricht29. 1 „Ausspruch“ 2 „Lobpreisender Horus“ 3 „Ba“ des Re, „Fleisch“ 4 „Zauber“ 5 „Erkenntnis“ 6 Isis

Abb. 20: Die Barke des Sonnengottes in der 7. Stunde des Amduat 27

Assmann, Ägypten, 77 (3.2.2). Vollständig in Übersetzung von Hornung, Unterweltsbücher, wiedergegeben; zu diesen Unterweltsbüchern gehört auch das schon genannte „Pfortenbuch“. 29 Leitz, Ägyptische Astronomie, 101ff. („Anhang: Die Länge der ägyptischen Unterwelt“). 28

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Wie am Tag bewegt sich der Sonnengott auch durch die Stunden der Nacht in einem Schiff (Abb. 20)30, aber in verwandelter Gestalt und mit anderer symbolischer Mannschaft. In der skizzenhaften und kursiven Wiedergabeweise, die in den frühen Unterweltsbüchern die Gestalten zu „schwebenden Schemen“ werden läßt, ist die Nachtgestalt des Gottes durch einen Widderkopf charakterisiert – durch den Widderkopf charakterisiert als „Ba des Sonnengottes“, seine gegenweltliche Metamorphose, die auch „Fleisch“ genannt wird. Seine Kabine wird von einer Schlange gebildet, die andernorts Figur des Weltkreises ist. Am Bug der Barke steht Isis, die sie mit ihren Fähigkeiten und Kenntnissen durch das gegenweltliche Fahrwasser lotst. Hinter ihr die wegeöffnenden Machthypostasen Gottes: Sia, die „Erkenntnis“, Heka, der „Zauber“31, die „Magie“; hinter der Kabine weiter eine Form des Horus – der „lobpreisende Horus“ als Chiffre des Gottesdienstes –, Formen von Thot und Seth und schließlich Hu, der „ontische Logos“. Diese Symbolzusammenballung ist Ausdruck der Verfügungskräfte Gottes, mit denen er dann auch den kosmischen und seinsgefährdenden Mächten begegnet, die sich ihm in der Gegenwelt in den Weg stellen werden. So, mit dem Hofstaat seiner Macht angetan und einem ungeheuren Gefolge bedeutungsgeladener Wesenheiten bewegt der Sonnengott sich durch die Stunden der Nacht auf einer Reise, von deren Bedeutungshöhepunkten ich einige herausgreifen will. Die 1. Stunde (etwa im Grab des Tutanchamun ausschnittweise abgebildet) symbolisiert den Untergang der Sonne in der Menschenwelt als ihren reziproken Aufgang in der Gegenwelt, sie wird von den tier- und menschengestaltigen Wesenheiten der Nachtwelt begrüßt wie morgens von denen des Tages. Tiefer in der Nacht, in ihrer 5. Stunde, gelangt er in die „geheime Höhle des Sokar“ (Abb. 21a) – Sokar, eine Gottheit, die sich hier definiert und die eine Erscheinungsform des Gottes Ptah ist. Die Hauptwesenheiten in dieser Stunde vor Mitternacht werden als „Fleisch“ bezeichnet, wie der Ba des Sonnengottes in seiner Barke – sozusagen der vergängliche Anteil der Wesen als ihre gegenweltliche Seinsform: Materie. Der Kopf auf der Sokarhöhle heißt „Fleisch der Isis“, die Gegenweltform der Isis, die Sokar gewissermaßen umfängt; Sokar selbst, mit Falkenkopf, „Fleisch des Sokar, der auf seinem Sand ist“, Chepri, der Skarabäus, hilft, die Barke über den Sokarhügel zu treideln. Die folgende, die 6. Stunde (s. Abb. 21 b), Mitternacht, ist das Zentrum der Geschehens. In ihr vereinigen sich Re und Osiris: Im Amduat ist dies 30 Hornung, Amduat I, Schematische Übersichten „Siebente Stunde“; ders., Amduat II, 130ff. 31 Hier genauer der „älteste Zauber“.

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5. Stunde: „Die geheime Höhle des Sokar“

1 Sonnenbarke 3 Chepri 2 „Fleisch des Sokar, der auf seinem Sand ist“ 4 „Fleisch der Isis“ 6. Stunde: „Herrin der Gegenweltbewohner“

Abb. 21 a oben: Die 5. Stunde des Amduat (Version im Grab Thutmosis’ III.) und b unten: Die 6. Stunde (ebenso)

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„Chepri-Leichnam“ verborgen in der Schlange „Vielgesicht“

1 „gegenweltlicher Horus“

Nephthys

Doppel-Ba

Isis

Detailansicht (zum Ausschnitt oben)

1 „Osiris ruht in Re“ 2 „Dies ist Re, wenn er in Osiris ruht“ Abb. 22 a: Ausschnitt der 6. Stunde (oben) und Bild des „Doppel-Ba“ im Grab der Nefertari (unten)

Abb. 22 b: Ausschnitt der 7. Stunde des Amduat (Version Thutmosis’ III.) mit dem Kampf gegen Apophis

als Bild des „Chepri-Leichnams“ wiedergegeben, der in einer vielköpfigen Schlange verborgen ist, die sich in den Schwanz beißt; anderenorts (s. Abb. 22 a), in der sog. Sonnenlitanei ist die Vereinigungsform, der „Doppelba“, als eine osirisförmige Gestalt mit dem Widderkopf der Sonnengott-Metamorphose wiedergeben, „Dies ist Re, wenn er in Osiris ruht, Osiris, wenn er in Re ruht“, so heißt es dort.

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Diese Vereinigung nun ist das große Mysterium der Weltdynamik. Indem Re in der Tiefe der Nacht in den Leib des Osiris eingeht, kommt die Bewegung des Gottes zur Ruhe; die Welt steht für eine Sekunde still, um aus dieser mitternächtlichen Stille mit erneuerter Energie in Gang zu kommen. Gegenstand der folgenden, der 7. Stunde (Abb. 22 b), ist die grundsätzliche Abwehr der weltgefährdenden Chaos-Mächte, der kosmischen Unordnung und der Kräfte des Bösen – symbolisch gegriffen in der ApophisSchlange auf ihrer Sandbank, die Personifikation des Nichtseins, das das Sein wieder in sich zurückholen will. Gegen Apophis, das Nichtsein marschieren die Kräfte des Guten auf, und „der gegenweltliche Horus“ führt die Sterne und Nachtstunden zum Angriff.

Osiris, „Herr des Lebens“

Abb. 23: Die 12. Stunde des Amduat

Die Reise des Gottes endet in der 12. Stunde (Abb. 23), die da heißt „Die geheime Höhle der Gegenwelt, bei der der große Gott geboren wird, daß er hervorgehe aus dem Nun und sich niederlasse am Leibe der Nut“ – die Stunde vor Sonnenaufgang. Alle Götter sind zur hymnischen Lobpreisung versammelt; eine große Schlange symbolisiert noch einmal die gesamte Gegenwelt, durch die der Gott gezogen ist, um „neu geboren zu werden“, und zwar in Gestalt von Chepri, der die Begrenzung der Gegenwelt zur diesseitigen Welt durchbricht und die Sonnenscheibe vor sich herrollt. Zurück bleibt der mumienförmige Osiris, „Herr des Lebens“. – Zwischenbemerkung: Es mag aufgefallen sein, daß Osiris Bewohner der Duat ist, obwohl er sie verkörpert; das Chepri in der Nachttiefe agiert, obwohl er die Morgengestalt des Sonnengottes ist, der als sein Ba durch die Nacht fährt; daß Ma’at, die Richtigkeitsordnung, dem Sonnenschiff den Weg weist durch eine Welt, deren Struktur sie selbst repräsentiert – ja, daß

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im Inneren der Gegenwelt die Gegenwelt selbst noch einmal als Zeitschlange ihren Auftritt hat. Dies aber heißt nichts anderes, als daß die Erkenntnisreflexionen der ägyptischen Metaphysik vom Prinzip der Selbstreferenz bestimmt sind: Elemente einer Menge sind der Menge selbst gleich. Die Reduktion der Komplexität von Welt bedient sich der Rekursion. – 3.3 Gott und die Dynamik der Weltkonstituenten Soviel dürfte nun, meine ich, klargeworden sein: Des Sonnengottes Reise an das Ende der Nacht ist das gigantische Vehikel der kosmischen Erneuerung. Die Osiris-Welt ist nicht nur die Rückseite der Re-Welt, sondern sie ist das Reservoir, aus dem diese Nacht für Nacht ihre Energie holt; von ihr wird das große kosmische Schwungrad angetrieben, das die Sonne jeden Morgen wieder an den Himmel schleudert, auf daß sie ihr Tagwerk vollbringe. Die personalen Chiffren aber, die die Welt in Bewegung halten, sind die, die auch schon ihre Struktur bestimmt haben. Der Gott, aus dem die Welt geworden ist, der „uralte“ Gott des Weltanfangs, Atum, ist auch derjenige, der als Altersgestalt des Sonnengottes seine Nachtfahrt einleitet, um am Morgen wieder jung zu sein; der alte Atum ist sozusagen Vater des Kindes Chepri, wie Osiris Vater des Horus war. Was also als Schöpfung ein einmaliger Akt war, wiederholt sich hier als unaufhörliche Analogie, wo dort aus dem Dunkel der Vorwelt die Welt zum „Ersten Mal“ entstand, entsteht hier aus dem Dunkel der Nacht die Welt des neuen Tages als ewige Wiederholung des Ersten Mals. Wo das eine auf „ewige Dauer“ gestellt war, ist es hier die „ewige Wiederkehr“ – wie die beiden Ewigkeitsbegriffe der Ägypter übersetzt werden können.

Abb. 24: Schema des Zusammenfalls von Kosmologie und Kosmogonie

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Betrachten wir noch einmal mit den Horusstelen (Abb. 9a) jenen Typ von Repräsentation der Allmacht Gottes, bei dem die Rezeption in die christliche Mystik vielleicht nachvollzogen werden konnte, nicht aber, auf Grund welcher Funktion ihm diese Ehre zuteil geworden war. Der Text, der auf diesen Stelen steht, begann mit der hymnischen Prädikation „Du Alter, der sich verjüngt zu seiner Zeit, Greis, der Kind wird“; das sind natürlich nicht irgendein Greis oder irgendein Kind, sondern der Greis ist Atum, der Gott der Schöpfung und des Uranfangs, und das Kind ist Horus, mit dessen Kindhaftigkeit alles beginnt. Im großen kosmischen Schauspiel des Sonnenlaufes spielt Re im götterweltlichen Maßstab tagtäglich nach, wie er einstmals als Atum Horus aus sich hervorbebracht hat. Es ist der unendliche Kreislauf der Welt: Der sich selbst gleich bleibende Gott vergeht des Abends als uralter Atum und tritt des Morgen als jugendlicher Horus aufs neue in Erscheinung. Indem er dies tut, hat er die Mächte der Unordnung in Bann gehalten und Tod und Vergänglichkeit beispielhaft für unwirksam erklärt. Dies ist es, was die Horusstelen zu Ikonen der Gotteskräfte und der Erlösung macht: in ihnen finden die kosmologischen Energien ihren Ausdruck, und das Heilsversprechen, daß durch diese Energien aus dem Alten und Vergehenden bei Selbstidentität das Neue auferstehen wird. Und so ihre Entsprechungen vom Typ Bes-Pantheos (Abb. 9b), in denen der Kindgreis Bes mit den Paraphernalien des Horusfalken und der Herrschaft versehen und unter dem die Mächte des Nichtseins von der Weltschlange eingeschlossen sind, die sich in den Schwanz beißt – jene Figur, die als Uroboros noch eine große Zukunft in der spätantiken Magie und Astrologie haben wird. Bes-Pantheos aber war die Ikone der Allmacht eines bestimmten Gottes, nämlich Amun-Res – der in meiner Darstellung nicht eigentlich vorgekommen ist. Nicht eigentlich, aber in ihrem Kern doch: Mein Darstellungsinteresse hier war vorrangig die Metaphysik der ägyptischen Welt und das Verstehen ihrer Mechanismen, und ich werde die Gestalt AmunRes nicht in gleicher Weise entfalten. Aber natürlich ist die ägyptische Religion nicht ohne ihn vorzustellen. Sein vollständiger Name ist Amun-Re-Harachte, und dieser Name zeigt bereits, das Re eine Erscheinungsform Amuns ist, so wie Atum die Erscheinungsform Res war. Zu Ende gedacht, sind alle Götter Erscheinungsformen Amuns – des, wie sein Name Amun sagt, „Verborgenen“ hinter allen Erscheinungen. Ein Hymnus des späteren Neuen Reiches (Leiden I 350) wird dies so sagen: „Drei sind alle Götter, denen keiner gleichkommt; der sich verbirgt als Amun, er ist Re im Angesicht, sein Leib ist Ptah“. In ihm, dem Einen hinter den vielen Göttern, dessen Verborgenheit bereits

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Abb. 25 links: Amun und König Haremhab (Ende 14. Jh. v. Chr.); rechts: Amun-Re-Harachte, Votivfigur aus Bronze

Erscheinung und der als Re, die Sonne, sichtbar und als Ptah, die feste Welt, spürbar ist, wird eine Einheit der Differenz thematisiert, die in eben dieser Thematisierung die Differenz aufhebt, weil die Einheit der Selbstidentität hinter dem Wandel zu thematisieren den Wandel zum Schein macht. Kosmogonie und Kosmologie als Erscheinungsformen Gottes zu setzen, bringt Gott in Distanz zur Welt und läßt ihn zu jenem transmundanen und transzendenten Gott werden, dem die Welt nurmehr Attribut ist – eine seiner Eigenschaften. Die systematische Reflexion, die zur Thematisierung der Einheit führt, wird durch die Infragestellung in Gang gebracht, die mit der Amarnazeit verbunden ist – über die sie im Beitrag von Heike Sternberg-el Hotabi hier Näheres lesen können.

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4. Das große Rollenspiel 4.1 Der Ort der menschlichen Gesellschaft Ich komme zum Ende, ohne ein Ende erreicht zu haben. Die ägyptische Religion hat eine lange Geschichte, in der genügend Notwendigkeiten entstanden sind, das Denken über die Welt ihren Wandlungen durch Reflexion anzupassen. Was ich dargestellt habe, ist nicht unbedingt die Zusammenfassung des Denkens einer ihrer Phasen gewesen, sondern eher die Systematisierung ihrer Denkprinzipien. Und mein Darstellungsinteresse hier war auf die Konstruktionen religiösen Denkens gerichtet, die der Komplexitätsreduktion, dem Verstehen der Welt, ihrem Woher und Wohin galten, nicht so sehr dem, welche Funktionen Religion für die Gesellschaft hat und worin ihre Leistung bestand. Oder anders: Religiöse Legitimierungsbewegungen und Frömmigkeitsverhalten, politische Herrschaft, Gesellschaft und Liturgie sind nicht in meinen Blick genommen worden – all die vielfältigen und vielschichtigen Erscheinungsformen, die man im allgemeinen mit der ägyptischen Religion verbindet, weder Kunst noch Könige, weder Pyramiden noch Mumien. Ich habe sie nicht in den Blick genommen, was ich aber getan habe, ist, ihre Anschlußstellen anzugeben: Gesellschaftsorganisation, Staat einerseits und Kultorganisation andererseits sind zwar sich ausdifferenzierende Teilsysteme, aber an einem Ort eingehängt, und dieser Ort ist die Sphäre des Horus: Herrschaft ist ein Attribut der männlichen Weltkonstituenten gewesen, in Horus, der Sphäre des Hier und Heute, findet sie ihre letzte und für die Lebenswelt der Menschen relevante Gestalt. Aber der Gott herrscht nicht direkt: Sein Stellvertreter in der Menschenwelt ist die politische Organisation, das Königtum, und stellvertretend für die Institution agiert der personale König. Er ist der Repräsentant des Gottes Horus auf Erden und gleichzeitig vor den Göttern der Repräsentant der menschlichen Gesellschaft, für die er steht – wohlgemerkt: der menschlichen, nicht der ägyptischen Gesellschaft. Mit ihm agieren sie, und mit ihm handeln sie die Geschicke der Welt aus. In ihm ist die menschliche Gesellschaft als zivilisierende und zivilisatorische Macht Partner der Götter in der Aufrechterhaltung der Ordnung in der Welt: Pharao ist in ihrem Auftrag Herrscher der Welt – und zwar im Sinne eines universalistischen Weltbegriffs –, und wer sich dieser Herr schaft widersetzt, ist ein Aufrührer, der niedergekämpft werden muß, und seien es die Hethiter. Das staatliche Handeln Gott darzubringen, ist aber – so seltsam es sich zunächst anhören mag – auch ein Akt der Demut, ein Zeichen der Abhän-

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gigkeit, und wenn es sich noch so triumphal gebärdet; auch Pracht ist eine Form der Verehrung (Abb. 26).

Abb. 26: Rekonstruktion der Front des Tempels Ramses’ III. von Medinet Habu mit den Ikonen des Sieges über die „Aufrührer“

Der König ist ebenso oberster Priester dieser Religion, und als solcher repräsentiert er die menschlichen Gesellschaft auch in ihrer Hinwendung zu Gott (Abb. 27), als gottdienende und gottverehrende – als Vertreter jenes „lobpreisenden Horus“, der in der Nachtbarke des Sonnengottes seinen Platz hatte. Wie der Staat vor Gott im König seine eigene agierende Chiffre findet, so auch die Kultorganisation; und in beiden Institutionen handeln alle Mitglieder der Gesellschaft in Stellvertretung des Königs.

Abb. 27: König Ramses III. in Anbetung vor der Barke des Gottes Sokar (Medinet Habu)

Aber wohlgemerkt: was ich hier sage, gilt der Legitimationsstruktur des Systems – natürlich ist realweltlich wie in allen Organisationen selbständiges Handeln vorgesehen und unvermeidlich, und des Königs Stellvertre-

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tung der betenden Menschen vor Gott behindert das betende Individuum nicht. 4.2 Die Herabkunft all dessen, was im Himmel bestimmt ist Noch eines aber bleibt zu sagen: All dieses Tun ist ein Spiel der Menschen in den Rollen, die ihnen die Weltkonstitution vorgegeben hat. Wird ein Mensch zum König gekrönt, auf dem „Horusthron der Lebenden“, wie es heißt, um in Stellvertretung des Horus zu agieren, übernimmt sein verstorbener Vater oder Vorgänger die Rolle des Osiris, und seine Mutter die der Isis.

1 Thot, darüber Ma‘at, die „Richtigkeit“ 2 Anubis 3 Horus führt die Verstorbene, Anhai, als „Gerechtfertigte“ vor Osiris Abb. 28: Jenseitsgerichtsszene aus dem sog. „Totenbuch“

Und wie der König, so seine Untertanen: jedes Neugeborene ist wie Horus, alle Sterbenden sind wie Osiris und kehren, nach einem sozial angepaßten und gottwohlgefälligen Leben, im Tod in Osiris’ Sphäre zurück – der Sphäre, aus der sie einst gekommen waren, durch Isis geboren, und in der sie nun für immer bleiben werden. Ihre Existenz aber war nur Schein, ein Rollenspiel in einem Schauspiel, dessen Drehbuch in der Götterwelt ein für alle mal festgelegt war. Die Zeit hat die historischen Parameter verändert: Als nicht alles mehr, was in den Wahrnehmungshorizont Ägyptens trat, zum Herrschaftsgebiet

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des Königs gemacht werden konnte und endlich gar der römische Kaiser Pharao war, als die ägyptische Religion in der hellenistischen Oikumene und dann im Römischen Reich wohl für viele Menschen attraktiv aber doch nur eine unter anderen war, da galten zwar die Bestimmungen dieser Religion immer noch universal für die Welt, aber immer weniger Menschen wußten von ihnen. Die übriggebliebenen Wissenden aber konnten noch überliefern, im Corpus Hermeticum, was der dreimalgrößte Thot, Hermes Trismegistos, zu Imhotep, Sohn des Ptah, heißt: Asklepius, gesagt hat: „Weißt Du denn nicht, Asklepius, daß Ägypten das Bild (imago) des Himmels ist, oder, genauer, die Übertragung (translatio) oder Herabkunft (descensio) all dessen, was im Himmel bestimmt und ausgeführt worden ist? Oder, um es noch wahrhaftiger zu sagen: Unser Land ist der Tempel der ganzen Welt“32.

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326.

Asclepius 24, Corpus Hermeticum (ed. A.D. Nock/A.J. Festugière) II, Paris 1960,

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Apisstier Liebieghaus Frankfurt (Erich Winter, Der Apiskult im Alten Ägypten, Mainz 1978, Abb. 6) Abb. 2: Ostrakon (Emma Brunner-Traut, Die Altägyptischen Scherbenbilder, Wiesbaden 1956, Tafel XXIX) Abb. 3a: Thoeris, Kairo CG 39145 (Katalog Nofret – Die Schöne, Kairo 1984, Abb. 10) Abb. 3b: Thoeris und Meretseger, Museo Egizio Turin, Cat. 1606 (Regine Schulz/Matthias Seidel [Hrsg.], Ägypten. Die Welt der Pharaonen. Köln 1997, S. 441 Abb. 36) Abb. 4: Grab der Nefertari (Heike C. Schmidt/Joachim Willeitner, Nefertari, Mainz 1994, Abb. 194 S. 134) Abb. 5: Grab der Nefertari (Heike C. Schmidt/Joachim Willeitner, Nefertari, Mainz 1994, Abb. 190 S. 132) Abb. 6a: Ptah (Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität, Göttingen) Abb. 6b: Osiris (Maria Mogensen, La Glyptothèque Ny Carlsberg, Collection Égyptienne, Kopenhagen, 1930, Tf. 24 A 100).

„Unser Land ist der Tempel der Ganzen Welt“

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Abb. 7a: Isis mit dem Horuskind, Roemer-Pelizaeus-Museum Hildesheim, Inv. Nr. 1201 (A. Eggebrecht [Hrsg.], Suche nach Unsterblichkeit. Totenkult und Jenseitsglaube im Alten Ägypten, Mainz 19990, S. 89, Katalognr. T 32) Abb. 7b: Isis mit dem Horuskind, Badisches Landesmuseum Karlsruhe H 1023 (unveröffentlicht; Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität, Göttingen) Abb. 7c: Isis mit dem Horuskind (Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität, Göttingen) Abb. 7d: Isis mit dem Horuskind, Staatliche Sammlung ägyptischer Kunst München, ÄS 4201 (Wolfhart Westendorf, Das Alte Ägypten, Baden-Baden 1968, S. 233) Abb. 8: S. Haupttext Anm. 13. Abb. 9a: Horusstele, CG Nr. 9401 (G. Daressy, Textes et dessins magiques, Catalogue Général, Kairo 1903, Pl. 1) Abb. 9b: Kestner Museum Hannover, Inv. Nr. 1935.200.688 (Irmgard Woldering, Ausgewählte Werke der Ägyptischen Sammlung, Hannover 1958, Abb. 84) Abb. 10: Serge Sauneron, Le papyrus magigue illustré de Brooklyn, Wilbour Monographs III, New York 1970, Tf. IV Abb. 11: Skizze des Autors Abb. 12: Nach Schäfer, Weltgebäude der Ägypter (s. Literaturverzeichnis), Abb. 29 Abb. 13: Relief aus der Kultkammer des Amenophis, 19. Dyn.; Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Ägyptisches Museum 2/63–3/63, I/64–2/64 (Regine Schulz/Matthias Seidel [Hrsg.], Ägypten. Die Welt der Pharaonen. Köln 1997, S. 439 Abb. 32) Abb. 14: Strichzeichnung Autor. Abb. 15: Skizze des Autors Abb. 16: Nach Schäfer, Weltgebäude der Ägypter (s. Literaturverzeichnis), Abb. 29 Abb. 17: Skizze des Autors Abb. 18: Nach Schäfer, Weltgebäude der Ägypter (s. Literaturverzeichnis), Abb. 31 Abb. 19: Skizze des Autors Abb. 20: Grab Thutmosis’ III., 7. Stunde Amduat (Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität, Göttingen) Abb. 21a: Grab Thutmosis’ III., 5. Stunde Amduat (Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität, Göttingen) Abb. 21b: Grab Thutmosis’ III., 6. Stunde Amduat (Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität; Göttingen) Abb. 22a: Grab Thutmosis’ III., Grab der Nefertari (Heike C. Schmidt/Joachim Willeitner, Nefertari, Mainz 1994, Abb. 203) Abb. 22a: Grab Thutmosis’ III., 6. Stunde Amduat (Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität) Abb. 22b: Grab Thutmosis’ III., 7. Stunde Amduat (Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität) Abb. 23: Grab Thutmosis’ III., 12. Stunde Amduat (Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität) Abb. 24: Skizze des Autors Abb. 25a: Amun und König Haremhab (Mohamed El-Saghir, Das Statuenversteck im Luxortempel, in: Antike Welt, 1991, Abb. 141) Abb. 25b: Votivstatuette Amuns (Dia Seminar für Ägyptologie und Koptologie der Georg-August-Universität, Göttingen)

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Friedrich Junge

Abb. 26: Uvo Hölscher, Medinet Habu I, General Plans and Views, OIP 21, Chicago 1934, Pl. 23 Abb. 27: Harold H. Nelson, Medinet Habu IV, Festival Scenes of Ramses III, OIP 51, Chicago 1940, Pl. 196 Abb. 28: Totenbuch der Anhai (W. Budge, Facsimilies of the Papyri of Hunefer, Anhai, London 1899, Pl. 4).

„Die Erde entsteht auf deinen Wink“ Der naturphilosophische Monotheismus des Echnaton HEIKE STERNBERG-EL HOTABI

0. Einleitung Die religiöse Reform des Echnaton um ca. 1350 v.Chr. ist zweifellos das bedeutendste Ereignis der ägyptischen Religionsgeschichte. Mit der kompromißlosen Hinwendung zu seinem neuen Gott Aton, der das gesamte Pantheon der alten Religion ersetzt, proklamiert der König die Einheit Gottes und stellt sich damit bewußt gegen die traditionelle Religion. Die herausragende Bedeutung der Amarnareligion wird darin gesehen, daß es sich bei ihr um einen Monotheismus handelt, um eine gestiftete Religion, die jedoch die Zeit ihres Stifters nicht überlebte. Den bahnbrechenden Untersuchungen des Heidelberger Ägyptologen und Religionswissenschaftlers Jan Assmann1 haben wir im wesentlichen drei neue Erkenntnisse über Echnaton und seine Religionsstiftung zu verdanken. Die eine betrifft den historischen Kontext: Unser Blick ist dafür geschärft worden, wie es zu dieser Umwälzung kommen konnte und wie er von der traditionellen Religion aufgenommen und verarbeitet wurde. Die andere betrifft das Wesen der Amarnareligion selbst: Es ist nun klarer geworden, worin sie zu kurz griff und warum sie scheitern mußte. Und die dritte betrifft ihren Gewaltcharakter: Wir glauben jetzt, besser nachvollziehen zu können, wie sie von den Zeitgenossen erlebt wurde. Die folgenden Ausführungen basieren weitgehend auf den wegweisenden Arbeiten Jan Assmanns. Sie sollen in erster Linie eine Zusammenfassung des jetzigen Forschungsstandes bieten und damit vor allem den Nachbardisziplinen einen Einstieg in das Thema erleichtern. Bevor auf die Entwicklung der Amarnareligion näher eingegangen wird, soll zu_______________ 1 Nur die wichtigsten Arbeiten Jan Assmanns, die dieses Thema aufgreifen, seien an dieser Stelle angeführt: ASSMANN, J., Die „Häresie“ des Echnaton: Aspekte der AmarnaReligion, Saeculum 23 (1972) 109–126; ASSMANN, J., Re und Amun. Die Krise des polytheistischen Weltbilds im Ägypten der 18.–20. Dynastie (OBO 51), Fribourg–Göttingen 1983; ASSMANN, J., Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Stuttgart 1984; ASSMANN, J., Ägypten. Eine Sinngeschichte, München–Wien 1996, besonders Teil IV: Das Neue Reich – Religion und Imperium.

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nächst kurz der historische Rahmen angerissen werden, in den die neue religionsgeschichtliche Strömung eingebettet ist.

1. Der historische Rahmen Echnaton lebte in einer Zeit, die zu Recht als die glanzvollste Epoche der ägyptischen Geschichte bezeichnet werden kann. Es ist die Zeit des Neuen Reiches, die ägyptische Großreichszeit um 1550–1070 v.Chr.2, die mit der 18. Dynastie beginnt und mit der 20. Dynastie endet. Nach der Vertreibung der Fremdherrscher, der Hyksos, die zuvor für hundert Jahre das Land regiert hatten, eroberten die Pharaonen der 18. Dynastie innerhalb weniger Generationen ein großes Territorium für Ägypten zurück, erkämpften dem Land politische Stabilität sowie materiellen Wohlstand und machten es zur größten Macht im Nahen Osten. Durch die offensiv geführten Kriege des größten Feldherrn dieser Dynastie, Thutmosis III. (1490–1439 v.Chr.), war die Grenze zwischen Afrika und Asien gefallen: Vom vierten Nilkatarakt im Süden, im heutigen Sudan, bis zu den Nordgrenzen Syriens am Euphrat hatte die ägyptische Armee die Macht Pharaos ausgedehnt (s. Landkarte Abb.1). Ägypten hatte den Höhepunkt seiner Weltherrschaft erreicht, und der Hof des ägyptischen Königs bildete den Mittelpunkt, von dem aus Verbindungslinien nach allen großen Ländern der damaligen Welt ausstrahlten: Nach Mitanni, Assyrien, dem Hethiterreich und der griechischen Inselwelt. Der Reichtum des Landes war legendär und vermehrte sich stetig. Zunächst durch die reiche Beute, welche die ägyptische Armee aus den eroberten Ländern heimbrachte, dann durch die den unterworfenen Völkern auferlegten Steuern und Abgaben, die in bedeutendem Maße zum Reichtum Ägyptens beitrugen. Aus Asien kamen Silber, kostbare Steine wie Lapislazuli und Türkis, Pferde und Wagen, Sklaven, Weine und Öle; aus Afrika wurden Ebenholz, Elfenbein, Weihrauch und Myrrhe, Straußenfedern, Leoparden, Giraffen und vor allem Gold geliefert, von dem schon Ägypten selbst reichliche Vorkommen besaß. Alle Welt strömte nach Ägypten, ein reger Handelsaustausch begann, und nie wieder sollte sich die ägyptische Gesellschaft kosmopolitischer geben als in dieser Zeit. Schutzherr der Armee, der Dynastie und des riesigen ägyptischen Imperiums war der Gott Amun-Re von Theben, dessen in Karnak befindlicher Tempel der reichste und dessen Priesterschaft die einflußreichste im Lande war. Der neu gewonnene Wohlstand kam jedoch nicht nur dem König und den Göttern, sondern auch einer privilegierten Schicht von Offizieren, Priestern _______________ 2

Daten nach VON B ECKERATH, J., Abriß der Geschichte des Alten Ägypten, Oldenburg 1971.

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und Beamten zugute. In den Städten des Landes kam jetzt ein neues Lebensgefühl auf, das sich in einem verfeinerten Lebensstil der höheren Gesellschaftsschicht ausdrückte. Handel und Produktion von Luxusgütern nahmen einen nie dagewesenen Aufschwung. Mit der Öffnung des Landes wurde die ägyptische Gesellschaft auch zunehmend kosmopolitisch: Asiatische Sklaven und Händler brachten nicht nur ihre fremden Götter, sondern auch neue Ideen und Gebräuche mit ins Land. Während der knapp vierzig Jahre dauernden Regierung Amenophis III. (1403–1365 v.Chr.), Vater des Echnaton, erlebte das Land eine überaus lange Friedenszeit, und der Glaube an die Göttlichkeit Pharaos erreichte neue und für die 18. Dynastie beispiellose Höhen.3

2. Echnaton und der Anbruch einer neuen Ära In diese Zeit wurde Echnaton4 als zweiter Sohn Amenophis III. und seiner Hauptgemahlin Teje geboren. Wie vor ihm sein Vater wurde auch er Amenophis, d.h. „der Gott Amun ist zufrieden” genannt. Über seine Jugend wissen wir wenig. Als sein Vater starb, trat Amenophis IV. anstelle seines früh verstorbenen älteren Bruders in schwierigen politischen Zeiten sein Erbe an. Eine neue Großmacht hatte die Weltbühne betreten: das Hethiterreich, welches das zu dieser Zeit mit Ägypten verbündete Mitanni militärisch zunehmend unter Druck setzte und die Vasallenstaaten in Syrien und Palästina untereinander ausspielte. Von den Ereignissen noch gänzlich unberührt fand die Krönung des Königs in Theben statt, wo er auch die ersten Jahre seiner Herrschaft verbrachte. Hier heiratete er die Frau, die später durch ihre Bildnisse weltberühmt werden sollte: Nofretete. In Theben kommen auch die beiden ersten von insgesamt sechs Töchtern des Paares zur Welt. Die einschneidenden Veränderungen, die seine Regierungszeit sowohl in religiöser als auch in künstlerischer Hinsicht kennzeichnen sollten, zeigten sich nicht sofort, denn zunächst ließ der König im traditionellen Stil weiterarbeiten. Der Umschwung erfolgte im dritten oder vierten

_______________ 3

Vgl. O’CONNOR, D./CLINE, E.H. (Hg.), Amenhotep III. Perspectives on his Reign, Ann Harbor 1998. 4 Siehe dazu den leicht überholten ‚Klassiker’ ALDRED, C., Akhenaten, Pharaoh of Egypt – a New Study, London 1968; eine populärwissenschaftlich aufbereitete, informative Kurzbiographie bei SCHLÖGL, H.A., Amenophis IV. Echnaton (Rowohlts Taschenbuch Monographien 350), Hamburg 1986. Neue kritische Würdigung des Königs bei REEVES, N., Echnaton – Ägyptens falscher Prophet (Kulturgeschichte der Alten Welt 91), Mainz 2002.

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Regierungsjahr mit dem Bau des großen Atontempels in Karnak5, in dessen Bildprogramm völlig unvermittelt ein neuer Kunststil hervortritt. Der Tempel stand im Osten von Karnak6, heute sind jedoch keine baulichen Überreste mehr erhalten. Seine Dokumentation und Rekonstruktion sowie die einer Reihe weiterer Tempel zu Ehren des Aton im Karnakgebiet ist aber während der letzten Jahrzehnte durch die computergestützte Erforschung von ca. 40000 Sandsteinblöcken aus dieser Zeit ernorm fortgeschritten. Nach dem Tode des Echnaton wurden diese Aton-Tempel vollständig abgerissen und die Blöcke als Füllmaterial in den Bauten späterer Könige wieder benutzt, vornehmlich im 9. und 10. Pylon von Karnak. Französische Archäologen haben diese Türme komplett abgetragen, um die Echnatonblöcke wiederzugewinnen, und etwa zwanzig Prozent konnten aneinandergepaßt und rekonstruiert werden.7 Der stilistische Bruch mit der künstlerischen Tradition äußert sich vor allem in einer expressiven Übersteigerung aller individueller Züge (s. Abb.2). Dieser manieristisch anmutende Stil widersetzt sich bis heute einer eindeutigen Erklärung. Kaum ist er, wie früher zuweilen vermutet, die Abbildung einer körperlichen Krankheit oder eines Gebrechens, sondern eher als Ausdruck eines neuen Lebensstils und Lebensgefühls zu verstehen. Er könnte aber auch in der neuen Glaubenslehre des Königs begründet sein. In der Sonnenscheibe Aton wurden nämlich Mutter und Vater verehrt, wobei der weibliche Aspekt Vorrang genießt. In einigen Hymnen der Zeit heißt es mitunter überhaupt nur ‚Mutter’: „Du bist die Mutter, die jedermann geboren hat.“ Die Darstellung des Echnaton mit dominierenden weiblich anmutenden Körperformen, d.h. mit breitem Becken, schwellenden Oberschenkeln und weiblichen Brüsten, teilweise sogar ohne männliche Geschlechtsorgane, könnte ihn somit als androgynen Schöpfergott ausweisen8 (s. Abb.3). Der plötzliche Umschwung läßt sich aber nicht nur in den Tempelreliefs, sondern auch in den Privatgräben dieser Zeit eindrucksvoll nachvollziehen wie etwa im Grab des Ramose, der unter Amenophis III. als hoher Staatsbeamter, als Wesir diente. Auf Abb.4 ist der Grundriß seines thebanischen Grabes zu sehen, das zur Zeit, als der alte _______________ 5 Zur Lage der Osttempel PORTER, B./MOSS, R.L.B., Topographical Bibliography of Ancient Egyptian Hieroglyphic Texts, Reliefs, and Paintings, Vol. II. Theban Temples, Oxford 21972, 253–255 mit Plan XXIII. 6 Zu den Ausgrabungen der Echnatontempel in Karnak-Ost R EDFORD, D.B., Akhenaten. The Heretic King, Princeton 1984, Kapitel 5–8. 7 SMITH, R.W./REDFORD, D.B., The Akhenaten Temple Project I, Warminster 1976. 8 Erklärungen, die auf den Geschlechtsdimorphismus rekurrieren, lassen sich unter Verweis auf Darstellungskonventionen ägyptischer Kunst zurückweisen, R OBINS, G., The Feminization of the Male Figure, in: Chief of Seers. Egyptian Studies in Memory of Cyril Aldred, hg. von E. Goring/N. Reeves/J. Ruffle, London–New York 1997, 251–265, bes. 258f.

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König verstarb, gerade dekoriert wurde und die Schnelligkeit des Wandels, der den Beginn der Alleinherrschaft Echnatons begleitete, mehr als deutlich zeigt. Auf der einen Wand (s. Abb.5a) ist Amenophis IV. als jugendlicher Mitregent noch im traditionellen Stil zusammen mit der Göttin Maat dargestellt, während das Bild auf der gegenüberliegenden Seite (Abb.5b) bereits im neuen Stil gearbeitet ist. Zu sehen ist eine Szene mit Amenophis IV. und seiner Gemahlin Nofretete am Erscheinungsfenster unter ihrem Gott Aton.

3. Echnatons Gott tritt in Erscheinung War Aton unter Amenophis III. noch ein Gott unter vielen gewesen, so steht das alles beherrschende, lebensspendende Tagesgestirn von nun an im Zentrum religiösen Erlebens. Die alte Erscheinungsform des Aton als falkengestaltiger Gott mit der Sonnenscheibe auf dem Kopf (s. Abb.6), der in der traditionellen Religion als Re-Harachte verehrt wurde, mußte einer neuen weichen: Mit einem Schlage zeigen alle Denkmäler den neuen Gott nur noch in einer einzigen Gestalt, die Gestalt der Sonnenscheibe mit langen Strahlen (s. Abb.7), die eine Verbindung zwischen der Sonne im Himmel und dem Opfervorgang auf der Erde herstellen. Diese Verbindung wird dadurch betont, daß die Strahlen in Händen enden. Mit diesen Strahlenhänden berührt die Sonne den König und seine Opfergaben, einzelne Strahlen halten ihm und anderen Mitgliedern der königlichen Familie auch das Lebenszeichen (g) an die Nase (s. Abb.8). Hand in Hand mit dem neuen Erscheinungsbild des Gottes geht eine lehrhafte Namensformel einher, die so etwas wie eine theologische Wesensbestimmung des Gottes zum Ausdruck bringt und die übersetzt ungefähr lautet: „Es lebt Re-Harachte, der im Horizont jubelt, in seinem Namen als das Licht, das in der Sonne ist“9. Das Vorkommen dieser Namensformel ist ausschließlich an die Regierungszeit Amenophis IV. gebunden. Es gibt keine Belege, die vor das Datum seiner Thronbesteigung zurückreichen und andererseits kein Denkmal des Königs, das die Formel nicht enthielte. Der Gott äußert sich im Licht und ist durch das Licht erfahrbar. Das Licht des Aton berührt, erfüllt und belebt die gesamte Welt und beherrscht sie sogar. Denn das legen die Kartuschen nahe, die den Namen des Gottes umgeben und die sonst nur von regierenden Herrschern getragen werden. Anders ausgedrückt: Aton regiert die Welt, sogar mit eigener Jahreszählung, und aus dieser neuartigen Konzeption einer königlichen Alleinherrschaft des Lichtgottes ergibt _______________ 9

Übersetzung und Verständnis dieser Namensformel sind bis heute umstritten, ASS„Häresie“ des Echnaton, 117 mit Anm.34.

MANN,

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sich der monotheistische Ausschließlichkeitsanspruch fast von selbst. Auch der König ändert jetzt seinen Namen: Aus „Amenophis“, d.h. „Amun ist zufrieden“ wird Ach-en-Iten, Echnaton, was übersetzt etwa heißt: „Einer, der für Aton wirksam ist.“ Um den Strukturwandel in einer Religion ermessen zu können, die den Erhalt des Kosmos im Handeln und Zusammenwirken der Götter sieht, soll im folgenden kurz die klassische Konzeption des Sonnenlaufes in Erinnerung gerufen werden.

4. ‚Traditionelle’ versus ‚Neue’ Sonnentheologie Die traditionelle Sonnentheologie beinhaltet die Vorstellung des Sonnenlaufes als einer Bewegung der Sonne um die Erde. Die Ägypter stellten ihn sich als Barkenfahrt vor. In zwei Barken, einer Tages- und einer Nachtbarke, fährt der Sonnengott über den Himmel und durch die Unterwelt. Götter stützen den etwa als Kuh symbolisierten Himmel, an deren Leib die beiden Barken zu sehen sind, wie etwa eine Illustration zum sog. Kuhbuch aus dem Grab Sethos I. zeigt (s. Abb.9). Am Vorgang der Barkenfahrt sind so gut wie alle wichtigen Götter des ägyptischen Pantheon beteiligt, darüber hinaus auch eine Reihe von ‚Spezialgöttern’. So kommen etwa im Amduat, einem wichtigen Unterweltsbuch des Neuen Reiches, das die nächtliche Fahrt der Sonne beschreibt, Hunderte solcher spezieller Götter vor. Diese treten zum Sonnengott in wechselnde Beziehungen, in ‚Konstellationen’10, und jede Phase des Sonnenlaufes ist durch eine besondere Konstellation charakterisiert: Am Abend verschluckt die Göttin Nut den alten Sonnengott, und in der Unterwelt wird er durch eine Adorantengemeinde in Gestalt von Pavianen empfangen. Die Erneuerung des Lebens findet in der Vereinigung der antagonistischen Götter Re und Osiris in der sechsten Nachtstunde seinen Ausdruck, und die Überwindung des Chaos wird durch die Zerstückelung des schlangengestaltigen Götterfeindes Apophis in der siebten Nachtstunde symbolisiert. Am Morgen wird der verjüngte Sonnengott wieder von der Himmelsgöttin Nut geboren und begibt sich erneut auf seine Tagesreise. Jeder Phase des Sonnenlaufes entspricht dabei eine andere Erscheinungsform des Gottes: Am Morgen ist er Chepri in Gestalt des Skarabäus (s. Abb.10a), am Tage Re-Harachte, falkengestaltiger Gott mit der Sonnenscheibe auf dem Kopf (s. Abb.10b) und am Abend Atum in Widdergestalt (s. Abb.10c). Eingeweiht in die Mysterien des Sonnenlaufes ist allein der König: Als Sonnenpriester11 ist er Mittler des Dialogs zwi_______________ 10

Dieser Begriff wurde von Jan Assmann in die ägyptologische Literatur eingeführt. ASSMANN, J., Der König als Sonnenpriester (Abhandlungen DAI Kairo 7), Glückstadt 1970. 11

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schen den Bereichen des Göttlichen und der Welt der Menschen und wird in dieser Rolle mit verschiedenen Göttern identifiziert: im Leben ist der König die Inkarnation des Horus und im Tode verschmilzt er mit Osiris. Jan Assmann verdanken wir die Erkenntnis, daß der historische Kontext dieses traditionellen polytheistischen oder konstellativen Weltbildes, das die Welt als Handlungszusammenhang einer Göttergemeinschaft deutet, schon einige Jahrzehnte vor Echnaton in eine tiefe Krise geraten war. In der Zeit seines Vaters Amenophis III. läßt sich nämlich eine geistesgeschichtliche Strömung fassen, die wir heute in Anlehnung an Jan Assmann als ‚Neue Sonnentheologie’12 bezeichnen und durch die der theologische Kontext der Amarnareligion klarer geworden ist. Die Texte der ‚Neuen Sonnentheologie’ setzen zeitlich kurz vor Amarna ein (s. Abb.11), und es besteht kein Zweifel, daß die Amarnareligion aus dieser Bewegung hervorgegangen ist und diese weiterentwickelt. Dabei ist die ‚Neue Sonnentheologie’ aber nicht als Frühform der Amarnareligion zu verstehen, und sie ist auch nicht mit ihr identisch, denn dann hätte sie mit Amarna untergehen müssen. Die Texte fahren jedoch nach Amarna genau dort fort, wo diese neue Entwicklung durch Echnatons Umsturz unterbrochen wurde, und bestehen parallel mit Texten einer wieder in ihre Rechte eingesetzten konstellativen Theologie des Sonnenlaufes bis ans Ende der ägyptischen Religionsgeschichte fort (s. Abb.11). Echnatons Religionsstiftung mit der Abschaffung der anderen Götter läßt sich somit als Versuch einer radikalen Lösung dieser Krise verstehen, die vielleicht durch die imperiale Politik der Thutmosiden und einer sich im Begriff zu verändernden Welt ausgelöst worden war, in der sich Ägypten neu positionieren mußte.13 Hauptzeuge der neuen Strömung ist ein Hymnus auf der Grabstele der Baumeister Suti und Hor14 aus der Zeit Amenophis III, in dem die ‘Neue Sonnentheologie’ entfaltet wird. Sie beschreibt den Sonnengott in einsamer Gegenüberstellung zu der von ihm selbst geschaffenen und belebten Welt und betont die Einheit Gottes. Ihre Leitsätze, die später von der Amarnareligion aufgegriffen werden, verstehen sich als theologische Ausdeutungen kosmischer Phänomene, und zwar der Sonne, des Lichts und ihrer Bewegung. Es sind, in Kürze zusammengefaßt, die folgenden (Zusammenstellung und Übersetzung nach Assmann15): _______________ 12

Einen Überblick bei ASSMANN, Theologie und Frömmigkeit , 235–243. Vgl. dazu unter Abschnitt 1: Historischer Rahmen. 14 Stele BM 826. Textedition bei E DWARDS, I.E.S., Hieroglyphic Texts in the BM, Vol. VIII, London 1939, 22–25, Taf. XXI. Übersetzung bei ASSMANN, J., Ägyptische Hymnen und Gebete, in: TUAT II.6, Lieder und Gebete, Gütersloh 1991, 844–846. 15 ASSMANN, Re und Amun, 96–143, dort auch die Belegstellen für die Übersetzungen; vgl. a. DERS., Theologie und Frömmigkeit, 236–238. 13

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A. Die Sonne 1. ist am Himmel allein, und so vollbringt auch der Sonnengott seinen Lauf in einsamer Einzigartigkeit: „Du hast dich an den Himmel begeben, indem du allein bist.“ 2. (Die Sonne) ist fern, und so ist auch der Sonnengott unerreichbar fern und unergründlich in seinem Wesen: „Hoher, den man nicht erreichen kann, Verborgener, dessen Aussehen man nicht kennt.“ 3. (Die Sonne) ist fern, aber ihr Licht ist auf Erden: „Sehr, sehr Ferner, zu geheim, um ihn zu erreichen, aber seine Strahlen dringen in die Erde.“ B. Das Licht 1. erschließt die Welt, macht sie sichtbar und für den Menschen begehbar: „Jeder Weg ist angefüllt mit deinem Licht.“ 2. (Das Licht) erfüllt die Welt mit der leibhaftigen Sichtbarkeit und Schönheit Gottes: „Himmel und Erde sind von deiner Schönheit durchdrungen.“ 3. (Das Licht) offenbart den Gott, der sich zugleich darin verbirgt: „Du querst den Himmel, und jedermann schaut dich, aber dein Gang ist vor ihnen verborgen.“ 4. (Das Licht) schenkt allen Augen das Sehvermögen. 5. (Das Licht) belebt alle Geschöpfe, die vom Anblick Gottes (vom Licht der Sonne) leben. 6. (Das Licht) ist der Blick Gottes, mit dem er seine Schöpfung betrachtet: „Schöner, der vom Himmel herabkommt, um zu schauen, was er geschaffen hat auf Erden.“ C. Die Bewegung 1. ist die Arbeit des Gottes, die er im Auf- und Untergehen in wunderbarer Stetigkeit vollbringt: „Er vollbringt seine Aufgabe tagtäglich, der sich abmüht, ohne zu ermüden.“ 2. (Die Bewegung) ist von wunderbarer Geschwindigkeit: „Der Tag ist klein der Lauf ist weit, in einem kurzen Augenblick hast du es vollbracht.“

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3. In der Wiederkehr der Bewegung bringt sich der Gott immer wieder selbst hervor: als ein Neuer und doch derselbe: „Du bist heute neuer als gestern, während du die Nacht verbringst bist du schon dem Tage bestimmt.“ 4. (Die Bewegung) erschafft mit der Zeit die Vergänglichkeit: „Ein Augenblick ist jeder Tag unter dir, er schwindet dahin, wenn du untergehst.“ 5. (Die Bewegung) erschafft mit der Zeit auch die Lebensfristen alles Lebendigen, in denen sich individuelles Dasein und Schicksal auf Erden entfalten. Die ‚Neue Sonnentheologie’ scheint unerschöpflich an derartigen Beschreibungen. Sie setzt an die Stelle der konstellativen Ikonographie des Sonnenlaufes eine religiöse Phänomenologie, die von der sichtbaren Erscheinung göttlichen Handelns ausgeht. Waren in der traditionellen Sonnentheologie viele Götter am Sonnenlauf beteiligt, den der Sonnengott mit ihrer Hilfe bewältigt, so ist er nun bei seiner Fahrt allein. Der Sonnenlauf ist somit nicht mehr die gemeinsame Handlung der Götterwelt, sondern die täglich erneuerte Tat des einen Sonnengottes. Auch mythische Vorstellungen werden ausgeblendet. Ein Aspekt ist jedoch hervorzuheben: Diese Beschreibung des einsamen Sonnenlaufes der ‚Neuen Sonnentheologie’ ist nicht monotheistisch! Die Götter sind weiter in der Welt und werden neben Menschen und Tieren auch benannt. Sie sind vom Sonnengott geschaffen und werden als Kinder Gottes angesehen. Erst in der Amarnareligion werden die Götter aus dem Weltbild verbannt, wird die religiöse Welt ‚entgöttert’ und im Königtum monopolisiert (s. Abb.12).

5. Echnatons neue Sonnenstadt: Achet-Aton (Tell el Amarna) In seinem fünften oder sechsten Regierungsjahr faßte Echnaton den Entschluß, Theben zu verlassen. Da die ausgedehnten Tempelbauten des Amun das alte Theben nicht in eine neue Sonnenstadt verwandeln konnten und sich allmählich auch der Widerstand der mächtigen Amunspriesterschaft regte, suchte der König ein Gelände, was von jeglicher Tradition noch unberührt war.16 Er fand dieses in Mittelägypten, ca. 450 km nördlich von Theben, und gründete dort eine neue Stadt, die er dem Aton weihte und die gleichzeitig auch seine neue königliche Residenz werden sollte (s. _______________ 16 Auf ein ähnliches Phänomen im japanischen Kaiserhaus (zweimalige Verlegung der Hauptstadt aufgrund einer Bedrohung durch die buddhistischen Tempel und deren Priester) verweist REEVES, Echnaton, 120f.

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Stadtplan Abb.13). Er nannte die Stadt Achet-Aton, ‚Horizont des Aton’, ihr Ruinenfeld ist heute als Tell el Amarna bekannt.17 Die Grenzen der Stadt wurden auf beiden Ufern des Nils durch fünfzehn große, in den Fels gemeißelte Denksteine, sogenannte Grenzstelen18, festgelegt, in deren Inschriften der König feierlich gelobt, Achet-Aton nie wieder zu verlassen. Mittelpunkt der Stadt waren die gewaltigen und farbenfroh ausgemalten Paläste, die für Echnaton, Nofretete und die übrigen Mitglieder der Familie errichtet wurden sowie die Tempel für Aton. Der imposante, sogenannte große Aton-Tempel (s. Abb.14), das Zentrum der Verehrung des Gottes, entstand inmitten einer riesigen Umwallung. Zugänglich für jedermann, konnten die Gläubigen auf den Altären der offenen Sonnenhöfe ihre Opfergaben für den Gott niederlegen (s. Abb.15). Diese Art von Kultvollzug war etwas völlig Neues und stand in starkem Kontrast zur alten Kultpraxis. Der traditionelle ägyptische Tempel war nämlich ein geheimnisvoller, in Dunkelheit gehüllter Ort, in dem das Kultbild des Gottes tief im Innersten des Allerheiligsten stand. Nur die Priester durften das Tempelinnere betreten, wo sich unter strengem Ausschluß der Öffentlichkeit der tägliche Gottesdienst vollzog. Der Gegensatz zum Kult des Aton konnte somit nicht größer sein: Seine Tempel waren Orte des Lichts, die Höfe offen für die Sonneneinstrahlung, alles Dunkle und Geheimnisvolle war verbannt. Einen Schrein brauchte der neue Gott ebensowenig wie eine Kultstatue, denn Gott war für jedermann sichtbar als Sonne am Himmel. Um die Tempel und Paläste herum entstanden öffentliche Gebäude sowie ein großzügig angelegtes Villenviertel der Vornehmen, Priester und Beamten mit weitläufigen Parkanlagen. Mittelpunkt des Wohnviertels war die Werkstatt des Bildhauers Thutmosis. Von hier stammen nicht nur die schönen idealisierenden Frauenporträts wie die berühmte Kalksteinbüste der Nofretete, sondern auch – einmalig in der ägyptischen Kunstgeschichte – eine Reihe Porträtstudien aus Gipsstuck. Die Gräber des Hofstaates und der königlichen Familie wurden in die nahe gelegenen Felswände gehauen. Die meisten von ihnen sind unvollendet oder zerstört, wo aber die Reliefs noch er_______________ 17 Einen Überblick über die Grabungsgeschichte von Achet-Aton bei W OLFF, W., Funde in Ägypten, Göttingen 1966, 194–208; Ausgrabung und Dokumentation der Stadt und der Gräber wurden von 1901–1907 vom Egypt Exploration Fund, 1911–1914 von der Deutschen Orientgesellschaft und zwischen 1921 und 1936 bis heute von der Egypt Exploration Society durchgeführt, FLINDERS PETRIE, W.M., Tell el Amarna, London 1894; PEET, T.E./W OOLLEY, C.L./PENDLEBURY, J.D.S., The City of Akhenaton, 3 Bde, London 1923–1951; DE G. DAVIES, N., The Rock Tombs of El Amarna I—VI, ASE, London 1903–1908. 18 Fast unser gesamtes Wissen über die Gründe, die den König zur Aufgabe Thebens bewogen haben, sowie die Errichtung der Stadt Achet-Aton beziehen wir aus den Inschriften dieser Stelen, MURNANE, W. J./VAN SICLEN III, C.C., The Boundary Stelae of Akhenaten, London–New York 1993.

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halten sind, geben sie uns einen überaus lebendigen Eindruck der Stadt und des Lebens seiner Bewohner. In den Gräbern finden wir auch die Hymnen, die uns einen tieferen Einblick in das Wesen der Atonreligion gestatten.

6. Der naturphilosophische Monotheismus des Echnaton: der Große Hymnus an Aton Das wichtigste Zeugnis für die neue Religion stellt der sogenannte Große Atonhymnus19 dar, der in dreizehn Hieroglyphenkolumnen im Grab des Gottesvater Eje20 aufgezeichnet ist und dessen Komposition Echnaton selbst zugeschrieben wird. Er wurde erst im Jahre 1884 wiederentdeckt, stellt also einen Text dar, der über 3000 Jahre keine redaktionelle Eingriffe und Bearbeitung erfuhr und somit die zeitgenössische Sicht seines Autors wiedergibt.21 Im Mittelpunkt des Hymnus steht der Lobpreis Atons als Schöpfer und Erhalter der Welt. Der König preist die belebende Kraft der Sonne und malt ihr Wirken im Großen wie im Kleinen in liebevollen Details aus (s. dazu die vollständige Version des Atonhymnus im Anhang). Da alle übrigen Götter fehlen, gibt es auch keine Anspielung auf mythische Vorstellungen. Auch Bereiche wie Tod und Jenseits, Nacht und Unterwelt, die zuvor zentrales Anliegen religiöser Texte waren und stets eine große Rolle im Leben der Gläubigen gespielt haben, werden vollständig ausgeblendet und nur knapp als dem Aton feindlich gesonnen erwähnt. Besonders reich ist der Atonhymnus an Bildern der Natur, und diese Naturverbundenheit läßt sich auch überall in der bildenden Kunst, insbesondere in den farbenfrohen Malereien der Paläste in Amarna, wiederfinden. Der erste Teil des Hymnus schildert den Sonnenlauf als ein Gegenüber von Gott und Welt: Es gibt nur einen Gott und eine Welt, die Objekt seiner lebensspendenden Belebung ist. Alles ist Licht, Natur und Vernunft, und alle Geschöpfe stimmen dankbar in den Lobpreis ein, wenn Aton am Mor_______________ 19

ASSMANN, in: TUAT II.6, 827–928; der sog. Große Hymnus 848–853. Es gibt einen weiteren Textzeugen des Hymnus, der als der sog. Kleine Hymnus in die Literatur eingegangen ist, DERS., in: TUAT II.6, 846–848. 20 DAVIES, N. DE G.: The Rock Tombs of El Amarna VI, ASE 18, 1908, Pl. XXVII. 21 „... alles, was wir von ihm (d.h. Echnaton) besitzen, ist zeitgenössisch und geht auf ihn selber zurück. Seine Lehre wird, ohne Mittelsmänner, allein von ihm verkündet und könnte nur durch moderne Interpretation verfälscht werden.“ HORNUNG, E., Echnaton. Die Religion des Lichtes, Zürich 1995, 26. Dazu kommt, daß die monotheistische Religion des Echnaton in Ägypten weder rezipiert noch tradiert wurde, sondern unmittelbar nach dessen Tod sofort wieder in Vergessenheit geriet; zur Vergessensgeschichte ASSMANN, J., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München–Wien 1998; ASSMANN, J., Die Mosaische Unterscheidung – oder der Preis des Monotheismus, München 2003.

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gen erscheint22: „Am Morgen bist du aufgegangen im Lichtland und bist strahlend als Sonne des Tages. Du vertreibst die Finsternis, du gibst deine Strahlen.“ Die Menschen erwachen, waschen und bekleiden sich und gehen an die Arbeit. Die Vögel flattern aus ihren Nestern und erheben sich in die Luft, die Fische springen im Wasser, das Wild regt sich und befriedigt sich an seinen Kräutern, und die Schiffe fahren stromauf und stromab. Die besondere Hinwendung zur sichtbaren Natur, die in dem Hymnus zum Ausdruck kommt, findet sich auch in den Dekorationen der Paläste wieder, aus denen wunderschöne Wand- und Fußbodenmalereien erhalten sind, die genau diese Motive wiedergeben (s. Abb.16). Der zweite Teil des Hymnus beschreibt die Schöpfung, die in unterschiedlichen Motiven entfaltet wird, wie etwa durch einen – in ägyptischen Texten einzigartigen – Traktat der Embryologie, die Belebung des Embryos im Mutterleib und des Kükens im Ei. „Der den Samen sich entwickeln läßt in den Frauen, ... der den Sohn am Leben erhält im Leib seiner Mutter. ... Amme im Mutterleib, der Luft gibt, um alles zu beleben, was er geschaffen hat.“ Und weiter: „Wenn das Küken im Ei redet in der Schale, dann gibst du ihm Luft darinnen, um es zu beleben; du hast ihm seine Frist gesetzt, um (die Schale) zu zerbrechen im Ei.“ Die Welt, in der alle auf ihre Weise versorgt sind, ist weise eingerichtet worden. Sie ist aber nicht mehr wie früher einfach mit Ägypten gleichgesetzt, sondern umfaßt viele Länder und Völker, unterschieden nach Hautfarbe, Sprachen und Lebensbedingungen. „Du hast die Erde erschaffen nach deinem Herzen, der du allein warst, mit Menschen, Herden und jeglichem Wild, allem, was auf Erden ist und auf (seinen) Füßen läuft, (allem), was in der Luft ist und mit seinen Flügeln fliegt. Die Fremdländer von Syrien und Nubien und das Land Ägypten: du stellst jedermann an seinen Platz und sorgst für ihren Bedarf, jeder Einzelne hat zu essen, seine Lebenszeit ist festgesetzt.“ „Die Zungen sind verschieden im Sprechen, ihre Eigenschaften desgleichen; ihre Hautfarbe ist unterschiedlich, (denn) du unterscheidest die Völker.” Eine Darstellung aus dem Pfortenbuch im Grab Sethos I. zeigt beispielsweise Ägypter, Libyer, Asiaten und Nubier, die hier zusammen abgebildet werden (s. Abb.17). Der dritte und letzte Teil ist der neuartigste von allen und hat überhaupt kein Vorbild in der Tradition. Er kreist um den ägyptischen Begriff cheper, den man mit den Worten ‚Verwandlung, Verkörperung’ umschreiben kann. Mit den Worten Jan Assmanns geht es „um das ‚Werden’ der Sonne, die, indem sie scheint und sich bewegt, zu dem wird, was sie hervorbringt und sichtbar macht. Dabei ist auch die sichtbare Sonne selbst eine Verkörpe_______________ 22 Übersetzung der folgenden Ausschnitte aus dem Großen Hymnus nach ASSMANN, TUAT II.6, 848–853, siehe auch die vollständige Version des Großen Hymnus im Anhang.

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rung Gottes: sie ist seine Verkörperung im Himmel, und die Schöpfungswelt ist seine millionenfache Verkörperung auf Erden. Alles, was im Licht sichtbar ist, geht als Verkörperung aus ihm hervor. Die Idee, daß die Welt von der Sonne lebt und vom Licht, das aus ihr hervorgeht, ist nicht neu, daß aber auch die Zeit aus ihr hervorgeht, das ist in ägyptischer Vorstellung etwas einmaliges“23: „Die Erde entsteht auf deinen Wink, wie du sie geschaffen hast: du gehst auf für sie – sie leben, du gehst unter – sie sterben. Du bist die Lebenszeit selbst, man lebt durch dich.“ Der Atonhymnus24 vertritt einen Monotheismus reinster Prägung, der alle anderen Götter radikal leugnet. Die unmittelbare Hinwendung zu Gott blieb in Amarna jedoch allein dem König und der Königin vorbehalten. Privatleute konnten nicht direkt Aton verehren, sondern mußten den ‚Umweg’ über das Königspaar nehmen. Um den neuen Gott anzubeten und zu verehren, stellte man sich deshalb kleine Hausaltäre in das Wohnzimmer, auf denen die königliche Familie mit Aton dargestellt war (s. Abb.18). Frömmigkeit unmittelbar von Mensch zu Gott war also in Amarna ausgeschlossen, da die Amarnareligion die Frömmigkeit und das Wissen von Gott im Königtum monopolisierte.

7. Die Verbannung der alten Götter: Amun wird entmachtet Wurden die traditionellen Götter zunächst noch geduldet, setzte zwischen dem achten und zwölften Regierungsjahr Echnatons ein offizielles Verbot ein: die alten Kulte wurden verboten, Tempel geschlossen und ihre Priester vertrieben. Der Name des entmachteten Gottes Amun wurde überall, wo man ihn fand, ausgemeißelt, ja selbst das Wort ‚Götter’ durften die Schreiber nicht mehr verwenden. Daß diese Zeit von einem Großteil der Gläubigen wohl als Leidenszeit angesehen wurde, machen einige wenige Texte deutlich wie etwa ein Klagepsalm eines Amunspriesters, der an verborgener Stelle aufgezeichnet wurde und die Situation der Verfolgungszeit beschreibt. „Wie lieblich ist es, deinen (d.h. Amuns) Namen zu nennen, er ist wie der Geschmack des Lebens, er ist wie der Geschmack von Brot für ein Kind, (wie) ein Gewand für den Nackten,

_______________ 23

ASSMANN, Ägypten. Eine Sinngeschichte, 249. Zur Verbindung des Hymnus mit dem 104. Psalm vgl. ASSMANN, Theologie und Frömmigkeit, 247f. 24

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wie der Duft eines Blütenzweiges zur Zeit der Sommerhitze, ... 25 (wie) Atemluft für den, der im Gefängnis war.“

Die Gründe, die Echnaton wohl bewogen haben mögen, seine neue Religion derartig radikal und schnell durchzusetzen, sind von Jan Assmann überzeugend herausgearbeitet worden.26 Von all den Göttern des traditionellen Pantheon wird allein der Gott Amun systematisch verfolgt. Sein Name wird auf allen Denkmälern des Landes mit Gründlichkeit ausgelöscht27, und gerade diese, gegen Amun gerichtete Verfolgung muß einen besonderen Sinn haben. Gemeinhin wird dieses Phänomen mit wirtschaftspolitischen Erwägungen in Verbindung gebracht: Der thebanische Reichsgott Amun habe sich durch die gewaltigen Stiftungen der thutmosidischen Eroberer zu einer wirtschaftlichen Macht aufgeschwungen, die allmählich dem Königtum gefährlich zu werden drohte. Dazu muß man allerdings bemerken, daß die Tempelstiftungen dem Zugriff des Königs keineswegs entzogen waren und der König Kriege im Namen des Amun jederzeit aus dem Tempelschatz finanzieren lassen konnte. Für das Königtum war eine andere Ebene weitaus bedrohlicher: Amun war im Begriff, dem König in vielfacher Hinsicht dessen Handlungsmonopole einzuschränken, und das in einer Zeit, in der unter Echnatons Vater, Amenophis III., das Königtum durch die Vergöttlichung des lebenden Königs zu nie geahnten Höhen gelangt war und eine außerordentlich starke Position innehatte. Zu den wichtigsten Monopolen des ägyptischen Königtums gehörte das des religiösen Handelns und es war genau dieses Monopol, das Amun dem König streitig machte. Das soll im folgenden an drei Punkten erläutert werden28: 1. Amun ist der in der Prozession ausziehende Gott (s. Abb.19), und die Tempelarchitektur trägt dem Prozessionsweg des Gottes durch eine zentrale Achse und den riesigen Pylonen Rechnung. Gerade in der Mitte der 18. Dynastie unter Hatschepsut und Thutmosis III. gewinnt das ägyptische Prozessionsfest im Zusammenhang mit dem Amunkult neue Bedeutung und große Macht. Die Gegenbewegung in Amarna: Aton hat kein Kultbild und keine Prozessionsstatue. Sein Tempel besitzt keine zentrale Achse zum Allerheiligsten, ist fast, wie Assmann es ausdrückt, „geradezu als eine Karikatur _______________ 25

Ein Klagepsalm aus der Verfolgungszeit, Übersetzung nach ASSMANN, J., Ägyptische Hymnen und Gebete, München–Zürich 1975, (Nr. 147), 349f. 26 ASSMANN, Theologie und Frömmigkeit, 254–257. 27 Selbst Darstellungen der heiligen Tiere des Gottes wie etwa die Gans werden ausgemeißelt! 28 ASSMANN, Theologie und Frömmigkeit, 254–257.

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des Weg-Prinzips“29 anzusehen. Aber: Was in Theben der Prozessionsweg des Gottes Amun war, ist in Amarna der Prozessionsweg des Königs, der tagtäglich auf der schnurgeraden Königsstraße in seinem Wagen vom Palast zum Tempel zieht. Dieser Auszug ist das beliebteste Motiv in den bildlichen Darstellung der Gräber (s. Abb.20). 2. Amun ist im Neuen Reich der Orakelgott schlechthin, der anläßlich der Prozessionsfeste Orakel erteilt (s. Abb.21). Selbst Könige werden auf diese Weise für den Thron auserwählt. Die Gegenbewegung in Amarna: Aton ist ein stummer Gott, und die Vorstellung vom Orakel ist in Amarna undenkbar. Es ist ausschließlich der König, dem Gottes Erleuchtung zuteil wird 3. Amun ist ‚ethisch-moralische’ Instanz, Richter und Nothelfer. So heißt es in einem Gebet an Amun: „Ich rief zu dir (Amun), als ich traurig war, und du bist gekommen, daß du mich rettest. Du gabst Luft dem, der in Bedrängnis war... 30 du rettest den, der in der Unterwelt ist.“

Die Gegenbewegung in Amarna: Solche Aussagen sucht man in den Amarnahymnen vergeblich. Der Gott Echnatons kümmert sich nicht um Gut und Böse, Arm und Reich, Recht und Unrecht. Die Religion Echnatons verlagert diesen Bereich aus dem Gottesbild in das Königsbild. Der König allein ist ethische Instanz, Richter und Nothelfer. Er ist es, der von der Wahrheit lebt, der sich der Armen annimmt, der Schicksalsgott ist, dessen Wille und Gnade über das Glück des einzelnen entscheidet. Und nach Echnatons Scheitern hat das Königtum als ausschließlicher Mittler zwischen Gott und Mensch in Ägypten für immer ausgespielt! Unmittelbar nach Amarna setzt nämlich eine Bewegung ein, die man in der Literatur als ‚Persönliche Frömmigkeit’ bezeichnet hat. Auf Hunderten von Denksteinen beten die Stifter direkt ihren persönlichen Gott an (s. Abb.22), vor allem Amun-Re, der in vielen Erscheinungsformen von den Gläubigen angerufen wird, denn „Er rettet, wen er will, wenn er auch schon in der Unterwelt ist.“ Deswegen hat der Stoß gegen Amun entschieden restaurativen Charakter und richtet sich weniger gegen die Vergangenheit als in Wirklichkeit gegen die Zukunft. Und der Alptraum Echnatons sollte einige Zeit später Wirklichkeit werden, als nämlich in der 21. Dynastie, ca. 300 Jahre später, niemand anderer als Amun selbst die Gottesherrschaft über das Land antritt.

_______________ 29 30

ASSMANN, Theologie und Frömmigkeit, 255. Übersetzung und Belegstelle bei ASSMANN, Hymnen und Gebete, 352.

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8. Ende und Neubeginn Die Amarnareligion hat die Zeit ihres Stifters nicht überlebt. Sie blieb eine Episode von höchstens zwanzig Jahren und wurde ausschließlich von einer kleinen Elite, die der König mit seiner Lehre erreichte, bewußt mitvollzogen. Da Echnaton vollständig mit dem Ausbau seiner Stadt beschäftigt und von seinen religiösen Ideen erfüllt war, vernachlässigte er die Staatsgeschäfte und schenkte den auswärtigen Angelegenheiten des Reiches wenig Aufmerksamkeit, was das Land in eine tiefe Krise stürzen sollte. Bitterlich beklagt sich der König von Babylonien bei Echnaton über die drastische Einschränkung der ägyptischen Geschenke: „Warum hast du nur zwei Minen Gold geschickt?” Und viel zu spät erkennt der König die Notwendigkeit, seinen treuen Verbündeten in Vorderasien im Kampf gegen die Hethiter zu Hilfe zu kommen. Aus den Amarnabriefen31 erfahren wir, daß der Fürst von Byblos, – Echnaton bis zuletzt treu ergeben und ihn verzweifelt um Truppen anflehend –, mit seinen beiden Frauen und seinem Sohn elend zugrunde geht. Als Echnaton nach siebzehnjähriger Regierungszeit starb, wurde Amarna verlassen, und die Bewohner zerstreuten sich in alle Winde. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht, und Blöcke aus den Palästen und den Aton-Tempeln dienten anderswo als Baumaterial32. Der Nachfolger Tutanchamun verlegt die Hauptstadt zurück nach Theben und setzt die alten Götter, allen voran Amun, wieder in ihre Rechte ein. Nicht einmal in Ägypten selbst hat man fünfzig oder hundert Jahre nach Echnatons Tod noch von dieser Ära gewußt. Sein Name war aus den Königslisten gestrichen, seine Inschriften waren getilgt, seine Bauten abgerissen und seine Religion in Vergessenheit geraten. In einer Gerichtsakte aus der Zeit Ramses II. ist ein einziges Mal von ‚jenem Feind’ aus Amarna die Rede. Auch von dem berühmtem Atonhymnus oder anderen Hymnen findet sich nicht die geringste Spur. Es gibt wenige Quellen darüber, wie die Menschen außerhalb von Amarna diesen Kulturschock bewältigt haben. Jan Assmann hat ein alptraumhaftes Szenario dieser Zeit entworfen, in der jeder die rücksichtslose Verfolgung der alten Religion am eigenen Leib zu spüren bekam und in der die staatliche Kontrolle mit höchster Brutalität die verbotenen Kulte _______________ 31

Die Amarnabriefe gehören zum Staatsarchiv Amenophis III. und Echnatons, und zwar handelt es sich um die Korrespondenz der Könige und Fürsten Vorderasiens und der Vasallen in Syrien und Palästina mit dem ägyptischen Hof, KNUDTZON, J.A., Die El Amarna-Tafeln, 2 Bde, Leipzig 1915, Nachdruck Aalen 1964. 32 So vor allem in der auf der Westseite gegenüber liegenden Stadt Hermopolis, C OONEY, J.D., Amarna Reliefs from Hermopolis in American Collections, Brooklyn 1965; HANDKE, R., Amarna-Reliefs aus Hermopolis, Hildesheim 1978; ROEDER, G., AmarnaReliefs aus Hermopolis, Hildesheim 1969.

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unterdrückte, die Priester vertrieb und die Tempel zerstörte.33 Die allgemeine Vorstellung von der Amarnazeit als einer lichtbegeisterten, naturseligen, weltoffenen Zeit verkehrt sich in das Gegenteil: In eine Zeit religiöser Intoleranz, Verfolgung und Polizeikontrolle. Und wie wichtig den Menschen die Rückkehr zu den alten Göttern war, kann man den Worten Ejes, Nachfolger des Tutanchamun, entnehmen, der sich rühmt: „Ich habe das Elend besiegt, ein jeder kann nun wieder seinen Gott anbeten!”34

Anhang: Der „Große Aton-Hymnus“ des Echnaton von Amarna35 „Schön erscheinst du im Lichtland des Himmels, du lebende Sonne, Ursprung des Lebens. Du bist aufgegangen im östlichen Lichtland, du hast jedes Land mit deiner Schönheit erfüllt. Du bist schön, gewaltig und funkelnd, du bist hoch über jedem Land. Deine Strahlen, sie umfassen die Länder bis ans Ende deiner ganzen Schöpfung, als Re dringst du an ihre Grenzen und unterwirfst sie deinem geliebten Sohn. Du bist fern, aber deine Strahlen sind auf Erden, du bist in ihrem Angesicht, aber man kann deinen Gang nicht erkennen. Gehst du unter im westlichen Lichtland, ist die Erde in Finsternis, in der Verfassung des Todes. Die Schläfer in der Kammer, verhüllt sind ihre Köpfe, kein Auge sieht das andere. Ihre Habe wird ihnen unter den Köpfen weg gestohlen, und sie merken es nicht. Jedes Raubtier ist aus seiner Höhle herausgekommen, alles Gewürm sticht. Die Finsternis ist ein Grab, _______________ 33

ASSMANN, Theologie und Frömmigkeit, 258–267. Übersetzung nach ASSMANN, Theologie und Frömmigkeit, 266, dort auch der Belegstellennachweis. 35 Übersetzung nach ASSMANN, in: TUAT II.6, 848–853. 34

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die Erde liegt in Schweigen: ihr Schöpfer ist untergegangen in seinem Lichtland. Am Morgen bist du aufgegangen im Lichtland und bist strahlend als Sonne des Tages. Du vertreibst die Finsternis, du gibst deine Strahlen, die beiden Länder sind im Fest täglich. Was auf Füßen steht, erwacht: du hast sie aufgerichtet, sie reinigen ihre Körper und ziehen Leinengewänder an; ihre Arme sind in Lobgebärden bei deinem Erscheinen, das ganze Land tut seine Arbeit. Alles Vieh befriedigt sich an seinen Kräutern, Bäume und Pflanzen grünen. Die Vögel fliegen auf aus ihren Nestern, ihre Flügel in Lobgebärden für deinen Ka. Alles Wild hüpft auf seinen Füßen, alles, was auffliegt und niederschwebt, sie leben, wenn du für sie aufgehst. Die Schiffe fahren stromab und stromauf in gleicher Weise. Jeder Weg ist offen durch dein Erscheinen. Die Fische im Fluß springen vor deinem Angesicht; deine Strahlen sind im Inneren des Ozeans. Der den Samen sich entwickeln läßt in den Frauen, der Wasser zu Menschen macht; der den Sohn am Leben erhält im Leib seiner Mutter und ihn beruhigt, indem er seine Tränen stillt; Amme im Mutterleib, der Luft gibt, um alles zu beleben, was er geschaffen hat. Wenn (das Kind) herabkommt aus dem Leib, um zu atmen (?) am Tag seiner Geburt, dann öffnest du seinen Mund zum Sprechen (?) und sorgst für seinen Bedarf.

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Wenn das Küken im Ei redet in der Schale, dann gibst du ihm Luft darinnen, um es zu beleben; du hast ihm seine Frist gesetzt, um (die Schale) zu zerbrechen im Ei; es kommt heraus aus dem Ei, um zu sprechen zu seiner Frist; es läuft auf seinen Füßen, wenn es aus ihm herauskommt. Wie zahlreich sind deine Werke, die dem Angesicht verborgen sind, Du einer Gott, dessen gleichen nicht ist! Du hast die Erde erschaffen nach deinem Herzen, der du allein warst, mit Menschen, Herden und jeglichem Wild, allem, was auf Erden ist und auf (seinen) Füßen läuft, (allem), was in der Luft ist und mit seinen Flügeln fliegt. Die Fremdländer von Syrien und Nubien und das Land von Ägypten: du stellst jedermann an seinen Platz und sorgst für ihren Bedarf, jeder Einzelne hat zu essen, seine Lebenszeit ist festgesetzt. Die Zungen sind verschieden im Sprechen, ihre Eigenschaften desgleichen; ihre Hautfarbe ist unterschieden, (denn) du unterscheidest die Völker. Du schaffst den Nil in der Unterwelt und bringst ihn (herauf) nach deinem Willen, um die Menschheit am Leben zu erhalten, wie du sie geschaffen hast; du bist ihrer aller Herr, der sich abmüht mit ihnen. Du Herr eines jeden Landes, der aufgeht für sie, du Sonne des Tages, gewaltig an Hoheit! Alle fernen Länder, du schaffst ihren Lebensunterhalt: du hast einen Nil an den Himmel gesetzt, daß er herabsteige zu ihnen, er schlägt Wellen auf den Bergen wie der Ozean, um ihre Äcker zu befeuchten durch seine Berührung. Wie wirksam sind deine Pläne, du Herr der unendlichen Zeit! Der Nil am Himmel, du (gibst) ihn den Fremdvölkern und den Wildstieren eines jeden Berglandes, die auf ihren Füßen laufen. Der (eigentliche) Nil, er kommt aus der Unterwelt nach Ägypten.

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Deine Strahlen säugen alle Wiesen; wenn du aufgehst, leben sie und wachsen um deinetwillen. Du erschaffst die Jahreszeiten, um alle deine Geschöpfe sich entwickeln zu lassen, den Winter, sie zu kühlen, die Sommerglut, damit sie dich spüren. Du hast den Himmel fern gemacht, um an ihm aufzugehen, um alles zu sehen, was du erschaffst, indem du allein bist. Du bist aufgegangen in deiner Verkörperung als lebende Sonne, du bist erschienen und strahlend, du bist fern und nah (zugleich). Du erschaffst Millionen Verkörperungen aus dir, dem Einen, Städte und Dörfer, Äcker, Weg und Fluß. Alle Augen sehen dich ihnen gegenüber, in dem du als Sonne des Tages über der Erde bist. Wenn du gegangen bist, ist kein Auge mehr da, dessen Sehkraft du geschaffen hast, damit du nicht (deinen) Leib (als) einziges deiner Geschöpfe sehen müßtest (?), (aber auch dann) bist du in meinem Herzen, denn es gibt keinen, der dich kennte, außer deinem Sohn Vollkommen-an-Gestalten-ist-Re, Einziger-des-Re, Du läßt ihn kundig sein deiner Pläne und deiner Macht. Die Erde entsteht auf deinen Wink, wie du sie geschaffen hast: du gehst auf für sie – sie leben, du gehst unter, sie sterben. Du bist die Lebenszeit selbst, man lebt durch dich. Die Augen ruhen auf Schönheit, bist du untergehst, alle Arbeit wird niedergelegt, wenn du untergehst im Westen. Der Aufgehende, er läßt [alles Seiende] wachsen für den König; Eile ist in jedem Fuß, seit du die Erde gegründet hast.

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Du richtest sie auf für deinen Sohn, der aus deinem Leibe kam, den König von Ober- und Unterägypten, der von der Wahrheit lebt, den Herrn der beiden Länder Vollkommen-an-Gestalten-ist-Re, Einzigerdes-Re, den Sohn des Re, der von der Wahrheit lebt, den Herrn der Kronen (Echnaton) mit langer Lebenszeit.“

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Abb. 1: Landkarte aus: E. Hornung, Grundzüge der ägyptischen Geschichte, Darmstadt 1978

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Abb. 2: Kalksteinrelief des Echnaton, Ägyptisches Museum Berlin Inv.-Nr. 14512, aus: Katalog Ägyptisches Museum Berlin, Berlin 1967, S. 66 mit Abb. Nr. 742

Abb. 3: Echnaton als „geschlechtsloser Koloß“ aus: Reeves, Echnaton (Anm. 4), S. 190, Abb. 96

Abb. 4: Grundriß des Ramosegrab aus: Porter/Moss (Anm. 5), I.1, S. 106.

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Abb. 5a: Norman de Garis Davies, The Tomb of the Vizier Ramose, London 1941, Pl. 29

Abb. 5b: Davies, Tomb of the Vizier Ramose, Pl. 33

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Abb. 6: Stele des Kia aus dem British Museum aus: C. Aldred, The Beginning of the El-Amarna Period, in: Journal of Egyptian Archaeology 45 (1959).

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Abb. 7: Echnaton opfert dem Aton, Alabasterrelief aus dem Königspalast von Amarna, Ägyptisches Museum Kairo RT 30.10.26.12 aus: M. Saleh/H. Sourouzian (Hgg.), Die Hauptwerke im Ägyptischen Museum Kairo, Offizieller Katalog, Mainz 1986, Nr. 164

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Abb. 8: Darstellung aus dem Grab des Huja in Amarna aus: Davies, Rock Tombs, III (Anm. 16), Pl. IV

Abb. 9: Himmelsdarstellung aus dem sog. Kuhbuch im Grab Sethos I. aus: E. Hornung, Der ägyptische Mythos von der Himmelskuh (OBO 46), FreiburgGöttingen 1982, S. 82 Abb. 4

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Abb. 10a: Titelbild der sog. Sonnenlitanei aus: E. Hornung, Altägyptische Jenseitsbücher, Darmstadt 1997, S. 177 Abb. 61

Abb. 10b: Titelbild der sog. Sonnenlitanei, Hornung, Altägyptische Jenseitsbücher, S. 177 Abb. 61

Abb. 10c: Falkengestaltiger Re-Harachte aus: E. Hornung, Tal der Könige, Zürich-München 1982, S. 103

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Abb. 11: Zusammenstellung der Autorin

Abb. 12: Von der Autorin in Anlehnung an Assmann zusammengestellt

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Abb. 13: Stadtplan von Amarna aus: Reeves, Echnaton, S. 132 Abb. 70

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Abb. 14: Darstellung des großen Atontempels aus dem Grab des Merire in Amarna aus: Davies, Rock Tombs, I, Pl. XXV

Abb. 15: Darstellung aus dem Grab des Panehesi in Amarna aus: Davies, Rock Tombs, II, Pl. XVIII

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Abb. 16: Fragment einer Fußbodenmalerei aus Stuck aus: W. von Bissing, Der Fußboden aus dem Palast des Königs Amenophis IV. zu El-Hawata im Museum zu Kairo, München 1941, Taf. VI, S. 21.

Abb. 17: Die sog. vier Menschenrassen aus dem Grab Sethos I. aus: Hornung, Tal der Könige, S. 139

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Abb. 18: Hausaltar aus Amarna, Ägyptisches Museum Berlin 14145, Umzeichnung aus: A. Erman, Die Religion der Ägypter, Berlin-Leipzig 1934, Nachdruck 1971, S. 120 Abb. 51

Abb. 19: Die Amunsbarke in der Prozession, Ostrakon Ägyptisches Museum Berlin 21446, aus: E. Brunner-Traut, Die altägyptischen Scherbenbilder, Wiesbaden 1956, Taf. IX.17

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Abb. 20: Königsauszug vom Palast zum Tempel aus dem Grab des Mahu in Amarna aus: Davies, Rock Tombs, IV, Pls. XX und XXII

Abb. 21: Amunsbarke, Ostrakon Ägyptisches Museum Berlin 3310, aus: Brunner-Traut, Scherbenbilder, Taf. I.21

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Abb. 22: Votivstele an Amun-Re-Kamutef aus: A. Iskaner Sadek, Popular Religion in Egypt During the New Kingdom (Hildesheimer Ägyptologische Beiträge 17), Hildesheim 1987, Taf. XX.1

Die Verknüpfung von Weltbild und Staatsbild Aspekte von Politik und Religion in Ägypten SUSANNE BICKEL

Die Einbindung der altägyptischen Herrschaftsideologie in die Weltanschauung erfolgte durch ein dichtes Geflecht von Bezügen zwischen dem König und der Götterwelt sowie zwischen dem Staat und der Schöpfung. Es scheint möglich, etliche dieser in der ägyptischen Kultur so fest etablierten und unangefochtenen Vorstellungen aus einer bestimmten historischen Situation heraus zu erklären und in einem bestimmten sozialen Umfeld zu situieren. Um den Ursprung der ideologischen Grundlagen zu beobachten, die Staat und Kosmos definierten und miteinander verbanden, wenden wir uns dem Übergang vom 4. zum 3. Jahrtausend zu, vorwiegend der 0.–3. Dynastie, ca. 3100–2600 v.Chr., einer Epoche, für deren Erforschung höchste Vorsicht und Zurückhaltung geboten ist, da die zur Verfügung stehende Dokumentation relativ spärlich und ihre Interpretation oft recht unsicher ist.

1. Staatsbildung und Königtum Die Herausbildung des ersten gesamtägyptischen Territorialstaates war ein komplexer, über mehrere Generationen dauernder Prozess (ca. 3150–3000 v.Chr.), in dem unterschiedliche Faktoren bestimmend waren: die bereits vorher einsetzende kulturelle Überlagerung der unterägyptischen Gruppen durch die oberägyptische Nagada-Kultur, die Intensivierung von Austausch und Handel, Bündnisse und gewiss auch Kriege.1 Mit diesen Faktoren ging _______________ Den Organisatoren des Symposions Pantheon und Politik danke ich herzlich für die mir gebotene Möglichkeit, die Thematik aus ägyptologischer Sicht beleuchten zu dürfen. Dr. Martin Bommas danke ich für die kritische Durchsicht des Textes. 1 KAISER, W., Zur Entstehung des gesamtägyptischen Staates (Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo 46), 1990, 287–299; W ILKINSON, T.A.H., Political Unification: towards a reconstruction (Mitteilungen des Deutschen Archäologischen

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die steigende Komplexität der Gesellschaftsstrukturen und die Festigung einer kleinen, immer mehr Reichtum und Macht auf sich konzentrierenden Elite einher. Es scheint sich um den wohl frühesten politischen Zusammenschluss eines ganzen, wie eng oder locker auch immer verbundenen Kulturkreises zu handeln. Das in diesem Prozess zusammengeschlossene Territorium war für damalige Kommunikationsverhältnisse gigantisch, umfasste das gesamte Niltal vom ersten Katarakt beim heutigen Assuan bis zum Mittelmeer. Zeitweise erstreckte sich eine gewisse Hegemonie auch über die Gebiete des nördlichen Nubiens und der südlichen Levante. Wie immer dieser kulturelle und politische Zusammenschluss im Detail verlaufen sein mag, so können wir uns als Ausgangspunkt unseres Betrachtungsmodells eine Situation vorstellen, in der eine Elite und ihr Chef, der König, vor der Aufgabe standen, ein riesiges Gebiet zu festigen und zu gliedern. Es handelte sich um ein Land mit mehreren bereits traditionsreichen Städten und Regionalzentren. Obwohl die materiellen Ausdrucksformen auf eine weitgehende kulturelle Einheitlichkeit hindeuten, bestanden auf dem großen Gebiet sicher beträchtliche Unterschiede in Bezug auf Brauchtum und Weltanschauung, wie auch vermutlich merklich abweichende Dialekte. Der sich bildende Staat hatte eine völlig neue Situation zu meistern: Er musste ein Großterritorium mit seiner Diversität, seinen unterschiedlichen religiösen und sozialen Traditionen einheitlich organisieren und unter einer einzigen Führung festhalten. Zur effizienten Realisierung dieses Projektes waren die Verantwortlichen herausgefordert, einen ideologischen Überbau zu schaffen, ein den neuen Gegebenheiten angepasstes Herrschaftsmodell zu entwickeln, ein neues integrierendes Paradigma zu propagieren. Freilich wurzelte dieses Gedankenmodell sowohl in politischer wie in religiöser und in gesellschaftlicher Hinsicht auf traditionellen Elementen. Darauf aufbauend wurde, in einer unerhörten intellektuellen Leistung, ein innovatives Staats- und Weltbild entworfen und durchgesetzt. Diese konzeptuelle Wende wird für uns im Auftauchen neuer Bildtypen und Bildinhalte greifbar, die sich zum Teil auf herkömmlichen Bildträgern wie Prunkkeulen, Paletten sowie Knochen- und Elfenbeintäfelchen befinden. Wenn auch „Häuptlinge“ schon in vordynastischer Zeit archäologisch nachweisbar sind und Herrschaftssymbole besaßen, die in späterer Zeit ebenfalls zum Vokabular der Macht gehören,2 so tritt die Figur des men______________________________________________________________________________________________

Instituts Kairo 56), 2000, 377–395; M IDANT-REYNES, B., Aux origines de l’Égypte, Paris 2003. 2 Etwa das heqa-Zepter im Grab U-j in Abydos vom Anfang der Dynastie 0, DREYER, G., Umm el-Qaab I, Das prädynastische Königsgrab U-j und seine frühen Schriftzeugnisse (Archäologische Veröffentlichungen 86), Mainz 1998, 146–147, Taf. 36.

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schengestaltig wiedergegebenen Königs recht unvermittelt ins Zentrum der Ikonographie. Von allem Anfang an, scheint die Präsenz eines Königs an der Spitze des Staatsgefüges und als dessen Nexus unumstritten gewesen zu sein.3 Wie ich versuchen möchte anhand einiger Beispiele zu zeigen, handelt es sich bei der neuen Staats- und Kulturform, wie auch bis zu einem gewissen Grad bei der von ihr getragenen Religion, weniger um das Ergebnis einer „natürlichen” Entwicklung, als vielmehr um eine von einer engagierten und gebildeten Elite erdachte und gesteuerte Errungenschaft. Im Dienste der Organisation und Tragfähigkeit des neuen Staatsgefüges wurden von den interessierten Kreisen die Grundlagen einer Weltanschauung definiert und deren sprachliche und ikonographische Ausdrucksformen festgesetzt. Das frühe 3. Jahrtausend war für Ägypten die Phase der „Geburt der Religion aus dem Geist des Politischen“4, die Zeit der Erschaffung eines kohärenten, Religion und Politik umspannenden, allgemein verbindlichen Konzeptes. Dieses verfolgte drei Strategien: 1. die Vernetzung kultureller Divergenzen durch die Schöpfung eines Rahmens, in den sämtliche regionalen und sozialen Elemente eingebunden werden konnten; 2. der innovative Umgang mit traditionellen Vorstellungen und Ausdrucksformen; 3. die Neukonzeption von Sinnzusammenhängen und Sinnträgern. Als organisatorische Grundstruktur wurde von Anfang an die straffmöglichste Zentralisierung sämtlicher Aspekte des Staatssystems postuliert. Alternativ hätte auch ein Netz von Kleinstaaten nach mesopotamischem Muster in Betracht gezogen werden können. Ausdruck dieser Zentralisierung ist etwa die Gründung der Residenzstadt Memphis. Die Siedlung um den Palast der „Weißen Mauer“ geht auf Grund der Präsenz des Elitefriedhofes in Saqqara5, gemäß archäologischer Indizien vor Ort6 und laut der noch in griechischer Zeit lebendigen Tradition7 auf die 1. Dynastie zurück. An dieser Gründung eines überregionalen Macht- und Wirtschaftszentrums zeigt sich der auf Innovation ausgerichtete Geist der damaligen Elite, der keiner der bestehenden Städte diese führende Rolle _______________ 3 B AINES, J., Origins of Egyptian Kingship, in: O’CONNOR, D./SIVERMAN, D.P., Ancient Egyptian Kingship (Probleme der Ägyptologie 9), Leiden 1995, 105. 4 ASSMANN, J., Herrschaft und Heil, München–Wien 2000, 29. 5 EMERY, W.B., Great Tombs of the First Dynasty, Cairo 1949–58. 6 J EFFREYS, D./T AVARES, A., The Historic Landscape of Early Dynastic Memphis (Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo 50), Mainz 1994, 143–173. 7 Herodot II,99.

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überlassen wollte und mit der Wahl eines strategischen Ortes auch den neuen geographischen Ausmaßen des Landes Rechnung trug. Zentralisierung war auch das Prinzip der Staatsführung mit einer totalen Machtkonzentration beim König. Die Ausrichtung sämtlicher Aufgabenbereiche des gesamten Territoriums auf einen einzigen Punkt, und die Bündelung sämtlicher Kompetenzen auf eine einzige Person, stellte den Herrscher sehr schnell vor die Notwendigkeit der Legitimation. Diese konnte sich auf verschiedene Faktoren stützen. Kraft und militärische Dominanz gehören wohl zu den grundlegendsten Mitteln der Machtrechtfertigung. Damit verband sich auch die Zurschaustellung von Reichtum und Prestige. Der dritte und in historischer Zeit bedeutendste Faktor war die religiöse und ideologische Verankerung des Königtums. Gerade diese musste aber zu Beginn der dynastischen Zeit weitgehend konzipiert werden. Religion im weitesten Sinne und Staatsideologie, oder Machtrechtfertigung, wurden aufs engste miteinander verbunden. Sie wurden zu einem übergreifenden Vorstellungsrahmen zusammengefügt. Ganz allgemein stellte die Religion den Rahmen dar, in dem königliche Handlungen nicht nur gerechtfertigt, sondern auch erklärt wurden. Was wir heute Politik nennen, war in ägyptischer Sicht Befehl und Aktion des Königs. Konkret war es meist vom König bewilligte und delegierte Tätigkeit, ideell aber war es des Herrschers eigenes Handeln. Königliches Handeln war jedoch nicht unabhängig despotische Machtausübung. Schon aus den ältesten Zeugnissen des Königtums zu Beginn des 3. Jahrtausends geht klar hervor, dass der König im Zusammenspiel mit den Göttern agierte: Für die außerordentlichen Taten, zu denen ihn sein Amt verpflichtete, konnte er sich auf den Schutz und auf die Approbation der Götter stützen. Er war ihr Partner und Repräsentant. Mythologisch formuliert war er der Sohn der Götter, ihr Abgeordneter oder Nachfolger. Zur Stütze des Staates wurde eine Referenzebene außerhalb des Alltäglichen und Irdischen hergestellt, die verbindlich und unanfechtbar war, eine Referenzebene, die sich desselben Symbolsystems bediente wie die Religion. Die ideologisch-religiöse Untermauerung des Königtums drückt sich in unserer Dokumentation im Auftreten von Bildthemen aus, die ab dem Ende von Dynastie 0 den Herrscher bei verschiedenen Zeremonien darstellten, etwa den als Sed-Fest bezeichneten Riten oder dem feierlichen Besuch von Heiligtümern.8 Anhand dieser Festhandlungen und der Verbreitung ihrer bildlichen Wiedergaben konnte die Beziehung des Königs zum Göttlichen institutionalisiert und propagiert werden. Festdarstellung wie z.B. auf der _______________ 8

J IMÉNEZ SERRANO, A., Royal Festivals in the Late Predynastic Period and the First Dynasty (BAR Int. Series 1076), Oxford 2002.

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Prunkkeule und der berühmten Palette des Königs Narmer (ca. 3000 v.Chr.) drücken die leitende und schützende Funktion der Gottheit gegenüber dem König aus (Abb. 1 und 2). Narmer, richtiger wohl Nar-meher9, der heute entweder als letzter König der 0. Dynastie oder als Gründer der 1. Dynastie gilt, wurde laut Siegelabrollungen von seinen Nachfolgern als eine Art Stammvater anerkannt.10 Mehrere Dokumente zeigen ihn als ersten Exponenten einer vielseitig bekräftigten Herrscherideologie, und er war daher wohl einer der wichtigen Initiatoren einer neuen Form der Staatsführung. Da das Königtum in seinen neuen Dimensionen nicht mehr von einer Person mit nur menschlichen Kräften bewältigt werden konnte, wurde zu seiner Unterstützung ein Referenzsystem entwickelt, an dem die Politik mit ihren Gegebenheiten und Gesetzen verankert werden konnte. Es wurde ein globales System entfaltet, in dem Staat und Kosmos, Politik und Religion, in Einklang gebracht werden konnten und durch welches sämtliche Bereiche auf die Figur des Königs ausgerichtet wurden. Mit der Schaffung dieses einheitlichen und verbindlichen gedanklichen Überbaus ging auch die Durchsetzung von Maßnahmen einher, die eine effiziente Verbreitung und Fixierung der Konzepte ermöglichten: zum einen die Festsetzung und rasche Entwicklung von Schrift und Schriftsprache11, zum andern die Definition des sog. Dekorum, der Normierung sämtlicher offizieller und kultureller Ausdrucksformen architektonischer, ikonographischer und schriftlicher Art. Besonders auf ikonographischer Ebene sind etliche Elemente dieser Ausdrucksform bereits zwei bis drei Jahrhunderte früher in einer Grabmalerei, auf Paletten oder Etiketten belegt, ihre Anwendung war jedoch damals weder normiert noch verpflichtend. Durch diese Maßnahmen vollzog sich die Konsolidierung der „hohen Kultur” als Ausdrucksweise der Elite in ihrer Selbstdarstellung und ihrem Umgang mit dem Staat und der Götterwelt.12

_______________ 9 Name Nar mit Epitheton meher, etwa „der Furcht erregende Wels“, M ORENZ, L., Bild-Buchstaben und symbolische Zeichen (OBO 205), Fribourg–Göttingen 2004, 3. 10 W ILKINSON, T.A.H., Early Dynastic Egypt, London New York 1999, 62–70; DREYER, G., Ein Siegel der frühzeitlichen Königsnekropole von Abydos (Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo 43), Mainz 1987, 33–43; DREYER, G. et al., Umm el-Qaab. Nachuntersuchungen im frühzeitlichen Königsfriedhof, 7./8. Vorbericht (Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo 52), Mainz 1996, 11–81, 71f. 11 MORENZ, Bild-Buchstaben. 12 B AINES, J./YOFFEE, N., Order, Legitimacy, and Welth in Ancient Egypt and Mesopotamia, in: FEINMAN, G./MARCUS, J. (Hg.), Archaic States, Santa Fe 1998, 199–260, 235–252.

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2. Symbole des Staates Nebst der Verbindung von Götterwelt und Königtum ging es vorerst auch darum, dieses neue politische Gefüge zu definieren. Ein wichtiger Bestandteil des ideologischen Referenzsystems war die begriffliche und sinnbildliche Bestimmung des Staates. Zwar gibt es im Ägyptischen keinen Ausdruck, der unserem Begriff Staat genau entsprechen würde, doch ist die konzeptuelle Verknüpfung der zentralen Institution des Königtums mit den fest umrissenen Ausmaßen des Territoriums so stark, dass der Gebrauch des modernen Ausdrucks durchaus gerechtfertigt ist. Zur Definition des Staates wurde die Ausdrucksebene der Fiktion und der Symbole gewählt. Ein Grundelement dieser Fiktion ist die Bekräftigung der staatlichen Einheit durch Ausdrücke und Bilder einer Zweiheit. Prominentestes Beispiel ist die Vorstellung von den „Beiden Ländern“. Diese als so natürlich empfundene Dualität Ägyptens ist eine brillante Erfindung. Keineswegs wurden in der unablässig propagierten „Vereinigung der beiden Länder“ ursprünglich separate Königtümer, Kulturen oder Gesellschaften verbunden, die Konstitution des Territorialstaates ist das Endprodukt eines äußerst komplexen Prozesses. Dennoch wurde diese Vorstellung über drei Jahrtausende millionenfach sprachlich und ikonographisch ausgedrückt und besaß sicher eine hohe integrierende Wirkung. Zu den am meisten verbreiteten ikonographischen Sinnbildern gehören etwa die beiden „Landeskronen“, die wohl ursprünglich beide aus Oberägypten stammen. Seit der Zeit Narmers werden sie als Zeichen der Gesamtherrschaft einzeln auf demselben Monument (Narmerpalette) getragen oder, ab König Den (wohl 5. Herrscher de 1. Dynastie) belegt, in der Verbindung der sog. pschent-Krone. Die Verschlingung der beiden Wappenpflanzen (Papyrus und Binse), oft um das Schriftzeichen „Vereinigung“, war ein weiteres Mittel zur Bekräftigung der Kohäsion. Das Konzept der „Beiden Länder“, das sich über historische Tatsachen hinwegsetzte und eine neue Integrationsebene schuf, trug unumstritten zur Definition und gleichzeitig zur Legitimierung des ägyptischen Staates und seines Königtums bei. Möglicherweise geht der Dualitätsgedanke sowie einige damit verbundene Symbole (z.B. die Kronen, Horus und Seth) bereits auf einen Zusammenschluss der beiden oberägyptischen Fürstentümer Hierakonpolis und Nagada in spätprädynastischer Zeit zurück.13 Auch wenn die Vorstellung der Dualität als Zeichen einer politischen Einheit konkrete historische Wurzeln besitzen sollte, stellt die Dekontextualisierung und Neuverortung der Symbole sowie das Erreichen einer allgemeinen Akzeptanz solcher _______________ 13 Fekri A. HASSAN, Primeval Goddess to Divine Kingship. The Mythogenesis of Power in the Early Egyptian State, in: FRIEDMAN, R./ADAMS, B. (Hg.), The Followers of Horus, Studies dedicated to Michael Allan Hoffman, Oxford 1992, 307–321, 311.

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Konzepte eine hervorragende Leistung der Führungsschichten der ersten Dynastien dar. Die Bestrebung der Integration unterschiedlicher Traditionen in einen gemeinsamen Sinnzusammenhang drückt sich etwa in der Nebeneinanderstellung der „Landesgöttinnen“ Nechbet und Wadjet (Geier und Kobra) oder der „Landeskapellen“ aus. Zeremonien wie das bereits erwähnte SedFest, bei dem eine Vielzahl von Gottheiten involviert war und die traditionellen Sanktuare Ober- und Unterägyptens in ihrer architektonischen Form nachgebildet wurden, demonstrierten diese Bestrebung der Vernetzung von Faktoren der sozialen Identität unterschiedlicher Gruppen.14 Die beiden Göttinnen Nechbet und Wadjet wurden als prominente Vertreterinnen des Südens und des Nordens seit Beginn der 1. Dynastie in einem Königstitel an den Herrscher gebunden (ab König Aha belegt). Der König wurde dadurch zum lebendigen Symbol der staatlichen Einheit. Der ab der 4. Dynastie wichtigste Königstitel nsw-bjt, gängig mit „König von Ober- und Unterägypten“ übersetzt, ist ebenfalls eine dualistische Schöpfung der 1. Dynastie (ab Den belegt), bei der es sich wohl ursprünglich um die Verbindung zweier Epitheta, etwa „der Vorderste“ und „der Starke“ 15, handelt. Ein Bezug zu den Landeshälften scheint, wie bei den beiden Kronen, sekundär entstanden zu sein, als eine Auslegung des Sinnbildes der Doppelstruktur, die als solche bereits auf die Fiktion der Vereinigung verweist. Auch der so grundlegend wichtige Mythos von Horus und Seth ist eine, wohl erst im Laufe des frühen Alten Reiches entwickelte, „narrative Ausformung der Zweiheitssymbolik“, welche die innere Einheit der ägyptischen Staatsstruktur betont.16

3. Die religiöse Ebene Sprechen wir im folgenden einige Vorstellungen an, anhand derer das Staatsystem mit dem Wertesystem, mit religiösen und kosmologischen Vorstellungen verknüpft wurde. Es muss hervorgehoben werden, dass wir uns hier mit einem bestimmten Aspekt der ägyptischen Religion beschäftigen, nämlich der sog. „Staatsreligion“, der es, im Hinblick auf die ideolo_______________ 14

Zur Integration prähistorischer Kultzentren in die Ideologie, B AINES, Origins of Kingship, 100 f. 15 SCHNEIDER, T., Zur Etymologie der Bezeichnung “König von Ober- und Unterägypten”, Zeitschrift für ägyptische Sprache 120 (1993) 166–181. 16 ASSMANN, J., Frühe Formen politischer Mythomotorik, in: HARTH, D./ASSMANN, J. (Hg.), Revolution und Mythos, Frankfurt 1992, 39–61.

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gische Absicherung politischen Handelns, um die Einbindung der Staatsführung in das Konzept der Schöpfung ging. Dieser Aspekt war entscheidend Kultur prägend, vermutlich auch entscheidend für die Beständigkeit der Kultur verantwortlich. Es darf aber nicht unterschätzt werden, dass gleichzeitig zu dieser „Politologie“ auch eine Theologie bestand, in deren Rahmen Fragestellungen zum Prinzip des Lebens, zum Lauf der Zeit, zur Jenseitsexistenz und Struktur des unsichtbaren Raumes oder zum Wesen der Götter reflektiert wurden. Die theologischen Diskurse bewegten sich in demselben Vorstellungsgefüge wie die „Staatsreligion“, sie waren gedankliche Auseinandersetzungen mit dem Göttlichen und Jenseitigen, weitgehend ohne konkrete Zweckbestimmung. Die diesbezüglich entwickelten Konzepte wurden weit weniger plakativ verbreitet und treten daher wesentlich diskreter in Erscheinung. Für uns ist das theologische Gedankengut vorwiegend über seine Verarbeitung in der ab ca. 2350 v.Chr. in schriftlicher Form erhaltenen Jenseitsliteratur, später auch in Götterhymnen zugänglich. Ein dritter, nicht minder wichtiger aber aus heutiger Sicht noch schwieriger erfassbarer Aspekt der ägyptischen Religion ist die zu allen Zeiten existierende Religiosität des Einzelmenschen. Diese konnte von der mit staatlichen Mitteln vertretenen Sichtweise beeinflusst werden, sie eventuell auch beeinflussen17, sie konnte aber auch eigene Strategien einer zweckgebundenen, auf das individuelle Wohlergehen ausgerichteten Beziehung zum Göttlichen entwickeln. Es scheint seit Beginn der dynastischen Zeit ein Kennzeichen der ägyptischen Religion gewesen zu sein, dass das Heil des Einzelnen vom Wohlergehen der Gesamtheit losgelöst war und beide Aspekte in unterschiedlichen Sphären religiöser Praxis rituell verwirklicht wurden. Bei der Betrachtung religiöser Vorstellungen des frühen 3. Jahrtausends stößt man vor allem auf die Schwierigkeit, diese gegenüber vordynastischen Konzepten abzuheben. Für die ältere Zeit ist die Erschließung des Gedankengutes äußerst schwierig und bleibt notgedrungen meist sehr hypothetisch. Göttliche Kraft scheint im 4. Jahrtausend vorwiegend in Form von Tieren versinnbildlicht worden zu sein, eine Ausdrucksweise, die bekanntlich in Ägypten nie aufgegeben wurde, auch wenn sich dahinter wohl merkliche Sinnverschiebungen ereigneten.18 Doch auch Gegenstände wie Stan_______________ 17

Zur Staatsreligion in der 18. Dynastie und ihrer gezielten Integration von Strömungen der individuellen Religiosität, B ICKEL, S., Aspects et fonctions de la déification d’Amenhotep III (Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale 102), Le Caire 2002, 63–90. 18 HORNUNG, E., Conceptions of God in Ancient Egypt, the One and the Many, London 1983, 100 ff.

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darten konnten bereits auf kultisch Relevantes verweisen. Wenn auch mehrere Göttersymbole des späten 4. Jahrtausends an aus dynastischer Zeit bekannte und eindeutig identifizierbare Darstellungen erinnern, bleibt dennoch ungewiss, ob es sich dabei wirklich um dieselben Gottheiten handelte und inwieweit sich deren Wesen und Attributionen im Laufe der Zeit gewandelt haben. Nicht näher bestimmbar ist auch das Auftreten kosmischer Gottheiten (Sonnengott, Himmelsgott, Himmelsgöttin) mit überregional anerkannter Wirkungsmacht.19 Ebenso ist es nach wie vor schwierig, das Auftreten von anthropomorphen Gottheiten chronologisch zu sichern, da diese Frage eng mit der noch immer stark kontroversen Datierung der sog. Koptos-Kolosse zusammenhängt.20 Spätestens in der Zeit des Narmer konnten Gottheiten in der für Ägypten so typischen Mischgestalt erscheinen (Abb. 2, Menschengesicht mit Kuhohren und –hörnern) und von daher wohl auch rein menschliche Form annehmen. Die Darstellungen dieser Epoche zeigen deutlich, dass die Gottheiten fortan als lenkende Instanzen aufgefasst wurden, die Personhaftigkeit besaßen und mit ihrem Willen handelnd in die Welt eingriffen. Der betonte Blick der Mensch-Kuhgestaltigen Gottheit auf der Narmerpalette könnte eine Ausdrucksweise dieser waltenden Präsenz sein. 3.1 Positionierung des Königs Im Rahmen der frühdynastischen Definition des Königtums bestand eine der grundlegendsten Maßnahmen darin, den König ideologisch von der irdischen Sphäre zu entrücken. Allerdings wurde er auch nicht auf die göttlich-himmlische Ebene versetzt, sondern für ihn allein wurde eine eigene Zwischensphäre geschaffen. Einer der frühesten bild-textlichen Hinweise auf das Herrschertum ist das Bild des Falken. Dieses Symbol wurde zunehmend bevorzugt gegenüber andern tierischen Sinnbildern für Macht und Herrschaft wie etwa dem Löwen oder Stier oder auch den zeitweise aus Vorderasien (Elam, Sumer) entlehnten Darstellungsformen.21 Der Fal_______________ 19 Fekri A. HASSAN, Primeval Goddess, 308 vermutet, dass ein Übergang von lokalen Gottheiten zu kosmischen Gottheiten in der Epoche der Reichseinigung stattfand. 20 Zusammenfassend und mit Bibliographie zuletzt MORENZ, Bild-Buchstaben, 120– 136, der selber vorsichtig von proto-frühdynastisch spricht; zusätzlich B AQUÉ-MANZANO, L., Further Arguments on th Coptos Colossi (Bulletin de l’Institut Français d’Archéologie Orientale 102), Le Caire 2002, 17–61, mit einem früheren chronologischen Ansatz. Zur Frage des Erscheinens anthropomorpher Gottheiten B AINES, J., Egyptian Myth and Discourse: Myth, Gods, and the Early Written and Iconographic Record (Journal of Near Eastern Studies 50), Chicago 1991, 81–105, 97ff. 21 Dazu zusammenfassend mit Bibliographie, HARTUNG, U., Umm el-Qaab II, Importkeramik aus dem Friedhof U in Abydos und die Beziehungen Ägyptens zu Vorderasien

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ke ist ein sehr vielschichtiges Zeichen, das sich sowohl auf den entfernten Sonnen- und Himmelsgott, als auch auf den entrückten Zustand des Herrschers beziehen kann. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung wurde zu keiner uns zugänglichen Zeit eine Identität zwischen dem falkengestaltigen Gott und dem König postuliert.22 Der König, als Falke symbolisiert, befand sich ideologisch auf einer Zwischenebene zwischen Erde und Himmel. In dieser Position stand er den Göttern näher als der normale Mensch, er war der privilegierte Empfänger ihres Schutzes und ihrer Weisungen. Von dieser Position aus hatte der König – mit Falkenblick – die Übersicht über sein Land und die totale Beherrschung. Er übte seinerseits für die ihm unterstellte Bevölkerung die Rolle des Schutzherrn aus sowie die des Mittlers zwischen Menschen und Göttern. Diese Kosmologie mit ihren drei Ebenen Himmel – König – Erde drückt sich auf einem eingeritzten Bild eines Elfenbeinkammes der 1. Dynastie deutlich aus (Abb. 3). Im Zentrum steht der Name des Königs Djet (wohl 4. Herrscher der 1. Dyn.) mit dem Falkensymbol oder Falkentitel. Über ihm befindet sich ein Flügelpaar, das den Himmel als außerirdische Göttersphäre darstellt23, auf dem der Falkengott in der Sonnenbarke fährt. Die Zähne des Kammes erinnern an spätere Wiedergaben der Erde als bewachsenen Grund. Der König (Falke + Königsname im Palastzeichen) füllt den Zwischenraum zwischen Himmel und Erde aus. Ein großes Lebenszeichen steht auf derselben Ebene, als Mahnmal für das Prinzip Leben, das von den Göttern ausgeht und sich dank der Vermittlung des Königs auf Erden ausbreitet. Auf den Seiten stehen zwei Himmelsstützen. Liest man das Bild vertikal, verweisen diese auf die aus den Pyramidentexten bekannte Rolle des Königs, den Himmel zu stützen und damit gleichzeitig den Lebensraum der Götter und der Menschen zu sichern. Diese Stützen entsprechen aber der Hieroglyphe für Herrschaft und Macht. Liest man die Darstellung also horizontal, verweisen sie auf die Ausdehnung der königlichen Herrschaft, die mit der Ausdehnung des Himmels, der geschaffenen Welt identisch ist. Dieses frühe Bild drückt in einfachen Strichen die dem König zugewiesene Stellung innerhalb des Kosmos aus. Der Herrscher befindet sich auf einer eigenen Ebene außerhalb der irdischen Realität. Auf diese Ebene konnte sowohl über Symbole wie den Falken als auch über den Mythos ______________________________________________________________________________________________

im 4. Jahrtausend v. Chr. (Archäologische Veröffentlichungen 92), Mainz 2001, 327– 336. 22 GOEDICKE, H., Zum Königskonzept der Thinitenzeit (Studien zur Altägyptischen Kultur 15), Hamburg 1988, 123–141, 130–131. 23 ROEDER, H., „Auf den Flügeln des Thot“: Der Kamm des Königs Wadj und seine Motive, Themen und Interpretationen in den Pyramidentexten, in: Wege öffnen. FS R. Gundlach (Ägypten und Altes Testament 35), hg. von M. Schade-Busch, Wiesbaden 1996, 232–252.

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verwiesen werden, der für uns allerdings erst einige Jahrhunderte später in der schriftlichen Form der Pyramidentexte explizit zugänglich wird. Das Bild zeigt auch, dass der König als Falke und der Falkengott des Himmels zwei Einheiten in ihrer respektiven Sphäre sind und dass eine Gleichsetzung des Königs mit dem Gott nicht zulässig ist. Ebenso ist vorderhand nicht zu ermitteln, ob der königliche Falke der Frühzeit bereits als Horus angesprochen werden kann und inwieweit eine Beziehung zur später bekannten und mit dem König verbundenen Gottheit Horus bereits bestand. 3.2 Der König als Sohn der Götter Die bereits erwähnte Vorstellung vom König als Sohn der Götter erweist sich als staatspolitisch besonders bedeutsam. Sie drückt sich in doppelter Form aus: Zum einen ist der Herrscher Sohn des Sonnen- und Schöpfergottes, der wohl bereits eine Vorrangstellung im Göttergefüge besaß, zum andern ist er Sohn jeden Gottes und jeder Göttin. Die erste Vorstellung vom Abkömmling und Nachfolger des Sonnen- und Schöpfergottes ist inschriftlich in einem der ältesten erhaltenen grammatikalischen Sätze verankert auf einem Siegel aus der 2. Dynastie: „Der Goldene, er hat die beiden Länder seinem Sohn, dem König Peribsen überwiesen.“24 „Der Goldene“ ist eine alte Benennung des Sonnengottes.25 Es könnte sich um ein Epitheton handeln, mit dem verschiedene traditionelle Himmelsgötter in gleicher Weise bezeichnet wurden. Der prädynastische Grabbefund scheint vielerorts darauf hin zu weisen, dass solare Vorstellungen bereits eine Rolle spielten. Die Verbindung des Königtums mit dem Sonnengott könnte einerseits auf alter Tradition aufbauen, anderseits aber auch eine Maßnahme darstellen, eine landesweit in ihrer Präsenz unablässig und wirkungsvoll erfahrene göttliche Kraft ins Zentrum zu stellen. Ab der 4. Dynastie gehörte die Bezeichnung „Sohn des Re“ bis in die Römerzeit fest zum Eigennamen des jeweiligen Königs und drückte sich auch die Beziehung des Herrschers zum Sonnengott immer expliziter aus. Als Sohn des Sonnengottes konnte der Herrscher, in Anlehnung an den Mythos, auch mit dem Gott Schu verglichen werden, dem der Luftraum und die Funktion der Trennung bzw. Verbindung von Erde und Himmel zugewiesen waren. Obwohl das Alter der mythischen Vorstellung noch unbekannt ist, würde eine solche _______________ 24

KAPLONY, P., Die Inschriften des ägyptischen Frühzeit (Ägyptologische Abhandlungen 6–8), Wiesbaden 1963, Abb. 368. 25 KAHL, J., Frühägyptisches Wörterbuch 2, Wiesbaden 2002, 229f.; MORENZ, L., Die Götter und ihr Redetext: Die ältest-belegte Sakral-Monumentalisierung von Textlichkeit auf Fragmenten der Zeit des Djoser aus Heliopolis, in: BEINLICH, H. (Hg.), 5. Ägyptologische Tempeltagung (Ägypten und Altes Testament 33/3), Wiesbaden 2002, 137–158, 144–145; alternativ könnte das Epitheton auch auf den Gott Seth von Ombos verweisen, der besonders unter Peribsen ebenfalls ein Beschützer des Königtums war.

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Gedankenverbindung gut zur bildlichen Positionierung des Königs auf dem eben erwähnten Elfenbeinkamm passen. Das wohl gleichzeitig entwickelte Konzept, dass der König ebenso Sohn eines jeden Gottes sei, bewirkte die nachhaltige Einbindung sämtlicher lokaler Gottheiten in den Staatsgedanken. Die Durchsetzung dieses Gedankens war wohl eines der effizientesten Mittel zur Förderung der nationalen Kohäsion. Dadurch erhielt der König in sämtlichen Kulten des Landes eine zentrale Position. Durch seinen Status als einzigen Sohn der Götter erlangte er auch als einziger die Berechtigung zur Kultausübung. Vermutlich war die Stellung des Sohnes traditionellerweise, über Jenseitsvorstellungen und Totenkultbräuche, mit der Ausübung von Riten und dem Kult der Vorfahren, und damit der jenseitigen und außerirdischen Wesen, verbunden. Übertragen auf den König bewirkte aber diese kultische Sohnesrolle eine Art königliches Monopol.26 Er verwaltete fortan die Beziehung zwischen der Menschheit als Gesamtheit und den Göttern. Die Ägypter wurden ihrer Implikation im Weltgeschehen weitgehend beraubt. In sämtlichen den Weltlauf, das Gedeihen der Natur und die Gesellschaft betreffenden Belangen wurde die Kommunikation mit der Götterwelt fortan ausschließlich vom Staat gewahrt. Die Kult ausübenden Priester waren nicht mehr Vertreter der Gemeinschaft, sie waren Vertreter des Königs und Staatsangestellte.27 Übrig blieb lediglich eine Beziehung des Einzelmenschen zum Göttlichen in persönlichen Belangen sowie im funerären Bereich. Für den König oder den Staat brachte dieses Monopol zum einen die Oberhand über jeglichen Tempelbau, zum andern die Kontrolle über die wirtschaftlichen Ressourcen der Tempel und über deren Personalpolitik. Die Definition des Königs als obersten Priester sämtlicher Götter wurde zum Schlüssel der staatlichen Kontrolle aller lokalen Gemeinschaften, deren Eliten und Wirtschaftsverhältnisse. Es ist derzeit schwierig zu bestimmen, wie schnell und intensiv die Staatsführung dieses Machtmittel einsetzte. Vermutlich brachten bereits die ersten beiden Dynastien einen tiefen Einschnitt in die Religiosität und Kulttätigkeit der lokalen Gemeinschaften. Darauf weist, in der spärlichen Dokumentation jener Zeit, die mehrfache Bezeugung von Tempelneubauten in Provinzzentren hin und _______________ 26 ENDESFELDER, E., „Götter, Herrscher, König. Zur Rolle der Ideologie bei der Formierung des ägyptischen Königtums“, in GUNDLACH, R./ROCHHOLZ, M. (Hg.), Ägyptische Tempel- Struktur. Funktion und Programm (Hildesheimer Ägyptologische Beiträge 37), Hildesheim 1994, 47–54. 27 Es bleibt ungewiss ob der Ausschluss der Bevölkerung vom Tempelgeschehen auf diese Umwälzung zurückzuführen ist, oder ob schon in früherer Zeit nur abgeordnete Priester Zugang in den Tempel besaßen.

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deren Ausgestaltung mit Reliefs, die das Gründungsritual darstellen.28 Neugründung wurde ausdrücklich thematisiert. Der Bau von Tempeln als Träger der Herrschaftsideologie und der damit verknüpften religiösen Konzepte steht ohne Zweifel im Zusammenhang mit der mancherorts belegten tiefgreifenden baulichen Reorganisation der Stadtzentren (Abydos, Hierakonpolis, Elephantine). Wie am Beispiel von Elephantine gezeigt werden konnte, setzte sich die neue Bauform autoritär und rücksichtslos gegenüber dem traditionellen Heiligtum durch: die Festung der 1. Dynastie schnitt einen Teil des Hofes des in vordynastische Zeit zurückreichenden Felssanktuars ab. Dieses scheint bis zum Ende des Alten Reiches von staatlicher Seite völlig ignoriert, von der Bevölkerung jedoch weiterhin benützt worden zu sein.29 Die Frage, wie systematisch in den Provinzstädten zu Beginn der dynastischen Zeit Tempel im neuen „offiziellen“ Stil gebaut wurden, wird kontrovers diskutiert und hängt von der Bewertung der knappen Fundlage ab, da Spuren der ältesten Heiligtümer in den über Jahrtausende bebauten Kultbezirken nur in Glücksfällen erhalten sind.30 Allgemein darf wohl eine recht schnelle Umstrukturierung und Neudefinition der Tempel landesweit angenommen werden. Dadurch wurde jedes lokale Heiligtum ein vom Staat gesteuertes Unternehmen und primär eine Bühne für kultische Handlungen, in deren Zentrum der König und seine privilegierte Beziehung zu den Göttern standen.31 Die Vorstellung der Vater-Sohn-Beziehung zwischen dem König und den Göttern war nicht nur von theologischer, sondern auch von erheblicher staatspolitischer Tragweite. Ein theologisch interessanter Aspekt des Gedankens der königlichen Gottessohnschaft ist die Wesensähnlichkeit – als Sohn der Götter hatte der König auch an deren Wesen teil –, ein Thema dessen explizite Reflektion wir erst aus späteren Texten kennen. _______________ 28

Gründungsrituale von Khasekhemui: dargestellt in Hierakonpolis und Gebelein, weitere Dekorationsreste aus dem Tempel von el-Kab, ALEXANIAN, N., Die Reliefdekoration des Chasechemui aus dem sogenannten Fort in Hierakonpolis, in: GRIMAL, N. (Hg.), Les critères de datation stylistiques à l’Ancien Empire (Bibliothèque d’étude 120), Le Caire 1998, 1–29, 12–13. 29 SEIDLMAYER, S.J., Town and State in the Early Old Kingdom: A View from Elephantine, in: SPENCER, J. (Hg.), Aspects of Early Egypt, London 1996, 108–127, 108– 115. 30 O’CONNOR, D., The Status of Early Egyptian Temples: an Alternative Theory, in: FRIEDMAN, R./ADAMS, B. (Hg.), The Followers of Horus. Studies dedicated to Michael Allan Hoffman, Oxford 1992, 83–98; KEMP, B.J., Ancient Egypt, Anatomy of a Civilisation, London–New York 1989, 65–83, SEIDLMAYER, Town and State, 117–119. 31 Die Verbindung der Priester mit dem Hof wird durch den häufigen Titel „Den der König kennt“ und durch Eigennamen von Priestern wie „Der zum Herzen des Königs gehört“, „Groß ist Cheops“ etc. illustriert, SEIDLMAYER, Town and State, 117f.

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Der mythologischen Verbindung zwischen dem König und den Göttern entsprachen auch die zahlreichen Parallelen zwischen Palast und Tempel, deren Organisation und ritueller Tagesablauf sich großteils entsprachen.32 Das tägliche Ritual an den Götterstatuen war weitgehend eine Übertragung des ritualisierten Tagesablaufes des Königs (Ankleidung, Salbung, Speisung). Auch hier treffen wir auf eine sicher bewusst konzipierte Verknüpfung der realen und der imaginären Sphäre. Um seine Entrückung zu unterstreichen wurde der konkrete Tagesablauf des Herrschers ritualisiert, der König wurde durch dieses Ritual abgesondert, auf seine eigene Referenzebene gestoßen.33 Die Götterbilder in den Tempeln wurden mit denselben Ritualen umsorgt. 3.3 Die Organisation der Götterwelt Eine der Hauptaufgaben des jungen Staates war Organisation. In territorialer und in gesellschaftlicher Hinsicht musste eine klare Strukturierung durchgesetzt werden. Es wurde eine Verwaltung und ein Organisationssystem entwickelt, ein effizientes Machtmittel zur flächendeckenden Kontrolle, das recht schnell zu überragenden, die Ressourcen des ganzen Landes mit einbeziehenden Leistungen wie Pyramidenbau fähig war. Wohl in demselben Zug wurde auch die Götterwelt strukturiert. Die Gesamtheit der Götter wurde zu einer Körperschaft (chet) zusammengefasst, auf die sich die Namen mehrerer Könige der Frühzeit beziehen. Auch dabei könnte es sich um eine integrierende Maßnahme handeln, mit der die kulturelle und religiöse Diversität eingefangen und in vereinheitlichter Form an den Herrscher gebunden wurde. Auch die wenig später belegte „Neunheit“ ist primär ein gesteigerter Plural (3x3) zur Bezeichnung der Gesamtheit der Götterwelt, die erst sekundär auch neun (meistens mehr) bestimmte Götter bezeichnete. Es ist vermutlich das Verdienst jener kreativen Phase der frühen Dynastien, dem ägyptischen Pantheon seine charakteristische Gestalt verliehen zu haben, in der eine unbegrenzte Vielfalt von göttlichen Wesen sich in Kohärenz und Einheitlichkeit darstellen ließ. Leider fehlen in den meisten Fällen gesicherte Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage, welche der etwa dreißig wichtigen Gottheiten, die die Struktur der uns bekannten Götterwelt bilden aus vordynastischer Zeit _______________ 32

Auf die auch personelle Entsprechung dieser beiden Bereiche wurde verwiesen von B AUD, M., Le palais en temple. Le culte funéraire des rois d’Abousir, in: BARTA, M./KREJCI, J. (Hg.), Abusir and Saqqara in the Year 2000 (Archiv Orientalni Suppl. XI), Prag 2000, 347–360. 33 Wie real diese Entrückung und Absonderung gewesen sein mag zeigen die aus dem Papyrus Boulaq 18 zu erschließenden Verhältnisse: Der Palast besteht aus mehreren Bereichen mit immer restriktiverem Zugang, Q UIRKE, S., The Administration of Egypt in the Late Middle Kingdom, New Malden 1990.

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übernommen wurden und bei welchen es sich um Neudefinitionen handeln könnte. Auch die lokale Implantation der Gottheiten lässt keine direkten Rückschlüsse auf archaische Verhältnisse zu. Die Verbindung einer Gottheit mit einer Stadt geht gewiss in etlichen Fällen auf vordynastische Gegebenheiten zurück, doch können auch andere Ursachen, nicht zuletzt auch staatliche Eingriffe zugrunde liegen.34 Aufschlussreich für die Frage nach der Verknüpfung von Religion und Politik sind auch die zahlreichen Bezeichnungen, die aus der Realität der Elite und ihrer Verwaltungspraxis auf die Götterwelt übertragen wurden. Solche Bezeichnungen finden sich in großer Zahl in den zu Beginn der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends niedergeschriebenen Pyramidentexten. Obwohl aus dieser Quelle nur bedingt auf die archaische Zeit extrapoliert werden darf35, könnte es sich dabei doch um eine im Zuge der Strukturierung der Staatsführung entwickelte Übertragung auf die Götterebene handeln. Genau wie der König haben die wichtigen Götter ihren Hofstaat (Hofstaat des Re, Hofstaat des großen Gottes), oder ihre Gefolgschaft (die Gefolgschaft des Horus). Solche Bezüge dienten auch dazu, die Stellung des Herrschers mit derjenigen des Schöpfer-Himmels- oder Sonnengottes in Parallele zu setzten. Die Götter werden als Höflinge dargestellt. Sie treffen sich regelmäßig zur Ratsversammlung, einige unter ihnen haben einen Stellvertreter, gegebenenfalls einen Amtsnachfolger, und mehrere Gottheiten tragen anstelle eines Epithetons einen Hoftitel. In diesen Vorstellungen konnte sich die Elite wieder erkennen.36 Die Strukturen der Staatsorganisation wurden in die Götterwelt projiziert, gewissermaßen auf die andere Ebene von „Decision makers“ übertragen. Genau wie der König und sein Beamtenstab das Gedeihen des Staates zu garantieren hatten, oblag den Göttern die Verantwortung für die Schöpfung. Schöpfung und Staat, Schöpfergott und König werden in Hymnen des Neuen Reiches sehr oft gleichgesetzt. Der Gedanke der Entsprechung der beiden Sphären dürfte jedoch zu den Kernvorstellungen der ägypti_______________ 34 Ein bekanntes Beispiel dieses Phänomens ist die gezielte landesweite Implantation des Amun in Lokalkulte in der 18. Dynastie. B ICKEL, S., La cosmogonie égyptienne avant le Nouvel Empire (OBO 134), Fribourg–Göttingen 1993, 285–298. 35 Zu möglichen frühen Ansätzen eines Teils des Spruchgutes, M ATHIEU, B., La distinction entre Textes des Pyramides et Textes des Sarcophages est-elle légitime?, in: B ICKEL, S./MATHIEU, B. (Hg.), D’un monde à l’autre. Textes des Pyramides et Textes des Sarcophages (Bibliothèque d’étude 139), Le Caire 2004, 247–262, 253f; KAHL, J., Siut-Theben: Zur Wertschätzung von Traditionen im Alten Ägypten (Probleme der Ägyptologie 13), Leiden 1999, 97–99. 36 Diese Hofstruktur des Pantheons findet sich nicht nur in alten Texten. Auch im Mythos von der Himmelskuh ist die Götterwelt genau wie der Staatsapparat gegliedert.

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schen Weltanschauung gehören und ebenfalls in der Zeit der Herausbildung und Definition des Staates entwickelt worden sein. 3.4 Bewältigung von Opposition Nebst Organisation und Strukturierung des Landes war die Bewältigung von Opposition eine der zentralen Aufgaben des frühen Staates. Dieses Thema wurde schon in vordynastischer Zeit in Bildern verarbeitet und auch bereits mit der sakralen Sphäre verbunden. Die älteste bekannte Darstellung von Feindvernichtung befindet sich im einem Grab,37 die Szenen auf Paletten, in denen der Herrscher als Löwe oder Stier erscheint und Feinde niedertrampelt, stammen mit großer Wahrscheinlichkeit alle aus Heiligtümern.38 Auch in der Begegnung von Opposition zeichnet sich in dynastischer Zeit eine auffällige Ähnlichkeit zwischen staatsideologischen Konzepten einerseits und mythologischen Vorstellungen anderseits ab. Auf beiden Ebenen steht nicht ein Überwindungskampf im Mittelpunkt, es geht nicht um die Besiegung eines mächtigen, systemexternen Gegners. Weder die Schöpfung noch der Staat mussten erkämpft werden, sie wurden geschaffen, erdacht, entwickelt; beide konnten aber sowohl auf externe wie auf interne Opposition stoßen.39 Das Gefühl der Gefährdung wurde mythologisch als die „Feinde des Re“ oder als Apophis angesprochen.40 Die Feinde stemmten sich unablässig gegen die bestehende Schöpfungsordnung, sie wurden von der „Mannschaft des Re“ gewaltsam und martialisch niedergedrückt, jedoch nie eliminiert. In Bezug auf den Staat erfüllten die Nachbarvölker die Rolle der ideologisch definierten Feinde. Als Randerscheinungen im Weltbild der Ägypter stellten sie die permanente Gefährdung des Systems dar. Die ih_______________ 37 Grab Hierakonpolis 100 (Naqada IIC, ca. 3400), zuletzt GAUTHIER, P., Analyse de l’espace figuratif par dipôles. La tombe décorée no 100 de Hiérakonpolis (Archéo-Nil 3), Paris 1993, 35–47. 38 O’CONNOR, D.B., Context, Function, and Program: Understanding Ceremonial Slate Palettes (Journal of the American Research Center in Egypt 39), New York 2004, 5–25. 39 In der Mythologie tritt die Vorstellung eines mit der Schöpfung verbundenen Urkampfes erst im Laufe des 1. Jt. auf. 40 MEURER, G., Die Feinde des Königs in den Pyramidentexten (OBO 189), Fribourg– Göttingen 2002, 221ff. Obwohl der Name des Apophis erst am Ende des 3. Jahrtausends belegt ist, findet sich die Vorstellung mit großer Wahrscheinlichkeit schon in den Pyramidentexten, B ICKEL, S., Die Jenseitsfahrt des Re nach Zeugen der Sargtexte, in: Ein ägyptisches Glasperlenspiel. FS Erik Hornung, hg. von A. Brodbeck, Berlin 1998, 41–46, 43f.

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nen unterstellten Angriffe mussten ständig vom König und seiner Armee zurückgewiesen werden. Wie sich die Feinde der Schöpfung gezielt gegen Re wandten, so war auch die Beziehung zum Ausland ganz auf den König gerichtet. Die offiziellen Berichte schildern Konfliktsituation jeden Ausmaßes immer als Sieg des Königs. Zudem war auch die friedliche Beziehung mit dem Ausland, der Handel, weitgehend Staatsmonopol. Die Gleichsetzung der Nachbarvölker mit den Feinden der Schöpfung oder des Staates machte den König zum einzigen Überwinder dieser Gefährdung und gewährleistete ihm die Exklusivität der Siege, der damit verbundenen Beute, der Steuereinkünfte sowie der Handelsbeziehungen. Dass diese Vorstellung von den Nachbarvölkern als Gegner der Schöpfung auch ägyptische Angriffe mit wirtschaftlichen oder territorialen Motivationen legitimierte, liegt auf der Hand. Ikonographisch wurde das Bild vom Herrscher, der die Feinde niederschlägt, geradezu zum Sinnbild des Pharao und der von ihm garantierten Staatssicherheit. Kennzeichnend sind die unterschiedlichen Anbringungsorte dieses Darstellungstyps: Tempelgegenstände (Narmerpalette) und später Tempelwände, Felswände an abgeschiedener Stelle im Sinai, wo die Bilder sich lediglich an ein virtuelles Publikum richten41, schließlich auch auf kleinen mobilen Objekten, wie dem Knochentäfelchen des Königs Den, welches die Lieferung eines Paars Sandalen begleitete 42 (Abb. 4). Im Zentrum dieser Darstellungen ist jeweils die Faust des Herrschers, der die Gefahr „in Griff“ nimmt. Eine ähnliche Szene (Abb. 5), jedoch in unkonventionellerer Ikonographie, erscheint bereits auf einem Siegelzylinder des Königs Narmer. Bekanntlich waren Siegel, wie auch die Warenetiketten, effiziente Mittel zur Verbreitung von Bildern und den von ihnen getragenen Vorstellungen und Aussagen. Der Name des Königs, das Schriftzeichen Wels im Zentrum des Bildes, ist hier mit menschlichen Armen ausgestattet und hält einen riesigen Prügel. Auch für den König konnte die tierisch-menschliche Mischform als Ausdruck der höchsten Kräftekonzentration angewandt werden. Mit dem Stock verbunden steht ganz oben der Falkengott, der ein _______________ 41

B AINES, J., Kingship before Literature: the World of the King in the Old Kingdom, in: GUNDLACH, R./RAEDLER, C. (Hg.), Selbstverständnis und Realität (Ägypten und Altes Testament 36/1), Wiesbaden 1997, 125–174, 143f; die Darstellungen stammen aus der 3. Dynastie. Im Neuen Reich wird das Motiv sogar als Schutzamulett von Einzelmenschen um den Hals getragen, SCHOSKE, S., Das Erschlagen der Feinde: Ikonographie und Stilistik der Feindvernichtung im Alten Ägypten (UMI dissertation services), Ann Arbor 1996. 42 Sog. McGregor Palette, British Museum 55.586. GODRON, G., Études sur l’Horus Den et quelques problèmes de l’Égypte archaïque, Genève 1990, 151–154. KAPLONY, Inschriften III, 5.

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Lebenszeichen zum König hin hält. Daneben, die Flügel ausbreitend, schwebt eine Geiergöttin über dem Herrscher. Geier und Falke, Bilder zweier sicher sehr alter Himmelsgottheiten, wurden zu Schriftzeichen, zum Determinativ oder Semogramm von Göttin beziehungsweise Gott. Zusammen könnten die beiden hier die Götterwelt als Ganzes darstellen. Der Falke ist mit der Handlung des Königs verbunden, der Geier bewegt sich ganz deutlich in dieselbe Richtung wie der König/Wels. Unter dem Wels befinden sich die Schriftzeichen dreier Nachbarländer (Libyen, Levante und ein unsicheres drittes), deren Bewohner unter dem Prügel kauernd, in drei Gruppen gebündelt und gefesselt wiedergegeben sind. Mit der ausdrücklichen Approbation der Götter weist der König die von außen auf Staat und Schöpfung einwirkenden Gefahren zurück. Der Krieg ist nicht nur durch die Religion legitimiert, er ist sogar Ausdruck gottgefälligen königlichen Handelns im Interesse sowohl der Schöpfung als auch des Staates. Auch diese Darstellung kann man in beiden Ausdehnungen lesen: Vertikal stellt sie das Weltgefüge dar mit Göttern, dem König und in Hieroglyphengruppen säuberlich geordneten Fremdländern. Horizontal verweist das Bild auf die Aufgabe des Herrschers, die von Außen eindringenden Gefahren mit Hilfe der Götter zurückzuweisen. Der kleine Zylinderabdruck ist gleichzeitig ein Weltbild und ein Staatsbild. Religion und Politik, Göttervorstellungen und Staatsideologie, sind unzertrennlich ineinander verwoben. Das all diese Bereiche umspannende Band ist in späterer Zeit das überragende und verbindliche Prinzip der Maat, der kosmischen, politischen und sozialen Gerechtigkeit und Harmonie. Der Begriff Maat erscheint in der Frühzeit bereits in Eigennamen, doch kann nicht ermittelt werden ob er im Weltbild dieser Epoche schon die später belegte, zentrale Rolle spielte. Das Resultat dieser Verknüpfung von Götterwelt und Staatspolitik bestand darin, dass die vom König und dem Staatsapparat ausgeübte Politik, automatisch und inhärent sanktioniert war. Politisches Handeln war selbstverständlich „heiliges“ Handeln. Dies bedeutete natürlich umgekehrt, dass jede Form von Infragestellung oder Opposition zwangsläufig Verstoß gegen das Heilige war und als Gefährdung der Schöpfung unmittelbar eliminiert werden konnte. Die so festgelegte Definition von Opposition galt nicht nur für die Beziehungen zu den Randgebieten und dem Ausland, sondern konnte auch auf die besonders in der frühdynastischen Zeit wohl wesentlich akutere interne Opposition übertragen werden. Zu deren gedanklichen Bewältigung diente in späterer Zeit der Mythos von Horus und Seth als Präzedenzfall und Erklärungsmodell systeminterner Gegensätze, doch liegt die Entstehung dieses Vorstellungskomplexes noch weitgehend im Dunkeln, da Seth

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gerade in den ersten Dynastien zu den meist dargestellten Gottheiten gehört und eng mit dem Königtum verbunden ist.43 Die Übereinstimmungen weltanschaulicher und politischer Vorstellungen im Rahmen eines einheitlichen Konzeptes, das wir „Staatsreligion“ nennen, kommen nicht von ungefähr und sie kommen auch sicher nicht alle aus der hergebrachten vordynastischen Religion. Im Zuge der Vereinigung des gesamtägyptischen Staates wurde, aus der neuen Situation heraus, bewusst Wahrheit gestiftet, proklamiert und realisiert. Staatspolitisch vorteilhafte Vorstellungen wurden ausformuliert und mit den götterweltlichen Vorstellungen in ein kohärentes Konzept verknüpft. Diversität wurde in Kohärenz verarbeitet. In die bestehende und bereits traditionsreiche religiöse Gedankenvielfalt wurden Strukturen gelegt, die klar kommunizierbar waren. Die Vielgestaltigkeit der Religion wurde in ein zusammenhängendes System gebracht, sie erhielt eine einheitliche Kultpolitik und eine gemeinsame Ausrichtung auf den König. Religion wurde als ein integrierender Referenzbereich und als Erklärungsmodell von landesweiter Gültigkeit gestaltet. Eindeutig zeichnet sich der steuernde und grundlegend prägende Eingriff der neuen führenden Elite ab, die Macht und intellektuelles Potential, staatspolitische Klugheit und theologisches Erkenntnisvermögen in sich vereinte. Götterwelt und Staat wurden als weitgehend parallele Sphären konzipiert, so dass jeder Akt des Königs und zahlreiche politische Gegebenheiten in Analogie zur götterweltlichen Situation verstanden werden konnten. In der Zeit, als der ägyptische Großstaat geschaffen wurde und sein Funktionieren „erfunden“ werden musste, wurden die für heilig erachteten Wertvorstellungen von den einflussreichen Kreisen nachhaltig bestimmt. Ganz im Hinblick auf ihre Bedürfnisse und Interessen hat die damalige Elite ein System erdacht, in dem Weltanschauung und Staatspolitik unauflöslich miteinander verknüpft waren. Nebst einem reellen Engagement, die Staatsstruktur bestmöglich zu sichern, besaßen die führenden Denker mit Sicherheit auch einen echten Glauben an die Wirksamkeit lenkender und wohlwollender göttlicher Wesen und an die überragenden Kompetenzen des von diesen auserkorenen Herrschers. Nichts zeigt besser, wie scharfsinnig und effizient das von dieser Elite verwirklichte Konzept war, als die Tatsache, dass es über drei Jahrtausende höchstens nuanciert, jedoch nie verändert oder ersetzt wurde.

_______________ 43

SHIRUN-GRUMACH, I., Horus, Seth, Anubis – a model (Lingua Aegyptia 9), Göttingen 2001, 249–259.

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Abb. 1 und 2: Der König im Schutze der Gottheit: Abb. 1: Ausschnitt der Prunkkeule des Narmer (nach Wilkinson 1999, 193.) Abb. 2: Ausschnitt der Narmerpalette, 1. Dynastie.

Abb. 3: Elfenbeinkamm des Königs Djet, 1. Dynastie (Roeder 1996, Abb. 1)

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Abb. 4: Erschlagen des Feindes auf einem Knochentäfelchen des Königs Den, 1. Dynastie (nach Jeffrey Spencer [Hg.], Aspects of Early Egypt, London 1996, Titelbild)

Abb. 5: Siegelzylinder des Königs Narmer, 1. Dynastie (Kaplony 1963, Bd. III, Abb. 5)

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Religionen in Mesopotamien

Vielfalt der Götter und Einheit des Reiches Konstanten und Krisen im Spannungsfeld politischer Aktion und theologischer Reflexion in der mesopotamischen Geschichte ANNETTE ZGOLL

1. Teil. Hermeneutischer Zugang: Wie auf Erden, so im Himmel? A. Historisch-originäre und systematisch-wissenschaftliche Perspektiven Kulturgeschichtliche Fragestellungen wie diejenige nach dem Verhältnis, möglichen Wechselwirkungen und Beziehungen zwischen so globalen Bereichen wie Politik und Theologie oder „Pantheon und Politik“1 lassen sich auf zweierlei Arten angehen: 1. Aus der originären Innenperspektive der je studierten Kultur bzw. Epoche 2. Aus der wissenschaftlichen Außenperspektive unserer je eigenen Kultur Im ersten Fall bemühen wir uns um eine möglichst adäquate Annäherung an Termini, Vorstellungen und Weltbilder des Anderen, uns Fremden, bemühen uns, mit Hilfe fremder Quellen in fremde Welten einzudringen, im zweiten Fall versuchen wir, die dort vorgefundenen Konstellationen mit Begriffen unserer eigenen Terminologie zu analysieren und zu verstehen, bemühen uns also, das, was wir vorfinden, in unsere Kategorien und Denkweisen zu übersetzen2. Um dies anhand des Themas „Pantheon und Politik“ zu verdeutlichen: Als Menschen des 21. Jahrhunderts sind wir durch unsere gesellschaftliche Einbindung gewohnt, anthropozentrisch zu denken, Analogieschlüsse von „unten“ nach „oben“ zu ziehen. Hierher gehören Erklärungsmodelle wie „Anthropomorphie“ oder „Sozio_______________ 1 So das Thema des Symposions, das durch die Vielfalt der dargestellten Kulturen und ihrer je eigenen Quellen, sowie durch die große Diskussionsbereitschaft der Teilnehmer viele wichtige Anregungen gegeben hat, die auch in diesen Beitrag eingeflossen sind. 2 Beide Zugangsweisen sind interessant und wichtig, beide tragen im Idealfall zu einem Prozeß der Hinführung und Aufklärung, also des Verstehens bei.

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morphie“3. Hätten wir die Chance, einen altorientalischen Menschen hier sprechen zu hören, so würde er das Thema vermutlich mit einer Blickrichtung von oben nach unten aufrollen4. Er würde beim Himmel anfangen: Was in der Versammlung der Götter entschieden wird, hat Auswirkungen auf das menschliche Leben, insbesondere auch auf die Reiche auf Erden. Politische Macht kommt von den Göttern, so könnte er sagen, und z.B. auf Königsinschriften des 3. Jahrtausends5, literarische Texte des 2. Jahrtausends6 oder Chroniken aus dem 1. Jahrtausend7 verweisen, welche erklären, wie bestimmte Götter das Königtum vom Himmel auf die Erde brach-

_______________ 3 Vgl. z.B. GLADIGOW, B., Art. Gottesvorstellungen, HrwG 3 (1993), 32–49, hier 32: „Die traditionellen Gottesvorstellungen repräsentierern ein Grundmuster einer soziomorphen Interpretation von Welt.“ 4 Im Blickwinkel der Innenperspektive ist von den Göttern als Subjekten zu sprechen, mit einer „gewissen Entscheidungsfreiheit“ und einem „subjektiv vermeinte(n) Sinn“ (vgl. GLADIGOW, Gottesvorstellungen, 33). 5 Ein Beispiel: Inana verleiht dem König Eanatum von Lagaš auch das Königtum von Kiš, Königsinschrift Ean. 2, 5:23–6:5, STEIBLE, H., Die altsumerischen Bau- und Weihinschriften, Teil 1: Inschriften aus 'Lagaš' (FAOS 5), Wiesbaden 1982, 149f. Außerdem ist in diesem Kontext auf die sogenannte „Sumerische Königsliste“ oder „Chronik des einen Königtums“ zu verweisen, deren älteste bislang bekannte Fassung aus der Ur IIIZeit stammt, vgl. STEINKELLER, P., An Ur III Manuscript of the Sumerian King List, in: Literatur, Politik und Recht in Mesopotamien (FS C. Wilcke [OBC 14]), hg. von W. Sallaberger/K. Volk/A. Zgoll, Wiesbaden 2003, 267–292. Sie beginnt mit den Worten nam-lugal an-ta e11-da-ba, „Als das Königtum vom Himmel herabgekommen war“. 6 Vgl. etwa den Beginn der altbabylonischen Version des Mythos von Etana (HAUL, M., Das Etana-Epos. Ein Mythos von der Himmelfahrt des Königs von Kiš [GAAL 1], Göttingen 2000, 106f). – Die hier angeführten Beispiele sind etwas willkürlich auf die drei Jahrtausende mesopotamischer Literaturüberlieferung verteilt. Ein gutes Beispiel für einen entsprechenden literarischen Text aus dem 1. Jahrtausend bietet der Mythos von der Erschaffung des Menschen und des Königs (MAYER, W.R., Ein Mythos von der Erschaffung des Menschen und des Köngis, Or. 56 [1987] 55–68, dazu MÜLLER, H.-P., Eine neue babylonische Menschenschöpfungserzählung im Licht keilschriftlicher und biblischer Parallelen – Zur Wirklichkeitsauffassung im Mythos, Or.58 [1989] 69–85, CANCIK-K IRSCHBAUM, E., Konzeption und Legitimation von Herrschaft in neuassyrischer Zeit. Mythos und Ritual in VS 24, 92, WO 26 [1995] 5–20. Konzeption). 7 Vgl. Chronik 18, GRAYSON, A.K., Assyrian and Babylonian Chronicles (TCS 5), Locust Valley 1975, 139ff mit neuem Textzeugen und Ergänzungen bei F INKEL, I.L., Bilingual Chronicle Fragments, JCS 32 (1980) 65–80, hier 68–70, übersetzt auch bei GLASSNER, J.-J., Chroniques Mésopotamiennes, Paris 1993, 143. Zum Thema allgemein vgl. W ILCKE, C., Vom göttlichen Wesen des Königtums und seinem Ursprung im Himmel, in: ERKENS, F.-R. (Hg.), Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume. Fünfzehn interdisziplinäre Beiträge zu einem weltweiten und epochenübergreifenden Phänomen, Berlin 2002, 63–83.

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ten und den ersten König einsetzten (vgl. Abb. 1a und b: Die beiden Seiten der Geierstele).8 Götterwelt und politischer Handlungsraum sind, wie in vielen Kulturen, auch in Mesopotamien unlösbar aufeinander bezogen9. Das mag ein Beispiel aus dem 25. Jahrhundert veranschaulichen, die berühmte sogenannte „Geierstele“ des Eanatum von Lagaš. Die eine Seite zeigt den Herrscher, der mit den Truppen in den Kampf zieht und diesen siegreich besteht: Die feindliche Armee wird vernichtend geschlagen, die Leichen fallen Geiern zum Opfer. Die andere Seite der Stele zeigt dasselbe Geschehen aus anderer Perspektive. Hier steht, die Menschen um ein Vielfaches überragend, der Stadtgott von Lagaš, ein Netz mit den geschlagenen Feinden in der Hand. Zwei Seiten ein und derselben Sache. B. Verankerung und Ausweitung Um sich an verschiedene Facetten originären Erlebens und Interpretierens anzunähern, sind exemplarische Detailstudien ideal, insofern sie durch eine historische Verankerung tiefere Dimensionen des Verstehens eröffnen. Im Kontext der Überlegungen zu Göttervorstellungen und Herrschaftsformen wird dem insbesondere der dritte Teil des Beitrages dienen, der eine konkrete historische Situation des 23. Jahrhundert v.Chr. beleuchten wird. Pendant dazu ist der zweite Teil mit einer ausgeweiteten, systematischen Perspektive auf mögliche Analogien zwischen Götterwelt und Menschenwelt. Diese Systematik ist an sumerischen und babylonischassyrischen Textquellen erarbeitet und bietet somit zugleich Einblicke in die historisch-phänomenologische Mannigfaltigkeit dieser Quellen.

_______________ 8 Auch die umgekehrte Blickrichtung, von unten nach oben, d.h. die Vorstellung von Einflüssen der Menschenwelt auf die Sphäre der Götter, fehlt in mesopotamischer Perspektive nicht. Performative Texte wie Gebete und Rituale belegen deutlich auch diese Richtung des Austausches. Und die Vorstellung, daß das Tun gerade der Herrscher Reaktionen auf Seiten der Götter auslöst, ist vielfach zu belegen. 9 Das Beziehungsgeflecht zwischen Götterwelt und politischem Handlungsraum war in der mesopotamischen Antike viel enger als in der Moderne, es gab keine Gewaltentrennung (vgl. ASSMANN, J., Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel. Erweiterte Fassung eines Vortrages gehalten in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung am 14. Oktober 1991, THEMEN LII, Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, München 1991, 33f). Das bedeutet aber nicht, daß Religion und Politik in antiker Perspektive zusammenfallen. Wenngleich Bezeichnungen wie „Theologie“ oder „Politik“ im Sumerischen oder Akkadischen nicht existieren, gibt es doch klare Trennungen zwischen den verschiedenen Bereichen, bspw. bei verschiedenen Ämtern. Auch gibt es bestimmte Termini, die sich eindeutig nur einem von beiden Bereichen zuordnen lassen, wie z.B. „Götterversammlung“, „Götterherrscher“, „König der Götter“.

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Das Ganze mündet schließlich in einen knappen diachronen Ausblick, der deutlich machen wird, wie das Wechselspiel von Göttervielfalt und Reichseinheit das antike Mesopotamien noch über Jahrhunderte in Atem gehalten hat.

2. Teil. Systematischer Zugang: Begriffswelten und Wirkungsfelder Von der Fülle der mesopotamischen Textstellen und Bildquellen über das Wechselspiel zwischen Pantheon und Politik ausgehend suchen wir nach Konzepten, denen sich die mannigfachen Einzelbelege zuweisen lassen10. Ein solches Konzept liegt z.B. verschiedenen Ritualen zugrunde, die nach Art einer Audienz aufgebaut sind. Der Mensch erlebt sich hier als Bittstel_______________ 10 Ein methodisch anderer Zugang ergibt sich, wenn man die einzelnen Textquellen, z.B. die literarischen Texte, auf mögliche Reflexe politischen Denkens untersucht. Durch diese Zugangsweise hat insbesondere C. Wilcke das Wissen um die politischen Bedeutungsebenen von Mythen, Hymnen und anderen literarischen Texten bereichert, vgl. W ILCKE, C., Politik im Spiegel der Literatur, Literatur als Mittel der Politik im älteren Babylonien, in: RAAFLAUB, K. (Hg.), Anfänge politischen Denkens in der Antike. Die nahöstlichen Kulturen und die Griechen , Kolloquium München 1990 (Schriften des Historischen Kollegs – Kolloquien 24), München 1993, 29–75; DERS., Politik und Literatur in Babylonien und Assyrien. Versuch einer Übersicht, in: ASSMANN, J./B LUMENTHAL, E. (Hg.), Literatur und Politik im pharaonischen und ptolemäischen Ägypten. Vorträge der Tagung zum Gedenken an Georges Posener, 5.–10. September 1996 in Leipzig, Institut Français d´Archéologie Orientale (Bibliothèque d'Étude 127), Kairo 1999, 23–36 (zu skeptisch COOPER, J., Literature and History: The Political Referents of Sumerian Literary Texts, in: ABUSCH, T./HUEHNERGARD, J./MACHINIST, P./STEINKELLER, P. [Hg.], Historiography in the Cuneiform World. Proceedings of the XLV e Rencontre Assyriologique Internationale. Part I, Bethesda 2001, 131–147). – Aufgrund der Themenstellung des Symposions „Pantheon und Politik“ beschränken wir uns hier auf Konzepte aus der Menschen- und Götterwelt und klammern andere aus dem Bereich des Kosmischen (Naturgewalten, Tierwelt etc.) aus. Es handelt sich dabei um einen eigenen Bereich, der nicht notwendig mit den beiden anderen, mit Pantheon und Politik, verknüpft sein muß (wiewohl verknüpft sein kann). Naturmächte können Analogien für Götter und Menschen bieten, etwa wenn eine Gottheit donnert, astral am Himmel funkelt, oder Götter wie Herrscher als „Stier“ oder „Löwe“ bezeichnet werden. Vgl. dazu WIGGERMAN, F., Mythological Foundations of Nature, in: MEIJER, D.J.W., Natural Phenomena. Their meaning, depiction and description in the ancient Near East. Proceedings of the colloquium, Amsterdam, 6–8 July 1989 (Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Verhandelingen, Afd. Letterkunde, N.R. 152), Amsterdam 1992, 279–306 und MEIJER, D.J.W. (Hg.), Natural Phenomena. Their meaning, depiction and description in the ancient Near East. Proceedings of the colloquium, Amsterdam, 6–8 July 1989 (Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Verhandelingen, Afd. Letterkunde, N.R. 152), Amsterdam 1992.

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ler, der die Vorschriften des Hofzeremoniells genau zu beachten hat, wenn er mit seinem Anliegen vor die Gottheit treten will11. Die hier relevanten Konzepte lassen sich auf vier grundlegende Kategorien zurückführen: A. Kategorien der Interferenzen zwischen Götterwelt und Menschenwelt 1. Personale Interaktionen 2. Zwischenpersonale Strukturen 3. Politisch-gesellschaftliche Strukturen 4. Politisch-gesellschaftliche Interaktionen Die Kategorie der personalen Interaktionen umfaßt Konzepte wie dasjenige des Zornes der Götter12. Dieses Konzept findet eine historische Konkretisierung im 7. Jahrhundert, wenn das assyrische Exil der Statue des Gottes Marduk als Ausdruck von Marduks Zorn gegenüber Babylon interpretiert wird13. Zwischenpersonale Strukturen wie die Institution der Ehe können Jahrhunderte lang als Konzept für die Beschreibung der Beziehungen zwischen einem irdischen König und der Göttin Inana dienen14. Wenn Marduk hingegen als König proklamiert wird, gehört das dahinter stehende Konzept des Königtums zur Kategorie politisch-gesellschaftlicher Strukturen, während politisch-gesellschaftliche Interaktionen in der Vorstellung der in Kriege involvierten Götter vertreten sind, die ihren Schützlingen, wie etwa dem König NarƗm-Sîn, den Sieg schenken können.

_______________ 11 Vgl. ZGOLL, A., Audienz – Ein Modell zum Verständnis mesopotamischer Handerhebungsrituale. Mit einer Deutung der Novelle vom Armen Mann von Nippur, Baghdader Mitteilungen 34 (2003) 173–195. 12 In vielen antiken Texten zeigt sich ein Konzept des göttlichen Zornes, welches etwa, wie im oben angeführten Beispiel, dazu dienen kann, geschichtliche Ereignisse zu deuten. Insofern es sich bei diesem Konzept um eine Interaktion, also einen Vorgang handelt, könnte man präziser vom „Zürnen“ sprechen; dieser Begriff birgt allerdings den Nachteil, daß er den Eindruck einer singulären Handlung erweckt, wodurch der KonzeptCharakter verschleiert wird. 13 Asarhaddon-Inschrift Bab. A-G, BORGER, R., Die Inschriften Asarhaddons Königs von Assyrien, AfO Beiheft 9, Graz (1956), 10ff. 14 Die Ehe als Konzept für die Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem menschlichen Herrscher und der Göttin Inana ist in Quellen vom 25. bis 19. Jahrhundert, von Mes-Ane-pada von Ur bis zu verschiedenen Herrschern von Isin bezeugt, vgl. Z GOLL, A., Rezension von Y. SEFATI, Love Songs in Sumerian Literature, ZA 95 (2005) (im Druck), zur „Theo-Anthropogamie“.

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Kategorien

Konzepte

Konkretionen

Personale Interaktionen

Zorn

Marduk zürnt Babylon, daher Exil

Zwischenpersonale Strukturen

Ehe

König Mes-Ane-pada und Inana

Politisch-gesellschaftliche Strukturen

Königtum

Marduk als König über Götter und Menschen

Politisch-gesellschaftliche Interaktionen

Krieg

Inana schenkt dem König NarƗm-Sîn den Sieg

Diese Interaktionen und Strukturen sind nach antiker Sichtweise in drei Bereichen zu beobachten, nämlich innerhalb der Götterwelt, innerhalb der Menschenwelt und im Austausch zwischen beiden Welten. Am Beispiel der Audienz: Götter kommunizieren mit höher stehenden Göttern nach Vorschriften eines Audienz-Zeremoniells15, ebenso Menschen mit Menschen, entsprechend auch Menschen mit Göttern. Antik aufgefaßt bedeutet das: Wie im Himmel, so auf Erden, und so auch zwischen Himmel und Erde.16 In moderner Außenperspektive ist die Audienz zwischen Göttern und die zwischen Göttern und Menschen analog zur Audienz zwischen Menschen. Solche auf Soziomorphie beruhenden Analogien liegen auf der Hand und werden daher in den folgenden Übersichten nicht eigens erwähnt werden17.

_______________ 15

Auch Götter müssen die Regeln der Audienz beachten, wie z.B. ein Lied auf Inana zeigt, welcher hier eine Ausnahme gestattet wird (Hymne mit Selbstlob Inanas Z.18f: „Wenn ich ins Ekur, ins Haus Enlils eintrete, legt mir der Pförtner nicht die Hand auf die Brust ...“, W ILCKE, Politik 46; vgl. RÖMER, W.H.P H., Eine sumerische Hymne mit Selbstlob Inannas, Or.38 (1969) 97–114; DERS., Hymnen, Klagelieder und Gebete in sumerischer Sprache, in: TUAT II/1 (1989) 646–649. Vgl. auch die Darstellungen von Einführungsszenen auf Rollsiegeln, UEHLINGER, C., Audienz in der Götterwelt. Anthropomorphismus und Soziomorphismus in der Ikonographie eines altsyrischen Zylindersiegels, UF 24 (1992) 339–359. 16 Nach mesopotamischer Sicht vollziehen sich alle drei Bereiche nach den Gesetzen „wie im Himmel so auf Erden“ bzw. „wie im Himmel so auch zwischen Himmel und Erde“, nach moderner Perspektive sieht man die Analogien umgekehrt „wie auf Erden so im Himmel“. 17 Es gibt einfache Analogien zwischen Götterwelt und Menschenwelt: die Ehe zwischen Göttern analog zur Ehe zwischen Menschen. Daneben gibt es auch doppelte Analogien. Die Ehe zwischen Göttern kann in einer spezifischen historischen Situation analog zur Einheit zweier Städte und zum Bündnis zwischen deren Stadtgöttern stehen.

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Vielfalt der Götter

B. Interferenzen I: Personale Interaktionen Konzepte

Konkretionen: Götter und Götter

Konkretionen: Götter und Menschen

Zorn

Enlil zürnt den Göttern nach der Flut Gilgameš-Epos

Marduk zürnt Babylon wegen Mißständen Königsinschrift des Asarhaddon

Liebe

An liebt Inana Lied auf Inana

Inana liebt NarƗm-Sîn Königsinschrift des NarƗm-Sîn

Strafe

Ninurta verflucht Asag Mythos Ninurta und die Steine

Götter strafen NarƗm-Sîn wegen Freveltat Fluch über Akkade

Personale Interaktionen in Götter- und Menschenwelt und zwischen beiden umfassen die Konzepte des Zornes, der Liebe, der Strafe und andere mehr wie etwa Segen, Heirat, Zeugung, Tötung18. Die Beispiele, welche in den zwei Spalten „Konkretionen“ angeführt sind, bezeugen die Aktualisierung dieser Konzepte in bestimmten historisch-spezfischen Situationen19. Einige ausgewählte Beispiele werden jeweils im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. Personale Interaktion kann durch das Konzept des Zornes zum Ausdruck gebracht werden. So zürnt nach Auskunft des Gilgameš-Epos20 und des AtramhasƯs-Epos21 Enlil den anderen höchsten Göttern des Pantheons, als er bemerkt, daß ein Mensch die Sintflut überlebt hat, obwohl die Götterversammlung einen Eid geleistet hatte, keinem Menschen davon Mitteilung zu machen; dies die Konkretion des Konzeptes „Zorn“ auf Götterebene. Dazu eine Konkretion desselben Konzepts, bezogen auf das Wechselspiel zwischen Göttern und Menschen: Nach assyrischer Interpretation wurde Babylon zerstört und die Statue des Gottes Marduk nach Assyrien verschleppt, weil Marduk selbst seiner Stadt wegen all ihrer Misse_______________ 18

Weitere gut bezeugte Konzepte sind etwa Beruhigung, Erschaffung, Vernichtung. Auch literarische Texte wie hymnischer Preis oder mythisches Erzählen sind historisch zu verorten, wenngleich dies im Einzelfall aus der zeitlichen Distanz schwierig sein mag. Zur historischen Verankerung vieler solcher Dokumente vgl. W ILCKE, Politik. – Zugleich geben die Übersichten schlaglichtartig Einblicke in verschiedene Textgattungen. 20 Gilgameš-Epos 11:171, vgl. GEORGE, A., The Babylonian Gilgamesh Epic – Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts, Oxford (2003). 21 AtramhasƯs-Mythos III 6:5ff, vgl. SODEN, W. VON, Der altbabylonische Atramchasis-Mythos, in: TUAT III/2 (1994) 612–645. 19

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taten und Sakrilegien gezürnt habe22. Zwei Beispiele für andere Konzepte: Der Erfolg oder Mißerfolg von Königen kann nach mesopotamischem Verständnis durch Liebe oder Strafe der Götter verursacht sein. Durch die Liebe Inanas, so König NarƗm-Sîn in einer Inschrift23, habe er Horden von Feinden besiegen können. Nach dem Untergang seiner Dynastie versteht die Nachwelt gerade seine Regierungszeit als Zeit frevlerischer Übertretungen gegenüber dem Gott Enlil, weswegen die Götter zur Strafe die Vernichtung seines Reiches beschlossen hätten. C. Interferenzen II: Zwischenpersonale Strukturen Konzepte

Konkretionen: Götter und Götter

Konkretionen: Götter und Menschen

Ehe

Nanna und Ningal Götterlisten, Hymnen, Mythen.

König und Inana Königsinschrift des Mes-Ane-pada

Eltern-KindVerhältnis

Nanna und Ningal = Eltern der Inana Götterlisten, Hymnen, Mythen

Ninƣirsu und Bawu = Eltern des Eanatum Königsinschrift des Eanatum

GeschwisterVerhältnis

Nanše = Schwester des Ninƣirsu Königsinschriften, Tempelnamen etc.

Šulgi = Bruder des Gilgameš Königshymnus Šulgi O

In der Kategorie der zwischenpersonalen Strukturen lassen sich Konzepte wie Ehe und andere Formen von Partnerschaft neben genealogischen Konzepten wie Eltern-Kind-Verhältnis, Geschwister-Verhältnis und anderen Beziehungsstrukturen wie etwa Freundschaft oder Feindschaft ausmachen. Daß man sich die Götterwelt nach familiären Strukturen organisiert dachte, belegen Tempel und Kult der verschiedenen Stadtpanthea und auch die sogenannten „Lexikalischen Listen“, welche die Götter Mesopotamiens in geordneter Form zu erfassen suchten24. Derartige Strukturen finden sich aber auch zur Beschreibung der Verhältnisse zwischen Göttern und Menschen. So ist schon in den ältesten Königsinschriften aus Ur die Bezeich_______________ 22

Asarhaddon-Inschrift Bab. A-G, B ORGER, Asarhaddon 10ff. Vgl. die Inschrift auf der sogenannten BƗse\ki-Statue des NarƗm-Sîn 1:10–15, FRAYNE, D.R., The Royal Inscriptions of Mesopotamia Early Periods 2. Sargonic Periods, Toronto 1993, 113. 24 Vgl. LITKE, R.L., A Reconstruction of the Assyro-Babylonian God-Lists, AN: d A-nu-um and AN: Anu šá amƝli (Texts from the Babylonian Collection 3), New Haven 1999, KREBERNIK, M., Die Götterlisten aus FƗra, ZA 76 (1986) 161–204, LAMBERT, W.G., Art. Götterlisten, RlA 3 (1957–1971) 473–479, S ALLABERGER, W., Art. Pantheon. A. I. In Mesopotamien, RlA 10.3/4 (2004) 294–308. 23

Vielfalt der Götter

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nung des Königs Mes-Ane-pada als Gemahl der Inana (dam nugig) zu belegen (25. Jahrhundert, Siegellegende)25. Herrscher können auch auf andere Weise darstellen, daß sie aus der normalen Menschenwelt herausragen und an göttlichen Eigenschaften teilhaben26, indem sie sich als Kind eines göttlichen Paares (Eanatum, 26. Jahrhundert) oder als Bruder eines Gottes (Šulgi, 21. Jahrhundert) bezeichnen. Die letztgenannte Genealogie verbindet außerdem Šulgis Hauptstadt Ur mit der traditionsreichen GilgamešStadt Uruk27. Städte-Bündnisse sind häufiger konkret-politischer Hintergrund solcher genealogischen Aussagen. Daß Nanše die Schwester des Ninƣirsu ist, spiegelt die Zusammengehörigkeit der Stadt Niƣin, deren Hauptgottheit Nanše ist, mit der Stadt Ƣirsu, deren Hauptgott Ninƣirsu ist (im Staat Lagaš). D. Interferenzen III: Politisch-gesellschaftliche Strukturen Konzepte

Konkretionen: Götter und Götter

Konkretionen: Götter und Menschen

Ratskollegium

Götterversammlung mit Entscheid über einen Gott AtramhasƯs-Mythos

Götterversammlung mit Entscheid über das Land Ritual zum Neujahrsfest in Babylon

Königtum

Marduk als König über die Götter Königsinschriften, Ennjma elîš

Marduk als König über die Menschen Kodex Hammurapi

Hofstaat

Hochgötter mit göttlichem Hofstaat Götterliste An-Anum

Priester als Diener der Götter Gudea Zylinder, Ritual zum Neujahrsfest in Babylon

Implizit spiegeln Mythen und Epen, Rituale und Gebete, ebenso wie Götterlisten als Texte der „expliziten“ Theologie28 politisch-gesellschaftliche Strukturen in der Götterwelt wieder. Die Götterversammlung, welche die _______________ 25

ZGOLL, A., Inana als nugig, ZA 87 (1997) 181–195, hier 192f. Einen Überblick zu verschiedenen Aspekten von herrscherlicher Sakralität in Mesopotamien bietet WILCKE, Königtum. 27 Diese Verbindung zu Gilgameš, die impliziert, daß Šulgi zum Sohn der Götter Lugalbanda und Ninsun von Uruk wird, schafft zugleich eine topologische Anknüpfung der Hauptstadt Ur an Uruk und dessen Traditionen. –– Zur politischen Interpretation von Eltern-Kind-Verhältnissen vgl. z.B. auch die Darstellung der Geburt Nannas im Mythos von Enlil und Ninlil, was C. Wilcke als Legitimation für die Herrschaftsansprüche der Dynastie von Ur III interpretiert hat, vgl. W ILCKE, Politik 37. 28 Zu den Begriffen der „expliziten“ und der „impliziten“ Theologie vgl. ASSMANN, J., Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur, Stuttgart u.a. 1984, 192. 26

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„Schicksalsentscheidungen“ über Götter wie über Land und Leute fällt, interpretierte Thorkild Jacobsen schon 1943 als Entsprechung zur mesopotamischen Institution der Versammlung der Männer, dem Ratskollegium29. Um das Königtum ranken vielfältige Vorstellungen, welche Götter- und Menschenwelt verbinden, wie die göttliche Erwählung irdischer Könige 30. Das höchste Königtum über Götter31 und Menschen32 wurde im Babylonien _______________ 29

J ACOBSEN, T., Primitive Democracy in Ancient Mesopotamia, JNES 2 (1943) 159– 172 (Nachdruck in W.L. Moran [Hg.], Toward the Image of Tammuz and Other Essays on Mesopotamian History and Culture, Cambridge – Massachusetts 1970, 157-170). V AN D IJK, J., Les contacts ethniques dans la Mésopotamie et les syncrétismes de la religion sumérienne, in: HARTMAN, S.S. (Hg.), Syncretism. Based on Papers read at the Symposium on Cultural Contact, Meeting of religions, Syncretism held at Åbo on the 8th–10th of September, 1966 (Scripta Instituti Donneriani Aboensis III), Stockholm 1969, 171– 206, hier 182ff, modifiziert den Begriff zu „divine démocratie“. Zur Ratsversammlung vgl. auch W ILCKE, Literatur 34. 30 Noch zu klären bleibt, welches Konzept sich hinter der Vergöttlichung einiger mesopotamischer Herrscher verbirgt. Traditionellen Stadtgöttern gehört eine Stadt, sie sind dafür verantwortlich, treten für sie im Götterrat ein, fliehen, wenn Stadt untergeht. Die Vergöttlichung von Herrschern findet sich zum ersten Mal bei NarƗm-Sîn, der sich von den wichtigsten Hochgöttern des Landes zum Schutzgott seiner Stadt ernennen läßt. Gudea nennt sich „Gott seiner Stadt“, schreibt seinen Namen aber ohne GottesDeterminativ. Die Vergöttlichung findet sich außerdem bei Herrschern der Dynastien von Ur III und von Isin-Larsa. Haben wir bei der Vergöttlichung von Herrschern, ähnlich wie im antiken Rom, mit Analogien zur Beförderung oder Belohnung für treue Dienste zu rechnen (vgl. ZGOLL, C., Phänomenologie der Metamorphose. Verwandlungen und Verwandtes in der augusteischen Dichtung, Tübingen 2004, 243ff)? 31 Eines der zentralen Themen von Ennjma elîš ist der Aufstieg Marduks zum „König der Götter“, weswegen dieser Titel hier häufig genannt wird (vgl. Ennjma elîš 7:139ff, 5:110ff und passim). Gerade der Aufstieg Marduks zum Götterkönig läßt sich anhand einiger politisch-historischer Ereignisse gut nachzeichnen: dem Aufstieg Babylons und Babyloniens in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends, der Rückholung seiner Statue aus elamischem Exil durch Nebukadnezar I. im 12. Jahrhundert, dem neubabylonischen Großreich im 7./6. Jahrhundert (SOMMERFELD, W., Der Aufstieg Marduks. Die Stellung Marduks in der babylonischen Religion des zweiten Jahrtausends v.Chr. [AOAT 213], Münster 1982). Durch seine Funktion als Gott der „Magie“ hat er vermutlich im Volksglauben eine wesentliche Rolle gespielt (KREBERNIK, M., Vielzahl und Einheit im mesopotamischen Pantheon, in: DERS./VAN OORSCHOT, J. [Hg.], Polytheismus und Monotheismus in den Religionen des Vorderen Orients [AOAT 298], Münster 2002, 33–51, hier 44). Marduks Aufstieg läßt sich verfolgen anhand seiner Titulatur in Königsinschriften, in Ennjma elîš und im Kultkommentar zum Neujahrsfest K 3476 = CT 15, 43f, LIVINGSTONE, A., Court poetry and literary miscellanea (SAA 3), Helsinki 1989, 92ff (dazu in Kürze ZGOLL, A., Königslauf und Götterrat. Struktur und Deutung des babylonischen Neujahrsfestes, in: B LUM, E. [Hg.], Feste in Israel, Ugarit und Mesopotamien [im Druck]). 32 Die ersten Zeilen des Kodex Hammurapi (Prolog) schildern die Ernennung des Marduk zur Oberherrschaft („Enlilwürde“) über die Menschen. Das Königtum eines Gottes über die Menschen bringen auch Personennamen zum Ausdruck, vgl. z.B. dAdad-šar-

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des 2. und 1. Jahrtausends v.a. Marduk zugesprochen. Zur Vorstellung von einem Herrscher gehört so selbstverständlich wie ein angemessener Palast ein repräsentativer Hofstaat. Die Zylinderinschriften des Gudea widmen dem Einzug der 24 Mitglieder des göttlichen Hofstaates in den neu erbauten Tempel 162 Zeilen33, die Götterliste An-Anum zeigt jeden Hochgott in Begleitung seines Gefolges, worunter sich Boten, Berater, Siegelbewahrer, aber auch Musiker oder Friseure finden können34. E. Interferenzen IV: Politisch-gesellschaftliche Interaktionen Konzepte

Konkretionen: Götter und Götter

Konkretionen: Götter und Menschen

Audienz

Inana vor Enlil Inana-Hymnus, Klagelied Urnammas Tod

Mensch im Ritual vor Gottheit Handerhebungsrituale

Rechtsfall

Ninƣirsu gegen Šara um Grenze Königsinschrift Enmetena

Inana gegen Nanna und Lugal-Ane um Kompetenzen Lied auf Inana

Krieg

Marduk gegen Tiamat Ennjma elîš, Kultkommentar

Inana schenkt NarƗm-Sîn den Sieg Königsinschrift NarƗm-Sîn

Wer bei einem hierarchisch höher Gestellten ein Anliegen vortragen will, muß in Mesopotamien die Regeln der Audienz beachten35. Das gilt auch für die Göttin Inana, wenn sie bei Enlil vorsprechen will36, desto mehr aber für den Menschen, der sich Göttern im Ritual der Handerhebung nähert37. ______________________________________________________________________________________________

nišƝ „Adad-ist-der-König-über-die-Menschen“, SAPORETTI, C., Onomastica MedioAssira I (St.Pohl 6), Rom 1970, 61f. 33 Gudea Zylinder B 6:11–12:25, E DZARD, D.O., The Royal Inscriptions of Mesopotamia Early Periods 3/1. Gudea and His Dynasty, Toronto 1997, 92. 34 LITKE, God-Lists. 35 Der höher Gestellte muß nicht notwendig ein König sein, vgl. die Novelle vom Armen Mann von Nippur. In dieser Geschichte wird auch vorgeführt, was passieren kann, wenn einer die Regeln der Audienz mißachtet (in diesem Fall der gesellschaftlich höher stehende Bürgermeister); vgl. ZGOLL, Audienz. 36 Vgl. Inanas demütiges Eintreten vor Enlil im Klagelied Urnammas Tod: Ihre Stimme ist vom Rufen am Tor heiser, die Knöchel sind vom Anklopfen wund geworden; vgl. W ILCKE, Politik (1993) 53 Anm.107. – Desto bemerkenswerter, wenn solche Regeln außer Kraft gesetzt werden; das kann dazu dienen, die überragende Stellung Inanas zu beschreiben. Vgl. ein Inana-Lied, welches nach W ILCKE, Politik 45f „der Akkadezeit zugeschrieben“ werden kann (Textzeugen a.O. 45 Anm.74) mit Z.18–20: „Wenn ich ins Ekur, in das Haus Enlils eintrete, legt mir der Pförtner die Hand nicht auf die Brust, sagt mir der Wesir nicht: ’Lächele!’“ (Übersetzung WILCKE a.O.). 37 ZGOLL, Audienz.

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Streitfälle zwischen verschiedenen Parteien können als Prozeße vor den Göttern vorgestellt werden. So wird der Grenzstreit zwischen den Städten Lagaš und Umma im 25. Jahrhundert als Rechtsfall zwischen ihren jeweiligen Stadtgöttern Ninƣirsu und Šara vorgestellt, den der Gott Enlil als Richter entscheidet38. Die Auseinandersetzungen um Autonomiebestrebungen der Stadt Ur gegenüber dem Reich von Akkade gelten als Prozeß der Inana von Akkade gegen Nanna, den Gott von Ur, und seinen menschlichen Schützling Lugal-Ane39. Im 2. und 1. Jahrtausend wird das Konzept des Rechtsfalls in verschiedenen Ritualen ausgeweitet auf den einzelnen Menschen, dessen persönliches Schicksal vor den Göttern zur Verhandlung anstehen kann40. Konkrete historische Situationen wie Kriege, Niederlagen, Siege, Aufstände hat insbesondere C. Wilcke als eine wichtige Bezugsgröße hinter mythischen Berichten von Götter-Handlungen ausmachen können41. So wurde etwa die Göttin Inana/Ištar vielfach mit der Dynastie von Sargon und NarƗm-Sîn identifiziert, deren Dauer späteren Generationen auch als „Regierungszeit der Ištar“ (palû) galt42. Diese historische Situation bildet die Brücke zum 3. Teil des Beitrages, der die bisherigen theoretischen und phänomenologischen Überlegungen verankern soll in einem exemplarisch dargestellten Konfliktfall zwischen der in den mesopotamischen Stadtstaaten verehrten Vielfalt von Göttern und der Idee eines einheitlichen Reiches mit einer neuen, übergeordneten Gottheit.

_______________ 38 Enlil fällt das Urteil im Grenzstreit von Ninƣirsu und Šara, vgl. die Königsinschrift des Enmetena Ent.28-29 1:1ff, STEIBLE, Weihinschriften 230. 39 ZGOLL, A., Der Rechtsfall der En-hedu-Ana im Lied nin-me-šara (AOAT 246), Münster 1997. 40 Z.B. in den Gebeten zur Opferschau (2. Jahrtausend) oder in den namburbiLöseritualen (1. Jahrtausend). Zu den namburbi vgl. M AUL, S.M., Zukunftsbewältigung. Eine Untersuchung altorientalischen Denkens anhand der babylonisch-assyrischen Löserituale (Namburbi) (BF 18), Mainz 1994; ein allgemeiner Überblick mit Übersetzung und Analyse von Opferschaufgebeten und vielen weiteren Beispielen findet sich bei W ILCKE, C., Das Recht: Grundlage des sozialen und politischen Diskurses im Alten Orient, in: DERS./HAZENBOS, J., Das geistige Erfassen der Welt im Alten Orient. Vorträge des Symposions Leipzig 16.–18.11.2000 (in Vorbereitung zum Druck). 41 W ILCKE, Politik. Durch diese historischen Verankerungen wurden differenzierte Deutungen der Mythen ermöglicht. Für den Mythos von Inana und Ebeh und dessen historische Deutung vgl. auch ZGOLL, A., Ebeh und die anderen Gebirge in der politischen Landschaft der Akkadezeit, in: MILANO, L. (Hg.), Geography and Cultural Landscapes. (HANE/M III/2), Padua 2000, 83-90. 42 W ILCKE, Politik 32.

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3. Teil. Historische Verankerung: Die Eine und die Vielen A. Tradition und Neuerung: Die Ausgangssituation Um das Jahr 2340 v.Chr. kommt im südlichen Mesopotamien zumindest ansatzweise und konfliktgeladen etwas in Bewegung, was wir als einen Paradigmenwechsel bezeichnen könnten. Nach Jahrhunderten mehr oder minder autonomer, sumerisch ausgeprägter Stadtkulturen mit wechselnden Bündnissen43 unternimmt es Sargon von Akkade, den gesamten Süden des Irak, das spätere Babylonien, unter seiner Herrschaft zu einen. Dieses nach seiner Hauptstadt benannte „Altakkadische Reich“ besteht unter Sargon und seinen Nachfolgern fast 150 Jahre44. Versteht sich, daß man nicht aller Orten diesem Interesse huldigte. Vornehmlich die Städte wehren sich vehement gegen jede Unterordnung, gegen die Aufgabe von Rechten, gegen die Erhebung von Steuern, gegen die Stellung von Soldaten, und so fort. Jedenfalls kann man diese Zeit als die Geburtsstunde der Großreiche im antiken Mesopotamien bezeichnen. Die Neuerungen in Politik und Gesellschaft hatten deutlich greifbare Auswirkungen etwa auf den Bereich der bildenden Künste, wo sich neue Themen und neue Techniken zeigen45, wie auch in anderen Bereichen der Kultur. Nachdem Jahrhunderte lang Sumerisch die vorherrschende Schriftsprache gewesen war, wird nun das Akkadische zur Amtssprache im gesamten Reich46. Keine Frage, daß die neue Einheit des Staates auch das Denken, die Vorstellungen von Menschen, Göttern und Welt, vor neue Aufgaben stellte. In den Schnittpunkt von Pantheon und Politik etwa gehört die Vergöttlichung von Sargons drittem Nachfolger NarƗm-Sîn. Die _______________ 43 Unter den wechselseitigen Bündnissen und wechselnden Hegemonien findet sich z.B. das „Königtum von Kiš“. 44 Das „Reich“ besaß nie die Stabilität eines modernen Staates, war immer umstritten, umkämpft, mit Aufständen konfrontiert. Aber die Herrscher von Akkade vertraten den Anspruch auf ein Großreich mit dem Kern „Sumer und Akkad“, z.B. in den Titeln šar kiššati „Herrscher der Gesamtheit“ (1. Mal unter Sargon) oder šar kibrƗti arba´i „Herrscher der vier Weltufer“ (1. Mal unter NarƗm-Sîn), vgl. EDZARD, D.O., Geschichte Mesopotamiens. Von den Sumerern bis zu Alexander dem Großen, München 2004, 76. 87. Dies ist ein gutes Beispiel, daß auch Politik nicht nur eine Sache bloßer Fakten ist, sondern genauso durch die allgemeinen, je gültigen „Koordinaten“ von Denken und Vorstellungen bestimmt wird, d.h. Anteil am Gedankenkonstrukt von Welt- und Götterbildern hat. 45 Exemplarisch genannt sei hier B OEHMER, R.M., Die Entwicklung der Glyptik während der Akkad-Zeit. UAVA 4, Berlin (1965). 46 In den Städten werden dem König unterstellte Statthalter eingesetzt, welche die früheren lokalen Könige ersetzen, die sich als Statthalter der Götter verstanden, vgl. W ILCKE, Politik 30f; zur Verbreitung von Sprache und Schriftform vgl. E DZARD, Geschichte 93f.

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mit den Neuerungen einhergehenden Konflikte werden gerade unter diesem NarƗm-Sîn am deutlichsten. Gegner der Zentralherrschaft gab es immer; unter NarƗm-Sîn kulminieren die Proteste in einer Kette nicht enden wollender Aufstände. Verschiedene Städte tun sich zu Koalitionen zusammen und setzen den akkadischen Truppen so sehr zu, daß das Reich auseinander zu brechen droht47 (vgl. Abb. 2: NarƗm-Sîn-Stele). B. Autonomie contra Zentralismus: nin-me-šara als Zeuge Nun gibt es aus einer aufständischen Stadt, aus der Stadt Ur, ein Dokument, das in genau dieser Situation des Konfliktes zwischen Stadt und Reich entstanden ist und welches den politischen Konflikt als zutiefst religiösen Konflikt erweist, in dem die Positionen von politischen und kultischen Amtsträgern aufeinanderprallen, als einen Konflikt, in dem letztlich gerade um Hierarchien im Götterpantheon gerungen wird. Menschen und Götter sind involviert. Protagonisten auf Seiten der Götter sind der Stadtgott von Ur, der Mondgott, sumerisch Nanna, akkadisch Suen, und andererseits die Stadtgöttin der Reichshauptstadt Akkade und Schutzgöttin des akkadischen Herrschers und seiner Dynastie, die Göttin des Venusgestirns, sumerisch Inana, akkadisch Ištar. Menschlicherseits scheint die gesamte Stadt Ur gegen eine Priesterin zu stehen. Es handelt sich um En-hedu-Ana, die en-Priesterin, d.h. Hohepriesterin des Stadtgottes von Ur, welche die höchste kultische Position in Stadt und Land bekleidet. Überdies aber ist sie erklärte Parteigängerin der Göttin Inana, der Schirmherrin des Reiches von Akkade. Am Protest der Stadt Ur gegen die Sargoniden hat En-hedu-Ana nicht mitgemacht, wiewohl viele das von ihr erwartet haben. Sie hat sich nach deren Meinung, _______________ 47

Das geht so weit, daß NarƗm-Sîn in seinen eigenen Inschriften, die ja eine Quellengattung herrscherlicher Selbstdarstellung bilden, die Katastrophe deutlich spüren läßt (allerdings, um sich nachher als desto siegreicher zu erweisen). Neun Schlachten in einem Jahr habe er siegreich bestanden, so läßt er verlauten, und was das heißt, zeigt in verblüffender Offenheit ein weiterer Satz aus derselben Inschrift, worin von der „Enge“ (pušqum), d.h. großen Bedrängnis die Rede ist: al ši in pušqim išdƯ alƯĞu ukinnu – „auf (die Tatsache) hin, daß er (NarƗm-Sîn) in (dieser) (Enge =) Bedrängnis die 'Fundamente' seiner Stadt gefestigt hat“, NarƗm-Sîn-Inschrift der BƗse\ki-Statue i 20–23, FRAYNE, Inscriptions (1993) 113 Inschrift 1.4.10, vgl. Parallelen in vier weiteren Inschriften 1.4.9 und 1.4.11–13. Vgl. allgemein dazu W ILCKE, C., Amar-girids Revolte gegen NarƗmSu´en, ZA 87 (1997) 11–32; SOMMERFELD, W., NarƗm-Sîn, die „Große Revolte“ und MAR.TU ki, in: Assyriologica et semitica (FS J. Oelsner [AOAT 252]), hg. von J. Marzahn/H. Neumann, Münster 2000, 419–436; ZGOLL, Rechtsfall. – Diese Situation hat noch die Gemüter der kommenden Generationen beschäftigt, so daß der Vorfall auch dichterisch umgesetzt wurde und in den Schreiberschulen zum Lernpensum zählte, und daß die Person und das Schicksal des NarƗm-Sîn überhaupt Ausgangspunkt für weitere Erzählungen und Legenden wurde.

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die sich dann in dem Mann Lugal-Ane bündelt, weder loyal zur Stadt, noch auch loyal zu ihrem „Dienstherrn“ Nanna, dem Stadtgott von Ur verhalten. Dieser Lugal-Ane, vermutlich ein Vertreter des alten Stadtadels von Ur, hat sich der großen Koalition gegen NarƗm-Sîn angeschlossen und Truppen gegen ihn aufmarschieren lassen48. Er hat sich auf den Stadtgott Nanna berufen und von dessen Priesterin gefordert, ihn als Herrscher von Ur zu legitimieren. En-hedu-Ana aber weigert sich. Daraufhin droht man ihr mit dem Schlimmsten. Als sie trotzdem nicht nachgibt, vertreibt man sie in Schimpf und Schande aus der Stadt. In dieser Situation entsteht ein Text, der in eben diese Vorgänge Einblicke gibt. Es handelt sich nach Auskunft des Textes selbst um ein „Lied“, sumerisch šir3, welches die Priesterin an die Göttin Inana richtet, ein Lied mit hymnischen, narrativen und performativen Elementen, zugleich Teil eines dramatischen Rituals, welches um Tod und Leben und um einen neuen Rechtsspruch ringt. Nach antiker Praxis wird dieses Lied nach den eröffnenden Wörtern benannt, die nin me šara (im Folgenden: NMS) lauten, d.h. „Herrin der unzähligen göttlichen Mächte“. Gemeint ist Inana. Mehrere Eigenarten zeichnen dieses Lied mit seiner komplexen Struktur und einer rhetorisch brillianten literarischen Gestaltung als eine herausragende Dichtung aus. Um nur einige zu nennen: Zunächst seine Aktualität, welche den Hörer/Leser noch nach Jahrtausenden hineinnimmt in eine brenzlige Krisensituation, die, zumindest für die Priesterin, lebensgefährlich aussieht. Hier zeigt sich – für Mesopotamien einmalig – ein dramatischer geistiger Kampf um die richtige theologische Deutung politischen Geschehens und zugleich die feste Hoffnung, den Gang der Politik durch die Macht genau dieses rituellen Liedes verändern zu können, Eigenschaften, die dem Text noch für Jahrhunderte die Aufnahme in den literarischen Kanon sicherten. Schließlich ist die Autorin des Textes selbst betroffen durch ihre hohe religiöse Position und durch die Ereignisse in der Stadt Ur. Zugleich ist sie in die übergeordneten politischen Vorgänge persönlich involviert, da sie sich in ihren Inschriften als „Tochter Sargons“ bezeichnet, d.h. mit der Sargoniden-Dynastie und so auch mit dem zeitgleichen Herrscher NarƗmSîn auf das Engste verbunden ist. In ihrer Person kulminieren die Konflikte: Loyalitätspflicht gegenüber ihrem Gott Nanna und der Stadt sind in Widerspruch geraten mit ihrer Loyalitätspflicht gegenüber dem Herrscher, der gerade in schwerer Bedrängnis ist, und der Patronin des AkkadeReiches, der Göttin Inana (vgl. Abb. 3: Alabasterscheibe der En-heduAna). _______________ 48

Zu den Dokumenten über Lugal-Ane und ihrer historischen Einordnung vgl. die Übersichten bei ZGOLL, Rechtsfall, 379–383.

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Von literaturwissenschaftlichem Interesse ist außerdem, daß der Text eine Sphragis trägt, also eine Namensnennung des Autors. Da heißt es: „Ich (bin) die en-Priesterin, ich (bin) En-hedu-Ana“49 (Z.67) und an anderer Stelle „Da (das Herz mir) voll, ja übervoll geworden war, gewaltige Herrin, habe ich (es =) dies Lied für dich geboren“ (Z.138). Der Schleier der Anonymität, der noch Jahrhunderte lang über fast allen literarischen Werken liegen wird, lüftet sich hier zum ersten Mal. C. Konflikt und Lösungsansätze: Ein Prozeß Die Position Inanas In NMS geht es darum, widerstreitende Positionen vor Gericht zu klären. Richter in diesem Menschen und Götter umspannenden Prozeß sollen die höchsten Götter sein. Etwas vereinfacht kann man sagen, es geht um die Position der Göttin Inana im Pantheon. An ihrer Stellung entzündet sich der Streit. Denn die neue Rangstellung, die ihr zugeschrieben wird, löst notwendig Verschiebungen in den bisherigen Götter-Konstellationen aus. Wo jemand neu eine Führungsposition einnimmt, müssen meist andere weichen. Diese Erhöhung Inanas steht in den Augen Lugal-Anes stellvertretend für die proklamierte Einheit des Reiches, dessen Administration bereits die Städte Sumers mitsamt ihren Stadtgöttern zu umfassen und zu umklammern versucht. Im Lied NMS wird Inana als Herrscherin über die Götter vorgeführt, bzw. etwas präziser: Sie soll durch das Lied in diesen Rang erhoben werden, soll sich als höchste Gottheit erweisen. Dieser Beweis müsste dann auf politischer Ebene, nämlich im Sieg der Ihren, sichtbaren Ausdruck finden – auch dies ein Argument des Textes selbst, welches Inana zum Handeln drängen soll (vgl. Abb. 4: Rollsiegel mit Inana). Inanas Aufstieg Der Aufstieg der Göttin läßt sich innerhalb des Textes verfolgen: Zunächst wird sie vorgestellt als Besitzerin der (unzähligen) göttlichen Machtmittel (ME)50. Dann wird ihre Herrschaft über die anderen Göttinnen genannt (Z.60); selbst ihre eigene Mutter, d.h. die Gemahlin des Nanna, wird ihr explizit untergeordnet51. Keinen Zweifel an Inanas Vorrang über die höchsten Götter, d.h. die Anuna, lassen die folgenden fünf Zeilen aus dem letzten Drittel des Liedes: _______________ 49 Entsprechend „En-hedu-Ana bin ich – ein Gebet will ich nun zu dir sprechen“ (Z.81) und „Die strahlende en-Priesterin Nannas bin ich“ (Z.120). 50 „Herrin über die unzähligen ME“ (Z.1), „Wächter der großen ME“ (Z.6), „Gottheit, für die ME geeignet“ (Z.64). 51 Sie ist „größer als die eigene Mutter“ (Z.61).

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112 an-úr an-pa(-a) nin-gal-bi-me-en 113 dA-nun-na-ke4-ne gú ƣiš ma-ra-an-ƣar-re-eš 114 ù-dú-da-ta nin bàn-da-me-en 115 dA-nun-na diƣir gal-gal-e-ne(-er) a-gin7 ba-e-ne-diri-ga 116 dA-nun-na-ke4-ne nundum-nundum-bi-ta ki su-ub ma-ra-AK(-e)-ne 112 Von Himmelsfundament und Himmelszenit bist du die große Herrin, 113 die Anuna haben sich dir unterworfen. 114 Von Geburt an warst du die kleinere Herrin, 115 (Du) die die Anuna, all die großen Götter, so übertroffen hat, 116 daß die Anuna mit ihren Lippen (nun) den Boden vor dir küssen.

Hier wird nicht nur das Ergebnis, sondern auch der Vorgang des Aufstieges thematisiert. Es gab eine Zeit, da war Inana eine untergeordnete „kleinere Herrin“, doch nun hat sie „alle großen Götter übertroffen“, die durch Proskynese ihre Unterwürfigkeit gegenüber Inana zum Ausdruck bringen. Auch der höchste Gott von Ur ist betroffen: Eindringlich wird wiederholt, daß die Entscheidungsgewalt52 nicht bei Nanna, sondern bei Inana liegt, und daß Inana den höchsten Rang innehat: 133 dNanna li-bí-in-du11-ga za-a-kam bí-in-du11-ga 134 nin-ƣu10 íb-gu-ul-en ì-mah-en 133 Daß Nanna (den Spruch) nicht ausgesprochen, daß er „Dein ist er“ gesagt hat, 134 meine Herrin! – das hat dich größer gemacht, du bist die Größte geworden!53

Daß der Anspruch auf diese oberste Position im Pantheon auf das Engste mit Herrschaftsansprüchen auf Erden gekoppelt ist, leuchtet ein und wird auch so vorgebracht: Inana ist die nin kur-kur-a(k), die „Herrin über alle Länder“54; Kritik oder Gegenwehr gegen diesen Herrschaftsanspruch wäre, so der Schluß des Liedes, völlig nutzlos, da Inana, die dieses Reich verkörpert, die Eigenschaft besitzt, alle feindlichen Länder zu zerstören55. Konsequenzen: Eklat mit der Stadt Der Eklat mit den alteingesessenen politischen und religiösen Eliten in Städten wie Ur ist unvermeidlich. Lugal-Ane dagegen vertritt die traditionelle, Jahrhunderte alte Position, wonach die Stadt Ur dem Stadtgott unter_______________ 52

Sumerisch di.d, „Spruch“, „Urteil“. Daß die Aussage absolut zentral ist, zeigt ihre teilweise Doppelung durch „Es soll bekannt sein, es soll bekannt sein: Nanna hat (den Spruch) nicht ausgesprochen, 'Dein ist er' hat er gesagt!“ (Z.122). 54 nin-me-šara Z.162, dazu gehören auch Z.17, 20, 152. 55 kur gul-gul (Z.152) ist eine nominale Fügung, ein Epitheton, welches Inana das „Zerstören der feindlichen Länder“ als Eigenschaft zuschreibt. 53

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steht. Diesem Stadtgott allein ist der städtische Herrscher verantwortlich56. Deutlich läßt der Text die Konsequenzen aus der durch En-hedu-Ana erfolgten Erhöhung Inanas erkennen, scharfe Kritik von Seiten der städtischen Machthaber in der Stadt, die sich in handgreiflicher Bedrohung der Priesterin äußert: 104 ù-ma gub-gub-ba é-ta ba-ra-an-è(-en) 105 simmušen-gin7 ab-ta ba-ra-an-dal-en zi-ƣu10 im-mi-gu7 106 kiši16 kur-ra-ke4 bí-in-r^e6-e-en 107 aga zi nam-en-na mu-da-an-kar 108 ƣíri ba-da-ra ma-an-šúm a-ra-ab-du7 ma-an-du11 104 Nachdem er triumphierend dagestanden war, hat er mich aus dem Tempel vertrieben. 105 Wie eine Schwalbe vom Fenster ließ er mich fliegen – ich habe mein Leben verzehrt, 106 zum Dorngestrüpp des Feindeslandes hat er mich weggeschleppt. 107 Die rechte aga-Krone des en-tums entriß er mir. 108 Ein Messer gab er mir. „Dir ist es zur Zierde geworden!“ sagte er mir.

Strategien gegenüber den vielen Gegnern des einen Reiches Im Umgang mit der Kritik zeigen sich zwei grundlegend verschiedene Strategien. Konfrontation und Aggression einerseits, Vermittlung und Versöhnung andererseits. Grauenvolle Schicksale werden den Bewohnern der Stadt vor Augen gestellt. Die Bilder sind drastisch. Sie zeigen eine Inana, die gegenüber Widerstand gnadenlos und unbarmherzig verfährt. Da erscheint die Göttin wie ein giftspeiender Drache (Z.9), ein leichenverschlingendes Raubtier (Z.127), als Feuer (Z.13), Sintflut (Z.11), und Sturm (Z.17), Zerstörungskraft (Z.152) geht von ihrem schrecklichen Blick (Z.128–130) und ihrer furchtbaren Aura (Z.2, 21) aus, ihr „Zorneswüten“ (Z.41) äußert sich in Donner und Gebrüll (Z.20). Die Folgen sind Klagen und Tränen, aber auch Gefangene neben Leichen, Blut, zermalmten Schädeln (Z.9ff, 20ff, 43ff, 125ff). Auch im Pantheon wird der Machtanspruch der Inana deutlich, wenn es heißt, daß die großen Anuna-Götter dem Schreckensblick Inanas nicht standhalten konnten und wie Fledermäuse zu Ruinenhügeln geflattert sind (Z.34–37). Strategien gegenüber dem Stadtgott von Ur Es finden sich aber auch verbindlichere Töne. Die Auseinandersetzung mit Nanna, dem Favoriten des Gegners, ist von besonderem Takt geprägt. Enhedu-Ana nennt ihn „mein Nanna“ und spricht vom „aufrührerischen Gebiet“, das „Nanna verhaßt“ sei (Z.93), eine Aussage, die man auf die Re_______________ 56

Eine Sonderrolle nimmt in dieser Theologie Nippur mit Enlil ein, dem als primus inter pares eine besonders prominente Stellung zukommt.

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bellion in Ur zu beziehen hat (vgl. Abb. 5: Mondgott, Ausschnitt der Urnamma-Stele). Daneben aber bleibt die für En-hedu-Ana dunkle, bedrohliche Seite des Stadtgottes bestehen. Wie kann das zusammengehen? En-hedu-Ana löst das Problem, indem sie den einen Gott sozusagen unter drei Gestalten anruft. Diese drei Gestalten läßt sie erstehen, indem sie die verschiedenen Aspekte des Mondgottes drei verschiedenen Namen zuweist57. Unter der traditionellen sumerischen Namensform Nanna58 wird der Mondgott in enger Verbundenheit zu En-hedu-Ana und Inana gezeigt59. Das Gleiche gilt für die akkadische Namensform Suen60, die eintritt, wenn von Inana als „Tochter Suens“ die Rede ist61. Nur zwei mal findet sich der Name AŠimbabbar62, gerade an jenen Stellen, an welchen das leidvolle Schicksal der Priesterin (Z.102ff) und die Veränderungen in Tempel und Kultausübung (Z.84ff) in den Blick kommen. Nicht umsonst ist der Name AŠimbabbar ein älterer, seltener Beiname des Mondgottes63. Ohne hier die mit feinem Gespür gestalteten Details im einzelnen zu nennen – das reicht bis in die syntaktische und grammatikalische Formung64 – wird deutlich, daß En-he_______________ 57

ZGOLL, Rechtsfall 134f. – Zur Verwendung von Beinamen als Versuch, „erwünschte Eigenschaften oder Funktionen der genannten Götter näher zu benennen und damit im rituellen Kontakt handhabbar zu machen“, vgl. G LADIGOW, Gottesvorstellungen 44 mit weiterer Literatur. 58 Etymologisch nicht deutbar, vgl. KREBERNIK, M., Mondgott. A. I. In Mesopotamien, RlA 8 (1993–1997) 360–369, hier 360. 59 Zu Z.100 vgl. ZGOLL, Rechtsfall 135 A.554. 60 Etymologie „dunkel“, vgl. KREBERNIK, Mondgott 362. 61 Zur Ausnahme Z.74 vgl. ZGOLL, Rechtsfall 134. 62 Oder Dil-im-babbar, vgl. KREBERNIK, Mondgott 362f, wonach der Name „der leuchtende (babbar) Allein-dahineilende (AŠ-im4/ím)“ bedeuten könnte. 63 Vgl. die aufgrund von Weihinschriften gemachten Beobachtungen von HALL, M.G., A Study of the Sumerian Moon-God, Nanna/Suen, Ann Arbor 1985, 226: „The names of the moon-god used in the inscriptions of the Sargonic period are Nanna and Suen. It is perhaps of significance that the name AŠimbabbar drops out of usage after the Presargonic period and does not recur in inscriptions until the reign of Waradsîn of Larsa.“ 64 Der Text zeigt äußerste Meisterschaft in der Kunst, Negatives zwar nicht zu verschweigen, doch so wenig verletzend (und potentiell gefahrbringend) wie irgend möglich vorzubringen. Das geht bis hinein in syntaktische Feinheiten. So bitter die Klagen sind, und so brutal die Bedrohungen sein mögen, und obwohl kein Zweifel an AŠimbabbar als dem Verursacher gelassen wird: Der Name AŠimbabbar selbst steht in keinem Satz mit negativer semantischer Konnotation. Vielmehr finden sich die beiden Erwähnungen nicht in, sondern vor den negativen Passagen, für welche AŠimbabbar dann freilich das Subjekt darstellt, doch eben nur ein zu subintelligierendes Subjekt. Der Name selbst steht hingegen in modalen Aussagen, welche der Beruhigung (Inanas und En-hedu-Anas) dienen sollen, trotz allem im Anschluß genannten Übel. Es handelt sich um modale Aussagen, d.h. mit subjektiver Wertung, einmal eine Aufforderung (Prohibitiv in Z.84), das andere Mal eine affirmative Bekräftigung (Negativer Affirmativ der Vergangenheit in

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du-Ana vom Stadtgott von Ur mittels dreier Namen spricht, weil sie auf diese Weise verschiedene funktionale Aspekte scheiden kann, wodurch sich für sie die Möglichkeit eines weiterhin positiven Verhältnisses zu Nanna eröffnet. Das Ziel, für welches sie sich einsetzt, heißt Versöhnung. Mit einem Bild voll Harmonie und familiärer Eintracht endet dann auch der Text: Inanas Eltern, Mutter Ningal und Vater Mond, bewundern und segnen die Tochter, welche als Venusgestirn am Himmel erstrahlt (Z.146– 150)65. Alle Götter im Prozeß Das Lied NMS zeigt die zu verhandelnden Dinge, die Probleme um Göttervielfalt und Reichsidee, im Prozeß, und zwar im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Alle Götter finden sich zusammengefaßt in einem Prozeß vor Gericht, in welchem die Vertreter der autonomen stadtstaatlichen Interessen denjenigen der zentralen Reichsidee gegenübertreten. Da gibt es eine richterliche Instanz, die den Fall beurteilen und dann ein Urteil aussprechen soll. Es ist der Himmelsgott An, der hier als oberster Richter fungiert. En-hedu-Ana drängt Inana, als ihre Anwältin vor das Gericht zu treten, um zu klären, welche Seite sich im Recht befindet. Keine Frage, daß der Text selbst gewichtige Anklagen vorbringt, welche die Gegner schwer belasten. Doch auch die Anklagen der anderen Partei kommen im Text durchaus zur Sprache, zumindest in Andeutungen. Nun soll An, soll das hohe Gericht der Götter klären, daß der momentane Gang der Dinge auf Erden zu revidieren ist, d.h., daß Nanna, auch wenn das die Gegenseite anders sieht, keine Entscheidungsgewalt zukommt66, daß es vielmehr Inana ist, welche die letztgültige Entscheidung fällen wird (Z.83, 122–13367. ______________________________________________________________________________________________

Z.102). An Inana richtet sich die Aufforderung „Was AŠimbabbar angeht, so bekümmere dich nicht!“ (Z.84), während der Satz „AŠimbabbar hat das Urteil über mich ganz gewiß nicht gefällt!“ (Z.102) eigene Hoffnungen der Priesterin bestärken soll. Hier ließen sich noch viele Beobachtungen über die feine und feinste Gestaltung im einzelnen anschließen. So wird dem Mondgott gerade das vorgeworfen, was man umgekehrt Inana vorgeworfen haben dürfte, das Sakrileg, alte, geheiligte Riten und Bräuche unbefugt geändert zu haben (Z.85ff) und die Entzweiung des guten Verhältnisses zu An (Z.85ff); vgl. dazu ZGOLL, Rechtsfall 132–138. 65 Nur in der Doxologie nach dem Ende des eigentlichen Liedes scheint das aggressive Potential Inanas und die politische Konfliktsituation noch auf in dem Epitheton „Zerstörerin der feindlichen Länder“. Funktional handelt es sich hier um einen zusammenfassenden Rückblick auf den Verlauf des Textes wie der Ereignisse und zugleich um einen warnenden Hinweis für die Zukunft. 66 Im Sinn von „letzter Entscheidungsgewalt“. Das Ganze ist ein Revisionsprozeß. Nanna hat ganz offensichtlich einen Spruch erlassen, der aber nun von En-hedu-Ana bzw. Inana dem Hohen Gericht zur Überprüfung vorgelegt wird. Das Plädoyer der En-

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Der Text gibt Einblicke in eine Göttergesamtheit, die in einem Rechtsstreit durchaus als eine fest gegliederte erscheint, wobei diese Gliederung formal betrachtet noch der überkommenen allgemeinen Anschauung aus der Zeit autonomer Stadtstaaten entspricht (dort dann eher Enlil als Richter)68. Inhaltlich freilich sind die Konsequenzen, insbesondere im Fall eines positiven Prozeßausganges für die Partei der Inana, nicht einfach abzusehen, doch zeichnen sich gravierende Neuerungen schon ab. Dies soll die Übersicht der im Lied nin-me-šara aufscheinenden Konstellationen und Konzepte nun zusammenfassend darstellen: Konzepte in nin-me-šara. Ein Resümee Die Situation im 23. Jahrhundert zeigt sich als eine Zeit intensiven Ringens um die Positionen im Staat und im Pantheon, als eine Zeit politischer und theologischer Paradigmenwechsel, um welche einerseits mit Waffengewalt auf den Schlachtfeldern, andererseits mit Gedankenschärfe am Kultort gerungen wird. Politische Ansprüche müssen sich durch göttliche Aufträge oder Entscheidungen legitimieren, und wo gegensätzliche Positionen aufeinander prallen, muß man die Entscheidung des Schicksals durch die höchsten Götter in Form eines Rechtsfalles erwarten, die sich dann im Fortgang der Geschichte verwirklichen wird. Gerade weil alles noch im Fluss befindlich ist, versucht die Hohepriesterin, durch rituelle Mittel, insbesondere das wirkmächtige Wort und die wuchtige Argumentation, auf diese Geschehnisse einzuwirken69. Die Konzepte, auf welche sie dabei zurückgreift, sind allen Kategorien der in Mesopotamien bezeugten Interferenzen zwischen Götterwelt und Menschenwelt entnommen. Aus dem Bereich der personalen Interaktionen wichtig sind Konzepte wie Zorn, Strafe und Fluch, aber auch Liebe und Beruhigung der Götter, von den zwischenpersonalen Strukturen kommt insbesondere der Eltern-KindBeziehung zwischen Inana und ihrem Vater Nanna eine entscheidende Rolle zu. Die Kombination aus dem Konzept des Rechtsfalls und der Proklamation von Inanas Erhöhung zeigen, daß hier etwas in der Schwebe ist, was zur Entscheidung ansteht. Denn einerseits wird Inana dem Urteils______________________________________________________________________________________________

hedu-Ana bzw. Inana fordert eine Revision durch An und damit die Ermächtigung der Inana, einen neuen, endgültigen Spruch zu fällen. 67 Daß sie dazu von An autorisiert ist, zeigt Z.15 – was immer das im einzelnen bedeuten mag! Vgl. dazu das Folgende. 68 So z.B. altsumerisch unter Enmetena, vgl. Ent.28–29, STEIBLE, Weihinschriften 230ff. Wieso hat hier An diese oberste Position? Unter den Sargoniden zeigt sich seine Stellung stärker profiliert, während Enlil unwichtiger zu sein scheint, vgl. VAN D IJK, Contacts 186, W ILCKE, Politik 45. 69 Vermutlich von einem anderen Kultort aus. Indizien im Text deuten darauf, daß es sich um den Inana-Tempel in Lagaš handelt (ZGOLL, Rechtsfall 426–428).

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spruch des Himmelsgottes unterstellt, andererseits als höchste unter den Göttern verkündet70. Diese Unschärfe der Argumentation durch die Kombination verschiedener Konzepte ist ein Indiz dafür, daß hier eine Entwicklung begonnen hat, die noch nicht zu ihrem Abschluß gekommen ist. Im Fall des Reiches von Akkade sollte ein solcher „Abschluß“ auch nicht dauerhaft erreicht werden.

4. Teil. Konstanz und Wandel: Entwicklungslinien Im Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen Einheit und Vielheit wird im Lied nin-me-šara etwas für die mesopotamische Geschichte Typisches thematisiert: Widerstand der städtischen Zentren gegenüber einem übergeordneten Reich. Vergleiche mit älteren und jüngeren Texten zeigen ein weiteres Element, welches sich durch die gesamte mesopotamische Geschichte zieht: Ein Beharrungsvermögen an übergeordneten Götterinstanzen, das trotz aller aufstrebenden und untergehenden Reiche auf eine von den Wechselfällen der Geschichte nicht tangierte Konstanz abzielt. Es ist zu beobachten, daß trotz der verschiedenen, im Laufe der Zeit aufsteigenden Hochgötter zwei „Eminenzen“ in der Götterwelt Mesopotamiens durch alle Phasen der Geschichte einen festen Platz behaupten, die Götter An und Enlil71. Sie bilden den Hintergrund, vor welchem sich immer wieder neu Bestrebungen einzelner Reiche, Städte und Personen abheben, die ihren speziellen Vertreter oder favorisierten Gott an die Spitze des Pantheons stellen wollen. In der Forschung wird bis heute festgehalten, daß eine merkwürdige Dichotomie zwischen der herausragenden religiöspolitischen Bedeutung Enlils und der politischen Bedeutungslosigkeit seiner Stadt Nippur besteht72. Ohne in diesem Kontext auf dieses Problem _______________ 70

In den Aussagen über Inana und An kann man die Unterstellung von Inana unter Ans Oberhoheit erkennen, man kann sie aber auch lesen als eine von An ausgehende Vererbung seiner Macht und obersten Position an Inana, analog zur Darstellung der Beerbung ihrer Mutter Ningal, welche der Text sehr deutlich darstellt (s.o.). 71 Nicht immer werden beide Götter genannt, wenn aber beide, dann zuerst An, vgl. SALLABERGER, Pantheon. – Auch während der Akkade-Zeit, auch in den Inschriften eines NarƗm-Sîn, wird Enlil durchaus nicht rigoros entmachtet oder durch Inana ersetzt, vielmehr zeigen sich Tendenzen, daß Inana neben Enlil in einem Rang, der eigentlich diesem zukommt, gezeigt wird. Eine Übersicht dieser Quellen findet sich bei FRANKE, S., Königsinschriften und Königsideologie: Die Könige von Akkade zwischen Tradition und Neuerung, Münster–Hamburg 1995, 194f und ZGOLL, Rechtsfall 42–45 (zu einseitig am Wortlaut COOPER, Literature 137). 72 Zu Stellung Nippurs und Enlils und den frühen Quellen über ihn vgl. L AMBERT, W.G., The historical development of the Mesopotamian pantheon. A study in sophisticated polytheism, in: GOEDICKE, H./ROBERTS, J.J.M. (Hg.), Unity and Diversity. Essays

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ausführlich eingehen zu können, sei doch ein wichtiger Gesichtspunkt hier vermerkt. Möglicherweise ist diese spezielle Machtlosigkeit gerade kein Zufall, sondern einer der Gründe, welche überhaupt zu einer kontinuierlichen überregionalen Verehrung von Enlil beitrugen. Andere Götter, deren Stadtstaaten zeitweilig die Oberherrschaft über ein größeres Gebiet in Mesopotamien innehatten, teilten mit diesen politischen Gebilden oftmals das Schicksal von Aufstieg und Untergang. Ganz allmählich verschieben sich im Lauf der drei Jahrtausende mesopotamischer Geschichte die Gewichtungen. Dominieren im 3. und beginnenden 2. Jahrtausend An und Enlil über zeitweilige Reichsgötter wie die Inana des Akkade-Reiches oder den etwa 100 Jahre später als Reichsgott verehrten Nanna von Ur73, so erhalten die späteren Hauptgötter der Großreiche gegenüber An und Enlil immer mehr Gewicht, parallel zur stärkeren Machtfülle und längeren Bestandsdauer der Reiche74. Hatte En-hedu-Ana noch mittels der Konzepte des Rechtsfalles und der Erhöhung um die Standortbestimmung von Inana gerungen, so zeigen sich ______________________________________________________________________________________________

in the History, Literature and Religion of the Ancient Near East, Baltimore 1975, 191– 200, hier 192, SELZ, G., Enlil und Nippur nach präsargonischen Quellen, in: DE J ONG ELLIS, M., Nippur at the centennial. Papers read at the 35e Rencontre Assyriologique Internationale, Philadelphia, 1988 (Occasional Publications of the Samuel Noah Kramer Fund 14), Philadelphia 1992, 189–225, D ERS., Untersuchungen zur Götterwelt des altsumerischen Stadtstaates von Lagaš (Occasional Publications of the Samuel Noah Kramer Fund 13), Philadelphia 1995, 125ff, R ICHTER, TH., Untersuchungen zu den lokalen Panthea Süd- und Mittelbabyloniens in altbabylonischer Zeit (AOAT 257), Münster 1999, 15, SUCH-GUTIÉRREZ, M., Beiträge zum Pantheon von Nippur im 3. Jahrtausend. (Materiali per il Vocabolario Sumerico 9/I–II), Rom 2003, 31ff, SALLABERGER, W., Nippur als religiöses Zentrum Mesopotamiens im historischen Wandel, in: W ILHELM, G. (Hg.), Die orientalische Stadt, Saarbrücken 1997, 147–168, SALLABERGER, Pantheon 299. 73 Sie dominieren auch über Marduk von Babylon unter Hammurapi, vgl. den Prolog des Kodex Hammurapi 1:1-49. 74 Die Position des Enlil (akk. ellilnjtu) übernimmt in babylonischer Sicht Marduk, in assyrischer Sicht Aššur. Der Assimilationsprozeß von Aššur an den babylonischen Enlil findet zwischen dem 13. Jahrhundert (Tukulti-Ninurta I.) und dem 8./7. Jahrhundert (Sargoniden) statt. Unter den Sargoniden wird es zur Praxis, den Gottesnamen Aššur mit den Zeichen AN und ŠAR2 zu schreiben, also identisch zu An-šar, einer Urgottheit in den babylonischen Kosmogonien und Theogonien, und dadurch Aššur ein höheres Alter als An, Enlil und Marduk zuzuschreiben, d.h. ihm vor diesen Vorrang zu geben. Nach der Zerstörung Babylons 689 v.Chr. führt Sanherib verschiedene religiöse Reformen durch, welche den babylonischen Marduk durch Aššur ersetzen sollen (L IVINGSTONE, A., Art. Assur, DDD (1999 2) 108f. mit weiterer Literatur). – Zum Zusammenhang stabiler Großmachtverhältnisse und henotheistischer Tendenzen vgl. auch JACOBSEN, T., Mesopotamian Gods and Pantheons, in: MORAN, W.L. (Hg.), Toward the Image of Tammuz and Other Essays on Mesopotamian History and Culture, Cambridge, Massachusetts 1970, 16-38, 21 (Nachdruck des Abschnittes Religion im Art. Babylonia and Assyria, Encyclopaedia Britannica [1963] II 972–978).

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die Positionen von Marduk und Aššur im 1. Jahrtausend deutlich gefestigt, wenngleich auch im Umfeld dieser Götter, gerade in rituellem Kontext, die „alten“ Götter An und Enlil nie völlig obsolet geworden sind75. Wenn der neubabylonische Herrscher (und Usurpator) Nabonid dann im 6. Jahrhundert in Abhebung von der Marduk-Theologie den Mondgott von HarrƗn als obersten Gott proklamiert, bahnt sich ein neuer Konfliktfall um Göttervielfalt und Reichseinheit an – Thema für weitere Studien.

_______________ 75

Das zeigt sich deutlich im babylonischen Neujahrsfest und seinen Ausdeutungen in den sogenannten Kultkommentaren, vgl. ZGOLL, Königslauf.

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Abb. 1a: Vorderseite der Geierstele. © H. Frankfort, The Art and Architecture of the Ancient Orient, London (1954) Tf. 34.

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Abb. 1b: Rückseite der Geierstele. Die sogenannte „Geierstele“ des Königs Eanatum von Lagaš, 25. Jh. Auf der einen Seite ist Kampf und Sieg gegen die Feinde in menschlicher Perspektive dargestellt, auf der anderen Seite in göttlicher Perspektive. © H. Frankfort, The Art and Architecture of the Ancient Orient, London (1954) Tf. 35.

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Abb. 2: Naram-Sîn-Stele. ¯ Die Naram-Sîn-Stele zeigt den Sieg Naram-Sîns über ein ¯ ¯ Bergvolk. Die eigenen Truppen sind in der linken Bildhälfte aufsteigend dargestellt, die Gegner von rechts in gegenläufiger Bewegung (in der Mitte nach unten stürzend). Zentral im Bild, direkt unterhalb der Göttersymbole, steht überdimensional groß Naram-Sîn in der Pose des heldenhaften ¯ Herrschers, der durch die Hörnerkrone selbst als göttlich ausgewiesen wird. © W. Speiser, Vorderasiatische Kunst, Berlin (1952) Tf. 29.

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Abb. 3: Alabasterscheibe der En-hedu-Ana (Ausschnitt)

Alabasterscheibe der En-heduAna (Ausschnitt). Die zeitgenössische Darstellung des 23. Jh. zeigt die Hohepriesterin En-hedu-Ana bei der Ausübung ihrer priesterlichen Aufgaben. Die Rückseite der Scheibe trägt eine Inschrift der Priesterin. © C. L. Woolley, The early periods: A report on the sites and objects prior in date to the Third Dynasty of Ur discovered in the course of the excavacations. Ur excavactions 4, London (1955) Tf. 41d.

Abrollung eines Rollsiegels mit Darstellung der Göttin Inana (23. Jh.). Die Göttin Inana ist hier als schwer bewaffnete Göttin des Krieges dargestellt. © S. N. Kramer – D. Wolkstein, Inanna, queen of heaven and earth. Her stories and hymns from Sumer, New York (1983) S. 92.

Abb. 4: Rollsiegel mit Inana

Ausschnitt aus der UrnammaStele (22. Jh). Der Stadtgott von Ur ist durch seine vielfache Hörnerkrone als Hochgott gekennzeichnet; in seiner Rechten hält er die Symbole der Herrschaft, Stab und Messleine. © Vgl. oben W. Speiser, Vorderasiatische Kunst, Berlin (1952) Tf. 35.

Abb. 5: Mondgott, Ausschnitt der Urnamma-Stele

Aspekte der „Göttlichkeit“ in Mesopotamien Zur Klassifizierung von Göttern und Zwischenwesen BRIGITTE GRONEBERG

I. Einleitung In der klassischen Antike nannte man die Region, die von den Flüssen Euphrat und Tigris beherrscht wird, mesopotamia. Heute bezeichnet dieser in der Geschichtsschreibung noch gebräuchliche Name hauptsächlich den Iraq und Ostsyrien aber auch Regionen der Türkei. Ab spätestens 3000 v.Chr. tritt das Zweistromland mit der Erfindung der Keilschrift in die geschichtliche Zeit ein. Während das 3. Jahrtausend im Süden, dem heutigen Iraq, ganz überwiegend von den Sumerern beherrscht wurde, dominierten im 2. Jahrtausend dort die Babylonier und Kassiten. In Nordiraq und Ostsyrien bauten die Assyrer ab 1400 v.Chr. ein Reich auf, das sich in der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends bis nach Ägypten auszudehnen vermochte und die späteren „Weltreiche“ der Perser schon vorwegnahm. Nun setzte ein allmähliches Vergessen der alten Kulturen und Kulte ein. Erst von 1 europäischen Reisenden der frühen Neuzeit wurde Mesopotamien wieder entdeckt.

Das Zweistromland ist kein durch unüberwindliche Berge oder Wüsten abgezirkelter geographischer Raum, sondern stand vielen Bevölkerungsgruppen offen, die in der Folge von Völkerwanderungen aus allen Himmelsrichtungen ins Land strömten. Augenscheinlich eroberten die einströmenden Einwanderer das Land durch langsame Infiltration.2 Die Neuankömmlinge, wahrscheinlich ehemalige Reiter- oder Kleintiernomaden, fanden eine hoch entwickelte, komplexe städtische Kultur vor, mit einer diversifizierten Sozialstratigraphie. Alle Einwanderer scheinen die schon bestehenden Ressourcen zu nutzen, indem sie sich als Dienstleistler verdingten, z.B. als Wachleute, und allmählich in die bestehenden sozialen

_______________ 1 B UDGE, E., The Rise and Progress of Assyriology, London 1925; für die frühe Ausgrabungsgeschichte vgl. LARSEN, M.T., The Conquest of Assyria. Excavations in an Antique Land 1840–60, New York 1996. 2 Legenden, wie z.B. die um Sargon von Akkade (um 2300 v.Chr.), der Mundschenk eines Königs von Kiš gewesen sein soll, geben hiervon indirekt Zeugnis, s. WESTENHOLZ, A., in: SALLABERGER, W./WESTENHOLZ, A. (Hg.), Akkade-Zeit und Ur III-Zeit (OBO 160/3), Göttingen–Fribourg 1999, 35–37.

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Gruppen einfügten.3 Schließlich konnten die Einwanderer auch die Herrschaft stellen, wie das Beispiel der Dynastie des Hammurabi von Babylon (etwa ab 1900 v.Chr.) zeigt, oder die Herrschaft der Kassiten (etwa ab 1500) und der „Chaldäer“ in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausend.4 Da alle einwandernden Völkerschaften sich in das Wohlstandsgebiet „Mesopotamien“ integrierten, verachteten oder verwarfen sie die vorgefundenen Kulturen offenbar nicht, denn es ist selbst unter neuer Herrschaft keine abfällige Äusserung über eine der alten traditionsreichen Städte, Götter und Kultstätten bekannt geworden. Die städtischen Mesopotamier hingegen konnten durchaus die Völker des Umlandes schmähen. So ist bekannt, daß sie sich über die Kulturlosigkeit der Gutäer, die Ende des 3. Jahrtausends im Bergland zwischen Iran und Iraq zuhause waren, mockierten: „Qutû ša tazzimte ila palƗha la kullumi parsƯ ussu rƗti šutƝšura la idû“: „die unterdrückenden Gutäer, die nie gelernt haben, einen Gott zu verehren, die nicht 5 wissen, wie man Riten und Traditionen auf richtige Weise befolgt“.

Neuankömmlinge wurden schon zu Beginn des 3. Jt., bei der durch semitische „Fremdnamen“ ersten schriftlich dokumentierten Einwanderungswelle,6 mit Schrift und Schreibmedium, dem Rohrgriffel und den _______________ 3 P IENTKA, R., Die spätaltbabylonische Zeit, Abiešuh bis Samsuditana. Quellen, Jahresdaten, Geschichte (RHEMA), Münster 1998, 257–272; eine dramatischere Sicht auf die Eroberung Mesopotamiens in der Mitte des 2. Jahrtausend vertritt VAN KOPPEN, F., The Geography of the Slave Trade and Northern Mesopotamia in the Late Old Babylonian Period, in: HUNGER, H./PRUZSINSZKY, R. (Hg.), Mesopotamian Dark Age Revisited. Proceedings of an International Conference of SCIEM 2000, Vienna 8th–9 th November 2002, Wien 2004, 9–34. 4 Zu den Chaldäern BRINKMAN, J.A., A Political History of Postcassite Babylonia (AnOr 43), Rom 1968, 260–267 und GRONEBERG, B., «Ziehe hinweg aus deinem Land!». Abraham, der Vater aus Ur in Chaldäa, in: KRATZ, R.G./NAGEL, R.-T. (Hg.), «Abraham unser aller Vater». Die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2002, 22–39, 28f. 5 Zitat aus GRAYSON, A.K. , Assyrian and Babylonian Chronicles (TCS 5), 149f. Z. 56–57; s. COOPER, J., The Curse of Agade, Baltimore 1983, 31; 30–33 und DE GRAEF, K., Les étrangers dans les textes paléobabyloniens tardifs de Sippar I und II, Akkadica 111 (1999) 1–48 und Akkadica 112 (1999) 1–17. Zur Diskussion der fremdenfeindlichen Äusserungen in der sumerischen Literatur s. MANDER, P., The Ugly Invader and the Holy Center, in: ACQUARO, E., Alle Soglie della Classicità il Mediterraneo tra Tradizione e Innovazione. Studie in Onore di Sabato Moscati. Vol. I, Pisa–Roma 2002, 261–269. 6 Zur Frage der Schrifterfindung und der „Landnahme“ der Sumerer s. ENGLUND, R.K., Texts from the Late Uruk Period, in: BAUER, J./ENGLUND, R.K./KREBERNIK, M. (Hg.), Mesopotamien. Späturuk-Zeit und Frühdynastische Zeit (OBO 160/1), Göttingen– Fribourg 1998, 15–233, hier 73–81. Für semitische, „frühakkadische“ Elemente in den Schriftperioden nach der Ur I Zeit (Early Dynastic III + ) s. KREBERNIK, M., Die Texte aus FƗra und Tell Abnj SLalabih, in: Mesopotamien. Späturuk-Zeit und Frühdynastische

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Keilschrifttafeln aus Ton, bekannt gemacht. Diese Schrift – vermutlich der Sumerer – und dann auch der Babylonier und Assyrer, wurde vom 3. Jahrtausend bis etwa zum 6. Jahrhundert bei den meisten Nachbarvölkern in angepaßter Form für ihre eigenen Sprachen verwendet, wobei sich aber auch typisch sumerische Merkmale erhalten haben, wie z.B. Kurznotierungen von Begriffen mit sumerischen Logogrammen.7 Im gesamten Umfeld Mesopotamiens scheinen die Ägypter die große Ausnahme zu sein, die sich von den mesopotamischen Kulturen nicht beeindrucken ließen und in ihrer eigenen raffinierten und hochkomplexen Kultur in einer Art splendid isolation auf dem afrikanischen Kontinent lebten. Nur in einer Epoche, der Amarna-Zeit, ließen sie sich herab, ihre Korrespondenz mit den Städten Babyloniens und der Levante in babylonischer Keilschrift zu führen. So verwundert nicht, daß sich die ägyptische Weltsicht von der mesopotamischen in ihren Gottesvorstellungen und ihrem Jenseitsglauben dramatisch unterscheidet. Zwar sind beide antiken Religionen polytheistisch: Hier aber enden die Gemeinsamkeiten, denn die Götter Mesopotamiens wurden als distinktiv andere Göttergestalten und -typen vorgestellt.8

II. Konzeptualisierung von Götterordnungen Unser pragmatisches Wissen über die Zahl, die Nennung und Zusammengehörigkeit der Götter entstammt im Wesentlichen den zahlreichen Götterlisten und einer Anzahl von Erzählungen, Preisliedern und magischer Literatur. Nur ein Pantheon im Sinne eines allgemeinverbindlichen, hierarischen Konzeptes ihrer Götterwelt, das über Hunderte von Jahren bestanden hätte, ist den Mesopotamiern unbekannt. Man kann also legitimerweise auch nicht von dem mesopotamischen Pantheon reden, nur von verschiedenen Stadt-, Landes-, oder Reichspanthea.9 ______________________________________________________________________________________________

Zeit, 237–427, hier 259–270. Die von ihm aufgezählten “Akkadismen" bezeugen Akkader in südlichen Mesopotamien schon in den Jahrhunderten vor der Herrschaft Sargons und seiner Dynastie (ab 2325 v.Chr.). Eine detaillierte Datierung der Texte aus dieser Periode nach der Ur I Zeit steht noch aus. 7 Zur Keilschrift und den verschiedenen Schreibmedien s. EDZARD, D.O., Art. Keilschrift, RlA 5 (1976–80) 544–568. 8 Einen Überblick bei GRONEBERG, B., Die Götter des Zweistromlandes, Düsseldorf– Zürich 2004. 9 SALLABERGER, W., Art. Pantheon, RlA 10 (2004) 294–308; SEIDL, U., Art. Pantheon, RlA 10 (2004) 316–319, hier 317: „Nie scheint es in Mesopotamien ein Heiligtum für die kultische Verehrung der Gesamtheit der Götter gegeben zu haben“.

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Aber auch ein übergeordnetes kosmogonisches oder kosmologisches Konzept ist nur rudimentär vorhanden.10 Die meisten Mythen handeln von Schöpfungen in der Umwelt der Menschen, der Menschen selbst und von Ordnungsprinzipien auf der Erde, während ein Gott bzw. die Götter schon immer als vorhanden gedacht waren aber andere Götter hervorbringen konnten.11 Nur in einem Literaturwerk, einem Mythos genannt „Enuma elisch“, werden Kosmogonie und Kosmologie explizit entfaltet. Aus der Vermischung von Süß- und Salzwassern entstehen die ersten Götter, die die nachfolgenden Göttergenerationen hervorbringen. Raum und Zeit werden begrenzt, den Göttern werden Lebensbereiche zugewiesen und durch Götterkämpfe werden Hierarchien untereinander abgesteckt. Zweck und Ziel dieser religiösen Tendenzdichtung ist die Etablierung der Vorherrschaft des babylonischen Gottes Marduk über andere babylonische und assyrische Götter. In der siebten Tafel des Mythos werden ihm durch die Vergabe und Deutung von über fünfzig Prunknamen eine große Anzahl von Schöpfungs- und Ordnungskompetenzen überschrieben.12 Dieser einzigartige Text, der möglicherweise eine intensive Arbeit von Theologen widerspiegelt, wirft allerdings Probleme auf. Er ist in vielen assyrischen Abschriften aus dem 9.–7. Jahrhundert v.Chr. überliefert. Erst ein Ritual aus der seleukidischen Zeit hält fest, daß der Mythos während des mehrtägigen Neujahrsfestes hochoffiziell rezitiert wird. Und obgleich allgemein die Ansicht besteht, daß hier ältere Traditionen lebendig blieben, sind hierauf semantische Hinweise reich, die sprachliche Evidenz aber bleibt mager.13 _______________ 10

HOROWITZ, W., Mesopotamian Cosmic Geography (MC 8), Winona Lake 1998. HEIMPEL, W., Art. Mythologie, RlA 8 (1993–97) 537–564. 12 Zum Text s. LAMBERT, W.G., Enuma elisch, 565–602; Zum Thema der „Erhöhung des Marduk“ DERS., Ninurta Mythology in the Babylonian Epic of Creation, in: HECKER, K./SOMMERFELD, W. (Hg.), Keilschriftliche Literaturen: Ausgewählte Vorträge der XXXII. Rencontre Assyriologique International (BBVO 6), Münster–Berlin 1986, 55–60 und VOGELZANG, M., Kill Anzu! On a Point of Literary Evolution, in: Keilschriftliche Literaturen, 61–80. 13 Was den Anstoß zu den assyrischen Niederschriften dieses einmaligen Mythos gab, bleibt Spekulation. Denn im ersten Jahrtausend konzentrierte sich das politisch-religiöse Empfinden des Großreiches Assyrien auf den nationalen Gott Assur, während Marduk in Assyrien selbst keine vergleichbare Bedeutung hatte. Ebenfalls ungeklärt ist auch die Frage, wann und zu welchem Anlaß dieser Mythos komponiert wurde. Die Annahme, er sei schon um 1100 v.Chr. entstanden, als eine der Statuen Marduks von König Nebukadnezar I. aus dem Exil nach Babylon zurückgeführt wurde, ließ sich bisher nicht weiter erhärten. Vgl. SOMMERFELD, W., Der Aufstieg Marduks (AOAT 213), Neukirchen-Vluyn 1982 und DERS., Art. Marduk, RlA 7 (1987–90) 360–370, besonders 368 mit Literatur. Zu den verschiedenen “Entführungen" der Mardukstatue s. GRONEBERG, B., Die Götter des Zweistromlandes, Düsseldorf–Zürich 2004, 259. 11

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In den meisten Hymnen und Mythen erstaunt die Konzeptionslosigkeit und die Beliebigkeit der Darstellung – und damit auch der Rezeption – des Wirkens der unterschiedlichen göttlichen Wesen. Auf anderen Gebieten hingegen, zum Beispiel in der Astronomie und Mathematik, dokumentieren die Gelehrten profundes Wissen, das sie sich durch penible Observationen und deren Ausdeutungen erarbeitet hatten. Fakten, ebenso wie ihre Deutungen, trugen sie über Jahrtausende hinweg zusammen und verwerteten sie empirisch. Jedoch führen auch diese vom Anspruch her sicherlich wissenschaftlich zu nennenden Sammlungen von Beobachtungen und Analysen nirgendwo zur schriftlichen Formulierung von Gesetzmäßigkeiten und/oder philosophischen Ideen. Nun läge es nahe, anzunehmen, daß unstabile soziale Verhältnisse die Ausformulierung, Beständigkeit und Weitergabe von theologischen Konzepten verhindert habe: Aber die mesopotamischen Reiche waren über Jahrhunderte von Stabilität und Wohlstand geprägt. Konstitutives und stabilisierendes Element hierfür scheint der kollektive Glaube an einen königlichen Führer zu sein: Im Auftrag der Götter garantierte der König Recht und Ordnung. Aber diese spezielle Ausprägung des Königtums enthielt in Mesopotamien nur die Komponente der irdischen Stellvertretung der göttlichen Gewalt in der Person des Königs, sie verwirklichte aber die Idee des Gottkönigtums durch die personale Vergöttlichung des Herrschers nicht konsequent. So wurde die Institution „Königtum“ viele Jahrhunderte lang vergöttlicht, ohne politische Alternative, unverrückbar und ewig, die einzelne Königperson aber nur ausnahmsweise und nicht hundertprozentig. Denn auch vergöttlichte Könige blieben sterblich.14 Da offenbar Königsgewalt und Göttermacht nicht symbiotisch verknüpft werden, dürften sich unterschiedliche Interessengruppen gegenüber gestanden haben.15 Die zentrale Königsmacht wurde offenbar neutralisiert. Absolute Herrschaft, die zum Beispiel auch bei einer Thronfolgeregelung zum Tragen käme – grade diese scheint aber in vielen Epochen strittig zu sein – geht keineswegs nur _______________ 14

Der Begriff der „Vergöttlichung“ der mesopotamischen Herrscher bedarf weiterer Untersuchung, s. vorerst die Bemerkungen zu den Ur-III-Herrschern bei SALLABERGER, W., Der kultische Kalender der Ur III-Zeit. Teil 1 und Teil 2 (UAVA-7), Berlin–New York 1993, 86.94. 15 SOMMERFELD, Art. Marduk, 369f., hält es für möglich, daß das Fehlen eines monotheistischen Weltbildes in Mesopotamien auf den enormen Besitz der Tempel zurückzuführen sei, die jeweils “ihren" Gott vertreten haben wollen. Zur gesellschaftlichen Position der Gelehrten unter den Sargoniden s. P ARPOLA, S., Letters from Assyrian Scholars to the Kings Esarhaddon und Assurbanipal. Part II Commentary and Appendices (AOAT 5/2), Neukirchen-Vluyn 1983, XVI–XXI. Er betont dort zwar die Bedeutung der Gelehrten, die oftmals untereinander verwandt waren, widerspricht aber (ibid. XVIII–XX) älteren Auffassungen, daß der König von ihnen manipuliert worden sei.

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von der Königsgewalt aus. Eliten, bestehend aus einer sozialen Elite von Mitgliedern und Günstlingen des Königshauses und eine intellektuelle Elite von „mnjdû „Wissenden“, wozu der gelehrte Klerus gehörte, sprachen mit. So besaß keine Gruppe ein absolutes Monopol und deshalb entstanden vermutlich keine allgemein verbindlichen theologischen Ordnungskonzepte. Die wechselnden Ordnungsstrukturen in der Götterwelt erschöpfen sich in der Schaffung von patriarchalen familiären Zuordnungen, die Götter als Vater, Mutter, Schwester, Kind in wechselnden Bezügen zueinander klassifizieren. Die Unterscheidung der Götter in sukkallu: „Wesirgötter“, die als Botengötter dienten, und in ihre Herren, die „großen Götter“16 zeigt als Spiegelbild der realen Welt eine soziale Hierarchie auch in der Götterwelt an. Denn mit dem Titel sukkallu werden in sekulärem Kontext herausragende Funktionäre und Regionalverwalter des Königs bezeichnet. In Allmachtsbekundungen haben, oberflächlich betrachtet, alle Götter die gleichen Fähigkeiten und Aufgaben. Dennoch können ganz spezielle Funktionen auch nur einzelnen Göttern zugewiesen werden. Nur dem Sonnengott Šamaš obliegt es zum Beispiel bei seiner nächtlichen Fahrt, die Unterwelt zu erleuchten und den Toten Trost zu spenden.17 Jedoch Recht sprechen, eigentlich eine seiner zentralen Aufgaben, können wahlweise auch andere Götter.18 Nur die Ištar bewirkt Prozessionen mit Travestien und nur sie vermag Männer in Frauen zu verwandeln und umgekehrt (s. weiter unten). Aber andere ihrer wichtigen Funktionen, zum Beispiel die Begleitung des Königs im Krieg, übernehmen auch andere Götter. Auch in den Schriftstücken religiösen Inhalts, den Mythen und Hymnen, fehlt die strukturierende Arbeit von Theologen, die Auslese und konzeptionelle Stringenz. Jedes religiöse Schriftstück scheint Momentaufnahmen einer emotionalen Hinwendung des Einzelnen oder einer Gruppe zu einem beliebigen Gott wiederzugeben.19 _______________ 16 Dieser Ausdruck entspricht dem akkadischen Terminus ilnj rabûtu, der aber begrifflich noch nicht untersucht wurde und in den Texten selbst unscharf verwendet wird. Gemeint sind damit wohl die verantwortlich zeichnenden Herrschergötter der jeweiligen Panthea. 17 HEIMPEL, W., The Sun at Night and the Doors of Heaven in Babylonian Texts, JCS 38 (1986) 127–151. 18 Vorerst T ALLQVIST, K., Akkadische Götterepitheta. Mit einem Götterverzeichnis und einer Liste der prädikativen Elemente der sumerischen Götternamen (St.Or 7), Helsinki 1938, 79–81 sub dajjƗnu: „Richter“. 19 Ob ein jeder Gott als persönlicher Gott handeln kann, bedarf noch der Untersuchung. Die Bestimmung bleibt schwierig, weil der persönliche Gott häufig anonym als „ilƯ: mein Gott“ angeredet wird. Es gibt allerdings Indizien darauf, daß Privatleute in der altbabylonischen Zeit lokale Gottheiten als ihre Schutzgötter betrachteten und diese waren dann häufig „kleinere“ Götter, wie z.B. Ninšubur, die Botengottheit der Ištar oder des

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Die in 2500 Jahren angesammelte Dokumentation mesopotamischer Götternamen in Götterlisten ist äußerst umfangreich.20 Diese Sammelwut entspricht allerdings nicht einem religiösen Habitus, sondern ist in Analogie zu sehen zu den Gewohnheiten der städtischen Gesellschaft, für die Buchführung zu den obersten Tugenden zählte. Da verwundert es nicht, daß auch Lieferungen an Tempel, ihre Ausstattung, Opfer, die Götternamen und manchmal auch der Besitz der Götter schriftlich festgehalten wurde. Dieser Schatz an Informationen über das alltägliche Götterleben wird ergänzt durch Berichte über die ordnende Arbeit der Tempel- oder Palastfunktionäre, die in ihrer Grundausbildung fast ausnahmslos Schreiber waren.21 Gelehrte Schreiber waren die eigentlichen Bewahrer der kulturellen Hinterlassenschaften. Sie gaben sie an Schüler weiter, sie kopierten und kollationierten Tafeln, auch ganz alte und beschädigte, die sie in ihren eigenen Häusern oder in den Archiven der Elite aufbewahrten.22 Bildung in jeder Hinsicht galt als höchstes Gut und kollektives Erbe, das wie alle anderen kulturellen Errungenschaften den Städten und ihren Bewohnern von den Göttern geschenkt worden waren. Die ererbten Traditionen wurden, soweit man sehen kann, von allen, auch den neu ins Land strömenden Völkern angenommen. Nur so war es möglich, daß eine große Zahl an Mythen, Beschwörungen, Gebeten und Ritualen mindestens 2000 Jahre lang getreu den Traditionen bewahrt wurden. Bei diesem Traditionsbewußtsein ist es nicht überraschend, daß die Götter der Sumerer des 3. Jt. auch den Assyrern und Babyloniern des 1. Jt. heilig blieben. Aber natürlich traten einige Götter zurück, wenn sie aus religionspolitischen Gründen unwichtig wurden, während andere, neu hinzu gekommene Götter, auch ______________________________________________________________________________________________

Anu (W IGGERMANN, F.A.M., Art. Nin-šubur, RlA 9 (2001) 490–500). Öffentliche „Straßenkapellen“, das heißt kleinere Heiligtümer in den Straßen von Ur, wurden inschriftlich den Botengöttern Ninšubur und Išum/Hendursaga geweiht (E DZARD, D.O., Art. Hendursaga, RlA 4 (1972–75) 324–325, hier 324b, 2. Absatz Ende: „ein Gott geringer Ordnung“), vgl. W OOLLEY, L.M. MALLOWAN., Publications of the Joint Expedition of the British Museum of the University of Pennsylvania to Mesopotamia (UE 7), London 1976, 30–31 oben. Das könnte auf Kulte „kleinerer Götter“ außerhalb der großen Tempelkulte deuten. Wahrscheinlich ist auch, daß man den Frauen, deren Lebensbereich von dem der Männer sehr getrennt zu sein scheint, spezielle Kulte an Göttinnen anbot. 20 LAMBERT, W.G., Art. Götterlisten, RlA 3 (1957–71) 473–479. Zur einer Deutung des Aufbaus der kanonischen Götterliste An = Anum s. SALLABERGER, Art. Pantheon, 306. 21 RENGER, J., Untersuchungen zum Priestertum in der altbabylonischen Zeit, ZA 58 (1967) 110–188; ZA 59 (1968) 104–230. 22 Einen Überblick über Fundstätten und Nutzer gibt VEENHOF, K.R., Cuneiform Archives and Libraries. Papers Read at the 30. Rencontre Assyriologique Internationale. Leiden 4.–8.7.1983, Leiden 1986, 1–36; vgl. die Dokumentation bei PEDERSÉN, O., Archives and Libraries in the Ancient Near East 1500–300 B.C., Bethesda, Maryland 1998.

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die, die von den Einwanderern mitgebracht wurden, Karriere machen konnten. Ein Beispiel für einzigartige Götterkarrieren sind die Götter Marduk und Nabû: Noch unbekannt im 3. Jahrtausend, werden sie im 1. Jahrtausend zu babylonischen Nationalgöttern. Selbst im Norden, in Assyrien, werden beide verehrt, besonders der Gott Nabû, wobei dieser Vorgang vielleicht eher als Kulturadaption in Form einer besonderen Verehrung der sumerisch-babylonischen Kultur zu deuten ist und weniger als Ausdruck eines tiefen religiösen Empfindens der Assyrer für Marduk und Nabû. Der assyrische Nationalgott Assur hingegen hatte im Süden keinen nennenswerten Kult und vielleicht auch gar keine Anhänger. Diese Götternamenlisten, die Anfang des 2. Jt. schon fünfhundert einzelne Namen aufführten, verbuchen Götter innerhalb ihrer Beziehungssysteme, in Familienverbänden oder in Sozialstrukturen, die dem höfischen Leben entlehnt waren. Eine Eigenart dieser Listen ist, daß neu erstellte Listen auf den alten aufgebaut werden. Die alten Listen bleiben in einzelnen zusammengehörenden Stücken nicht immer, aber doch häufig, bestehen. Zu ihnen werden neue und teilweise umfangreiche Einträge hinzugefügt. Eine Liste dieser Art gibt also nicht zwangsläufig theologische Kategorisierungen wieder, sondern sie ist bestrebt, Wissen zu verbuchen, das sich in den gelehrten Texten durch Jahrhunderte angesammelt hat. Zuordnungen können deshalb wie in anderen thematischen Listen auch, assoziativ erfolgen. Die überregional-verbindliche Götterliste An=Anum zählte gegen Ende des 2. Jahrtausend fast 1800 individuelle Namen von Göttern auf. Unter der Mehrzahl der zahlreichen Namen verbirgt sich jedoch nur eine geringe Anzahl an individuellen Gottheiten. Denn in diachroner Sicht und ohne regionale Einschränkungen dürfte sich die Zahl der distinktiven mesopotamischen Göttergestalten, die namentlich kultisch verehrt werden, auf etwa 300 beschränken.23 Für diese Götter sind sicherlich etwa 1400 Kultplätze namentlich bekannt. Die Kultplätze bestehen aus Tempeln, Schreinen, oder auch nur Götterthronen.24 Schon die Zahlenrelation von ca. 1:4 mit dieser Vielzahl von Kultplätzen im Vergleich zu den wenigen Götterpersonen – auch in synchroner Betrachtungsweise – legt nahe, daß man _______________ 23 Die Auswertung beruht auf einer Zusammenstellung der Götternamen in Relation zu ihren Kultplätzen; zu den Tempeln s. GEORGE, A.R., House Most High. The Temples of Ancient Mesopotamia (MC 5), Winona Lake 1993. In dieser Zahlenangabe sind keine versteckten Identitäten berücksichtigt wie Inanna=Ištar=AnnunƯtum und Vergleichbares (z.B. bei den Muttergöttinnen, sumerisch/akkadische Doppelbenennungen). 24 Vgl. GEORGE, House, Nr. 774: Schrein der Ištar in Niniveh und Nr. 914: Sitz der Ištar im Esangila in Babylon.

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sich die einzelnen Götter in verschiedenen Manifestierungen und wohl auch in Kontext gebundenen Erscheinungsformen vorstellte.

III. Göttermanifestierungen: Die Götterkörper Die unterschiedlichsten Erscheinungsformen oft populärer Götter sind nicht nur in diachroner Perspektive bezeugt, denn Götter können nicht nur im Laufe der Jahrhunderte ihr Erscheinungsprofil verändern, sondern auch synchron. Die Aspekt- und Machtfülle der überregionalen Götter wurde so in regionalen Repräsentierungen aufgelöst. Unabhängig davon, daß manche Götter auch konkret als Naturphänomene verehrt werden, als Felsen, Flüsse, Wetterphänomene oder Gestirne, sind vermutlich die meisten „großen“ (und/oder) überregionalen Götter als anthropomorphe Göttergestalten in mehreren großen Tempelzentren präsent. Die anthropomorphen, hochoffiziellen Statuen im Tempelkult werden den zahlreichen Abbildungen zufolge wie vornehme Menschen bekleidet und bedient.25 Durch ihre unterschiedliche Ausstattung läßt sich erkennen, daß die Gestaltung dieser Statuen nicht festgeschrieben wurde, sondern auch dem modischen Zeitgeist unterlag.26 Dennoch ist eines der Merkmale der Götterikonografie, daß Götterstatuen häufig in einer antiquierten Mode gekennzeichnet werden. Der personalisierte Kult der überregionalen Götter äußert sich neben anderen Indizien durch ihre vielen verschiedenen regionalen Kultplätze. Ištar hatte die größte Anzahl an regionalen und individuellen Kulten, darunter auch mehrere mit topografischen Zuweisungen. Sie ist z.B. als „Herrin von Akkade“, „Herrin von Nippur“, „Herrin von Uruk“, als „die Assyrerin“ in verschiedenen Tempeln oder Kapellen der Länder Babylonien und Assyrien präsent.27 Als Ištar oder Inanna wird sie noch zusätzlich an

_______________ 25 OPPENHEIM , L., Ancient Mesopotamia. Portrait of a Dead Civilization. Revised Edition, Chicago–London 1977, 183–198, s. auch BERLEJUNG, A., Die Theologie der Bilder. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bilderpolemik (OBO 162), Fribourg–Göttingen 1998. 26 Vgl. die unterschiedlichen Gewänder des Nabû in SEIDL, U., Art. Nabû, RlA 9 (1998) 24–29, hier 27 Abb. 15–19 und die der Inanna/Ištar in D ERS., Art. Inanna-Ištar, RlA 5 (1976–80) 87–89, Abb. gegenüber S. 87. 27 Vgl. GEORGE, House. Ištar tritt unter anderem auf als: Šarrat-kidmurri in Kalah (ibid. Nr. 645), als Ungal-Nibru in Nippur (ibid. Nr. 110), als UlmašƯtu (Ištar von Akkade) in Malgium (ibid. Nr. 1168), als AššurƯtu in Assur (ibid. Nr. 756) und als Königin von Larsa in Babylon (ibid. Nr. 759).

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ihren sicherlich 100 anderen Kultplätzen angebetet.28 Dennoch werfen diese vielen Ištargestalten auch ein Problem auf. Im 1. Jahrtausend können die Heilgöttin Gula oder die Gattin des Marduk, SLarpanitum ebenso wie Ninlil, Gattin des Hauptgottes Enlil, als Ištar tituliert werden.29 Deshalb stellt sich die Frage, ob der Name Ištar nicht im Laufe der Jahrhunderte zu einem Titel für eine weibliche Göttin verkommen ist und die eigentliche Göttin verblaßt, sie häufig gar nicht mehr als Person gemeint war! Dagegen spricht jedoch, daß die langjährig tradierten und präzisen lokalen Verortungen der Ištarkulte auf distinktiv personalisierte Ištarmanifestationen deuten und deshalb die ungebrochene Bedeutung der Gottheit doch wahrscheinlich ist. Die Inflation der Ištarbenennungen wäre damit als eine Form des emotionalen Synkretismus (nicht des politischen) zu interpretieren, der die Person der Ištar stärkt und die anderen Göttinnen verblassen läßt. Die physische Gestalt der Götterstatuen dieser einzelnen Ištars war wahrscheinlich distinktiv unterschiedlich. So wird sie in einer Stadt auch unter zwei verschiedenen Manifestationen kultisch verehrt. Sie hat als „Königin von Kiš“ in Kiš eine Cella und einen Tempel als „Herrin von Eanna (Uruk)“.30 Verschiedene Tempelpräsenzen werden sehr wahrscheinlich durch die Form und Bekleidung der Gestalt oder durch das Kultzubehör bzw. den einzelnen Kultablauf eindeutig definiert. Gestützt wird diese Vermutung durch die Beschreibung der verschiedenen Ištargestalten in einem Hymnus an NanƗya:

_______________ 28 Da Inanna ihr sumerischer Name ist, stammen die Inanna-Kulte aus einer älteren Zeit und aus einer Region, in der sie unter dem Namen Ištar noch nicht bekannt war. Hinzu kommen Kulte als NanƗya, die erst in der frühaltbabylonischen Zeit auftreten. Nach GEORGE, House, sind Tempel der NanƗya und der Ištar in Babylon (Nr. 1117: Hammurabizeitlich) und Uruk belegt (Nr. 270: nur spätes 1. Jahrtausend). NanƗya ist ein Name der Ištar nur zu bestimmten Zeiten. In einer anderen Ištarmanifestation, der AnunnƯtum: „Die Widerständige“, wird ihre Eigenschaft als kriegerische Ištar betont. Sie tritt plötzlich in der altakkadischen Zeit (zum Tempel der AnunnƯtum s. George, House, Nr. 965, erbaut von Šar-kalli-šarri) mit eigenen Kulten auf, wird aber nach der altbabylonischen Zeit nicht mehr mit eigenen Kultplätzen geehrt; zu allen s. SELZ, G., Five Divine Ladies: Thoughts on Inana(k), Ischtar, In(n)in(a), Annunitum, and Anat, and the Origin of the title „Queen of Heaven“, in: ASHER-GREVE, J. (Hg.), NiN, Journal of Gender Studies in Antiquity. Vol. 1, Groningen 2000, 29–62. 29 Zu Mullissu als Frau des Enlil, s. KREBERNIK, M., Art. Ninlil, RlA 9 (2000–01) 452–461, hier 453f., besonders sub § 3.1.15. Zur Ištar-Ninlil in Arba´il s. GEORGE, House, Nr. 351. Gula hat sehr viele eigene, unabhängig von der Ištar geführte Kulte. Das Verhältnis zwischen beiden Göttinnen wird noch sorgfältiger untersucht werden müssen. 30 GEORGE, House, Nr. 1089 und Nr. 996.

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„In (der Stadt) Uruk bin ich Liebesdienerin (harimƗku), in (der Stadt) Daduni habe ich schwere Brüste. 31 In (der Stadt) Babylon bin ich mit einem Bart bekleidet“.

Wenn diese Beschreibungen nicht nur als Metaphern für ihre verschiedenen Funktionsbereiche zu verstehen sind, sind ihre physischen Repräsentationen deutlich unterschiedlich. Außerhalb und vermutlich auch innerhalb der Tempelkulte wurden Götter noch in anderen physikalischen Formen dargestellt. Götter konnten nicht nur als Naturphänomene und als Kultstatuen kultisch verehrt werden, sondern auch in abstrakter Form als Symbolobjekte.32 Symbole sind als verkürzte und abstrakte Repräsentationen der Gottheit zu begreifen. Attribute, wie die Löwen der Ištar, werden zusätzlich zur anthropomorphen Gestalt der Gottheiten geführt. Symbole können die Göttergestalt in einem Teil ihres Tuns ersetzen, denn von den individuellen Symbolzeichen ist zumindest aus der altbabylonischen Zeit bekannt, daß sie in Vertretung der Götterstatue fungieren konnten.33 Diese Symbole sind allerdings auch der Mode und damit diachronen und regionalen Ausgestaltungen unterworfen. Ihre Schaffung und Stiftung wird von der Zentralmacht institutionalisiert, so daß ihre Götterzuordnung innerhalb eines festen Zeitbezugs eindeutig ist. Denn es muß einschränkend betont werden, daß Göttersymbole auch wandern können. Die Doppellöwenkeule der Ištar aus dem 2. Jahrtausend gehört zu anderen Zeiten dem Unterweltgott Nergal oder dem Gott Ninurta.34 Göttersymbole bezeichnen vermutlich einen zentralen Funktionsbereich eines Gottes, in diesem Fall wohl die löwenmässige Gewandtheit, Schnelligkeit und Kraft, die nicht nur der Ištar eignet, sondern auch anderen Göttern. Alle diese unterschiedlichen Manifestationen göttlicher Präsenz sind typisches Zeichen einer Hierarchie in komplexen städtischen Gesellschaften. Die Gemeinschaft braucht den offiziellen Statuenkult, um göttliche Macht und Ordnung in Herrschaftsgebäuden zu demonstrieren. Sie braucht die Verwendung von Götter-Symbolen, um überall präsent sein zu können, wo _______________ 31 REINER, E., A Sumero-Akkadian Hymn of Nanâ, JNES 33 (1974) 221–236. Ein datierter Textzeuge stammt aus der Zeit des Assurbanipal. 32 Ein Beispiel mag das Heiligtum sein, das dem dHatLtLu (dem göttlichen Szepter) in Nippur gewidmet wird, s. G EORGE, House, Nr. 1320. 33 GRONEBERG, B., Tiere als Symbole von Göttern in den frühen geschichtlichen Epochen Mesopotamiens: von der altsumerischen Zeit bis zum Ende der altbabylonischen Zeit, in: TOPOI. Orient-Occident, Suppl. 2, Lyon 2000, 283–320. 34 Vgl. z.B. COLBOW, G., Die kriegerische Ištar. Zu den Erscheinungsformen bewaffneter Gottheiten zwischen der Mitte des 3. und des 2. Jahrtausends (Münchener Vorderasiatische Studien 8), München–Wien 1991, besonders 490ff. und 502f. und W IGGERMANN, F.A.M., Art. Nergal, RlA 9 (1999) 215–226, hier 225: § 3 zum Symbol des Nergal.

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die göttlich-staatliche Macht verfügbar sein sollte. Und sie integriert die Götter in die Phänomene der physischen Welt durch ihr Dasein als Himmelskörper oder als geomorphologische Formation. Alle Götterstatuen35 werden beopfert und als reale Manifestierungen der Götter empfunden.36 Das gleiche Verfahren wird wahrscheinlich auch (bei den wichtigeren?) heiligen Kultobjekten angewendet, wie es von der Weihung der lillissu-Pauke bekannt ist37 und dürfte auch auf die Göttersymbole zutreffen.38

IV. Welt und Unterwelt als binäre Einheit Wie die Menschen waren auch die Götter den Universalgesetzen unterworfen. Auch sie unterlagen einem Schicksal.39 Ihre Schicksalsbestimmung betraf nur ihre Rangordnung, nicht aber Leben und Tod. Als natürlicher Daseinsbereich der Götter galten die Himmel oder die Unterwelt, die sie bewohnten. Der göttliche Aufgabenbereich erstreckte sich bis auf die Erde und umfaßte dort sämtliche physikalischen und sozialen Phänomene. Zur Erde gehörte die Unterwelt, die als notwendiger Teil von ihr betrachtet wurde. Sie lag unmittelbar unter der Erdoberfläche, sodaß die Mächte der Unterwelt durch Rohre und Öffnungen entweichen konnten. Zur Abwehr wurden häufig apotropäische Plaketten gegenüber den Erdöff_______________ Die Statue, das sLa lmu: „Statuen-Abbild“, galt zwar nicht als reale Abbildung, aber es wurde als etwas begriffen, in dem mehrdimensionale Fakten über diesen personalisiert gesehenen Gott als ideologische Idee vermittelt wurden, s. ausführlicher B AHRANI, Z., The Graven Image. Representation in Babylonia and Assyria, Philadelphia 2003, (allerdings zur Statue des Königs) 123–148. 36 Zu einem bestimmten Zeitpunkt war das Bild der Gott geworden und dennoch natürlich nicht der „richtige“ Gott. Es stand für das personalisierte Konzept dieses einen Gottes. Der Akt der Impersonalisierung als eine bestimmte Göttergestalt war real und geschah durch ein aufwendiges Ritual, das erstmalig bei der Institutionalisierung angewandt wurde und wiederholt werden konnte, wenn die Statue beschädigt war. Sie wurde dann säkularisiert und wieder neu als Gott geheiligt und belebt, s. W ALKER, CH./DICK, M.B., The Induction of the Cult Image in Ancient Mesopotamia: The Mesopotamian mis pî Ritual, in: DICK, M.B. (Hg.), Born in Heaven. Made on Earth. The Making of the Cult Image in the Ancient Near East, Winona Lake 1999, 55–122. 37 Vgl. THUREAU-DANGIN, F., Rituels accadiens, Paris 1921, 10–20, besonders 16:15f. und LIVINGSTONE, A., Mystical and Mythological Explanatory Works of Assyrian and Babylonian Scholars, Oxford 1986, 194, zur Zeichnung der Ritual Szene. 38 GRONEBERG, Tiere, 291–293. 39 Im Mythos „Enuma eliš“ ist es die Gruppe der „großen Götter“, die dem Marduk ein Schicksal verheißen, s. LAMBERT, Enuma elisch, 582 zu Tf. III Z. 115ff. und öfter; zu šƯmtu: „Schicksal“ s. CAD Š/3 S. 12. 1. 35

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nungen angebracht,40 und apotropäische Objekte unter den Türschwellen. Die Unterwelt galt als eine nach unten gekippte zweite Erde, staubig und ohne Wasser, als ein düsterer Ort, in dem die Toten für alle Zeiten dahin vegetierten.41 Sie stand in einem komplexen Beziehungsgeflecht mit der oberen Welt, aus der Unheil in die Unterwelt ausgesondert wurde. Herrin der Unterwelt war die „Herrin der großen Erde: Ereškigal“. Außer Toten belebten auch eine Anzahl von Dämonen die Unterwelt, die, sobald sie entwichen, auf der Erde Seuchen, Krankheiten und anderes Unheil stifteten. Alle Mächte der Unterwelt wurden offenbar als Gruppe gesehen, so wie die Götter des Himmels eine Gruppe stellten.42 Bewegungen zwischen Unterwelt und Erde erweckten wegen der Angst vor dem (eigenen) Tod und den unheimlichen Mächten der Unterwelt Schaudern. Den Gestorbenen ist ein Hin- und Her zwischen beiden Zonen nicht möglich. Die Geister der Toten konnten allerdings ähnlich wie Dämonen in die Welt kommen oder durch magische Verfahren aus der Unterwelt geholt werden. In der Regel werden sie als bedrohlich empfunden und durch magische Rituale aus der Welt der Lebenden geschafft.43

V. Hierarchische und binäre Götterkonzepte Die Darstellung der Tempelgötter als vornehme Menschen läßt in der Regel ein ausgesprochen anthropomorphes Götterbild erkennen, das sich an den Werten Schönheit, Besitz, Macht und gesellschaftlichem Erfolg orientiert. Zwischen Gott und Elite-Menschen ist vorrangig ein Unterschied aus zu machen: Die Unsterblichkeit. Obgleich im zeitweise gültigen Konzept des vergöttlichten Königtums die Göttlichkeit der Könige betont wird und Könige kultisch in besondere Nähe zu den irdischen Repräsentationen der Götter rücken, scheint kein (realer) König unsterblich zu sein, wie es die Götter sind, sondern er wird unter den Toten homogener Teil der Unter-

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Als Beispiel beschrieben bei FARBER, W., Art. Lamaštu, RlA 6 (1980–83) 439–446, hier 444–445. Zur Verwendung der Pazuzu-Darstellungen als Apotropaion für das Haus oder eine Person s. HEEßEL, P., Pazuzu. Archäologische und philologische Studien zu einem altorientalischen Dämon (Ancient Magic and Divination 4), Leiden–Boston–Köln 2002, 51. 41 KATZ, D., The Image of the Nether World in the Sumerian Sources, Bethesda– Maryland 2003, 126–154. 42 KATZ, Nether World, 402–404, s. auch 383–404. 43 Ausführlicher in GRONEBERG, B., Mesopotamische Jenseitsvorstellungen (AOF 17), 1990, 244–261, hier 250–253.

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welt. Er kann dort mit analogem gesellschaftlichem Rang als toter König herrschen.44 Außer den Herrschergöttern bevölkerten noch Botengötter und Dämonen(götter) die Götterwelt. Die sukkallu-Botengötter konnten morphologisch voll anthropomorph vorgestellt werden, jedoch traten bei ihnen manchmal auch nichtmenschliche Körperteile hinzu, zum Beispiel mehrere Köpfe oder Schlangenteile. Sie konnten folglich „Mischwesen“ sein. An diesen und anderen Mischwesen entstand eine im Laufe der Jahrhunderte immer größer werdende Anzahl. Einige von ihnen wurden mit eher negativen, andere mit eher positiven Konnotationen und Aufgaben versehen.45 F.A.M. Wiggerman schlußfolgerte in seinem Artikel „Mischwesen“: „The monsters belong to a class of supernatural beings that are neither gods nor demons“.46 Nach dieser Definition gehören „Mischwesen“ immer zu den „Zwischenwesen“, die „weder Gott noch Mensch“ sind,47 so daß der nicht-menschliche Körper distinktives Merkmal der NichtGöttlichkeit wäre. Doch daß dieses in Mesopotamien Gott und „Zwischenwesen“48 unterscheide, widerlegte Wiggermann anhand von mischwesenhaften Göttergestalten (s. weiter unten). Das Problem ist also komplexer, so daß die Frage: „Was macht einen Gott in Mesopotamien aus?“ nicht so einfach zu beantworten ist. _______________ 44

Zur Position der Könige Gilgameš und Urnammu in der Unterwelt s. KATZ, Nether World, 114–116 und 121f. Der mythische König Gilgameš galt als Kind einer Göttin und eines Königs. Sein Gebaren als Unterweltherrscher wurde betont. Der reale König Urnammu wurde wie die anderen Toten dem psychischen Elend anheim gegeben. Gilgameš wurde als „göttlicher“ als Urnammu empfunden. 45 W IGGERMANN, F.A.M, Art. Mischwesen, RlA 8 (1993–97) 222–246 (mit Abbildungen) und GREEN, A., Art. Mischwesen, RlA 8 (1993–97) 246–264 (mit Abbildungen). [Die gelegentlich unterschiedliche Deutung der einzelnen Wesen lohnt den Vergleich]. 46 W IGGERMANN, Art. Mischwesen, 231 zum Stichwort „Theologie“. 47 Zur Bezeichnung „Zwischenwesen“ s. LANG, B., Art. Zwischenwesen, HRWG V, 414–440. In Mesopotamien sind Zwischenwesen nicht nur Grenzgänger zwischen menschlicher Welt und dem Jenseits – diese Wesen werden traditionell meistens als „Dämonen“ bezeichnet –, sondern auch zwischen göttlicher Himmelssphäre und irdischer Welt: diese Wesen gelten traditionell als „Botengötter“. Personell zugeordnete Götterdiener wie Namtar (zu Ereškigal) können trotz ihres Daseins in der Unterwelt als Botengötter verstanden werden. 48 Zu dieser klassischen Unterscheidung s. LANG, Art. Zwischenwesen, 414: „Der Ausdruck ‚Zwischenwesen’ dient der Religionswissenschaft als Sammelbezeichnung für Geister, Dämonen, Engel ....., die von der jeweiligen kulturellen Überlieferung, in der sie lebendig sind, weder als Menschen noch als Götter aufgefaßt werden“, und ibid, 418 mit einem „Neuansatz“, in dem hierarchische Bewertungen von Göttern vs. Geistern abgelehnt werden.

Aspekte der „Göttlichkeit“

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V.1. Der Körper der „Zwischenwesen“ In einigen voneinander abhängigen Literaturwerken des 1. Jahrtausends, die sich mit der Unterwelt befassen, werden die Bewohner der Unterwelt mit Federkleidern ausgestattet und deshalb vermutlich mit vogelartigen Wesen assoziiert.49 Abbildungen von Mischwesen mit herabhängenden Flügeln, versuchte man folglich als Unterweltdämonen oder sogar Unterweltgötter zu deuten.50 F.A.M. Wiggermann jedoch wies diese Deutung zurück.51 In Anbetracht der Belege, die Wiggermann vorlegte, scheint die Idee, signifikanter Teil der Ikonografie der Unterweltdämonen seien (herabhängende) Flügel, recht unwahrscheinlich.52 Die Kennzeichnung einer Kategorie „Zwischenwesen“ scheint nicht gegeben, als Gruppe treten sie uneinheitlich auf. Jedoch ist die individuelle ikonografische Charakterisierung der Unheil- wie der Heilwesen, die zwischen den Weltenbereichen mutieren, distinktiv gestaltet, sodaß „Zwischenwesen“ – wahrscheinlich Kontext gebunden –53 durch typisierende Gestaltsteile in der Bildersprache jener Zeit, in der nicht jeder lesen und schreiben konnte, als Individuen identifiziert werden konnten. Sofern diese _______________ 49

Das Bild der Unterwelt, das in den Unterweltmythen des 1. Jahrtausends verbreitet wird, wird zum Topos des Toten in der Unterwelt, der wie ein Vogel in Federkleider gekleidet ist. Die sumerischen Quellen teilen nicht diese Sicht der Unterwelt, vgl. KATZ, Nether World, 227–233. 50 P ORADA, E., The Iconography of Death, in: ALSTER, B. (Hg.), Death in Mesopotamia. Papers Read at the 26. Rencontre Assyriologique Internationale (Mesopotamia 8), Kopenhagen 1980, 257–70, besonders 266 „having bird wings which point downward (a criterion of demons)“ mit Verweis auf den Göttertypentext MIO 1 (1953) 82–83 Z. 30– 31 [zu diesem W IGGERMANN, 239f.].Vermutlich geht die Identifizierung der geflügelten Dämoninnen als Wesen der Unterwelt auf B ARRELET, M., A propos d’une plaquette trouvée à Mari (AO 18962), Syria 29 (1952) 285–293, zurück, wieder aufgenommen von B UCHANAN, B., A Snake Goddess and her Companions. A Problem in the Iconography of the Early Second Millenium Β.C., Iraq 33 (1971) 4–23. 51 W IGGERMANN, Art. Mischwesen, 241: „Contrary to the widely held opinion there are no indication that wings have a relation with death or the netherworld” [auch unter Diskussion der Zitate des Göttertypentexts MIO 1, 57ff.] und ausführlich ibid. S. 239f. § 5 „Flügelgestalten“. Er führte aus, daß die Darstellung von geflügelten Schutz- wie Unheilswesen ab der mittelassyrischen Zeit zunahm, „geflügelte Monster“ aber seit vorgeschichtlicher Zeit und geflügelte Ištargestalten seit der Akkade-Zeit nachzuweisen seien: ibid, 235 und 239 § 5 2. Absatz: „The addition of wings to anthropomorphic figures begins much later, and gains ground slowly unto the second half of the second millenium, when it becomes common practice”. 52 Dem widerspricht schon die Darstellung der Lamaštu, Unterweltdämonin par excellence, die ohne Flügel ist. 53 Der Terminus „Kontext gebunden“ bezieht sich auf Zeit und Raum, in denen sich die Darstellung und Funktion mancher Zwischenwesen veränderte.

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Zwischenwesen in ihren Funktionen durch Textzeugen erläutert werden, weisen sie zudem ein distinktives Aufgabenprofil auf. Das soll am Beispiel des Zwischenwesens Pazuzu erläutert werden. Siehe Abb. 1.: Eine apotropäische Plakette gegen Lamaštu

Auf einem bildreichen, Unheil abwehrenden „Pazuzu-Amulett“ sind verschiedene Zwischenwesen abgebildet.54 Über den Rand lugt ein Dämon, der Pazuzu, der von hinten plastisch ausgeformt wird. Er steht nochmals in voller Größe hinter dem theriomorphen Mischwesen im unteren Register. Pazuzu ist ein Winddämon, der Tod und Vernichtung durch Eisregen sät. Doch wird er hier evoziert, um Gutes zu bewirken.55 Im zweiten Register wird dargestellt, wie ein Kranker durch Heil bringendes Wasser zweier Fisch-Mensch-Dämonen oder zweier Priester im Fischgewand,56 geheilt werden soll. Hinter ihnen stehen Mischwesen mit Löwenköpfen und ein Mann, die alle überwiegend als Schutzdämonen gelten.57 Über ihnen stehen andere Wesen mit Menschenkörper und Tierköpfen. Sämtliche dieser Mischwesen haben sowohl gute wie schlechte Konnotationen. Es sind machtvolle, sowohl Unheil bringende als auch Unheil abwehrende Wesen, je nach eingesetzter Funktion. Bei einem unguten Schicksal, verursacht durch Unheilzauber oder Bestrafung der Götter, werden sie beauftragt, Krankheit oder Unheil zu bringen. Durch abwehrende magische Verfahren können ihre Potenzen jedoch ins Gegenteil verkehrt werden, sodaß ihre Macht zur Heilung genutzt werden kann. Dieses Szenario ist hier abgebildet: Als eigentlicher Widersacher ist die zentrale Figur in dem unteren Register gemeint, die Dämonin Lamaštu. Sie bewegt sich aufgestellt menschlich, hat jedoch einen gesprenkelten Hyänenkörper und einen Tierkopf. An ihren Brüsten säugt sie Hund und Schwein, in ihren Händen hält sie giftige Schlangen. Ihr Interesse gilt der Vernichtung von Säuglingen, die sie als falsche Amme vergiftet. Sie verhindert Geburten, in dem sie ein für sie typisch hohes Fieber verursacht, das auch andere Menschen, nicht nur Wöchnerinnen, befallen kann. Sie frißt das Opfer, trinkt sein Blut und nagt seine Knochen und Sehnen ab. _______________ 54

HEEßEL, Pazuzu 20f. 2.6.: „Zur Herkunft der ikonografischen Merkmale“. Aus seinen Ausführungen ergibt sich, daß die Kopfgestaltung des Pazuzu typisch ist, während andere Körpermerkmale auch bei anderen Dämonen vorkommen können. Zur Diskussion und Interpretation der Paneele FARBER, „Lamaštu“, 442f. 55 Zur Beschreibung seiner Funktion HEEßEL, Pazuzu, 52f. 56 W IGGERMANN, Art. Mischwesen, 242 sub 8. spricht sich für ein Mischwesen aus Mensch und Fisch aus; GREEN, Art. Mischwesen, 252 sub 3.8. „Mischwesen B.” hingegen bezeichnet die Figur als „bearded human figure shown as if wearing the full body of a fish”. 57 Zu diesen Figuren vgl. GREEN, Art. Mischwesen, 251 und 248f.

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Darstellungen wie auf diesem Amulett sind als kodifizierte Angaben über die Fähigkeiten der Dämonin, ihre Aufgaben, und den Gegenzauber gegen sie zu begreifen. In der rechten Ecke des Registers, in der die Lamaštu steht, wird ihr Arbeits- und Reisezubehör gezeichnet.58 Die Chiffrierungen des Gegenzaubers bedeuten Folgendes: Hund und Schwein werden ihr untergeschoben, weil sie symbolisch das Gift der Schlangen, die sie hält, aus ihren Brüsten saugen, mit dem Ziel, diese unreinen Tiere als Ersatz für gefährdete Säuglinge zu kontaminieren und damit die Verseuchung zu vernichten. Beide Tiere werden in Unheil abwehrenden Ritualen häufig eingesetzt.59 Gegen das Fieber wirkt magische Heilkunst, ausgeführt von den im 3. Register apkallu genannten Fisch-Menschen. In der Tat stellen bestimmte Priester, die magische Heilkunst studiert haben, für befallene Kranke Einreibe- und Trinkrezepturen bereit, die oft aus Ekel erregenden Materien bestehen wie Hundekot und -haaren, Pilzen, Schimmel, Urin und Anderes mehr. Gegen das hohe Fieber, das Lamaštu verursacht, wird der Eisdämon Pazuzu angerufen, der durch analogen Gegenzauber mit seinem Eishauch die Hitze des Fiebers, das von Lamaštu ausgeht, bannen soll. V.2. Die Göttlichkeit der „Zwischenwesen“ Die Dämonin Lamaštu wird nicht nur mit dem Gotteszeichen geschrieben und damit als Person oder als personalisierte Institution als göttlich gekennzeichnet: Sie gilt sogar als Tochter des obersten Himmelsgottes Anu. 60 Die exponierte Stellung dieser Dämonengöttin(!) als Schwester und Tochter großer Götter kommt sogar mehrfach zur Sprache und ist fester Bestandteil der Götterordnung. Die Aufgabe der Lamaštu gemäß der ihr von den Herrschergöttern übertragenen Aufgaben erklärt der Mythos Atramhasis, der sich mit der Menschenschaffung und der anschließenden Überpopulation der Erde befaßt. Nach diesem Mythos wird ihr die Aufgabe zugeteilt, den menschlichen Nachwuchs zu reduzieren.61 _______________ 58 Beschrieben von FARBER, W., Tamarisken – Fibeln – Skolopender. Zur philologischen Deutung der ‚Reiseszene’ auf neuassyrischen Lamaštu-Amuletten, in: R OCHBERGHALTON, F. (Hg.), Language, Literature, and History. Philological and Historical Studies Presented to Erica Reiner (AOS 76), New Haven–Connecticut 1987, 85–105. 59 Vgl. GRONEBERG, Tiere 209f.: Nachtrag; s. P ARAYRE, D., Les suidés dans le monde syro-mésopotamien aux époques historiques, TOPOI. Orient-Occident, Suppl. 2, Lyon 2000, 141–206. 60 Eine Beschwörung aus der altbabylonischen Hammurabizeit sagt: „Sie ist die Tochter eines Gottes, sie ist die Tochter von Anum“ (s. CAD M/1:3`). 61 Vgl. VON SODEN, W., Rez., BiOr 18 (1961) 71–73, zu dieser Passage des Atramhasis-Mythos. Die Dämonin wird an dieser Stelle „pašittu“ genannt: „libšƯma ina nišƯ

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Wie Lamaštu werden auch noch andere Zwischenwesen im Zeichensystem der Mesopotamier mit dem Determinativzeichen als Götter klassifiziert. Zu ihnen zählen einige Krankheitsdämonen, die man als Boten der Götter begreift, so auch der Botengott der Unterweltgöttin, Namtar: „das Schicksal“.62 Lamaštu wie Namtar erfüllen eine Ordnungsfunktion, die zur mesopotamischen Weltkonzeption gehört, in der Böses mit dem Guten einhergeht, und es der Schicksalsbestimmung des Einzelnen überlassen ist, auf welcher Seite er steht. Ein gutes oder schlechtes Schicksal wird nicht durch ethisches Verhalten des Einzelnen, sondern durch den unberechenbaren Zufall bewirkt, der Teil der Weltordnung ist. Man war der festen Überzeugung, durch magische Praktiken auf ein schlechtes Schicksal einwirken zu können, sobald man diese Bedrohung erkannt hatte.63 „Zwischenwesen“, seien es Mischwesen und/oder Götterboten bedrohen nicht die Weltordnung, können aber direkt auf das Leben und Wohlbefinden einzelner Personen einwirken. Diese begriffen das Unheil als Resultat einer Verfehlung, Schuld oder Verhexung und die Unheilwesen – genau wie die Heilwesen – als Boten der Götter. Zu den „Zwischenwesen“ zählen auch die zwei anonymen Schutzengel des Einzelnen, lamassu und šƝdu, die als geflügelte Mischwesen seit der 2. Hälfte des 2. Jahrtausend gestaltet werden.64 Auch sie werden durch die häufige Verwendung des Gottesdeterminativzeichens als göttliche Wesen bezeichnet.65 Was aber macht dann Götter aus, wenn Dämonen wie Götterwesen kodifiziert werden? Wiggermann stellte fest: „Anthropomorphism dis______________________________________________________________________________________________

pašittu / lisLb at šerra/ ina birku Ɨlitti: es soll sein unter den Menschen der Pašittu-Dämon/ er soll das Baby ergreifen/ vom Schoß seiner Mutter“, s. CAD P 256 sub 1. 62 KATZ, Nether World, 390f. und KLEIN, J., Art. Namtar, RlA 9 (1998) 142–145: „a minor chtonic deity; also a netherworld demon, the harbinger of death”. In der PazuzuBeschwörung bei B ORGER, R., Pazuzu, in: Language, Literature, and History, 24:102 wird „Pazuzu, der Sohn des Hanbi, König der bösen Windgeister (líl-lámeš) mit dem Gottesdeterminativzeichen als „göttlich“ klassifiziert. 63 Ausführlich MAUL, S., Zukunftsbewältigung. Eine Untersuchung altorientalischen Denkens anhand der babylonisch-assyrischen Löserituale (Namburbi) (BagF 18), Mainz 1994. 64 Vgl. FOXVOG, D./HEIMPEL, W./KILMER, A.D., Art. Lamma, lamassu, RlA 6 (1980– 83) 446–453. Zu Udug/šƝdu, den zweiten Schutzengel, ibid. Lamassu und šƝdu werden oft mit dem Gottesdeterminativ geführt und begleiten als Schutzengel auch Götter, sie können allerdings auch vernichtende Funktionen haben, s. CAD Š/2 S. 258f. sub b) und 2´). 65 Die Schreibung erweckte kontroverse Diskussionen, s. FOXVOG et al., Art. Lamma, lamassu, 447 sub § 1. Wie befremdlich die Autoren die Definition von Mischwesen als Götter empfanden zeigt ibid. S. 447 § 2: „nature”: „Although L. came to be conceptualized with the general notion of its agency in good fortune or protection, it appears to have its origins in the supernatural realm of demons not divinities”.

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tinguishes gods from monsters and helped to shave their contrastive role in mesopotamian mythology”, 66 führte dann aber aus: „less important gods of nature (§ 3.2; 5; 7.32, 33) can be respresented by hybrids composed out of human and natural elements”.67 Der Widerspruch in der Konzeption der Lamaštu, als häßliche, gar nicht anthropomorphe Dämonengöttin einerseits und ihre Zugehörigkeit zu den Himmelsgöttern andererseits, verfremdet das Bild einer himmlischen Götterwelt die, analog zur Menschenwelt der Elite, von Form vollendeten Menschengöttern beherrscht ist. Daher ist wohl auch der frühere Versuch zu sehen, die Dämonenhaftigkeit der Lamaštu evolutionistisch zu begreifen. Heute jedoch gilt es als wenig wahrscheinlich, daß ihre Göttlichkeit durch ihren Vater Anum, der sie des Himmels verwiesen habe, degradiert wurde: Diese Strafversetzung analog eines gefallenen Engels ist nicht zu belegen.68 V.3. Die Göttlichkeit mischwesenhafter Götter Wiggermann führte in seinem Artikel über „Mischwesen“ neben den Dämonen auch Götter an, die nicht immer völlig anthropomorph dargestellt werden. Der Botengott des Schöpfergottes Enki, Isimu/Usmû, wird oft mehrköpfig dargestellt,69 was bildhaftes Zeichen für die hellsichtige Weisheit seines Herrn, des Schöpfergottes sein könnte. Auch dem kundigen Herrschergott Marduk können vier Ohren und Augen zugeschrieben werden, die in diesem Kontext nicht als Monstrositäten zu begreifen sind, sondern als Anzeichen für seine besondere Übersicht, seine Klugheit.70 Götterdarstellungen mit Schlangenteilen scheinen in den östlichen Regionen des Landes vermehrt verehrt worden zu sein. Diese Götter haben oft eine Assoziation zu Unheilregionen, nämlich Chaos und Unterwelt.71 Der Unterweltgott Nergal selbst wird im Mythos Nergal und Ereschkigal, in dem er der Herrin der Unterwelt als Gatte beigegeben wird, als glatz_______________ 66 W IGGERMANN, Art. Mischwesen, 233 (§ 2.2.): „Among the major gods 2 groups can be defined, the astral (Nanna, Utu, Inanna) and cosmic (Enki, Enlil, Ninhursag) gods that became anthropomorphic early and the chtonic and underworld gods (§ 3.1.) that retained theriomorphic features until the end of the OB period [....]”. 67 W IGGERMANN, Art. Mischwesen, ibid. Genannt werden einige Berg- und Flußgottheiten (§ 3.3); Flügelgestalten (§ 5); Sturmgenien (§ 7.32) und auch die geflügelte nackte Göttin des Burney-Reliefs (§ 7.33) (s. dazu weiter unten). 68 Ausführlicher FARBER, „Lamaštu“, 445. 69 B OEHMER, R.M., Art. Isimu, RlA 5 (1976–80) 179–181. 70 W IGGERMANN, Art. Mischwesen, 236–237 zu diesem und anderen Beispielen. Zu Marduk s. LAMBERT, Enuma elisch, 572, Tf. I Z.95. 71 W IGGERMANN, Art. Mischwesen, 233–235 „chtonic snake gods and animal gods“.

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köpfig und hinkend beschrieben, der unter den schönen Himmelsgöttern sofort als Fremdkörper zu erkennen ist.72 Sein Bote, Bahar, ist wahrscheinlich ein Gott mit Bullenohren, der oft gewickelt und in einem Sarkophag liegend dargestellt wird.73 Götter der Unterwelt können somit im ikonografischen Zeichensystem als versehrt (humpeln, glatzköpfig) oder negativ-theriomorph (schlangenähnlich) ausgewiesen werden. Das theriomorphe Merkmal jedoch ist kein ausschließliches Indiz für ein Unterweltwesen. So ist die Kennzeichnung von manchen Unterweltgöttern als Mischwesen mit Bullenkörperteilen nicht negativ zu deuten. Das archaische Bildzeichen „Bullenkopf“ bezeichnete in der Frühzeit einen Unterweltgott von Kutha und scheint sich dann weiter auch in personenhaften Abbildungen als Bildteil verselbständigt zu haben. Ebenso wie das Epitheton „Löwe“ steht der Titel „Bulle/Wildstier“ in Lyrik und Mythen preisend für die Kraft von Gott und König. 74 So ist festzuhalten, daß der Tiercharakter alleine ebenso wenig ausreicht wie die Kodierung mit Flügeln und Vogelkrallen, um Wesen in die Unterweltzone zu verweisen und/oder sie als Gefahrpotential zu kennzeichnen. Die Ikonografie des Unheils sollte weiter verfolgt werden, wenn es sie überhaupt je gab.75 V.4. Kulte für Unterweltgötter und „Zwischenwesen“ Zu fragen ist allerdings, ob mesopotamische „Zwischenwesen“, seien sie göttlich oder nicht, kultisch verehrt wurden oder nicht. Götterboten wie Bunene, Išum/Hendursag~ und Ninšubur, um Beispiele zu nennen, werden in offiziellen Tempelkulten bedacht76 und spielen auch im weniger offiziellen städtischen Kontext eine Rolle. Eine der im altbabylonischen Ur im Stadtgebiet ausgegrabenen Kapellen enthielt noch die Kultstatuette des Ninšubur, eine andere die des Botengottes Hendursag und sowohl die An-

_______________ 72 PORADA, Iconografy, 266 mit VON W EIHER, E., Der babylonische Gott Nergal (AOAT 11), Neukirchen-Vluyn 1971, 52. 73 W IGGERMANN, Art. Mischwesen, 234, 2. Spalte und 235, 1. Spalte unten: „a bulleared full-face god, sometimes with bird´s talons, armed with scimitars, axes, or maces, with daggers in his belt, enclosed in a sarcophagus .... occurs .... [in the] OB period”. P ORADA, Iconografy, 265 definiert diesen Gott lediglich als „god of the underworld“. 74 Es ist wenig ersichtlich, warum ein Bulle negativ konnotiert sein soll gegen W IGGERMANN, Art. Nergal, 215 § 1.1. 2. Absatz, s. ferner ibid S. 223 1. Spalte zu Nergal. B. „deadly wild animals”. 75 PORADA, Iconografy, blieb ebenfalls sehr zurückhaltend. 76 GEORGE, House, Nr. 691, 1111 (Bunene), Nr. 1338 (Išum) und mehr.

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lage der Kapellen als auch die Form und Aufstellung der Statuen77 entsprechen dem Kultgebaren in den großen Tempelanlagen. Außerhalb der Hendursag-Kapelle wurde ein Relief gefunden, das ein Mischwesen zeigt und, wie der Ausgräber annimmt, als apotropäisches Relief außerhalb der Eingangstür angebracht war.78 Die kleineren Reliefs zur Abwehr des Unheils am Eingang der Kapelle dürften ideologisch den monumentalen geflügelten Mischwesen entsprechen, die als Hüter des Torbereiches an großen öffentlichen Gebäuden standen.79 Götterdämonen wie Lamaštu und Namtar hingegen hatten scheinbar keine Tempel/Kapellenkulte.80 Sollten sie dennoch einen Ritus in ihnen zugewiesenen eigenen Kultplätzen gehabt haben, schweigt hier die Überlieferung.81 Nun kann man den Umgang mit ihnen, die rituelle Praxis, der man sich bedient, um sie zu bannen oder ihre Kraft zu nutzen, aber auch als „Kult“, nur in anderer Form begreifen: Die apotropäischen Rituale, die in großer Zahl für eine Kontaktaufnahme/Abwehr dieser Wesen verfaßt wurden, können durchaus als Teil von Kulthandlungen verstanden werden, die anders sind als für die großen Herrschergötter und ihre Diener, aber deshalb nicht weniger gläubig, verehrungsvoll oder wirkungsmächtig.82 Fraglos haben zudem individuelle Riten mit Abbildungen von Göttern oder Zwischenwesen in Privathäusern auch Kultrecht. Die Herrschergötter der Unterweltssphäre wurden von offiziellen Tempelkulthandlungen nicht ausgeschlossen, da sowohl für Nergal als auch für Ereschkigal Tempelkultplätze erwähnt werden. _______________ 77 W OOLLEY, UE 7, 30f.; Abbild von Ninšubur, ibid. Pl. 58 a., Blick in die Kapelle pl. 53 a. und b. und s. auch ibid. Pl. 52a die Hendursag-Kapelle. 78 Vgl. W OOLLEY, UE 7, 30 unten bis 31 oben: „Against the outer face of the front wall of the Hendur-sag chapel there was found terracotta relief U 16426 (Pl. 64, 2) it stands 0,60 m high and was painted all over, the details of the beard, etc. being picked out in black; ..... it is to keep off the evil eye and to prevent evil spirits from entering buildings, and their regular place therefore is at the entrance”. Das Relief ist somit nicht als Kultrelief innerhalb eines Tempels anzusprechen, contra VON DER OSTEN-SACKEN, E., Überlegungen zur Göttin auf dem Burney-relief, in: Sex and Gender in the Ancient Near East, 479–487, hier 481a. Ähnlich in Größe ist das Relief einer Vasen haltenden Göttin (Pl. 64,1) vermutlich einer Lama-Schutzgöttin, das im Schutt der Straße gefunden wurde und einer ebensolchen Schutzfunktion gedient haben dürfte. 79 GREEN, „Mischwesen“, 255–256. 80 Dieser Terminus ist, soweit ich sehe, noch nicht genau definiert. In dieser Darstellung meint die Bezeichnung öffentliche, nicht herrschaftliche und nicht individuelle Kultplätze und schließt damit die Verehrungszimmer/Privatkapellen in Privathäusern aus. 81 S. aber weiter unten Anm. 85 zu Ereschkigal. 82 LANG, B., Art. Kult, HRWG III, 474–488; B AUDY, G., Art. Kultobjekte,19–20 vermerkt, daß „auf allen Kulturstufen Kultobjekte impersonaler, personaler und spiritueller Art gleichursprünglich nebeneinander [sind]“.

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Nergal wird unter verschiedenen Namen in einer Reihe von Städten mit eigenem Kult verehrt.83 In dem Mythos „Nergal und Ereschkigal“, der erst ab dem ausgehenden 2. Jahrtausend bezeugt ist, wird er der „Herrin der Unterwelt“ als Gatte beigegeben.84 Er kann an der Tafel der Götter des Himmels teilnehmen, ist also auch Teil der oberen Götterwelt.85 Hierfür spricht auch unter anderem, daß er in Assur beopfert wurde und im Königskult als Begleiter des Königs an der Vernichtung der Feinde teilnimmt. Aber seine Gattin Ereschkigal herrscht nicht wie er über eine Stadt. Drei Kultplätze werden genannt, einer – wohl zusammen mit ihrem Gatten – in der Stadt des Totenkultes, Kutha, ein anderer in Assur und einer in der alten Stadt Umma.86 Über die Kultabläufe ist nichts Genaueres bekannt. So bleibt offen, ob eventuell an den Kultplätzen der Unterweltgötter eine virtuelle Unterwelt geschaffen wurde.87 Da bei der Einrichtung des Kultortes der Ereschkigal in Umma der Ort der Totenspenden genannt wird, ist zu vermuten, daß die Göttin, wie möglicherweise alle Unterweltgötter, mit offiziellen und individuellen Totenkulten befaßt ist, ebenso wie ein Teil der Kulte der Inanna/Ištar im Rahmen von Fruchtbarkeitsriten stattfindet.88 Der Ort der Totenspenden im Ereschkigal-Kultplatz wird mit dem Augenblick der ersten Hellfärbung des Horizonts, dem Aufsteigen des Sonnengottes aus der Unterwelt „ki-dutu-è“, zusammen genannt.89 Dieser Moment ist auch der Ort _______________ 83

W IGGERMANN, Art. Nergal, besonders § 6; G EORGE, House, Nr. 802–87, z.B. in Kutha, Maškanšapir, Dnjrum nahe bei Uruk, TarbisLu und Uqur bei Girsu (und mehr!). 84 DALLEY, S., Myths from Mesopotamia. Creation, the Flood, Gilgamesh, and Others. Revised Edition, Oxford 2000, 171–172. 85 DALLEY, Myths, 171–172. 86 Vgl. GEORGE, House, a) wohl in Assur (Nr. 1311); b) in Umma (Nr. 1312); c) in Kutha (Nr. 288 = Nr. 1209, G EORGE, ibid, vermutet, = Tempel des Nergal). Ereschkigal ist auch in 4 Opferlisten aus Nippur ebenso wie Namtar(!) genannt, wie R ICHTER, TH., Untersuchungen zu den lokalen Panthea Süd- und Mittelbabyloniens in altbabylonischer Zeit (AOAT 257), Münster 1999, 144 vermerkt. W IGGERMANN, F.A.M., Transtigridian Snake Gods, in: F INKEL, I.L./GELLER, M.J. (Hg.), Sumerian Gods and their Representrations (CM 7), Groningen 1997, 33–55. 87 Der Tempel des Nergal heisst bƯt dAllatu: „Haus der Unterwelt“, s. MENZEL, B., Assyrische Tempel. Band 1: Untersuchungen zu Kult, Administration und Personal. Band 2: Anmerkungen, Textbuch, Tabellen und Indices (St.P.S.M 10/1 und 10/2), Rom 1981, 79. 88 Die Mehrzahl der Inannakulte zur altbabylonischen Zeit, die in den sumerischen Königshymnen zitiert werden, dient wohl diesem Zweck. 89 Auf dem Tonnagel des Lu´utu STEIBLE, H., Die neusumerischen Bau- und Weihinschriften. Teil 1: Inschriften der II. Dynastie von Lagaš. Teil 2: Kommentar zu den Gudea-Statuen. Inschriften der III. Dynastie von Ur. Inschriften der IV. und ‚V.’ Dynastie von Uruk. Varia (FAOS 9/1–2), Stuttgart 1991, 344: dereš-ki-gal/nin-ki-utu-šu4-ra/lúd utu/ensí-umma ki/dumu-dnin-in-sin2-ka-ke4/nam-ti-la-ni-šè/ki-dutu-è/ki-nam-tar-re-da/ému-na-du/gaba-ba a bí-in-gi/ mu-bi pa bí-in-è:

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und Augenblick der Belebung und Heiligung von Dingen.90 Ob sie an diesen oder folgenden Prozessen der Unterbringung im Grab/Unterwelt beteiligt ist, entzieht sich unserer Kenntnis.

VI. Konzeptualisierungen von Göttlichkeit: am Beispiel von Ištar und ihren Dämonen(göttinnen) V.1. Ištars Macht zwischen Fruchtbarkeit und Tod Von den Himmelsgöttern kann zwar der Sonnengott Šamaš bei seiner nächtlichen Fahrt unversehrt die Unterweltzone durchqueren, die Fruchtbarkeitsgöttin Ištar, die für die Zeit ihres Besuches viel länger in der Unterwelt weilt, verliert jedoch dort ihr Leben. Das wird in einem über Jahrhunderte hinweg populären Mythenzyklus geschildert, dessen Kernstück „Inannas Gang zur Unterwelt“ oder „Ištars Unterweltfahrt“ genannt wird.91 Die Göttin versucht dort, die Herrschaft der Unterwelt an sich zu reißen. In vollem Herrscherornat passiert sie sieben Tore, an denen sie jeweils einen Teil ihrer Kleidung und damit ihrer Machtinsignien verliert, bis sie nackt vor der Herrin der Unterwelt steht. Begründet werden diese Entkleidungsszenen mit der Erfüllung der „me“ der Unterwelt, den heiligen Gewohnheiten der Unterwelt.92 Unten angekommen versucht sie, deren Thron zu besteigen.93 Ihr Kampf endet in ihrer Niederlage durch die Mächte der Unterwelt. Die Unterweltdämonen sehen sie an mit „dem Blick des Todes“94 und reden sie böse an. So wird sie, respektlos nackt, machtlos, wie ein Sack an einen Haken gehängt.95 Dieses ______________________________________________________________________________________________

Ereš-ki-gal,/der Herrin des Ortes, an dem die Sonne untergeht/hat Lu´utu/ der Stadtfürst von Umma/ Sohn der Ninisin/ für sein Leben/ am? ki-dutu-è/ Ort-an-dem-das Schicksal-entschieden-wird/einen Tempel erbaut an seiner Vorderseite befestigte er einen Wasser(lauf?)/ und machte seinen Namen strahlend“. Vgl. KATZ, Nether World, 352– 355. 90 P OLONSKY, J., ki-dutu-è-a. Where Destiny is determined, in: Landscapes. Territories, Frontiers and Horizons in the Ancient Near East. Papers Presented to the 44. Rencontre Assyriologique Internationale, Venezia, 7.–11. July 1997. Part III. Landscape in Ideology, Religion, Literature and Art, hg. von L. Milano et al. (History of the Ancient Near East, Monographs 3/3), Padova 2000, 89–100. 91 Zur Bearbeitung des sumerischen Mythos s. S LADEK, W.R., Inanna´s Descent to the Netherworld (Diss. John Hopkins University) [Univ. Micro. unp.] 1974; zur akkadischen Fassung s. B ORGER, R., Ištars Unterweltfahrt, in: DERS. (Hg.), Babylonisch-assyrische Lesestücke. Heft 1. Die Texte in Umschrift (Analecta Orientalia 54) Rom 21979, 95-104. 92 KATZ, Nether World, 259. 93 KATZ, Nether World, 261. 94 KATZ, Nether World, 261. 95 KATZ, Nether World, 261.

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ganz und gar ungöttliche Verfahren bedeutet, daß sie totengleich ist. Ihr Bote, den sie auf diese Möglichkeit vorbereitet hatte, ersucht die anderen Himmelsgötter um Hilfe. Diese aber strafen die Göttin mit Nichtachtung, weil sie ihre Kompetenzen überschritten habe. Als Folge des Todes der Ištar erlischt die Fruchtbarkeit auf der Erde. Deshalb greift als letzte Götterinstanz der Schöpfergott ein und sendet zwei Wesen mit Leben spendendem Wasser zur Unterwelt. Unten angekommen beleben die beiden Geschöpfe den „Wassersack“ mit dem Heilwasser. Aber als sie und die Göttin hinaufsteigen und der Unterwelt entkommen wollen, wird entschieden, daß die Göttin von den Dämonen zurückgeholt werden soll, falls sie keinen Ersatz stellen kann. In diesem Mythenzyklus wird die Aitiologie von Ersatzriten gegeben. Denn anders als der Sonnengott kann Ištar die Unterwelt nicht verlassen, ohne einen Ersatz zu stellen. Auch sie überwindet sie nur durch magische Verfahren, die in der Zuständigkeit des Schöpfergottes liegen. Die an dem Schicksal der Ištar durchexerzierten Riten sind Grundlage für alle magischen Lösungsverfahren, denn soweit mir bekannt, verwenden alle Riten, die Unheil vernichten, das sich auf einem Menschen befindet, Ersatzrituale. Auf Objekten, Tieren oder auch Ritualfachleuten soll sich das Böse kumulieren, um es von der kranken Person zu entfernen. Objekte und Tiere werden als Unheilmaterie mit verschiedenen Methoden entsorgt. Sind Menschen Medium, dann tragen sie das auf sich gezogene Übel hinweg. Anschließend werden auch sie magisch gereinigt, vielleicht wurde auch für ihren Tod gesorgt.96 Die Göttin Inanna/Ištar garantiert durch ihre Existenz, daß die Übelabwehr möglich ist, daß man dem Tod entkommen kann, da das Verfahren an ihrer Person Wirkung zeigte. Der mesopotamische Gott, der für Menschen gestorben ist, die mit dem Tode konfrontiert sind, ist primär diese Göttin. Der Mythos von ihrem Tod und ihrer Wiederbelebung verdeutlicht nicht nur die ambivalente Position der Göttergestalt Ištar im kosmischen Gefüge von Himmel, Welt, Unterwelt als getrennte Bereiche für Götter und Menschen: Er relativiert auch die Idee vom unsterblichen Gott und sterblichem Menschen. Die Göttin wurde Teil der Unterwelt und konnte sie doch durch Magie und einen äquivalenten Ersatz überwinden. Das beweist, daß Magie Sinn macht und dieses Verfahren in der Weltordnung vorgesehen ist. Aber diese Göttin zieht damit ebensoviel göttlichen Glanz auf sich wie menschliches Versagen, da es ihr nicht gelungen ist, aus eigener Kraft die Unterwelt zu beherrschen. _______________ 96

Vgl. ausführlich MAUL, Zukunftsbewältigung, 85–93.

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In ihrer eigenen Vernichtung und der Überwindung der Unterweltmächte äußert sich das Besondere dieser Göttin. Sie vereinigt in sich die stärksten Widersprüche, die keinem anderen Gott eignen und nur für sie bezeugt sind, während sonst alle Machtbefugnisse und Fähigkeiten auch allen anderen Göttern zugeschrieben werden.97 In Hymnen wird nur ihr die Gabe zugesprochen, alles willkürlich umzuwandeln, zu verändern und wieder recht zu setzen. Sie ist diejenige, die niederreißt und wieder aufbaut, die erlöst und straft und auch diejenige, die Männer in Frauen verwandelt und Frauen in Männer. Mit dieser Macht wird der kriegerische Feind des Königs in Fluchformeln depotenziert.98 Obgleich die Göttin alle göttlichen Potenzen besitzt, kann sie doch in Mythen und Epen wie ein Mensch vergewaltigt und beschimpft werden. Ihre Degradierung wird nicht nur in dem grade zitierten Unterweltmythos geschildert, sondern auch im Gilgameschepos und in dem Literaturwerk „Inanna und Šukaletuda“.99 Im Rahmen ihres Kultes finden singuläre Riten statt. Anders als bei anderen Kultabläufen sind ihre Riten unter Beteiligung von Frauen und Männern, die sich möglicherweise aus einem Teil der Bevölkerung rekrutieren. So gibt es Prozessionen, die in die Außenbezirke der Siedlungen gehen und dann typische Kennzeichen des Eintritts in die „Verkehrte Welt“ zeigen.100 Weinen, Mutilation, ekstatische Tänze und Verkleidungsriten gehören zum Schaubild dieser Veranstaltungen. In mehreren Hymnen an die Göttin wird beschrieben, wie Frauen sich wie Männer kleiden und Männer wie Frauen. Frauen erhalten die Waffen der Männer und Männer die Kosmetika der Frauen.101 Im Gefolge dieses Zuges agiert auch das besondere Kultpersonal der Göttin, die kurgarru und assinnu. Diese beiden versinnbildlichen – wenn _______________ 97

Ausführlicher GRONEBERG, B., Art. Inanna/Ištar: Hermaphroditos; s. HARRIS, R., Gender and Aging in Mesopotamia. The Gilgamesh Epic and other Ancient Literature, Oklahoma 20032, 158–171. 98 CAD S 286 sub sinnišƗni und GRONEBERG, B., Die sumerische Inanna/Ištar: Hermaphroditos?, WdO 17 (1986) 25–46, hier 40 mit Anm. 91. 99 VOLK, K., Inanna und Šukaletuda. Zur historisch-politischen Deutung eines sumerischen Literaturwerkes (SANTAG 3), Wiesbaden 1995. 100 JEBENS, H., Art. Verkehrte Welt, HRWG, 323–327, hier 323 beschreibt die Darstellung der Verkehrung: „Das Mittel der Verkehrung wird häufig bei der Darstellung von Sphären verwendet, die sich außerhalb des gewöhnlichen Erfahrungsbereiches befinden, sei es außerhalb der eigenen Kultur oder außerhalb der Welt der Lebenden“. Wenden wir diese Idee auf die Verkleidungsriten im Umfeld der Ištar an, so könnten sie zu einem Zeitpunkt aufgeführt werden, an dem eine kollektive Klage durchgeführt wird mit einem kathartischen Akt, der von einer lebensbedrohenden Situation oder einer solchen Vorhersage befreit. 101 Ausführlich GRONEBERG, B., Lob der Ištar. Gebet und Ritual an die altbabylonische Venusgöttin. Tanatti Ištar (CM 8), Groningen 1997, 27 Kol. II Z. 5–9.

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auch z. T. unter anderen Namen102 – die beiden Zwischenwesen, die der Schöpfergott im Mythos von Ištars Unterweltgang schuf, als er sie mit Heilwasser in die Unterwelt sandte: Es sind Grenzgänger zwischen den Bereichen Welt und Unterwelt. Der Schöpfergott formte sie aus dem Schmutz seiner Nägel. Sie sind wohl auch als schmutzige Materie aufzufassen, mit der sich die Göttin allenthalben abzugeben scheint. Und dennoch ist diese Göttin Teil des Götterhimmels. Sie ist – wie Lamaštu – Tochter des obersten Himmelsgottes Anu (oder des Mondgottes) und sie gilt als Zwillingsschwester des Sonnengottes. In manchen Epochen ist sie in zentraler Weise an der Bewahrung der königlichen Macht beteiligt. In dieser Funktion teilt sie – zumindest in mythologischer Sprache – das Lager des Königs und berät ihn in seinen Amtsgeschäften. Sie bestimmt Fruchtbarkeit für das Land und die Menschen.103 VI.2. Ištar als Morgen- und Abendstern Als Venusstern erscheint sie nach ihrer langen und kurzen Unsichtbarkeitsphase an zwei verschiedenen Orten, einmal im Westen und einmal im Osten. Die Mesopotamier, die Venusepiphanien nicht berechnen konnten, aber sie sehr genau beobachteten,104 bezeichneten zumindest im ersten Jahrtausend eine der beiden Venusauftritte als männlich und die andere als weiblich.105 Doch ist die genaue Zuweisung nicht einheitlich. Im 1. Jahrtausend werden verschiedene Kultmanifestationen der Ištar als „Ištar mit dem Bart“ gekennzeichnet. König Assurbanipal verehrte eine dieser Ištargestalten in Niniveh, die BƝlet-Ninua,106 die wie Aššur einen Bart trage.107 Schon weiter oben zitiert wurde eine Passage aus dem NanƗya-Hymnus, wo eine Ištar von Babylon mit Bart von der weiblichen Göttin von Uruk unterschieden wird. An anderer Stelle wird sie im glei_______________ 102

GRONEBERG, Hermaphroditos, 33–37. Zur Diskussion der Quellen FRITZ, M.M., „…und weinten um Tammuz“. Die Götter Dumuzi-Ama’ušumgal’anna und Damu, Münster 2003, 303–342. 104 Die frühesten Venusbeobachtungen stammen aus der Zeit des altbabylonischen Königs Ammisaduqa und gehören zu den frühesten erhaltenen schriftlichen Gestirnsbeobachtungen, zu ihnen s. REINER, E., Babylonian Planetary Omens. Part One. Ennjma Anu Enlil. Tablet 63: The Venus Tablet of Amnisaduqa (BiMes 2 Fascicle One), Malibu 1975. 105 Referenzen bei REINER, E., Astral Magic in Babylonia. Transactions of the American Philosophical Society Held at Philadelphia for Promoting Useful Knowledge, Volume 85, Part 4, Philadelphia 1995, 6 mit Anm. 14. 106 Zu dieser Göttin s. DA R IVA, R./FRAHM, E., Šamaš-šum-ukin, die Herrin von Ninive und das babylonische Königssiegel, AfO 46–47 (1999/2000) 156–182, hier 170– 175 mit Anmerkungen; zu KAR 307, Vs. 19–21 s. L IVINGSTONE, A., Court Poetry and Literary Miscellanea (SAA 3), Helsinki 1989, No. 39. 107 LIVINGSTONE, Court Poetry, Nr. 7, Z. 6ff. 103

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chen Text aber auch „junge Braut (: kallatu) von Babylon“108 genannt und damit – trotz Bart – den schönen jungen Mädchen zugeschrieben. Damit wird auf der konkreten Bildebene diese Göttin als weiblich typisiert und zugleich auch als typisch männlich.109 Die Zeichen des Weiblichen und des Männlichen, Brust und Bart, können kaum anders als Symbole für männliche und weibliche Fruchtbarkeit gedeutet werden. Zeugungsfähige Männer konnte man in der mesopotamischen Ikonografie dadurch von Eunuchen unterscheiden, daß sie einen Bart trugen. Eunuchen hingegen werden gelegentlich mit solch pointierter Brust gezeichnet, daß es fast dem weiblichen sekundären Geschlechtsmerkmal gleichkommt.110 So scheint es sehr wahrscheinlich, daß die Göttin nicht nur als Entscheidungsträgerin den Bart trägt, sondern außer der Weiblichkeit auch die männliche Fruchtbarkeit hütet. Inwieweit dieses Phänomen des doppelten Geschlechts tatsächlich an ihre binäre Venuserscheinung gebunden war, wie die antiken Astronomen des 1. Jahrtausend andeuten, wird nirgendwo erläutert. Opfer an beide Venuserscheinungen im Osten und im Westen, leider ohne spezifische Kennzeichnung als männlich und weiblich, sind schon seit dem Auftreten von Keilschrifttexten im 3. Jahrtausend in Uruk bezeugt.111 Tiefer liegende und meines Erachtens auch nahe liegende Deutungen, daß sie durch Ekstasen und Geschlechtsumwandlungen aus der Welt hinaus in die unwirkliche Welt der Unterwelt führt und dabei selbst ihr eigenes Geschlecht wechselt, werden jedoch nirgendwo formuliert. So bleibt es vorerst Hypothese, daß die Allmacht der Göttin über das Geschlecht im Zusammenhang mit ihren irregulären Abwesenheitsphasen als Venusstern interpretiert wurde. Denn in Analogie zum nächtlichen Lauf des Sonnengottes, der als ihr Zwillingsbruder bezeichnet wird, könnte man vermuten, daß auch sie die Unterwelt passiert, sich dort aber für eine unberechenbare Länge der Zeit aufhalten muß. Erst nach mehreren Tagen oder Monaten erscheint sie wieder am Himmel – und dann an der anderen Seite der Erde aus der Sicht der Beobachter.

_______________ 108

REINER, Nanâ, 226, Z. 27. Als bildhafte Darstellung der männlichen Ištar wertete REINER, Astral Magic, 5 oben die Abbildung der Göttin auf Siegeln, auf denen sie einen Bart zu haben scheint. 110 Vgl. die Darstellung des Personals in der sogenannten „Gartenszene des Assurbanipal“ in HROUDA, B. (Hg.), Der Alte Orient. Geschichte und Kultur des alten Vorderasien, Gütersloh 1991, 354–355 und ebenfalls die Darstellung der Königin! 111 Vgl. SZARZYNSKA, K., The Cult of the Goddess Inana in Archaic Uruk, in: ASHERGREVE, J. (Hg.), NiN. Journal of Gender Studies in Antiquity. Vol. 1, Groningen 2000, 63–74. 109

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VI.3. Ihre dämonenhaften und unreinen Konnotationen In dem schon mehrmals zitierten NanƗyahymnus wird Ištar mit ungewöhnlichen Titeln belegt: „Ich bin Tochter von Ur, Königin von Ur, Tochter des erhabenen Sin. 112 Hexe [sƗhirtu: die Umkehrerin] bin ich, die alle Häuser betritt, 113 bin ich, die Kultriten garantiert, die den Jüngling fortnimmt in [qadištu: Hebamme] der Freude seiner Wollust, 114 und die das junge Mädchen aus seinem Schlafgemach herausholt.“

Der Terminus qadištu wird heute als Hebamme gedeutet. Damit handelt es sich um eine Frau, die mit unreinen Materien zu tun hat, mit dem Blut und den Aussonderungen gebärender Frauen.115 Auch der Titel harimtu ist im NanƗyahymnus für die Ištar bezeugt (s. weiter oben). Harimtu bezeichnet aufgrund des Kontextes in Gesetzestexten eine vogelfreie Frau116 im guten wie im schlechten Sinn, die ohne Schutz eines „Hauses“, dem Gewerbe der Prostitution nachgehen mußte. Die Beschreibung ihres unheilvollen Agierens verbinden die Ištar mit weiblichen Dämoninnen, die ihr Unwesen in den Kammern der Mädchen und Jungen treiben.117 Diese spezifische Klasse von Dämoninnen, die Windmädchen oder LilûDämonen, von denen es auch männliche Varianten gibt, haben die Unterbindung der Fruchtbarkeit als Aufgabe.118 Sie bedrohen die Menschen schon vor dem Moment, an dem Lamaštu dann im Kindbett die Wöchnerinnen und Kinder ergreift. Die Windmädchen erobern die Häuser durch Türöffnungen und Fenster, sie setzen sich auf den Stuhl des Mannes oder Mädchens und sie besetzen Fuß, Hand und Körper des Befallenen, die sie zu ihren eigenen machen.119 Nur mit Beschwörungen können sie durch analogen Gegenzauber und Einwirken ihres Zwillingsbruders Namtar aus dem Körper der Kranken entfernt werden.

_______________ 112

Zu sƗhirtu s. CAD S 60. Auch Lamaštu wird als qadištu bezeichnet, s. AHw 891 sub 4 c). 114 REINER, Nanâ, 224, Z. 6–8. 115 STOL, M., Birth in Babylonia and the Bible. Its Mediterranean Setting (CM 14), Groningen 2000, 116. 116 Ausführlich in ASSANTE, J., The kar.kid/harimtu, Prositute or Single Woman? A Reconsideration of the Evidence (UF 30), Münster 1999, 5–96. 117 So schon REINER, Nanâ, 233 zu Strophe I. 118 FARBER, W., Art. Lilû, LilƯtu, Ardat-lilî, RlA 7 (1987–90) 23–24. 119 VON WEIHER, E., Spätbabylonische Texte aus Uruk II. Ausgrabungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Uruk-Warka 10, Berlin 1983, Nr. 6 und 7. 113

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Diese Dämoninnen werden als schöne und mädchenhafte Gestalten beschrieben, die frustrierte, sex- und empfindungslose Wesen sind. Sie verkehren das Bemühen der Ištar um Fruchtbarkeit ins Gegenteil. Bisher wurde keine Darstellung von ihnen sicher identifiziert.120 VI.4. Ardat-Lilî oder Kilili? Die „geflügelte Göttin“ auf dem Burney-Relief Siehe Abb. 2: Das Burney-Relief

Allerdings vermutete E. Porada, daß das Burney-Relief die Dämonin Ardat-Lilî: „Windbraut“ zeige,121 während Wiggermann dafür die Göttin Kilili vorschlug,122 „since the Burney relief on which she appears is a cult relief and LilƯtu has no cult“.123 Zwei in Größe und Motiv vergleichbare Reliefs aus der Stadt Ur, die auch aus der altbabylonischen Zeit stammen, zeigen, daß solche Reliefs den Eingang einer Kapelle vor Dämonen bewachten und damit als eine weniger monumentale Art von apotropäischen Reliefs anzusehen sind. Damit wird Wiggermanns Einwand entkräftigt: Im Prinzip könnten beide Wesen, Kilili und Ardat-Lilî, auf apotropäischen Reliefs dieser Art abgebildet sein. Die Grösse dieser Reliefs richtet sich wahrscheinlich nach der Funktion des Bauträgers. Das Burney-Relief ist etwa 50 cm hoch und stammt aus dem Kunsthandel. Es wird in die altbabylonische Zeit datiert und zeigt eine Gestalt, die in der Symbolsprache dieser Zeit durch die mehrfache Hörnerkrone als große Göttin gilt. Sie hat einen mädchenhaften Frauenkörper, dazu aber Flügel und Krallenfüße, die auf zwei liegenden Löwen ruhen. In beiden Händen hält sie die Herrschaftssymbole des Königs, Ring und Stab, die Ištar oder andere Herrschergötter dem König zu übereignen pflegen. Zu beiden Seiten ihrer Füße stehen Eulen.

_______________ 120 Zu den geflügelten Göttinnen, s. B ARRELET, Plaquette, zu ihrer Beschreibung und Deutung des Burney-Relief ibid. 291–293. Interessant ist ibid. 289 Abb. 6 die Erwähnung einer ikonografisch sehr ähnlichen Plakette aus Ur, die ein Federgewand trägt, eine hohe Hörnerkrone, die Arme und leeren Hände aber begrüßend/segnend vor der Brust erhoben hat: Größenangabe: 0,115m! 121 P ORADA, E., Art. Lilû, LilƯtu, Ardat-Lilî, RlA 7 (1987–90) 24–15, hier 25a – so auch GRONEBERG, Lob der Ištar, 129f. 122 E. VON DER OSTEN-SACKEN, Burney-Relief, lehnte beide Deutungen ab und vermutete die Unterweltherrin Ereškigal. Sie schloß sich damit eng an an P ORADA, Iconografy, 266: „... may be identified with the female ruler of the dead or with some other major figure of the Old Babylonian pantheon“. 123 W IGGERMANN, Art. Mischwesen, 241a.

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Auf anderen Darstellungen dieses Typs fehlen die Löwen und ihre Attribute bestehen aus Schildkröten, Ibexen oder Phalli, die allesamt als Fruchtbarkeitssymbole gelten.124 Sie trägt ein aufwendiges Halsband aus eierförmigen Perlen. Wie schon von anderer Seite vermutet, paßt das Aussehen dieses Schmucks zu Beschreibungen des typischen Halsbands der Inanna/Ištar,125 wie auch die Löwen in dieser Zeit nur als ihre Attributtiere gelten. Die Bildchiffrierung des Burney-Reliefs weist deshalb auf die siegende, die Herrschergewalt austeilende Manifestation einer Göttin hin, die durch die Löwen und wohl auch das Halsband als Ištar gekennzeichnet wird. Durch die Herrschaftsinsignien, die sie wegen der frontalen Perspektive sogar zweimal trägt und ihrer hohen Gotteskrone, der Hörnerkrone, wird auf sie als machtvolle große Göttin hingewiesen. Dennoch ist diese Göttin teilweise anthropomorph und teilweise theriomorph gestaltet, da sie Flügel hat und Krallenfüße, eine ungewöhnliche Darstellung für die Ištar. Für diese nichtanthropomorphe Ištar liegt die Annahme einer Hypostase als bildhafte Betonung eines oder mehrerer ihrer Fähigkeiten nahe. Durch die attributiv rechts und links der Beine angebrachten Eulen bot sich die dämonenartige Göttin Kilili an.126 Das sicher lautmalende Wort kilili (kulili) bezeichnet _______________ 124

Zu Abbildungen der geflügelten Göttin mit Hörnerkrone auf Ibexen oder Schildkröten GRONEBERG, Lob der Ištar, Abb. 226–227. Die Phalli sind auf zwei Plaketten aus Nippur, MCCOWN, D.E./HAINES, R.C./HANSEN, D.P. (Hg.), Nippur I. Temple of Enlil, Scribal Quarter and Soundings (OIP 78), Chicago 1967, Pl. 134: 8, deutlich zu sehen, wo allerdings die Terrakotte nur halb erhalten ist, so daß unsicher bleibt, ob die dargestellte geflügelte Gestalt mit Hörnerkrone ausgezeichnet ist. Neben dem linken Knie sind aber Reste von Flügeln deutlich zu erkennen. Diese und die Plakette ibid. Pl. 127:6 werden schon bei B UCHANAN, Snake Goddess, 5, Anm. 28 erwähnt. Das andere bei ihm aufgeführte Beispiel ist fraglich, da keine Flügel zu sehen sind. 125 J ACOBSEN, T H., Pictures and Pictorial Language (The Burney Relief), in: M INDLIN , M. et.al (Hg.), Figurative Language in the Ancient Near East. Schools of Oriental and African Studies, University of London 1987, 1–12, hier 10 Anm.22. 126 E. VON DER OSTEN-SACKEN, Burney-Relief, 481f., bezweifelt die Identifizierung des gleichnamigen Kilili-Vogels mit der Eule. Die lexikalischen Gleichungen MSL 8/2: 147 setzen die Nin-ninna mit der Kilili gleich, s. schon JACOBSEN, Pictorial Language, 9 Anm. 16 und Nin-ninna mušen wird als isLsLur lemutti: „unheilvollerVogel“ bezeichnet (Belege s. CAD E eššebu, 370). Eššebu wird in den lexikalischen Listen nach dem Vogel qadû geführt, der aufgrund seiner Laute (CAD Q 51) als „owl“ angesehen wird und dem in Texten ebenfalls unheilvolle Konnotationen zugeschrieben werden. Die Belege sprechen alle für eine Identifizierung der Eulen mit der Kilili und diese wird durch diese Attributtiere hier mit unheilvollen Vorzeichen belegt, die ihr auch zukommen, da sie Strafaktionen „im Namen der Ištar“ ausführt. Der nur zweimal in der Omenserie šumma Ɨlu aufgeführte Vogel enšubu/enšnjpu könnte durch die Gleichung mit hebräisch janšop als „Ohreneule“ zu identifizieren sein (s. AHw 220, CAD E 172) und müßte dann als ungewöhnliche Schreibung für eššebu gelten.

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einen Vogel, der nachts unterwegs ist, was die Auswahl an Vogelarten drastisch einschränken dürfte.127 Nicht zuletzt aufgrund dieses Reliefs wurde vermutet, der Vogel Kilili meine eine Eulenart, und die Göttin des Burney-Relief sei Ištar als (nächtlich tätige Eulen-) Göttin Kilili.128 Durch lexikalische Gleichungen ist nicht zu bezweifeln, daß die Namen ab-ba-šú-šú/ba-ri-ri-tum/kilili eine einzige Götterperson meinen. Sie alle gelten auch als lilû: „Winddämon“, der durch Fensteröffnungen in die Behausungen der Menschen eindringt. Titel der kilili-Dämonengöttin ist: „die Königin der Fensteröffnungen, kilili, die sich Hinablehnende der Fenster“.129 Wegen dieser Charakterisierung wird der Kilili ebenso wie den Winddämonen ein Bezug zu nächtlichen Strafaktionen nachgesagt. In dem nachaltbabylonischen Hymnus auf Ištar als Šarrat-Nippuri: „Herrin von Nippur“,130 bestraft die Göttin Ištar einen etLlu: „Edlen“, der ihre Kulte mißachtete. Sie brüllt über ihm wie ein Sturm. Er wird daraufhin von seinen beiden Schutzgöttern verlassen und strafend verfolgt von der Göttin Kilili: 131

„Abbašušu (=Kilili), die die Schlafzimmer überprüft, beugte sich bösartig ins Fenster, und sie hörte ihn! Schreckensstarre goß sie aus über ihn [...] er ist totenstill. Dann setzte sie die Dämonin barirƯtu (= Kilili) als seinen rƗbisu (“Greifer") gegen ihn ein...“.

Der Kontext legt nahe, daß die Manifestierung der Ištar als Kilili und Winddämonin dann stattfindet, wenn man ihre Kulte mißachtet oder zerstört hat. Dann bricht sie als rächende Dämonengöttin zu einer Strafaktion auf, wie es schon in den Hymnen „Nin-me-šár-ra“ der altbabylonischen

_______________ Daraufhin weist der Beleg aus der Omenserie šumma Ɨlu CT 40, 43, 39: „šumma kilili ina qnjlti mnjši ina tarbasL amƝli…: Wenn ein kililu-Vogel in der Stille der Nacht im Hof eines Menschen...“. Wenn man der Bildchiffrierung des Burney-Reliefs nicht glaubt, bliebe völlig unklar, welcher Nachtvogel mit dem Vogel kililu sonst gemeint sein könnte. 128 CAD K S. 357 und zweifelnder LAMBERT, W.G., Art. Kilili, RlA 5 (1976–80) 591, hier 591a. Ausführlich dafür spricht sich J ACOBSEN, Pictorial Language, aus und auch DA R IVA und FRAHM, Šamaš-šum-ukin, 178 unter Diskutierung einer Anzahl wichtiger Belege zur Funktion der Göttin vertraten die Ansicht, daß „Kilili letztlich eine Ištarhypostase“ sei. 129 d [ ki]-li-li šarratu ša apâti dki-li-li mušƯrtu ša apâti, s. CAD K kilili, S. 357 sub 2. „female demon“. 130 LAMBERT, W.G., The Hymn to the Queen of Nippur, in: VAN DRIEL, G. et al. (Hg.), Zikir Šumim. Assyriological Studies Presented to F.R. Kraus on the Occasion of this Seventieth Birthday, Nederlands Instituut voor het Nabije Oosten, Leiden 1982, 173– 218, hier, 194–195, Z. 19–20. 131 Die Bedeutung von aptiš ist „in das Fenster“, nicht „aus dem Fenster“, contra VAN DER OSTEN-SACKEN, Burney-Relief, 482b unten. 127

mušen

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Zeit anklingt.132 Ihre institutionelle Nähe auch zu den Winddämoninnen geht aus einem Klagelied hervor, in dem sie als dLíl-la-en-na: „göttlicher Winddämon der Steppe“ angerufen wird.133 Hier wird sie mit dem Gottesdeterminativ als göttlich gekennzeichnet, das bei den Ardat-Lili-Dämoninnen fehlt, zu deren Familie die Lilû aber gehört. Als Kilili/Lilû-Dämon wird die große Göttin nicht in ihrer Stellung als Herrin im Pantheon der Stadt angesprochen, sondern erhält einen dämonenartigen Bewegungsspielraum. Sie, die Geschändete, ist ebenso wohnungslos wie ein jeder Toter, der bei der Einnahme einer Stadt getötet und nicht bestattet wurde. Die Größe und die Gestaltung des Burney-Reliefs lassen auf ein apotropäisches Relief schließen, das die Unheilaktionen dieser Dämonin verhindern will.

VII. Ausblick Die unheimliche Seite der Ištar ist in enger Nähe zu ihrem langen Aufenthalt in der Unterwelt zu sehen. Das äußert sich definitiv durch ihre Tempelkulte in der Stadt Dunni-sLƗ´idi, wo sie mit der BƝlet-sLƝri, der „Herrin der Steppe“ gleichgesetzt wird.134 Es kann wenig Zweifel herrschen, daß Kontext gebunden, die vielseitigen Aufgaben der Göttin in Hypostasen verlagert werden, die als selbständige Wesen mit eigenem Namen agieren, dennoch aber als Teil dieser Göttin begriffen werden. Semantisch erfüllen Botengötter die gleiche Funktion, erhalten aber – vielleicht aufgrund ihrer weniger unheilbringenden Aufgabenstellung – eine menschlichere Gestaltung. Es wird noch zu untersuchen sein, welche Werte im ikonografischen Zeichensystem vermittelt werden sollen: Gefährlichkeit und Bedrohung scheinen durch Zeichen ausgedrückt zu werden, die bei der Dämonengöttin Lamaštu als Häßlichkeit, Schmutzigkeit und Bedrohlichkeit der meisten Tierteile ihres Körpers zu verstehen sind. Das Häßlich-Absurde der Gestalt verweist sie in die Kategorie „Nicht-Menschen-ähnlich“. Diese Kategorie kann aber positiv wie negativ bewertet werden, denn sie kann als göttliche Überhöhung oder unheilvolle Degradierung gedeutet werden. Göttlichkeit _______________ 132

ZGOLL, A., Der Rechtsfall der En-hedu-Ana im Lied nin-me-šara (AOAT 246), Münster 1997, S. 18–19 Z. 9–13 und Z. 27–29 mit Kommentar zu diesen Zeilen. 133 COHEN, M., The Canonical Lamentations of Ancient Mesopotamia. Vol. I and II, Potomac 1988, 651 Z. 6f. und S. 662 Z. 6: dlíl-lá-en-na gašan-tùr-amaš-a-ke4: „Lillaenna, die Herrin des Viehhofes und des Schafstalls, Mutter des Hauses...“ (Die Version stammt aus dem 1. Jahrtausend, die altbabylonische Version ist abgebrochen). 134 GEORGE, House, Nr. 462: „Haus des Überflusses der Ištar“: Ištar als Göttin Ulsigga in der Stadt Dunni-sƗ´idi (sonst dort als BƝlet-sLƝri bezeugt).

Aspekte der „Göttlichkeit“

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beinhaltet im Zeichensystem des Anderen beides: „Menschennähe“ und „Nicht-Menschlichkeit“. Darum ist die Tierhaftigkeit von mesopotamischen Göttern an sich auch kein Degradierungsmuster. Im schriftlichen Zeichensystem werden Götter in der Regel durch das Gottesdeterminativ gekennzeichnet, das gelegentlich aber auch bei Herrschergöttern textgebunden fehlen kann.135 Es fragt sich, welche Art von „Göttlichkeit“ die Kennzeichnung von Menschen (Königen), Abstrakta (Göttern) und Dingen (Symbolen) durch das Determinativzeichen tatsächlich gemeint ist. „Heiligkeit“ und „sakraler Gebrauch“ sind sicherlich Teile der „Göttlichkeit“. Sie sind durch ihre kultische Funktion determiniert. Ein weiteres distinktives, aber nur ideologisch-mythologisches Teil von „Göttlichkeit“ liegt in der den Göttern, Botengöttern136, aber auch anderen Zwischenwesen,137 zugeschriebenen Fähigkeit, sich zwischen den Weltbereichen – Himmel, Unter-, und Menschenwelt – unbeschadet hin- und herbewegen zu können, selbst wenn sie zeitweise in der Unterwelt paralysiert werden, „gestorben“ sind. Hier ist sicherlich festzuhalten, daß der Begriff des „Todes“ im Sinne von Gestorbensein (Totsein) kulturell sehr verschieden definiert wird. In Weltsichten, in denen die Welt der Toten als Teil der Welt der Lebenden begriffen wird, wie in Mesopotamien, ist die Grenze zum Tod nichts Endendes. Die Grenze markiert den Übergang in eine andere Daseinsform. Deren Anderssein ist aber ein schwaches Spiegelbild der grade verlassenen Lebensform und darum eine Fortsetzung des Lebens mit minderer Qualität. Insofern ist die Endgültigkeit des Sterbens und die Dauer des Lebens sehr relativ: In Mesopotamien ist sie abhängig von der Erinnerung, dem sozialen Kontext, in den der Mensch hineingehört. Vor diesem Hintergrund sollte über die „Unsterblichkeit“, die zum Wesen eines Gottes gehört, nochmals nachgedacht werden.

_______________ 135

Zum Beispiel passim im Agušayahymnus, s. GRONEBERG, Lob der Ištar, 75–83. Zum Beispiel Namtar, der Botengott der Ereškigal und Ninšubur, der Bote der Ištar, vermutlich aber jeder Bote eines Gottes, der sich mit der Unterwelt beschäftigt. 137 Darunter sind sowohl die Geister der unglücklichen Toten zu verstehen als auch Heil- und Unheildämonen. 136

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Brigitte Groneberg

Abb. 1: Eine apotropäische Plakette gegen Lamaftu (nach der Internet-Vorlage http://ccat.sas.upenn.edu/ ~humm/Topics/Lilith/burnLi2c.html)

Aspekte der „Göttlichkeit“

Abb. 2: Das Burney-Relief (nach N. Heeßel, Pazuzu, Tf. 30.)

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Kulttopographie und Kultabläufe in mesopotamischen Tempeln: drei Beispiele ASTRID NUNN

Einleitung In sämtlichen antiken polytheistischen Gesellschaften strukturieren die Götter den Kosmos, den Staat, die Gesellschaft und das Schicksal des einzelnen Menschen. Um diese Ordnung zu bewahren, müssen Riten und Zeremonien stattfinden. Private Gottesergebenheit und individuelle Frömmigkeit waren sehr wichtige Momente des religiösen Lebens. Noch wichtiger aber waren öffentliche Kultakte. Die Analyse der kultischen Kalender zeigt, daß es im Alten Orient unzählige große und kleine Feste gab1. Sie trugen je nach Ort und Zeit unterschiedliche Namen. Diese konnten täglich stattfinden – etwa Opferdarbringungen –, wöchentlich – etwa Kulte, die mit dem Wachsen und Abklingen des Mondes zusammenhängen –, monatlich mit Kulten, die ebenfalls mondabhängig waren, oder schließlich jährlich. Der landwirtschaftliche Zyklus von Aussaat und Ernte, der Wasserstand der Flüsse, das Erscheinen und Verschwinden von Fixsternen, aber auch die Verehrung von Ahnen und der Herrscherkult bestimmten die Daten dieser Feste. Das größte nur einmal jährlich stattfindende Fest war das zumindest in der Spätzeit gut bekannte Neujahrsfest2. Heiligtümer waren aber auch außerhalb der zyklischen Feste Schauplatz großer Feiern. Einmalige, Anlaß zur Freude gebende Ereignisse waren etwa eine Königskrönung oder die siegreiche Heimkehr des Königs und seiner Soldaten3. Der König und/oder der Priester führten mit ihrem Stab die Kulthandlungen aus. Dazu gehörten die kultische Reinigung des Ortes, der Teilnehmer und ihrer Geräte, Weihungen, Salben von Tür und Gerät, Gebete, Lieder, Kla_______________ 1

Für die Ur-III-Zeit SALLABERGER, W., Der kultische Kalender der Ur-III-Zeit, Berlin, 1993. Für die altbabylonische Zeit RICHTER, T., Untersuchungen zu den lokalen Panthea Süd- und Mittelbabyloniens in altbabylonischer Zeit (AOAT 257), Münster 1999. 2 Für die Frühzeit s. SALLABERGER, Kalender, 305–311. Für die Spätzeit P ONGRATZLEISTEN, B., Ina šulmi Ưrub. Die kulttopographische und ideologische Programmatik der akƯtu-Prozession in Babylonien und Assyrien im 1. Jahrtausend v.Chr. (BaF 16), Mainz 1994. 3 SALLABERGER, Kalender, 156.

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gelieder, Musikspiele, Nahrungsmittelopfer, Rauchwerk, Bäder, das Pflegen der Gottesstatuen... Zahlreiche Textgattungen erwähnen solche Feste. Diese Texte sind wie viele in der altorientalischen Kultur sehr praktisch orientiert und bieten lapidare Notizen über die „Zutaten“ des Fests, nicht aber über die Örtlichkeiten. Verwaltungsurkunden geben uns einen Einblick in die Zahl der für die Opfer abzuliefernden Tiere. Dadurch gewinnen wir vielmehr Informationen über den Tempel- oder Palastwirtschaftsbetrieb. Lieder und Hymnen auf Götter, Tempel und Städte beschreiben die Tempel in blumigen, nicht historischen und teilweise stereotypen Worten. Bau- oder Weihinschriften von Königen geben Aufschluß über Erbauung, Restaurierung oder Weihung eines Tempels. Die in den sog. magischen Ritualen oder den Omina vorgeschriebenen Handlungen dienen unterschiedlichen Zwecken und bleiben ortsentbunden. Tempellisten schließlich nennen sämtliche Tempelteile nur mit ihrem Namen4. All die genannten Textgattungen geben keine oder nur sehr ungenaue Angaben über den Kult im Tempel. Etwas genauer werden die Schreiber ab dem 8. Jahrhundert v.Chr. und vor allem in der seleukidischen Zeit im 3. Jahrhundert v.Chr.5. Zahlreiche ausgegrabene Tempel zeigen, daß diese Kultplätze oft riesige Anlagen waren, in denen sich ein Großteil des städtischen Lebens abspielte. Von diesen Tempeln sind aber nur die Fundamente erhalten. Ihr Aufriß kann dank Abbildungen, etwa auf den Rollsiegeln, teilweise rekonstruiert werden6 (Abb. 1). Kulteinrichtungen und Inventare sind sehr fragmentarisch vorhanden. Zahlreiche Räume können nicht gedeutet werden. Diese Quellenlage erklärt, weshalb es kaum Studien über die Verbindung zwischen der aus Ausgrabungen erschlossenen Tempeltopographie und den aus (späten) Texten bekannten Kultabläufen gibt. Eine große Ausnahme ist die Arbeit von Beate Pongratz-Leisten über die Kulttopographie der Neujahrsfeste in Babylon und Uruk (Anm. 2). Ich werde in diesem Vortrag also versuchen, Tempelgrundrisse und -inventare mit den Informationen, die wir aus den Texten über Kultabläufe kennen, zu verknüpfen. Die gesamte sog. historische Zeit, also der Zeit_______________ 4 Bearbeitet von GEORGE, A. R., House Most High. The Temples of Ancient Mesopotamia, Winona Lake 1993. É.ì.gára.sù „House Filled with Butterfat“ (Dumuzi-Tempel in Ur?) heißt nicht, daß darin Butter aufbewahrt wurde, sondern ist eine Metaphore für Reichtum. Die damals teuren Milchprodukte dienten häufig als Bilder für Wohlstand und Schönheit. 5 Selbst in der Spätzeit gibt es sehr wenige Texte, die Informationen über den Kultablauf im Tempel liefern. Aus Sippar ist ein Text unter 35.000 Texten bekannt! Maul, S., Gottesdienst im Sonnenheiligtum zu Sippar, in: Minuscula Mesopotamica. FS J. Renger (AOAT 267), hg. von B. Böck/E. Cancik-Kirschbaum/T. Richter, Münster 1999, 285–86. 6 AMIET, P., La représentation des temples sur les monuments de Mésopotamie, in: VAN D ONZEL, E. et.al. (Hg.), Le temple et le culte, XX. CRAI , Istanbul 1975, 144–149.

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raum zwischen 3300 und dem Ende des ersten Jahrtausends v.Chr. bildet den zeitlichen Rahmen. Drei Beispiele werden jedoch etwas ausführlicher analysiert. Ein Beispiel stammt aus der Späten Uruk-Zeit (etwa 3200 v.Chr.), über die wir im Blick auf unser Thema so gut wie nichts wissen. In der Uruk-Zeit wurde die Schrift erfunden und somit erstmals sumerisch geschrieben. Das Geschriebene besteht aber ausschließlich aus Wirtschaftstafeln und Listen. Die zwei anderen Beispiele bringen die Beschreibungen von Kultabläufen in der neuassyrischen (7. Jahrhundert v.Chr.) und der seleukidischen Zeit (3. Jahrhundert v.Chr.). Die seleukidische Zeit ist der allerspäteste Zeitabschnitt, in dem noch akkadisch, die Nachfolgesprache von sumerisch, geschrieben wurde und der somit zur Altorientalistik gehört. Das hier behandelte geographische Gebiet entspricht dem Kernland der mesopotamischen Kultur, etwa dem heutigen Irak.

I. Der Tempel und seine Bauteile 1. Die Vorbereitungen zum Bau eines Tempels Weder im Sumerischen noch im Akkadischen gibt es ein Wort für Tempel. Die Götter wohnen in einem „É“ auf sumerisch und einem „bƯt“ auf akkadisch, also in einem Haus. Das lateinische „Templum“ stammt vom griechischen „temnein“ = schneiden, abgrenzen. Natürlich gab es auch im alten Orient den sakralen Raum, zu dem bebaute und unbebaute Flächen gehörten7. Er entsprach dem „Temenos“, in römischer Definition also „der durch den Stock des Auguren in der Luft gezeichnete Fläche, in der die Beobachtungen für die Auspizien stattfinden würde“. Der sakrale Raum trug nur keinen generischen Namen. Das für uns äußerst allgemeine Wort „Haus“ impliziert jedoch wie ganz allgemein in der arabischen Welt eine abgegrenzte und die Familie schützende Sphäre. In Assyrien ist die Bezeichnung „ekurru“ „Haus des Berges“ geläufig. Diese ist wiederum eine Anspielung auf den Urhügel, der als Geburtsstätte der Götter gilt8. Das Gotteshaus trägt, vergleichbar mit einer Kirche, einen eigenen Namen. Von den 1267 Tempelnamen, die Andrew George gesammelt hat, habe ich zwei ausgewählt (s. Anm. 4, Nr. 8 und 967): das frühe „Haus des reinen Wassers“ in Nippur und das späte „Haus, dessen Haupt hoch/erhöht ist“ (Marduks Tempel in Babylon). In ihren Häusern werden die Götter von den Menschen bedient, die zu diesem _______________ 7

Es gibt keine zusammenfassende Studie darüber. S. M ARGUERON, J. C., Prolégomènes à une étude portant sur l’organisation de l’espace sacré en Orient, in: ROUX, G. (Hg.), Temples et sanctuaires (TMO 7), Lyon 1984, 23–36. 8 PONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi Ưrub, 20, 56.

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Zweck erschaffen wurden. Sichtbar sind die Götter in ihren Statuen, die wie Menschen behandelt werden. Wie und womit wurde ein Tempel nun gebaut? Nach einem Text (ca. 2500 v.Chr.) sah der Enki-Tempel in Eridu folgendermaßen aus: „...da baute der Herr des Abzu, der König Enki, ...sein Haus ganz aus Silber und Lapislazuli. In Silber und Lapislazuli, die wie der Tag leuchten, ist das Haus im Abzu mit aller Schönheit geziert, ragt seine helle, kunstvolle Form aus dem Abzu auf: ...Aus Silber hat er das Haus gebaut, es mit Lapislazuli geziert, es großartig mit Gold überzogen, ...sein Mauerwerk ruft laut, ...seine Traufe brüllt wie ein Stier, ...dein (des Tempels) Verschluß ist ein furchtbarer Löwe, dein Dachbalken ein ‚Himmelsstier’ von leuchtender Form, kunstvoll gestaltet, dein Gesims ist aus Lapislazuli... 9 dein Tor ist ein Löwe, der Menschen angeht“ .

Natürlich wurden die Tempel weder aus Silber noch aus Lapislazuli, sondern aus gewöhnlichem Lehm gebaut. Der Neubau eines Tempels erforderte die Einhaltung zahlreicher Vorschriften. Der Opferschaupriester (bƗru) muß zunächst den günstigsten Zeitpunkt für den Tempelbau durch ein Ritual ermitteln. Danach können wir in einem neubabylonischen Text und zwei seleukidischen Texten die genaue Beschreibung eines geeigneten Opferrindes nachlesen. Nach zahlreichen Vorkehrungen wird es unter der Leitung des kalû-Priesters geopfert. Der Tempelbaumeister zieht ein reines Kleid an und nimmt einen Bleiring und eine Metallaxt in die Hand. Damit legt er den vom König geformten ersten Ziegel in ein Haus nieder, dessen Zutritt dem profanen Menschen verboten ist10. Nachdem der zukünftige Tempel geplant, an Ort und Stelle vermessen, offenbar zum Teil schon ausgehoben worden war, fanden Handlungen statt, die wir aus weiteren Texten kennen11. Drei Tage vor der Grundsteinlegung „gehst Du zu einer Lehmgrube, nimmst Lapislazuli, mischst Röstmehl und Emmerbier und wirfst (dies) in die Lehmgrube“. Dazu gibt es ein Beschwörungsritual. „2 Figuren aus Wacholderholz, 6 Figuren aus Eichenholz, 2 Figuren aus Zedernholz, 3 Figuren aus Tannenholz (und) 3 Figuren aus Wachs“ werden hergestellt. „Wo die Tür zur Zella sich öffnen soll, bestreichst Du einen _______________ 9

FALKENSTEIN, A., Sumerische und akkadische Hymnen und Gebete, Zürich 1953, 132–134. 10 T HUREAU-DANGIN, F., Rituels accadiens, Paris 1921, 1–59. 11 Ein Beispiel aus der Bibliothek Assurbanipals in: FARBER, W., Ritual für das Legen eines Tempelgrundsteins, in: Rituale und Beschwörungen I (TUAT II, 2), Gütersloh 1987, 241–244. Siehe Gudeas Zylinder A für ein sumerisches Beispiel.

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Doppelziegel mit Honig, Butterfett und Feinöl über und über und legst ihn hin. Dann stellst du sie (die Figuren) darauf. Die Wacholderholz-Figuren läßt du nach Osten blicken, die genannten (anderen) Figuren läßt du nach Westen blicken“. Dem folgen zahlreiche weitere Rituale, wo eine Kordel aus Rohwolle geknüpft oder das Maul eines Schafes mit Wacholder gewaschen wird oder noch Räucherbecken vor die Wacholderfiguren aufgestellt werden. „Dann stellst Du die Figur des Ninschubur her.... Einen Stab aus Gold läßt du sie in der Hand halten... Schließlich begräbst du ‚die eine Figur des Ninschubur’ unter dem (Cella-)Postament. Die 2 WacholderholzFiguren schmückst du mit weißer Wolle und begräbst sie im Tor der Cella. Die 6 Eichenholz-Figuren begräbst du in der Mitte des Hofes, die 2 Zedernholz-Figuren begräbst du im Tor des Speichers. Die 3 TannenholzFiguren begräbst du im innersten Tor, die 3 Wachs-Figuren begräbst du im äußeren Tor“. Diesem Text entnehmen wir, daß die Cella, also Gottes Zimmer innerhalb seines Hauses, am meisten geschützt werden soll. Erwähnt werden aber auch der Hof, der Speicher, das innere Tor und das äußere Tor. 2. Der Tempel Nachdem die notwendigen Kulthandlungen ausgeführt worden waren, wurde der Tempel gebaut. Ich stelle mir vor, daß mit seinen Außenmauern und der Hofabgrenzung begonnen wurde. Ziegeln wurden, wie teilweise noch heute, mit Modeln hergestellt. Die Dachabdeckung bestand wie bei Häusern aus Holzbalken, über die eine Strohmattenschicht ausgebreitet und darüber eine Lehmschicht gestrichen wurde. In zwei Cellae des altbabylonischen Inanna-KitƯtum-Tempels in NƝrebtum (Tell Išcali) wurden verkohlte Holzreste gefunden, die zu Dachbalken rekonstruiert werden können12. Der Begriff „Tempel“ wird immer problematischer je entfernter die Zeiten sind. Für Mesopotamien kann man von einem Tempel im Sinne eines gottgeweihten Hauses, wo dieser Gott auch verehrt wurde, ab der Frühdynastischen Zeit, also ab etwa 2800 v.Chr., ausgehen. Für den Zeitraum davor gestalten die sich ständig erneuernden archäologischen Erkenntnisse diese Frage immer schwieriger. Als in Uruk vor und nach dem ersten Weltkrieg die ersten großartigen dreigeteilten Bauten entdeckt wurden _______________ 12 Schicht IV, Zeit Ilbalpiels. II., ca. 1750, Ende der Larsa-Zeit. HILL, H. D./ J ACOBSEN, T., Old Babylonian Public Buildings in the Diyala-Region (OIP 98), Chicago 1990, 34–35, 52 und Tf. 12. Allgemeine Informationen über den Bau in AURENCHE, O., L’architecture du Proche Orient ancien des origines au milieu du quatrième millénaire (BAH 109), Paris 1981, 45–91.

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(Abb. 2), beeindruckten sie so sehr, daß sie automatisch als Tempel gedeutet wurden. Mit dem zeitgleichen Beginn der Schrift um 3300 v.Chr. habe es nunmehr eine stratifizierte Gesellschaft gegeben, deren religiöses Leben in der Pflege ihrer Götter in Tempeln bestand. Neue Überlegungen haben von diesen Vorstellungen Abstand nehmen lassen. Inzwischen weiß man nicht nur, daß die ältestbekannte, drei Jahrtausende ältere Architektur, also im 7. Jahrtausend in Sumer13, genauso aussieht, sondern, daß die dreigeteilten Bauten auch normale Wohnhäuser waren14. Die in Uruk gefundenen sogenannten „Pfannen“ (Abb. 2) wurden früher als kultische Einrichtung gedeutet, heute als Feuerstellen für die Vorbereitung von Mahlzeiten15. Zahlreiche Funde, die eindeutig mit dem normalen Alltag zu tun haben, wurden in diesen Uruk-Bauten gemacht. Auch gab es Speicher16. Dank der Aufnahme des urukzeitlichen Wortschatzes in eine elektronische Datenbank war es möglich, den Kontext, in dem das Wort É.GAL/Tempel, vorkommt zu analysieren17. Der am häufigsten vorkommende Kontext betrifft Getreide und Vieh. Seltener werden Kulthandlungen erwähnt. Ganz offensichtlich lenkte in diesen Bauten eine kleine Gruppe das Geschick der Stadtbevölkerung. Sie wurden vielseitig verwendet zu einem Zeitpunkt, wo Religöses und Politisch-Historisches noch eine Einheit bildeten. So gab es eine wirtschaftliche Verwaltung, es wurden politische Entscheidungen getroffen und religiöse Kulthandlungen vollzogen. Wie sie genau aussahen, entzieht sich unserer Kenntnis, da es darüber keine Texte gibt. Den urukzeitlichen Rollsiegeln können wir entnehmen, daß es zumindest kultische Prozessionen mit Opferbringern zu diesen Bauten gab. Die gebrachten Gaben müssen dann in Seitenräumen verstaut gewesen sein. In unserem heutigen Wortschatz ist diese Architektur sakral und profan zugleich, aber damit historisch gesehen falsch ausgedrückt. Deshalb falsch ausgedrückt, weil es eine Trennung zwischen Sakralem und Profanem noch nicht gab. Ich glaube, daß die Dreiteilung der ältesten sumerischen Architektur gleichsam einem „natürlichen“ Grundriß entspricht, weil ein strukturierter, aber nicht linearer, vielleicht sogar ein ziemlich „egalitärer“ Raum, den Menschen beim Betreten des Gebäudes links, geradeaus und rechts umgibt. J.-D. Forest hat vorgeschlagen, diesen Grundriß als räumli_______________ 13

In Tell el-Uweili, HUOT, J.-L. (Hg.), Larsa et ‘Oueili, Paris 1983 und 1987. DERS. (Hg.), Oueili, Paris 1991 und 1996. 14 Ein berühmt gewordenes Haus wurde von M. ROAF ausgegraben, Social Organization and Social Activities at Tell Madhhur, in: HENRICKSON, E.F./THUESEN, I. (Hg.), Upon this foundation, the ‘Ubaid reconsidered, Kopenhagen, 1989, 91–146. 15 HEINRICH, E., Tempel und Heiligtümer in Mesopotamien, Berlin 1982, 49, 85. 16 Z. B. in Tell Qannas, HEINRICH, Tempel, 52, 84. 17 CHARVÁT, P., On People, Signs and States, Prag 1998, 5, 23–40.

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che Wiedergabe von Familienstrukturen zu betrachten18. Wie auch immer, dieser Grundriß (und die Familienstrukturen) verschwindet im Laufe der frühdynastischen Zeit. Der ganz neue Grundriß, der ab 2100 Standard wird, spiegelt sicher eine neue Einstellung zum Sakralen (Abb. 3). Von da an wird der Mensch über die Abfolge eines Eingangstors, eines Hofs oder mehrerer Höfe zur Vorcella und schließlich zum Allerheiligsten geleitet. Er gelangt in einen dirigierten Raum, dessen Sakralität vom Eingangstor an immer dichter wird und in der Cella kulminiert, so wie die gesellschaftliche Hierarchie in den König mündet. a. Das Tor Kehren wir zu den Tempelteilen zurück. Ein Tor erlaubte den Übergang zwischen Sakral und Profan. Tore, ob Tempel-, Palast- oder Stadtmauertore, waren gefährliche Schwellen und deswegen im Alten Orient exponierte Bauten, die eines besonderen rituellen Schutzes bedurften. Auch sie trugen einen Namen. In einem sumerischen Götterlied heißen die Tore des von Urnammu gebauten DUR.AN.KI in Nippur das „Hohe Tor“, das „Große Tor“, das „Tor des Heils zum Stufengebirge“ und das „Tor des ungeschnittenen Getreides“19. „(Des Tempels) Türen sind hoch, voll der Pracht“ lesen wir im selben Lied. Das Tor zum Hof war zweiflügelig, denn das akkadische Wort daltu ist meist im Plural verwendet20. Die Türflügel sind in Holz, bisweilen auch in Zedernholz21 geschnitzt. Zahlreiche Textstellen zeigen die Notwendigkeit für einen guten Verschluß dieser Tore. „Der Verschluß ist ein furchtbarer Löwe“22; „Von seinen (E.ninus) Türangeln züngeln Giftschlangen und schreckliche Schlangen“23. Als die niedrigen Götter, die die großen Götter bedienen, wegen ihrer zu großen Arbeitslast zu streiken beginnen, wollen sie Enlil’s Tempel belagern und ihm ihre Unzufriedenheit kundtun. „Ekur (Enlil’s Tempel) ist umzingelt... Es merkte auf (der Türhütergott) Kalkal, ließ verschließen, faßte an den Riegel, prüfte das Tor“ heißt es im altbabylonischen Epos, in dem die Schöpfung der Menschen erzählt wird24. _______________ 18 FOREST, J.-D., Oueili et les origines de l’architecture obeidienne, in: HUOT, J.-L. (Hg.), Oueili, Paris 1996, 143–145. 19 „Lied auf Enlil mit Bitte für Urnammu von Ur“, in: FALKENSTEIN, Sumerische und akkadische Hymnen, 88. 20 CAD D, 53b, 54, 55a. 21 Gudea Zyl. A XXVI 20–21. 22 In der frühdynastischen „Hymne auf den Enki-Tempel in Eridu“, FALKENSTEIN, Sumerische und akkadische Hymnen, 133. 23 Gudea Zyl. A XXVI 22–25. 24 Z. 73–75, VON SODEN, W., Der altbabylonische Atramchasis-Mythos, in: Mythen und Epen II (TUAT III/4), Gütersloh 1994, 620.

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Es ist trotz miserablen archäologischen Befunds anzunehmen, daß sämtliche Tempel ein Tor besaßen, das das Tempelareal versperrte. Dazu waren Tempel zu heilig und zu reich. W. Andrae fand im Eingang des Anu-AdadTempels in Assur riesige basaltene Türangelsteine, in denen sich zwei sicherlich viele Meter hohe Türflügel drehten25. Sie waren das Werk des assyrischen Königs Salmanassars III. Eine andere Möglichkeit, den Tempel zu schützen, bestand darin, Tiere vor den Eingang zu postieren. Schon der Herrscher Gudea (um 2100) warnt vor dem „löwenähnlichen Drachen“26. Einige dieser Tiere wurden auch gefunden. Zu den berühmtesten ausgegrabenen gehören die zwei Paare, die in Tell Harmal, dem antiken Šaduppum, gefunden wurden. Der Tell Harmal liegt heute im südöstlichen Stadtgebiet von Bagdad. Diese in einem Guß zu Beginn des zweiten Jahrtausends v.Chr. geplante Stadt besaß mehrere Tempel. Einer unter ihnen ist ein Doppeltempel, der den zwei Gottheiten Nisaba (für Wissenschaft und Getreide) und Hani/Haya (Patron der Archive) gewidmet war. Der Haupteingang war mit Löwen flankiert, ebenso der Eingang der ihm gegenüber liegenden Cella im Haupthof. Diese Löwen sind aus gebranntem Ton. Sie sitzen auf den Hinterpranken, die Vorderbeine stehen, als ob der Löwe das Böse sofort anspringen wird. Ihr aufgerissenes Maul mit den genau ausgeführten Zähnen so wie die scharfen Krallen vollenden diesen Eindruck27. Weitere zeitgleiche Löwen, die Tempeleingänge bewachten, kamen in Babylonien und Elam ans Licht28. b. Der Hof Unter den großen Änderungen zu Beginn des 3. Jahrtausends fällt auf, daß die Tempel von nun an und für immer einen Hof (KISAL, KISAL.MAH/ Haupthof, kisallu) besitzen. In der Uruk-Zeit gibt es keinen Hof, der un_______________ 25 ANDRAE, W., Der Anu-Adad-Tempel in Assur (WVDOG 10), Leipzig 1909, 48–49 und DERS., Das wiedererstandene Assur, München 21977, 71, 73 mit Rekonstruktion der Tür, 214. Die computersimulierte Rekonstruktion eines Tempels in Assur kann jetzt im Vorderasiatischen Museum gesehen werden, J. M ARZAHN, Der „virtuelle Tempel“ von Assur, in: DERS./SALJE, B. (Hg.), Wiedererstehendes Assur, Mainz 2003, 192, 200–201 über Torsysteme. 26 Gudea, Zyl. A XXIV 18–19 „The two sides of the gates he set up like wild bulls, their dragons he made crouch on their paws like lions“ in der Übersetzung von EDZARD, D. O., Gudea and its Dynasty (The Royal Inscriptions of Mesoptamia. Early Periods vol. 3/1), Toronto 1997. 27 B AQIR, T., Tell Harmal. A Preliminary Report (Sumer 2), Bagdad 1946, 22–30. 28 SPYCKET, A., Lions en terre cuite de Suse (Iranica Antiqua XXIII), Mélanges P. Amiet, Gent 1988, 149–161. Weitere Löwen aus Khafagi, Tello, Isin, (SPYCKET, Lions, 155–156). Löwen vor Eingängen gab es wahrscheinlich schon in der frühdynastischen Zeit, s. Tell el-Obeid, HEINRICH, Tempel, 116. Ihre „Nachfolger“ sind die geflügelten Löwen wie im Ninurta-Tempel von Nimrud.

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mittelbar einem einzelnen Bau gehört. Einige Bauten sind mit Terrassen verbunden (Abb. 2). Auffällig ist ebenfalls, daß die urukzeitlichen Großbauten einzeln stehen, die frühdynastischen Tempel hingegen von Häusern umgeben sind, also im „Gewühl“ der Stadt verschwinden. Warum besitzt jetzt jeder Tempel einen Hof? Am Sîn-Tempel in HafƗ÷e kann man verfolgen, wie der Hof an Bedeutung gewinnt29. Führte der Platzmangel um den Tempel zu einer gleichsam „erkämpften freien Anlage in Form eines Hofs“30? Dagegen spricht jedoch, daß der SînTempel in HafƗ÷e von Häusern umgeben ist und trotzdem von Anfang an einen Hof besitzt. Eine zweite Möglichkeit – sie scheint mir besser – sehe ich in Verbindung mit der sich zu Beginn des 3. Jahrtausends vollziehenden Trennung von Religion und Politik. Von nun ab gibt es zwei Pole in einer Stadt. Dabei wissen wir über das Machtverhältnis zwischen Palast und Tempel nicht für jeden Zeitraum gut Bescheid. König und Klerus verfügen beide über Macht und Reichtümer, beide sind unentbehrlich und können in Konkurrenz stehen. Das religiös-kultische Leben läuft nunmehr vermutlich anders ab, in dem es eine eigenständige Einheit im städtischen Leben bildet. Der allmähliche Bruch zwischen sakral und profan hatte möglicherweise geregeltere Kulte zur Folge, mußten sich doch Klerus und König über ihre Befugnisse und ihre Rolle im Kult einigen. Da sich die kultischen Abläufe nicht alle in der Cella abspielen können, braucht der Tempel einen eigenen geeigneten Raum. Dieser wird der Hof sein. Während im dritten Jahrtausend Tempelhöfe noch unregelmäßig und oft klein sind, spiegeln im zweiten und ersten Jahrtausend regelmäßige Anlage und Größe ihre Wichtigkeit. Ein charakteristisches Beispiel liefert der altbabylonischen Inanna-KitƯtum-Tempel in NƝrebtum (Tell Išcali) (Abb. 4). Schon am Haupttor wurde mit Opfern und Libationen kultisch zelebriert. Rim-Sîns Frau RƯm-Sîn-Šala-bƗštašu – Rim-Sîn I. regierte 60 Jahre in Larsa vor und nach 1800 – weihte der Göttin Ištar ein steinernes Wasserbecken, damit am Eingang zu Ištar’s Tempel rituelle Waschungen für das Leben ihrer Tochter stattfinden konnten31. Danach betraten die Zelebranten den Hof. Zahlreiche Einbauten illustrieren Handlungen, die dort stattfanden und die in unzähligen Texten ohne Details erwähnt werden. Zunächst gibt es Wasser im Hof. Im Hof des beeindruckenden Tempel Oval (Abb. 5) in HafƗ÷e (frühdynastisch II-III) – nur er sei als Beispiel _______________ 29 HEINRICH, Tempel, Abb. 148 mit dem Zustand zu Beginn des 3. Jts und Abb. 151 um 2800. 30 HEINRICH, Tempel, 58–59. 31 FRAYNE, D., Old Babylonian Period (2003–1595 BC) (The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Early Periods vol. 4), Toronto 1990, 302–303.

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genannt – gibt es zwei Brunnen von 2,50m Durchmesser32. Neben diesen einfachen Brunnen gab es auch künstlerisch bearbeitete Wasserbecken. Der neuassyrische König Sanherib (704–681) versah seinen Anbau zum Assur-Tempel mit einem gewaltigen Basaltbecken. Dargestellt sind wasserspendende Götter an den Ecken und in jeder Seitenmitte sowie Priesterfiguren im Fischgewand zwischen ihnen33. Zahlreiche weitere Einbauten sind, neutral ausgedrückt, Basen. In der archäologischen Literatur werden sie als Altar (paššuru) oder als Postament (parakku) bezeichnet. Nach unserem Sprachgebrauch wird über einem Altar geopfert; ein Postament ist ein Sockel, auf dem ein religiöser Gegenstand steht. Beide sind in Mesopotamien aus Ziegeln gemauerte Einbauten und können äußerlich nicht auseinander gehalten werden. Da wir meist nicht wissen, was an diesen Einbauten stattfand, werde ich sie alle als Einbau bezeichnen. Die Hofeinbauten sind eckig oder rund und befinden sich unweit des Eingangs zum bedachten Heiligtum. So ist es z. B. im Sîn-Tempel in HafƗ÷e zu Beginn des dritten Jahrtausends34. Im etwas jüngeren Ištar-Tempel zu Mari befand sich vor dem Eingang zur Cella 17 ein „normaler“ 1,35m x 90cm großer (Opfer-)Tisch. Um die Ecke gab es einen 1,50m x 1,60m großen und 80cm hohen Einbau. Da dieser von Ascheschichten umgeben war, könnten hier Opferriten mit einem Verbrennungsakt verbunden stattgefunden haben. Noch gut erhalten in diesem Tempel ist die Entwässerung des Hofes. Der unterirdisch verlegte Kanal wurde aus Kalk- und Gipssteinen gebaut und abgedeckt. Er biegt nach Osten und verläuft unter dem Korridor und weiterhin unter den Tempeleingang, um in den Straßenkanal zu münden35. Seit dem Vorhandensein der Breitraum- und Langraumcella findet man häufig diese Hofsockel genau vor dem Celleneingang in der Achse zur Kultnische in der Cella. Schöne Beispiele liefern der Ur III-zeitliche Tempel des Königs Šusîn in Ešnunna (Abb. 6) und der seleukidische, 201 v.Chr. gestiftete Umbau des Anu-Antum-Tempels in Uruk (Abb. 3)36. Die _______________ 32

DELOUGAZ, P./J ACOBSEN, T., The Temple Oval at KhafƗjah (OIP 53), Chicago 1940, 37–38 mit Abb. 34, S. 120 mit Abb. 109 (L 45/2 und 46/6). Wasserquellen ebenso im Hof des Sîn-Tempels VII–IX in HafƗ÷e (Frühdynastisch II), des mittel- und neuassyrischen Assur-Tempels (HEINRICH, Tempel, 274), des neuassyrischen Anu-AdadTempels in Assur (DERS., Tempel, Abb. 346, 348, ANDRAE, Der Anu-Adad-Tempel, 46– 47 und DERS., Das wiedererstandene Assur, 72) oder im Hof des spätbabylonischen Ninmah -Tempels in Babylon (HEINRICH, Tempel, Abb. 122, 400). 33 ANDRAE, Das wiedererstandene Assur, 34 Abb. 16 und 50–51. Die Seitenlänge beträgt 3,12 m, die Höhe 1,18 m. 34 HEINRICH, Tempel, Abb. 151. 35 P ARROT, A., Le temple d’Ishtar (BAH 65), Paris 1956, 31–32. 36 HEINRICH, Tempel, Abb. 239 und 418. Weitere Beispiele, altbabylonisch: Giparu und Ningal-Tempel in Ur (HEINRICH, Tempel, Abb. 248, 250), Doppeltempel in Tell

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Plazierung beider Einbauten ist sicherlich kein Zufall. So konnte man vor der Cella eine Kulthandlung vollziehen und gleichzeitig von der Cella aus gesehen werden. Da das Götterbild wohl in der Cella stand, war der Kontakt zwischen Handelnden und Gott viel enger. Die Suche nach Blickkontakt und Nähe könnte durchaus der Grund für das Verschwinden der Knickachse Ende des dritten Jahrtausends sein. Im Tempel Oval (Abb. 5) von HafƗ÷e verteilen sich über die nördliche Hofhälfte Pfeilerchen aus Ziegeln – elf waren es im letzten Stadium der Phase I. Ihre genaue Funktion kann nicht rekonstruiert werden. Sie unterscheiden sich nämlich von „gewöhnlichen“ Einbauten insofern, als ihre Oberfläche nicht flach, sondern abgerundet ist. Ähnliche und zeitgleiche Pfeilerchen fanden sich in der Cella des Sîn-Tempels in derselben Stadt37. Libationsgefäße und Schalen standen immer wieder in Hof und Cella. In der Cella 17 des frühdynastischen (niv. a, b, c) Ištar-Tempels von Mari lagen 15 Tonschalen und eine Bronzeschale, in der Cella 18 13 Tonschalen und eine Bronzeschale. A. Parrot hat mindestens weitere neun Tonschalen im daneben liegenden Hof 15 (niv. c) ausgegraben38. Schließlich waren wichtige Werke in den Tempelhöfen aufgestellt39. Die Urnammu-Stele stand auf jeden Fall im Tempel des Mondgottes in Ur. Als Aufstellungsort für die sechs oder sieben Stelen, die Gudea im Zusammenhang mit der Einweihung seines wichtigsten Tempels, des Eninnu, herstellen ließ, sind folgende Orte schriftlich überliefert: das Temenos- und Stadttor, das Gerichtstor, das A.GA der Göttin Bau, der Haupthof des Tempels und zwei weitere Stellen40. Der Kodex Hammurabi war im Šamaš-Tempel von Sippar aufgestellt. Sie werden in keiner Kulthandlung erwähnt, müssen aber entweder wegen ihrer Ehrwürdigkeit – Urnammu war vergöttlicht worden – oder wegen ihres Textes – auf Hammurabis Stele standen 282 Paragraphen – auf die Mithandelnden gewirkt haben. Diese Werke waren, wie Kulthandlungen auch, Garant für die Weiterführung einer Ruhm und Wohlstand bringenden Tradition. ______________________________________________________________________________________________

Harmal (DERS., Tempel, Abb. 255); im neuassyrischen Nabû-Tempel von HorsƗbƗd (DERS., Tempel, Abb. 355) oder im spätbabylonischen Giparu von Ur (DERS., Tempel, Abb. 411). 37 HEINRICH, Tempel, Abb. 166 und 177. 38 P ARROT, Le temple d’Ishtar, Tf. 14. TUNCA, Ö., L’architecture religieuse protodynastique en Mésopotamie, Leuven 1974, 150–51. 39 NA.RÚ.A, EDZARD, D. O., Die Einrichtung eines Tempels im älteren Babylonien. Philologische Aspekte, in: VAN DONZEL, E. et al. (Hg.), Le temple et le culte, XX. CRAI, Istanbul 1975, 161. 40 B ÖRKER-KLÄHN, J., Altvorderasiatische Bildstelen und vergleichbare Felsreliefs (BaF 4), Mainz 1982, 37–38, 126, 140.

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Schließlich noch ein Wort zur Begehbarkeit des Tempelhofes. Nirgends wird ausdrücklich geschrieben, daß der Tempelhof allen offen und die Cella eher verschlossen waren. Geht man von der Hofgröße aus, von den zahlreichen Einbauten und auch von den vielen Handlungen, die darin stattfanden, kann man aber annehmen, daß der Tempelhof von vielen begehbar war. c. Die Cella Nun kommen wir zum Allerheiligsten, zur Cella (papƗhÙu)41. In Mesopotamien besitzt die Cella kein Fenster, so daß das Innere kühl und dunkel ist42. Das Licht kommt über den Eingang. Wenn die Cella ein Breit- oder ein Langraum ist, dann kann man von außen auf den Altar sehen, vorausgesetzt, der Eingang zur Cella war offen. Denn sie konnte mit einer Tür verschlossen werden. Zwei Befundarten erlauben es, Türen zu rekonstruieren: Angelkapseln und Türflügelreste. Der Fund solcher Türangelsteine in der Cella des Šusîn-Tempels (Abb. 6) im antiken Ešnunna (modern Tell Asmar) zeigt eindeutig, daß die Cella von innen mit einer zweiflügeligen Tür verschließbar war. Dazu konnten amerikanische Ausgräber die Holzplanken der verbrannten 2m breiten Cellatür noch finden43. Der Holzbefund vor der Cella 150 im Palast von Mari erlaubt es, eine Tür von 1,80m Höhe und mindestens 1,25m Breite zu rekonstruieren44. Die berühmtesten Tore stammen aus BalƗwƗt. Bei Grabungen im antiken Imgur-Enlil, etwa 40km südöstlich der heutigen Stadt Mossul, kamen 1877 und 1956 Bronzebeschläge dreier Tore ans Licht. Das Tor, das am besten rekonstruiert werden kann, geht auf den assyrischen König Salmanassar III. (858–824) zurück. Es besaß zwei Flügel. Acht bebilderte, jeweils etwa 1,45m breite Bronzestreifen wurden auf einen Holzhintergrund angenagelt. Diese Holzplanken wurden an sich nach oben verjüngenden Baumstämmen von je etwa 40cm Durchmesser befestigt. Die Baumstämme drehten sich in Angelsteinen. Die Torbreite betrug etwa 2,30m. Dank der Biegung der Bleche um die Baumstämme kann das Tor auf etwa sechs Meter Höhe rekonstruiert werden. Dieses so eben beschriebene Tor verschloß wahrscheinlich den Eingang zu Salmanassars Palast. Ein ähnliches Tor verschloß jedoch auch die Vorcella zum Tempel des Gottes Mamu, eines _______________ Über weitere Bezeichnungen, P ONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi Ưrub, 20. EDZARD, Die Einrichtung, 158. 43 FRANKFORT, H./LLOYD, S./J ACOBSEN, T., The Gimilsin Tempel and the Palace of the Rulers at Tell Asmar (OIP 43), Chicago 1940, 16, Abb. 15 D. 44 P ARROT, A., Mission Archéologique de Mari II. Le Palais, tome 1: architecture (BAH 68), Paris 1958, 268–69, Tf. 54–55. 41 42

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Gottes, der für Träume zuständig war. Salmanassars Vorgänger AssurnasLirpal II. hatte dieses Tor anbringen lassen45. Der in der Spätzeit bezeugte Gebrauch von Vorhängen (birit šiddi), um die Cella zu schließen, könnte auch einen praktischen Grund besitzen. Schließlich hatten sich die Tempel zu riesigen Gebäuden entwickelt, in denen die Durchgänge viele Meter breit waren, so daß eine feste Tür gar nicht machbar gewesen wäre46. Das Öffnen sämtlicher Tore und das Ziehen der Vorhänge geschah zu bestimmten Zeitpunkten und wurde von Kulthandlungen begleitet47. Wie sieht es nun in der Cella aus? Hier könnte ich zahlreiche beschreiben. Eine habe ich ausgesucht, weil sie viele und komplizierte Einbauten besitzt48. Es handelt sich um die Frühdynastisch I–II-zeitliche Cella des ŠƗra-Tempels in Tell A÷rab (Abb. 7). Der Raum ist 5,50m x 19m groß. An der nördlichen Schmalwand stand ein Mauerblock von etwa 2,20m x 3,90m. Er ist 1,50m hoch erhalten. Ernst Heinrich geht davon aus, daß er ursprünglich höher war49. Vermutet man, daß Kultstatuen darauf standen, stimmt diese Ansicht nicht unbedingt. Links an dieser Plattform befindet sich eine Treppe, die zum Dach führte. Davor befindet sich eine zweite „Plattform“, die der Ausgräber als „altar piedestal“, Heinrich als Altarpostament bezeichnet. Dieser Einbau ist 1,80m x 2,50m groß und etwa 1,50m hoch. Zwischen beiden Plattformen entstehen kleine Nischen. Auf der westlichen Seite ist die unterste Stufe der Treppe in die Nische hineingezogen. Darauf standen ein niedriger, 24cm x 45cm großer Steintrog und ein in die Stufe eingelassenes konisches Steingefäß, so daß Flüssigkeit aus dem Trog in das Gefäß rinnen konnte. Hier fanden also Libationen statt. In der Nische auf der anderen Seite lagen zwei Steingefäße, die vielleicht vom vorderen Einbau herabgefallen waren. Entlang der östlichen Längs_______________ 45

OATES, J., Balawat: Recent Excavations and a New Gate, in: Essays on Near Eastern Art and Archaeology in Honor of Charles Kyrle Wilkinson, hg. von P.O. Harper/H. Pittman, New York 1983, 42. OATES, D., Balawat (Imgur Enlil): The site and its Buildings (Iraq 36), London 1974, 176 und Tf. 25. Das Fragment eines Bronzebeschlags stammt aus dem Raum J des Anu-Adad-Tempels in Assur. Die Tür verschloß demnach den Raum J oder die Cella K, ANDRAE, Der Anu-Adad-Tempel, 76 und Tf. 33. DERS., Das wiedererstandene Assur, 71, 214. Der mitanische König Sausšatar stahl schon im 15. Jahrhundert Silber- und Goldtürbeschläge aus dem Lande Assur, WEIDNER, E. F., Politische Dokumente aus Kleinasien. Die Staatsverträge in akkadischer Sprache aus dem Archiv von Boghazköi (BoSt 8), Leipzig 1923, 38–39, Z. 8–9, „Zur Verstärkung für seine Macht(stellung) fortführte, in Wašukanni an seinem Palast hat er sie angebracht”. 46 P ONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi Ưrub, 52–53 und zahlreiche weitere Erwähnungen von Vorhängen. CAD *BirƯtu, 254, 6’. 47 Zur pƯt bƗbi-Zeremonie, P ONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi Ưrub, 47. 48 DELOUGAZ, P. – LLOYD, S., Pre-Sargonid temples in the Diyala region (OIP 58), Chicago 1942, 229–245, 263 Abb. 203 und Tf. 26. 49 HEINRICH, Tempel, 119.

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wand steht eine Bank, auf der man sich Statuen vorstellen kann. Der Fuß eines lebensgroßen Standbilds aus Kupfer wurde in L14:1, in dem Raum unmittelbar östlich der Cella, gefunden50. Etwa in der Raummitte verteilen sich elf „Altäre“ in zwei Reihen. Am Boden messen sie 55cm im Quadrat und sind schwach konisch geformt. Sie waren etwa 50cm hoch, vielleicht oben abgerundet wie im Tempel Oval und im Sîn-Tempel (s. o.). Zu den zahlreichen weiteren Funden gehören Steingefäße, Perlen, Amulette, Keulen, Rollsiegel und das Fragment eines Steinreliefs. Ab und zu gibt es Kultnischen in den Cellae, wie etwa im Sîn-Tempel VII von HafƗ÷e51. In der neuassyrischen Architektur wird die Cella mit einer großen Nische, die einen kleinen eigenen Raum bildet, verlängert. Die Rekonstruktionen von Delougaz und Lloyd (Anm. 51) zeigen einen leeren Raum. In der Tat ist das Problem der Kultbildaufstellung im Alten Orient nicht gelöst. Kein Götterbild wurde je in situ gefunden. Überhaupt sind Götterstatuen so selten, daß sogar angenommen wurde, es habe kaum welche gegeben52. Angesichts der unzähligen Kultbilder, die in den Texten erwähnt werden, war es sicher nicht so. Eher ist davon auszugehen, daß Kultbilder wertvoll und somit eine begehrte Beute waren. Der zweite Grund ist politisch: Götterstatuen wurden bei Eroberungen zerstört oder gestohlen. Ihr Verschwinden war ein sichtbares Zeichen für den Sieg über feindliches Land. In jedem Heiligtum gab es seit dem dritten Jahrtausend Götterstatuen- oder embleme, die dort verehrt wurden. Embleme, deren Standfläche sehr schmal ist, aber auch kleine aus Edelmetallen hergestellte Kultbilder könnten die enge Fläche einiger Einbauten erklären. Befunde in Assur, Mari oder in Tell Asmar beweisen für das dritte Jahrtausend die Aufstellung von weiteren anthropomorphen Bildern in der Cella. Die sog. Beterstatuetten standen wohl auf gemauerten Bänken (KI.GAL, kigallu) vor der Gottheit. Eine heute noch gültige Rekonstruktion schlug W. Andrae zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor53. Neben den erwähnten Statuen und Kleinfunden gab es in der Cella noch wirklich gefundene Weihrauchständer. Archäologisch kaum, aber schrift-

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DELOUGAZ – LLOYD, Pre-Sargonid temples, 244, Tf. 26, 27 A. D IES., Pre-Sargonid temples, 48 Abb. 42 und HEINRICH, Tempel, Abb. 176. Schmale Kultnische mit Podest (BÁRAG) auch im Šusîn-Tempel von Ešnunna, davor lagen ein Gefäß, Tonrohrleitungen für Libationen und Reste einer Schilfmatte, HEINRICH, Tempel, 163. 52 SPYCKET, A., Les statues de culte dans les textes mésopotamiens des origines à la Ire Dynastie de Babylone, Paris 1968, 105. 53 ANDRAE, Das wiedererstandene Assur, 109 Abb. 85. 51

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lich bezeugt, sind weiterhin Götterstühle (gišGU.ZA), Stühle, Tische, Kästen, Truhen sowie das Bett der Gottheit54. d. Die restlichen Räume im Tempelareal Der altorientalische Tempel bestand aus viel mehr Räumen als die bisher erwähnten. Um den Hof reihten sich Räume, in denen die unterschiedlichsten Funde gemacht wurden. Von der Aufbewahrung wichtiger Dokumente – der sog. „Vasallenvertrag“ Asarhaddons wurde beispielsweise im NabûTempel von Nimrud aufbewahrt – bis zur Herstellung und Aufbewahrung von Nahrungsmitteln gab es im Tempelareal alles. Es wäre müßig, nur einen Bruchteil aller Tempelfunde zu erwähnen. Ein Tempel war auch eine wirtschaftliche Einrichtung. Deswegen fußt die bis vor nicht so langer Zeit in der Literatur geäußerte Verwunderung über Funde, die gar keinen Bezug zur Religion besitzen, auf einer einseitigen Interpretation eines Tempels. Hergestellt und bisweilen gespeichert wurden sämtliche Produkte, die dem täglichen Leben dienten. Im Quadrat N 45/1 des Tempel Oval (Abb. 5) gab es einen Ofen, möglicherweise für Keramik, im daneben liegenden Raum 3 ein Wassergefäß. Die drei Räume hinter der Terrasse waren mit großen Töpfen und Körben zur Aufbewahrung von Getreide gefüllt. Sichel waren daneben in einer Holzkiste aufgeräumt. Diese Räume dienten demnach als Speicher. In M 47/1 lag die Werkstatt eines Gießers, wo mehrere Bronzefiguren gefunden wurden. Im „Haus“ gab es in den Räumen Töpfe mit verkohlten Linsen und Gerste, Reste von Getreidesäcken, Flintschneiden für Sicheln, ein Fischnetz mit vielen Netzgewichten (in L 43/9) sowie Handmühlen mit verkohlten Leinsamen (Raum 3). In K 43/5 lag ein Stein, der als Werktisch gedient haben könnte55. Der Eninnu von Girsu barg laut Text einen eigenen Raum für Schilfmatten56, der altbabylonische Ekur von Nippur eine „Kammer des Pfluges“57. Wegen seines ungewöhnlichen Grundrisses und seiner zwei großen Speicher bekam von den Ausgräbern der Enlil-Tempel in Nippur den Namen „Kitchen-Temple“. Er diente wohl als Haus, in dem Nahrungsmittel verarbeitet und gespeichert wurden58. In _______________ 54

HERRMANN, G. (Hg.), The Furniture of Western Asia. Ancient and Traditional, Mainz 1996. S. darin u.a. den Aufsatz von P. Calmeyer über den Abdruck eines neubabylonischen Thrones in der Cella des Ea im Esangila von Babylon. RÖLLIG, W./W AETZOLD, H./CALMEYER, P., Art. Möbel, RlA 8 5/6 (1995) 325–330, 334–337. SEIDL, U., Art. Opfer, RlA 10 1/2 (2003) 105. 55 HEINRICH, Tempel, 117–118 und Abb. 166. 56 Gudea, Zyl. A XXII 2. 57 R ICHTER, Untersuchungen zu den lokalen Panthea, 37. 58 TRÜMPELMANN, L., Bemerkungen zum „Kitchen-temple“ in Nippur (BaM 21), Berlin 1990, 125–129.

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Ur etwa konnte das nordwestlich an der Ziqqurrat anschließende Gebäude dank der Gründungskapseln als Tempelküche identifiziert werden59. Schließlich dienten Tempel als sichere Speicher für ihre Reichtümer. Zu allen Zeiten wurden wertvolle Güter dort aufbewahrt. Die Ausgrabungen geben uns lediglich einen schwachen Abglanz davon.

II. Die Kulthandlungen Wir wissen äußerst ungenau, wie sich Kulthandlungen im Einzelnen abspielten. Beginnen wir mit dem täglichen Dienst an den Göttern, der aus Gebeten, Gesängen und Musik, Libationen und Opferungen bestand. 1. Das Beten Die Betgestik ist stark kulturell geprägt60. Nur selten sind wir dank des Kontextes sicher, daß der abgebildete Mensch auch wirklich betet. Dies gilt z. B. für Lu-nanna, der auf dem Sockel vor einer Gottheit kniend ein zweites Mal abgebildet ist61. Die als „Beterstatuetten“ bezeichneten Figuren könnten genauso einen Gott verehren oder vor dem Gott stehen. 2. Singen und Musikspielen Musiker und Sänger wirkten stets bei Kulthandlungen mit. Darstellungen von Instrumenten etwa auf der Urnammu-Stele zeigen eine fast menschengroße Trommel oder zwei Schallbecken. Auf weiteren Gudea-zeitlichen

_______________ 59

R ICHTER, Untersuchungen zu den lokalen Panthea, 367. W OOLLEY, C. L., The Ziggurat and its surroundings (UE 5), London 1939, 38. Für die Küchen im frühdynastischen Vorgängerbau, s. HEINRICH, Tempel, 113–114 und Abb. 162. Frühdynastische Küchen im Raum 6 des Tempel Oval und in Uruk, HEINRICH, Tempel, 102, 112. Tempelküche in 1–Q.29–30 des Inanna-KitƯtum-Tempels von NƝrebtum, H ILL/J ACOBSEN, Old Babylonian Public Buildings, 49, 69f, Tf. 18b. RICHTER, Untersuchungen zu den lokalen Panthea, 367–68. 60 Zum akkadischen Wortschatz: MAGEN, U., Assyrische Königsdarstellungen – Aspekte der Herrschaft (BaF 9), 1986, 105. 61 ORTHMANN, W. (Hg.), Der alte Orient (PKG 14), Berlin 1974, Abb. XI. GOODNICK W ESTENHOLZ, J., Eight days in the temples of Larsa, Jerusalem 1994, 12, hat eine zweite altbabylonische Bronzestatuette aus dem Kunsthandel publiziert. Eine ähnliche Haltung sehen wir u. a. auf dem Symbolsockel und Rollsiegeln TukultƯ-Ninurtas I., ORTHMANN (Hg.), PKG 14, Tf. 195 und Abb. 105c, i. Wahrscheinlich beten auch die unzähligen Personen, die auf den Rollsiegeln vor einem Gott stehen.

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Fragmenten scheinen Frauen und Männer zu klatschen. Sangen sie auch dabei62? Die Musikinstrumente selbst unterlagen ebenfalls kultischen Handlungen. Seleukidenzeitliche Anweisungen zur Neubespannung einer Kesselpauke hören sich folgendermaßen an: „Wenn es deine Absicht ist, die bronzene Kesselpauke neu zu bespannen: Einen makellosen schwarzen Stier, der an Hörnern und Hufen unversehrt ist, soll ein kundiger Fachmann von Kopf bis zur Schwanzspitze eingehend inspizieren... 12 Ziegel legt man in eine Reihe, 12 Leinentücher wirfst du darüber, läßt alle 12 Götter darauf Platz nehmen... Eine Rohrmatte breitest Du aus... Den besagten Stier läßt du auf die Rohrmatte treten... Die Beschwörung ‚großer Stier, hehrer Stier’, flüsterst du durch einen Süßrohr-Halm in sein rechtes Ohr..... Du besprengst die bronzene Kesselpauke mit Zedernharz, schlachtest besagten Stier vor der Kesselpauke...“. Nach zahlreichen weiteren Handlungen wird die Kesselpauke mit dem Fell dieses Tieres bespannt63. Diese Kulthandlung spielt sich offenbar in der Tempelwerkstatt ab, also da, wo die Instrumente hergestellt und repariert wurden. Eine Musikwerkstatt ist leider nie gefunden worden. 3. Libationen und Rauchopfer Libationsszenen sind auf Bildern leicht zu erkennen. Aber auch in diesem Fall ist der sakrale Kontext nicht immer eindeutig. Zwei Beispiele nur seien erwähnt. Das erste ist eine frühdynastisch III-zeitliche Weihplatte aus Ur, auf der ein mutmaßlicher Priester sogar zweimal, vor einer Gottesstatue und vor einem Tempel, libiert (Abb. 8)64. Um einige Jahrhunderte jünger ist die Wandmalerei aus dem Palast von Mari65. Hier sind die Anlagen gut zu sehen: ein Postament, darauf ein Blitz (?) und davor zwei Standgefäße. Der König schüttet eine Flüssigkeit aus, die in die Standgefäße und auf das Postament fließt.

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ORTHMANN (Hg.), PKG 14, Abb. 112, 115 116a. B ÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr.

80. 63

FARBER, W., Ritual für das Bespannen der Kesselpauke, in: Rituale und Beschwörungen I (TUAT II, 2), Gütersloh 1987, 234–236. 64 B OESE, J., Altmesopotamische Weihplatten, Berlin 1971, Tf. XXI, U4. Schöne farbige Abbildung in CAUBET, A./P OUYSSEGUR, P., Alter Orient, Paris 1998, 194. Darin auch S. 180 mit Weihplatte und S. 193 mit Ritzung, beide frühdynastisch III. 65 P ARROT, A., Sumer, Paris 1960, 282–83. B ÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Nr. 81–84, 94, 100 (Ur III-zeitliche Stelen), Nr. 132 (Weißer Obelisk). SEIDL, Art. Opfer, RlA 10 1/2 (2003) 102–106.

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Rauchopfer gehörten zum kultischen Alltag. Pflanzen wurden auf Altären und Räucherständern angezündet66. Dieses Tempelmobiliar ist auch archäologisch gut bezeugt. 4. Das Opfern Die Opferung von Tieren ist eine, wenn nicht sogar die wichtigste Handlung im mesopotamischen Kultgeschehen. Die geopferten Tiere garantieren das Leben der Götter und somit die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft. Opfer sind „Erstlingsgaben“67, sie gibt es bisweilen morgens und abends68. Von der frühdynastischen Zeit bis zur Hellenisierung des Orients listen zahllose Texte Tiere auf, die einer Gottheit geweiht werden sollen. Meistens sind es Schafe und Rinder. Aber auch Hirsche, Gazellen oder kleine Tiere wurden von den Göttern nicht verschmäht. Einige Bilder zeigen uns Züge, die sich zum Tempel begeben69. Fragt man sich, wie und wo geschlachtet wurde, merkt man einmal mehr, wie wenig man vom Alten Orient weiß70. Die Texte deuten an, daß erste Schlachtungen schon am Haupttor stattfinden konnten71. Danach betraten die Menschen den Tempelhof. Dort gab es, wie vorher gesehen, Podeste, die als „Arbeitsfläche“ dienen konnten, und Wasser. Diese Podeste erkennen wir auf einigen frühdynastischen Rollsiegeln (Abb. 9). Andererseits zeigen andere zeitgleiche Siegel (Abb. 9) und weitere Bilder, daß das Tier unmittelbar auf dem Boden liegt72. Die Tiere wurden damals wahrscheinlich wie heute im Vorderen Orient geschlachtet. Man ließ das Blut aus dem Hals fließen. Ein einziges Bild habe ich gefunden, das diesen Akt möglicherweise zeigt (Abb. 10). Auf dem zweiten Register der Ur IIIzeitlichen Stele des Königs Urnammu wird ein großes Tier auf dem Boden geschlachtet73. Rechts daneben fließt eine Flüssigkeit, die Blut sein könnte, _______________ 66 KARG, N., Art. Myrrhe, RlA 8 (1993–1997) 534–536 (v. a. 535). SALLABERGER, Art. Opfer, RlA 10 1/2 (2003) 95. 67 SALLABERGER, Art. Opfer, 93–102. 68 R ICHTER, Untersuchungen zu den lokalen Panthea, 141. 69 Altbabylonische Wandmalerei im Palast von Mari oder Weißer Obelisk, ORTHMANN (Hg.), PKG 14, Abb. XV und Fig. 97c–d S. 315. 70 Versuch einer Zusammenfassung von M ARGUERON, J. C., L’espace sacrificiel dans le Proche-Orient ancien, Publications de la Bibliothèque Salomon-Reinach Université Lumière – Lyon 2, vol. V, Paris 1991, 235–242. 71 Etwa am Ur III-zeitlichen Torbau DUB.LA.MAH in Ur, am Tor des GipƗru in Uruk, SALLABERGER, Kalender, 159, 180, 212. In der altbabylonischen Zeit in Nippur, R ICHTER, Untersuchungen zu den lokalen Panthea, 141. 72 Intarsie aus dem Šamaš-Tempel in Mari (farbig in: ROAF, M., Cultural Atlas of Mesopotamia and the Ancient Near East, Oxford 1990, 75), Geierstele. 73 B ÖRKER-KLÄHN, Bildstelen, Tafel G Nr. 94b. VORYS CANBY, J., The „Ur-Nammu“ Stela, Philadelphia, 22–23, Tf. 7 b,c, 11, 28, 29.

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aus dem Hals eines kleineren Tieres74. Das Opfer findet vor einer Figur statt, deren Identität leider ungeklärt ist. Wir wissen nicht, was mit dem Blut geschah. Möglicherweise ronn es über die Wasserkanäle weg. Die hohe Zahl der zu schlachtenden Tiere, die kleine Fläche der Cellae, Opferplatten und Wasserinstallationen im Hof sprechen eher für Opferhandlungen im Hof. Andererseits, sollte die Figur auf der Uranmmu-Stele eine in einer Cella aufgestellte Statue sein, wurden dann Tiere ebenfalls dort geschlachtet. Auch in einer Cella befinden sich Postamente oder Altäre und Gefäße, die das Blut auffangen konnten. Der kombinierte archäologische und textliche Befund spricht also mehr für Opfer im Hof. Kleinere Opferhandlungen in der Cella hat es aber wohl gegeben. Was geschah mit dem Fleisch der geopferten Tiere nachdem die Götter es verspeist hatten? Laut Texte verspeisen die Götter am liebsten gegrilltes und nicht gekochtes Fleisch75. Dem archäologischen Befund nach wurden die Tiere aber eher nicht verbrannt. Das Verbrennen des Tierfleisches – also Brandopfer – entspricht, etwa in der Bibel, dem Übergang von der physisch-irdischen zur spirituell-himmlischen Welt. Diese Gedanken finden wir in der altorientalischen polytheistischen Gesellschaft nicht. Das Tierfleisch wurde realiter weiter verarbeitet und verteilt. Ab und zu, wie im oben erwähnten Ištar-Tempel von Mari, gibt es in den Tempeln Flächen, auf denen eindeutig etwas verbrannt oder gekocht wurde. Daneben gibt es auch Küchen (Anm. 59). Die Befunde reichen jedoch nicht aus, um die in den Texten erwähnten Tiermengen zu verarbeiten. Entweder wurde das Fleisch in ungekochtem Zustand verteilt, oder es wurde, zumindest teilweise, außerhalb des Tempels verarbeitet. Nicht nur Tiere, sondern auch alle bekannten Nahrungsmittel und Getränke der damaligen Zeit bekamen die Götter als Opfergaben.

III. Zwei Feste: Das akƯtu-Fest und das Fackelfest 1. Das akƯtu-Fest oder Neujahrsfest Das akƯtu-Fest ist seit der frühdynastischen Zeit belegt. Es ist möglicherweise in Ur als Feier der Tag- und Nachtgleiche entstanden. Ursprünglich wurde es zur Zeit der herbstlichen Aussaat, alsbald aber auch im Frühjahr im Monat der Gerstenernte gefeiert. Im ersten Jahrtausend verschmolz es dann mit dem im Frühjahr gefeierten Neujahrsfest. Das Akitu-Fest spielt sich hauptsächlich zwischen zwei Gebäuden statt: dem Haupttempel des gefeierten Gottes und einem sog. Akitu-Haus/bƯt _______________ 74 75

Oder auch eines Tierbalges, s. VORYS CANBY Anm. 73. B OTTÉRO, J., La plus vieille cuisine du monde, Paris 2002, 73.

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akƯti, wo die Gottesstatuen eine Zeit lang verweilten. Der Kultablauf des akƯtu-Festes ist für den Gott Marduk in Babylon und den Gott Anu in Uruk dank der ausführlichen Texte aus seleukidischer Zeit (281 v.Chr.) und dank der ausgezeichneten Monographie von B. Pongratz-Leisten (Anm. 2) gut bekannt. Ich werde jedoch nicht die Feste in diesen beiden Städten beschreiben, sondern das Fest in Assur, weil nur dort das Akitu-Haus erhalten blieb. Es liegt außerhalb der Stadt, etwa 400 m vor dem Westtor in unmittelbarer Nähe eines Seitenarmes des Tigris76. Schon zur Zeit Šamši-Adads I. (18. Jahrhundert) wurde das Akitu-Fest in Assur gefeiert. Sanherib (704–681) integrierte jedoch die babylonischen Elemente dieses Festes in den assyrischen Kult. Er erkannte, daß diese Übernahme architektonische Voraussetzungen erforderte, die in Assur nicht gegeben waren. Der von ihm eingeleitete Ostanbau des AssurTempels ist eine bewußte Kopie des kisal BƝl in Marduks Tempel von Babylon77. Wir haben hier ein einmaliges Beispiel, wo eine punktuelle Kultänderung eine kulttopographische Änderung zur Folge hatte. Ich vermute, daß dieser kein zweites Mal belegte Vorgang auch historisch äußerst selten war. Denn Änderungen des Kultes und des Tempelgrundrisses entwickelten sich mit der Gesellschaft und gingen einher. Das Fest dauerte in Assur 20 Tage und damit doppelt so lang wie in Babylon. Es begann in der Cella (bƯt papƗhÙi) des Assur-Tempels. Von da aus wurde die Statue des Gottes Assur weggenommen. Die drei in Babylonien festgelegten Stationen, zwischen Cella und Vorcella (birit šiddƯ), in der Vorcella (DU6.KI.SIKIL) und am „Kultsockel der Schicksale“ (parak šƯmƗte78) im Hof, sind in Assur nicht bezeugt. Wie auch immer, in Assur wurden Schienen im großen Hof des Assur-Tempels und vor dem SînŠamaš-Tempel gefunden, die den Fortgang der Prozession verdeutlichen. Die Schienen bestanden aus drei Reihen Steinquadern, zwischen denen zwei Reihen Holz- oder Metallbohlen gelegt werden konnten. Bei den Steinbahnen stellt sich Andrae vor, daß flache Holz- oder Metallschienen in die Vertiefung gelegt wurden, möglicherweise sogar erst, wenn das Fest stattfand79. Wozu die Schienen dienten, ist schriftlich belegt. Auf ihnen wurden Schiffe, in denen die Gottesstatuen saßen, gezogen. Im Alten Orient bewegten sich Götter gerne mit einem Schiff. Die wichtigste Bootsfahrt war sicher die des Neujahrsfests. Die einzige bekannte Darstellung eines echten kultischen Schiffes erscheint auf einen Kudurru aus Susa, (12. _______________ 76

ANDRAE, Das wiedererstandene Assur, 64–66, 293. PONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi Ưrub, 63. 78 Zu seiner Lokalisierung im Assur-Tempel von Assur, PONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi Ưrub, 60–64. 79 ANDRAE, Das wiedererstandene Assur, 49, 223 und 225. 77

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Jahrhundert?). Das Spatenemblem kennzeichnet das Schiff eindeutig als Schiff des Marduks80. Assur’s Statue verließ ihre Cella. Vielleicht wurde sie bis zum Südwesthof gezogen und kam dann zum Haupthof zurück. Jedenfalls wurden die anderen Götterstatuen eingesammelt, der Zug verließ den großen Tempelhof und begab sich auf die Prozessionsstraße (snjqu). Mit ihr und der Fahrt zu Schiff begann der Festteil, an dem die gesamte Stadt teilnehmen durfte. Das Volk durfte seine Götter sehen. Der Zug machte an jedem der Tempel halt, um die Gottesstatue mitzunehmen. Wo genau die Gottesbilder auf echte Schiffe eingeschifft wurden, ist nicht bekannt. Walter Andrae stellt sich dafür das Mušlal-Tor vor81. Die Reise ging nun zum bƯt akƯti. Andrae hat das Akitu-Haus gefunden und ausgegraben82. Er konnte zwei Bauschichten erkennen, die beide auf Sanherib zurückgehen (Abb. 11). Der Kern dieses aus Stein gebauten Gebäudes ist ein Pfeilerhof vor einer Cella. Dieser völlig unmesopotamische Grundriß wurde in einer zweiten Phase „symmetrisiert“, nach der sich dann auf beiden Seiten eine Halle befand. In der zweiten Phase war der Bau 60 m x 67 m groß. Sanherib hat uns eine Beschreibung dieses Hauses hinterlassen. Seine Türen waren mit Metallstreifen beschlagen, auf denen die Geschichte des Urkampfes mit Tiamat erzählt wurde. In Babylonien hatte Marduk das Monster Tiamat besiegt, in Assyrien der Gott Assur. Dank dieses Sieges war Tiamat „wie ein Dörrfisch“ halbiert worden. Aus ihrer oberen Hälfte entstand der Himmel, aus der unteren die Erde. Der Gartenliebhaber Sanherib ließ einen prächtigen Garten im Hof und außerhalb anlegen, der heute noch gut zu erkennen ist. Die Pflanzenlöcher reichen bis zum Felsen und waren durch Rinnen untereinander verbunden. Büsche, vielleicht kostbare Granatapfelbäume, wuchsen dort. Die Statuen wurden nun abgeladen. Texte setzen uns über die Aufstellung der Götter im Festhaus selbst in Kenntnis83. Neben dem Gott Assur nahmen mindestens 35 weitere Götter am Neujahrszug teil. Ein Stück Plattenbahn in der zweiten Bauphase zeigt, daß die Götter(statuen) von den Schiffen bis in die Cella selbst in ihren Schiffen gezogen wurden. Die untergeordneten Götter betraten als erste das Festhaus, mußten sich aber sofort verteilen, um die wichtigeren Götter nicht zu behindern. Wahrscheinlich blieben sie in den Kammern, die an der Nord- und Südecke des Pfeilerhofs liegen. Dann erst hielt Assur Einzug und nahm in der Cella _______________ 80

ANDRAE, Das wiedererstandene Assur, Abb. 47. ORTHMANN (Hg.), PKG 14, Abb. 192. 81 ANDRAE, Das wiedererstandene Assur, 61. 82 HEINRICH, Tempel, 275–277. ANDRAE, Das wiedererstandene Assur, 57–70, 216 mit Abb. 198, 219–223. 83 PONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi Ưrub, 128–132.

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Platz. Wer in der rechten und in der linken Reihe von ihm sitzen durfte, stand fest. Möglicherweise fand abschließend in einem der Seitenräume das große Festmahl der Götter statt. Das Fest in den Gärten dauerte drei Tage. Sämtliche Stadtbewohner bekamen etwas zu essen. Nach mehreren Tagen gingen die Götter, ebenfalls auf Schiffen, aber nicht auf dem Wasserweg, nach Hause. Sie wurden auf ihrem Weg von singenden und Musik spielenden Menschen begleitet. Letzte Station war die Cella des AssurTempels. 2. Das Fackelfest in Uruk Zum Schluß möchte ich die Stimmung eines altorientalischen Festes hochkommen lassen. Wir kennen es – genauer gesagt kennen wir nur den Ablauf des 16. und 17. Tages – aus einem seleukidischen Text84. Wir sind in Uruk und feiern seinen Hauptgott Anu. Im Mittelpunkt des festlichen Geschehens steht eine Fackel, die auf der Ziqqurrat nach einem Opfer entzündet wurde. An ihr werden in einer Nacht zahlreiche Feuer entzündet. Ganz Uruk muß man sich hell erleuchtet vorstellen. Nächtliche Riten werden an der Ziqqurrat vollzogen. Eine erste Prozession geschieht mit der Fackel, sie hält an mehreren Toren des Anu-Heiligtums (Abb. 3). Am Ende löscht ein Priester die Fackel mit Wasser, erstklassigem Bier, Milch, Wein und Öl. Währenddessen entzünden die Bürger ein Feuer in ihren Häusern und bringen Anu und seiner Frau Antu Opfer dar und sprechen dieselben Gebete wie die Priester. An den Tempeltoren wird ein Feuer bis zum Morgengrauen unterhalten. Anu und Antum bekommen bald ihre „große Morgenmahlzeit“.

Schluß Zusammenfassend: Das Leben eines altorientalischen Menschen war unsicher. Jeder mußte sich der Hilfe der Götter versichern. Ein gutes Mittel dazu bestand darin, sie mit Worten und Taten zu verwöhnen. Darum bemühten sich der Klerus im Tempelrahmen, der König und der normale Mensch. So gab es zahlreiche private Akte der Verehrung und viele öffentliche Feste, deren Grundhandlungen Beten, Rezitieren, Weihen oder Opfern sich nicht unterschieden. Der Unterschied bestand lediglich darin, daß Feste öffentlich waren, somit die Elite und viele Menschen einbezogen wurden, während die private Frömmigkeit im Tempel und zu Hause allein vollzogen werden konnte. Da der Zugang zur Cella, in der der Gott wohn_______________ 84

PONGRATZ-LEISTEN, Ina šulmi Ưrub, 45–47.

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te, wohl fast jedem verwehrt wurde, mußten die Götter „auf die Straße“ gehen. Feste boten somit die einzige Gelegenheit für den normalen Menschen, seine Götter zu sehen. Wichtige Feste versammelten Menschenmassen. Die aufgelistete Biermenge von 709.050 Litern veranlaßte W. Heimpel zu folgender Rechnung. Bei einem angenommenen Konsum von vier Litern pro Person, nahmen 177.262 und ein halber Biertrinker am Fest teil, während dessen die Statue des (Gottes) Šulgi aufgestellt wurde85. Es waren alle Einwohner Sumers, die Städte Nippur und Girsu anscheinend ausgenommen. Genaue Kultabläufe sind außer für die Spätzeit schwer zu rekonstruieren. Nicht alle glichen sich. Dennoch kann soviel gesagt werden. Im Tempel selbst mußte das Kultpersonal ständig für das Wohl der Götter sorgen: sich um Götterbilder kümmern, Instrumente aufstellen, singen, opfern... Außerhalb des Tempels fanden Züge statt. Sie näherten sich teilweise durch enge Gassen dem Tempel. Sie wurden vom Kultpersonal (Babylonien) oder vom König (häufiger in Assyrien) angeführt. Es folgten Opferträger und die Stadtbewohner. Eine Vorstellung von solchen Zügen gewinnen wir auf einigen Bildern, etwa auf der Uruk-Vase86. Eine erste Station fand bisweilen vor dem Haupttor des Tempels statt. Dort wurden erste Kulthandlungen an einem Altar vollzogen, die aus Opferungen (s. Anm. 31), von Gebeten begleiteten Libationen und Gesängen bestanden. Der Zug betrat den Hof. Darin gab es Wasserquellen, Postamente oder Altäre, manchmal auch Brandopferstätte. Neben dem Rezitieren und Singen von Texten wurden hier Handlungen durchgeführt, in deren Verlauf Tiere geschlachtet wurden. Die letzten Riten fanden in einem sehr viel kleineren Kreis in der Cella statt. Jedoch dürfen wir nicht vergessen, daß ein Tempel neben seiner oder auch durch seine kultische Funktion eine wirtschaftliche Bestimmung besaß. Die sehr unterschiedlichen in seinem Zingel erst produzierten und danach verwalteten Objekte erinnern uns ständig daran. Tempel waren teilweise äußerst reich. Ob nun, je nach Zeitraum, die wirtschaftliche Macht mehr dem Hauptpriester oder mehr dem König oblag, in beiden Fällen war der Tempel keine Oase der Stille. Der Tempel „ruft laut“ und „brüllt wie ein Stier“, schrieb der sumerische Dichter, dessen Lied zu Beginn zitiert wurde. _______________ 85 HEIMPEL, W., Ein zweiter Schritt zur Rehabilitierung der Rolle des Tigris in Sumer (ZA 80), Berlin 1990, 204–213 (bes. 208–210). 86 Diese Bilder gehen v. a. auf den Zeitraum von vor dem Ende des 3. Jts. zurück. Im 2. und häufiger noch im 1. Jahrtausend werden weiterhin zahlreiche Menschenzüge abgebildet. Sie bewegen sich jedoch nicht mehr zum Hauptbau, sondern zum König.

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Abb. 1.: Siegelabrollung aus Uruk, Schicht V. Aus: Boehmer, R.M., Uruk. Früheste Abrollungen (AUWE 24), Mainz 1999, Tf. 35.

Abb. 2: Uruk, Grundriß des Eanna-Bezirks in den Schichten V–Iva. Aus: Orthmann, W. (Hg.), PKG 14, 143 Fig. 5.

Kulttopographie

Abb. 3: Inanna-Kit¯ıtum-Tempel in Tell Išcali, altbabylonisch. Aus: Heinrich, Tempel, Abb. 253.

Abb. 4: Inanna-Kit¯ıtum-Tempel in Tell Išcali, altbabylonisch. Aus: Heinrich, Tempel, Abb. 253.

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˘ frühdynastisch II–III. Aus: Heinrich, Tempel, Abb. 5: Tempel Oval in H¸afa¯ ge, Abb. 166.

Abb. 6: Tempel des Königs Šusîn in Tell Asmar, Ur-III-Zeit. Aus: Heinrich, Tempel, Abb. 239.

Kulttopographie

˘ Abb. 7: Šara-Tempel in Tell Agrab, frühdynastisch I–II. Aus: Heinrich, ¯ Tempel, Abb. 171.

Abb. 8: Weihplatte aus Ur, frühdynastisch III. Aus: Boese, J., Altmesopotamische Weihplatten, Berlin 1971, Tf. XXI, U4.

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Abb. 9: Frühdynastische Rollsiegel. Aus : Amiet, P., La glytique mésopotamienne archaïque, Paris 1980, Nr. 1438, 1465, 1466 und 1467.

Abb. 10: Fragment aus der „poor side“ der Urnammu-Stele, Ur-III-Zeit. Aus: Vorys Canby, J., The „Ur-Nammu“ Stela, Philadelphia, Tf. 28 Nr. 12.

Kulttopographie

Abb. 11: Assur, b¯ıt ak¯ıti, Sanherib, 1. und 2. Phase, Heinrich, Tempel, Abb. 366 und 369.

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Zoroastrische Religion

Theological Questions in an Oral Tradition: the Case of Zoroastrianism PHILIP G. KREYENBROEK

Introduction Zoroastrianism is often described as an essentially dualist faith. Indeed, in combination with the strong presence of Manichaeism in Iran during part of the third century CE, this view has led some historians of religion to associate ‘Iranian religion’ generically with dualism. Although a dualist world-view played an important role in Zoroastrianism during most stages of its history, it will be argued here that consistent representations of a religion as exclusively monotheistic, monolatrous, or dualist are more likely to be found in literate traditions than in those which, like Zoroastrianism, were chiefly based on oral transmission for much of their history. A written theological tradition requires a certain consistency on such fundamental aspects of teaching. In ‘oral’ religious traditions, on the other hand, priests are less strongly bound by doctrines formulated in bygone ages, and thus freer to emphasise aspects of the tradition which accord with the perceptions and world-view of their audience, which are usually informed by factors outside the religious sphere. Without consciously deviating from transmitted truth, an oral religious tradition may thus present aspects of the faith in ways which, to us, would seem to be at odds with earlier representations. In the case of Zoroastrianism, a fundamental theological paradigm informs most expressions of religious belief: Ahura MazdƗ, who is wholly good, is worshipped as ‘the’ God par excellence. At the same time, however, a belief in the existence and power of his evil opponent (Avestan: Angra Mainyu; Middle Persian: Ahriman), formed part of the Zoroastrian belief system down the ages. Furthermore, the continued adherence to a range of pre-Zoroastrian, Indo-Iranian beliefs ensured that elements of a polytheistic system survived side by side with the abovementioned beliefs. This basic paradigm could be represented in various ways, so that the Zoroastrianism reflected by one set of sources may appear monolatrous, while others may stress its dualist, or (rarely) its polytheist character. While such a belief-system would seem readily

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comprehensible, it lacks the logical coherence we tend to associate with ‘theology’. To illustrate the links between Zoroastrian theology and the mechanics of its transmission a meaningful way, it will be necessary first to offer some information about Zoroastrianism generally, and about its early transmission, as a framework within which an analysis of textual passages can be understood.

Aspects of Zoroastrianism A survey of development of ‘theological’ thought A dualist spirit, perhaps engendered by the socio-political circumstances of the community, played a significant role in the GƗthƗs, the hymns generally attributed to Zarathustra. The GƗthƗs represent Ahura MazdƗ as the highest object of worship, and could therefore also be seen as monolatrous. The singular position of nascent Zoroastrianism among proto-Iranian tribes as a separate ‘religion’ – i.e. as the basis of a separate social identity – presumably implies an antagonistic attitude towards nonZoroastrian contemporaries for many generations. This may help to explain the persistence of dualistic elements in the world-view in the Zoroastrian tradition. Moreover, Zoroastrianism rejected only a few specific elements of the earlier, Indo-Iranian tradition, and the worship of individual beings (Av. Yazata, MP. Yazad) under Ahura MazdƗ continued to form part of its teaching and ritual. The Inscriptions of the Achaemenian dynasty (559–331 BCE) suggest that the authors understood Zoroastrianism as a monolatrous system. We now know, however, that a pronouncedly ‘polytheistic’ world-view continued to inform the observances of the masses at this time. The syncretistic culture of the subsequent Hellenistic period may have had the effect of strengthening polytheistic aspects in Zoroastrian beliefs, but the available sources do not allow us to do more than speculate. The Sasanian dynasty (226–651 CE) initially favoured a strongly dualistic element in official proclamations intended to influence public opinion: the battle between the Sasanians and their predecessors was implicitly likened to the struggle between the forces of good and evil. In the course of the Sasanian era, however, monotheistic beliefs appear to have become so dominant that the plural term yazdƗn ‘the gods’, could be used without qualms for the single God of Islam after the Arab occupation.

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Nevertheless, one of the first Zoroastrians to be aware of Islamic theological categories clearly defined his religion as a dualist one.1 In modern times, on the other hand, only those Indian Zoroastrians who were influenced by the views of Western scholars seek to re-incorporate dualist beliefs in their understanding of religious truth; many others vehemently reject the notion of dualism as an alien construct.2 The Cosmogony The essential aspects of the Zoroastrian world-view as it had developed around the time of the Islamic conquest of Iran can be deduced from the account of the creation and end of the world as it is found in the Middle Persian sources:3 In the beginning, the good God, Ohrmazd (i.e. Ahura MazdƗ, ‘Lord Wisdom’), was on high, in the light. The evil Ahriman (Av. Angra Mainyu, ‘Evil Spirit’) was down below, in darkness. The universe was static: nothing moved and time did not exist. Being omniscient, Ohrmazd knew that Ahriman existed, and that it would be impossible to rid the universe of evil unless the forces of good and evil could do battle in a dynamic world which was limited as to both time and place. Ohrmazd therefore created the world, first in an ideal, non-material state, and then, still ideal, in material form. This ideal world was contained by the sky as the contents of an egg by its shell. Inside this ‘egg’ the earth – small and flat – floated on a limited mass of water; on it stood one bull, one plant, and a single human. Thus six of the seven ‘creations’ (man, animal, plant, metal, water, earth) were present in the ideal material creation. The seventh, fire, which makes movement possible, entered the world when its dynamic stage began. Time existed at this stage, but it was still static. To prepare himself for battle, Ohrmazd created seven divine helpers, the AmΩša SpΩntas (‘Beneficent Immortals’). When Ahriman’s first attempt to conquer the world was repulsed, he created his own demons and evil creatures. All creations therefore have the inherent nature of their creator, which means that beings belonging to Ohrmazd can only be good, while the creatures of Ahriman have no choice but to be wicked. Only Man, though essentially good, is capable of moral choice and will play a crucial role in the cosmic drama by aiding and strengthening the side of his choice. At the end of the ideal material state Ohrmazd celebrated a religious ceremony (yasna), and invited the eternal part of human souls to enter the world of ‘Mixture’ that was to come. ***

_______________ 1

Škand 12.33, see DE MENASCE, J., Škand-GumanƯk VicƗr, Fribourg-en-Suisse 1945, 166, 272. 2 See KREYENBROEK, P.G., Living Zoroastrianism: Urban Parsis Speak about their Religious Lives. In collaboration with S.N. Munshi, Richmond 2001. 3 For a fuller discussion see with references KREYENBROEK, P.G., Millennialism and Eschatology in the Zoroastrian Tradition, in: AMANAT, A./B ERNHARDSSON, M.T. (Ed.), Imagining the End: Visions of Apocalypse from the Ancient Middle East to Modern America, London 2002, 33–55.

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The world of Mixture – the dynamic phase of world history during which good and evil are mixed and time progresses – began when Ahriman successfully attacked Ahura MazdƗ’s ideal world. Ahriman entered the shell-like sky, and killed or spoiled all that was in it. Where there was light he brought darkness, sweet water became briny, and he polluted fire with smoke. Furthermore he pounded the first plant and killed the first bull and man. For a short time he appeared to have won. Then Ahura MazdƗ’s creations began to act according to their inherent nature, fighting evil and pollution. From the first plant, animal, and man sprang all species of good living beings, and eventually the world became as we know it: with birth and death, night and day, sweet and salt water, useful and dangerous animals, plains and mountains, and the forces of evil pitted against those of good. As the world was created by Ahura MazdƗ, it must eventually return to its true nature, but this ideal state cannot come about without the active co-operation of Man. The Zoroastrian system of ethics is based upon the concept of human choice, and its consequences. Given the unsatisfactory character of world of Mixture, the good cannot automatically expect to be rewarded on earth. Zoroastrianism teaches that true justice will come after death, when the individual soul will be judged, and either rewarded by heavenly bliss or made to expiate its sins in hell. *** When the dynamic world has almost fulfilled its purpose and the power of evil is weakened, a process begins that will culminate in the ‘Renovation’ (Av. frasho.kΩrΩti; MP. frashegerd). The concept denotes a renewed non-dynamic, timeless and ideal state, but one in which the world will have been cleansed of evil and all men will be restored to physical life (the tan Ư pasƝn or ‘final body’). The process begins with the appearance of the Saviour (Saošyant), born of a virgin who will conceive when bathing in a lake where Zarathustra’s ‘essence’ is preserved. The Saošyant will bring about the Resurrection, and hold an assembly of all men and women. The Final Judgement will take place, and those to whom sin still clings will undergo another short period of punishment in hell (this time in the material body). It is also said that a river of molten metal will flow over the earth, through which all men must pass; those who are free of sin will experience this like a bath in warm milk, but those whose sins have not been completely atoned for will be burned by the metal. Thus cleansed, all men meet again in the body and praise Ahura MazdƗ. In a Final Battle, Ohrmazd and the good Yazads defeat the last remaining powers of evil. After this, Ohrmazd performs a final ritual. and then Frashegerd begins.

Thus Zoroastrianism understands both past and future as parts of a development with strong moral implications. It teaches that justice will eventually prevail both for individuals (whose souls will spend the time up to the Renovation in heaven, hell or purgatory), and in the universe (when evil is removed for ever). These beliefs led to the development of an eschatology containing elements which were later accepted as integral parts of the teachings of monotheistic religions such as Christianity and Islam, but presumably originated in a world-view that had a strong dualist element.

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The cult While some of the above has led to a view of Zoroastrianism as a highly ‘philosophical’ religion, this is only partly justified. Our sources suggest that, within the general framework of the belief system outlined above, observance and ritual played a greater role in the life of Zoroastrian communities than theological speculation. It is by means of prayer, participation in community feasts, scrupulous attention to physical and ritual purity and impurity, and observance of a range of domestic and priestly rituals that the Zoroastrian community sought to strengthen Good and defeat Evil. Rituals are performed by members of a hereditary priesthood. Unless the ritual is directly concerned with a manifestation of evil (as in case of a funeral),4 every ritual is normally dedicated first to Ahura MazdƗ, and then to whichever Yazad the person commissioning the ritual prefers. The dedication is made by means of certain formulae in the liturgy; the ritual actions and most of the liturgy remains the same whatever the dedication. Prayers and rituals may be offered to each Yazad on his or her day of the month. In the Zoroastrian calendar each month of the year and each day of the month is dedicated to a specific Yazad. When both day and month are dedicated to the same Being, the day is known among Indian Zoroastrians as that Yazad’s ‘birthday’, and many of these are celebrated as festive occasions. The institution of this Zoroastrian calendar, whose date is still a matter of debate, also had the effect of ‘canonising’ certain divinities, while most of those who did not have a day dedicated to them were gradually forgotten. History The many similarities between the ancient Iranian and ancient Indian religious traditions show that both are descended from a common, ‘IndoIranian’ religion. It is thought that from the time they separated from the main group of Indo-European-speakers until the proto-Iranian and protoIndo-Aryan tribes parted, the Indo-Iranian tribes developed a relatively elaborate religious tradition with liturgical and other religious texts, distinctive ideas and beliefs, rituals, and institutions. It was the task of the priests to maintain proper relations between the world of the gods and that of men. Some priests, it seems, were especially trained to understand the _______________ 4

In such cases, the first rituals are always dedicated to the divinity Sraoša alone. When the danger of contact with evil is felt to have been removed, the rites are again dedicated first to Ohrmazd (see KREYENBROEK, P.G., Sraoša in the Zoroastrian Tradition, Leiden 1985, 143–145).

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hidden meanings behind everyday appearances, and to use this knowledge in composing sacred texts (such as mantras and hymns), through which they hoped to influence the gods and protect their people. The similarities between the two extant traditions suggest that the universal law of ‘cosmic order’ (Old Indian: Rta; Iranian: Aša, Arta), played a fundamental role in the Indo-Iranian view of religious truth. The chief function of some of the highest gods, it seems, was to ensure that the laws of Aša were obeyed in the world. Thus Varuna, whose name suggests a link with the oath,5 and his partner Mit(h)ra, ‘Contract’, saw to it that men honoured their obligations to the Gods (oath) and to each other (contract). Fire, which in Iran is particularly connected with Mithra, is the ‘guardian’ of Rta (RV.i.1.8). In the Indian Veda the title asura ‘lord’ was used to denote a whole group of divine beings, and was particularly associated with Varuna. In Iran the term ahura is notably used for Mithra and for Ahura MazdƗ. It is interesting to note that the character and functions asuras/ahuras appear to be defined, in essence, by their names (e.g. Oath, Contract, Wisdom). While in Zoroastrianism the ahuras became the dominant group and the daƝvas were rejected as evil beings, in India the asuras lost their popularity and the devas became dominant.6 The most popular deva in the Veda was Indra, whom Zoroastrians abominated. The Vedic Indra ruled at will and was not bound by any law, nor does his name indicate his character. One can only speculate about possible reasons for such a development, but it seems possible that, while the asuras reflected the preoccupations of the priesthood, the rise of the ‘heroic’ Indra among the proto-Indo-Aryans mirrored the ascent of the warrior class during the period of the great migrations. The proto-Iranians may not have been affected by this development until they came into renewed contact with the proto-Indo-Aryans. It is now assumed that the proto-Iranians (PIr) and proto-Indo-Aryans (PIA) drifted apart some time during the third millennium BCE. The PIA tribes probably moved south before the protoIranians. In a recent article, A. Parpola7 has presented archaeological and philological evidence to suggest that a PIA civilisation flourished for centuries in southern Central Asia, in the area of Bactria and Margiana in modern Afghanistan and Turkmenistan (the ‘Bactria and Margiana _______________ 5

See e.g. B OYCE, M., Zoroastrians: Their Religious Beliefs and Practices, London etc. 1979, 8–9. 6 The word is of Indo-European origin and originally meant ‘shining one’. 7 P ARPOLA, A., From the Dialects of Old Indo-Aryan to Proto-Indo-Iranian and ProtoIranian, in: SIMS-W ILLLIAMS, N. (Ed.), Indo-Iranian Languages and Peoples, Oxford 2002, 43–102, here 68ff., esp. 69.

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Archaeological Complex’ or BMAC).8 Around 1500 BCE a wave of Iranian tribes is thought to have settled in the same area, taking over much of the local culture, and eventually causing some proto-Indo-Aryans to move on towards the Punjab. In other words, after a period of joint existence followed by several centuries of separate development, the protoIranians again came into contact with their PIA cousins, who must by this time have adopted the Indra-cult, in the BMAC. With its ‘heroic’ and unpredictable ‘might-is-right’ attitudes, the new cult may have pleased some of the newcomers and repelled others. It is in just such a situation of cultural tension and religious antagonism that the Iranian Spitama Zarathushtra (Greek: Zoroastèr; hereafter Zarathustra) appears to have lived. The evidence suggests that Zarathustra was a learned priest, trained to fathom hidden meanings and to compose sacred poetry. He spoke out against the rule of the daƝvas/devas and their followers, whom he regarded as evil. His activities seem to have provided a focus for the antagonism of some Iranians to another group in the same society, 9 which therefore came to express itself mainly in terms of religion. Thus, apparently for the first time in the history of the Indo-Iranian peoples, Zarathustra’s supporters defined themselves as adherents of a separate religious tradition (rather than e.g. as a social or linguistic group): as ‘MazdƗ-worshipper(s) and Zoroastrian(s)’.10 How the religion of this group developed between the time of Zarathustra and the sixth century BCE remains a matter of speculation. It is thought that the new religion spread and developed its teachings and beliefs in present-day Afghanistan, eastern Iran, and Tajikistan. In the course of time Zoroastrianism must have become known in western Iran. It is widely held that the Achaemenians were already Zoroastrians when they came to power in the mid-sixth century BCE. Thus Zoroastrianism, which probably originated in tribal culture in the Eastern Iranian world around 1000 BCE, became the religion of a world empire some four and a half centuries later. The royal inscriptions of the Achaemenians are the first written sources that were informed by Zoroastrian ideas. In spite of the information they offer, much works still needs to be done to inform us what the ‘conversion’ of leading Western Iranian circles entailed. Certain concepts and symbols were obviously accepted but, given the largely oral character of religious transmission in this period, it seems likely that elements of the new faith were ‘grafted’ on to a mental map of religion that was based on the _______________ 8

See also SARIANIDI, V.I., Margiana and Protozoroastrianism, Athens 1998. See KELLENS, J./P IRART, E., Les textes vieil-avestiques I. Wiesbaden 1988, 22ff. 10 Y.12.1. For a more detailed discussion see KREYENBROEK, P.G., Zarathustra and the Zoroastrian Tradition, Tehran forthcoming. 9

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established local tradition. This presumably gave the Western Iranian form of Zoroastrianism a distinct character. Its position as the religion of the court, moreover, which implies a status not unlike that of a ‘state religion’, must have forced Zoroastrianism to adapt itself to new realities. Unfortunately, the present state of our knowledge does not allow us to do more than guess as to the nature of such adaptations. The Achaemenian period came to an abrupt end with the conquest of its realm by ‘Alexander the Accursed’ (i.e. Alexander the Great). Among other things, the collapse of the Empire meant that provincial Zoroastrian priesthoods were no longer seen as parts of a greater, national whole, which needed to communicate with each other regularly. The structure of Zoroastrian devotional life is such that local ‘parishes’ could continue to practise their religion under the leadership of local priests, but connections between the priesthoods of various parts of the Empire broke down. As a result, regional traditions increasingly came to diverge from each other. Under Alexander’s successors, the Seleucids, popular religion seems to have gained the upper hand in many eastern Iranian lands, and syncretistic Irano-Hellenistic cults emerged there. In western Iran Zoroastrian roots appear to have been deep enough to resist such a development. In the course of the third century BCE, the non-Iranian Seleucids were succeeded in the culturally dominant western and central parts of Iran by the Parthian Arsacids. Remarkably little is known about this Iranian dynasty because their successors, the Sasanians, did everything in their power to expunge traces of their rule from the records. It is assumed that they were ‘mainstream’ Zoroastrians. In 226 CE, the Parthian Arsacids were defeated by the Persian Sasanians. In support of their otherwise doubtful claims to legitimacy, the early Sasanians made extensive use of propaganda which aimed to appeal to religious sentiments. As a result, Sasanian rule came to be associated with Zoroastrian orthodoxy, and in its earlier stages depended greatly on the good-will of the priesthood. In the course of the Sasanian era the Zoroastrian ‘Church’ gradually accumulated great riches and unprecedented powers in the secular administrative sphere, as well as in purely religious affairs. As the sixth-century Byzantine author Agathias put it: “Public affairs are arranged according to their [i.e. the priests’] counsels and predictions, and in particular they direct the affairs of those involved in litigation, watching carefully what is being done and giving their decision; nothing among the Persians appears to be legitimate and justified unless it has been authorised by a Magian [i.e. priest].”11 Sasanian _______________ 11

Quoted in CHRISTENSEN, A., l’Iran sous les Sassanides, Copenhagen 1944, 117.

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institutions tended to be hierarchic and highly centralised, and this was certainly true of the Church and the organisation of the priesthood. Whether lay resentment of this Sasanian semi-theocracy played a part in the Empire’s rapid downfall at the hands of the armies of Islam remains a matter of speculation. What is clear is that political and military power in Iran came into the hands of the Muslim occupiers in the mid-seventh century CE, apparently without much difficulty. Although there were some early conversions, the bulk of the population remained faithful to its ancestral religion until the ninth century,12 but in the newly dominant Islamic culture Zoroastrian communities became increasingly poor and marginalised. At some stage in early Islamic times, a group of Zoroastrians left their homeland and eventually settled in India, where they became known as Parsis (‘Persians’). The Parsi community still exists, and came to occupy a particularly prominent position in India under British rule. In the nineteenth century the Parsis used their influence to help their coreligionists in Iran, who had been living in difficult conditions. In twentieth-century Iran, the search for a new identity independent of Islam led to a renewed appreciation of Zoroastrianism, and to a considerable improvement in the position of the Zoroastrian communities there. Nevertheless, many Zoroastrians from both India and Iran emigrated to the West in search of a better economic future, and sizeable and influential Zoroastrian communities now exist in the United Kingdom, the USA, Canada and Australia.

On the early Transmission of Zoroastrianism Modern descriptions of Zoroastrian teaching tend to suggest that the similarities between the Iranian faith and the scriptural religions better known to the West far outweigh any differences between them. While important similarities certainly exist, the implications of the fact that Zoroastrianism was transmitted orally until the sixth century CE or later, are more far-reaching than is often realised, not least in the sphere of theology and doctrine. The Sacred Texts As is well-known, the Sacred Book of the Zoroastrian religion is now known as ‘Avesta’, or less correctly ‘Zend-Avesta’. The meaning of the _______________ 12 For a detailed account the ‘Islamification’ of Iran see CHOKSY, J.K., Conflict and Cooperation: Zoroastrian Subalterns and Muslim Elites in Medieval Iranian Society, New York–Chichester 1997.

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term ‘Avesta’ has long remained a mystery. Recently, however, W. Sundermann13 has offered convincing evidence to show that the original meaning of the term was ‘testament’, a written document containing a person’s last will. This is of course reminiscent of Christian usage, and Sundermann offers cogent arguments for the assumption that the Zoroastrian terms was indeed borrowed from the Christian tradition. This clearly suggests that, before the Iranian world came into contact with Christianity, it had no specific name for the corpus of sacred texts which had presumably formed the core of the Zoroastrian tradition for over a thousand years.14 The obvious explanation for this is that these texts were not thought of as a single corpus until this idea was suggested by contacts with Manichaeism and later with Christianity, from which the name was apparently borrowed. The notion of a sacred book presumably preceded the appearance of the written Avesta by several centuries. If the idea originated from contacts with rival religions, the concept of ‘scripture’ may have preoccupied Zoroastrians from the third century onwards. However, as far as we known no script existed at that time which could adequately render the sound system of Avestan. The scripts used by Zoroastrian priests were based on the Aramaic alphabet and did not represent short vowels, while the presence of a long vowel was indicated by means of a consonant. It would have been impossible, therefore, to read an unknown text correctly from the page, which means that a written tradition could hardly have played a significant role in the transmission of the Avesta until an adequate alphabet existed. The sources suggest that a complete, written version of the Avesta first saw the light of day during the reign of Khusraw I (531–78 CE).15

_______________ 13

SUNDERMANN, W., Avesta und Neues Testament, in: Philologica et Linguistica: Historia, Pluralitas, Universitas (FS H. Humbach), ed. by M.G. Schmidt/W. Bisang, Trier 2001, 258–264. 14 In the Middle Persian texts the usual term for the sacred texts is simply dƝn ‘religion’. 15 See DHABHAR, B.N., The Epistles of MƗnnjshchƯhar, Bombay 1912, I.iv.15–16, where it is said that ‘at the Council of Khusraw of Immortal Soul, King of Kings, son of KawƗd, the High Priest WehshƗhbuhr published the 21 Books (nask) of the Avesta,’ and that these were sent to all the provinces, whose religious leaders set their seals on them (KREYENBROEK, P. G., On the Concept of Spiritual Authority in Zoroastrianism, Jerusalem Studies in Arabic and Islam 17 [1994] 1–15). The tradition, found in some Zoroastrian texts, that the Avesta had originally been written down under the Achaemenians but was then destroyed by Alexander, clearly came into being when the concept of a ‘Sacred Book’ already existed, and an explanation was needed for the lack of such a scripture in Zoroastrianism.

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The Priestly Tradition Religious texts in ‘Avestan’ must therefore have been transmitted orally from the beginning of Zoroastrianism until the end of the Sasanian period, some 1500 years later. Unusually for oral traditions, some of these texts have been preserved in a much more archaic form of the language than others. The most important of these ‘Old Avestan’ texts are the GƗthƗs, which are widely believed to have been composed by Zarathustra,16 and the Yasna HaptanghƗiti, whose position in the liturgy suggests that it was particularly revered by Zarathustra’s early followers. It seems likely that it was the special status of these texts that led priests to memorise them verbatim, or even syllable-by-syllable, while other texts were transmitted in a freer, more fluid manner for a long time. It has been suggested elsewhere17 that the text of other, ‘Young Avestan’ texts eventually came to be fixed during the Achaemenian period. At this time the cultural centre of the Zoroastrian world had shifted from Eastern to Western Iran, but its sacred language remained Avestan, a language with mainly Eastern Iranian characteristics, which was as different from Western Iranian Old Persian as modern German is from Danish. Since a term of Avestan origin continued to be used for a priestly teacher while all other priestly titles are of Western Iranian origin, it could be supposed that the first generations of priestly teachers in Western Iran were in fact native speakers of Avestan. Their descendants who continued to live in western Iran must have lost their active command of Avestan, and began to memorise the sacred texts verbatim, thus automatically fixing the texts. In the course of time Western Iranian languages became increasingly different from Avestan, and the need for a translation came to be felt. Given the oral nature of the tradition and the lack of adequate linguistic knowledge, this must have posed considerable problems, but an ingenious (if somewhat primitive) system was developed, whereby an Avestan word was automatically translated by a single Middle Persian18 one, regardless of the context. Since this did not always result in clear Middle Persian prose, short explanatory comments could initially be added. Later, priestly teachers began to add longer commentaries, which were apparently _______________ 16

KELLENS/P IRART, 18, are of the opinion that, although Zarathustra played a dominant role in the GƗthƗs, he himself only composed a small part of these texts. Against this see KREYENBROEK, Zarathustra. 17 See KREYENBROEK, P.G., The Zoroastrian Tradition from an Oralist’s Point of View, in: CAMA, K.R./DESAI, H.J.M./MODI, H.N. (Ed.), Oriental Insitute. Second International Congress Proceedings, Bombay 1996, 221–237. 18 Elsewhere in Iran, Parthian and Soghdian Zand translations probably existed, but these are no longer extant.

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memorised along with the text and translation. The Middle Persian translation-cum-commentary is known as Zand (explanation), whence ‘Zend-Avesta’. All priestly candidates were trained to perform the main Zoroastrian rituals and memorise their liturgies from an early age. A select group then went on to do ‘advanced priestly studies’ (hƝrbedestƗn, i.e. courses offered by priestly teachers)19 for three years, memorising many texts of the Zand and learning to interpret the meaning of the Scriptures. Priestly teachers generally followed the teachings of one particular great teacher. In late Sasanian times four main ‘schools’ (cƗštag) existed, each of which was named after a great hƝrbed of old. Essentially, however, those who had earned the right to give ‘judgements’ in religious matters were free to decide as they saw fit. Even on the rare occasions when the King declared a preference for a certain doctrine, it was stressed that all judgements of qualified authorities continued to be valid.20 This juxtaposition of at times incompatible options seems to be a characteristic feature of oral culture, where there is no possibility for a leisurely comparison between the views of different authorities. In the case of Zoroastrianism it was not until the ninth century CE, when the dominant culture in Iran was already highly literate, in that questions arose as to which of the various accepted judgements was inherently superior. At that time, however, the Zoroastrian community had become too marginal and poor to pursue such questions in a systematic way. From priests to laity Until the time of Khusraw I, who forbade lay attendance at the hƝrbedestƗn, these courses were apparently open to priest and laymen alike. Khusraw, it seems, blamed the very rapid proliferation of the teachings of the ‘heretic’ Mazdak on lay participation in hƝrbedestƗn, which implies that these courses were potentially influential precisely because they were attended by interested lay people. Nevertheless, it seems unlikely that such courses were attended by more than a small minority of the laity. Every Zoroastrian, moreover, had to choose a qualified priest as his ‘spiritual director’ (dastwar), whose task it was to guide him or her in matters concerning religion.21 Our (limited) evidence suggests that the dastwar was normally consulted about appropriate ways to redeem sins, _______________ 19

See KOTWAL, F.M/KREYENBROEK, P.G., The HƝrbedestƗn and NƝrangestƗn I, II, III, Paris 1992, 1995, 2003. I. 15–18. 20 See KREYENBROEK, Spiritual Authority. 21 See KREYENBROEK, Spiritual Authority.

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and on questions of ritual. The silence of the sources suggests that expositions of doctrine did not play a major role in a dastwar’s activities. When asked, a dastwar would presumably teach the view of the cƗštag in which he was trained. A priest might deliver an edifying talk at communal gatherings, but regular sermons did not play an important role in the transmission of religious knowledge. The question of ‘theology’ Given the laity’s restricted access to the Avestan tradition, the lack of references to doctrinal teaching by dastwars, and the absence of a widely accessible written literature on matters of theology, it seems fair to deduce that the priestly and lay spheres remained largely separate in ancient Iran, and the laity was not much exposed to priestly doctrine. Clearly religious teachings were offered which were capable of meeting the ad hoc needs of the community, but it seems unlikely that a more or less unified, coherent and continuous theological tradition existed. Any study of Zoroastrian teaching must therefore be based on the implicit evidence of the sources, while taking into account the functions of each text in the religious life of the community, and the conventions of its genre. It would be pointless to look for strict logic or prescriptive definitions in inspired, allusive texts, while the value of royal inscriptions often lies in the cultural and religious implications of their claims, rather than their historical truthfulness.

The Zoroastrian Sources The Sacred Books of the Zoroastrians can be divided into four groups of texts: (1) the Yasna and Vispered, i.e. texts used as liturgies to high rituals; (2) the Yašts, or ‘hymns’ to the Yazads; (3) the VendidƗd, a collection of texts belonging to the learned tradition, which eventually came to be recited as part of a liturgy; (4) and the Khorde Avesta or ‘lesser Avesta’, which consists of prayers and other short texts that are frequently recited. These texts are either transmitted in Old or Young Avestan (see above), while a few appear to have evolved linguistically along with Young Avestan texts, and later to have been ‘put back piously, but not wholly accurately, into Gathic Avestan’22 These are known as ‘pseudo-gathic’ texts. _______________ 22

B OYCE, M. (ed. trsl.), Textual Sources or the Study of Zoroastrianism, Manchester 1984, 57.

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The Old Avestan Texts At the heart of the Yasna, protectively surrounded by other sacred texts, we find the GƗthƗs (‘Songs’), which are generally attributed to Zarathustra himself. These in turn surround another ‘Old Avestan’ text known as the Yasna HaptanghƗiti (‘Liturgy of Seven Chapters’), a prose text whose origin is still debated by scholars, but which was undoubtedly recognised as a sacred text by the early followers of Zarathustra. The GƗthƗs are clearly the product of a highly evolved priestly poetic tradition. They are allusive in character, full of references to events and practices with which the contemporary priesthood was familiar, and allusions to the divine plane of reality which was held to inform the conditions of our world. Given the intricate character of these poems it can be assumed that they are formalised expression of a system of teachings which was propagated and transmitted by community discourse. Zarathustra, in other words, must have preached as well as composed poems.23 The GƗthƗs are widely regarded as constituting the core of Zoroastrian dualist teaching, a pervading theme being the antagonism between Good and Evil on various planes of existence (notably the divine, ritual, and social ones). It is clear from the texts that, when they were composed, the followers of the a-moral daƝvas were powerful in society, and were busy destroying the world ‘a second time’ (Y.45.1; the first time having occurred, presumably, when the Evil Sprit brought about the State of Mixture). Zarathustra and his followers rejected the worship of the daƝvas and adhered solely to the more predictable, ‘moral’ ahuras. They sought to invoke the help of the ahuras, and particularly of Ahura MazdƗ, in order to restore the word to the pristine conditions which had obtained in the past, and which clearly accorded with the ahuras’ wishes.24 The terrestrial struggle therefore mirrors a celestial antagonism that must be fought to a conclusion on earth. A verse often cited as an illustration of Gathic dualism reads as follows:25 I shall proclaim the two spirits26 of the primal stage of existence of whom the more beneficent one addresses the harmful one thus:

_______________ 23 A similar state of affairs can still be seen in modern religious communities in the Middle East, such as the Yezidis and Ahl-e Haqq, whose formal poetic traditions would seem impenetrable to those who are unaware of the prose storytelling traditions to which the poems allude. 24 Whether Zarathustra expected to achieve this in his lifetime, or projected victory into a not too distant future is still a matter of debate, see KREYENBROEK, Millennialism. 25 For a more detailed discussion see KREYENBROEK, Zarathustra. 26 Against Kellens’ and Pirarts’ claim that Av. mainiiu does not mean ‘spirit’ but ‘state of mind’, see KREYENBROEK, Zarathustra.

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‘Neither our ways of thinking nor our pronouncements agree, nor do our intellects, our choices, our words, our ritual actions, religious views, or our souls.’

In recent decades the view that the GƗthƗs are expressions of a dualist world-view was challenged by J. Kellens and E. Pirart,27 scholars who advocate a purely philological approach to the study of Avestan texts.28 They support their claim mainly by arguing29 that there is no systematic opposition of antonyms in the GƗthƗs (the prominent opposition between Aša, ‘Truth, Cosmic Order’ and Drug, ‘Lie, Chaos’ being insufficient, in their opinion, to posit dualism); that one passage (Y.33.1–3) suggests that an intermediate category between the good and the wicked was acknowledged to exist; and that Ahura MazdƗ is not depicted as having an adversary of the same stature. As has been argued in details elsewhere,30 Kellens and Pirart’s arguments are mostly based on a prescriptive definition of what dualism is, viz. a religion teaching a ‘systematic’ opposition of forces; a ‘philosophy’ having a ‘theoretical basis’, and requiring the supreme deity to have an adversary of the same stature (who is, moreover explicitly described as such in hymns intended to win the deity’s favour). In short, for Kellens and Pirart, dualism is a consistent and exclusive philosophical or theological system. The many references to a good and a wicked side to existence which in most scholars’ views play a key role in the GƗthƗs, are here qualified as a ‘semblance of dualism’ deriving from an actual conflict in which the ‘Gathic circle’ was engaged. The argument, in short, is largely based on semantics, and would lose its force if one were to define the Gathic world-view as ‘proto-dualist’. Kellens and Pirart further argue, however, that no ‘Gathic morality’ can be claimed to exist. This claim is at odds with the contents of the GƗthƗs as they would appear to most researchers. It could be explained as the result of a refusal to recognise the allusive and polyvalent character of the texts. Kellens and Pirart’s interpretation emphasises the ritual side of the text so exclusively that the connection between ritual references and allusions to wider concerns is times obscured. The verse beginning ‘Whither shall I turn, where shall I go...’ (Y.46.1), for instance, hardly seeks to inform the gods that Zarathustra is wondering where to perform his next ritual. It is about the righteous author’s low social standing, his lack of power, and the wickedness of his adversaries. Most people would surely admit that a certain morality is implicit there. Similarly, the Cow’s _______________ 27

Notably in KELLENS/P IRART, Textes. See KREYENBROEK, Zarathustra. 29 KELLENS/P IRART, Textes, 26ff. 30 KREYENBROEK, Zarathustra. 28

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complaint of its tormentors (Y.29) has hardly been immortalised solely because of early Iranian concerns for animal welfare. The text refers to cruel sacrificial practices, but also implies the wider question of moral rights and wrongs. These passages and many others imply that Zarathustra was not exclusively concerned with ritual, but understood terrestrial conditions as the result of an interplay between forces of a higher level which, as a priest, he sought to influence by means of his ritual acts. One can only conclude that both the ‘here and now’ and the ritual must have had great moral significance for Zarathustra, since both the believers’ mentality and the rituals they sponsored had a bearing on the strength or weakness of the Beings on whom humanity’s well-being depended. It would therefore seem fair to say that a pronouncedly dualist element can indeed be recognised in the GƗthƗs, even though these texts do not reflect a consistently dualist world-view. Kellens and Pirart31 are correct, however, in stating that no evil spirit is explicitly portrayed in the GƗthƗs as being of the same stature as Ahura MazdƗ. Given the genre of these texts, references to an opponent of MazdƗ as his equal would presumably have been inappropriate, and the crux of the Gathic message is the need for Good to overcome Evil, which is not represented as a foregone conclusion. It could therefore be claimed that the existence of an antagonist of equal stature is implied by the Gathic texts. Still, passages describing Ahura MazdƗ’s qualities and functions do suggest that he is seen as supreme and uniquely powerful: the primeval creator of divine and terrestrial beings.32 While in a written theology such apparent inconsistencies would need to be resolved, in oral traditions this is apparently less essential. It is rarely suggested in such texts that they can do more than reflect part of a reality that is too complex for humans to comprehend fully. In the case of the GƗthƗs, it seems unlikely that the author sought to do more than ponder upon the loyalties and antagonisms that existed on a higher plane, and might help him influence the conditions of his time. In later Zoroastrianism Ahura MazdƗ is surrounded by the seven AmΩša SpΩntas. This group includes: Aša Vahišta, ‘Best Truth’; Vohu Manah, ‘Good Thought’; SpΩntƗ ƖrmaitƯ, ‘Beneficent Devotion’; Xšașra Vairiia, ‘the Power that must be chosen’; HauruuatƗt, ‘Wholeness’; and AmΩrΩtƗt, ‘Immortality’. 33 In later sources Ahura MazdƗ himself is said to be the seventh, while in earlier times SpΩnta Mainiiu (‘Beneficent Spirit’)

_______________ 31

KELLENS/P IRART, Textes, 26. e.g. Y.31.6ff. 33 These Beings are all mentioned together in one place in the GƗthƗs, Y.45.10. 32

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probably held this position.34 These beings are divinities, and are worshipped as such in the ritual and various observances. As their name indicates, however, they also represent abstractions or qualities that can become immanent in humans. In the GƗthƗs several of these Beings play an important role, but they do not yet constitute a well-defined group.35 The characteristics of certain other Yazatas36 in the GƗthƗs are very similar to those of the AmΩša SpΩntas, but these Beings do not form part of the group of AmΩša SpΩntas in later Zoroastrianism. It would seem that Zarathustra, the champion of the ahuras, whose names tend to define their character, invoked a range of Beings whom we would call abstractions, worshipping them as ‘powers’ with the same ontological status (if not the same power) as Ahura MazdƗ. The latter is represented as the ‘father’ of some of these Yazads37, or their ‘creator’.38 Thus he is superior to them, while they are of his essence and must act in accordance with his wishes. However, they are nevertheless portrayed and ritually worshipped as divine beings. Although such a belief system is hardly difficult to comprehend, the question as to whether it reflects a monolatrous or dualistic system is difficult to answer. According to Kellens and Pirart,39‘That no [dualist] religious system or philosophy is involved, is proved by the evidence of the Yasna HaptanghƗiti: when the conflict disappears, so do the wicked’. It is true that the Yasna HaptanghƗiti (YH) focuses fully on celebrating good divine powers and does not refer to the wicked. The question is, then, what this apparent lack of dualism in the YH can be taken to mean. The question is complicated by fact that here is no unanimity as to the origin of the text. J. Narten has shown40 that, from a linguistic point of view, this prose text is very similar to the GƗthƗs. This has led some scholars to assume that it was composed by Zarathustra. Kellens and Pirart only partially agree with this, however, and the above-mentioned statement implies that they believe it to reflect a slightly later stage in the history of the community. From an oralist’s point of view, moreover, the linguistic data could also indicate that an older text was adapted to Zarathustra’s teachings at an early stage, _______________ 34 See KREYENBROEK, P.G., On Spenta Mainyu's Role in the Zoroastrian Cosmogony (FS A.D.H. Bivar) (Bulletin of the Asia Institute 7), ed. by C. Altman-Bromberg, 1993, 97–103. 35 This was convincingly shown by N ARTEN, J., Die Amԥša Spԥntas im Avesta, Wiesbaden 1982. 36 Notably Sraoša (‘Hearkening’) and AšLi (Recompense’). 37 Vohu Manah, Y.31.8, 45.4; Aša, Y.44.3; 47.2; Spԥnta Mainyu (?), Y.47.2,3; Ɩrmaiti is said to be his daughter (Y.45.4), who belongs to him (Y.31.9). 38 Aša, Y.31.8. 39 KELLENS/P IRART, Textes, 27. 40 NARTEN, J., Der Yasna HaptanghƗiti, Wiesbaden 1986.

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enjoyed a high status in the early community, and was therefore memorised verbatim along with the GƗthƗs. If this was so, even an older text would have become fixed in a form of Avestan that was similar to that of the GƗthƗs. However this may be, it is clear that the YH was transmitted together with the GƗthƗs, which clearly symbolise the origin and essence of Zoroastrianism. The texts were therefore transmitted in the same religious milieu, and were both held to express religious truth. This implies that the positive spirit of the YH cannot have been felt to clash with that of the GƗthƗs, and the YH can only be be understood as an expression of early Zoroastrianism which, either because of its function or of its preZoroastrian origin, did not refer to questions of evil. The proto-dualist spirit of the GƗthƗs is found again, however, in the FravarƗnƝ (Y.12), a pseudo-gathic text which is often referred to as the ‘Zoroastrian Creed’. Both the text as a whole and some of its parts play so central a role in Zoroastrian rituals and observance, and its contents seem so archaic, that M. Boyce is probably right in stating that ‘its kernel was probably the profession of faith required in earlier times of a convert.’41 If this is so, passages such as Y.12.4: ‘I forswear the company of the wicked DaƝvas ... and the followers of the DaƝvas, of demons and the followers of demons... of those who do harm to any being by thoughts, words, acts, or outward signs’,42 clearly show that a dualist world-view continued to play a key role in the early development of Zoroastrian thought. The Young Avestan Texts To those who are accustomed to thinking in terms of a written tradition, the Yašts, hymns to individual Zoroastrian Yazads, may appear anomalous in that they tend to contain different ‘layers’ belonging to different periods, and often reflecting dissimilar points of view. It is impossible in many cases to establish when a Hymn originated. Poetry celebrating the gods is probably as old as the concept of the gods themselves, and the core of several Yašts clearly goes back to pre-Zoroastrian times. Essentially, a Yašt praises a Divine Being by describing his or her qualities and exploits. The core of these texts can thus be said to reflect an essentially polytheistic world-view. In the Zoroastrian period, however, ways were found to adapt the text, at least superficially, to Zoroastrian teaching. In their extant form many Yašts begin with a verse stating that MazdƗ commands Zarathustra to

_______________ 41 42

B OYCE, Sources, ibid. Trsl. BOYCE ibid.

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worship the Yazad.43 Secondly, given a world-view in which the opposition between good and evil played a key role, verses describing a Yazad’s aversion to, or punishment of, sinners and daƝva-worshippers44 have naturally been preserved. The same is true of passages which portray the Divinity’s natural antagonists as evil.45 Thirdly, verses could be added to a Yašt, claiming a family relationship between a pre-Zoroastrian Yazata and great Zoroastrian symbols, thus subordinating the older Beings to Ahura MazdƗ, and showing them to have been accepted or worshipped by Zarathustra. Aši, for instance, is said to be Ahura MazdƗ’s daughter, and the sister of the AmΩša SpΩntas (Yt.17.2). In spite of such attempts to ‘zoroastrianise’ the older divinities by stressing their aversion to the wicked and their subordination to Ahura MazdƗ,46 the greater part of Yašt literature celebrates the individual characteristics and deeds of the Yazatas, depicting them as ‘gods’ rather than ‘angels’. Many Yazatas, moreover, had their own days and months (see above), and their hymns were evidently recited on those days in priestly rituals as well as domestic observance.47 The recent discovery of a pre-Islamic place of pilgrimage obviously associated with the Waters, and thus possibly with the Yazata AnƗhitƗ, further suggests that Yazatas could be worshipped more or less independently in Zoroastrian times. 48 The Achaemenian Inscriptions Although great deal of evidence exists that has a bearing on the religious life of the Achaemenian period. However, most of the relevant Elamite and Aramaic sources have as yet been insufficiently studied, and our present knowledge of Achaemenian Zoroastrianism can only be called sketchy. It seems fair to assume, however, that the royal inscriptions of the _______________ 43 e.g. Yt.10.1: ‘Ahura MazdƗ spoke to Spitama Zarathustra: “When I created Mithra of wide pastures, o Spitama, I created him as worthy of being worshipped and prayed to as I (am) myself, (I,) Ahura MazdƗ”’. 44 e.g. Yt.14.51–52, 54–56. 45 In Yt.17.57–59, AšLi, goddess of fertility and matronly virtues, complains of women who are infertile and of those who present their husbands with another man’s child. 46 On this phenomenon see KREYENBROEK, P.G., On the Shaping of Zoroastrian Theology: Ashi, Verethraghna and the Amesha Spentas in: BERNARD, P./GRENET, F. (Ed.), Histoire et Cultes de l'Asie Centrale, Paris 1991,137–145. 47 KREYENBROEK, P.G., Ritual and Rituals in the NƝrangestƗn, in: STAUSBERG, M. (Ed.), Zoroastrian Rituals in Context: Studies in the History of Religions, Leiden 2003, 317–332, KOTWAL/KREYENBROEK, HƝrbedestƗn and NƝrangestƗn II, 20–22. 48 See STÖLLNER, T./MIR ESKANDERI, M., Die Höhle der AnƗhitƗ?, Antike Welt 34/5 (2003) 505–16. The sanctuary can be shown to have been operational under the late Parthians, the Sasanians and the early Muslim rulers, but there is evidence to suggest that it was in use much earlier (information I owe to Dr. T. Stöllner).

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Achaemenians (although partly modelled on the Babylonian tradition), reflect the way the court understood its religion, which was probably a form of Zoroastrianism. The following passage from the Inscription of Darius I (r. 521–486 BCE) at Behistun, seems to sum up what the Court regarded as a Zoroastrian ethos: 49 Saith Darius the King: For this reason AhuramazdƗ bore me aid, and the other god who are, because I was not hostile, I was not a Lie-follower, I was not a doer of wrong – neither I nor my family. According to righteousness I conducted myself. Neither to the weak nor to the powerful did I do wrong. The man who co-operated with my house, him I rewarded well; whoso did injury, him I punished well. Saith Darius the King: Thou who shalt be king hereafter, the man who shall be a Liefollower or who shall be a doer of wrong – unto him do thou not be a friend, (but) punish him well.

The world, in short, is seem in terms of good and evil, and the king proclaims that his success is Ahura MazdƗ’s reward for his righteousness. A little later we find the following:50 Saith Darius the King: If thou shalt behold this inscription and these sculptures, (and) shalt destroy them and shalt not protect them as long as unto thee there is strength, may Ahuramazda be a smiter unto thee, and what thou shalt do, that for thee may Ahuramazda utterly destroy.

This passage is remarkable in that, in most Zoroastrian texts, any implicit association of Ahura MazdƗ with ‘negative’ phenomena is scrupulously avoided.51 The earlier inscriptions mention only Ahura MazdƗ, occasionally with the phrase ‘the other gods who exist’. MazdƗ is thus represented as being more sovereign, less dependent on other Beings than in the Avestan sources. At the same time, however, we know that a whole range of divine beings of Elamite, Zoroastrian, and possibly Western Iranian origin was worshipped by priests with Persian or Elamite titles,52 which indicates that the Inscriptions represent only one view, whereas others also existed. Perhaps as a result of a process of ‘negotiation’ between monolatrous and more or less polytheistic views in Achaemenian society, the divinities Mithra and AnƗhitƗ are mentioned besides Ahura MazdƗ in later inscriptions.53 _______________ 49

DB IV. 61–9. trsl. KENT, R.G., Old Persian, 2nd revised ed., New Haven 1953, 132. DB IV 76–80. trsl. KENT, Old Persian, 132. 51 In Sasanian Zoroastrianism punishment and the removal of evil was among the functions of Sraoša, the Lord of this world. See KREYENBROEK, Sraoša, 144–52. 52 Information I owe to Mr Shahrokh Razmjou of the Muse-ye IrƗn-e BƗstƗn, Tehran. See also B OYCE, M., A History of Zoroastrianism II, Leiden–Cologne 1982, 132–149. 53 From the time of Artaxerxes II (r. 405–359 BCE) onwards. 50

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The institution of the fixed Zoroastrian calendar (see above), which probably took place in Achaemenian times, came to play a key role in both priestly ritual and domestic observance, thus ensuring that the Yazatas retained a certain individuality, and to some extent counteracting the monolatrous tendencies reflected by the Inscriptions. The Middle Persian texts The dearth of sources reflecting the period from the coming of Alexander until the early Sasanian period has been discussed earlier. The problem with the Sasanian period, on the other hand, is that there are relatively many sources, but most were written down in their extant form in the ninth or tenth century CE, some two hundred years after the fall of the Sasanian empire. Part of their contents may therefore reflect the preoccupations of the post-Sasanian priesthood. New archaeological findings, moreover, suggest that a broad spectrum of popular observances existed in Sasanian times and earlier, which are not mentioned in the priestly tradition that has come down to us. We are on firm ground, however, with the Sasanian Inscriptions. Most of these are proclamations by the early kings,54 while a few were made by high officials such as the prelate KirdƝr (third century). The Inscriptions name only Ohrmazd, Ahriman, the Yazads, and the DaƝvas. In connection with a relief representing a divinity we find the words: ‘This is the image of the God Ohrmazd’.55 Otherwise, however, Ohrmazd is generally mentioned together with ‘the Yazads’ (yazdƗn). In the inscriptions of KirdƝr,56 one of the major figures to define Sasanian Zoroastrianism, ‘Ohrmazd and the Yazads’ are represented as the antagonists of ‘Ahriman and the DƝws’. More often, though, the term yazdƗn is used alone, apparently to refer to a single, perhaps collective concept that comes close to being a synonym of ‘God’.57 Some of the AmΩša SpΩntas, moreover, are implicitly referred to by naming the part of the beneficent creation for

_______________ 54

ArdaxšƝr I (226–41 CE), ŠƗhbuhr I (241–72), NarsƝh (293–302), ŠƗhbuhr II (309– 379), and ŠƗhbuhr III (383–88). 55 See BACK, M., Die sassanidischen Staatsinschriften, Teheran–Liege 1978, 282. 56 KKZ 2; B ACK, Staatsinschriften, 389. 57 E.g. ŠKZ 22/17/39 (B ACK, Staatsinschriften, 330): ‘And we made the institutions of the Gods (yazdƗn) great’, where the term yazdƗn must either include or be synonymous with Ohrmazd. KirdƝr (KKZ 1, B ACK, Staatsinschriften, 384) states that he has proved himself to be ‘devoted and of good intention towards YazdƗn, King ArdaxšƝr, and ShƗhbuhr, King of Kings’. There can be no doubt that YazdƗn here included or represented Ohrmazd.

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which they have special responsibility.58 Thus, as a result of KirdƝr‘s pious acts it is said that ‘YazdƗn, Water, Fire, and beneficent animals were very contented in the realm, but Ahriman and the DƝws suffered great blows and damage’. Ahriman and the DƝws are thus represented as the evil counterparts of YazdƗn and the creations of the AmΩša SpΩntas, which suggests that yazdƗn is here a synonym of Ohrmazd. The semantic development by which the plural term YazdƗn ‘the Gods’ came to be used for a single God must been accepted throughout Iranian society in the course of the Sasanian era, for the word was accepted as a standard term for the One God by the early Iranian Muslims, who would surely have rejected a term to which any association with polytheism still adhered. The idea of a single supreme or primordial divine being also existed in Zurvanism, a form of Zoroastrian teaching that was prominent in Sasanian times. The Zurvanite version of the cosmogony59 relates that Zurvan, the God of Time, existed before all else. He sacrificed for a long time in the hope of having a son. When nothing happened, he had a moment of doubt. The sacrifice brought Ohrmazd into existence, while the doubt (a sin in Zoroastrianism) engendered Ahriman. Zurvan promised to leave the rule over the world to his first-born son. This became known in the womb to the omniscient Ohrmazd, who told his wicked brother. Ahriman burst out of his mother’s body before the proper time, while Ohrmazd’s birth took place later, at the right moment. Ahriman, therefore, was the first-born, but he was repugnant to his father, who preferred Ohrmazd. As Zurvan was bound by his promise, however, he determined that each of his sons should rule the world for a fixed period of time. A preoccupation with time, predestination and astrology are often associated with Zurvanite ideas. Given the theological implications of this – viz. that the future of the world is preordained rather than dependent on man’s moral decisions, and that Ohrmazd and Ahriman are twin brothers, not unrelated opposite principles – Zurvanism has been called a Zoroastrian ‘heresy’.60 However, the evidence suggests that Zurvanism was an acceptable, and indeed dominant form of Zoroastrianism in Sasanian times. Contemporary nonIranian sources describing the Iranian religion in fact tend to reflect Zurvanite beliefs. Surprisingly, however, few traces of such ideas are found in the extant versions of the Middle Persian literature, but a reference to the Zurvanite myth crops up again in a much later Zoroastrian _______________ 58 The link between Yazatas and ‘creations’, though foreshadowed in texts as early as the YH, is particularly prominent in the Middle Persian literature. 59 See BOYCE, Sources, 97. 60 See e.g. B OYCE, History of Zoroastrianism II, 238. For a survey of the discussion see with references KREYENBROEK, Millennialism.

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source, the New Persian ‘OlamƗ-ye EslƗm.61 The Middle Persian Books were mostly written down by members of a single priestly family in postSasanian times. While that family clearly adhered to a non-Zurvanite tradition, the later re-emergence of Zurvanite teachings suggests that various traditions continued to be transmitted side-by-side in the Islamic era as they had been under the Sasanians. A ninth-century source, the Škand-gumƗnƯg WizƗr (‘Doubt-dispelling Treatise’) by MardƗn-farrokh, son of OhrmazddƗd, is one of the few extant Zoroastrian texts to discuss comparative religion in abstract, theological or philosophical terms. The author, whose reasoning was obviously influenced by contemporary Islamic philosophy, defends the position of his faith, which he unambiguously defines as dualist. Apart perhaps from a denunciation of the ‘fatalist’ (ƗȕƗyastagą) heresy, 62 which may or may not be a form of Zoroastrian teaching, there is no suggestion in this work that Zoroastrianism could be regarded as anything but a dualistic system. The Evidence of modern Parsis The evidence of a recent research project63 suggests that dualism no longer forms part of the world-view of most Parsis, while tales about Ahriman and the daƝvas are thought of as folklore rather than awesome realities. Only the ‘Neo-traditionalists’, who have come under the influence of Western academic thought on Zoroastrianism, now attempt to re-integrate such beliefs into their religious lives.64

Conclusion In sum, although the Zoroastrian tradition shows considerable continuity in its teaching, attempts to define it as purely monolatrous, dualist, or polytheistic, can only succeed by disregarding important parts of the evidence. It seems plausible to assume that, in a religion which did not define its doctrine by means of a written theological literature until a very late stage in its history, different world-views and beliefs could coexist without diminishing the community’s sense of unity. While dualist elements can be found in most Zoroastrian texts, and appear to have played a key role in priestly thinking in several periods, the evidence of the Yašts, _______________ 61

See BOYCE, Sources, 98. Ch. 10.71; DE MENASCE, Škand, 118 63 This project used qualitative interviews in order to ascertain trends in modern Parsis’ perceptions of their religion. See KREYENBROEK, Living Zoroastrianism. 64 See KREYENBROEK, Living Zoroastrianism, 47, 126–171. 62

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the Achaemenian inscriptions, and the modern Parsi community shows that the religion could also be represented in ways that do not suggest a predominant preoccupation with dualism. As far as the question of a reflection of contemporary mundane conditions in religious world-views is concerned, it could be supposed that the Gathic system mirrors a society with a strong, but far from omnipotent leader, surrounded by tribal elders and challenged by the power of rival tribes. The Achaemenian sources could then be interpreted as emphasising the power of a single leader, whose courtiers are of much lesser significance than in the GƗthƗs, while his antagonists manifest themselves through their actions, but do not merit individual mention. The evidence of the Sasanian Inscriptions could be understood in much the same way, except that the dualist element seems stronger there, and evil is predominantly seen as existing inside the realm, rather than among aliens. As was argued above, however, all three sources represent world-views promoted by élite groups in their respective societies, perhaps aiming to inculcate respect for a dominant leader and his battle against hostile forces. The increasing evidence on popular Zoroastrianism, with its apparent tendecy to worship Yazads individually, suggests that ordinary Zoroastrians were more preoccupied with the various concerns of their daily lives than with the wider affairs of society of state. At the same (perhaps excessive) level of abstraction, it could be argued that the semantic development of the term yazdƗn, and perhaps the popularity of Zurvanism in Sasanian times, reflect the pervasive influence of intellectual development, whether resulting from contact with other world-views or originating within the culture itself, on the development of religious beliefs.

One Nation under God? The Early Sasanians as Guardians and Destroyers of Holy Sites ALBERT DE J ONG

It has always been immensely satisfying for historians of religions, how scholars of the Ancient Near East and of the Greek world have been succesful in fleshing out the various ways in which the world of the gods mirrors the world of human life. In the long development of these and related disciplines, attractive suggestions have been made to take ancient mythology economically, 1 to see the Syro-Palestinian pantheon as mirrorring state bureaucracy2 and to observe all sorts of patterns of social and family organisation mirrorred in ancient views of the relations between the gods.3 It is not surprising, therefore, that several attempts have been made to use these approaches for the analysis of Zoroastrian traditions. This, it must be said, has not been very successful so far. The limits of this approach can be illustrated briefly with the example of women and gender roles.4 It is no exaggeration to say that alongside the purity laws, Zoroastrian family law forms the heart of the Zoroastrian tradition. A very substantial part of Zoroastrian literature is devoted to these subjects, and to discussions of, for example, different types of marriage.5 Eventually, this _______________ 1

SILVER, M., Taking Ancient Mythology Economically, Leiden 1992. HANDY, L.K., Among the Host of Heaven. The Syro-Palestinian Pantheon as Bureaucracy, Winnona Lake 1994. 3 SLATER, P.E., The Glory of Hera. Greek Mythology and the Greek Family, Princeton 1992 (original ed. 1968,) is the classical example for Greek religion. 4 See DE J ONG, A., Jeh the Primal Whore? Observations on Zoroastrian Misogyny, in: KLOPPENBORG, R./HANEGRAAFF, W.J. (eds.), Female Stereotypes in Religious Traditions (Numen Book Series 66), Leiden 1995, 15–41; idem, Women and Ritual in Medieval Zoroastrianism, in: CERETI, C.G./VAJIFDAR, F. (eds.), Ɩtaš-e Dornjn. The Fire Within. Jamshid Sorous Soroushian Memorial Volume II, n.p. 2003, 147–161. A wholly different perspective is given in CHOKSY, J.K., Evil, Good, and Gender. Facets of the Feminine in Zoroastrian Religious History (Toronto Studies in Religion 28), New York 2002. 5 Important legal evidence comes from the late Sasanian law book MƗdayƗn Ư hazƗr dƗdestƗn (Macuch, M., Rechtskasuistik und Gerichtspraxis zu Beginn des siebenten Jahrhunderts in Iran. Die Rechtssammlung des Farrohmard i WahrƗmƗn [Iranica 1], 2

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led to a legal system in which women were, in every stage of their lives, under the authority of a man, be it their father, the leader of the family, or their husband.6 Women’s bodies were the focus of great concern and the purity laws weighed much more heavily on women’s lives than they did on men’s.7 Not a single aspect of these social and ritual requirements is reflected in Zoroastrian traditions about the gods.8 Although the Zoroastrian pantheon is divided into male and female deities, these divine beings seem to lead no social life whatsoever. They certainly do not marry, nor produce children, even though they can all be referred to, metaphorically, as the children of Ahura MazdƗ, the supreme god, and therefore as brothers and sisters. There is only one passage in the whole corpus of the Avesta (Yt. 17.16), where the goddess SpentƗ ƖrmaitƯ is said to be the mother of the gods.9 It is important to notice, moreover, that the female deities are in no way subservient to the male deities, nor under their guardianship. All lesser deities are equal; all are governed by the supreme deity Ahura MazdƗ. The purity laws obviously do not govern the lives of the gods. Human bodies are the most important battle ground in the war that is being waged ______________________________________________________________________________________________

Wiesbaden 1993) and its supplementary texts (Macuch, M., Das sasanidische Rechtsbuch “MƗtakdƗn i HazƗr DƗtastƗn” [Teil II] [Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes 45.1], Wiesbaden 1981). An English translation of these texts can be found in Perikhanian 1997, but Maria Macuch’s interpretation of the texts seems much more reliable. See also HJERRILD , B., Studies in Zoroastrian Family Law: A Comparative Analysis (Carsten Niebuhr Institute Publications 28), Copenhagen 2003, for an attempt at a comprehensive study, including references to family law in later priestly writings. It is especially from these later texts (the RivƗyat of ƜmƝd son of Ašawahišt (SafaIsfahani 1980) and the RivƗyat of Ɩdur-Farrǀbay son of Farrǀbay-Srǀš (Anklesaria 1969), that the crucial importance of the subject for Zoroastrian religion and culture becomes evident. 6 DE J ONG, Women, 149–151. See also DE J ONG, A., Purification in absentia. On the Development of Zoroastrian Ritual Practice, in: ASSMANN, J./STROUMSA, G.G. (eds.), Transformations of the Inner Self in Ancient Religions (Numen Book Series 83), Leiden 1997, 301–329; 319–328, for the underlying system. 7 See CHOKSY, J.K., Purity and Pollution in Zoroastrianism. Triumph over Evil, Austin 1989 and Boyce, M., Cleansing, Encyclopaedia Iranica 5 (1992) 673–700, for an overview of purity rules. 8 DE JONG, A., Jeh, 18–23. 9 Being the guardian of the earth, ƖrmaitƯ is often referred to as the nourisher or producer of all that is, together with Ahura MazdƗ himself. The ancient myth of the union between heaven and earth (Ahura MazdƗ and ƖrmaitƯ) can be traced in Avestan texts referring to this goddess (SKJAERVØ, P.O., Ahura MazdƗ and Ɩrmaiti, Heaven and Earth, in the Old Avesta, JAOS 122 [2002] 399–410), but this does not affect the fact that ƖrmaitƯ is not generally seen as Ahura MazdƗ’s “wife”. This special position is granted her only in a few medieval Zoroastrian texts (W ILLIAMS, A.V., The Pahlavi RivƗyat accompanying the DƗdestƗn Ư DƝnƯg 2, Copenhagen 1990, 132–133).

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between good and evil.10 Purity is an essential requirement for human assistance in the battle against evil. The gods are actively engaged in this struggle, but they cannot make themselves impure. They can be made impure, in a secondary sense, only by humans, who defile the elements of the created world of which they are the guardians. This is graphically illustrated, for instance, in the Persian Zoroastrian text Sad dar-e bondaheš 77 (roughly from the thirteenth or fourteenth century CE).11 This text is part of a small didactic cluster of chapters illustrating the rules humans should observe to act as guardians of the elements of creation.12 When discussing the earth, the text mentions the fact that the earth shivers when humans put corpses in it, and that it feels to her as it would feel to any human when someone puts a scorpion in his pyjamas. The lives of the gods in early texts, therefore, are quite unlike the lives of mortals, and in the two most crucial areas of human life, the divine reality does not mirror earthly existence. A second example of the failure to correlate the Zoroastrian organisation of the pantheon to social patterns of organisation among the Iranians is more directly related to the subject of the present contribution. It concerns kingship. The pre-Islamic Iranian cultures we know best are the Iranian empires, ruled by great kings. Kingship, however, is largely absent from the Avestan corpus. This is an important reason to doubt the attempts that pop up in scholarly discussions every now and then, to date the composition of parts of the Avesta in the Achaemenian or even Parthian periods.13 In light of the supremely important position of the king in those empires, one would at least expect that the office of king would be referred to, but this is not the case. _______________ 10

W ILLIAMS, A.V., Zoroastrian and Judaic Purity Laws. Reflections on the Viability of a Sociological Interpretation, in: SHAKED, S./NETZER, A. (eds.), Irano-Judaica III, Jerusalem 1994, 72–89; idem, Zoroastrianism and the Body, in: COAKLEY, S. (ed.), Religion and the Body, Cambridge 1997, 155–166. 11 The text was edited by DHABHAR, B.N., Saddar Nasr and Saddar Bundehesh, Bombay 1909. A translation can be found in DHABHAR, B.N., The Persian Rivayats of Hormazyar Framarz and Others. Their Version with Introduction and Notes, Bombay 1932. 12 This is a popular subject in Persian Zoroastrian texts. For a parallel version in poetry, see the slightly earlier ZarƗtoštnƗmeh of Kay-KƗ’njs b. Kay-Xusraw of Rayy, verses 633–708 (ed. ROSENBERG, F., Le livre de Zoroastre [Zarâtusht Nâma] de Zartushti Bahrâm ben Pajdû, St.-Pétersbourg 1904). 13 See HINTZE, A., The Avesta in the Parthian Period, in: WIESEHÖFER, J. (ed.), Das Partherreich und seine Zeugnisse. The Arsacid Empire: Sources and Documentation (Historia Einzelschrift 122), Stuttgart 1998, 147–161 for a balanced discussion.

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We do see several key figures from Avestan mythology developing into kings in the later formulation of the tradition. A good example, for instance, is Zarathustra’s patron VištƗspa, who begins his career, in the Avesta, as a kauui-, a word of disputed meaning, indicating a kind of priest and perhaps also some sort of a lord or ruler, but has grown into the prime example of the just king in the Zoroastrian tradition. There are, of course, important heroes who rule the world or rule parts of the world in the legendary history of the Iranians, but kingship has been inserted frequently into the translations of these texts, while the texts themselves do not give us a coherent vision of the office. Yima, the first king in our translations, probably comes closest to an Avestan ideal of rulership: he makes the earth and the people on it thrive and he protects them from disease, old age, winters and other types of hardship, but he does it all by himself, not with the support of a recognisable court organisation.14 This is undoubtedly connected with the types of social organisation that were current among the Iranians in the time the Avestan corpus was composed.15 We can only reconstruct these societies by reading the texts and they seem to represent small-scale social organisations with a tribal character, in which family bonds and lineages are of considerable importance, under the leadership of a ruler. Palatial interpretations of the world of the gods are easily produced in translations, but must be viewed with some suspicion. Several gods are represented in the Avestan texts as sitting on a gƗtu-, a word meaning “place.” The moment a god sits on a gƗtu-, this is habitually translated “throne.” This is at times appealing; especially the seat of Vohu Manah and the seats of the gods in heaven (Vd. 19.31–32), which are made of gold, conjure up the notion of heavenly thrones.16 The translation “throne,” however, evokes the image of heaven as a royal audience hall, which may _______________ 14 See, inter multos alios, SHAKED, S., First Man, First King: Notes on SemiticIranian Syncretism and Iranian Mythological Transformations, in: SHAKED, S./SHULMAN, D./ STROUMSA, G.G. (eds.), Gilgul. Essays on Transformation, Revolution and Permanence in the History of Religions Dedicated to R.J. Zwi Werblowsky (Numen Book Series 50), Leiden 1987, 238–256. 15 See B ENVENISTE, E., Les mages dans l’ancien Iran, Paris 1938, 5–17; SCHWARTZ, M., The Old Eastern Iranian Worldview according to the Avesta, in: GERSHEVITCH, I. (ed.), The Cambridge History of Iran II: The Median and Achaemenian Periods, Cambridge 1985, 640–663; SKJAERVØ, P.O., The Avesta as a Source for the Early History of the Iranians, in: ERDOSY, G. (ed.), The Indo-Aryans of Ancietn South Asia. Language, Material Culture and Ethnicity (Indian Philology and Sout Asian Studies 1), Berlin–New York 1996, 155–176. 16 See HULTGÅRD, A., Trône de Dieu et trône des justes dans les traditions de l’Iran ancien, in: P HILONENKO, M. (ed.), Le trône de Dieu (WUNT 69), Tübingen 1993, 1–18.

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not have been the intended imagery of the authorities behind the text.17 Since the same word is also used to describe ordinary beds and sofas and also the place where dogs sleep, the notion of heavenly rest and enjoyment may also be understood in these descriptions of the heavenly seats. We can, therefore, sum up the situation as follows: the social world of the Avesta, as it emerges from the legal parts of the texts, was a world of small-scale federations of men and women led by a ruler, without most of the trappings or institutions of the monarchies of, for instance, the Ancient Near East.18 In the Avestan Yašts, hymns celebrating various deities by presenting them as giving help to heroes who fight demons and dragons and save the world, etc., little attention is paid to establishing codes of rulership, but the focus is rather on martial and heroic qualities in the service of the world. As has been stressed in a publication on the image of women in these texts, the only goal they sacrifice for is a good husband.19 In a remarkable way, Zoroastrianism as we know it can be seen as a religion virtually without any mythology. Zoroastrian theology is obviously based on a long and complex story about the conflict between the two spirits, representing good and evil. This conflict encompasses the entire history of the world and is the framework of most Zoroastrian ideas.20 There are some other myths about humans and their interactions with the gods, especially the legends surrounding Yima, but there is no _______________ 17 There can be no doubt that this is the intended imagery in Middle Persian Zoroastrian texts, especially the chapters on heaven of the Book of ArdƗ WƯrƗz (GIGNOUX, P., Le livre d’ArdƗ VƯrƗz. Translittération, transcription et traduction du texte pehlevi, Paris 1984); see DE J ONG, A., Sub specie maiestatis: Reflections on Sasanian Court Rituals, in: STAUSBERG, M. (ed.), Zoroastrian Rituals in Context (Numen Book Series 102), Leiden 2004, 345–365, 362–363. 18 Such a conclusion, incidentally, seems to be fatal for the attempts of P ARPOLA, A., The Originality of the Teachings of Zarathustra in the Light of Yasna 44, in: COHEN, C./ HURVITZ, A./P AUL, S.M. (eds.), Sefer Moshe. The Moshe Weinfeld Jubilee Volume, Winona Lake 2004, 373–383 to connect Zarathustra himself with the royal cultures of the Ancient Near East. 19 DE J ONG, Jeh, 20–23. 20 This has been stressed in a number of publications by Shaul Shaked: SHAKED, S., Dualism in Transformation. Varieties of Religion in Sasanian Iran (Jordan Lectures in Comparative Religion 16), London 1994, 1–26; idem, Cosmic Origins and Human Origins in the Iranian Cultural Milieu, in: SHAKED, S. (ed.), Genesis and Regeneration. Essays on Conceptions of Origins, Jerusalem, 210–222; idem, Zoroastrian Origins: Indian and Iranian Connections, in: ARNASON, J.P/EISENSTADT, S.N./W ITTRÖCK, B. (eds.), Axial Civilizations and World History (Jerusalem Studies in Religion and Culture 4), Leiden 2005, 183–200.

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elaborate mythology that would focus on the interaction between the gods or between gods and mortals.21 As an illustration of this fact, one could perhaps best point at the cycle of Zoroastrian festivals known as the GƗhƗmbƗr.22 These are the six major festivals that divided the year, participation in which was obligatory. With the exception of the greatest of these festivals, the New Year festival, they are never said to celebrate anything in particular. There are no early texts that give us myths associated with these festivals, nor are they often inscribed into the legendary history of the Iranians in early texts. It is only with the New Year festival, and chiefly in late texts about it, that the story of the creation and final dissolution of the world is connected to the festival.23 In a charming and understudied Pahlavi text, MƗh FrawardƯn rǀz Ohrmazd (“the day Ohrmazd of the month FrawardƯn”, which is the date of the Greater Nowrnjz), in fact almost every important occasion of this history is said to have taken place on New Year’s Day,24 and in later Muslim traditions, this history is divided over Nowrnjz and its autumn companion, MihragƗn.25 There are all sorts of theological, chronological and ritual characteristics of these GƗhƗmbƗr festivals that would reward a closer study, especially the figure of Rapithwin, who resides under the earth half of the year and the other half of the year above the earth, giving it warmth and strengthening the crops.26 Rapithwin is evidently connected with _______________ 21

Many of the legends from the so-called “epic cycles” (culminating in FirdawsƯ’s ŠƗhnƗmeh of approximately 1000 CE) can be connected with earlier texts from the Avesta and from the Sasanian period. Although it is seriously outdated, CHRISTENSEN, A., Les types du premier homme et du premier roi dans l’histoire légendaire des iraniens, Stockholm (2 vols.) 1917–1934 remains the standard work of reference. 22 For basic information, see STAUSBERG, M., Die Religion Zarathushtras. Geschichte – Gegenwart – Rituale III, Stuttgart 2004, 488–498. 23 The Pahlavi exegetical translation (Zand) of the Avestan ƖfrƯnagƗn Ư gƗhƗmbƗr (ed. DHABHAR 1927: 150–159, trl. DHABHAR, B.N., Translation of Zand-i Khnjrtak AvistƗk, Bombay 1963, 287–306) gives correspondences between the six festivals and the stages of creation (for which, see also M. Boyce, ‘GƗhƗnbƗr’, Encyclopaedia Iranica 10 (2001) 254–256), but it is a very strange and probably rather late text; the Avestan ƖfrƯnagƗn Ư gƗhƗmbƗr does not relate the festivals to any recognisable story. 24 The text can be found in J AMASP-ASANA J.M., Pahlavi Texts, Bombay 1897–1913, 103–108. 25 Materials relevant for the Zoroastrian festivals in the early Islamic gatherings are assembled and discussed by CRISTOFORETTI, S., Il natale della luce. Il sada tra Baghdad e Bukhara tra il IX e XII secolo, Milano 2002. 26 For Rapithwin, see BOYCE, M., Rapithwin, Nǀ Rnjz, and the Feast of Sade, in: HEESTERMAN, J.C./SCHOKKER, G.H./SUBRAMONIAM , V.I. (eds.), PratidƗnam. Indian, Iranian and Indo-European Studies Presented to Franciscus Bernardus Jacobus Kuiper on his Sixtieth Birthday (Janua Linguarum, Series Major 34), The Hague – Paris 1968, 201–

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summertime, but there do not seem to be many myths about him and he is a figure of much greater importance for priests, in regulating their ritual duties, than for most other Zoroastrians. The impression is often given that the calendar of feasts is almost solely “about” time and had no stories attached to it.27 This is difficult to believe and it is likely that the festivals were accompanied by stories that people would tell each other, presumably chiefly stories of local interest, varying from region to region. Thanks to recent work done on the Persepolis Elamite tablets from the reign of Darius, magic bowls from Sasanian Babylonia, Bactrian documents from Afghanistan and other finds from Central Asia, we are only just beginning to realize how much Zoroastrianism was characterised by local diversity: virtually every text that emerges yields new gods, unknown from the Avesta, but evidently part of local Zoroastrian traditions.28 This is, of course, something we should always have known or at least expected, but it still is far from being fully realised by the few scholars in the world active in this field. In fact, there seems to be a fairly recent development that goes in the opposite direction and before we move to the Sasanians, we should discuss this briefly. It seems to be evident that when Cyrus the Great became king of Persia, he chose the monarchies he supplanted, those of the Elamites and the Assyrians, as the chief models for his new imperial organisation.29 Most of the evidence for the Achaemenian period fits very well into cultural patterns with a long history in the Ancient Near East. This concerns court culture, scribal organisation, strategies of government, etc. There are, of course, some typically Iranian aspects to the ways in which these kings viewed the Empire and their role in it, but it would be unwise to treat the Achaemenian Empire as a substantially new phenomenon, invented from scratch. ______________________________________________________________________________________________

215 and KRASNOWOLSKA, A., Some Key Figures of Iranian Calendar Mythology, Kraków 1998, 101–120. 27 This was also stressed repeatedly in KRASNOWOLSKA, Figures. 28 For the Elamite tablets see KOCH, H., Die religiösen Verhältnisse der Dareios-Zeit. Untersuchungen an Hand der elamischen Persepolistäfelchen (Göttinger Orientforschungen 3.4), Wiesbaden 1977; for the bowls from Babylonia, see SHAKED, S., Popular Religion in Sasanian Babylonia, Jerusalem Studies in Arabic and Islam 21 (1997) 103– 117; for the Bactrian documents from Afghanistan S IMS-W ILLIAMS, N., Bactrian Documents from Northern Afghanistan I. Legal and Economic Documents (Studies in the Khalili Collection 3), Oxford 2000. 29 See, for example, KIENAST, B., Zur Herkunft der achämenidischen Königstitulatur, in: HAARMANN, U./B ACHMANN, P. (eds.), Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit (Beiruter Texte und Studien 22), Beirut 1979, 351–364 on royal titles; ROOT, M.C., The King and Kingship in Achaemenid Art. Essays on the Creation of an Iconography of Empire (Acta Iranica 19), Leiden 1979, on the iconography of kingship.

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The religion of the Achaemenian kings has been the subject of a long and bitter scholarly debate. This debate has most often been fed by an image of Zoroastrianism as a tradition that can only be defined by the figure of Zarathustra and by the Avesta. The presence or absence of the prophet and the holy book were taken as indicators of the exact nature of the religion of the Achaemenian dynasts. On the basis of such questions, many scholars have felt confident to invent a religious tradition that was not (exactly) Zoroastrianism, but resembled Zoroastrianism in every minute detail, with the exception of Zarathustra and the Avesta.30 Others felt equally confident to interpret every detail from the Achaemenian period as fully compatible with Zoroastrianism.31 By now, it seems that most scholars agree that the question “were they, or were they not, Zoroastrians?” is the wrong question, because it obfuscates the real problem: what do we mean when we say a king is “a Zoroastrian”?32 In spite of this consensus, however, in recent years, several attempts have been made to relate words, notions and even passages from the Old Persian inscriptions to the text of the Avesta.33 In a recent stimulating article on the political ideology of the Achaemenians, for example, Jean Kellens has suggested that the dynastic line of the Achaemenians, as Darius presents it in his great inscription at BƯsutnjn, is based on the line of heroes from Yašt 19, and that Darius exploits the legendary history of these Avestan heroes to serve his own political purposes.34 To be more precise, since the line in Yt. 19 ends with VištƗspa, the patron of Zarathustra, and the succession of the Achaemenians ends with Darius, Kellens believes that Darius wanted to present himself as the new VištƗspa. This is largely based on the fact that in both lines of succession, there are nine persons. That would be feeble enough as a basis, but the situation seems to be worse: this proposal ignores the crucial question “what” the Avesta was in the Achaemenian period. By focusing on the use of passages from the _______________ 30 This religion is sometimes, confusingly, referred to as “Mazdaism” (see DE J ONG, Purification, 43). For scholars who have proposed this interpretation, it is, of course, essential to postulate the pre-Zoroastrian existence of Ahura MazdƗ, for which there is no evidence (see SHAKED, Man, 239). For recent examples of this usage, see LECOQ, P., Les inscriptions de la Perse achéménide, Paris 1997, 154–164; LINCOLN, B., À la recherche du paradis perdu, History of Religions 43 (2003), 138–154. 31 B OYCE, M., A History of Zoroastrianism II. Under the Achaemenians, Leiden 1982, is the classic statement. 32 See DE J ONG forthc. 33 See already SKJAERVØ, P.O., Avestan Quotations in Old Persian? Literary Sources of the Old Persian Inscriptions, in: SHAKED, S./NETZER, A. (eds.), Irano-Judaica IV, Jerusalem 1999, 1–64. 34 KELLENS, J., L’idéologie religieuse des inscriptions achéménides, Journal Asiatique 290 (2002), 417–464.

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Avesta for purposes of propaganda, a cognitive role of the text for the authorities behind the inscription and their (imagined) intended audience is tacitly assumed. This new approach, which the present author considers deeply problematic, leads us, finally, to the Sasanians, because exactly the same thing has happened there. Iranian history has a long tradition of fabricated lineages. In fact, the moment persons in positions of power begin to rewrite their family history usually heralds a period of profound cultural change. Most Iranian dynasties, from the Achaemenians to the present day seem to have felt it necessary to project an image of their own background and history that the rulers they replaced as well as foreign observers would consider extremely tenuous. This is, of course, not a specifically Iranian phenomenon, but it is certainly well attested in Iranian history. 35 We will, as a consequence, never know what “really” happened in PƗrs in the first three deades of the third century, because all the information we have on the so-called “rise of the Sasanians” is suspect in one way or another: the literary texts because they clearly present us with dynastic legends,36 but also the works of art, because we cannot find adequate ways of interpreting them or we have not yet found adequate questions to be answered by them.37 With these caveats in mind, some firm pointers can still be given: The Sasanian dynasty arose from among a family of rulers in the service of the Parthian Great King, in Southwestern Iran, Persia proper.38 This was a country full of ancient monuments, including the spectacular sites of Persepolis and the tombs of the Achaemenian kings at Naqsh-i Rustam. Several rulers of Persis in the second century BCE and again in the second _______________ 35 For an instructive series of examples, see ADHAMI, S., A Question of Legitimacy: The Case of Ardašir I (DƝnkard IV), Indo-Iranian Journal 46 (2003) 223–230. 36 See W IDENGREN, G., The Establishment of the Sasanian Dynasty in the Light of New Evidence, in: Atti del convegno internationale sul tema: La Persia nel medioevo, Roma 1971, 711–782 for an overview. 37 These works of art are chiefly a series of rock-reliefs (sometimes with an inscription), commemorating victories in battle and the investiture of the kings. For an overview of these reliefs, see HERRMANN, G./CURTIS, V.S., ‘Sasanian Rock Reliefs’ on the electronic pre-publication of the Encyclopaedia Iranica (http://www.iranica.com/ articlenavigation/index. html, s.v. ‘ Sasanian Rock Reliefs’). 38 The best information on the pre-Sasanian rulers of Persis can be found in ALRAM, M., Nomina propria iranica in nummis. Materialgrundlagen zu den iranischen Personnenamen auf antiken Münzen (Iranisches Personennamenbuch 4), Wien 1986 and W IESEHÖFER, J., Die “dunklen Jahrhunderte” der Persis. Untersuchungen zu Geschichte und Kultur von FƗrs in frühhellenistischer Zeit (330–140 v.Chr.) (Zetemata 90), München 1994.

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and third centuries CE, struck their own coins.39 Two of them are of importance to us now: first, a king named Shapur, son of Pabag and then a king named Ardashir son of Pabag.40 The two were brothers and their father Pabag, was ruler before them, even though no coins from his reign have been found so far. Shapur, apparently, came first, and was succeeded by Ardashir the fifth, of Persis, who is better known as Ardashir I, the founder of the Sasanian dynasty. 41 About his personal history we are completely in the dark, but it is most likely that his father, Pabag, already attempted to wrest power from his Parthian overlords. This was a period when the Parthian Empire was weak, and it is likely that the family invoked local traditions, associated with the monuments of Persepolis and Naqsh-i Rustam, or perhaps their special honorary position as guardians of an important shrine in Staxr, to mobilise the people of Persis and to unite its many local rulers.42 Certainly, what we know of the history of the earliest Sasanians, however legendary most of it is, shows that there must have been many more of these local rulers. What gave Ardashir the edge over most of them, we do not know, but it is certain that Ardashir managed, early in his career, to acquire enormous sums of money.43 The evidence for this largely comes from coins. Both in the number of coins struck, in silver and even in gold, in the silver content of the coins and in their constant weight, early Sasanian coins are much more impressive than the almost contemporary late Parthian coinage. This suggests that the Sasanians had considerable wealth and this impression is supported by a recent inscribed find from the pre-Sasanian kings of Persis.44 The province of PƗrs does not have silver, gold, or even copper

_______________ 39

ALRAM, Nomina, 162–186. The chief evidence is a small number of coins that can be attributed to these two kings. For an overview, see ALRAM, M./GYSELEN, R., Sylloge Nummorum Sasanidarum, Paris–Berlin–Wien I: Ardashir I. – Shapur I., Wien 2003, 22–23 and plate 40; see also ALRAM, Nomina, 185–186. 41 For a quick introduction, see J. W IESEHÖFER, Ardashir I.i. History, Encyclopaedia Iranica II (1987) 371–376. 42 This is mainly suggested by the ninth-century Muslim historian al-TabarƯ, whose book on the Sasanians (part of the monumental History of Prophets and Kings) was translated, with a learned commentary, by C.E. Bosworth (BOSWORTH, C.E., The History of al-TabarƯ V: The SƗsƗnids, the Byzantines, the Lakhmids, and Yemen, Albany 1999), building on the awe-inspiring first study of Theodor Nöldeke (NÖLDEKE, T., Geschichte der Perser und Araber zur Zeit der Sasaniden, Leiden 1879 [repr. Leiden 1973]). 43 The evidence has been gathered by ALRAM, S., The Beginning of Sasanian Coinage, Bulletin of the Asia Institute 13 (1999) 67–76. 44 SKJAERVØ, P.O., The Joy of the Cup: A Pre-Sasanian Middle Persian Inscription on a Silver Bowl, Bulletin of the Asia Institute 11 (1997), 93–104. 40

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mines45 and this raises the obvious question: where did this wealth come from? To answer this question, all we have are narrative sources, but they all seem to agree on the matter: Along with taxation and tribute exacted from newly subjected local rulers,46 ArdashƯr gained enormous wealth from the destruction of sanctuaries and the confiscation of their treasuries. There are too many examples of these stories to discuss in detail, but the importance of the theme as well as the possible historical background of these activities seem to have been overlooked in scholarly discussions of the earliest Sasanians.47 There are two main varieties of the theme: the first concerns ArdashƯr’s campaigns against what one could call “pagan” sanctuaries (meaning nonZoroastrian local shrines, often described in derogatory terms), the second concerns his destruction of Zoroastrian fire-temples. Since this second theme has been dealt with admirably by Mary Boyce, we may perhaps begin with it. The chief witness is the Letter of Tansar, a document that has been preserved only in a Persian translation of a lost Arabic translation of a presumed Pahlavi original.48 Many scholars believe that the text itself, which consists of objections raised by a local king named Gušnasp to the legitimacy of ArdašƯr’s claim to the throne of Iran and their answers by ArdašƯr’s priest Tansar, can only go back to late Sasanian times, but Mary _______________ 45

HARRISON, J.V., J.V., Minerals, in: F ISHER, W.B. (ed.), The Cambridge History of Iran I: The Land of Iran, Cambridge 1968, 489–516; overviews of known sites for mining activity in ancient Iran can be found in STÖLLNER, T./SLOTTA, R./VATANDOUST, A., Persiens Antike Pracht. Bergbau – Handwerk – Archäologie, Bochum 2004. 46 Taxation and tribute are problematic subjects for the early Sasanian period. It is possible that most of our information on Sasanian taxation is coloured by the tax reforms of Husraw I in the sixth century. See RUBIN, Z., The Reform of Khusro AnnjshirwƗn, in: CAMERON, A. (ed.), The Byzantine and Early Islamic Near East III. States, Resources and Armies, Princeton 1995, 227-297 for an interpretation. For attempts at reconstructing the earlier history of taxation in the Sasanian Empire, see ALTHEIM , F./STIEHL, R., Finanzgeschichte der Spätantike, Frankfurt am Main 1957, 7–17. 47 For the related subject of the plundering of temples in Elymais by Antiochus III and Antiochus IV, see B OYCE, M./GRENET, F., A History of Zoroastrianism III. Zoroastrianism under Macedonian and Roman Rule, Leiden 1991, 40–41 with references. It seems significant that the Graeco-Roman literary tradition of the inescapable punishment of temple-robbers, as witnessed by the stories of these two Seleucid kings, is not at all reflected in the stories surrounding Ardashir. For comparative materials, see STOKHOLM , N., Zur Überlieferung von Heliodor, Kuturnahhunte und anderen missglückten Tempelräubern, Studia Theologica 22 (1968) 1–28; W EITZMAN, S., Plotting Antiochus’s Persecution, JBL 123 (2004) 219–234. 48 M INOVI, M., Tansar’s Epistle to Goshnasp, Tehran 1932; B OYCE, M., The Letter of Tansar (Serie Orientale Roma 38), Roma 1968.

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Boyce has argued persuasively that the theme of ArdašƯr’s destruction of fire-temples would be an unexpected invention of late Sasanian times.49 By that time, the ArdašƯr legend was firmly in place and portrayed him as a devout Zoroastrian, who could not lightly be accused of destroying firetemples. The text says the following: “Next for what you said, that the King of Kings has taken away fires from the fire-temples, extinguished them and blotted them out, and that no one has ever before presumed so far against religion; know that the case is not so grievous, but has been wrongly reported to you. The truth is that after Darius each of the “kings of the peoples” built his own fire-temple. This was pure innovation, introduced by them without the authority of kings of old. The King of kings has razed the temples, and confiscated the endowments, and had the fires carried back to their places of origin.”50 The background of the passage clearly is the question of the legitimacy of founding royal or dynastic fires. An important part of the propaganda machinery of the early Sasanians was in fact devoted to this thorny question of the legitimacy of ArdašƯr. Several important strands or themes were woven together in a story that centred around the notions of “unity” versus “fragmentation.” The Parthian heritage of ArdašƯr’s predecessors was presented as a long period of rule of a large number of so-called “petty kings.” This rule was, therefore, characterised chiefly by the absence of a real King of Kings. Memory lingered evidently in Persia of a period in which there had been such a king. It is pointless to speculate on “who” the Persians thought these kings had been; many scholars believe that there was some historical memory of the Achaemenians, whereas others find this unlikely. This is begging the question, of course, what “historical memory” would mean in third century PƗrs. Obviously, the monuments of Persepolis and Naqsh-e Rustam were the subject of stories.51 The sites themselves were places of pilgrimage.52 They continued to be the subject of stories and _______________ 49 B OYCE, Letter, 16–17; see also DE J ONG, A., Vexillologica Sacra: Searching the Cultic Banner, in: CERETI, C.G./MAGGI, M./P ROVASI, E. (eds.), Religious Themes and Texts of pre-Islamic Iran and Central Asia. Studies in Honour of Professor Gherardo Gnoli (Beiträge zur Iranistik 24), Wiesbaden 2003, 191–202. 50 B OYCE, Women, 47. 51 This is supported by the evidence of the Persepolis graffiti, both the imagery and the inscriptions. For an overview, see CALLIERI, P., At the Roots of the Sasanian Royal Imagery: The Persepolis Graffiti, in: ƜrƗn ud AnƝrƗn. Webfestschrift Boris Marshak (http://www. transoxiana.org/Eran/Articles/callieri.html)2003. 52 This is established for the early Sasanian period by two fourth-century inscriptions published by FRYE, R.N., The Persepolis Middle Persian Inscriptions from the Time of Shapur II, AO 30 (1966) 83–93.

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we can see in later Sasanian times how they came to be attached to the great epic stories of the Avestan heroes;53 in early Islamic Iran, legends of Biblical and Islamic background were attached to similar sites.54 We do not know the stories about these sites that were current in the early third century or the legendary figures people associated with them. From the moment ArdašƯr defeated the last Parthian king and assumed the title of King of the Iranians and then King of Kings of the Iranians, he established a dynastic fire, the lighting of which was used to count his regnal years. Both in negotiations and in battle, he subdued the local kings of the districts surrounding him and then set out to conquer the rest of the Parthian Empire. One of the characteristic measures he took was the replacement of the client kings of the Parthians by members from his own family. 55 It seems that particular attention was paid to some semiindependent kingdoms and districts with strong Parthian cultural influence: Elymais, Hatra, Mesene, and perhaps Armenia. A further measure that seems to have been taken by ArdašƯr and his son ŠƗbuhr was a reorganisation of the religion, especially of its organisation. Thus, there is some evidence for calendar reforms, regulating the religious lives of all Zoroastrians, but most dramatically, there is the matter of the destruction and reorganisation of the temples and their priesthoods. The reorganisation of the temples is evident from some positive references, although these are usually late, but especially from the legendary activities of ArdašƯr against kings and queens who were represented as self-styled gods or demons, living in castles and sanctuaries amidst great treasure. The best known of these legends is the heroic fight of ArdašƯr against the Worm, as related in the late Sasanian Book of Deeds of ArdašƯr son of PƗbag.56 Here we meet a certain HaftowƗd, whose name may conceal an ancient title,57 who is described as a monster-king who was worshipped by many people and was fed on blood. He was killed by ArdašƯr and his castle _______________ 53

The inscriptions mentioned in the preceding note establish the name of Persepolis as sad stnjn, “hundred pillars.” The site is currently known as Taxt-e JamšƯd, “the throne of JamšƯd” (the first king). Exactly how old this usage is, is not clear. 54 The evidence for these developments is overwhelming for the modern period (with examples such as Takht-e SoleymƗn, “the throne of Solomon” and MƗdar-e SoleymƗn, “the mother of Solomon.” The history of these names urgently needs to be written. 55 The evidence for this chiefly comes from the inscription of his son, the Sasanian king ŠƗbuhr I, on the Ka’be-ye Zardošt in Naqsh-e Rustam (HUYSE, P., Die dreisprachige Inschrift ŠƗbuhrs I. an der Ka‘ba-i Zardušt [ŠKZ], London 1999 [2 vols.]). 56 GRENET, F., La geste d’Ardashir fils de Pâbag. KƗrnƗmag Ư ArdaxšƝr Ư PƗbagƗn, Die 2003. 57 HENNING, W.B., Ein persischer Titel im Reichsaramäischen, in: B LACK, M./FOHRER, G. (eds.), In Memoriam Paul Kahle (BZAW 103), Berlin, pp. 138–145.

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was destroyed; his treasure taken away and seven BahrƗm fires were founded in its place.58 There are various permutations of this story in later texts; TabarƯ, for instance, mentions the fight against HaftƗnbukht, a different reading of the same name, who was “a king … who was accorded divine attributes and worship. Ardashir marched against him, killed him by cutting him in half with his sword, put to death the members of his entourage, and brought forth from their subterranean store rooms extensive treasures that had been piled up there.”59 But the story does not end there: Later in TabarƯ’s acount we read the following: “There was in a village called AlƗr, in the district of KnjjarƗn […] a queen who was accorded the respect and worship of a divinity and who possessed wealth, treasuries and soldiers. ArdashƯr made war on her priestly custodians, killed her, and seized as booty immense wealth and treasures belonging to her.”60 Similar stories, but with less legendary detail, are told about Hatra and Armenia in particular.61 We could satisfy ourselves with an analysis of these stories as pieces of propaganda destined to do no more than project the image of ArdašƯr as a heroic fighter against demons and wrong types of religion. Although such a sober analysis is most often preferable, one fears that in this case we would lose more than we gain. To be more specific, such an analysis cannot explain why these stories are told only about ArdašƯr and ShƗpnjr, his son and successor, and why they consistently present the temples that were destroyed as places of idol-worship. Mary Boyce has reconstructed an iconoclastic movement in early Sasanian Iran.62 Although this idea has not really been picked up in subsequent

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KƗrnƗmag 9.8–13 (GRENET, geste, 93–95). B OSWORTH, C.E., The History of al-TabarƯ V: The SƗsƗnids, the Byzantines, the Lakhmids, and Yemen, Albany 1999, 10. 60 B OSWORTH, History, 16. 61 For Hatra, see ZAKERI, M., Arabic Reports on the Fall of Hatra to the Sasanids. History or Legend?, in: LEDER, S. (ed.), Story-telling in the Framework of non-fictional Arabic Literature, Wiesbaden 1998, 158–167 with references. The narrative of the Sasanian conquest of Armenia in Armenian literature is so intimately interwoven with the narrative of the conversion of Armenia to Christianity, the main subject of many early Armenian texts, that it is extremely difficult to separate fact from fiction here. For an overview, see RUSSELL, J.R., Zoroastrianism in Armenia (Harvard Iranian Series 5), Cambridge 1987, 121–140. 62 B OYCE, M., Iconoclasm among the Zoroastrians, in: NEUSNER, J. (ed.), Christianity, Judaism and other Greco-Roman Cults. Studies for Morton Smith at Sixty, vol. 4, Leiden 1975, 93–111. 59

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scholarship,63 indicating perhaps that some scholars are skeptic about the historical reality of this movement, there are some details in these stories that only seem to make sense from precisely that context. We do not know whether there really were temples in which statues were worshipped in South-Western Iran. No such structure has been excavated yet. What we do know, however, is that alongside fire-temples, there were temples dedicated to separate gods. These were known in Parthian as baginas, in Middle Persian probably as bagdƗn.64 These must have been places of considerable local importance and may have housed many of the previously unknown gods that continue to appear in recent sources. Although their existence is, to some extent, hypothetical, accepting their existence makes it possible, first of all, to grasp something of the local varieties of Zoroastrianism and, perhaps more importantly, to understand a lot of the evidence presented in non-Zoroastrian sources from the Sasanian period, chiefly in Syriac and Armenian, which frequently seem to refer to this type of sanctuary. 65 ArdašƯr’s destruction of the idol-temples may, therefore, refer to a process of deligitimisation of this type of religious institution and it is easy to see why. Money was certainly a factor, in view of the stress on the treasures of the idol-temples, but more importantly, their potential for local pride and local resilience must have created difficulties for the Sasanians in their claim to restore unity in the Empire. This is expressed most clearly in the inscriptions of the priest KerdƯr, who mentions the fact that he showed great zeal in destroying the “idols” (uzdƝs) and the dwelling-places of the demons.66 In order to create the unity of the empire, we can see some positive measures: establishing family members in positions of power in sensitive parts of the Empire, and creating a hierarchical network of fire-temples and priesthoods, with a prescribed calendar throughout the realm. We can also reconstruct some negative measures in deligitimising the local temples and their priesthoods. It is not that they disappeared, for they are still in _______________ 63 In the latest overview of the history of Zoroastrianism (S TAUSBERG, M., Die Religion Zarathushtras. Geschichte – Gegenwart – Rituale I, Stuttgart 2002), the question of cult statues is not mentioned at all. 64 B OYCE, Iconoclasm; for the word, see also SHAKED, S., BagdƗna, King of the Demons, and other Irainan Terms in Babylonian Aramaic Magic, in: Papers in Honour of Professor Mary Boyce II (Acta Iranica 25), Leiden 1985, 511–525. 65 See, for instance, SHAKED, S., A Persian House of Study, a King’s Secretary: IranoAramaic Notes, Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 48 (1995) 171–186: 171–175 on the Talmudic evidence. 66 For a synopsis of these passages, see GIGNOUX, P., Les quatre inscriptions du mage KirdƯr. Textes et concordances (Studia Iranica, Cahier 9), Paris 1991, 60.

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existence in the sixth century,67 but all state support seems to have been withdrawn from them, and they were seen and, in later times, treated as places of evil. In recent scholarship, much attention has been paid to the manipulation of symbols by the early Sasanians and it has been suggested that the Sasanians, from the start, drew upon imagery from the Avesta and the legendary history of the Iranians to establish a new type of Zoroastrianism and a new type of royal ideology.68 This interpretation, which focuses particularly on the Aryan or Iranian ideology of the Sasanians and on the concept of xwarrah or divine “glory,” is seriously problematic.69 It is based on the assumptions that the Avesta was a text that circulated widely, was understood by many and functioned as a source of legends and imagery. All these assumptions are seriously problematic for the early third century. Neither the inscriptions nor the rock reliefs of ArdašƯr and ShƗpnjr, nor even the inscriptions of the priest KerdƯr, allude to imagery from the Avesta, let alone to the epic history that made such an apearance in later Sasanian times.70 Instead, what we can reconstruct and understand of the symbolic languages of the earliest Sasanians alludes, first of all, to their enormous success and the failure of their Parthian former overlords and then to understandable themes with strong regional overtones: a unity of all Iranians under a Persian king appointed by Ohrmazd. In the famous investiture relief of ArdašƯr at Naqsh-e Rustam, the king and his god come face to face, mounted on their horses. The god hands the king the ring of sovereignty. ArdašƯr’s horse stands upon the body of the defeated Parthian king ArdabƗn; Ohrmazd’s horse stands upon the body of a defeated male figure, in whose hair we find a coiling snake.71 By general consent, this is Ahreman, the Evil Spirit. There is not a single passage in the Avesta that puts Ahura MazdƗ on a horse; there is not a single passage bold enough to state that Ahura MazdƗ has already defeated Ahreman. But the image itself is easy enough to understand: just as there is one god capable of destroying the forces of evil in this world, there is to be only one king, chosen by his god, to rule over his people. _______________ The evidence for this comes from the law-book MƗdayƗn Ư hazƗr dƗdestƗn 94.3–6. See MACUCH, Rechtskasuistik, 597. 68 See, for instance, GNOLI, G., The Idea of Iran. An Essay on its Origin (Serie Orientale Roma 62), Roma 1989, 129–174. 69 See, briefly, DE J ONG, specie, 363–364. 70 The only possible exception, a reference to the Nask (i.e. the Avesta in this case), has been restored in an inscription of KerdƯr by SKJAERVØ, P.O., Kirdir’s Vision. Translation and Analysis, Archäologische Mitteilungen aus Iran 16 (1983) 269–306. 71 For this aspect of the relief, see HINZ, W., Altiranische Funde und Forschungen, Berlin 1969, 115–143, esp. pl. 64. 67

Religionen in Kleinasien und Syrien-Palästina

Das hethitische Reichspantheon Überlegungen zu Struktur und Genese DANIEL SCHWEMER

1. Einleitung a) Zum Konzept des Reichs- oder Staatspantheons Als „Pantheon“ bezeichnet man im Studium der altorientalischen Religionen die Gesamtheit der Gottheiten, die zu einer gegebenen Zeit innerhalb einer Stadt, eines Stadtstaates, eines Territorialreiches oder eines Kulturraums verehrt und als Teil einer zusammengehörigen Gruppe mit organischer Struktur wahrgenommen wurden1. Von den traditionellen lokalen Panthea einzelner Städte und den in erster Linie theologischen Ordnungsentwürfen etwa der großen Götterlisten hebt man sogenannte „Reichs“oder „Staatspanthea“ ab, die gelegentlich auch „offizielles Pantheon“ genannt werden. Ein solches „Reichspantheon“ definiert in der Regel das Gesamt derjenigen Gottheiten, die für einen bestimmten, von einem König beherrschten Territorialstaat als repräsentativ gelten. Dabei handelt es sich nicht um den Versuch einer umfassenden Auflistung aller im jeweiligen Land verehrten Gottheiten; vielmehr formen das eigentliche Pantheon nur einige wenige „große“ Gottheiten, die namentlich genannt werden. Im Reichspantheon findet die staatliche Verfaßtheit der Götterwelt in Analogie zur königlichen Herrschaft Ausdruck, die ihrerseits häufig durch den an der Spitze des Reichspantheons stehenden Götterkönig übertragen und legitimiert wird. Obwohl die Gestalt des Reichspantheons auf traditionelle lokale Panthea, theologische Ordnungsentwürfe und Gegebenheiten des Kultes rekurriert, steht es doch eigenständig neben diesen anderen Panthea als ein religiöses Konstrukt, in dem sich politischer Wille und Herrschafts_______________ 1 Dagegen verwendet man zur Bezeichnung der Gesamtheit der Götter eines Kulturraums, die nicht notwendig schon in der Antike als organische Struktur gedacht wurde, gerne den allgemeineren Terminus „Götterwelt“, der in diesem Sinne auch in englischem Kontext Verwendung findet (cf. etwa B ECKMAN, G., The Pantheon of Emar, in: Silva Anatolica. FS M. Popko, hg. von P. Taracha, Warsaw 2002, 39–54, 39). Cf. nun die Artikel „Pantheon“ in RlA 10 (2004) von W. SALLABERGER (Mesopotamien: 294–308) und G. B ECKMAN (Hethiter: 308–316).

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anspruch in besonderer Weise artikulieren. Eine eigene Größe neben dem Reichspantheon sind grundsätzlich auch die persönlichen Schutzgottheiten des Königs oder seiner Dynastie; Wechselwirkungen zwischen beiden Bereichen lassen sich natürlich verschiedentlich feststellen. b) Historische Voraussetzungen Die hethitische Kultur Zentralanatoliens bot alle Voraussetzungen für die Entstehung eines solchen Reichspantheons: Schon Hattušili I., der im 16. Jahrhundert v.Chr. als erster Herrscher seiner Dynastie das im HalysBogen gelegene Hattuša als Königsresidenz wählte und als eigentlicher Begründer des Alten Reiches der Hethiter gelten darf, beherrschte ein Gebiet, das nach Süden über den Oberlauf des Halys ausgriff und weitergehende Feldzüge über den Taurus nach Nordsyrien erlaubte. Obwohl die Feldzüge der frühen althethitischen Herrscher, die mit der Plünderung Babylons durch Muršili I., den Nachfolger Hattušilis I., ihren Höhepunkt erreichten, keine dauerhafte Expansion des hethitischen Reiches mit sich brachten, führten die militärischen Erfolge doch zu einem ausgreifenden Herrschaftsanspruch, innerhalb dessen auch spätere hethitische Könige der Großreichszeit auf die militärischen Erfolge ihrer Vorväter zurückverwiesen. Gelang dem letzten althethitischen König, Telipinu, eine gewisse Stabilisierung der innerlich zerrütteten hethitischen Königsherrschaft, so vermochte doch erst Tuthaliya I. um die Wende zum 14. Jahrhundert, das südanatolische Kizzuwatna aus der Oberherrschaft des nordsyrischobermesopotamischen Mittani-Reiches zu lösen und so die Voraussetzungen für eine weitere Expansion nach Nordsyrien zu schaffen. Unter seinen Nachfolgern, Arnuwanda I. und Tuth II., bedrohten freilich Feldzüge der nördlich des Hethiterreichs siedelnden Kaškäer das hethitische Kernland unmittelbar, so daß auch die Residenz des hethitischen Königs zeitweise in das am Oberlauf des Halys gelegene Šamuha verlegt werden mußte. Der Sohn Tuth II., Šuppiluliuma I., konnte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts jedoch nicht nur die Kaškäer aus dem hethitischen Kernland vertreiben, sondern dehnte sein Herrschaftsgebiet in mehreren Feldzügen ins westliche Kleinasien und insbesondere nach Nordsyrien aus und steckte damit die Grenzen des hethitischen Großreichs ab, wie sie bis zum Ende des Hethiterreiches um 1200 unter seinem Namensvetter Šuppiluliuma II. bestimmend bleiben sollten. Die fortdauernden Probleme der hethitischen Könige der Großreichszeit, ihren territorialen Herrschaftsanspruch zu behaupten, veranschaulicht besonders deutlich die Verlegung der großköniglichen Residenz ins südanatolische Tarhuntašš unter Muwatalli II., der den Nordteil des Reiches seinem Bruder, dem späteren König Hattušili III., zur Verwaltung übergab. Obwohl die Verlegung der Hauptstadt die Regierungszeit Muwatallis nicht überdauerte, führte sie doch mit-

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telbar zu einer folgenreichen Spaltung des hethitischen Königshauses, die zur inneren Instabilität des Großreiches und damit auch zu seinem raschen Ende beitrug. Man könnte nun erwarten, daß ein Reichspantheon des hethitischen Großreiches vor allem in monumentalen Königsinschriften in Form ausführlicher Invokationen der Götter von König und Reich bezeugt wäre. Nicht zuletzt weil nur wenige Monumentalinschriften hethitischer Herrscher bekannt sind, greift man zur Rekonstruktion des hethitischen Reichspantheons traditionell jedoch vor allem auf zwei andere Quellen zurück: Die Schwurgötterlisten der hethitischen Staatsverträge auf der einen Seite und auf der anderen Seite die berühmten Reliefs zweier sich scheinbar aufeinander zu bewegenden Götterreihen im Felsheiligtum von Yazılıkaya unweit der hethitischen Residenzstadt Hattuša.

2. Politische Theologie: die Schwurgötterlisten der Verträge Einen festen Bestandteil hethitischer Staatsverträge und Treueide bildet die Anrufung der Götter des Landes Hatti als Zeugen des mit dem Vertrag schriftlich niedergelegten Eides. Diese Schwurgötterlisten, denen zuletzt D. Yoshida eine detaillierte Untersuchung gewidmet hat2, beziehen sich mit der bekannten Phrase von den „tausend Göttern des Landes Hatti“ ausdrücklich auf die Gesamtheit der hethitischen Götter, die als göttliche Zeugen für den Großkönig auftreten. Die Götter des Vertragspartners werden bei Staatsverträgen in derselben Weise als Zeugen angerufen, meist jedoch nur summarisch genannt („alle Götter des Landes …“); seltener begegnen ausführlichere Schwurgötterlisten auch der Vertragspartner3, _______________ 2

Zum Pantheon der Schwurgötterlisten s. Y OSHIDA, D., Untersuchungen zu den Sonnengottheiten bei den Hethitern (THeth 22), Heidelberg 1996, 7–53, P OPKO, M., Religions of Asia Minor, Warsaw 1995, 90f., 112f., LAROCHE, E., The Pantheons of Asia Minor: The Organization of the Hittite Gods, in: BONNEFOY, Y. (Hg.), Mythologies, Chicago 1991, I 218–222 [franz. Orig. 1981], 219, 221f., K ESTEMONT, G., Le Panthéon des instruments hittites de droit public, OrNS 45 (1976) 147–177, GURNEY, O. R., Some Aspects of Hittite Religion, Oxford 1977, 4–7, HOUWINK TEN CATE, P H. H. J., The Sun God of Heaven, the Assembly of Gods and the Hittite King, in: VAN DER P LAS, D. (Hg.), Effigies Dei. Essays on the History of Religions (Numen Suppl. 51), Leiden et al. 1987, 13–34, 22ff. sowie S INGER, I., “The Thousand Gods of Hatti”. The Limits of an Expanding Pantheon, IOS 14 (1994) 81–102. 3 So der Kaškäer-Vertrag CTH 138 (s. VON SCHULER, E., Die Kaškäer. Ein Beitrag zur Ethnographie des alten Kleinasiens [UAVA 3], Berlin 1965, 117f., dazu ibid., 127), die Karkamiš-Verträge Šuppiluliumas I. und II. (s. S INGER, I., The Treaties between Karkamiš and Hatti, in: W ILHELM, G. (Hg.), Akten des IV. Internationalen Kongresses für Hethitologie [StBoT 45], Wiesbaden 2001, 635–641, 638–639), der Hayaša-Vertrag CTH 43 (KUB 26, 39, s. CARRUBA, O., Die Hajasa-Verträge Hattis, in: Documentum

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manchmal werden einzelne Götter des Vertragspartners in die Reihe der Schwurgötterliste des Landes Hatti eingeflochten (dazu im folgenden). Das erste Mal läßt sich die Liste der göttlichen Zeugen des Landes Hatti in ihrer auch später typischen Form im früh-großreichszeitlichen Vertrag zwischen Šuppiluliuma I. und Hukkana von Hayaša nachweisen4. Soweit der Vertragstext erhalten ist, scheint der Liste der Gottheiten von Hatti keine Aufreihung der Gottheiten des nordostanatolischen Hayaša gegenübergestellt worden zu sein5. An der Spitze der Schwurgötter stehen jeweils zwei Sonnen- und zwei Wettergottgestalten: Der Sonnengott des Himmels und die Sonnengöttin von Arinna sowie der Wettergott des Himmels und der Wettergott des Landes Hatti. Darauf folgt eine Gruppe verschiedener Wettergottgestalten, teils bestimmten Orten zugewiesen, teils aspektuell differenziert. Die lokalen Wettergottgestalten schließen nicht nur solche ein, die an der Spitze eines zentralanatolischen Lokalpantheons standen; vielmehr sind schon hier die Wettergötter der südanatolischen Landschaft Kizzuwatna und der überregional bekannte Wettergott des nordsyrischen Aleppo fest integriert. Folgerichtig wird in einem Anhang an die Wettergottgruppe HƝbat genannt, die syro-kizzuwatnische Gemahlin des Wettergottes6. Daran schließt sich eine Gruppe von Schutzgottheiten an, die ihrerseits von Aya (Ea) und einer Gruppe diverser Gestalten der Göttin Ištar (bzw. Šawuška) gefolgt wird. Ähnlich der Nennung des Wettergottes von Aleppo wird auch hier die wichtigste altorientalische Lokalgestalt dieser Göttin, die Ištar des assyrischen Ninive, unter den Gestalten der Göttin aufgeführt. Eine fünfte Gruppe bilden Kriegsgottgestalten, eine sechste Unterweltsgottheiten, eine siebte diverse wichtige Gottheiten zentral- und südanatolischer Ortschaften7. Die Reihe wird zunächst von den Summenangaben „die Bergbewohner-Götter, die Steppenbewohner-Götter, alle Götter des Landes Hatti“ beschlossen, die auch die ______________________________________________________________________________________________

Asiae minoris antiquae. FS H. Otten, hg. von E. Neu/Ch. Rüster, Wiesbaden 1988, 59– 75, hier 74) sowie die Šattiwaza-Verträge CTH 51–52 (BECKMAN, G., Hittite Diplomatic Texts, Atlanta 21999, 37ff.); kürzer im Friedensvertrag mit Ägypten (s. EDEL, E., Der Vertrag zwischen Ramses II. von Ägypten und Hattušili III. von Hatti [WVDOG 95], Berlin 1997, 70–73). 4 Zum Hukkana-Vertrag s. BECKMAN, Diplomatic Texts, 22ff. mit weiterer Lit. 5 Allerdings endet die Schwurgötterliste in einem Bruch, auf den eine längere Lücke folgt. Es ist nicht auszuschließen, daß hier eine Liste der Götter von Hayaša zu ergänzen ist, zumal der Hayaša-Vertrag CTH 43 eine solche Liste enthält. 6 Zur Göttin HƝbat s. TRÉMOUILLE, M.-C., dHƝbat. Une divinité syro-anatolienne (Eothen 7), Firenze 1997, passim, zu ihrer Nennung in den Schwurgötterlisten ibid., 26ff. (zur Göttin cf. auch SCHWEMER, D., Die Wettergottgestalten Mesopotamiens und Nordsyriens im Zeitalter der Keilschriftkulturen, Wiesbaden 2001, 115f., 220f.). 7 Zentralanatolien: Ayabara von Šamuha, Hantitaššu von Hurma, Katah  von Ankuwa, Ammamma von Tahurpa, „die Königin“ von Katapa; Südanatolien: Huwaššanna von Hupišna, Hallara von Tunna.

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Gottheiten der Randgebiete der hethitischen Herrschaft und der nichtseßhaften Bevölkerung in das Reichspantheon integrieren. Dann weitet sich der Blick in kosmischen Merismen auf das Gesamt der Götterwelt: Gottheiten des Himmels und der Erde, Berge, Flüsse etc. Trotz dieser umfassenden Weitungen des Pantheons am Ende der Liste lassen die genannten Lokalgestalten der verschiedenen Gottheiten einen klaren geographischen Horizont erkennen: Zentralanatolien im Halysbogen, also das Kernland von Hatti8, einzelne Städte Nordanatoliens9, Südanatolien einschließlich des Landes Kizzuwatna10, daneben einzelne Lokalgestalten überregional bedeutender Gottheiten, deren Kultorte außerhalb dieses Gebietes liegen (Halab, Ninive), deren Verehrung aber längst verschiedenenorts Teil des hethitischen Kultes geworden war. Die erhaltenen Staatsverträge versetzen uns nicht in die Lage, eine eigentliche Entstehungsgeschichte des frühgroßreichszeitlichen Reichspantheons, wie es der Hukkana-Vertrag überliefert, nachzuzeichnen. Nur vier Schwurgötterlisten in Verträgen der mittelhethitischen Zeit können bislang für die Epochen vor Šuppiluliuma I. namhaft gemacht werden11. Davon fallen drei wohl in die Zeit Arnuwandas I. (zwei Kaškäer-Verträge, CTH 138, 139; Vertrag mit den Leuten von Išmerikka, CTH 133), einer wahrscheinlich in die Regierung des Vorgängers Arnuwandas, Tuth I. (Kizzuwatna-Vertrag, KBo 28, 110 + 75)12. _______________ 8

Neben den oben bereits genannten Gottheiten sind zu nennen: Die Sonnengöttin von Arinna, die Wettergötter von Hatti, Arinna, Zippalanda, Šapinuwa, Šahp ina, Pittiyarik, Šamuha, Šarišša, die Schutzgottheiten von Hatti und Karah , der Kriegsgott von Arziya. 9 Die Wettergötter von Nerik, Hišašh  und Lihzina. 10 Die Wettergötter von Uda, Kizzuwatna, Hurma und Hulaša, HƝbat von Uda, von Kizzuwatna, Ištar von Hattarina und der Kriegsgott von Illaya. 11 Auf die Bedeutung dieser Texte für die Entwicklungsgeschichte der Schwurgötterlisten weisen bereits G URNEY, Aspects, 7, 14f., KESTEMONT, Panthéon, 148 und HOUWINK TEN CATE , Sun God, 18 hin. 12 KBo 28, 110+ wurde von HOUWINK TEN CATE, PH. H. J., An Alternative Date for the Sunassura Treaty (KBo 1.5), AoF 25 (1998) 34–53, 38ff. zutreffend als Vorläuferversion bzw. Kladde zum großen Šunaššura-Vertrag KBo 1, 5 beschrieben, die ein bestimmtes Stadium der Verhandlungen zwischen Hatti und Kizzuwatna spiegelt. Die Überlieferungssituation des Šunaššura-Vertrages stellt sich m. E. derzeit wie folgt dar: ŠunaššuraVertrag mit Vorläuferversion(en): Version D: KBo 1, 5 (A) // KUB 3, 4 (B) (akkadisch), Version E: KBo 28, 110 + 28, 75 (akkadisch), Fragment J: KBo 28, 106 (akkadisch); früherer, paritätischer Vertrag zwischen Šunaššura und Hatti: Fragment G: KBo 19, 40 (akkadisch), Version a: KUB 8, 81 + KBo 19, 39 (hethitisch), Version b: KUB 36, 127 (hethitisch). Dem neuen Datierungsansatz auf Tuthaliya II. (III.), für den Houwink ten Cate argumentiert (cf. auch FREU, J., De l’indépendence à l’annexion. Le Kizzuwatna et le Hatti aux XVIe et XVe siècles avant notre ère, in: J EAN, E. et al., La Cilicie: Espaces et pouvoirs locaux, Paris 2001, 13–36; für die ältere Lit. sei auf die Angaben Houwink ten Cates verwiesen) können wir nicht folgen (ebensowenig der Wiederbelebung einer Datierung auf Šuppiluliuma I. bei B ÖRKER-KLÄHN, J., Grenzfälle: Šunaššura und Sirkeli

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Die Götterliste in KBo 28, 110+ ist wesentlich knapper gefaßt als das großreichszeitliche Pendant und verzichtet weitgehend auf die Nennung von Lokalgestalten; auch ist sie nicht in das übliche Schwurgötterformular eingepaßt, sondern steht im Rahmen einer Fluchandrohung13. In ihrer Grundstruktur entspricht sie dem später bezeugten Großpantheon jedoch weitgehend, wenn sie auf die Sonnengöttin an der Spitze Wettergott, Schutzgott, Wettergott von Halab mit HƝbat, den Mondgott als Eidgott, Ištar und Kriegsgott folgen läßt, um dann die Gesamtheit der Gottheiten beider Länder zu nennen und die Liste mit den Naturnumina abzuschließen: 80" [dUTU urua-ri-i]n-na dIŠKUR uruhÙa-at-ti dLAMMA uruhÙa-at-ti 81" [dIŠKUR] uruhÙa -l]a-ab dhÙé -bat d EN:ZU d IŠ

8 -TÁR

d

82"

14

ZA.BA4.BA4 [x x x (x)] x DINGIR.MEŠ ù DINGIR.MEŠ [ša KUR uru]ki-iz-zu-wa-at-ni ša-mu-ú er-sDe-tum ša KUR 84" [x x] x HUR.SAG.DIDLI.HI.A ù ÍD.H  uruhÙa-at-ti

83"

Ähnlich knapp gehalten ist die Schwurgötterliste des mittelhethitischen Kaškäer-Vertrages CTH 139 und auch sie zeichnet in den zur göttlichen Ratsversammlung (tuliya-) bestellten Gottheiten strukturell das großreichszeitliche Pantheon vor: Sonnengottheit (dUTU-un)15, Wettergott, Kriegsgott, Schutzgottheiten, Ištar, Eidgötter, summarische Göttergruppen beschlossen von den Göttern von Hatti und denen von Kaška, Naturnumina16. Die fragmentarische Schwurgötterliste des Kaškäer-Vertrages CTH 138, den sicher Arnuwanda I. geschlossen hat, entspricht der Schwurgötterliste des Hukkana-Vertrages nicht nur in ihrer Grundstruktur, sondern auch in der Nennung der einzelnen Lokalgestalten. Unter den im erhaltenen Text genannten Gottheiten fehlen allerdings solche, die südanatolisch-kizzuwatnischen Orten zugeordnet werden. Angesichts dessen, daß Kizzuwatna nach Ausweis des Išmerikka-Vertrages zu Zeiten Arnuwandas I. bereits zum hethitischen Herrschaftsbereich gehörte, könnten die entsprechenden Lokalgottheiten jedoch zu ergänzen sein. In den folgenden Paragraphen ______________________________________________________________________________________________

oder die Geschichte Kizzuwatnas, UF 28 [1996] 37–104). Eine ausführliche Diskussion der Problematik werden wir andernorts geben. 13 Nach HOUWINK TEN CATE, Date, 38 erklärt sich die Tatsache, daß die Schreiber eine kurze Fluchgötterliste anstelle einer ausführlichen Schwurgötterliste wählten, aus der Gattung des Textes; es handele sich bei KBo 28, 110+ nur um ein „simple agreement“. 14 YOSHIDA, Sonnengottheiten, 10 ergänzt fragend Lelwani. 15 Zur Problematik der Lesung von dUTU-u- und der damit verbundenen Frage nach dem (ursprünglichen) Geschlecht der hethitischen Sonnengottheit Ištanu (< hattisch Eštan) cf. zuletzt KLINGER, J., Untersuchungen zur Rekonstruktion der hattischen Kultschicht (StBoT 37), Wiesbaden 1996, 141ff., zuvor YOSHIDA, Sonnengottheiten, 1–3 mit Lit. Zur Diskussion um die Lesung der Sonnengöttin von Arinna als Ariniddu u. ä. cf. HAWKINS, J.D., The Hieroglyphic Inscription of the Sacred Pool Complex at Hattusa (Südburg) (StBoT Beiheft 3), Wiesbaden 1995, 32. 16 KBo 8, 35 Vs. II 8'ff., dazu VON SCHULER, Kaškäer, 109ff., zur historischen Einordnung s. die Verweise bei KLENGEL, H., Geschichte des hethitischen Reiches, HdO 1/34, Leiden e. a. 1999, 117.

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bietet der Vertrag eine Liste der kaškäischen Schwurgötter, die in ihrer Gesamtstruktur angesichts des fragmentarischen Erhaltungszustands jedoch unverstanden bleiben muß17. Auch von der Schwurgötterliste in Arnuwandas Išmerikka-Vertrag ist zu wenig erhalten, um ihre Struktur klar erkennen zu können18. Sie scheint im Prinzip aber CTH 138 nahezustehen; wie im mittelhethitischen Kizzuwatna-Vertrag KBo 28, 110+ erhält auch hier der Wettergott von Halab mit seiner Gemahlin HƝbat einen Platz unter den Göttern von Hatti. Ob der halabäische Wettergott auch im zeitgleichen Kaškäer-Vertrag CTH 138 zu ergänzen ist, steht freilich dahin. Denn im Gegensatz zu den südanatolischen Landschaften Kizzuwatna und Išmerikka war diese nordsyrische Wettergottgestalt im nordanatolischen Kaška kaum bekannt. Daß aber dem hethitischen Reichspantheon der Staatsverträge eine gewisse diplomatische Flexibilität in Hinsicht auf den Vertragspartner eignete, zeigt ein Blick auf die spätere Entwicklung der Schwurgötterlisten. Die Staatsverträge, die aus der späteren Regierungszeit Šuppiluliumas I. erhalten sind, und die unter seinen Nachfolgern niedergelegten Vertragstexte zeigen hinsichtlich der Schwurgötterlisten insgesamt eine große Uniformität, von der nur wenige Texte erheblich abweichen. Über die in der Schwurgötterliste des Hukkana-Vertrages genannten Gottheiten hinaus werden in den jüngeren Verträgen Šuppiluliumas mit den syrischen Vasallen Aziru von Amurru, Tette von Nuhašše und mit Šattiwaza von Mittani19 nun regelmäßig der hurro-syrische Götterkreis des Wettergottes mit Šeri, Hurri, Nanni und Hazzi, verschiedene Telipinu-Gestalten20, die Götter des nordanatolischen Išhupitta und des südanatolischen Landa, der Götterkreis des zentralanatolischen Kaneš und gegen Ende der Liste, nach der Sonnengöttin der Erde, eine Reihe uralter, in die Unterwelt gebannter Gottheiten genannt; die Reihe der Kriegsgötter wird um die Seuchengötter Yarri und Zappana ergänzt. Dabei gilt zu beachten, daß diese Erweiterungen zumindest teilweise bereits im Fragment eines Hayaša-Vertrages bezeugt sind, das dem Hukkana-Vertrag nahesteht und wie dieser noch im mittelhethitischen Duktus niedergelegt ist (CTH 43: KBo 26, 39). Die genannten Ver_______________ 17 KUB 23, 77a(+) Vs. 3ff., zum Text VON SCHULER, Kaškäer, 117ff. Die Struktur des Textes mit seinen Längsunterteilungen bleibt nach wie vor unklar (cf. auch YOSHIDA, Sonnengottheiten, 38f.). 18 Zum Text s. KEMPINSKI, A./KOŠAK, S., Der Išmeriga-Vertrag, WO 5 (1969–70) 191–217, zur historischen Stellung K LENGEL, Geschichte, 118, 124f. 19 Diese und die im folgenden zitierten Vertragstexte wurden zuletzt von B ECKMAN, Diplomatic Texts, 11–118 (mit Lit. ibid., 171ff.) übersetzt, worauf hier allgemein verwiesen werden kann. 20 Man beachte in diesem Zusammenhang, daß in der „dritten Schwurgötterliste“ des mittelhethitischen Kaškäer-Vertrages CTH 138 der Gott Telipinu bereits genannt ist (KUB 23, 77a(+) Vs. 18).

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träge Šuppiluliumas mit seinen nordsyrischen und obermesopotamischen Vasallen schließen in die Reihe der Götter von Hatti auch eine feste Folge syrischer Gottheiten ein: Ninšenšen von Qadeš und die Berggötter Libanon, Hermon und Pišaiša. Zudem tritt die hethitische Sonnengöttin der Erde stets im Gewand der syro-mesopotamischen Ereškigal auf21. Der Vertrag mit Tette von Nuhašše integriert unter die Wettergottgestalten auch den Wettergott von Nuhašše. Die knappe Fluchgötterliste des Vertrages mit Niqmaddu von Ugarit schließt nicht nur einige wichtige syrische Gottheiten ein, sondern weicht auch strukturell vom geläufigen Schema der hethitischen Schwurgötterlisten ab; gleichartige Listen finden sich aber auch in anderen vertraglichen Regelungen hethitischer Könige mit Ugarit, die nicht eigentlich staatsvertraglichen Status besaßen22. Die Vertragstexte, die aus der Zeit Muršilis II., des Nachfolgers Šuppiluliumas I., stammen, zeigen deutlich, daß die Erweiterung des hethitischen Pantheons um die eben genannten syrischen Gottheiten jeweils in Hinsicht auf die syrischen Vertragspartner erfolgte, ohne daß damit eine dauerhafte Aufnahme der entsprechenden Gottheiten in den Kreis der Götter von Hatti einhergegangen wäre. So erweitern die syrischen Verträge Muršilis mit Tuppi-Teššub von Amurru und Niqmepa von Ugarit die Zahl der syrischen Götter nochmals jeweils in Hinsicht auf das lokale Pantheon des Kontrahenten23, dagegen erweisen sich die Schwurgötterlisten der Verträge mit anatolischen Vasallen wie Manapa-Tarhunta vom ŠƝha-FlußLand und Kupanta-Kurunta von Mira als völlig frei von syrischem Einfluß. Dasselbe Bild eines im Prinzip gleichbleibenden Reichspantheons, das jeweils in Hinsicht auf den Vertragspartner punktuell erweitert werden kann, bieten auch die unter Muwatalli II., Hattušili III., Tuthaliya IV. und Šuppiluliuma II. niedergelegten Verträge und Treueide, die daneben gelegentlich auch die persönlichen Gottheiten des Herrschers in die Schwurgötterliste aufnehmen24. _______________ 21

S. dazu YOSHIDA, Sonnengottheiten, 48f. mit den einschlägigen Belegen. Cf. auch CTH 47 (Tributvereinbarung mit Niqmaddu) und CTH 64 (Grenzfestlegung für Niqmepa von Ugarit), dazu YOSHIDA, Sonnengottheiten, 33. 23 So nennt der Tuppi-Teššub-Vertrag in einer Reihe am Ende der Wettergott-Gruppe den Wettergott von Arkata, den Wettergott von Tunip, den in Tunip verehrten Wettergott von Halab und den Gott Milku, ohne daß daraus zwingend folgen würde, die hethitischen Schreiber hätten letzteren als eine Wettergottgestalt gedeutet. Der Niqmepa-Vertrag nennt an vergleichbarer Stelle den Wettergott von Ugarit. 24 So die Nennung des Wettergottes des Blitzes im Alakšandu-Vertrag (persönlicher Gott Muwatallis II.) und des Šarruma im Ulmi-Teššub- und Kurunta-Vertrag (persönlicher Gott Tuthaliyas IV. – dies eines der Argumente für eine Datierung des UlmiTeššub-Vertrages auf Tuthaliya IV., s. VAN DEN HOUT, T H., Der Ulmi-tešub-Vertrag. Eine prosopographische Untersuchung [StBoT 38], Wiesbaden 1995, 17). 22

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Zusammenfassend können wir festhalten, daß die hethitischen Staatsverträge als Zeugen ein hierarchisch nach Göttertypen angeordnetes Pantheon des Landes Hatti anrufen, das für das hethitische Reich in ähnlicher Weise eintritt wie die menschlichen Würdenträger, die in den Verträgen als Zeugen genannt werden können. Diese Göttergruppe darf mit Fug und Recht „Pantheon“ genannt werden, nehmen doch die Texte selbst in Anspruch, diese Auswahl von Gottheiten repräsentiere „alle Götter des Landes Hatti“. Die weitergehende Bezeichnung „Reichspantheon“ ist ebenso berechtigt, entspricht doch der geographische Horizont der Schwurgötterlisten wohl schon seit mittelhethitischer Zeit dem anatolischen Kernbereich des Hethiterreiches einschließlich Kizzuwatnas im Süden und der Schwarzmeerregion im Norden. Die großreichszeitlichen Schwurgötterlisten schreiben diesen in Form eines Pantheons formulierten politischen Herrschaftsanspruch in erweiterter und komplexerer Form fort, ohne dabei den eigentlichen geographischen Horizont des Reichspantheons auszudehnen. Trotz der Eroberungen Šuppiluliumas und seiner Nachfolger werden die entsprechenden Landschaften Westanatoliens und Nordsyriens als Fremdland wahrgenommen25. Anders verhält es sich mit dem südanatolischen Kizzuwatna, das seit der mittelhethitischen Zeit nicht nur nach Ausweis des Reichspantheons als integraler Bestandteil des Hatti-Landes gilt26, auch wenn in den abschließenden summarischen Angaben die Götter von Kizzuwatna gelegentlich eigens neben den Göttern des Landes Hatti genannt werden27. Eigentlich fremde Gottheiten werden nur punktuell in Hinsicht auf den jeweiligen Vertragspartner in das hethitische Reichspantheon aufgenommen. Man wird dies als einen Akt der theologischen Vereinnahmung deuten dürfen, der dem Vertragspartner das neue Verhältnis zwischen beiden Ländern auch auf der Ebene der Götterwelt vor Augen führte – denn selbstverständlich rangieren die fremden Gottheiten jeweils an hierarchisch nachgeordneter Stelle. Es ist kein Zufall, daß etwa die Schwurgötterliste des paritätischen Friedensvertrages zwischen Hattušili III. und Ramses II. keine ägyptische Gottheit in das hethitische Reichspantheon integriert, sondern die ägyptischen Götter als separate Gruppe vor den die _______________ 25

S. dazu ausführlich SINGER, “The Thousand Gods of Hatti”. Zur Geschichte Kizzuwatnas s. (in Auswahl): W ILHELM, G., Zur ersten Zeile des Šunaššura-Vertrages, in: Documentum Asiae minoris antiquae. FS H. Otten, hg. von E. Neu/Ch. Rüster, Wiesbaden 1988, 359–370, BEAL, R. H., The History of Kizzuwatna and the Date of the Šunaššura-Treaty, OrNS 55 (1986) 424–445, DESIDERI, P./J ASINK, A.M., Cilicia dall’età di Kizzuwatna alla conquista macedone, Torino 1990, 51ff., FREU, Indépendence, TRÉMOUILLE, M.-C., Kizzuwatna, terre de frontière, in: J EAN, E. et al., La Cilicie: Espaces et pouvoirs locaux, Paris 2001, 57–78. 27 Cf. die Schwurgötterlisten des Šattiwaza-Vertrages und des Aziru-Vertrages (Šuppiluliuma I.) sowie des Ramses-Vertrages (Hattušili III., nur hieroglyphischer Text erhalten, s. E DEL, Vertrag, 70–73), 26

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Liste abschließenden Naturnumina aufführt, wie auch andere Verträge die Gottheiten des Vertragspartners separat nennen28. Die Hintergründe der Entstehung des in den Staatsverträgen bezeugten hethitischen Reichspantheons bezeichnete E. Laroche einmal als Rätsel29, und tatsächlich findet man außerhalb der Staatsverträge, zumal in den umfangreichen Festritualen, die vom hethitischen Herrscher begangen werden mußten, keine Götterreihungen, die dem Reichspantheon der Verträge direkt entsprächen. Eine Art Staatskult des Königs, der allen Gottheiten des Landes Hatti als geschlossenem Pantheon gewidmet gewesen wäre und den unmittelbaren Hintergrund der Schwurgötterlisten gebildet hätte, gab es anscheinend nicht30. Reduziert man die Schwurgötterlisten allerdings auf ihren alten, schon mittelhethitisch bezeugten Kernbestand, also Sonnengottheit, Wettergott, Schutzgottheit, Ištar-Gestalt und Kriegsgott, findet sich, wie D. Yoshida aufgezeigt hat, eine wichtige Parallele in den Annalen Tuthaliyas I., innerhalb derer die Götter, die dem König in der Schlacht helfen, in eben dieser

_______________ 28 Cf. die oben, Anm. 3, genannten Texte. Die grundsätzliche Auffassung der Konflikte Hattis mit anderen Ländern als Rechtsstreit, und zwar auch zwischen den Göttern Hattis und der jeweiligen Länder, veranschaulicht besonders schön das Ritual für einen Feldzug gegen die Kaškäer, das VON SCHULER, Kaškäer, 168ff. bearbeitet hat (cf. auch KLINGER, J., Historiographie als Paradigma. Die Quellen zur hethitischen Geschichte und ihre Deutung, in: W ILHELM, G. [Hg.], Akten des IV. Internationalen Kongresses für Hethitologie [StBoT 45], Wiesbaden 2001, 271–291, 290f. zur grundsätzlichen Bedeutung dieses Textes für das hethitische Herrschaftsverständnis). 29 LAROCHE, Pantheons, 219: „The genesis of this pantheon, the best known and most often cited as a paradigm of Hittite religion, remains a mystery.“ 30 KESTEMONT, Panthéon, 155 folgert aus der gleichbleibenden Struktur des Pantheons der Schwurgötterlisten, daß dieses nicht als Quelle für die hethitische Religion herangezogen werden könne, sondern allein die rationale Organisation der Götterwelt durch die Diplomaten spiegele. Die von Kestemont vorgenommene Unterscheidung zwischen „phénomènes religieux“ und „principes rationnels“, zwischen „règles religieuses“ und „règles diplomatiques“ führt in Hinsicht auf das Verständnis der Schwurgötterlisten jedoch nicht weiter. Die Schwurgötterlisten folgen selbstverständlich rationalen Prinzipien, indem sie das überkommene Bild von der Götterwelt des Landes Hatti in eine bestimmte Form bringen und mit Rücksicht auf die jeweiligen politischen bzw. diplomatischen Bedürfnisse modifizieren. Sie stellen damit aber ein theologisches Konzept innerhalb der hethitischen Religion dar, kein davon zu trennendes diplomatisches Konstrukt. Daß dieses Konzept verhältnismäßig stabil bleibt, ist nicht als Nachweis für seine anachronistische, vom religiösen Empfinden gelöste Starrheit gegenüber einer sich dynamisch entwickelnden „hethitischen Religiosität“ zu deuten, sondern vielmehr als Hinweis darauf zu verstehen, daß Synkretismen und Veränderungen religiöser Auffassungen eben nicht alle Segmente und Ausdrucksformen der hethitischen Religion in gleicher Weise erfaßten.

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Folge genannt werden31. Auch in Feldzugsberichten späterer Herrscher bis hin zur hieroglyphen-luwischen Südburg-Inschrift Šuppiluliumas II. läßt sich eben diese Reihe der Schlachtenhelfer – teilweise freilich verkürzt oder modifiziert – wiederfinden. Ob die Götter nur im „metaphorischen“ Sinn oder aber recht eigentlich, also durch Symbole physisch vergegenwärtigt, am Feldzug teilnahmen, den Truppen „vorausliefen“, wie ein Teil der Texte formuliert, bleibt unsicher32. Es wären jedenfalls diese Götter, die den Grundstock des späteren Reichspantheons bildeten. Das Reichspantheon selbst erhält dann freilich eine wesentlich erweiterte Gestalt. Denn nur so kann es dem Anspruch, die Gesamtheit der Landesgötter zu nennen, gerecht werden. Die zunächst nur als Einzelgottheiten genannten Göttertypen werden mit ihren diversen lokalen Manifestationen aufgeführt33, die wichtigsten Kultorte des Landes mit ihren Hauptgottheiten fügt man ebenso an wie die nichtstädtischen Kulte der Berg- und Steppenbewohner, um schließlich mit der Einbeziehung der Unterweltsgottheiten und der Naturnumina angeführt von Himmel und Erde alle Gottheiten des Landes auch im kosmischen Sinne zu erfassen. Diese Weiterungen sind allem Anschein nach ebenso wie die punktuelle Aufnahme von Fremdgöttern das Werk einer produktiven politischen Theologie, die einer unmittelbaren Übersetzung in kultische Vollzüge nicht bedurfte. _______________ 31

S. YOSHIDA, Sonnengottheiten, 36; zur Datierung des Textes auf Tuthaliya I. zuletzt KLINGER, J., Die hethitisch-kaškäische Geschichte bis zum Beginn der Großreichszeit, in: DE MARTINO, ST. (Hg.), Anatolia antica. GS. F. Imparati (Eothen 11), 437–451, 446–448. 32 Zur Formulierung peran hÙu wai - „voranlaufen“, „führen“, „beistehen“ s. CHD P 300 mit Lit. Der für das assyrische Heer sowohl im Text- als auch im Bildzeugnis nachweisbare Brauch, die Götter in Form von Standarten auf dem Feldzug mitzuführen (s. P ONGRATZ-LEISTEN, P./DELLER, K./B LEIBTREU, E., Götterstreitwagen und Götterstandarten: Götter auf dem Feldzug und ihr Kult im Feldlager, BaM 23 [1992] 291–356), läßt sich so für die hethitischen Feldzüge nicht nachweisen. Sicher begleitete jedoch der Schutzgott Zithariya den König auf dem Feldzug in Form eines an einer Standarte hängenden Ledersackes ( kuškurša-, s. P OPKO, M., Kultobjekte in der hethitischen Religion [nach keilschriftlichen Quellen], Dissertationes Universitatis Varsoviensis, Warszawa 1978, 112, BRENTJES, B., Der hethitische Königsfetisch KUŠkurša auf ägyptischen Reliefs der Ramessidenzeit, AoF 22 [1995] 334–347, passim, H AAS, V., Geschichte der hethitischen Religion, HdO I/15, Leiden – New York – Köln 1994, 455f., 829, cf. zuletzt auch W ATKINS, C., Homer and Hittite Revisited II, in: Recent Developments in Hittite Archaeology and History. GS H. G. Güterbock, Winona Lake 2002, 167–176, 169ff.; zur „Schutzgottheit des Voranlaufens des Labarna“ s. ARCHI, A., Divinità tutelari e Sondergötter ittiti, SMEA 16 [1975] 89–117, 96, MCMAHON, G., The Hittite State Cult of the Tutelary Deities [AS 25], Chicago 1991, 100f.: 25, 112f.: 27, 122f.: § 29’). 33 Dies gilt freilich nicht für die Sonnengottheiten, für die sich interessanterweise auch sonst kaum differenzierte Lokalgestalten nachweisen lassen (cf. zu den wenigen Belegen YOSHIDA, Sonnengottheiten, 274f.).

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Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Reihungen der Gottheiten, die dem König in der Schlacht helfend zur Seite stehen, und den Schwurgötterlisten der großreichszeitlichen Staatsverträge, auf den schon O. Gurney hinwies34, blieb hier bislang unerwähnt. Während die Reihe der HelferGottheiten in aller Regel die Sonnengöttin von Arinna als höchste Göttin des Reiches anführt, steht an der Spitze der Schwurgötter zumindest seit der frühen Großreichszeit stets der Sonnengott des Himmels; erst nach ihm wird die Sonnengöttin von Arinna genannt. Der mittelhethitische Kizzuwatna-Vertrag steht in dieser Hinsicht den Reihungen der Schlachtenhelfer näher als den späteren Schwurgötterlisten. In den mittelhethitischen Kaškäer-Verträgen CTH 138, 139 läßt die logographische Schreibung an der Spitze der Liste ohne weiteres Epithet keine sichere Entscheidung darüber zu, welche der beiden Sonnengottheiten gemeint ist. Ein Vergleich mit dem gleichfalls mittelhethitischen Išmerikka-Vertrag, der zunächst den Sonnengott und den Wettergott, dann aber wohl die Sonnengöttin von Arinna nennt, legt jedoch nahe, daß mit dUTU(-un) auch in CTH 138 und 139 der männliche Sonnengott des Himmels gemeint ist. Die Spitzenstellung des himmlischen Sonnengottes in den Schwurgötterlisten verdankt sich nicht dem Zufall, ist es doch nach verschiedenen Mythen er, der Sonnengott, der die Versammlung der Götter einberuft35. Die Rolle des Sonnengottes als Vorstand und Berufer der Götterversammlung, die ihm in den entsprechenden Kontexten eine Vorrangstellung noch vor Wettergott und Sonnengöttin von Arinna beschert, wurzelt unmittelbar in der hethitischen Königsideologie: Der Herrscher ist der Sonnengott seines Landes, Garant für Wohlfahrt und Gerechtigkeit; er ruft die Versammlung der Vornehmen zum Rechtsentscheid zusammen. Diese Auffassung vom Königtum, die zumindest bis in mittelhethitische Zeit zurückreicht, ist punktuell womöglich von babylonischen Traditionen beeinflußt, wird in der politischen Theologie der hethitischen Herrscher jedoch weit konkreter ausgeführt, als sich dies für Babylonien oder Assyrien belegen läßt; so lautet der offizielle Titel des Königs „mein Sonnengott“, sein Ornat und seine Attribute entsprechen in den Darstellungen denen des Sonnengottes36. Auch die Tatsache, daß die oben beschriebene Rolle des männ_______________ 34

GURNEY, Aspects, 6. S. dazu und zum folgenden ausführlich H OUWINK TEN CATE, Sun God. 36 B ECKMAN, G., „My Sun-God“: Reflections of Mesopotamian Conceptions of Kingship among the Hittites, in: P ANAINO, A./P ETTINATO, G. (Hg.), Ideologies as Intercultural Phenomena (Melammu 3), Milano 2002, 37–43, möchte die Sonnengott-Titulatur des hethitischen Großkönigs, die ab der mittelhethitischen Zeit belegt ist, mesopotamischem Einfluß zuschreiben, während frühere Gelehrte ägyptischen Einfluß erkennen wollten (in Babylonien ist die Sonnengott-Metaphorik sicher ab der Ur III-Zeit nachgewiesen, vielleicht geht sie schon auf die Akkade-Zeit zurück, s. zuletzt FISCHER, C., Twilight of the Sun-God, Iraq 64 [2002] 125–134). 35

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lichen Sonnengottes sicher auf die althethitische Zeit zurückgeht, legt nahe, daß die Verbindung zwischen der Rolle des Königs und der des Sonnengottes im Grunde eine eigenständige, alte hethitische Entwicklung ist, die sich nicht fremden Einflüssen verdankt37.

3. Die Verehrung aller Götter in Ritual und Gebet a) Gebete an die Versammlung aller Götter Einige wenige der überlieferten Gebete hethitischer Könige und Königinnen wenden sich nicht an eine einzelne Gottheit, sondern an alle Gottheiten des Landes38. Beispiele für diese Form des Gebets sind freilich nur aus den Regierungszeiten der großreichszeitlichen Herrscher Muršili II. und Muwatalli II. erhalten; bedingt hinzurechnen kann man das mittelhethitische Gebet Arnuwandas I. und seiner Gattin Ašmunikkal, das sich an die Götter des Landes Hatti wegen der Verödung ihrer Heiligtümer im von Kaškäern beherrschten Norden des Reiches wendet. Eine individuelle Nennung der Gottheiten fehlt im erhaltenen Text; der fragmentarische Anfang des Textes könnte jedoch eine von der Sonnengöttin von Arinna angeführte Reihung enthalten haben39. Nicht weniger als drei der „Pestgebete“ Muršilis II. rufen in der außerordentlichen Notsituation des Landes die Versammlung aller Götter an. Die Anordnung der angerufenen Gottheiten erfolgt von Text zu Text anders. Das Gebet CTH 378.I, das vor allem mit der Ermordung Tuthaliyas des Jüngeren und der damit verbundenen illegalen Thronfolge befaßt ist, adressiert in summarischen Gruppen die Schwurgötter – wohl des gebrochenen Treueides gegen über Tuthaliya, wie Ph. H. J. Houwink ten Cate zu Recht vermutete. Die Götterreihung unterscheidet sich daher zwar äußerlich von den typischen Schwurgötterlisten, dürfte in der Sache jedoch letztlich dasselbe meinen40. In ihrer typologischen Struktur den Schwurgötterlisten sehr ähnlich ist dagegen die detaillierte Aufzählung der Götter in _______________ 37 So schon HOUWINK TEN C ATE, Sun God; cf. auch HAAS, V., Das hethitische Königtum, in: GUNDLACH, R./SEIPEL, W. (Hg.), Das frühe ägyptische Königtum (ÄAT 36, 2), Wiesbaden 1999, 171–198, 178–180 mit Lit. 38 Zu dieser Textgruppe zusammenfassend S INGER, I., Muwatalli’s Prayer to the Assembly of Gods through the Storm-God of Lightning (CTH 381), Atlanta 1996, 149–154, idem, Hittite Prayers (Writings from the Ancient World 11), Leiden e. a. 2002, 9; s. zuvor insbesondere die Analyse bei HOUWINK TEN CATE, Sun God, 19ff., auf der die folgenden Ausführungen basieren. 39 Zum Text s. zuletzt SINGER, Prayers, 40ff. Nr. 5 mit Lit. 40 S. HOUWINK TEN CATE, Sun God, 22; zum Text zuletzt S INGER, Prayers, 61ff. Nr. 12.

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CTH 379, einem Pestgebet Muršilis, das vor allem den hethitischen Vertragsbruch gegenüber Ägypten thematisiert. Auch hier dürfte die Reihe der angerufenen Gottheiten auf die Schwurgötterliste des entsprechenden Vertrages Bezug nehmen41. Dagegen zeigt die Götterliste zu Beginn des „vierten“ Pestgebetes (CTH 378.IV), daß neben der primär typologischen Struktur des Reichspantheons in den Schwurgötterlisten auch eine zweite, vorrangig an geographischen Kriterien orientierte Form etabliert wurde, um die Gesamtheit der Götter des Landes aufzuzählen42. Während das Muršili-Gebet die Gottheiten der jeweiligen Städte aber meist nur summarisch nennt, werden diese in einem an die Versammlung der Götter gerichteten Gebet seines Sohnes Muwatalli innerhalb einer großen, geographisch gegliederten Götterliste einzeln aufgeführt. Dabei fungiert auch in diesem Gebetstext der Sonnengott des Himmels als derjenige, der die Versammlung der Götter einberuft43. Wir können festhalten, daß die Aufreihungen der Götter des Landes in den bislang bekannten Gebetstexten trotz ihrer unterschiedlichen Struktur und zahlreichen Varianten im Detail, die nicht alle schlüssig erklärt werden können, insgesamt in derselben Tradition wie die Reichspanthea der Verträge und Treueide stehen – und dies auch dort, wo sie nicht unmittelbar auf Schwurgötterlisten Bezug nehmen. b) Die Verehrung aller Götter des Landes im Rahmen des AN.DAHÙ.ŠUM-Festes Eine besondere Rolle spielen Opferrationen für alle Gottheiten des Landes, also für das gesamte Pantheon, im Rahmen eines königlichen Festrituals im „großen Haus“ (É-TIM GAL)44, das wohl zum 38-tägigen AN.DAH.ŠUM-Fest im Frühjahr gehört (KBo 4, 13 + KUB 10, 82 // IBoT 2, 61 // KBo 45, 27)45. Innerhalb der ersten Kolumne werden Schlachtopfer _______________ 41

S. HOUWINK TEN CATE, Sun God, 20; zum Text zuletzt S INGER, Prayers, 66ff. Nr.

14. 42

Zu den unterschiedlichen Darstellungsformen der Götterversammlung (typologisch und geographisch) grundlegend H OUWINK TEN C ATE, Sun God, 20f. (cf. auch SINGER, Muwatalli’s Prayer, 149ff., bes. 152–154), zum Text zuletzt SINGER, Prayers, 64ff. Nr. 13. 43 Zum Text SINGER, Muwatalli’s Prayer, und zuletzt idem, Prayers, 85ff. Nr. 20. 44 Die Deutung dieser Gebäudebezeichnung ist immer noch unsicher, s. zuletzt SCHWEMER, D., Von Tahurpa nach Hattuša: Überlegungen zu den ersten Tagen des AN.DAH.ŠUM-Festes, in: HUTTER, M./HUTTER-BRAUNSAR, S. (Hg.), Offizielle Religion, lokale Kulte und individuelle Religiosität (AOAT 318), Münster 2004, 395–412, 404 und POPKO, M., Zur Topographie von Hattuša: Tempel auf Büyükkale, in: B ECKMAN, G. et al. (Hg.), Hittite Studies in Honor of Harry A. Hoffner Jr., Winona Lake 2003, 315– 323, 315 (dort für eine Identifikation mit Tempel I). 45 Zum Text s. SCHWEMER, Tahurpa, 398–405 sowie HAAS, Geschichte, 775ff.

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für diverse Göttergruppen angeordnet, die jeweils einer Stadt zugeordnet sind. Der geographische Horizont dieser umfänglichen Liste, deren an Kultorten orientierte Organisationsform an das große Muwatalli-Gebet erinnert, umfaßt das hethitische Kernland einschließlich des Oberen und Unteren Landes; nur zwei der genannten Ortsnamen liegen außerhalb dieses Gebietes, das nordsyrische Haššuwa und Aleppo46. Zu Beginn des nach Kultorten organisierten Teils der Opferliste wird ein Schaf „den Göttern der Länder“ zugewiesen (Vs. I 19’). Obwohl dieser Eintrag formal den folgenden Einzelnennungen der diversen Städte gleichgestellt ist, dürfte die Formulierung eine Art Zusammenfassung des folgenden implizieren. Die Gestaltung des Endes der Liste bleibt unklar, da der Beginn von Vs. II verloren ist; auch die weitere Verfahrensweise mit den Opfertieren, die den jeweiligen Lokalpanthea zugedacht werden, bleibt daher unbekannt. Im weiteren Verlauf des Rituals folgen verschiedene Opferreihen, die stark von den besonderen Gegebenheiten des Kultlokals, also des É-TIM GAL, bestimmt zu sein scheinen, aber teilweise mit einer summarischen Wendung am Ende auf das gesamte Pantheon hin erweitert werden („die tausend Götter“, „die Götter des Landes“)47. Berührungen mit dem Reichspantheon der Schwurgötterlisten ergeben sich nur punktuell, Abhängigkeiten zwischen beiden Konzepten lassen sich nicht erkennen48. c) kaluti-Opferlisten für alle Götter Gewisse Ähnlichkeiten mit den Schwurgötterlisten besitzt eine Gruppe von Texten, die wahlweise als „Götterlisten“ oder „Götteraufzählungen“ klassifiziert wurden49. Einige wenige Handlungsanweisungen innerhalb dieser Texte, die über die bloße Aufzählung von Gottheiten hinausgehen, zeigen jedoch, daß es sich bei diesem Texttyp nicht um einfache Götterlisten, sondern um Memoranden für den Kult handeln muß, auch wenn den genannten Gottheiten nicht – wie sonst üblich – unmittelbar bestimmte Op_______________ 46

HAAS, Geschichte, 777 weist darauf hin, daß es sich dabei um bereits von Hattušili I. eroberte Städte handelt, deren Kult zum Teil nach Hatti importiert wurde. 47 Cf. KBo 4, 13+ Vs. II 23’, III 13’, Rs. VI 11. 48 Das Ritualfragment KUB 36, 97, das sich innerhalb eines mythologischen Passus auf eine frühjährliche Götterversammlung im Haus des Wettergottes bezieht, wird gewöhnlich mit dem purulliya-Fest verbunden (cf. HAAS, Geschichte, 697, 741, s. auch HOUWINK TEN CATE, Sun God, 17f.). Verbindungen zum frühjährlichen AN.DAH.ŠUMFest und zu der Beopferung aller Götter des Landes im É-TIM GAL lassen sich nicht nachweisen. 49 WEGNER, I., ChS I/3–2, Nr. 165–168a (gebucht unter der heterogenen Sammelnummer CTH 664); cf. zum Charakter der Textgruppe auch D IES., Die „genannten“ und „nicht-genannten“ Götter in den hethitisch-hurritischen Opferlisten, SMEA 36 (1995) 97–102, 99–101.

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ferrationen zugeordnet werden. Dazu paßt auch, daß die Texte die Aufreihungen der männlichen bzw. weiblichen Gottheiten jeweils als kaluti-, „(Opfer-)Reihe“, bezeichnen50. Paläographisch gehört der wichtigste Textvertreter KBo 34, 203+(+), der ausschließlich ältere Zeichenformen zeigt, wahrscheinlich noch in das 14. Jahrhundert.51 Anders als die Schwurgötterlisten führen sie die männlichen und die weiblichen Gottheiten jeweils in einer separaten Reihe auf, eine Anordnungsweise, die typisch für die hurro-hethitischen kaluti-Listen ist. Die Verwandtschaft zu den Opferlisten des zuletzt genannten Typs zeigt sich auch darin, daß Šawuška mit Ninatta und Kulitta auch unter den männlichen Gottheiten aufgeführt wird52. Dabei enthielt die Haupthandschrift zumindest drei im Detail unterschiedliche kaluti-Reihen aller männlichen Götter und sicher auch mehrere für die Göttinnen. Die Götter werden stets von verschiedenen lokalen Wettergottgestalten angeführt, die Göttinnen von diversen Erscheinungsformen der Sonnengöttin von Arinna. Am Ende der Reihen betont die Formel „die genannten Götter, die ungenannten Götter, alle Götter“ den potentiell das gesamte Pantheon umfassenden Anspruch der Aufreihungen; bei der genannten Formel handelt es sich, wie I. Wegner gezeigt hat53, um eine Lehnbildung nach dem Hurritischen, begegnet doch dieselbe Wendung in hurritischer Sprache regelmäßig am Ende der kaluti-Listen im Kult von Teššub und HƝbat sowie im Kult der Šawuška. Ähnlich wie im Kernbestand der Schwurgötterlisten beschränken sich die fremden Gottheiten in vorliegender Textgruppe auf die überregional bekannten und fest in den hethitischen Kult integrierten Gestalten des Wettergottes von Halab und der Ištar von Ninive; die kizzuwatnischen Gottheiten gehören auch hier selbstverständlich zum hethitischen Pantheon54. Die Nennung der HƝbat-Gestalten zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen der Sonnengöttin von Arinna und der Sonnengöttin der Unterwelt spiegelt bereits die Gleichsetzung der nordsyrisch-südanatolischen Gemah_______________ 50 Zum Begriff kaluti- s. WEGNER, I., ChS I/3–1, 1ff., P UHVEL, J., Hittite Etymological Dictionary, Berlin – New York 1984ff., Bd. 4, 33–35. Für Elemente ritueller Anweisungen in den Texten cf. ChS I/3–2 Nr. 165 Vs I 4’, II 8’, 11’ (frg.). 51 Bei KOŠAK, S., Konkordanz der hethitischen Keilschrifttafeln I–LXI (OnlineDatenbank Version 0.6): http://www.hethport.uni-wuerzburg.de/hetkonk/, wird der Text als „jh.“ gebucht, dagegen hatte SCHWEMER, Wettergottgestalten, 495 Anm. 4054 KBo 34, 203 als „mh.“ bezeichnet. Jüngere Abschriften sind sicher KUB 42, 108 (ChS I/3–2, Nr. 166) und KBo 8, 110 (ibid. Nr. 168a). Inwieweit die Nennung des Wettergottes der Harapše[ki], der Gemahlin Alluwamnas (?), in ChS I/3–2 Nr. 165 Vs. I 15’ als Datierungskriterium gelten kann, bleibt unsicher. 52 ChS I/3–2 Nr. 165 Rs. V 12, VI 1f., 166 Vs. ? x+3’. 53 Götter, passim. 54 Cf. etwa die Nennung des Kriegsgottes von Kizzuwatna in Nr. 165 Vs. II 9’’ und 166 Vs.? x+16’.

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lin des Wettergottes mit dem weiblichen Haupt des traditionellen hethitischen Pantheons, der Sonnengöttin von Arinna. Leider läßt sich der konkrete kultische Hintergrund dieser Textgruppe, die vor allem strukturell hurro-kizzuwatnisches Gepräge trägt55, aus den bisher bekannten Manuskripten nicht erschließen. Die substantiellen Ähnlichkeiten ihres Götterbestandes mit dem Götterinventar der Schwurgötterlisten zeigen jedenfalls, daß beide Pantheonkonzepte – das kultische der kaluti-Listen in der Textgruppe CTH 664 und das politischtheologische der Vertragstexte – zum Teil auf denselben Grundkanon rekurrieren, ohne daß hinsichtlich der konkreten Organisation des Materials und in der Erweiterung des Kernbestands gegenseitige Abhängigkeiten bestünden.

4. Das Felsheiligtum Yazılıkaya: Kult für das Staatspantheon der späten Großreichszeit? Seit den wegweisenden Studien insbesondere E. Laroches zu den Götterdarstellungen der Felsreliefs im Felsheiligtum von Yazılıkaya unweit der hethitischen Hauptstadt Hattuša wird allgemein anerkannt, daß uns in den eindrucksvollen Götterreliefs des Naturheiligtums das Staats- bzw. Reichspantheon der späten Großreichszeit bildlich entgegentritt56. Den Kern des Heiligtums bildet eine natürliche Felsengruppe. Zwei Kammern, die Hauptkammer A und die Nebenkammer B sowie zwei Felsspalte, C und D, wurden ausweislich der vorgelagerten architektonischen Überreste zumindest seit dem 15. Jahrhundert kultisch genutzt; wahrscheinlich wurde das Felsensemble aber auch in älteren Zeiten als heiliger Ort betrachtet. Die Ausstattung des Heiligtums mit den bekannten Reliefs und der eigent_______________ 55

Auch einzelne der genannten Gottheiten verdanken sich diesem Traditionsstrang; cf. neben den bereits genannten insbesondere auch die Götter des hÙamri- und des šinapšiHeiligtums. 56 S. insbesondere die im folgenden zitierten Werke von LAROCHE, GURNEY, HAAS und ALEXANDER. Cf. auch HAAS, V., Hethitische Religion, in: Die Hethiter – Begleitband zur Ausstellung der Kunsthalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2002, 102– 111, 108 sowie SEEHER, J., Ein Einblick in das Reichspantheon. Das Felsheiligtum von Yazılıkaya, in: Die Hethiter – Begleitband zur Ausstellung der Kunsthalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2002, 112–117, 112ff. Beachte aber die vorsichtigeren Stellungnahmen bei POPKO, Religions, 114f. („Anatolian version of the Hurrian pantheon“) und HAWKINS, J. D., Hattusa: Home to the Thousand Gods of Hatti, in: WESTENHOLZ, J.G. (Hg.), Capital Cities: Urban Planning and Spiritual Dimensions, Jerusalem 1998, 65–82, 67 („The Hittite pantheon … is illustrated on the rocky walls of Yazılıkaya chamber A … it is noteworthy that here we have represented only a fraction of the composite Hittite pantheon …“).

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liche Ausbau der Gebäude, die der Felsgruppe vorgelagert sind, datieren jedoch erst in die zweite Hälfte des 13. Jahrhundert, wahrscheinlich vor allem in die Regierungszeit Tuthaliyas IV., teilweise vielleicht schon in die Zeit seines Vaters Hattušilis III.; Kammer B wurde partiell wohl erst von seinem Sohn Šuppiluliuma II. ausgeführt57. Über Nutzung und Funktion der kleineren Kammer B herrscht einigermaßen Klarheit: Wahrscheinlich diente der Raum, der nicht nur mit einem Relief, sondern auch mit einer Monumentalstatue Tuthaliyas IV. ausgestattet war und dessen sonstige Bildausstattung einen klaren Bezug zur Unterwelt zeigt, als Stätte für den Totenkult eben dieses Königs. Inzwischen darf auch als wahrscheinlich gelten, daß in der Kammer zudem die verbrannten Reste des königlichen Leichnams aufbewahrt wurden; vielleicht dienten die in den Fels gehauenen Wandnischen der Aufnahme des Leichenbrands58. _______________ 57 Zu Yazılıkaya insgesamt sowie zur Datierung der Baulichkeiten und der Reliefs s. grundlegend B ITTEL K. et al., Das hethitische Felsheiligtum Yazılıkaya, Berlin 1975, danach: KOHLMEYER, K., Felsbilder der hethitischen Großreichszeit, Acta Praehistorica et Archaeologica 15 (1983) 7–154, 48–67, ALEXANDER, R. L., The Sculpture and Sculptors of Yazılıkaya, Newark et al. 1986, B ITTEL, K., Bemerkungen zum hethitischen Yazılıkaya, in: EMRE, K. et al., Anatolia and the Ancient Near East. Studies in Honor of Tahsin Özgüç, Ankara 1989, 33–38 (zur Problematik der kunstgeschichtlichen Datierungsansätze bei Alexander und zur Frage der Einbettung Yazılıkayas in antike Landschaft und Bebauung). 58 Zu Kammer B und ihrer Deutung s. zuletzt VAN DEN HOUT, Th., Tombs and Memorials: The (Divine) Stone-House and Hegur Reconsidered, in: Recent Developments in Hittite Archaeology and History. GS H.G. Güterbock, hg. von A. Yener/H.A. Hoffner Jr., Winona Lake 2002, 73-91, davor NEVE, P. J., Einige Bemerkungen zu der Kammer B in Yazılıkaya, in: EMRE, K. et al., Anatolia and the Ancient Near East. Studies in Honor of Tahsin Özgüç, Ankara 1989, 345–355, jeweils mit Lit. Während Neve eine Interpretation als Grabstätte ablehnt und in den Wandnischen Weihwasserbecken erkennen will, kann van den Hout durch eine Analyse der Texte, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf Niúantepe und Yazılıkaya B beziehen, wahrscheinlich machen, daß Kammer B als Stätte des Totenkultes für Tuthaliya diente und dann wohl auch Grabstelle dieses Königs war; die Ausgestaltung wäre bereits zu Lebzeiten Tuthaliyas begonnen und von seinem Sohn und Nachfolger Šuppiluliuma II. vollendet worden. Dagegen wurde das Felsheiligtum auf dem Niúantepe erst von Šuppiluliuma II. zum Gedächtnis an seinen Vater eingerichtet. VAN DEN HOUT, Tombs, 77–80, 88f. geht allerdings davon aus, daß sich die wichtigste Quelle für die Einrichtung eines hÙegur-Felsheiligtums, KBo 12, 38, ausschließlich auf Niúantepe beziehe. Dagegen weist HAWKINS, Hattusa, 73–75 darauf hin, daß nur die zweite auf KBo 12, 38 niedergelegte Inschrift als Keilschriftversion der HieroglyphenInschrift NIùANTAù (Niúantepe) gelten kann, während sich die erste Inschrift mit ihren Angaben über die Einrichtung eines hÙegur- und die Aufstellung einer Statue zwanglos auf Yazılıkaya B beziehen läßt. Dort wäre die Inschrift auf der Monumentalstatue Tuthaliyas IV. angebracht gewesen. Yazılıkaya B (und A?) wäre demnach als hÙegur„Fels(heiligtum)“ bezeichnet worden. Dies schlösse nicht aus, daß Kammer B – der Hypothese van den Houts folgend – als É.NA4 „Grabstätte“ desselben Königs gedient

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Schwieriger gestaltet sich eine genaue Funktionsbestimmung der größeren Kammer A, deren Götterreliefs gewöhnlich als Darstellung des spätgroßreichszeitlichen Staatspantheons gedeutet werden. An den beiden Längswänden der sich nach hinten verjüngenden Felskammer ist jeweils eine lange Reihe von Gottheiten in den Stein reliefiert. Auf der linken Seite befinden sich die Reliefs von 42 im Profil dargestellten männlichen Göttern, auf der rechten die Reliefs von 22 ebenfalls im Profil gehaltenen Göttinnen, wobei in die Reihe der Götter mit der doppelgeschlechtlichen Šawuška und ihren beiden Dienerinnen drei Göttinnen aufgenommen wurden, und die Reihe der Göttinnen mit Šarruma, dem Sohn der obersten Göttin HƝbat, einen Gott einschließt. Einige wenige Gottheiten sind in den beiden Reihen wohl verlorengegangen, ohne daß dadurch der Eindruck des Gesamtensembles verfälscht würde59. Das ungleiche Verhältnis zwischen der Zahl der Götter und Göttinnen geht vielleicht auf eine sekundäre Erweiterung der Götterreihe zurück60. Die Blickrichtung der beiden Reihen führt aufeinander zu, die beiden Gottheiten an der Spitze stehen sich an der Stirnseite der Kammer unmittelbar gegenüber. Alle Gottheiten sind in Schrittstellung dargestellt, so daß der Eindruck zweier, sich aufeinander zu bewegender Götterzüge entsteht; doch die Beinhaltung könnte auch nur durch die Darstellung im Profil bedingt sein, so daß eigentlich zwei Reihen nebeneinander stehender Gottheiten gemeint wären61. Die nur zum Teil erhaltenen Bänke vor den Reliefs und Spuren von Herdstätten zeugen von der kultischen Funktion der Darstellungen: es handelt sich um Kultbilder der jeweiligen Gottheiten, die mit Opfergaben bedacht werden konnten. Wie in der hethitischen und späthethitischen Reliefkunst üblich62 sind den meisten der dargestellten Gottheiten hieroglyphen-luwische Namenbeischriften vorangestellt. Auch wenn bis heute nicht alle Inschriften entziffert werden konnten63, ergibt sich doch ein klares Gesamtbild: An der ______________________________________________________________________________________________

hat, nimmt doch der eine Terminus primär auf die äußere Form, der andere aber auf die Funktion Bezug: „… the two terms may have overlapped: the (Divine) Stone House took on the form of a hÙegur-monument“ ( VAN DEN HOUT, Tombs, 87). 59 S. B ITTEL e. a., Felsheiligtum, 33ff., 144f. 60 S. ALEXANDER, Sculpture, passim, bes. 89ff. 61 S. HAAS, V./W ÄFLER, M., Yazılıkaya und der große Tempel, OA 13 (1974) 211– 226, 213f., KOHLMEYER, Felsbilder, 64f. Dagegen möchte ALEXANDER, Sculpture, 117f. zumindest bei einem Teil der Figuren in der Körperhaltung klare Hinweise auf eine Darstellung in der Vorwärtsbewegung erkennen. 62 Entgegen ALEXANDER, Sculpture, 136f. hat die Anbringung der Namen nichts mit einer unzureichenden Vertrautheit des Hofstaates mit den in Yazılıkaya abgebildeten hurritischnamigen Gottheiten zu tun. 63 Zu den Inschriften s. neben der revidierten editio princeps von Güterbock (in der 2. Aufl. der Yazılıkaya-Publikation [BITTEL e. a., Felsheiligtum, 167–187]) auch LAROCHE, E., Les Dieux de Yazılıkaya, RHA 27 (1969) 61–109, MASSON, E., Le Panthéon de Yazılıkaya. Nouvelles lectures ERC Synthèse 3, Paris 1981, und insbesondere G ÜTERBOCK,

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Spitze der beiden Reihen stehen sich in der zentralen Szene der hurritische Wettergott Teššub und seine nordsyrisch-hurritische Gemahlin HƝbat gegenüber. Ihnen folgt jeweils ihr Hofstaat, der nach hurro-kizzuwatnischer Tradition das gesamte Kernpantheon umfaßt. Dieser Typ des Pantheons, der sich grundlegend vom hethitischen Reichspantheon der Schwurgötterlisten unterscheidet, ist in ähnlicher Form in den hurro-hethitischen kalutiOpferlisten des Kults für Teššub und HƝbat überliefert64. Die Textgruppe, die seit mittelhethitischer Zeit im hethitischen Schrifttum gut bezeugt ist, stammt letztlich – genauso wie das Gesamtkonzept der Teššub-HƝbatkaluti – aus dem von nordsyrisch-hurritischen und anatolisch-luwischen Traditionen geprägten Kizzuwatna, dessen religiöse Vorstellungswelt seit der mittelhethitischen Zeit erheblichen Einfluß auf das hethitische Königshaus gewinnt65. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Reichspantheon der Schwurgötterlisten und dem in Hattuša adaptierten hurro-kizzuwatnischen Götterkreis des Teššub und der HƝbat, wie ihn die Reliefs von Yazılıkaya eindrucksvoll vor Augen führen, wurde meist mit der Annahme einer umfassenden Hurritisierung des Reichspantheons beantwortet. So formulierte O. Gurney in seinem Standardwerk zur hethitischen Religion: „In the thirteenth century, when Hattusili married the priestess of Kizzuwadna, Puduhepa, the Hurrian gods of Kummanni virtually took over the State religion“ (Aspects, 17). E. Laroche sprach von einer Ersetzung des älteren Reichspantheons durch das hurro-kizzuwatnische Pantheon: „A century later at Yazılıkaya, the imperial pantheon of Šuppiluliuma I was replaced by the Kizzuwatnan … pantheon of the royal couple Hattušili and Puduhepa“ (Pantheons, 222). Während Laroche die massive Hurritisierung des Reichspantheons vor allem Hattušili III. und seiner kizzuwatnäischen Ge______________________________________________________________________________________________

H. G., Les Hiéroglyphes de Yazılıkaya. A propos d’un travail récent, ERC Synthèse 11, Paris 1982. 64 Zur kaluti- des Teššub und der HƝbat s. nun W EGNER, I., Hurritische Opferlisten aus hethitischen Festbeschreibungen I, II (ChS I/3–1, –2), Roma 1995, 2002, 21ff., 53ff. und passim; zuvor grundlegend LAROCHE, E., Teššub, HƝbat et leur cour, JCS 2 (1948) 113–136, passim, dort 133f. auch schon zur Ähnlichkeit mit den Götterreihen von Yazılıkaya, dazu dann ausführlich idem, La Panthéon de Yazılıkaya, JCS 6 (1952) 115–123, passim (cf. auch OTTEN, H., Die Götter Nupatik, Pirinkir, Hešue und Hatni-Pišaišaphi in den hethitischen Felsreliefs von Yazılıkaya, Anatolia 4 [1959] 27–37, GÜTERBOCK, H. G., The God Šuwaliyat Reconsidered, RHA 19 [1961] 1–18, KOHLMEYER, Felsbilder, 55ff.). 65 Zu diesem Problemkomplex s. zuletzt KLINGER, J., Die hurritische Tradition in Hattuša und das Corpus hurritischer Texte, in: Kulturgeschichten. FS V. Haas, hg. von Th. Richer et al., Saarbrücken 2001, 197–208, mit einer kritischen Betrachtung der traditionell vorausgesetzten Überlieferungsphasen (mh.: Tuthaliya I. und seine unmittelbaren Nachfolger, jh.: Hattušili III. und sein Nachfolger), die u. a. auch mit der nicht mehr haltbaren Annahme einer „hurritischen Dynastie“ auf dem hethitischen Thron verknüpft ist.

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mahlin PuduhƝba zuschreiben will, datiert er die Manifestation des Synkretismus in den Reliefs von Yazılıkaya aufgrund der Darstellungen Tuthaliyas IV. in Kammer A und B wohl zu Recht in die Regierungszeit eben dieses Königs66. Nun zeugen die sogenannten „Kultinventare“ und zahlreiche Festritualhandschriften aus der Zeit Tuthaliyas IV. vom religiösen Reformeifer dieses Herrschers, und man hat zwischen der sogenannten „Kultreform“ und der Neugestaltung von Yazılıkaya Verbindungen ziehen wollen67. Tuthaliya IV. unternahm nach Ausweis der genannten Quellen tatsächlich erhebliche Anstrengungen, die Kulte des hethitischen Kernlandes, insbesondere in Hinsicht auf die Frühlings- und Herbstfeste, zu reorganisieren. Allerdings lassen sich in diesen Textgruppen keine durchgängige Tendenz zu einer Hurritisierung der lokalen Festgebräuche erkennen; insgesamt trägt die Reorganisation der lokalen Kulte unter Tuthaliya bei allen Modernisierungs- und Vereinheitlichungsmaßnahmen eher restaurative Züge68. Zudem stellt die Annahme einer umfassenden Hurritisierung der „Staatsreligion“ nur ungenügend in Rechnung, daß die Schwurgötterlisten das hethitische Reichspantheon auch in den Verträgen und Instruktionen der jüngeren Großreichszeit in der überkommenen Form bieten. Man kann diesen Umstand m. E. nicht einfach einem geistlosen Konservatismus der hethitischen Diplomaten zuschreiben, zeigen doch Änderungen im Detail, daß die Schwurgötterlisten durchaus den religiösen Vorlieben einzelner Herrscher angepaßt werden konnten. Auch die Reihe der Götter, die dem König in der Schlacht beistehen, spiegelt noch in der hieroglyphen-luwischen Südburg-Inschrift Šuppiluliumas II. das traditionelle hethitische Reichspantheon (s. o. 2.). Umgekehrt läßt sich das Arrangement der Gottheiten in Yazılıkaya bisher ausschließlich in den kalutiOpferlisten für Teššub und HƝbat nachweisen, die in verschiedene Festrituale für den Kult dieses Götterpaares eingebettet sind und auch innerhalb von Beschwörungsritualen kizzuwatnischer Herkunft begegnen69. _______________ 66 Cf. außer den eben zitierten Ausführungen auch LAROCHE, E., La Réforme religieuse du roi Tudhaliya IV et sa signification politique, in: D UNAND, F./LÉVÉQUE, P. (Hg.), Les Syncrétismes dans les religions de l’antiquité (EPRO 46), Leiden 1975, 87–95, 88f., und idem, Panthéon, 121ff. 67 Cf. etwa ALEXANDER, Sculpture, 18, oder KOHLMEYER, Felsbilder, 51, mit Verweis auf LAROCHE, Panthéon, 122; letzterer sah in der Neugestaltung von Yazılıkaya einen im Rahmen der Kultreform formulierten Entwurf des Königshauses, der den Heiligtümern außerhalb der Hauptstadt als Maßstab dienen sollte. 68 S. nun zusammenfassend HAZENBOS, J., The Organization of the Anatolian Local Cults during the Thirteenth Century B.C. An Appraisal of the Hittite Cult Inventories, CM 21, Leiden – Boston 2003, 11ff., 167–220; cf. auch Klinger, Untersuchungen, 19-24. 69 S. die bei WEGNER, ChS I/3–2, zusammengestellten Texte, für HƝbat cf. auch TRÉMOUILLE, HƝbat, 79ff.; dort 90f. zu den Opferlisten im Kult der Šawuška von Šamuha, die eine Mischung von kizzuwatnischer kaluti-Tradition und dem herkömmlich

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Letztlich hängt die Deutung der Götterdarstellungen in Kammer A natürlich von der Gesamtinterpretation dieses Teils des Heiligtums ab. Angesichts der notorischen Schwierigkeiten, die spröden topographischen Angaben der hethitischen Ritualtexte den Ausgrabungsbefunden in Hattuša exakt zuzuordnen, kann nicht erstaunen, daß derzeit mehrere konkurrierende Deutungen diskutiert werden, von denen m. E. allerdings nur eine in die richtige Richtung weist. Die Charakterisierung von Kammer A als „Reichskapelle“ („imperial chapel“) bei R. L. Alexander ist allein aus der Annahme gewonnen, bei den Götterdarstellungen handele es sich um das großreichszeitliche, vom jeweiligen Königspaar geprägte Reichspantheon, bewegt sich also in Hinsicht auf unsere Fragestellung im Kreis70. Der unmittelbare Vergleich von Yazılıkaya mit den Neujahrsfesthäusern des babylonisch-assyrischen Tempelkultes hat keinen überzeugenden Anhalt in den Texten. Zwar erwähnt ein mythologisch-rituelles Fragment, dessen weiterer Kontext immer noch unbekannt ist, eine Versammlung der Götter im Haus des Wettergottes im Rahmen eines frühjährlichen Neujahrsfestes71; mit der Situation des außerstädtischen Heiligtums von Yazılıkaya lassen sich diese Angaben aber nicht ohne weiteres verbinden, erwartete man in diesem Zusammenhang doch eher einen gemeinsamen Auszug der Götter aus dem Haus des Wettergottes an eine Stätte außerhalb der Stadt. Schließlich hat V. Haas vorgeschlagen, in Yazılıkaya die Stätte des königlichen Inthronisationsritual zu sehen72. Diese Hypothese basiert allerdings wesentlich auf der Annahme, die in der X. Tafel des hurrohethitischen itkalzi-Rituals vorgeschriebenen Handlungen fänden in Kammer A von Yazılıkaya statt. Das itkalzi-Ritual seinerseits aber möchte Haas mit der Thronbesteigung Tuthaliyas II. verbinden. Weder die erste noch die zweite Annahme können vollständig überzeugen. Für unsere Fragestellung muß hervorgehoben werden, daß die Götterreihe in itkalzi X zwar tatsächlich große Ähnlichkeit mit dem Bildprogramm von Yazılıkaya

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hethitischen Pantheon-Konzept zeigen, damit aber der Götterfolge in Yazılıkaya auch nur partiell entsprechen (Texte bei WEGNER, ChS I/3–1). Zur Götterreihe im Reinigungsritual itkalzi X s. im folgenden. 70 S. ALEXANDER, Sculpture, 133 u. ö. 71 In diesem Sinne zuletzt wieder von NEVE, Bemerkungen, 345 mit Lit., angeführt. 72 S. HAAS, Geschichte, 632–639, besonders 638f., cf. davor H AAS – W ÄFLER, Yazılıkaya, passim, sowie HAAS, V./W ÄFLER, M., Zur Topographie von Hattuša und Umgebung I., OA 16 (1977) 227–238, 236ff. Dem folgt – trotz der kritischen Stellungnahme bei GÜTERBOCK, H. G., Yazılıkaya: Apropos a New Interpretation, JNES 34 (1975) 273– 277 – KOHLMEYER, Felsbilder, 65f.

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zeigt, daß vollständige Übereinstimmung aber eben keineswegs vorliegt 73. Doch selbst wenn man beide Teilhypothesen an sich akzeptieren wollte, ergäben sich m. E. unüberwindbare historische Probleme. Das itkalziRitual liegt großteils in mittelhethitischen Niederschriften vor, was bestens zur historischen Stellung des Ritualherrn Tašmišarri, also wohl des späteren Königs Tuthaliyas II. 74, paßt. Zu Beginn der Regierungszeit Tuthaliyas II., also um die frühe Mitte des 14. Jahrhundert, aber besaß das Heiligtum von Yazılıkaya aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht die Reliefausstattung, die wir heute sehen; diese wurde wohl erst gut hundert Jahre später im Auftrag Tuthaliyas IV., der selbst im Heiligtum mehrfach dargestellt ist, angebracht (s. o.). Wenn sich itkalzi X unmittelbar auf Yazılıkaya bezöge, könnte nur ein älterer Bauzustand gemeint sein. Wenn man umgekehrt im älteren Ritual das Vorbild für die Konzeption von Kammer A unter Tuthaliya IV. sehen wollte, wären die Diskrepanzen zwischen den Götterreihen im Text und denen der Reliefs noch weniger plausibel erklärbar. Daß Yazılıkaya (unter anderem auch) als Stätte für Beschwörungsrituale dienen konnte, belegt zweifelsfrei der berühmte Fund eines Schweineembryos, der in Felsspalt D als Substitut beigesetzt wurde75. Dieser Fund läßt sich aber zwanglos mit dem Gesamtcharakter zumindest von Kammer B als Stätte des Totenkultes und damit auch Nahtstelle zur Unterwelt erklären. Am wahrscheinlichsten ist nach meinem Dafürhalten die erstmals H. G. Güterbock vorgeschlagene, von O. Gurney immerhin erwogene und dann insbesondere von I. Singer vertretene Annahme, Yazılıkaya Kammer A sei mit dem hÙuwaši-Heiligtum des Wettergottes zu identifizieren, das nach Ausweis des KI.LAM-Festrituals in der Umgebung Hattušas gelegen haben muß und im Rahmen einer festlichen Prozession vom König besucht wurde76. hÙuwaši-Heiligtümer dienten der Verehrung einer Steinstele oder eines Steinblocks, die als Repräsentationen der Gottheit dienten und im einzelnen offenbar recht unterschiedlich gestaltet, teilweise jedenfalls reliefiert sein konnten; die Stele oder den Felsblock selbst nannte man eben_______________ 73 Darauf weist bereits GÜTERBOCK, Yazılıkaya. Apropos, 274f. hin; die Erwiderung bei HAAS – W ÄFLER, Topographie, 236f. kann diese Widersprüche m. E. nicht ausräumen. 74 Zum Problem der Identifikation des Tašmišarri mit einem der hethitischen Großkönige s. zuletzt BEAL, R. H., The Hurrian Dynasty and the Double Names of Hittite Kings, in: DE MARTINO, ST. (Hg.), Anatolia antica. GS F. Imparati (Eothen 11), Firenze 2002, I, 55–70, 56f. mit Lit. 75 S. B ITTEL e. a., Felsheiligtum, 65ff., KOHLMEYER, Felsbilder, 66. 76 S. GÜTERBOCK, H. G., Yazılıkaya, MDOG 86 (1953) 65–76, 76 Anm. 2, G URNEY, Aspects, 40f., SINGER, I., The huwaši of the Storm-God in Hattuša, in: IX. Türk Tarih Kongresi, Ankara 1986, I, 245–252 sowie idem, The Hittite KI.LAM Festival, Part One (StBoT 27), Wiesbaden 1983, 101; letzterem folgt HAWKINS, Hattusa, 69f.

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so hÙuwaši- wie das den Kultstein umgebende Heiligtum. Inwieweit auch ein natürlicher Felsbrocken, dem man numinose Eigenschaften zumaß, als hÙuwaši- bezeichnet wurde, bleibt unsicher; das normale hethitische Wort für „Felsvorsprung“, „Fels(gruppe)“ war hÙegur-, und so wird Yazılıkaya B (mit A?) wohl auch bezeichnet. Da hÙegur- jedoch zunächst ein allgemeiner Oberbegriff für eine Felsformation ist, spricht nichts dagegen, daß Kammer A spezieller, in Hinsicht auf ihrer Funktion, als hÙuwaši- bezeichnet wurde77. In aller Regel befanden sich hÙuwaši-Heiligtümer dieser Art außerhalb der Städte. Lage und Eigenheiten von Yazılıkaya würden bestens zu einem hÙuwaši-Heiligtum passen, zumal zum prominenten hÙuwašiHeiligtum des Wettergottes, das nach Ausweis des KI.LAM-Rituals unweit von Hattuša gelegen haben muß78. Dabei muß offen bleiben, ob der hochaufragende Fels, auf dem sich das Relief der Hauptszene in Kammer A befindet, selbst gleichsam als natürlicher hÙuwaši-Fels verstanden wurde oder ob innerhalb des Heiligtums ursprünglich eine Stele aufgestellt war, von der sich allerdings keinerlei Spuren erhalten hätten. Zu vergleichen ist jedenfalls die Situation in Šarišša (Kuúaklı), wo das aus dem Textbefund bekannte hÙuwaši-Heiligtum des Wettergottes im Gelände außerhalb der Stadt mit einiger Wahrscheinlichkeit identifiziert werden konnte. Dort sind womöglich zwei unbearbeitete Felsbrocken im Hof des Heiligtums als hÙuwaši-Steine anzusprechen79. Die Ausgestaltung des Heiligtums mit Reliefs des Götterkreises des Wettergottes Teššub und seiner Gemahlin HƝbat könnten in einem hÙuwašiBezirk, der traditionell der Verehrung des Wettergottes diente, kaum überraschen. Das Faktum der Hurritisierung bestimmter Segmente des hethitischen Kultes würde Yazılıkaya im Rahmen dieser Hypothese weiterhin eindrücklich illustrieren, als Zeugnis für ein jüngeres hethitisches Reichsoder Staatspantheon der späten Großreichszeit könnten die Reliefs dann _______________ 77

So wie Kammer B ihrerseits wohl ein als É.NA4 genutztes hÙegur- darstellt, s. o. Anm. 58; zu hÙegur- cf. noch P UHVEL, J., Hittite Etymological Dictionary, Berlin – New York 1984ff., Bd. 3, 287ff mit Lit. 78 Zu hÙu waši-Steinen bzw. -Heiligtümern im allgemeinen s. SINGER, huwaši, passim, HUTTER, M., Kultstelen und Baityloi. Die Ausstrahlung eines syrischen religiösen Phänomens nach Kleinasien und Israel, in: J ANOWSKI, B. et al. (Hg.), Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien, Nordsyrien und dem Alten Testament, Internationales Symposion Hamburg 17.–21. März 1990 (OBO 129), Freiburg – Göttingen 1993, 87–108, 91ff., HAZENBOS, Organization, 174f. sowie HAAS, Geschichte, 507–509, der ibid., 508 Anm. 144 die Interpretation von Yazılıkaya Kammer A als hÙu waši-Heiligtum zurückweist („entbehrt der Grundlage“, ähnlich auch PUHVEL, J., Hittite Etymological Dictionary, Berlin – New York 1984ff., Bd. 3, 440, zustimmend dagegen H AWKINS, Hattusa, 70). 79 S. dazu MÜLLER-KARPE, A. et al., Untersuchungen in Kuúaklı 1998, MDOG 131 (1999) 57–113, 79ff. (cf. auch W ILHELM apud SCHWEMER, Tahurpa, 399 Anm. 18).

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jedoch nicht mehr gedeutet werden. Vielleicht hat der tiefe Eindruck, den das Felsensemble mit seinen Reliefs auch beim heutigen Besucher noch unwillkürlich hinterläßt, zu einer gewissen Überbewertung des Figurenprogramms in Hinsicht auf das hethitische Reichspantheon beigetragen; könnten wir alle Tempel der Stadt mit ihren reich geschmückten Götterbildern so besuchen, wie dies die in Stein gehauenen Felsbilder von Yazılıkaya jedenfalls ansatzweise erlauben, würde das Naturheiligtum vor den Toren der Stadt vielleicht seine einzigartige und mit Blick auf die Rekonstruktion der hethitischen Religionsgeschichte überaus dominante Stellung verlieren. Systematischen Ausdruck fand das Reichspantheon nicht in Yazılıkaya, sondern in den Schwurgötterlisten der Staatsverträge, die alle Götter des Landes als Zeugen anrufen (s. 2.). Mit diesem Konzept aller Götter des Landes korrespondiert zwar nicht unmittelbar ein königlicher Kult aller Landesgötter, doch zeigt ein Blick auf die religiös-rituellen Texte, die sich an alle Götter des Landes wenden, daß die Systematik der Schwurgötterlisten keineswegs eine isolierte Größe sui generis darstellt. Vielmehr rekurriert sie auf einen Grundkanon von Landesgöttern, auf den auch die meisten anderen der hier diskutierten Quellen zurückgreifen (s. 3.). Dieser Grundkanon begegnet seinerseits im Kern als die Gruppe von Göttern, die bereits im Mittleren Reich als Schlachtenhelfer des Königs gelten.

Aspekte der syrischen Religion im 2. Jahrtausend v.Chr. ASTRID NUNN

Einleitung Spätestens seit dem Beginn des dritten Jahrtausends vor Chr. ist die altorientalische Götterwelt ein Abklatsch der menschlichen Welt. So sehen wir das heute, mit der historischen Distanz und auch als Menschen, die mehr oder weniger, aber auf jeden Fall Abstand zum Phänomen Glauben haben. Für die Altorientalen war das freilich umgekehrt: nicht die Menschen hatten die Götter und ihre Welt geschaffen, sondern die menschliche Welt war von der Göttern kreiert worden. Die Götter hatten den Menschen ihre Vorstellungen, ihre hierarchichen Strukturen gegeben. Das Band zwischen Göttern und Menschen bestand in zahlreichen kultischen Ausübungen. Der König war in diesem System der polytheistischen (primären) Religion der Repräsantant Gottes auf Erden. Dieses System galt im Großen und Ganzen für sämtliche antiken Kulturen bis zum Auftreten der monotheistischen Religionen. Also auch für das Kernland Mesopotamien und die angrenzenden Länder. Dennoch gibt es Nuancen. Um die spezifischen Nuancen Syriens im Vergleich zum Kernland Mesopotamien im zweiten Jahrtausend v.Chr. geht es in diesem Aufsatz. Dabei möchte ich diese Nuancen nicht nur in Bezug auf die Ähnlichkeit oder die Unterschiede zwischen Himmel und Erde, sondern allgemein charakteristische Züge der syrischen Religion herausarbeiten. Mit Syrien meine ich das heutige Syrien und Libanon. Die syrische Religion unterscheidet sich von der mesopotamischen durch eine ausgeprägte Wichtigkeit der Ahnen und, damit verzahnt, der Familie sowie durch ein etwas anderes Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Aus all diesen Aspekten lassen sich ikonographische Besonderheiten ableiten.

I. Der Ahnen- und Totenkult Ahnen werden in sämtlichen Kulturen erwähnt, in sie einbezogen und verehrt. In den antiken Kulturen ist es eine verbreitete Vorstellung, daß anerkannte Mitglieder einer Gruppe auch noch nach ihrem Tod einen positiven

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Einfluß ausüben. Ahnen sichern zusätzlich zu den Göttern den Fortbestand einer Dynastie. Von ihnen verspricht sich der König die Kraft und den Erfolg, den er braucht, um das Land wie ein guter Hirte zu regieren. Selbst wenn wir über die Beziehung zwischen Ahnen und Königtum besser informiert sind, steht fest, daß derselbe Glaube ebenfalls bei „normalen“ Familien herrschte. Ahnen schützten alle vor Krankheiten und heilten alle1. Der oder die Tote mußte also weiterhin anwesend bleiben und gepflegt werden. Die Mittel dazu sind Ahnenpflege und Totenkult. Diese sind wiederum durch Gräber und weitere Artefakte wie Kultstatuen archäologisch fassbar. a. Die erste Hälfte des 2. Jahrtausends: das syrische Binnenland mit Mari, Ebla und Qatna Für die erste Hälfte des zweiten Jahrtausends sind es die Texte und die archäologischen Befunde aus Mari, Ebla und Qatna, die uns am besten informieren. Dennoch: während die sozialen Strukturen einigermaßen gut bekannt sind, läßt die Einsicht in religiöse Phänomene noch zu wünschen übrig. Zudem werfen die um ein halbes Jahrtausend jüngeren Texte Ugarits, dank derer wir heute unvergleichlich viel wissen, ihren Schatten auf jede Interpretation, die das beginnende zweite Jahrtausend betrifft. Etwa 70 Verwaltungstexte aus Mari behandeln Vorratslieferungen von Totenopfern für den verstorbenen Herrscher. Diese Totenopfer heißen kispum. Das Wort kispum wird ferner mit Totengaben, Totenpflege oder Totenbetreuung übersetzt. Šamši-Adad ließ in Mari ein großes kispum für die Statuen der altakkadischen Könige abhalten. Kispum gab es in Mesopotamien von der altbabylonischen bis zur neuassyrischen Zeit2. Im Westen werden sie aber häufiger erwähnt. An wen gehen diese kispum? Schon im frühdynastischen Ebla werden verstorbene Könige in einem Text als DINGIR.PN und damit als vergöttlichte Ahnen bezeichnet3. Die Tradition wird _______________ 1 VAN DER T OORN, K., Family Religion in Babylonia, Syria and Israel, Leiden 1996, 42–65. HUTTER, M., Religionen in der Umwelt des Alten Testaments I. Babylonier, Syrer, Perser, Stuttgart 1996, 146. 2 T SUKIMOTO, A., Untersuchungen zur Totenpflege (kispum) im alten Mesopotamien (AOAT 216), Neukirchen-Vluyn 1985, 57–78. In Mari ist kispum kein gemeinsames Mahl zwischen Lebenden und Verstorbenen. Wo fand der Kult statt? Ein „Haus der Totenpflege“ ist in Texten, jedoch nicht im Palast belegt. GALTER, H. D., Religion und Kult in Mari am Euphrat, in: HAIDER, P.W./HUTTER, M./KREUZER, S. (Hg.), Religionsgeschichte Syriens, Stuttgart 1996, 69–79. 3 FRONZAROLI, P., Il culto dei re defunti in ARET 3.178, in: DERS. (Hg.), Miscellanea Eblaitica 1 (QuSem 15) Florenz 1988, 1–33 (v. a. 31). BONATZ, D., Das syro-hethitische Grabdenkmal. Untersuchungen zur Entstehung einer neuen Bildgattung in der Eisenzeit

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in Mari weitergeführt, wo die Rede von einem kispum für die mƗliku ist. Diese sind demnach die verstorbenen Könige von Mari. Neben den unzweifelhaften archäologischen Befunden aus Qatna (s.u.), geben dort zwei Notizen über abgekochte Milch einen schriftlichen Hinweis auf den Totenkult4. b. Die zweite Hälfte des 2. Jahrtausends: Ugarit, Ibn Hani und AlalahÙ Die schon im früh- und mittelbronzezeitlichen Syrien vorhandene Ahnenverehrung ist ein Grundstein der ugaritischen Religion. Sie geht in Ugarit so weit, daß die rechtmäßige Ausübung des Ahnenkults die Voraussetzung für den Fortbestand des Lebens ist. Verstorbene Könige nehmen als „Heilende“ eine entscheidende Stellung für das Wohlergehen der Stadt ein. Ihre Heilungskräfte sind wichtig für den Segen auf das Königshaus, oder auch wenn ein Prinz erkrankt. Der verstorbene König schreibt sich mit dem Determinativ ilu, wodurch sein göttlicher Status sofort eindeutig ist. Den mƗliku in Mari entsprechen in Ugarit die malaknjma, die demnach die verstorbenen und vergöttlichten Könige dieser Stadt sind. Weitere, aus den Mythen und den Ritualtexten bekannte, ebenfalls divinisierte Wesen sind die rapi’njma, wobei Rp’ heilen bedeutet. Sie sind die verstorbenen Ahnen des Königshauses von Ugarit. Der Vergleich der unterschiedlichen Götterlisten in Ugarit zeigt, daß es eine kanonische Reihenfolge in der Götternennung gab. In den Götterlisten kommt an erster oder zweiter Stelle die Bezeichnung ilib vor. Il = Gott und ab = Vater, existiert auch auf akkadisch als Dingira-bi, „Gott des Vaters“. Inzwischen ist es eine verbreitete Meinung, daß Ilib nicht den Familienoder Klangott, sondern den vergöttlichten Ahnen bezeichnet5. Da es aber unmöglich ist, daß Götterlisten mit menschlichen Ahnen beginnen und die königlichen Ahnen auch sonst als malaknjma bezeichnet werden, bezieht sich ilib auf alte, nicht mehr namentlich genannte Götter, die Vorfahren der in den Listen genannten Götter sind. Bermerkenswert in unserem Zusammenhang ist, daß auch die Götter Vorfahren besitzen. Diese wirken anders als die Urpaare des mesopotamischen Pantheons. Die Familienhierarchie setzt bis ins Detail in die Götterwelt fort.

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im nordsyrisch-südostanatolischen Raum, Mainz 2000, 199, Anm. 224 (DINGIR.EN, die Väter). 4 R ICHTER, T., Das „Archiv des Idanda“: Bericht über Inschriftenfunde der Grabungskampagne 2002 in Mišrife/Qat,na, MDOG 135 (2003) 183. 5 VAN DER T OORN, K., Ilib and the „God of the Father“, UF 25 (1993) 379–387. DERS., Family Religion, 155–161.

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Übrigens kommen die mlkm/malaknjma (akkadisch dma-likmeš) auch in den Götterlisten von Ugarit vor, aber an vorletzter Stelle. Damit bekunden sie ihren Anspruch auf Opfer6. c. Bestattungsort und Kultort der divinisierten Könige Götter besaßen Paläste, Menschen auch. Götter wurden normalerweise nicht bestattet. Wo wurden aber die divinisierten Könige bestattet und wo verehrt? Einen erstmals eindeutigen Beleg für das beginnende zweite Jahrtausend hat die Freilegung des Hypogäums in Qatna gebracht. Es liegt im nördlichen Teil des Palastes unter Bodenniveau, zwar weit von den zwei Thronsälen entfernt, aber über einen Korridor unmittelbar erreichbar (Anm. 13). Schon vor vielen Jahren hat P. Matthiae versucht, einen Ort des königlichen Ahnenkults in Ebla zu finden. Als die Gräber unter dem Boden des Palasts Q (Palazzo Occidentale) mit ihren sensationellen Funden ans Licht kamen, wurden sie umgehend als Ahnengräber betitelt7. Alles passte: der Zugang unter dem Palastfußboden und die Nähe zum Thronraum, die Nähe zum Tempel B18, der möglicherweise Rešef geweiht war, und die Nähe zum Tempel B29, der dem Ahnenkult diente. Im königlichen Palast (Palais Royal) von Ugarit liegt der Zugang zur königlichen Grabkammer im Raum 28. Im KTU 1.106,1–18 wird beschrieben, wie chtonischen Gottheiten und Statuen verstorbener Könige im gn geopfert wird. Gn heißt eigentlich Garten. Vielleicht war der neben Raum 28 liegende Hof II ein Ort für den Ahnenkult10. _______________ 6

N IEHR, H., Religionen in Israels Umwelt. Einführung in die nordwestsemitischen Religionen Syrien-Palästinas (NEB Ergänzungsband 5), Würzburg 1998, 69. 7 Gräber „della Principessa“, „del Signore dei Capridi“ und „delle Cisterne“ unter dem Fußboden des Hofs L 2950 und dem Raum 1980. MATTHIAE, P., Princely Cemetery and Ancestor Cult at Ebla During Middle Bronze II: A Proposal of Interpretation, UF 11 (1979) 563–569. DERS., Die Fürstengräber des Palastes Q in Ebla, AW 13/1 (1982) 2–14, DERS., New Discoveries at Ebla: The Excavation of the Western Palace and the Royal Necropolis of the Amorite Period, BA 47/1 (1984) 18–32, DERS., Ebla. Un impero ritrovato, Turin 21989, 185–186, DERS., I tesori di Ebla, Rom 21985, Tf. 65–88. In den frühdynastischen Texten erscheint ein „ki-sur“. Ist damit ein Hypogäum gemeint? 8 MATTHIAE, I tesori, Abb. 112, Tf. 55. 9 MATTHIAE, I tesori, Abb. 117, Tf. 56–57. 10 YON, M., La cité d’Ougarit sur le tell de Ras Shamra, Paris 1997, 50–51. Der Thronraum 71 liegt weit entfernt. Neben Raum 28 diente Raum 27 ebenfalls dem Totenkult. Dort wurden kürzlich Libationslöcher entdeckt (mündliche Mitteilung von Prof. Niehr). Für Ibn Hani s. LAGARCE, J. und E., Ras Ibn Hani au Bronze Récent, RSO XI (1995) 146 und 154: In V und LI befand sich die unterirdische Grabkammer, anschließend lag der Hof II, mit dem der Thronraum XII durch zwei Säulen verbunden war. N IEHR, Religionen, 70–71.

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d. Ikonographische Folgen Als bildliche Illustration für die Statue eines verstorbenen Herrschers wird insbesondere eine altsyrische Statue aus Ebla angesehen (Abb. 1). Dieser Mann11, der eine Schale hält, sei kein „Kultadorant“, wie in Mesopotamien üblich, sondern ein „Kultadressat“12. In dieser Position befände sich der eblaitische König aber nur, wenn er verstorben sei. Daß es Statuen gab, die einen verstorbenen König darstellten, die als „Grabwächter“ dienten, aber auch beopfert und im Ahnen- und Totenkult miteinbezogen wurden, bestätigen die neuen Funde in Qatna. Beiderseits des Eingangs zum Hypogäum standen zwei Statuen (Abb. 2). Sie zeigen zwei sitzende Männer, die eine Schale in der rechten Hand halten. Sie sind altsyrisch (18.–17. Jahrhundert), also um mehrere Jahrhunderte älter als die jüngste Benutzungsphase des Palasts und des Hypogäums13. Der Palast wurde wahrscheinlich 1340 durch den hethitischen König Šupiluliuma I. zerstört. Das Grab ist offensichtlich das Grab der königlichen Dynastie, aber „auffällig und unzweifelhaft ist es, dass die Gruft verschiedene Funktionen erfüllt, die über einen reinen Bestattungsplatz hinausgehen. Neben der Bestattungsfunktion lassen sich Aktivitäten der Bestattungsvorbereitung, der Totenpflege und des Ahnenkultes nachweisen“14. Im Vergleich zu Mesopotamien ist die Charakterisierung der dargestellten Personen in Syrien sehr vage. So können wir oft nich einmal Götter von Menschen unterscheiden, geschweige denn Götter identifizieren15. Es gibt in Syrien kaum sicher identifizierte Götterbilder. Die Statuette auf Abb. 3 ist spätbronzezeitlich und wurde in Ugarit nicht in situ geborgen16. Sie stellt einen sitzenden Mann dar. Er trägt den Wulstsaummantel und die _______________ 11 MATTHIAE, P., High Old Syrian Royal Statuary from Ebla. FS E. Strommenger (MVS 12), München 1992, 111–128, Tf. 50,1–3. Diese Statue bilde keinen Herrscher ab, weil ihm die Tiara fehle, sondern einen hohen Beamten. Ihr Fundort lag zwischen den Anten des Tempels P2. Diese und weitere Statuen wurden möglicherweise in der Achämenidenzeit kultisch bestattet. Ihr Originalplatz war vielleicht der, wo sie gefunden wurden, oder in der Cella. 12 B ONATZ, Das syro-hethitische Grabdenkmal, 131. 13 AL-M AQDISSI, M./DOHMANN-P FÄLZNER, H./P FÄLZNER, P./SULEIMAN, A., Das königliche Hypogäum von Qatna, MDOG 135 (2003) 189–211, NOVÁK, M./P FÄLZNER, P./ELSEN-NOVÁK, G., Ausgrabungen im bronzezeitlichen Palast von Tall Mišrife – Qat ,na 2002, MDOG 135 (2003) 138–148, 156–162. 14 AL-MAQDISSI et al., Das königliche Hypogäum, 204. Die große Anzahl der Keramikgefäße weist auf Speiseopfergaben. 15 Nur als Beispiel genannt, CORNELIUS, I., The Many Faces of the Goddess. The Iconography of the Syro-Palestinian Goddesses Anat, Astarte, Qedeshet, and Asherah, 1500–1000 BCE (OBO 204), Freiburg – Göttingen 2004, 100. 16 Fundort, Stadtmitte (A 1a) in einer Grube, die aus dem «temple aux rhytons» geplündertes Material barg.

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sog. Tiara, eigentlich eine von der ägyptischen Weißen Krone abgeleitete göttliche und königliche Kopfbedeckung. Die heute verschwundenen Unterarme waren extra eingesetzt. Vielleicht hielt die rechte Hand eine Schale. Traditionellerweise wird dieses Bild dem El zugeschrieben. El ist der Vater der Göttinnen und Götter Ugarits, er führt den Königstitel, er präsidiert thronend der Götterversammlung. In den Texten wird er als Träger eines grauen Barts beschrieben. Die Züge dieses alten Gottes glaubt man in der Statuette zu erkennen. Doch zuletzt rührte sich Widerstand in der Forschung. Hier sei das Abbild eines divinisierten Königs von Ugarit zu sehen, denn Tiara und Wulstsaummantel seien die Charakteristika des Königs17. Dennoch zeigen die Rollsiegel, auf denen der König sicher identifiziert werden kann, eine abgerundetere und niedrigere Kopfbedeckung als die des so eben beschriebenen „El“. Die nicht königliche Kopfbedeckung verjüngt sich im oberen Teil und endet mit einer langen Spitze oder einer „Kugel“, womit sie ihrem ägyptischen Vorbild näher steht. Die Identität der Statuette aus Ugarit muß also offen bleiben. Die berühmteste Statue der späten Bronzezeit ist die des Idrimi. Sie wurde in einem Nebenraum des Tempels in Alalah IB gefunden, wo sie sich in einem zerschlagenen Zustand nicht mehr in situ befand, jedoch kultisch beigesetzt worden war. Vor ihr stand ein Altar. Idrimi erzählt uns in der auf dieses Selbstbildnis eingemeißelte „Autobiographie“: „ich habe die Gußopfer für unsere Väter... zur dauernden Einrichtung gemacht... und meinem Sohn Tešub-nƯrƗrƯ anvertraut“18. Es scheint also, daß er den Ahnenkult für seine Vorfahren in Alalah wieder eingesetzt und seinem Sohn die Sorge für die Opfer, die seine Väter bekommen sollen, anvertraut hat. Ganz typisch für die syrische (und palästinische) späte Bronzezeit und zugleich sehr zahlreich vorhanden sind kleine Metallstatuetten. Sie sind barhäuptig oder tragen unterschiedliche Kopfbedeckungen, u. a. die „Tiara“ und die Atef-Krone, selten auch die Hörnerkrone. Das Gewand ist bisweilen der sog. Wulstsaummantel, den Götter und Könige tragen. Oft ist eine Hand erhoben, die andere vor sich mit dem Unterarm ausgestreckt. Heute greift sie ins Leere. Wenige Metallstatuetten zeigen Sitzende mit einer Schale in der rechten Hand (Abb. 4 a–b)19. Texte in Emar und Nuzi20 _______________ 17

NIEHR, Religionen, 28, 65. D IETRICH, M./LORETZ, O., Die Inschrift des Königs Idrimi von Alalah (UF 13) 1981, 206–207, Z. 89–91, s. auch MAYER-OPIFICIUS, R., Archäologisches Kommentar zur Statue des Idrimi von Alalah, UF 13 (1981) 279–290. 19 Weiterhin, NEGBI, O., Canaanite gods in metal. An archaeological study of ancient Syro-Palestinian figurines, Tel Aviv 1976, 48–49, Nr. 1449 aus Sekhem, 1481–1482 aus Enkomi. 20 VAN DER T OORN, K., Gods and Ancestors in Emar and Nuzi, ZA 84 (1994) 38–59 (v. a. 38). P ITARD, W.T., Care of the Dead at Emar, in: CHAVALAS, M.W. (Hg.), Emar: The History, Religion, and Culture of a Syrian Town in the Late Bronze Age, Bethesda 18

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verweisen auf die Wichtigkeit des Ahnenkults, auch in Form von Statuetten. Der divinisierte König von Qatna ist mit einem Wulstsaummantel bekleidet, er ist barhäuptig und seine Haare sind zu einem Knoten frisiert, den ein Band hält. Ob einige dieser Figurinen einen verstorbenen König oder verstorbene Ahnen darstellen, sei dahingstellt. Denkt man „gesamtmesopotamisch“, muß es zum einen sich unterscheidende Bilder von Göttern und Stiftern geben. Zum anderen ist es m. E. angebrachter, die Hörnerkrone den Göttern zu überlassen und zumindest mit diesem Attribut eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Gott und Mensch, damit auch zwischen Gott und vergöttlichtem Ahne, zu behalten. Die sog. Tiara sollte m. E. ebenfalls als göttliches Attribut interpretiert werden. Unsere nächste Frage betrifft das Erscheinungsbild des Grabs. In Mesopotamien gibt es an der Oberfläche keine Grabbauten, keine Bilder und keine Grabinschriften. Jean Bottéro hat kleine Keilschrifttafeln bearbeitet, die zwar einen Bezug auf das Grab und die darin Besttateten aufweisen, die aber in den Gräbern lagen21. Grüfte sind ebenfalls selten und den Königen vorbehalten. Grüfte unter dem Palastboden scheinen in westlichen Palästen zur Standardeinrichtung zu gehören. Darüber hinaus gibt es sie in sämtlichen größeren Privathäusern von Ugarit22. Zusammenfassend: Der Ahnenkult hat in Syrien die Schaffung von Kultorten und von Kultbildern bedingt, die verstorbene Könige oder Ahnen darstellen. Kultorte waren wohl Gräber unter dem Palastboden und vielleicht bestimmte Tempel (Ebla). Zu den heute sichereren ikonographischen Merkmalen für Bildnisse gehören die sitzende Haltung und die ausgestreckte rechte Hand, die eine kleine flache Schale hält. Weitere Typen sind möglich aber (noch nicht) erkennbar. Ich neige dazu, die Hörnerkrone als ausschließliches Götterattribut zu betrachten. Möglicherweise unterscheidet sich die göttliche Tiara von der menschlichen. ______________________________________________________________________________________________

1996, 123–139, ist gegen Toorn (S. 129, Tafeln bringen keinen Beweis für den Kult der vergöttlichten Toten in Emar). NIEHR, Religionen, 65. B ONATZ, Das syro-hethitische Grabdenkmal, 132. 21 B OTTÉRO, J., Les inscriptions cunéiformes funéraires, in: GNOLI, G./VERNANT, J.-P. (Hg.), La mort, les morts dans les sociétés anciennes, Paris 1982, 373–406. 22 Aus Ugarit stammen zwei anikonische Stelen, in deren Text die Stifter pgr-Opfer und Rinderopfer an Dagan bekannt geben (B ORDREUIL, P./P ARDEE, D., Les inscriptions des stèles dédiées à Dagan, in: YON, M., Stèles de pierre, RSO VI [1991] 302–303). Das pgr/pagrum ist ein Opfer an die Toten und an die Unterweltsgötter. B ONATZ, Das syrohethitische Grabdenkmal, 134, betrachtet diese Stelen als Grabstelen. Der Text deutet allerdings darauf, daß sowohl Opfer und Stele Dagan geweiht, daß diese Stele somit „klassische“ Weihgaben sind, P ARDEE, D., Les textes rituels, RSO XII (2000) 386–399.

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II. Die Rolle der Familie im Westen a. Auf der religiösen Ebene Der Ahnenkult spielt im Westen eine große Rolle. Damit verbunden ist die Verehrung eines Gottes oder von Göttern, von denen man erwartet, daß sie ihren Schutz auf die gesamte Familie ausdehnen. Diese werden als „Familiengötter“ (family gods) bezeichnet. In Nuzi und Emar werden ilƗnu und DINGIR.MEŠ in Erbschaftstexten genannt und als „die Götter unserer Familie“ angesprochen23. Die Familiengötter scheinen in der Regel keinen Namen getragen zu haben. Ausnahmen gibt es auf königlicher Ebene. In Ugarit z. B. ist El der Familiengott der königlichen Familie24. Familiengötter verehrte man wahrscheinlich in Form einer Statuette. Sie lebten mit den Ahnen zusammen25. Die Identität einer Gruppe ist mit dem kollektiven Bewußtsein verbunden, dessen bildliche und schriftliche Äußerungen wir für Mesopotamien v. a. in der männlichen Nachkommenschaft erleben, in Syrien aber in einem auf die gesamte Familie erweiterten Kreis. Ein guter Mensch, egal ob ein guter Mann oder eine gute Frau, verdient auch nach seinem Tod Anerkennung und wird durch Nicht-Vergessen, d.h. durch Totenkult, belohnt. Frau und Mann, Mutter und Kinder stehen auch nach ihrem Tod in einer „konstitutiven“26 Beziehung. Die „Bedeutung der Familie als eine der ursprünglichsten und dauerhaftesten Institutionen der kollektiven Identität“27 ist im Westen weiter gefaßt als im Kernland Mesoptamien. Dabei kann ich die Priorität nicht festlegen: hat Ahnenverehrung zum Zusammenhalt aller Generationen innerhalb einer Familie geführt oder, umgekehrt, führten die Familienbanden, die man auch nach dem Tode nicht auflösen wollte, zu einem verstärkten und aktiven Gedächtnis der Toten? Wahrscheinlich bedingen sie sich. b. Auf der ikonographischen Ebene Unabhängig, ob nun erst Totenkult oder erst Familie, beide scheinen mir die Ursache für ein weiteres westliches Phänomen zu sein, das ich gerne in diesem Zusammenhang betrachten möchte (Abb. 5): Kinder wurden in der westlichen altorientalischen Kunst dargestellt, während sie im Kernland _______________ 23

VAN DER T OORN, Family Religion, 168–169. VAN DER T OORN, Family Religion, 170. 25 VAN DER T OORN, Gods and Ancestors, 38, 47. 24

DERS., Family Religion, 159, 168– 177. In Babylonien gibt es einen Familiengott mit Namen. 26 B ONATZ, Das syro-hethitische Grabdenkmal, 160. 27 B ONATZ, Das syro-hethitische Grabdenkmal, 162.

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Mesopotamien fast völlig fehlen oder unumgänglich vorhandene Wesen sind, wie etwa auf den Flüchtlingszügen der neuassyrischen Orthostaten. Dieses Interesse an Kinderszenen erkläre ich durch die erweiterte historische Dimension, die durch die Einbeziehung der Ahnen und ihrer Nachkommenschaft entsteht. Die aus dem Alten Orient bekannten sog. „Hausmodelle“ stammen fast nur aus Nordmesopotamien und dem Westen. Es wird angenommen, daß diese Tonobjekte gerade im häuslichen Familienkult dienten, möglicherweise zum Teil auch im Totenkult. M. E. muß auch hier eine unmittelbare Verbindung zwischen westlichen Kultgepflogenheiten und der Erfindung solcher „Hausmodelle“ gemacht werden28.

III. Menschliche Gefühle werden thematisiert Vielleicht sind es die stärkere Anwesenheit der Toten, die dadurch bedingte gute Lebensführung und eine erweiterte Wahrnehmung des Familienverbands, die zu zwei weiteren Tatsachen führen, die, finde ich, in Syrien eine andere Nuance tragen als in Mesopotamien: Die größere Sensibilität der Götter für menschliche Probleme und die etwas andere Annäherung an die Götter, die, wiederum, ikonographische Folgen hat. a. Die größere Sensibilität der Götter Der größte Unterschied zwischen den Göttern und den Menschen ist die Unsterblichkeit. Trotz aller Erwartungen oder Gottesnähe vermochten die Könige von Ugarit ebenso wenig wie ihre mesopotamischen Brüder, die Unsterblichkeit zu erlangen. Altorientalische Nüchternheit und Sachlichkeit verbietet eine solche Vorstellung. Im Aqhatu-Mythos wird jedoch erzählt, wie die Göttin Anat sogar bereit gewesen wäre, dem Königssohn Aqhatu die Unsterblichkeit zu geben. Es ist Aqhatu selbst, der die Unmöglichkeit dieses Vorhabens sofort einsieht. Damit unterscheidet sich diese Einstellung von der Gilgamešs, der alles versuchen wird, um die Unsterblichkeit zu erlangen und bei seinem Scheitern bittere Tränen weint. Selbst als literarischer Topos betrachtet – es gibt keine Wahl für den epischen Ausgang – geht die dramatische Heranführung an das Ende unterschiedliche Wege. Im nordsyrischen Raum und ab der Mittelbronzezeit gibt es Texte über die Freilassung von Personen, die durch Verschuldung zu Sklaven wurden. _______________ 28 B RETSCHNEIDER, J., Architekturmodelle in Vorderasien und der östlichen Ägäis vom Neolithikum bis ins 1. Jahrtausend (AOAT 229), Neukirchen-Vluyn 1991, 46, 108, 169–170. VAN DER TOORN, Gods and Ancestors, 45.

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Dabei werden menschliche Nöte fiktiv auf den Wettergott Teššub übertragen. Die Notsituation des Gottes gilt als Aufforderung und Mahnung, Menschen, die in eine vergleichbare Situation geraten sind, genauso wie dem geknechteten Gott zu helfen. „Wenn Teššub Unheil widerfahren ist (indem er in Schuldknechtschaft geriet) und er (seine) Freilassung fordert, Teššub also ohne Silber ist, wollen wir – jeder (von uns) – (ihm) einen Šekel Silber geben. Einen halben Šekel Gold, einen Šekel Silber wollen wir – jeder (von uns) – dir, Teššub, geben. Wenn Teššub hungrig ist, wollen wir – jeder (von uns) – dem Gott ein halbes Kor Gerste aufschütten... Ist Teššub nackt, wollen wir – jeder (von uns) – (ihn) mit einem Gewand bekleiden... Ist Teššub ausgedörrt, wollen wir – jeder (von uns) – (ihm) ein Fläschchen Feinöl geben... Retten wollen wir ihn, (den) Teššub“29. Diese absolute Parallelität zwischen Himmel und Erde ist ja nicht außergewöhnlich. Vom mesopotamischen Standpunkt aus ist nur die Ebene, auf der sich die Parallelität abspielt, merkwürdig. Wir würden einen solchen Text als „menschlich“, sogar als „moralisch“ bezeichnen. Denn selbst wenn sich in Mesopotamien Götter selbstverständlich für Menschen einsetzen, allen voran der Gott Ea, dann tun sie das, in dem sie sich gegeneinander austricksen oder weil die Menschen sie darum anflehen. b. Die ikonographischen Folgen Wie bereits erwähnt, kann man im Westen den Götterbildern keinen Namen geben, ja sogar oftmals nicht einmal zwischen einem Königs- und einem Gottesbild unterscheiden. Dies gilt im zweiten wie auch im ersten Jahrtausend. Diesen grundlegenden Unterschied zu Mesopotamien, wo jeder Gott feste Attribute besitzt, möchte ich durch Beobachtungen erklären, die ich für die Achämenidenzeit anstellte, deren Wurzeln aber sicher älter sind. In der Achämenidenzeit findet im Westen ganz eindeutig eine „Theokrasie“ statt. Damit meine ich, daß den Göttern kein fester Handlungsbereich mehr zugeordnet wird. Sämtliche Götter sind für alle Lebensbereiche zuständig geworden. Dabei spielt der Aspekt persönliches Heil und Heil der Familie eine entscheidende Rolle. Im ersten Jahrtausend handelt für jedes Individuum hauptsächlich nur noch ein Gott. Diesen Gott wählt sich jeder Mensch unter den vielen existierenden Göttern für sich

_______________ 29

NEU, E., Knechtschaft und Freiheit. Betrachtungen über ein hurritisch-hethitisches Textensemble aus Hattuša, in: J ANOWSKI, B./KOCH, K./W ILHELM, G. (Hg.), Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien, Nordsyrien und dem Alten Testament (OBO 129), Freiburg – Göttingen 1993, 329–361, bes. 347–48. (vor 1400).

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aus. Diese unscharfen Zuständigkeiten sind m. E. die Ursache, weswegen die Götter auch keine Attribute (mehr) brauchen30. Selbst wenn die Götterbereiche und -zuständigkeiten im zweiten Jahrtausend noch abgegrenzter sind als im ersten, spürte der altsyrische Beter immer weniger Bedarf, seine Gottheiten genau zu charakterisieren. Dies, die Betonung der Familie und die Menschenfreundlichkeit der Götter werden in die Entwicklung der Achämenidenzeit münden. Im zweiten Jahrtausend ist es – zumindest in den Texten – der König, der das von Göttern zu erfahrende Heil auf sich und seine Familie lenkt. Im ersten Jahrtausend erfahren alle Bürger der syrischen und phönizischen Städte die potentielle göttliche Güte.

Zusammenfassung (Tabelle 1) Auch in Syrien ist die Menschengesellschaft ein vollkommenes Abbild der Göttergesellschaft. Die Übereinstimmung zwischen Ost und West besteht darin, daß die Strukturen der Gottesgesellschaft und die der Menschengesellschaft dieselben oder die gleichen sind. Einen Totenkult gibt es im gesamten alten Orient31. Schon Urukagina (Uru-inim-gina) von Lagaš (etwa 2350) erwähnt Opfer an die Statue eines Verstorbenen. In Altsyrien jedoch ist die Vorstellung vom Weiterleben der hochgestellten Persönlichkeit ausgeprägter und kulturprägender als in Mesopotamien. Diese Vorstellung, die ebenfalls für das Weiterleben von normalen Menschen gilt, gibt es sicherlich schon zu Beginn des 2. Jahrtausends, wahrscheinlich aber schon „immer“. Für die typisch westliche Kategorie des verstorbenen Königs haben die Syrer wohl eine eigene Ikonographie entwickelt. Leider können wir sie kaum fassen, weil die westlichen Statuen in der Regel keinen Text tragen und Kontextfunde noch zu selten sind. Dennoch zeigen die neuen Funde in Qatna, daß sitzende Männer mit Wultsaummantel und Schale in der Hand mit dem Ahnenkult verbunden werden können. Vermutlich wurden diese Statuen von irgend einem König während seiner Regierungszeit in Auftrag gegeben und nach seinem Tode eine unbestimmte und auch unbestimmbare _______________ 30

NUNN, A., Der figürliche Motivschatz Phöniziens, Syriens und Transjordaniens vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v.Chr. (OBO SA 18), Freiburg – Göttingen 2000, 189– 193. DIES., Bilder der Massenmedien in Phönizien, Syrien und Jordanien vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v.Chr., in: UEHLINGER, C. (Hg.), Images as media. Sources for the cultural history of the Near East and the Eastern Mediterranean (Ist millennium BCE) (OBO 175), Freiburg – Göttingen 2000, 372. 31 s. für Mesopotamien den Band AOF 27/1, 2000, über „Totenritual und Jenseitskonzeptionen“.

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Zeit verehrt. So glaube ich, daß die Königsstatuen ursprünglich doch einen bestimmten König darstellen, dessen präzise Persönlichkeit im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte – drei sind es in Qatna – zum Inbegriff der vergöttlichten Ahnen wurde. In Mesopotamien sind Statuen von lebenden Personen gestiftete Weihbilder. Sie wurden zu Lebzeiten des Stifters und nicht in der Absicht Totenopfer zu bekommen hergestellt. Bisweilen bekamen diese selben Statuen dann „unwillkürlich“ (Toten-)Opfergaben, nachdem der Stifter verstorben war und seine Statue weiterhin im Tempel aufgestellt blieb. Die größere Verbundenheit mit den verstorbenen Familienmitgliedern scheint mir der Dreh- und Angelpunkt für eine allgemein wichtigere Stellung der Familiengötter und des Familienverbands. Natürlich ist die Rolle der Familie im gesamten Alten Orient äußerst wichtig. Im Westen aber ist das Bewußtsein und das Interesse für die Menschen, die einem vorausgegangen sind, größer. Man darf die Toten nicht vergessen und man zeigt, daß man sie nicht vergessen hat. Ikonographische Folgen beobachten wir neben dem erwähnten Statuentypus in den zahlreichen Kinderbildern. Während des ersten Jahrtausends treten die sog. späthethitischen Grabstelen auf, die sicher auch zur (bildlichen) Kommunikation zwischen dem oder der Verstorbenen und den Lebenden dienten. In Mesopotamien hatte der Totenkult kein Errichten von Denkmälern zur Folge32. Götter sind freundlich und menschliche Belange, wie mir scheint, werden auf göttlicher Ebene leichter thematisiert. Die Stellung zu den Göttern ist zumindest ab dem ersten Jahrtausend mit einer größeren Betonung auf das persönliche Heil verbunden und damit individueller. Jeder Gott soll den Menschen nach Kräften helfen. Auch die mesopotamischen Götter werden auf diese Weise von Schutz suchenden Menschen um Hilfe gebeten. Auch dort muß der Herrscher ein gerechter Herrscher sein und den Schwachen beistehen. Die Betätigungsfelder der Götter werden aber im Westen globaler betrachtet, das Verhältnis zu ihnen ist persönlicher, weil sich der Schutzgedanke immer mehr verselbständigt. Dies wiederum verursacht eine unpräzise Götterikonographie und äußert sich durch sie. Diese typisch syrischen Gegebenheiten sind spätestens in der Achämenidenzeit völlig verbreitet. Ihre Wurzeln führen uns aber bis in das zweite Jahrtausend zurück.

_______________ 32

B ONATZ, Das syro-hethitische Grabdenkmal, 138.

Aspekte der syrischen Religion Religion/Himmel

Familie/Erde

Ikonographie

Ahnen

Gut leben, um als Ahne Verehrt zu werden

Statuarik der vergöttlichten Könige

Familiengötter

Familienverband

Fig. von FamilienGöttern Kinderbilder

Globale Betätigungsfelder der Götter (Theokrasie)

Persönlichere Beziehung zu Gott. Betonung des Heils

Götter haben keine Attribute

Götter benehmen sich Wie Menschen

Menschen bekommen göttliche Hilfe

Tabelle 1: Versuch einer tabellarischen Textwiedergabe. Abkürzungen AOF: Altorientalische Forschungen, Berlin. AOAT: Alter Orient und Altes Testament, Neukirchen-Vluyn. ARET: Archivi Reali di Ebla. Testi, Rom. AW: Antike Welt, Mainz. BA: Biblical Archaeologist, Boston. KTU: Keilalphabetische Texte aus Ugarit. MDOG: Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft, Berlin. MVS: Münchener Vorderasiatische Studien, München. OBO: Orbis Biblicus et Orientalis, Freiburg – Göttingen. OBO SA: Orbis Biblicus et Orientalis Series Archaeologica, Freiburg – Göttingen. QuSem: Quaderni di Semitistica, Florenz. RSO: Ras Shamra-Ougarit, Paris. UF: Ugarit-Forschungen, Neukirchen-Vluyn. ZA: Zeitschrift für Assyriologie, München.

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Abb. 1: Statue aus Ebla. H. 1,05 m. Syrie, Mémoire et Civilisation, Ausstellungskatalog, Paris 1993, 205 Nr. 146.

Abb. 2: Zwei Statuen aus Qatna. H. ca. 0,85 m. Novák et al., Ausgrabungen im bronzezeitlichen Palast, 157.

Abb. 3: Statue aus Ugarit. H. 25 cm. Syrie, Mémoire et Civilisation, 224 Nr. 173.

Aspekte der syrischen Religion

Abb. 4 a–b: Metallfigurinen aus Homs. H. 8,5 und 11,5 cm. Negbi, Canaanite gods in metal, Nr. 1457 und 1458.

Abb. 5: Akkadzeitliches Rollsiegel mit der königlichen Familie aus Tell Mozan/Urkiš. Buccellati, G./M. Kelly-Buccellati, The Royal Storehouse of Urkesh: The Glyptic Evidence from the Southwestern Wing, AfO 42–43 (1995–1996) 15, q2.

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„Des Herrn ist die Erde“ Ein Kapitel altsyrisch-kanaanäischer Religionsgeschichte HERMANN SPIECKERMANN

1. Das älteste Zeugnis der Psalmen Der Titel des Beitrags ist dem Alten Testament entnommen. Es ist der Beginn von Ps 241: Des HERRN ist die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und die, die darauf wohnen. Denn er hat sie über den Meeren gegründet und sie über den Strömen befestigt. (V. 1f.) Man kann in diesen beiden Versen Gottes Wirken als Schöpfer gepriesen finden. Aber der Vergleich mit dem Schöpfungsbericht in Gen 1 würde schnell deutlich werden lassen, daß beide Texte unterschiedliche Intentionen verfolgen und sich weitgehend unterschiedlicher Vorstellungen bedienen. Während Gen 1 umfassend von Gottes erstmaligem und einmaligem Schöpferhandeln berichten will, schaut Ps 24 auf Gottes Gründen und Befestigen von Erde und Erdkreis zurück. Gott schafft hier nichts Neues, sondern Erde und Erdkreis sind da und werden als sein Besitz gerühmt, weil er ihnen Bestand verliehen hat. Gott handelt hier wie ein königlicher Bauherr. Es ist durchaus möglich, daß er den Bau von Erde und Erdkreis einst selbst ausgeführt hat. Aber dies wird keineswegs betont. Was Gott tut, können auch Maßnahmen der Bestandssicherung für sein Eigentum sein, welches er vorgefunden oder ererbt hat.2 Wer über Meeren und Strömen baut, wird die Instandhaltung gewiß nicht auf einen einmaligen Akt beschränken dürfen. Dann wäre es um das Eigentum wohl bald nicht mehr _______________ 1 Zu Ps 24 vgl. SPIECKERMANN, H., Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen (FRLANT 148), Göttingen 1989, 196–208; HOSSFELD, F.-L./ZENGER, E., Die Psalmen I (NEB), Würzburg 1993, 156–163. 2 Ex 15,17 nennt den Berg, auf dem Gott wohnt (vgl. Ps 24,3), Erbbesitz. Dabei steht kanaanäische Tradition im Hintergrund (vgl. S PIECKERMANN, Heilsgegenwart, 109).

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zum besten bestellt. Von diesen Vorstellungen und Überlegungen macht Gen 1 keinen Gebrauch, während Ps 24 entschieden davon bestimmt ist. Hingegen ist Ps 24 im Unterschied zu Gen 1 am Himmel offenkundig ganz desinteressiert. Die Unterschiede zwischen beiden Texten ließen sich auch im Blick auf die „Ausstattung“ der Erde mühelos ergänzen. Schon die genaue, aber religionsgeschichtlich noch unkundige Lektüre von Ps 24 gibt zu erkennen, daß durch den Hinweis auf Meere und Ströme unter den Fundamenten von Erde und Erdkreis eine ständige Bedrohung präsent ist. Der abschließende Teil des Psalms, 24,7–10, bestätigt dies auf eindrückliche Weise. Die Tempeltore, die aufgefordert werden, ehrerbietend gegenüber dem einkehrenden Gott die Häupter zu erheben, begrüßen den königlichen Herrn als siegreichen Helden. Die Binnenlogik des Psalms legt nahe, bei den Gegnern des Kampfes an die Meere und Ströme zu denken, von denen in V. 1f. die Rede gewesen ist. Der königliche Krieger, dem als höchste Ehre der Name H ERR Zebaoth zuteil wird (V. 10), hat – kaum zum ersten und kaum zum letzten Mal – den Sieg über Meere und Ströme, die sein Eigentum bedrohen, davongetragen. 3 Daß Meere und Ströme in Ps 24 in der Lage sind, bedrohlich zu werden, könnte, wenn man nur das Zeugnis von Ps 24 zur Verfügung hätte, allenfalls vermutet werden. Nimmt man indessen Einblick in inhaltlich verwandte Texte im Psalter und erst recht in die kanaanäische Mythologie, wie sie in Ugarit bezeugt ist, wird schnell zur Gewißheit, daß Ps 24 auf mythische Vorstellungen anspielt, deren Bekanntheit mitsamt den relevanten kontextuellen Bezügen in alttestamentlicher Zeit vorausgesetzt werden _______________ 3 Ob der inhaltliche Zusammenhang von Ps 24,1f. und 24,7–10 die literarkritische Rekonstruktion trägt, in den genannten Versen die Grundfassung (ohne V. 1a) von Ps 24 anzunehmen (vgl. LORETZ, O., Ugarit-Texte und Thronbesteigungspsalmen. Die Metamorphose des Regenspenders Baal-Jahwe [UBL 7], Münster 1988, 249–274), ist fraglich. Die unterschiedliche poetische Form beider Teile ist dieser Annahme nicht günstig. Vielmehr scheint V. 7–10 mit seiner antiphonen Struktur ein Traditionsstück zu sein, das aus einem nicht mehr bekannten Zusammenhang der Liturgie des vorexilischen Jerusalemer Tempels in diesen Psalm integriert worden ist. Genauer: Das Textelement V. 7–10 ist das Fundament, auf dessen Basis die Komposition von Ps 24 aufruht. Hingegen hat eine aus V. 1f. und V. 7–10 bestehende Grundfassung eine inhaltliche Lücke in der Mitte. Es fehlt die Aktualisierung der Bedrohung, gegen die Gott in V. 7–10 erfolgreich einschreitet. Ps 24 in der vorliegenden Fassung, wahrscheinlich auch noch ein Zeugnis vorexilischer Tempeltheologie, wenn wohl auch nicht vor dem 8. Jahrhundert, nimmt in V. 3–5* (fortgeschrieben in V. 6) den Menschen, den Bewohner des Erdkreises (V. 1), in den Blick, den Gott auf seinem Tempelberg, dem Zentrum des zu schützenden Erdkreises, Bewahrung zuteil werden läßt. Segen, Gerechtigkeit und Heil (V. 5) verleiht der Gott, der seine Gaben und seine Begabten gegen jede Bedrohung zu schützen vermag. So will Gottes Handeln in V. 7–10 im neugeschaffenen Text Ps 24 verstanden werden. Will man hinter diese Fassung von Ps 24 zurück, muß man an der Stelle der jetzigen V. 3–5* einen verlorengegangenen Mittelteil postulieren.

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darf. Durch die ugaritischen Texte wird evident, daß hinter den Meeren und Strömen von Ps 24 der kanaanäische Chaosgott Yamm steht, der sich unberechenbar und bedrohlich gegen die Königsherrschaft des alttestamentlichen Gottes Yhwh erhebt. Zwar wird in Ps 24 wie in anderen Texten (vgl. Ps 29 und 93) der chaotische Rivale seiner göttlichen Personalität beraubt, doch bleibt mit Bedacht unzweideutig erkennbar, daß der Angriff auf Gottes Königsherrschaft durch numinose Mächte erfolgt. Andernfalls hätten die klaren Bezüge auf kanaanäische Mythologie in den genannten Psalmen keinen Sinn. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß die Theologie an Tempeln in vorexilischer Zeit, von der wir allerdings nur etwas – nicht sonderlich viel – durch den Jerusalemer Tempel kennen, entscheidend durch die Vorstellung vom Gottkönig Yhwh geprägt gewesen ist. Seine schützende und bewahrende Gegenwart kommt vom Tempel aus der Stadt, dem Lande, ja der ganzen Erde, die Gottes Eigentum ist, zugute. Dieser Besitz muß gegen andere numinose Mächte verteidigt werden: gegen die vegetationsfeindliche Macht des Meeresgottes Yamm und gegen die lebensfeindliche Macht des Todesgottes Mot. Beide wollen begehrlich nach der Königsherrschaft greifen und ihre je eigene lebensfeindliche Macht zur Geltung bringen. Ehe das Alte Testament zum Buch der Heils- und Unheilsgeschichte des Volkes Israel geworden ist, sind es Texte – wohl entschieden mehr, als heute noch vorhanden – zur Königsherrschaft Yhwhs und seiner schützendheilvollen Gegenwart im Tempel gewesen, die den theologischen Grundbestand gebildet haben.4 Diese Texte verdanken sich eindeutig dem kulturellen und religiösen Milieu Altsyriens im Übergang von der Spätbronzezeit (1550–1200 v.Chr.) zur Eisenzeit (ab 1200 v.Chr.). Dem ugaritischen Baal-Epos, von Ilumalku um 1400 v.Chr. unter Verwendung bereits autoritativer Traditionen verfaßt, kommt dabei als dem besterhaltenen Dokument _______________ 4

Rekonstruktionen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen sind zu finden bei JEREJ., Das Königtum Gottes in den Psalmen. Israels Begegnung mit dem kanaanäischen Mythos in den Jahwe-König-Psalmen (FRLANT 141), Göttingen 1987; SPIECKERMANN, Heilsgegenwart; SMITH, M. S., The Early History of God. Yahweh and the Other Deities in Ancient Israel (1990), Grand Rapids, MI–Cambridge, U.K. 2002 2; KEEL, O./ UEHLINGER, C., Göttinnen, Götter und Göttersymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD 134), Freiburg u. a. 1992, 20015; J ANOWSKI, B./KÖCKERT, M. (Hg.), Religionsgeschichte Israels. Formale und materiale Aspekte (VWGTh 15), Gütersloh 1999; KRATZ, R.G., Reste hebräischen Heidentums am Beispiel der Psalmen, NAWG 2004 Nr. 2, 25–65; zum ikonographischen Hintergrund vgl. K LINGBEIL, M., Yahweh Fighting from Heaven. God as Warrior and as God of Heaven in the Hebrew Psalter and Ancient Near Eastern Iconography (OBO 169), Fribourg–Göttingen 1999; vgl. ferner H ARTENSTEIN, F., Religionsgeschichte Israels – ein Überblick über die Forschung seit 1990, VuF 48 (2003) 2–28. MIAS,

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der nordwestsemitischen bzw. altsyrischen Region besondere Bedeutung zu.5 Da die literarische Überlieferung des Alten Testaments – wie die althebräische Epigraphik6 – jedoch wohl erst in der frühen Königszeit einsetzt (10. Jahrhundert v.Chr.) und durch wenige Texte kaum vor dem 9. Jahrhundert v.Chr. bezeugt ist, wird man fragen müssen, mit welchem Recht man das ugaritische Baal-Epos aus dem 15./14. Jahrhundert v.Chr. für die religiösen Verhältnisse auch im entschieden weiter südlich gelegenen Kanaan des ersten Viertels des ersten Jahrtausends v.Chr. in Anspruch nehmen darf. Zur Klärung dieser Frage soll zunächst ein Blick auf religiöse Konfigurationen im altanatolisch-kleinasiatisch-griechischen Raum der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends und der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v.Chr. geworfen werden. Die hier zu beobachtenden Phänomene von Kontinuität und Variation durch Jahrhunderte hindurch in einem Raum mit unterschiedlich geprägten Kulturkreisen erhellen den Zusammenhang, der auch für die Religionen Altsyriens und Kanaans an der Wende vom zweiten zum ersten Jahrtausend v.Chr. angenommen werden darf.

2. Die hurritisch-hethitische Religion und Hesiods Theogonie In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends ist die Religion der Hurriter und Hethiter durch die Keilschriftfunde aus der hethitischen Großreichszeit (1350–1200 v.Chr.) gut bezeugt.7 Sie ist seit dem dritten Jahrtausend aus vielen kulturellen Einflüssen gewachsen. Besonders ist auf die altsyrischen Stadtstaaten (etwa Ebla und 0Ùalab), das hurritische Reich von Mitanni am 0Ùabur und am Oberlauf des Tigris sowie auf das hethitische Reich in Anatolien hinzuweisen. Die genannten Kulturkreise haben ihrerseits bereits das religiöse Erbe älterer Ethnien und Kulturen integriert. Deutliche Spuren PI\ der sumerisch-altbabylonische Einfluß in den altsyrischen Stadtstaaten sowie der altassyrische Einfluß in der hethitischen Religion hinterlassen. Die hurritische Religion ist aufgrund der weitgehend fehlenden eigenen _______________ 5 DIETRICH, M./LORETZ, O./SANMARTÍN, J., The Cuneiform Alphabetic Texts from Ugarit, Ras Ibn Hani and Other Places (ALASP 8), Münster 1995, 1–28 (KTU 1.1–1.6; im Folgenden wird die deutsche Abkürzung KTU, nicht die englische CAT verwendet); D IETRICH, M./LORETZ, O., Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6 (TUAT III/6), Gütersloh 1997, 1091–1198; SMITH, M.S.,The Ugaritic Baal Cycle. Bd. 1: Introduction with Text, Translation and Commentary of KTU 1.1–1.2 (SVT 55), Leiden–New York–Köln 1994. Alle genannten Werke enthalten eine Fülle weiterführender Literaturhinweise. 6 Vgl. die Übersicht über die Texte der althebräischen Epigraphik bei RENZ, J., Die Althebräischen Inschriften Teil 1, Darmstadt 1995, 11–19. 7 Zur Geschichte des Großreiches vgl. KLENGEL, H., Geschichte des Hethitischen Reiches (HdO I,34), Leiden–Boston–Köln 1999, 135–319; zur Religion vgl. HAAS, V., Geschichte der hethitischen Religion (HdO I,15), Leiden–New York–Köln 1994.

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Textüberlieferung fast ausschließlich aus der Symbiose mit den Religionen der altsyrischen Stadtstaaten (vor allem Ugarit) und der Hethiter bekannt. Auf diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund sind die mit der Formung des Weltbildes befaßten Mythen des hethitischen Großreiches durch eine intensive Verschränkung der Themen Theogonie, Sukzession und Theomachie charakterisiert. Die Königsherrschaft über die Götter und somit auch über die Welt ist trotz der prädizierten Ewigkeit immer nur eine beschränkte. Zyklisch-kalendarische Aspekte der Welterhaltung verbinden sich dabei mit Vorgaben, die sich aus der Eigendynamik der zentralen mythischen Vorstellung permanent umstrittener Götterherrschaft ergeben. Wo göttliches Königtum je nach Charakter der herrschenden Gottheit Erhaltung oder Bedrohung der Welt bedeuten kann, wird der Wechsel von Schöpfung bzw. Erhaltung der Welt und ihrer Vernichtung zum fundamentalen Charakteristikum des Weltbildes. Von dieser Zusammengehörigkeit sind die meisten urgeschichtlichen Mythen Mesopotamiens, Altsyriens und Kleinasiens bis hin zur biblischen Urgeschichte (Gen 1–11) geprägt. Die Begründungen für die der Schöpfung und Erhaltung beigesellte Vernichtung sind unterschiedlich, doch ohne Bedrohung ist Schöpfung nie. Der Ursprung dieser Konstellation im Motiv der Theomachie ist dafür verantwortlich. Die Konstellation bleibt stabil und findet neue theologische Deutungen auch da, wo es wie in der biblischen Urgeschichte das Motiv der Theomachie nicht mehr bzw. kaum noch erkennbar gibt. In der hurritisch-hethitischen Religion sind es vier aufeinander folgende Göttergenerationen, die im Kampf die Königsherrschaft, als unbegrenzte angestrebt, dann aber doch eigentümlich exakt auf jeweils neun Jahre, nach anderer Tradition auf je 3600 Jahre terminiert, voneinander abringen. 8 Alalu, den Anu der Königsherrschaft beraubt, zieht sich in die Unterwelt als seiner neuen Domäne zurück. Anu wird die Herrschaft durch den Gott Kumarbi streitig gemacht. Als Anu himmelwärts fliehen will, verfolgt ihn Kumarbi und beißt ihm das Geschlechtsteil ab. Kumarbis Freude über das verschlungene Sperma des Vorgängers, der entmannt den Himmel erreicht, verwandelt sich in eine lastvolle Schwangerschaft. Kumarbi muß wahrscheinlich drei Gottheiten gebären, darunter den Fluß AranzahÙ (Tigris) und den Wettergott Tesâsâop. Der Mythos erklärt mit seiner durchaus nicht widerspruchsfreien Kombination von zeitlich fixierter Sukzession, Theomachie und Theogonie eine Weltordnung, in der die wasserspendenden Gottheiten, allen voran der Wettergott, in sich wiederholender, kultisch vergegenwärtigter Auseinandersetzung mit anderen Gottheiten Fruchtbarkeit und Wachstum als elementare Voraussetzungen des Lebens garantieren. Schöpfung entsteht durch Kampf und muß im (jahres)zeitlich fixierten _______________ 8

Vgl. zum Folgenden HAAS, Religion, 82–99.

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Kampf verteidigt werden. Weitere Mythen erzählen die vielfache, auch kontingente Bedrohung des Kosmos, differenzieren durch Theomachie das Weltbild und begründen durch Bewahrung bzw. Restitution der Ordnung welterhaltende Kulte und förderliche Lebensverhältnisse. Die Bewahrung der Trennung von Himmel und Erde (Trennung des Himmelsstürmers Ullikummi von der Schulter des Weltenträgers Upelluri mit der Sichel) ist dabei ebenso konstitutiv wie die an altsyrische Tradition erinnernde Bedrohung der lebensfreundlichen Ordnung durch die Chaosmacht des Meeresungeheuers 0Ùedammu. Nicht von ungefähr spielen die erwähnten Mythen in der Bucht von Iskenderun, zuweilen unter Einbeziehung des unweit gelegenen prominenten Götterbergs HÙazzi, des Zaphon ugaritischkanaanäisch-hebräischer, des Kasion Oros griechischer Tradition (Dschebel el-Aqra‘).9 Ein gutes halbes Jahrtausend später begegnen – in veränderten geneologischen Verhältnissen – unverkennbar die gleichen mythischen Motive in griechischem Gewande bei dem böotischen Dichter Hesiod, dessen Vater aus der westkleinasiatischen Küstenstadt Kyme stammt.10 Das Werk, das später Theogonie genannt worden ist, präsentiert die genealogische Verzweigung der an Streit und Rache reichen Götterwelt der Griechen unter der Herrschaft von Zeus, dem „wissenden Vater der Götter und Menschen, vor dessen Donnergewalt die weite Erde erzittert.“11 Nachdem Chaos, Gaia (Erde), Tartaros (Unterwelt) und Eros uranfänglich schnell nacheinander entstanden sind12, bestimmen Theogonie und Theomachie in der Sukzession von drei Göttergenerationen die Handlung. Gaia gebiert Uranos (den Himmel), Partner ihrer Liebe und „den seligen Göttern ein sicherer Sitz für ewig“.13 Die Kinder aus ihrer Verbindung statten Götterwelt und Weltbild reichlich aus. Als jüngstes, doch keineswegs letztes der Kinder wird Kronos als Protagonist der nächsten Göttergeneration geboren. Er vollstreckt _______________ 9 Zu dem Götterberg vgl. KOCH, K., HÙazzi – Sdafo­n – Kasion. Die Geschichte eines Berges und seiner Gottheiten, in: J ANOWSKI, B. u. a. (Hg.), Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen Kleinasien, Nordsyrien und dem Alten Testament (OBO 129), Freiburg (Schweiz)–Göttingen 1993, 171–223. 10 Text: Hesiodi Theogonia, Opera et Dies, Scutum, hg. von F. SOLMSEN, Fragmenta Selecta, hg. von R. Merkelbach/M. L. West, (OCT), Oxford 31990; WEST, M.L., Theogony with Prolegomena and Commentary, Oxford 1966; vgl. ferner W ALCOTT, P., Hesiod and the Near East, Cardiff 1966. 11 Hesiod, Theogonie, Z. 457f. nach der Übersetzung von SCHIRNDING, A. VON, in: Hesiod, Theogonie · Werke und Tage, Darmstadt 19972, 39.41. 12 Vgl. zum Folgenden Hesiod, Theogonie (A. 10), Z. 116–210; zur Theogonie des Orpheus, wie sie durch den Papyrus von Derveni bezeugt ist, und ihrem Verhältnis zur Theogonie Hesiods vgl. B URKERT, W., Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern, München 2003, 96–106; Übersetzung und wichtige Einblicke in den Papyrus geben Studies on the Derveni Papyrus, hg. von A. LAKS/G. W. MOST, Oxford 1997. 13 Hesiod, Theogonie (A. 10), Z. 128; zur Übersetzung vgl. SCHIRNDING, A. VON, 15.

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am Vater Uranos die Rache, die Mutter Gaia ersonnen hat. Da nämlich Uranos die verhaßten Götterkinder nicht aus dem Schoß der Gaia hervorkommen läßt, verbirgt sich Kronos in ihrem Innern, bewaffnet mit einer scharfen Sichel. Als sich Uranos der Gaia voller Liebesverlangen naht, schneidet Kronos das Geschlechtsteil seines Vaters mit der Sichel ab und wirft es hinter sich. Die Trennung von Himmel und Erde ist vollzogen, bleibt ihre ursprungshafte Nähe auch weiterhin folgenreich. So nimmt Gaias Schoß die Blutstropfen des Uranos auf, gebiert Erinnyen, Giganten und melische Nymphen, während aus dem ins Meer gelangten Geschlechtsteil des Uranos Aphrodite entsteht. Kronos ist nun der Herrscher über die Götter und die Welt. Scheinbar unbesorgt um die Herrschaft des Kronos widmet sich Hesiods Theogonie zunächst der Ausbreitung des Geschlechtes der Uranionen, bei der allerdings immer schon die Herrschaft des im Rahmen der Erzählfolge noch nicht geborenen Kroniden Zeus vorausgesetzt wird.14 Die Antizipation der Herrschaft des Zeus relativiert diejenige des Kronos. Seine Herrschaft steht unter der Angst vor der Geburt des Sohnes, der ihn gemäß einer Prophezeiung von Gaia und Uranos seiner Königswürde berauben wird.15 Deshalb verschlingt Kronos alle Kinder, die er mit seiner Gattin Rheia zeugt. Auf den Rat von Gaia und Uranos hin bringt die schwangere Rheia den jüngsten Sohn Zeus auf Kreta zur Welt. Während er dort gut verborgen ist, präsentiert Rheia dem Kronos einen in Windeln gewickelten Stein, den der Getäuschte gierig verschlingt. Der unaufhaltsame Aufstieg des Zeus geht mit der Entmachtung des Kronos einher. Seine letzte Tat besteht im Ausspeien des Steines, den Zeus zur Kultstätte Pytho, bekannter als Delphi, bestimmt. Die Herrschaft des Zeus steht zunächst weiter im Zeichen der Theomachie.16 Sie ist das Movens der Sicherung der Herrschaft und der Weltgestaltung, sei es in der Auseinandersetzung des Zeus mit Prometheus, dessen Frevel zur Erschaffung der Frau führt, sei es in seinem Kampf gegen die Titanen mit Hilfe der Riesen Obriareos, Kottos und Gyes, sei es in seinem Kampf gegen Typho(eu)s/Typh(a)on, der im hethitischen IlluyankaMythos einen Vorläufer hat.17 Der Sieg über die lebensfeindlichen Mächte eröffnet eine neue Phase der Theogonie, die nun nicht mehr der Erschaffung sukzessiver, miteinander rivalisierender Göttergenerationen dient. Vielmehr etabliert Zeus durch die Geburt in der Regel triadischer Gotthei_______________ 14

Vgl. Hesiod, Theogonie (A. 10), Z. 211–452; Erwähnungen von Zeus in Z. 328.348.386.388.399.412.428, mehrfach zudem mit seinen Epitheta. 15 Vgl. zum Folgenden Hesiod, Theogonie (A. 10), Z. 453–500. 16 Vgl. zum Folgenden Hesiod, Theogonie (A. 10), Z. 501–880. 17 Vgl. HAAS, Religion (A. 7), 703–707; HENTEN, J. W. VAN, Art. Typhon, DDD2 (1999) 879–881.

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ten stabile Weltverhältnisse.18 In der Mischung aus lebensfreundlichen und lebensfeindlichen Elementen wird daraus die Welt, wie sie sich mit Hilfe der Götter verstehen und im Unzugänglichen mit Hilfe der Götter ertragen läßt. Die Menschen, Kreaturen zwischen göttlichen Willensakten und Schicksalsmächten, erfahren Zeus als König der Götter (und dann auch der Menschen), dessen Herkunft als Wettergott, verstärkt durch kleinasiatische Traditionen, noch gut erkannt werden kann, der nun aber als höchster olympischer Gott Wahrer der Weltordnung ist, unterstützt, behindert und begrenzt durch eine weit verzweigte Götterfamilie, die den vielfältigen Erfordernissen religiösen Erklärens und Verstehens zu dienen versucht. Die Königsherrschaft des Zeus über förderliche und feindliche Mächte, nicht zu vergessen die, die seiner Herrschaft entzogen sind, bietet eine Welterklärung, in der Providenz und Kontingenz in eine belastbare Balance gebracht worden sind. Profunder Kritik und beißendem Spott ist das olympische Weltbild in griechischer Tradition indessen erstaunlich schnell ausgesetzt worden.

3. Die altsyrische Religion nach dem Baal-Epos aus Ugarit Die altsyrische Religion Ugarits, die enger mit dem mythischen Substrat aus dem altanatolischen Raum als mit Hesiods Theogonie zusammenhängt, ist durch ihre Nähe zur Bucht von Iskenderun und zum Götterberg HÙazzi/Zaphon/Kasion Oros/Dschebel el-Aqra‘ geprägt. Theomachie und Königsherrschaft sind auch hier bestimmende Motive, allerdings in anderer Konstellation und in Konzentration auf die Göttertrias Baal, Yamm und Mot, die weit von der Vielzahl der Götter in Hesiods Theogonie entfernt ist. Will man die Konzentration auf die Göttertrias im ugaritischen BaalMythos angemessen würdigen, wird man zuvor den religiösen Hintergrund in den Blick nehmen müssen, auf dem der Baal-Mythos in Ugarit als theologische Leistung außerordentlicher Art zu verstehen ist. Eine beträchtliche Vielzahl von Gottheiten gehört nämlich auch in Ugarit zur religiösen Normalität. Davon kann man einen Eindruck in der Zusammenstellung von Gottheiten in Opferlisten bekommen, welche die Zuwendung von Opferleistungen festlegen.19 Es ist deutlich, daß die im Baal-Mythos bestimmende Trias Baal, Yamm und Mot in den Opferlisten keine entsprechende Rol_______________ 18

Vgl. Hesiod, Theogonie (A. 10), Z. 881–962; auch die Kinder, die aus der Verbindung von Göttinnen mit Sterblichen hervorgehen, gehören noch in diesen Zusammenhang (vgl. Z. 963–1022). 19 Vgl. zum Folgenden P ARDEE, D., Ritual and Cult at Ugarit (Writings from the Ancient World 10), Atlanta, GA 2002, 11–24; folgende Texte wertet P ARDEE aus: RS 1.017 = KTU 1.47; RS 24.264+ = KTU 1.118; RS 20.024; RS 24.643:1–9 = KTU 1.148,1–9.

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le spielt. Vielmehr repräsentieren die Listen die Götterwelt, die das Weltbild der Menschen von Ugarit widerspiegelt. Alle Bereiche des Lebens sind numinos durchwaltet und befinden sich in göttlicher, allerdings nicht selten unklarer oder strittiger Zuständigkeit. Die Götter auf dem Berg Zaphon stehen der Nennung einzelner Gottheiten voran. Daß nach der Nennung des Urahns der Götterfamilie Els der summus deus El selbst erscheint, ist seiner Position im Pantheon geschuldet. Er ist zwar Haupt, nicht aber Hauptakteur des Pantheons, vielmehr ein deus otiosus, ein Schöpfergott ohne Schöfungsmythos, ein König, dessen Herrschaft zwar unstrittig, aber kaum von Belang ist, ein freundlicher und gütiger Gott, der Streit in der jüngeren Göttergeneration schlichten soll, dabei aber nicht machtvoll handelt, sondern eine Schachfigur im Machtkalkül der anderen ist.20 Baal, der Wettergott, hat in den Opferlisten eine prominente Position inne. Im Unterschied zum Baal-Mythos, in dem seine Benennung als Herr der Erde und als Allmächtiger universale Bedeutung und ausgeprägte Individualität nahelegt, werden in den Opferlisten verschiedene Baale genannt. Auf den Baal vom Zaphon, der dominierend vorangestellt ist, folgen sechs weitere Baale, von denen es jeweils lapidar heißt: noch ein Baal. Man wird hier an die vielfachen lokalen Manifestationen des Wettergottes in den Panthea der Stadtstaaten Nordsyriens in der Spätbronzezeit denken müssen, von denen manche aus der näheren Umgebung Ugarits so bekannt waren, daß sie auch in Ugarit selbst bei den Opfern berücksichtigt worden sind. Es gibt keine expliziten Reflexionen darüber, wie sich die lokalen Manifestationen des Wettergottes zu seiner individuellen Repräsentation im Baal-Mythos verhalten. Man wird jedoch mit der Annahme kaum fehlgehen, daß die Vielzahl der Manifestationen mit der Einheit des Gottes mühelos vereinbar war. Die Situation in Ugarit ist in dieser Hinsicht nur ein Widerschein der Situation in Altanatolien, wo der Wettergott auf eine lange Geschichte von Götteridentifikationen zurückblicken kann und in einer Vielzahl von lokalen Manifestationen bekannt ist.21 _______________ 20

Zu El vgl. HERRMANN, W., Art. El, DDD2 (1999) 274–280. Vgl. HAAS, Religion (A. 7), 315–339 mit aufschlußreichen Hinweisen, welche Identifikations- und Ordnungsstrategien zur Verbindung der Vielheit mit der Einheit des Wettergottes zum Zuge gekommen sind: z.B. durch Spezifizierungen des regional dominierenden Teššop als „Teššop des Lebens“, „Teššop des Heerlagers“, „Teššop der Rettung“, „Teššop der Anrufung“ (333) oder durch Organisation bedeutender Gottheiten zu einer Wettergottfamilie (337). Kultzentren der Verehrung des Wettergottes sind die Städte Kumme, HÙalab und Ugarit gewesen. Doch es gibt viele weitere Orte die mit dem Wettergott verbunden sind (vgl. G ESSEL, B. H. L. VAN, Onomasticon of the Hittite Pantheon [HdO XXXIII/1–2], Leiden–New York–Köln 1998, 482–508.643–678. Eine umfassende und differenzierte Untersuchung aller Erscheiungsformen des Wettergottes: SCHWEMER, 21

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Die in den Götterlisten aus Ugarit evidente Dominanz des Baal steht in einem Kontext von Gottheiten und divinisierten Phänomenen, die – wie es schon Hesiods Theogonie gezeigt hat – in ihrer Gesamtheit die religiöse Versorgung des Menschen gewährleisten und gerade in dieser Funktion das Weltbild konstitutiv formen. Die Präsenz der entscheidenden Götter auf dem Zaphon garantiert die Wohlordnung der Welt. Sie hat zwar im Zaphon, der selber divinisiert ist, ihr Zentrum, doch man ist von weiteren heiligen Bergen umgeben, ja Himmel und Erde insgesamt sind divinisiert (wenn auch nicht personalisiert wie bei Hesiod) und durch divinisierte Kultgeräte (Räucherständer und Leier) wie Götter im Kult zu „erreichen“. Nach dem Tod vergöttlichte Könige erleichtern den Kontakt zu den großen Göttern, und schließlich gestalten die Gottheiten für das persönliche Wohlergehen umfassend den Raum der persönlichen Frömmigkeit: Geburtsgöttinnen, Gottheiten für Divination und Gesundheit. In dieser geordneten Welt hat auch die göttliche Bedrohung ihren festen Platz: durch den Unterweltsgott Rasâap und den Chaosgott Yamm, nicht jedoch durch den Todesgott Mot. Dieser gehört in den großen Mythos, in der Sphäre von individueller Frömmigkeit und öffentlichem Kult nimmt Rasâap Mots Stellung in den Opferlisten ein. Er kümmert sich um die konkreten Formen der Daseinsminderung durch Seuchen und Krankheiten. Die Opferlisten spiegeln Götterwelt und Weltbild aus der Perspektive der von den göttlichen Entscheidungen abhängigen Menschen wider. Sie suchen ihr Wohlergehen (sâlm) durch Opfer zu sichern. Der aus Ugarit bekannte gebetsähnliche Text, der den sâlm von einer langen Reihe von Göttern, die mit den aus den Opferlisten nur zu einem geringen Teil übereinstimmen, erbittet, stellt ein gewisses Pendant zu den Opferlisten dar.22 Man darf indessen die Perspektive der Opferlisten nicht zu weit von der Perspektive der mythischen Texte abrücken. Nicht von ungefähr sind die „großen“ Götter der Mythologie mit den kleine(re)n in den Opferlisten vereint. Was für den Menschen in seiner jeweiligen Existenz, ob König oder gemeiner Mann, religiös konstitutiv ist, die gottgewollte Ordnung ______________________________________________________________________________________________

D., Die Wettergottgestalten Mesopotamiens und Nordsyriens im Zeitalter der Keilschriftkulturen. Materialien und Studien nach den schriftlichen Quellen, Wiesbaden 2001. 22 Text RS 24.271 = KTU 1.123; vgl. P ARDEE, Ritual (A. 19), 150–153. Daß es ein Pendant zu diesem Gebetstypus im Psalter nicht gibt, ist mit dem Hinweis auf die Zuständigkeit nur eines Gottes für alle Belange des Lebens nicht hinreichend zu erklären. Immerhin wäre gut vorstellbar, daß es auch im Psalter Gebete gibt, die allein mit Wohlergehen und Gesundheit des Beters befaßt sind. Die im ugaritischen Text durchgeführte Konzentration allein auf Wohlergehen und Gesundheit des Beters stellt für die Psalmen möglicherweise eine zu einseitige Reduktion dar. Psalmen wollen offensichtlich ohne ein Minimum an grundsätzlicher Deutung der Situation des Menschen coram Deo nicht auskommen. Hat dies etwas mit dem jahrhundertelangen theologischen Anreicherungsprozeß der Formulargebete und dem daraus resultierenden komplexen Profil des Psalters zu tun?

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seines Lebens, das ist auch für das Ganze der Welt ausschlaggebend. Dabei treten die Götter in den Vordergrund, deren Wirken in besonderer Weise den Kosmos betrifft. Davon erzählt der Baal-Mythos. Der Baal-Mythos besteht aus zwei Mythen-Kreisen, die im Werk des Ilumalku möglicherweise erstmals vereint worden sind: aus dem BaalYamm-Kreis (KTU 1.1–1.3) und aus dem Baal-Mot-Kreis (KTU 1.4–1. 6).23 In beiden Mythenkreisen kämpft Baal gegen eine lebensfeindliche Gottheit um die Königsherrschaft, wobei im Falle des Todesgottes Mot der Vegetationszyklus (Verdorren der Natur im Sommer) in den Mythos eingewoben ist. Allein vom Vegetationszyklus her läßt sich aber auch der Baal-Mot-Kreis nicht deuten. Vielmehr ist das zentrale Thema beider Kreise die Königsherrschaft, welche Herrschaft über die anderen Götter und Herrschaft über die Menschen bzw. über die Erde impliziert. Das Thema des Mythos ist also weder Theogonie noch Kosmogonie, sondern Kosmokratie im umfassenden Sinne der Herrschaft eines Gottes über die anderen Götter und über die Menschen. Dabei ist das entscheidende Movens die Theomachie. Von Anfang an ist im Baal-Mythos der Bau eines Tempel-Palastes Manifestation und Streitobjekt göttlicher Königsherrschaft.24 Im Baal-YammKreis veranlaßt der summus deus El den göttlichen Architekten Koscharwa-Chasis, Baal, dessen Königsherrschaft vorausgesetzt wird, einen Tempel-Palast zu bauen. Doch dann ist es nicht Baal, sondern der Chaosgott Yamm, häufig „Herrscher Strom“ (tGpto nhr) genannt, der von El favorisiert wird. Die Gründe für Els Sinneswandel sind aufgrund des schlechten Zustandes des Textes an dieser Stelle nicht bekannt. Jedenfalls verheißt El seinem Sohn Yamm den Tempel-Palast, wenn er Baal die Königsherrschaft entreißt. Göttliche Königsherrschaft gilt im Mythos als ewig, wird jedoch zugleich als begrenzte apostrophiert. Darin liegt für den Mythos kein Gegensatz, sondern die Manifestation von Ordnung, die göttlichen Ursprungs und deshalb ewig ist, aber gleichwohl den Wechsel unter wenigen Göttern, die alle mit El in Verbindung stehen, kennt.25 El initiiert zwar den Wechsel, hat auf ihn aber keinen entscheidenden Einfluß. Wie stark der Zwang zum Herrschaftswechsel und die sich darin abschattende Notwendigkeit _______________ 23

Zu Baal vgl. HERRMANN, W., Art. Baal, DDD2 (1999) 132–139; zu Yamm vgl. STOLZ, F., Art. Sea, DDD2 (1999) 737–742; zu Mot vgl. HEALEY, J. F., Art. Mot, DDD2 (1999), 598–603. 24 Textedition des Baal-Mythos und wichtige Literatur s. o. Anm. 5; die zitierten Stellen bedienen sich in der Regel der Übersetzung von D IETRICH/LORETZ, Der Baal-Zyklus KTU 1.1–1.6 (s. o. A. 5). Vgl. zum Folgenden KTU 1.1. 25 Nur Baal gilt sowohl als Sohn des Getreidegottes Dagan als auch des summus deus El. Auch diese Spannung wird im Mythos mühelos ertragen. Baal hat wie der hurritischhethitische Wettergott eine längere und deshalb etwas kompliziertere Familiengeschichte.

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sind, auch dem Lebensverneinenden göttliche Macht zuzugestehen, ist daran zu erkennen, daß sich auch die Baal stützende Götterversammlung dem neuen Herrschaftsanspruch beugen und selbst Baals Schwester und Geliebte, Anat, den Widerstand Baals gegen die Boten Yamms brechen muß.26 Der Bau eines Tempel-Palastes von unvorstellbaren Ausmaßen für Yamm mitten im Chaoswasser durch Koschar-wa-Chasis soll Baals Niederlage besiegeln. Dagegen rebelliert jedoch der Gott Aschtar, der wie Baal, wenn auch nicht in vergleichbarer Stellung, für Bewässerung und Vegetation zuständig ist. Der Streit verhindert den Bau und führt die Peripetie herbei.27 Erneut fällt dem Gott Koschar-wa-Chasis, der als Gott der Kunstfertigkeit und der Magie eine zentrale und zuweilen zwielichtige Stellung unter den Göttern einnimmt, eine entscheidende Funktion zu.28 Dieser auf allen Seiten tätige Königsmacher formt die beiden Waffen, mit denen Baal schließlich den Widersacher Yamm besiegt. Wieder gilt die neue Herrschaft als ewiges Königtum, welches nunmehr endgültig durch den Bau eines Tempel-Palastes auf dem Gipfel des Zaphon bestätigt werden muß.29 Geschickt wird durch das Thema des Baus einer angemessenen Bleibe für Baal der Baal-Yamm-Kreis mit dem Baal-Mot-Kreis verbunden. Um den Bau zu erreichen, wird die Tochter Els und Vertraute Baals, die Kriegsund Fruchtbarkeitsgöttin Anat, tätig. Sowohl mit massiven Drohungen als auch mit Geschenken, nicht zuletzt aber mit Hilfe der El-Gemahlin Aschirat setzt sie bei El den Bau eines Tempel-Palastes durch Koschar-waChasis für Baal durch. Die Einweihung des Tempel-Palastes wird im Kreise der Götter groß gefeiert. Baal jedoch hält es nicht bei dem Festmahl. Vielmehr schreitet er durch die Eroberung von Städten wie ein irdischer Großkönig auf einem Feldzug zu einem Machterweis sondergleichen. Es ist nicht anzunehmen, daß an dieser Art göttlicher Theophanie Anstoß genommen worden wäre. Das ist hier sowenig wie vorher bei Anats Wüten der Fall.30 Das entscheidende Element dürfte vielmehr in Baals Überschätzung seiner Macht und dem daraus resultierenden Entschluß liegen, in seinem Tempel-Palast ein Fenster anbringen zu lassen, welches er beim Bau des Hauses auf Nachfrage des Architekten Koschar-wa-Chasis in vorsichtiger Selbstbeschränkung nicht haben wollte. Der Königsmacher Koschar-wa-Chasis quittiert Baals _______________ 26

Vgl. KTU 1.2 I; zu Anat vgl. DAY, P. L., Art. Anat, DDD, Leiden u. a. 21999, 36–

43. 27

Vgl. KTU 1.2 III. Vgl. zum Folgenden KTU 1.2 IV; zu Koschar-wa-Chasis vgl. P ARDEE, D., Art. Koshar, DDD2 (1999) 490f. 29 Vgl. zum Folgenden KTU 1.3–1.4 I–VI. 30 Vgl. KTU 1.3 II. 28

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Wunsch, das Fenster der Verwundbarkeit in seinem Tempel-Palast zu öffnen, mit einem hintergründigen Lachen.31 Das Fenster im Tempel-Palast wird im Mythos auch als Spalt in den Wolken bezeichnet.32 Es wäre unzureichend, darin allein die Wolkenöffnung ins Bild gesetzt zu finden, durch die Baal seine Donnerstimme erschallen läßt. Sosehr auch gerade dies geschieht, sowenig darf übersehen werden, daß im vorliegenden Kontext Baals Donnerstimme, die die Erde erzittern läßt, nicht die theophane Macht des Wettergottes unter Beweis stellt, sondern Baals Feinde, wahrscheinlich die Helfershelfer Mots, hervorlockt, die Baal so sehr das Fürchten lehren, daß er Boten mit einer Einladung zum Todesgott schickt, um ihn umzustimmen. Dieser antwortet jedoch mit einer Gegeneinladung in seinen kosmischen Rachen, der von der Erde bis an den Himmel reicht. Dort will er Baal „in blutigen Stücken von zwei Ellen“ vertilgen.33 Die Bedrohung durch Mot stellt gegenüber derjenigen durch Yamm eine Steigerung dar. Dies ist daran zu erkennen, daß Mot durch die Erinnerung an Baals erfolgreichen Kampf gegen Yamm zu verstehen gibt, daß seine eigene Herrschaft nicht durch ähnliche Aktionen zu gefährden ist. Die kampflose Unterwerfung des „allmächtigen Baals“ zeigt, daß zur Anerkennung von Mots Machtanspruch keine Alternative besteht: „Beeile dich, oh göttlicher Mot. Ich bin dein Sklave, und zwar auf ewig.“34 Der Mythos verausgabt sich nicht, Gründe für die erneute Beendigung der Herrschaft Baals beizubringen. Hier herrscht die allseits bekannte und keiner Plausibilisierung bedürftige Notwendigkeit. Nicht von ungefähr ist hier die keineswegs allgegenwärtige Schicksalsgöttin Manat im Spiel.35 Noch deutlicher wird die fundamentale Bedrohung durch Mots Machtergreifung dadurch, daß Baal nicht mehr Herr der Erde ist und seiner Herrscherpflicht, die Erde mit Wasser zu versehen und Fruchtbarkeit zu gewährleisten, nicht mehr nachkommen kann. Mot stellt zufrieden fest: „Wie kann [Baal] befeuchten, wie kann Hadd besprengen?“36 – wissend, daß Götter und Menschen die Folgen zu spüren bekommen werden. Das ugaritische Wort arso bezeichnet nämlich zugleich die Erde und die Unterwelt.37 _______________ 31

Vgl. KTU 1.4 VII,1–35 und vorher V,58–VI,15. Vgl. KTU 1.4 VII 19.28; vgl. KORPEL, M. C. A., A Rift in the Clouds. Ugaritic and Hebrew Descriptions of the Divine (UBL 8), Münster 1990 . 33 Vgl. KTU 1.4 VII,27–VII,48; 1.5 I,1–II,25; Zitat: 1.5 I,5f., wahrscheinlich auch zu ergänzen in II,32f. 34 Vgl. KTU 1.5 I,1–4 = II,10–12.17–20. 35 Vgl. KTU 1.4 VII,56f, rekonstruiert unter Gebrauch von KTU 1.8 II,9–11; zu Manat vgl. SPERLING, S. D., Art. Meni, DDD2 (1999) 566–568. 36 KTU 1.5 III,21f. 37 Vgl. OLMO LETE, G. DEL, Mitos y Leyendas de Canaan segun la Tradicion de Ugarit (FciBi 1), Madrid 1981, 518; AHw 245; HALAT 88a. 32

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Ist der „Baal der Erde“ (b‘l arso) im Machtbereich des Mot (arso), ist die Scheidung zwischen Erde und Unterwelt aufgehoben. Mot herrscht allenthalben, nicht sogleich allen bewußt, aber nachhaltig und schwer zu begrenzen. Der Tod des Todes ist nicht wie Baals Sieg über Yamm mit Hilfe bestimmter Götter vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen. Allerdings wird Mot mit Bedacht das Epitheton König vorenthalten. Der summus deus El, der Baal immer noch im Besitz der Königsherrschaft wähnt und sein Fehlen erst an der Tafel der Götter bemerkt, muß durch Boten erfahren, daß LMZ „Baal der Erde“ nunmehr unter der Herrschaft des Todesgottes Mot steht.38 Er kann sein Schicksal nicht wenden, sondern nur wie ein Mensch die Trauerriten für den Toten vollziehen. Anat, Baals mächtige Schwester-Geliebte, kann zunächst auch nichts anderes tun, doch dann ergreift sie mit Hilfe der Sonnengöttin Schapasch die Initiative, Baal dem Machtbereich Mots zu entziehen.39 Zunächst vollzieht sie seine Bestattung auf dem Gipfel des Zaphon und die Durchführung dem Gotte gemäßer Reinigungsriten, wie sie durch seinen Tod notwendig geworden sind. Sie kümmert sich alsdann um die Wiederherstellung lebensfördernder Ordnung auf Erden, indem sie sich den Göttern als heiratswillige Witwe präsentiert. Der von El und Aschirat als Nachfolger auf Baals Thron erkorene „gewaltige Aschtar“, ein eher unbedeutender Gott, erweist sich als Fehlgriff. Die ihm zugetraute Aufgabe übersteigt seine Kapazitäten. Erst nachdem die Unersetzlichkeit Baals für die gute Ordnung auf Erden auch auf diese Weise demonstriert worden ist, wagt sich Anat an den Todesgott Mot selbst heran. Ihre Bitte, Baal herauszugeben, beantwortet Mot mit dem Verweis auf seinen unersättlichen Hunger auf Menschen, dem auch Baal zum Opfer gefallen sei. Die unmittelbar folgende bedrohliche Beobachtung, daß Sonne und Himmel durch Staub und Schmutz kontaminiert sind, macht deutlich, daß Mot gegen die numinose Ordnung gefrevelt hat, wenn auch sein Sieg über Baal schicksalhaft notwendig war.40 Nur so ist es zu erklären, daß Anat unter diesem bedrohlichen Vorzeichen erfolgreich gegen Mot vorgehen kann. Sie spaltet ihn mit dem Schwert, worfelt, verbrennt, zermahlt ihn und sät sein Fleisch auf dem Feld aus, wo es die Vögel vertilgen. Die Sequenz der Bilder kombiniert Ernte, Verarbeitung des Getreides und grausamen Tötungsakt.41 Der Mythos will viel _______________ 38

Vgl. zum Folgenden KTU 1.5 IV–VI. Das Epitheton „Baal = Herr der Erde“ wird für Baal gerade in diesem Teil des Mythos, in dem ihm die Herrschaft über die Erde genommen ist, gerne verwendet, um die bestehende Bedrohung der lebensspendenden Ordnung vor Augen zu führen (vgl. KTU 1.5 VI,10; 1.6 I,42f.; III,3.9.21; IV,5.16). 39 Vgl. zum Folgenden KTU 1.6 I–II. 40 Vgl. KTU 1.6 II,24f. 41 Vgl. KTU 1.6 II,30–37.

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zugleich. Er will jahreszeitliche Rhythmen andeutend deuten, er will aber vor allem den Einfluß der Götter auf die Welt verstehen lehren. Dabei geht es um die Frage der Herrschaft, von der Leben und Tod im Himmel wie auf Erden abhängen. Der solcherart getötete Todesgott Mot ist nach wie vor eine gefährliche göttliche Potenz. Die Frage nach göttlicher Herrschaft ist umfassender als die Frage nach Leben und Tod. Genauer: Leben und Tod sind nicht primär an einer Person, sei sie Gott oder Mensch, objektiv zu verifizieren. Leben und Tod entscheiden sich daran, wer die Herrschaft hat und unter wessen Herrschaft man steht. Dementsprechend ist der letzte Abschnitt des Mythos der Frage gewidmet, wodurch die Rückkehr Baals ins Leben geschieht, nämlich lebensfreundliche Ordnung wieder Stabilität erlangt, und wodurch schließlich der Tod des Todes(gottes) besiegelt ist – natürlich immer in dem Wissen, daß Ewigkeit und Endgültigkeit der Herrschaft im Herrschaftswechsel liegen, der Bewahrung und Bedrohung der Welt in ein Verhältnis rhythmisch geordneter Asymmetrie zugunsten des Lebens bringt. Die Rückkehr Baals ins Leben, die schon mit der Rückkehr des toten Baal auf den Zaphon eingeleitet worden ist, bedarf weiterer entscheidender Schritte. Dazu gehört der Traum des summus deus El, daß Öl vom Himmel regnet und Honig in den Bächen fließt. So wird El die Schicksalswende kundgetan, die er vollmächtig deutet: „Denn es lebt der allmächtige Baal, es lebt der Fürst, der Baal der Erde.“42 Alles steht nun unter dem Vorzeichen des neu beginnenden Lebens, das von der noch zu erweisenden Rückkehr Baals ins Leben abhängt. Sie wird durch die Suche der Anat entscheidend vorangetrieben, welche – auch dies ein Hinweis auf das neue Leben – nun prononciert Jungfrau (btlt) genannt wird.43 Anat bittet die Sonnengöttin Schapasch, welche auch schon geholfen hatte, den toten Baal auf den Zaphon zu bringen, um ihre Unterstützung. Doch zu wissen, wo der tote Baal liegt, heißt noch nicht, den Ort zu kennen, wo der lebende Baal zu finden ist. Die Rückkehr ins Leben besteht nicht in der magischen Wiederbelebung des toten Baals. Es ist die Frage der Herrschaft, des Gottkönigtums, das in einer geheimnisvollen Ordnung aus Schicksal und Götterkampf zugleich zugeteilt und errungen wird. Auch die Sonnengöttin Schapasch gibt ein verheißungsvolles Zeichen, indem sie Anat gebietet: „Gieße funkelnden Wein in den Becher, es bringe Kränze die Jugend deiner Familie, dann werde ich den allmächtigen Baal _______________ 42

Vgl. KTU 1.6 III; Zitat: III,20f. Vgl. zum Folgenden KTU 1.6 IV–VI. Soweit der Erhaltungszustand des Textes zu erkennen gibt, kommt mit feiner Ironie Mot die Rolle zu, Anat zum ersten Mal wieder Jungfrau zu nennen (vgl. KTU 1.6 II,14). 43

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suchen.“44 Der darin liegende Hinweis auf das Verkosten des neuen Weins, wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Neujahr als Tag der Rückkehr Baals ins Leben, zeigt, wie sehr die gute Ordnung der Welt auf die Lebensbejahung der Götter angewiesen ist.45 Ob sie sie geschaffen haben, steht dahin. Daß sie sie durch ihren Herrschaftswechsel bedrohen und vor allem bewahren, steht außer Frage. Gleichwohl will der Mythos nicht allein den rituell vollzogenen Jahreswechsel von der sommerlichen Trockenzur herbstlichen Regenzeit abbilden. Mots Herrschaft währt mythische sieben Jahre46 und kann nur durch List und Kampf der Götter beendet werden. Der von Anat bereits übel zugerichtete Mot47 droht die Vernichtung der Menschheit an, wenn ihm Baal nicht einen seiner Brüder zum Fraß gibt. Baal jedoch gelingt es offensichtlich, ihn zu täuschen, so daß Mot seine eigenen sieben Brüder verschlingt. Der anschließende Kampf zwischen Baal und Mot zeigt, daß trotz des für Mot ungünstigen Vorlaufs zwei ebenbürtige Gegner aufeinandertreffen. Schließlich ist es die Sonnengöttin Schapasch, die durch den Vorwurf, daß der Widerstand Mots gegen Baal den Vater Mots, El, erzürnen werde, den Kampf zugunsten Baals entscheidet.48 Mot selber proklamiert Baals ewiges Königtum.49 Der Mythos endet mit einem Opfer- und Festmahl, mit einem Preis der Sonnengöttin Schapasch – und mit der Nennung des Gottes Koschar-waChasis. Er firmiert zwar hier als Freund der Schapasch und erhält die Aufgabe, Arisch und Tunnan, Helfer des Meeres- und Chaosgottes Yamm, zu vertreiben. Daß der Mythos zu guter Letzt Yamm und den zwielichtigen Koschar-wa-Chasis nennt, läßt sich kaum anders als versteckten Hinweis verstehen, daß Herrschaftswechsel und Kampf um das ewige Königtum weitergehen. Baal, der Herrscher der Erde, steht jedoch für die Bewahrung lebensfreundlicher Ordnung gegen die Bedrohung, die sowohl kontingent als auch zyklisch immer wieder zu gewärtigen ist.

_______________ 44

KTU 1.6 IV,18–20. Vgl. DIETRICH/LORETZ, TUAT III/6 (A. 5), 1096–1100. 46 Vgl. KTU 1.6 V,8–10. 47 Vgl. KTU 1.6 II,30–37 und die ähnliche Passage V,10–19, in der Mot gegenüber Baal das Wissen um die Begrenztheit seiner Herrschaft zugunsten der lebensfreundlichen Macht mitteilt: „Um deinetwillen (‘lk), o Baal, habe ich erfahren den Fall...“ 48 Vgl. den ähnlichen Eingriff von Baals Gefährtinnen Anat und Aschtart zugunsten von Yamm in KTU 1.2 I,40f. 49 Angesichts der Niederlage von Mot wird seiner Herrschaft im Bild „Thron deines Königtums“ der königliche Charakter zugebilligt (KTU 1.6 VI,28; 1.6 VI,27–29 ist eine aus 1.2 III,17–18 entlehnte Formulierungsparallele). Möglicherweise wird das Bild für Mots Königsherrschasft auch in KTU 1.6 VI,2 verwendet worden sein. Der Zustand des Textes erlaubt keine klare Entscheidung. 45

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4. Rückblick und Ausblick: Polytheismus – Monolatrie – Monotheismus Der schnelle Gang durch ungefähr ein Jahrtausend Religionsgeschichte von Altanatolien bis Griechenland und von Altsyrien bis ins kanaanäische Palästina des ersten Viertels des ersten Jahrtausends v.Chr. hat deutlich werden lassen, daß die mit Götter- und Weltbildern befaßten mythischen Traditionen dieses Raumes, deren Träger ganz unterschiedliche Ethnien mit ganz verschiedenen Sprachen gewesen sind, ein überraschendes Maß an ähnlichen Motiven und übereinstimmenden Themen aufweisen. Die Affinitäten sind nur durch den regen Kulturkontakt und Kulturaustausch in dieser altorientalischen Transitregion par excellence zu erklären. Allen Traditionen gemeinsam ist das Interesse am Verstehen der Erhaltung und Bedrohung der Welt aus den Relationen, die zwischen den für die Welt entscheidenden Göttern im jeweiligen Kulturkreis bestehen. Dabei steht der Aspekt der Weltentstehung und Weltgestaltung durch Konstitutionsmythen im Sinne der prima creatio nicht im Vordergrund. Vielmehr ist es der Aspekt der Weltbedrohung und Welterhaltung, der die Mythen ganz überwiegend beschäftigt. Er bündelt sich im Thema königlicher Gottesherrschaft, welches mit den Motiven der Theogonie und Theomachie sowohl die Erlangung der Herrschaft als auch den Herrschaftswechsel entfaltet. Die königliche Gottesherrschaft hat einen reich ausgestatteten Polytheismus zur Voraussetzung, welcher aufgrund des agonalen Charakters göttlicher Herrschaft notwendig die Tendenz zur Konzentration auf wenige göttliche Handlungsträger in sich birgt. Während im hurritisch-hethitisch-griechischen Bereich die Theomachie ihr Konfliktpotential wesentlich aus der Sukzession von Göttergenerationen (Theogonie) und ihrem verzweigten Nachwuchs gewinnt, sorgt im altsyrisch-kanaanäischen Bereich eine längst existierende Göttertriade, bei deren Hauptfigur Baal sogar die Unklarheit der Filiation toleriert wird, für den Konfliktstoff. Deutlicher als im altanatolisch-griechischen Bereich steht dabei der Zusammenhang von Theokratie und Kosmokratie im Zentrum. Weltbedrohung und Welterhaltung werden in einem asymmetrischen Verhältnis zugunsten der Bewahrung der Welt gehalten, ohne die sich zyklisch wiederholenden und die kontingenten Bedrohungen der Welt zu nivellieren. Das auf diese Weise gestaltete Weltbild hat einen ähnlich hohen Plausibilisierungsanspruch wie das durch Hesiods Theogonie vermittelte Weltbild, in dem durch eine erheblich höhere Zahl von Göttern und Göttertriaden unter dem Bewahrer der Weltordnung Zeus die Komplexität der weltbildenden Elemente zu verstehen gesucht wird. Wollte man aufgrund dieser Beobachtungen die Theorie favorisieren, daß es Kulturkreise mit ausgeprägtem polytheistischem Bewußtsein und

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solche mit Entwicklungspotential vom Polytheismus zur Monolatrie, wenn nicht gar zum Monotheismus gebe, wäre dies eine unangemessene Vereinfachung. Der Polytheismus ist bleibende Voraussetzung aller dargestellten Kulturkreise. Ordnungs- und Konzentrationsprozesse innerhalb der Panthea sind bei den in einer Transitregion ständig notwendigen Götteridentifizierungen eine Frage religiöser Pragmatik und bei der hohen Bedeutung agonaler Motivik für die Gestaltung der Weltbilder eine sachliche Notwendigkeit. Wo das Thema göttlicher Königsherrschaft bei der Plausibilisierung der Weltverhältnisse in den Mittelpunkt gestellt wird, ist die Konzentration der Verehrung auf einen Gott vorgezeichnet. Doch die Konzentration ist in diesem Falle nicht der erste Schritt zur Elimination des Polytheismus, sondern dessen Affirmation. Wer um die Macht kämpft, braucht ebenbürtige Gegner, und alle kommen nicht ohne Hilfstruppen aus, die den Kampf aus der zweiten oder dritten Reihe in irgendeiner Weise beeinflussen. Es ist allerdings auch eine Option denkbar, die in Israel und Juda in einem jahrhundertelangen Prozeß verwirklicht worden ist. Die Geschichte des Gottes Yhwh beginnt keineswegs mit einem exklusiven und universalen Alleinvertretungsanspruch. Vielmehr ist seine Affinität zu dem altsyrisch-kanaanäischen Wettergottheiten ganz unübersehbar.50 Ehe Yhwh zum Gott der Unheils- und Heilsgeschichte des erwählten Volkes wurde, ist er ein Gott in Städten und Regionen des südlichen Teils der syrischpalästinischen Landbrücke gewesen, der ihn verehrenden Clans und Ethnien, die den kanaanäischen Dialekt des Hebräischen sprachen, als königlicher Eigentümer und Herr der Erde Fruchtbarkeit und Rettung aus konkreten und kosmischen Bedrohungen versprach. Im Blick auf die konkreten Bedrohungen ist die Welt des Todes von besonderer Bedeutung, welche mit ihren zahlreichen Agenten die Beter aus dem Machtbereich des Gottes Yhwh zu entwenden versucht. Im Blick auf die kosmischen Bedrohungen spielt die numinose Macht des Chaosmeeres die entscheidende Rolle. Die im Blick auf Yhwh präformierende Kraft des Kampfes Baals gegen Yamm ist in den ältesten Psalmen unverkennbar. Daß es sich dabei erst um die sekundäre Integration einer kanaanäischen Motivik in den Charakter Yhwhs handele, ist kaum wahrscheinlich. Eher hat Yhwh immer zu _______________ 50

Aus der Fülle der Literatur vgl. folgende unterschiedlich akzentuierende Darstellungen: KEEL, O./UEHLINGER, C., Göttinnen, Götter und Göttersymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographnischer Quellen (QD 134), Freiburg–Basel–Wien 1992, 20015; SMITH, M.S., The Origins of Biblical Monotheism. Israel’s Polytheistic Background and the Ugaritic Texts, Oxford 2001; KÖCKERT, M., Von einem zum einzigen Gott. Zur Diskussion der Religionsgeschichte Israels, BThZ 15 (1998) 137–175; DERS., Wandlungen Gottes im antiken Israel, BThZ 22 (2005) 3–36.

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den vorderorientalischen Wettergottheiten gehört, die ohne Theomachie nicht denkbar sind und deren Durchsetzungskraft sowohl im Kampf als auch in der Herausbildung einer personalen Einheit aus einer Vielzahl von Wettergottheiten in Stadtpanthea und Regionen von Altanatolien, Altsyrien und Nordmesopotamien gut bezeugt ist. Die darüber hinausreichende Kraft der Gottheit Yhwh zur Vereinigung von Wesenszügen des Gottes El als des Freundlichen und Gütigen mit denen des Wettergottes bereits in der Königszeit der Staaten Israel und Juda im ersten Viertel des ersten Jahrtausends läßt erkennen, daß bei Yhwh ein Potential besteht, kämpferische Durchsetzungskraft gegenüber anderen numinosen Mächten zugunsten der Seinen mit einem universalen Eigentumsanspruch zu paaren, der deutlich über das Potential anderer kanaanäischer Gottheiten hinausgeht. Von einem Monotheismus läßt sich aber auch in diesem Stadium noch nicht sprechen. Der Anspruch auf universale Macht vieler Gottheiten besteht im Alten Orient spätestens seit dem dritten Jahrtausend schiedlich-friedlich nebeneinander. In dieser Hinsicht ist das Pantheon eines jeden Stadtstaates und Landes ein Universum für sich. Monotheismus gibt es in der alttestamentlichen Literatur nicht, bevor nicht die Königreiche Israel und Juda zerstört worden und damit Israel als ein neues Volk ohne Land im rechtlichen und politischen Sinne entstanden ist. Die dadurch erlittene Götterdämmerung im neu gewordenen Israel hat auch Yhwh neu werden lassen: zu einem Gott des exklusiven und universalen Monotheismus, neben dem es keine anderen Götter gibt und dessen Toleranz und Intoleranz von dem Leiden der Seinen an den Herrschern dieser Welt abhängig waren. Doch dieses Kapitel der Religionsgeschichte hätte das zweite Viertel und vor allem die zweite Hälfte des ersten Jahrtausends zum Thema, welches hier nicht mehr darzustellen ist.

Die phönizischen Stadtpanthea des Libanon und ihre Beziehung zum Königtum in vorhellenistischer Zeit* HERBERT NIEHR

1. Einleitung Die französische Phönikologin und Althistorikerin J. ELAYI beginnt ihren 1986 publizierten Artikel „Le roi et la religion dans les cités phéniciennes à l’époque perse“ mit der eindeutigen Feststellung: „Les rapports entre le pouvoir politique et la religion dans les cités phéniciennes sont très mal connus.“1 Seit ELAYIs Artikel hat sich die Quellenlage zur phönizischen Religion nicht entscheidend verändert. Neue schriftliche Quellen sind kaum bekannt geworden. Insofern sind für unsere Thematik die alten Quellen mit neuen Fragestellungen zu konfrontieren. Diese neuen Fragestellungen müssen vier Aspekte in den Blick fassen: Wo liegen die Spezifika des politischen Systems der phönizischen Königsstädte des 1. Jahrtausends v.Chr. in vorhellenistischer Zeit ? Welches sind die Hauptgottheiten der phönizischen Panthea dieser Königsstädte während dieser Zeit? Wie werden diese Hauptgottheiten im Hinblick auf das Königtum und die Stadt in Inschriften und Ikonographie vorgestellt? Welcher Art sind die Zusammenhänge zwischen Politik und Pantheon in den phönizischen Königsstädten des Libanon und welche Rolle kommt dem König gegenüber den Gottheiten zu? _______________ * Für ihre Mithilfe bei der Abfassung des Artikels danke ich Juliane Kutter (Tübingen). 1 ELAYI, J., Le roi et la religion dans les cités phéniciennes à l’époque perse, in: B ONNET, C./LIPINSKI, E./MARCHETTI, P. (Hg.), Religio Phoenicia (Studia Phoenicia IV; Collection d’Etudes Classiques 1), Namur 1986, 249–261, hier 250.

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Die folgenden Ausführungen wollen diesen Fragestellungen Rechnung tragen und einige Antwortversuche initiieren. Diese Antworten stehen insofern unter einem gewissen Vorbehalt, als künftige Grabungen im Libanon und die damit eventuell gegebenen Funde von Text- und Bildquellen unseren Informationsstand zu diesem Thema in der Zukunft deutlich modifizieren könnten.

2. Die phönizischen Königsstädte des Libanon in vorhellenistischer Zeit Nach dem um 1200 v.Chr. erfolgten Untergang der spätbronzezeitlichen Staatenwelt Syrien-Palästinas, die durch die Hethiter im Norden und die Ägypter im Süden dominiert wurde, läßt sich in der Levante das Aufkommen von neuen Stammesstaaten und Stadtstaaten registrieren, wobei die politische Gliederung in dieser Gegend kleinräumig blieb.2 Konzentrieren wir uns auf die Ostküste des Mittelmeeres von Al Mina im Norden bis zum Karmel im Süden, so ist festzuhalten, daß das im ehemaligen hethitischen Gebiet liegende Ugarit (Tell Ras Šamra) und auch das unmittelbar südlich des Nahr es-Sinn befindliche Šukšu (Tell Sukas) zerstört wurden.3 Die in der ägyptischen Einflußzone liegenden Städte südlich von Šukšu wurden hingegen nicht zerstört, weisen vielmehr eine Siedlungs- und Kulturkontinuität von der Spätbronzezeit bis in die Eisenzeit auf. Dies ist der Fall in den Königsstädten des Libanon, d.h. in Arwad, Byblos, Beirut, Sidon und Tyros.4 Die Zerstörung Ugarits hatte zur Folge, daß sich der wirtschaftliche Schwerpunkt auf andere Hafenstädte verlagerte. Im Norden nach al-Mina und nach Arwad, im Süden nach Sidon und vor allem nach Tyros. Auf dem Hintergrund der Siedlungs- und Kulturkontinuität ist die politische und soziale Geschichte sowie auch die Religionsgeschichte Phöniziens unter den Aspekten von Kontinuität und Wandel

_______________ 2

Vgl. SOMMER, M., Europas Ahnen. Ursprünge des Politischen bei den Phönikern, Darmstadt 2000, 79–90. 3 Vgl. YON, M., The End of the Kingdom of Ugarit, in: W ARD, W.A./SHARP J OUth KOWSKY, M. (Hg.), The Crisis Years: The 12 Century B.C., Dubuque–Iowa 1992, 111– 122; CAUBET, A., Reoccupation of the Syrian Coast After the Destruction of the „Crisis Years“, in: W ARD/SHARP J OUKOWSKY (Hg.), Crisis Years, Joukowsky, 123–131; LUND, J., Tell Soukas, in: GALLIANO, G./CALVET, Y., Le royaume d’ Ougarit. Aux origines de l’alphabet, Paris–Lyon 2004, 63. 4 Vgl. B IKAI, P. M., The Phoenicians, in: W ARD/SHARP J OUKOWSKY (Hg.), Crisis Years, Joukowsky, 132–141.

Die phönizischen Stadtpanthea

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zu betrachten. Dies läßt sich im Detail in den Bereichen Archäologie, Sprache und Schrift sowie Religion nachweisen.5 Als grundlegende Besonderheit des Libanon ist hervorzuheben, daß es nicht ein flächendeckendes phönizisches Königreich gab, welches diese Städte alle umfaßt hätte, sondern der Libanon in einzelne Stadtkönigtümer zerteilt war. Die Königsstädte des Libanon weisen untereinander eine Distanz von ca. 35 bis 40 Kilometern auf. Alle Städte verfügten über einen oder zwei Mittelmeerhäfen, die von entscheidender Bedeutung für den Mittelmeerhandel waren. Ebenso wichtig war das Hinterland der Städte mit seinen landwirtschaftlichen Ressourcen. Ein erster Versuch, diesen politischen Regionalismus zu durchbrechen und die Wege für eine gewisse politische und wirtschaftliche Synergie zu ebnen, stellte in der Achämenidenzeit die von den Städten Arwad, Sidon und Tyros unternommene Gründung der Stadt Tripolis dar.6 Somit stoßen wir an der libanesischen Küste auf eine spezielle Stadtstaatenkultur. Damit kommt ein gewisser Partikularismus zum Ausdruck, der sich auch im Bereich der Religion dokumentiert. Diesen Aspekt hat C. BONNET folgendermaßen charakterisiert: „Dans une Phénicie qui ne forma jamais un Etat unifié, mais qui fut plutôt une constellation de Cités-Etats autonomes, l’on peut affirmer que la religion constitua un élément fondamental de différenciation régionale et d’affirmation de l’identité culturelle spécifique à chaque entité politique, à chaque communauté urbaine. Ce qui n’excluait naturellement pas une matrice commune.“7 Die Beschränkung der folgenden Ausführungen auf die vorhellenistische Zeit erklärt sich damit, daß in hellenistischer Zeit in den phönizischen Städten das Königtum zugunsten einer aristokratischen Regierung aufgegeben wurde. Der Poliskult an den Tempeln löste damit den königlichen Kult ab.

_______________ 5

Vgl. dazu XELLA, P., Ugarit et les Phéniciens. Identité culturelle et rapports historiques, in: D IETRICH, M./LORETZ, O. (Hg.), Ugarit. Ein ostmediterranes Kulturzentrum im Alten Orient I (ALASP 7), Münster 1995, 239–266 und N IEHR, H., Baǥalšamem. Studien zu Herkunft, Geschichte und Rezeptionsgeschichte eines phönizischen Gottes (Studia Phoenicia XVII, OLA 123), Leuven 2003, 28f. 6 Vgl. B AURAIN, C./B ONNET, C., Les Phéniciens. Marins des trois continents, Paris 1992, 17. 7 B ONNET, C., Les dieux de Tyr, in: L’Association Internationale pour la Sauvegarde de Tyr (Hg.), La conscience européenne et le Liban. Tyr et la formation des civilisations méditerranéennes, Paris 1992, 115–123, hier 115f.

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3. Die Panthea Entsprechend der politischen Aufgliederung des Libanon in unterschiedliche Stadtkönigtümer ist auch keine einheitliche phönizische Religion zu erwarten.8 Über phönizische Religion zu sprechen, bedeutet deshalb primär, sich die Panthea, Tempel und religiösen Traditionen der einzelnen Königsstädte vor Augen zu führen. Dies ist anderweitig bereits mehrfach geschehen9 und muß hier nicht wiederholt werden. Es ist hingegen aufschlußreich, im Folgenden auf drei Besonderheiten der phönizischen Stadtpanthea einzugehen. An der Spitze der Panthea steht ein Hauptgott bzw. eine Hauptgöttin. Dieser Hauptgott bzw. die Hauptgöttin werden als „Herr“ oder „Herrin“ einer bestimmten Stadt angesehen. Dazu tritt ein Paredros, der aber deutlich in zweiter Linie fungiert. Daher wird die Vorstellung von einem Götterpaar an der Spitze des Pantheons nicht so klar wie dies etwa in Ugarit der Fall ist. Hinzu kommt ein Gremium aller Gottheiten einer Stadt, welches häufig pauschal als „Versammlung der Götter“ bezeichnet wird. Eine weitergehende interne Differenzierung dieser Götterversammlung ist anhand der inschriftlichen Quellen nicht auszumachen. Daneben ist nicht zu übersehen, daß auch den einzelnen Stadtbereich übergreifende Kulte bestimmter Gottheiten existieren. 3.1 Die Hauptgötter Geht man die phönizischen Königsstädte des Libanon von Norden nach Süden durch, so stößt man auf folgende Hauptgottheiten, die den Panthea vorstehen: In Byblos die „Herrin von Byblos“, 10 in Beirut der Gott Baal,11 _______________ 8 Vgl. dazu B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 191f; XELLA, P., Le religioni della Siria e della Palestina, in: FILORAMO, G. (Hg.), Storia delle religioni I. Le religioni antiche, Rom–Bari 1994, 219–262, hier 236; NIEHR, H., Religionen in Israels Umwelt (NEB EB 5), Würzburg 1998, 119; DERS., Art. Westsemitische Religion, TRE 35 (2003) 715–723, hier 718f. 9 So bei LEMAIRE, A., Déesses et dieux de Syrie-Palestine d’après les inscriptions (c. 1000–500 av.n.è.), in: DIETRICH, W./KLOPFENSTEIN, M.A. (Hg.), Ein Gott allein ? (OBO 139), Fribourg–Göttingen 1994, 127–158, hier 128–135; X ELLA, Religioni, 236–242; LIPIēSKI, E., Dieux et déesses de l’univers phénicien et punique (Studia Phoenicia XIV, OLA 64), Leuven 1995; NIEHR, Religionen, 118–147; DERS., Westsemitische Religion, 718f. 10 Vgl. XELLA, P., Le polythéisme phénicien, in: B ONNET/LIPINSKI/M ARCHETTI (Hg.), Religio, 29–39, hier 35f. und LIPINSKI, Dieux, 70–79. 11 Vgl. LIPINSKI, Dieux, 115f.

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in Sidon der Gott Ešmun12 und in Tyros der Gott Melqart.13 Unklar ist die Situation in Arwad, da hier keine phönizischen Inschriften mehr existieren und die jüngeren griechischen Inschriften vor allem die Götter Melqart und Kronos nennen.14 Was den Paredros der jeweiligen Hauptgottheiten angeht, so steht dieser in den älteren phönizischen Inschriften deutlich im Hintergrund. Ab der achämenidischen und der hellenistischen Zeit nehmen die diesbezüglichen Textzeugnisse zu. Dies gilt für den „Baal von Byblos“15 als Paredros der „Herrin von Byblos“, für Astarte als Paredros des Ešmun in Sidon16 und für Astarte als Paredros des Melqart in Tyros.17 Vielleicht ist auch in Beirut mit einer Astarte als Paredros des Gottes Baal Marqod zu rechnen.18 Ebenso wird Astarte in Arwad verehrt, allerdings ist ihre Stellung im Pantheon nicht deutlich.19 Auch für Byblos hat man das Auftreten einer Göttin Astarte diskutiert. Es stellt sich dabei die Frage, ab wann die „Herrin von Byblos“ und Astarte miteinander identifiziert wurden, wie dies die Inschrift auf einem wohl aus Byblos stammenden Thronmodell des 4. Jahrhunderts v.Chr. mit der bilinguen Widmung    – lbǥlt gbl deutlich macht.20 _______________ 12 Vgl. XELLA , P., Eschmun von Sidon, in: Mesopotamica – Ugaritica – Biblica. FS K. Bergerhoff (AOAT 232), hg. von M. D IETRICH/O. LORETZ, Neukirchen-Vluyn 1993, 481–498, hier 488–493 und L IPIēSKI, Dieux, 154–168. 13 Vgl. B ONNET, C., Melqart. Cultes et mythes de l’Héraclès Tyrien en Méditerranée (Studia Phoenicia VIII), Leuven–Namur 1988, und LIPINSKI, Dieux, 226–243. 14 Zur Übersicht vgl. YON, M./CAUBET, A., Arouad et Amrit VIIIe–Ier siècles av. J.-C. Documents, Transeuphratène 6 (1993), 47–67, hier 53–58; NIEHR, Religionen, 120f. 15 Zu diesem Gott vgl. B ONNET, C., Existe-t-il un B‘ l Gbl à Byblos ?, UF 25 (1993) 25–34, hier 32–34 und B ORDREUIL, P., Nouveaux documents phéniciens inscrits, in: AUBET, M.E./B ARTHELEMY, M. (Hg.), Actas del IV Congreso Internacional de Estudios Fenicios y Púnicos I, Cádiz 2000, 205–215, hier 205f und ebd. Abb. 1–5. 16 Vgl. B ONNET, C., Astarté (CSF 37), Rom 1996, 30–37 und ebd. 64f zu einer möglichen Erwähnung des Paares Ešmun und Astarte in einem ägyptischen Papyrus des 14. Jahrhunderts v.Chr. 17 Vgl. B ONNET, Astarté, 37–41. 18 Vgl. B ONNET, Astarté, 46. 19 Vgl. B ONNET, Astarté, 45. 20 Zu dieser Frage, zu dem Thronmodell und zur Inschrift vgl. B ORDREUIL, P./GUBEL, E., BAALIM II, Syria 62 (1985), 171–186, hier 182f; BAURAIN – B ONNET, Phéniciens, 43f; B ONNET, Astarté, 19f; XELLA, P., Pantheon e culto a Biblo. Aspetti e problemi, in: ACQUARO, E. u.a. (Hg.), Biblo. Una città e la sua cultura (CSF 34), Rom 1994, 195–214, hier 196f; G UBEL, E., Byblos: L’art de la métropole phénicienne, in: ACQUARO (Hg.), Biblo, 73–96, hier 79; NUNN, A., Der figürliche Motivschatz Phöniziens, Syriens und Transjordaniens vom 6. bis zum 4. Jahrhundert v.Chr. (OBO SA 18), Fribourg–Göttingen 2000, 185f. B ONNET, C., Phénicien šrn = accadien šurinnu ? À propos de l’inscription de Bodashtart CIS I 4, Or 64 (1995), 214–222, hier 216 hält die „Herrin von Byblos“ für eine Erscheinungsform der Astarte.

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Insgesamt ist bei der Frage nach dem Paredros des höchsten Gottes in den Königsstädten des Libanon die Dominanz der Göttin Astarte auffällig. 3.2 Die Hauptgottheit als „Herr(in)“ der Stadt und als Gott „in der Stadt“ Aufgrund einiger Inschriften wird deutlich, daß das Verhältnis der Hauptgottheit zu ihrer Königsstadt unter der Chiffre „Herr“ (bǥl) bestimmt wird. Dies findet sich in erster Linie bei der namentlich nicht mehr bekannten Hauptgöttin von Byblos, die seit der Mittelbronzezeit als „Herrin von Byblos“ bekannt ist.21 Hier ist die enge Relation zwischen der Göttin und der Stadt Byblos bereits zu einem Eigennamen geworden, der den ursprünglichen Namen der Göttin völlig verdrängt hat. In späterer Zeit zeigt sich die Gleichsetzung der „Herrin von Byblos“ mit Astarte.22 Der Gott Ešmun wird als „Herr von Sidon“ (KAI 14,18) verehrt.23 Auch für Melqart ist eine derartige Position in Tyros anzunehmen, da ihn eine auf zwei Cippi angebrachte Inschrift aus Malta explizit als „Herrn von Tyros“ (bǥl s̟r) benennt.24 Eine andere Variante, die den Bezug eines Gottes zu einer Stadt, deren Pantheon er dominiert, deutlich macht, liegt im Falle des Gottes Melqart von Tyros vor. Dieser wird in einigen Inschriften als „Melqart in Tyros“ (mlqrt bs̟r) qualifiziert.25 Im Hintergrund dieser Formulierung steht die Kultstätte des Gottes, in welcher der Gott in seiner Stadt wohnt und präsent ist. Gleichzeitig kann damit ein bestimmter Melqartkultus bzw. ein besonderer Erscheinungstyp des Gottes bezeichnet werden, um ihn so von anderen Erscheinungsformen Melqarts abzugrenzen. Diese drei genannten Gottheiten, die „Herrin von Byblos“, Ešmun von Sidon und Melqart von Tyros, werden auch in privaten Inschriften angerufen und ihre Kulte, besonders der Kult des Heilgottes Ešmun an seinem Heiligtum in Bostan es-Sheikh, dann aber auch in Amrith, hatten großen Zulauf. Somit agieren diese Gottheiten sowohl auf der kollektiv-offiziellen als auch auf der individuell-privaten Ebene.26

_______________ 21

Vgl. LIPINSKI, Dieux, 70–79. Zur Diskussion vgl. B ONNET, Astarté, 19–30 und s.o. 3.1. 23 Weitere Literaturangaben bei NIEHR, Baǥalšamem, 43 Anm. 37. 24 Die Inschrift bei AMADASI GUZZO, M.G., Le iscrizioni fenicie e puniche delle colonie in Occidente (SS 28), Rom 1967, 15–17 no. I und Ibis. 25 Vgl. dazu B ONNET, Dieux de Tyr, 116. 26 Vgl. XELLA, Eschmun, 492f. 22

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3.3 Stadtübergreifende Verehrung von Gottheiten Lassen sich einige Gottheiten nur im Rahmen eines bestimmten städtischen Pantheons nachweisen, so andere in unterschiedlichen Panthea. Ein solcher Fall von stadtübergreifender bzw. überregionaler Verehrung von Gottheiten findet sich u.a. bei Baalšamem, Astarte, Ešmun und Melqart. Mit Baalšamem begegnet ein Wettergott, der aufgrund seines Erscheinens am Himmel und seines Wirkungsbereichs an keine Stadt gebunden war. Dies zeigt zum einen die Tatsache, daß der Gottesname Baalšamem nie eine Verbindung mit Ortsnamen eingeht. Zum andern wird dies deutlich im Vertrag zwischen Asarhaddon und Baal von Tyros, in dem Baalšamem, Baal Malage und Baal Zaphon als transregionale Wettergötter den Stadtgottheiten Melqart, Ešmun und Astarte vorangehen.27 Dieser besondere Charakter des Baalšamem schließt die Existenz von ihm geweihten Tempeln, von denen einer in Byblos und ein anderer in Umm el-Amed nachgewiesen ist, keineswegs aus. Jedoch geht Baalšamem in keinem phönizischen Stadtpantheon auf.28 Die überregionale Verehrung des Gottes Ešmun erklärt sich mit seiner großen Popularität als Heilgott. Insbesondere ab dem 5. Jahrhundert v.Chr. läßt sich eine Abkehr von den etablierten Kulten und eine Hinwendung zu Gottheiten, die sich um das Wohl des Einzelnen und nicht nur um das Wohl des Staates kümmern, feststellen.29 Damit war die Stunde der Verbreitung des Ešmun-Kultes bis nach Amrith und auch nach Zypern gekommen. Bei Melqart liegt der Grund für seine überregionale Verehrung in seiner Zuständigkeit für die Bereiche Heilung und Königtum. Im Bereich der Heilung geht Melqart, vor allem in Zypern und dann auch in Amrith, eine enge Verbindung mit Ešmun ein.30 Im Hinblick auf das Königtum ist der älteste Melqart-Beleg überhaupt interessant. Es handelt sich dabei um die altaramäische Steleninschrift des Königs Barhadad aus Bredj bei Aleppo (KAI 201) um 800 v.Chr. Die Melqart-Stele demonstriert generell den starken phönizischen Kultureinfluss auf Nordsyrien und im besonderen das Vordringen des Melqart-Kultes bis in die Gegend von Aleppo.31 _______________ 27

SAA II, no. 5 IV 10’–19’ bei P ARPOLA, S./W ATANABE, K., Neo-Assyrian Treaties and Loyalty Oaths (SAA 2), Helsinki 1988, 27 und dazu N IEHR, Baǥalšamem, 43–45. 28 Zu Baalšamem in der phönizischen Religion vgl. N IEHR, Baǥalšamem, 35–88. 29 Vgl. XELLA, Eschmun, 484 und auch NUNN, Motivschatz, 191–193. 30 Vgl. N IEHR, H., Zur Interferenz der phönizischen Religion mit den Religionen ihrer Umwelt am Beispiel von Zypern, in: S CHWERTHEIM, E./W INTER, E. (Hg.), Religion und Region. Götter und Kulte aus dem östlichen Mittelmeerraum (Asia Minor Studien 45), Bonn 2003, 9–30, hier 17–19. 31 Zum phönizischen Kultureinfluss und zur historischen Ansetzung der Stele vgl. L IPIēSKI, Dieux, 229; DERS., The Aramaeans. Their Ancient History, Culture, Religion

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Die Göttin Astarte ist als die „déesse phénicienne par excellence“32 bzw. als „déesse pan-phénicienne, un des principaux dénominateurs communs de la religion phénicienne“33 bezeichnet worden. Der Grund für ihre überregionale Verehrung ist nicht völlig klar. Ihre große Assimilationsfähigkeit ist an der Tatsache ersichtlich, daß sie mit den ägyptischen Göttinnen Hathor und Isis, der etruskischen Göttin Uni, den griechischen Göttinnen Europa und Aphrodite sowie der mesopotamischen Göttin Inanna/Ištar geglichen werden konnte.34 Dazu kommt der Aspekt der persönlichen Frömmigkeit, da Astarte mit den Bereichen Liebe und Fruchtbarkeit assoziiert ist. Viele Widmungen von sog. Astarte-Thronen, aber auch einige bildliche Darstellungen der Göttin legen von ihrer überregionalen Popularität ein deutliches Zeugnis ab.35 3.4 Das Pantheon als Ganzes Es ist schon mehrfach in der Forschung aufgefallen, daß die phönizischen Stadtpanthea in ihrem Umfang sehr beschränkt sind. Dieser Befund entspricht dem relativ geringen Umfang von Panthea in Israel bzw. Juda oder in Transjordanien. Was die Verhältnisse in Phönizien angeht, so hat P. XELLA auf dem Hintergrund von Theokrasien und der Entstehung von Doppelgottheiten eine „tendance à la désagrégation du polythéisme en Phénicie“36 ausgemacht. Einen weiteren Grund für den geringen Umfang einiger Panthea des 1. Jahrtausends v.Chr. wird man wohl in den sozialen Gegebenheiten der levantinischen Königreiche sehen dürfen, die eben nicht mehr wie die Reiche der Hethiter und der Ägypter Großreiche mit vielen Gottheiten und entsprechend zahlreichen Tempeln darstellten, sondern äußerst kleinräumig strukturiert waren. Auf diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, daß es nur eine recht begrenzte Anzahl von Tempeln in jeder der phönizischen Königsstädte gab, ist auch der geringe Umfang der Panthea zu verstehen. Dementsprechend tritt in den phönizischen Inschriften im Unterschied zu einzelnen herausragenden Gottheiten das Pantheon als Ganzes sehr in ______________________________________________________________________________________________

(OLA 100), Leuven 2000, 215f; NIEHR, H., Religiöse Wechselbeziehungen zwischen Syrien und Anatolien im 1. Jahrtausend v.Chr., in: B LUM , H./FAIST, B./P FÄLZNER, P./W ITTKE, A.-M. (Hg.), Brückenland Anatolien? Ursachen, Extensität und Modi des Kulturaustausches zwischen Anatolien und seinen Nachbarn, Tübingen 2002, 339–362, hier 340–346. 32 So LEMAIRE, Déesses, 134 und B ONNET, Dieux de Tyr, 119. 33 So BONNET, Astarté, 50. 34 Dazu B ONNET, Astarté, 20–22.36f.63–67.120–125.143–150. 35 Vgl. B ONNET, Astarté, 150–153 und pl. II–III; V–V/1. 36 XELLA , Polythéisme, 33.

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den Hintergrund. Man hat den Eindruck, daß das Pantheon als kollektive Größe vor allem in formelhaften Wendungen begegnet, daß aber letztlich nur wenige Götter aus der Anonymität des Pantheons heraustreten. So begegnet um 950 v.Chr. in der Bauinschrift des Königs Jehқimilk von Byblos nach der Nennung der beiden Götter Baalšamem und Baal von Byblos, deren Tempel restauriert worden ist, die Versammlung der heiligen Götter von Byblos (mph̟rt ’l gbl qdšm; KAI 4,4–5). Mit mph̟rt liegt ein Versammlungsterminus vor, der sich an die ältere ost- und nordwestsemitische Versammlungsterminologie anschließt, wie sie sich mit puhru(m) im Akkadischen und Ugaritischen findet. Allerdings meint mph̟rt in KAI 4 alle Gottheiten und nicht einen kleinen Götterkreis um einen bestimmten Gott im Sinne seines Thronrates, wie dies etwa in Ugarit bei den Göttern El und Baal der Fall ist.37 Eine zweite Erwähnung des Pantheons von Byblos begegnet zu Beginn des 5. Jahrhunderts v.Chr. in der Inschrift des Königs Jehқaumilk als ’lnm („Götter“) bzw. als kl ’ln g[bl] („alle Götter von By[blos]“; KAI 10,10.16). Als Pantheon von Sidon werden zu Beginn des 5. Jahrhunderts v.Chr. in der Sarkophaginschrift des Königs Ešmunazor (h)’lnm hqdšm („die heiligen Götter“; KAI 14,9.22) bzw. ’ln s̟dnm („die Götter der Sidonier“; KAI 14,18) genannt. Eine innere Struktur der phönizischen Panthea wird grundsätzlich nicht greifbar. Ist eine solche etwa für das Pantheon von Ugarit aufgrund diverser Götterlisten, Rituale und Mythen erkennbar, so liefern phönizische Inschriften des 1. Jahrtausends v.Chr. derartige Informationen nicht.

4. Zum Zusammenhang zwischen Politik und Pantheon in den phönizischen Königsstädten des Libanon Es ist aufgrund der geringen Anzahl phönizischer Inschriften aus dem Mutterland nicht einfach, einen Einblick in die politischen Strukturen des Libanon vom Beginn der Eisenzeit bis zum Ende der Achämenidenzeit zu erlangen. Deutlich sind zwei politische Grunddaten: Das Königtum an der Spitze der Stadtstaaten38 und die fehlende übergreifende Struktur eines phönizischen Königreiches. _______________ 37

Vgl. XELLA , Polythéisme, 35. Zum Königtum in den phönizischen Stadtstaaten vgl. E LAYI, J., Recherches sur les cités phéniciennes à l’époque perse (SAION 51), Neapel 1987, 21–37; B AURAIN / B ONNET, Phéniciens, 143–146; B ONDI, S.F., Les institutions, l’organisation politique et administrative, in: KRINGS, V. (Hg.), La civilisation phénicienne et punique. Manuel de recherche (HdO I/20), Leiden 1995, 290–302, hier 291–295. Zur Ikonographie des Königtums vgl. GUBEL, E., Une nouvelle représentation du culte de la Baalat Gebal?, in: 38

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Dabei ist die Verfassung der phönizischen Königsstädte nicht so klar wie wir sie gerne sähen. Grundlegend ist zunächst die Existenz eines dynastischen Königtums, welches schon aus der El Amarna-Korrespondenz bekannt ist. Die phönizischen Quellen nennen nur den König, dazu einmal den Statthalter und Militärbefehlshaber (KAI 1,2). Sonst bleibt die Struktur der Herrschaftsausübung völlig unklar. Das Stadtstaatensystem mit einem eigenen König an der Spitze steht in unmittelbarer Kontinuität zu den politischen Verhältnissen der Spätbronzezeit in der Levante. Jedoch gibt es immer weniger die spätbronzezeitlichen Palastzentren wie etwa in Ebla und Ugarit. Diese halten sich zwar noch in den nicht zerstörten Königsstädten der Levante bis zum Beginn des 1. Jahrtausends v.Chr., sind dann aber aufgrund einer neuen wirtschaftlichen Entwicklung im Rückzug begriffen. Es bilden sich vielmehr in den Städten Eliten heraus, da sich Politik und Ökonomie zunehmend als eigene Bereiche verselbständigen. Das Königtum wurde hingegen mehr und mehr auf seine sakralen Grundlagen reduziert.39 Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist ab dem 8. Jahrhundert v.Chr. das Aufkommen der Fernhandelskaufleute und -händler, die führend waren bei der phönizischen Expansion in den Mittelmeerraum.40 Mit ihnen kam eine neue städtische Elite auf, die den Wandel von Stadtkönigtum und ______________________________________________________________________________________________

B ONNET/LIPINSKI/M ARCHETTI (Hg.), Religio, 263–276 und DERS., La royauté phénicienne d’après le paramètre iconographique, in: ARGO, Centre d’Études Comparées des Civilisations Anciennes de l’Université Libre de Bruxelles (Hg.), Les moyens d’expression du pouvoir dans les sociétés anciennes (Lettres Orientales 5), Paris–Leuven 1996, 131–156. 39 Zu diesem Vorgang in Syrien vgl. generell LIVERANI, M., The Collapse of the Near Eastern Regional System at the End of the Bronze Age. The Case of Syria, in: ROWLANDS, M. u.a. (Hg.), Centre and Periphery in the Ancient World, Cambridge 1987, 66– 73 und KLENGEL, H., The ‚Crisis Years’ and the New Political System in Early Iron Age Syria. Some Introductory Remarks, in: B UNNENS, G. (Hg.), Essays on Syria in the Iron Age (ANES Suppl. 7), Leuven 2000, 21–30; zur Entwicklung in den phönizischen Königsstädten vgl. B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 143; B ONDÌ, La société, in: KRINGS, Civilisation, 345–353, hier 345–347 sowie SOMMER, Europas Ahnen, 189–266 und DERS., Die Phönizier – Handelsherren der Eisenzeit, AW 35 (2004) 19–28, hier 21–26. 40 Zur Verwendung des Terminus „Expansion“ anstelle von „Kolonisation“ vgl. die Überlegungen bei SOMMER, Europas Ahnen, 99–121. Zur neueren Sicht der phönizischen Expansion im Mittelmeerraum im Hinblick auf ihre Hintergründe und Vorgänge vgl. N IEMEYER, H.G., Die frühe phönizische Expansion im Mittelmeer. Neue Beiträge zu ihrer Beschreibung und ihren Ursachen, Saeculum 50 (1999) 153–175 und DERS., Die Phönizier am Mittelmeer. Neue Forschungen zur frühen Expansion, in: BRAUNHOLZINGER, E.A./MATTHÄUS, H. (Hg.), Die nahöstlichen Kulturen und Griechenland an der Wende vom 2. zum 1. Jahrtausend v.Chr., Möhnesee 2002, 177–195. Die phönizischen Siedlungen im Mittelmeerraum behandelt auf der Grundlage der Texte LIPIēSKI, E., Itineraria Phoenicia (Studia Phoenicia XVIII, OLA 127), Leuven 2004.

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Palastwirtschaft zum politischen Verband erst ermöglichte.41 Die Wurzeln zur Entstehung einer solchen Elite lassen sich bereits in der Spätbronzezeit ausmachen. Sie sind gegeben mit dem Machtverfall der unter ägyptischer Vorherrschaft stehenden Kleinkönige einerseits und dem wirtschaftlichen Aufschwung nach den Krisenjahren um 1200 v.Chr. andererseits.42 Der assyrische Druck auf die Levante ab dem 9. Jahrhundert v.Chr. und die damit verbundenen wirtschaftlichen Herausforderungen angesichts einer steigenden Nachfrage nach Rohstoffen wie Metallen und Holz und nach Prestigegütern wie Metallarbeiten, Elfenbeinarbeiten und Purpurstoffen trugen des weiteren zum Emporkommen von wirtschaftlichen Eliten in den Königsstädten des Libanon bei.43 Seinen Höhepunkt fand dieser Prozeß der Zurückdrängung des Königtums dann mit der Abschaffung des Königtums in hellenistischer Zeit. Hiermit waren sicherlich enorme Auswirkungen auf den Kult verbunden, die aber im Rahmen dieses Referates nicht mehr dargestellt werden können. Fragt man weiter nach den Herrschaftsstrukturen in den Königsstädten des Libanon, so sind die aus den Inschriften zu erlangenden Auskünfte sehr begrenzt. So widersetzt sich immer noch ein bestimmtes Phänomen in den phönizischen Inschriften einer eindeutigen Erklärung. Es geht dabei um die unterschiedlichen Herrschaftsumschreibungen der Könige. So finden sich einerseits Wendungen wie „König von Byblos“ bzw. „König über Byblos“44 oder „König von Kition und Idalion (und von Tamassos)“,45 andererseits Wendungen wie „König der Sidonier“ und „König der Tyrener“.46 Es ist die Frage, ob die zweite Wendung für eine Einschränkung der königlichen Gewalt steht, so daß nur eine Verfügungsvollmacht über die Bürger im Sinne einer politischen Leitung, aber kein Besitz der Stadt und des Umlandes gemeint wäre.47 Die häufig in der Literatur diskutierte Volksversammlung der phönizischen Königsstädte ist nur sehr schwer nachweisbar. Es gibt Indizien für sie aus dem Reisebericht des Wen-Amun für das Byblos des _______________ 41 Dazu LIVERANI, Collapse, 72; BONDÌ, Société, 346f; N IEMEYER, Expansion; DERS., Phönizier, 185f; SOMMER, Europas Ahnen, 260–266. 42 Vgl. SOMMER, Europas Ahnen, 189–238. 43 Vgl. B OTTO, M., Studi storici sulla Fenicia. L’VIII e il VII secolo, Pisa 1990, 19– 108 und die einschlägigen Quellen bei SAPORETTI, C., Testimonianze neo-assire relative alla Fenicia da Tiglat-Pileser III ad Assurbanipal, in: BOTTO (Hg.), Studi, 109–243 und SOMMER, Phönizier, 22. 44 KAI 1,1; 4,1; 5,1–2 (teilw. erg.); 6,1 (teilw. erg.); 7,1–3; 9,1; 10,1–2.7.9.13; 11 u.ö. 45 KAI 32,1–2 (teilw. erg.); 33,1–2; 38,1–2; 39,1–2 (teilw. erg.); 41,5–6; 288,1; 289,1–2 (teilw. erg.) u.ö. 46 KAI 13,1; 14,1–2.13–15; 15; 16; 31,1; 281; 292 u.ö. 47 Vgl. ELAYI, Recherches, 42f und B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 146f.

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11. Jahrhunderts v.Chr., sodann aus dem Asarhaddon-Vertrag für Tyros sowie weitere Hinweise auf die Existenz von Kollegien und Bürgergruppierungen aus persischer Zeit.48 Auf Zypern erfolgte in der 1. Hälfte des 4. Jahrhunderts v.Chr. die Widmung eines Tropaion an den Gott Baal Oz durch König und Volk (KAI 288). Eigens zu nennen ist wieder Arwad. Während der Spätbronzezeit wurden die Geschicke der Stadt nicht von einem König, sondern von einem Gremium der „Leute von Arwad“ gelenkt. Ein König von Arwad wird erst 853 v.Chr. im Rahmen einer antiassyrischen Koalition gegen Salmanassar III. anläßlich der Schlacht von Qarqar genannt.49 Justiz, Militär und Verwaltung sind für uns aufgrund der geringen Anzahl der phönizischen epigraphischen und archäologischen Quellen nicht greifbar. Die assyrischen Annalen nennen militärische Befehlshaber für das 9. und das 8. Jahrhundert v.Chr. und Herodot kennt aus der Zeit der Mederkriege Kommandanten der phönizischen Flotten.50 Zusammenhänge zwischen Politik und Pantheon zeigen sich in Inschriften und in der Ikonographie auf mehrfache Weise. So hat der König eine besondere Beziehung zu den Hauptgottheiten seiner Stadt. Er begegnet als Erbauer der Tempel und als Stifter von Weihegaben. Des weiteren amtiert der König als Priester.

_______________ 48

Zur Übersicht und Diskussion vgl. B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 146–151; BONDÌ, Institutions, 291–295; ELAYI, Recherches, 39–53; SOMMER, Europas Ahnen, 202.246– 249. Dagegen ist die in KAI 60,1 genannte Versammlung der Sidonier als Kultgruppe zu verstehen; vgl. E LAYI, J., Sidon, cité autonome de l’empire perse, Paris 1989, 120.122f und AMELING, W., Ȁȅǿȃȅȃ ȉȍȃ Ȉǿǻȍȃǿȍȃ, ZPE 81 (1990) 189–199 gegen TEIXIDOR, J., L’assemblée législative en Phénicie d’après les inscriptions, Syr 57 (1980) 453–464. Der „Vorsteher der Hundert“ ist vielleicht auf eine militärische Gruppierung zu beziehen, vgl. zur Diskussion E LAYI, Recherches, 51 und B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 148–150, die allerdings eher zugunsten einer zivilen Deutung dieses Titels argumentieren. 49 Vgl. BRIQUEL-CHATONNET, F., Arwad et l’empire assyrien, in: Ana Šadî LabnƗni lnj allik. Beiträge zu altorientalischen und mittelmeerischen Kulturen. FS W. Röllig (AOAT 247), hg. von B. P ONGRATZ-LEISTEN/H. KÜHNE/P. XELLA, Neukirchen-Vluyn 1997, 57– 68 und DIES., Le statut politique d’Arwad au IIe millénaire, in: AUBET/B ARTHÉLEMY (Hg.), Actas, 129–133. Zu Arwad in assyrischer Zeit vgl. D IES., Arwad, cité phénicienne, in: ACQUARO, E. (Hg.), Alle Soglie della Classicità. Il Mediterraneo tra Tradizione e Innovazione I, Pisa–Rom 1996, 63–72. 50 Vgl. dazu ELAYI, Recherches, 34–36 und D IES., Sidon, 113. Vgl. zum Militär noch BRIZZI, G., L’armée et la guerre, in: KRINGS (Hg.), Civilisation, 303–315 und zur Verwaltung noch B ONDÌ, Institutions, 293–295.

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4.1 Der König vor der Gottheit Die phönizischen Königsinschriften lassen die besonders enge Verbindung des Königs zum Hauptgott seiner Stadt gut erkennen. Dies zeigt sich etwa seit der Spätbronzezeit anhand der Amarnabriefe aus Byblos 51 und in der Eisenzeit anhand der phönizischen Inschriften aus Byblos, die die enge Beziehung des Königs zur „Herrin von Byblos“ deutlich machen.52 Ähnliches gilt für die Beziehung der Könige Ešmunazor und Bodaštart zum Gott Ešmun in Sidon.53 Ebenso standen die Könige von Tyros in einer engen Beziehung zum Stadtgott Melqart. C. BONNET hat diese vor etlichen Jahren so charakterisiert: „Les rois de Tyr ne sont en quelque sorte que les hypostases du roi mythique de la cité, Milk qart, de sorte que le dieu, en retour, présente un certain caractère humain en tant qu’ancêtre des rois et fondateur de la cité.“54 Hinter diesem Phänomen steht grundsätzlich die Tradition der vergöttlichten Könige und ihres segensreichen Wirkens zugunsten ihrer Nachfolger, wie sie seit der 2. Hälfte des 3. Jahrtausends und dann vor allem während des 2. Jahrtausends v.Chr. in den syrischen Königsstädten Ebla, Mari, Alalach, Qaina und Ugarit konzipiert wurde.55 Diese enge Beziehung des Königs von Tyros zu Melqart wird des weiteren anhand der altaramäischen Melqart-Stele von Bredj (KAI 201) und später aus dem Alten Testament ersichtlich, da in Ez 28,1–10 das Gott_______________ 51 Vgl. EA 68,4; 69,5; 70,3; 73,4; 74,2–3; 75,3; 76,3–4 u.ö. und dazu XELLA, Pantheon, 200–202. 52 Vor kurzem hat V IDAL, J., A King with no Gods, AoF 31 (2004), 148–155 das auffällige Fehlen von Göttern in der Sarkophaginschrift für König Ahiirom (KAI 1) mit der Stellung des Königs als Usurpator und mit einer bewussten Abkehr vom Kult der „Herrin von Byblos“ erklären wollen. Ob eine derartige Abkehr überhaupt denkbar ist, sei dahingestellt. Hinzu kommt, daß auch andere Gottheiten in dieser Inschrift nicht erwähnt werden. Des weiteren ist es gegen VIDAL sicherlich nicht möglich, die Bauinschrift KAI 4 als Indiz für einen Verfall des Tempels der „Herrin von Byblos“ zu bewerten, da in diesem Text die Göttin nicht auftritt; vgl. B ONNET, B‘l Gbl. Insgesamt scheint mir V IDALS These die Sarkophaginschrift KAI 1 hinsichtlich ihrer Beweislast doch zu überfrachten. 53 Vgl. dazu die Bearbeitung der Inschriften des Bodaštart bei B ONNET, C./XELLA, P., Les inscriptions phéniciennes de Bodashtart roi de Sidon, in: AMADASI GUZZO, M.G./ LIVERANI, M./MATTHIAE, P. (Hg.), Da Pyrgi a Mozia. Studi sull’ archeologia del Mediterraneo in memoria di Antonia Ciasca (Vicino Oriente–Quaderno 3/1–2), Rom 2002, 93–104. 54 B ONNET, Melqart, 196. 55 Dazu BONNET, Melqart, 417–433; XELLA, Polythéisme, 37–39; DERS., Le soi-disant «Dieu qui meurt» en domaine phénico-punique, Transeuphratène 22 (2001) 63–77, hier 72–76; LIPIēSKI, Dieux, 227–229; NIEHR, H., Herkunft, Geschichte und Wirkungsgeschichte eines Unterweltsgottes in Ugarit, Phönizien und Israel, UF 30 (1998) 569–585; P INNOCK, F., Note sull’iconografia de Melqart, in: AMADASI GUZZO/LIVERANI/ MATTHIAE (Hg.), Pyrgi, 379–389.

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königtum des Königs von Tyros die Zielscheibe der prophetischen Kritik darstellt. Auch wenn hiermit keine Primärquelle aus Tyros vorliegt, so dürfte der Status der Könige von Tyros doch zutreffend charakterisiert sein.56 Bei der Thematik „Der König vor der Gottheit“ geht es im einzelnen um folgende Gegebenheiten: Die „Herrin von Byblos“ hat Jehiaumilk zum König gemacht (KAI 10,1–2) und die Könige von Byblos bezeichnen die „Herrin von Byblos“ als ihre „Herrin“ (’dt; KAI 5,2; 6,2; 7,4). Ebenso tritt die Bezeichnung der „Herrin von Byblos“ als „Fürstin (des Königs)“ (rbt; KAI 10,3.7) auf. Für König Ešmunazor von Sidon und seine Mutter Emaštart ist Astarte „unsere Fürstin“ (rbtn; KAI 14,15). Des weiteren bezeichnet König Baalšillem von Sidon den Gott Ešmun als seinen Herrn (’dn; KAI 281) und der Sohn des Königs Abdelonim nennt die Astarte von Sidon seine Fürstin (rbt; KAI 292,1).57 Damit stimmt überein, daß in der etruskisch-phönizischen Inschrift aus Pyrgi (ca. 500 v.Chr.) der König von Caere eine Widmung an Astarte die Fürstin (rbt) adressiert.58 Ein weiterer Zug im Verhältnis des Königs zur Hauptgottheit seines Stadtpantheons ist damit gegeben, daß der König für seine eigene Person um lange Tage und Jahre über seine Stadt bittet (KAI 4,3–7; 5,2; 6,2–3; 7,4–5; 10,8–9), auf Segen hofft (KAI 10,8; 281; 288,5) und für erwiesene Wohltaten dankt (KAI 10,2–3.7–8; 288,1–4). Somit sind es die Gottheiten, die den König leben lassen. Der König gibt dieses Leben an sein Volk weiter, weshalb er auch als „Vater und Mutter“ seines Volkes bezeichnet wird. In diesem Kontext sind auch die byblischen Königsnamen Jehiimilk und Jehiaumilk zu situieren.59 Somit hat der phönizische König die Stellung eines Mittlers zwischen Göttern und Menschen sowie eines Repräsentanten der Götter.60 Die Art der Beziehung des Königs zu den Göttern wird in den Inschriften mit dem Terminus technicus s̟dq bezeichnet, der ein konstitutives Ele-

_______________ 56 Zum Textkomplex von Ez 27 und 28 vgl. zuletzt CORRAL, M.A., Ezekiel’s Oracles against Tyre. Historical Reality and Motivations (BibOr 46), Rom 2002, 156–163; zu Ez 28,1–10 vgl. bes. B ONNET, Melqart, 42–46. 57 Zu den Titeln ’dn, ’dt und rb bzw. rbt vgl. B ONNET, Astarté, 24–26 und HOFTIJZER, J./JONGELING, K., Dictionary of the North-West Semitic Inscriptions (HdO I/21), Leiden 1995, 15–17.1045–1051. 58 Vgl. den Text bei B ONNET, Astarté, 121. 59 Zu diesem Motiv in den phönizischen Inschriften vgl. GUZZO AMADASI, M.G., Le roi qui fait vivre son peuple dans les inscriptions phéniciennes, WO 15 (1984) 109–118 und B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 143f. 60 Vgl. B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 144.

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ment der nordwestsemitischen Königsideologie darstellt.61 Es zeigt sich daran eine Kontinuität zu den spätbronzezeitlichen Städten der Levante, wie sie insbesondere anhand der Texte aus Ugarit und der Amarnakorrespondenz deutlich wird.62 Hinsichtlich der phönizischen Tradition sind dazu drei Königsinschriften aus Byblos und aus Sidon anzusprechen. König Jehқimilk von Byblos bezeichnet sich in seiner Bauinschrift als mlk s̟dq wmlk yšr lpn ’l gbl qdšm (KAI 4,6–7). Schon allein durch das literarische Genus von KAI 4 als Bauinschrift, welche die Restaurierung eines Tempelkomplexes der Götter Baalšamem und Baal von Byblos kommemoriert, wird deutlich, daß König Jehiimilk mit seiner Selbstqualifikation als mlk s̟dq sein Verhältnis zu den Göttern im Sinne der Loyalität in den Blick faßt. Dazu gehört auch das Ausüben einer gerechten Herrschaft über Byblos, was mit seiner Qualifikation als mlk yšr zum Ausdruck kommt. Sodann ist auf die Inschrift des Königs Jehқaumilk einzugehen. Auch dort bezeichnet sich der König als mlk s̟dq (KAI 10,9), womit seine Loyalität zur „Herrin von Byblos“ deutlich wird. In Sidon wird Jatonmilk, der Sohn des Königs Bodaštart, als bn s̟dq benannt (KAI 16). Hiermit liegt wohl eine Selbstbezeichnung als „Sohn der Loyalität“ vor, mit der die Kontinuität zum loyalen Verhalten des Vaters dem Gott Ešmun gegenüber betont werden soll.63 Ein weiteres hier anzusprechendes Thema stellt die Heilige Hochzeit dar. Indizien dafür gibt es aus Tyros, Sidon und Zypern. Für Tyros hat man auf den Komplex der Auferweckung des Gottes Melqart verwiesen und in diesem Kontext eine Heilige Hochzeit erschliessen wollen. Allerdings ist dieser gesamte Bereich äußerst problematisch und in seiner Deutung sehr umstritten.64 Für Sidon stützen sich die Hinweise auf den Titel Ğr qdš („heiliger Fürst“), der dem Gott Ešmun beigelegt wird, und auf das Priestertum der Könige von Sidon. Nach P. X ELLA konnte der König rituell an die Stelle des Gottes Ešmun rücken „et être considéré en quelque sorte comme _______________ 61 Dazu N IEHR, H., The Constitutive Principles for Establishing Justice and Order in Northwest Semitic Societies with Special Reference to Ancient Israel and Judah, ZAR 3 (1997) 112–130. 62 Vgl. N IEHR, Principles, 113–116 und zu Ugarit noch DIETRICH, M./LORETZ, O., Keret, der leidende „König der Gerechtigkeit“, UF 31 (1999) 133–164. 63 Zu den königsideologischen Implikationen der Inschriften KAI 4, 10 und 16 vgl. N IEHR, Principles, 116f. 64 Vgl. B ONNET, Le dieu Melqart en Phénicie et dans le bassin méditerranéen: Culte national et officiel, in : E. GUBEL – E. LIPIēSKI – B. SERVAIS-SOYEZ (Hg), Histoire Phénicienne/Fenicische Geschiedenis (Studia Phoenicia II), Leuven 1983, 195-207, hier 196; DIES., Astarté, 38f; METTINGER, T.N.D., The Riddle of Resurrection (CB OTS 50), Stockholm 2001, 83–97; XELLA, Dieu, 72–76.

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l’autre pôle (tout simplement «humain»?) de ce couple.“65 Ebenso trug die Königin Emaštart von Sidon den Titel einer Priesterin der Astarte (KAI 14,15) und das Onomastikon kennt den Personennamen Iššatelim, d.h. „Gattin des Gottes.“66 Was die phönizische Religion in Zypern angeht, so findet sich eine Anspielung auf die Heilige Hochzeit im Mythos des Kultes der Aphrodite von Paphos, dem zufolge König Pygmalion mit der Elfenbeinstatue der Aphrodite den Paphos, d.h. den Eponymen der Stadt, zeugte. Dazu geben C. BAURAIN und C. BONNET folgende Deutung: „Ce mythe qui comporte divers traits de coloration phénicienne, renvoie probablement à un marriage sacré au cours duquel la déesse, sans doute par l’entremise de sa statue, s’unissait à son parèdre, peut-être incarné par le roi local.“67 Anhand des bisher Ausgeführten wird sichtbar, daß wir in den phönizischen Königsstädten des Libanon nicht wie etwa in Sam’al einen Unterschied zwischen Göttern des Königshauses und Göttern der Stadt und des Umlandes vornehmen können.68 Auch kann nicht wie etwa in Hamath und Lu‘aš zwischen dem persönlichen Gott des Königs und dem Hauptgott des aramäischen Pantheons differenziert werden.69 Die Hauptgottheit einer phönizischen Königsstadt nimmt gleichzeitig die Rolle einer dynastischen Gottheit ein. Dies ist besonders deutlich in Byblos, wo – wie oben bereits ausgeführt – die „Herrin von Byblos“ für das Wohlergehen des Königs zuständig ist. Ebenso ist dies in Sidon ersichtlich, wo Ešmun eine dynastische Gottheit darstellt, die aber gleichzeitig als „Herr von Sidon“ bezeichnet wird. Darüber hinaus wird Ešmun als Heilgott von allen Menschen verehrt. Ebenso lohnt ein Blick auf Tyros, wo Melqart, ein ursprünglich chthonischer Gott (des Königshauses?), als Stadtgott des 1. Jahrtausends v.Chr. auftritt. Somit fallen in den phönizischen Inschriften die Rollen von Stadtgottheit, persönlichem Gott des Königs und Dynastiegottheit des Königshauses zusammen. Dies mag damit zusammenhängen, daß sich in der Gestalt des Königs die persönlich-private Ebene der Familie und die politischstaatliche Sphäre überlagern. Wie verhält es sich mit dem Status des Königs selbst? In den Kulturen Syrien-Palästinas ist während der Spätbronze- und Eisenzeit deutlich, daß _______________ 65

XELLA, Polythéisme, 36. Vgl. die Belege bei NIEHR, Religionen, 127 und dazu noch M ETTINGER, Riddle, 96 Anm. 91. 67 B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 116; vgl. dazu noch LIPIēSKI, Dieux, 305f. 68 Vgl. dazu NIEHR, H., Götter und Kulte in Sam’al, in: HUTTER, M./HUTTERBRAUNSAR, S. (Hg.), Akten des religionsgeschichtlichen Symposions »Kleinasien und angrenzende Gebiete vom Beginn des 2. bis zur Mitte des 1. Jahrtausends v.Chr.« (AOAT 318), Münster 2004, 301–318. 69 Vgl. dazu NIEHR, Baǥalšamem, 89–96. 66

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der lebende König kein Gott war, der verstorbene König aber divinisiert wurde. Dies zeigt ein Blick auf die dafür relevanten archäologischen Befunde und schriftlichen Daten aus Ebla, Mari, Alalach, Qatina und Ugarit. Des weiteren zeigen dies die königliche Nekropole von Byblos mit ihren Kulteinrichtungen und das Bildprogramm des Ahқiromsarkophags aus dem Grab V aus dieser Nekropole. Was den königlichen Totenkult angeht, so läßt sich dieser in den phönizischen Königsstädten des Libanon nicht mehr nachweisen. Es gibt keine Hinweise auf die Divinisierung der verstorbenen Könige. Der Terminus rp’m steht für Verstorbene im allgemeinen Sinne (KAI 13,8; 14,8) und ist nicht mehr auf die königlichen Toten als eine besondere Klasse von Toten beschränkt.70 Dazu paßt dann auch, daß die Königsgruft von Sidon keinerlei archäologische Anzeichen für einen königlichen Totenkult aufweist.71 4.2 Der König als Tempelerbauer und Stifter Hiermit gelangen wir in den Bereich der altorientalischen Königsideologie, der unter der Bezeichnung „le roi-bâtisseur“ bekannt ist.72 KAI 4,1–3 schildert Renovierungsmaßnahmen am Tempelkomplex73 der Götter Baalšamem und Baal von Byblos. König Šipitѽbaal errichtet eine Mauer im Tempel der „Herrin von Byblos“ (KAI 7,1–4). Die Könige Ešmunazor und Bodaštart erwähnen in ihren Inschriften Baumaßnahmen am Tempel bzw. Tempelbauten in Sidon. Es werden der Tempel der Astarte im „Sidon des Meeres“, der Tempel des Ešmun in Ainjidlal, der Tempel des „Herrn von Sidon“ und ein Tempel für die „Astarte, Name des Baal“ genannt (KAI 14,15–18; 15; 16).74 Was die sakrale Topographie dieser vier Tempel angeht, so haben C. BONNET und P. XELLA hervorgehoben, daß es sich um je zwei Tempel für Ešmun und Astarte handelt. Davon liegt jeweils einer in der Stadt und einer außerhalb. In den städtischen Tempel wurden Ešmun als Herr von Sidon und Astarte als „Name des Baal (von Sidon)“ verehrt. Außerhalb der Stadt in Bostan es-Sheikh, dem antiken Ainjidlal, wurde Ešmun als „Fürst des Heiligtums“ angerufen.75 Somit waren die poliadische Zuständigkeit des Gottes und seine Heilfunktion voneinander getrennt. _______________ 70

Vgl. HOFTIJZER/JONGELING, Dictionary, 1081f. Zur Übersicht vgl. NIEHR, Religionen, 140–144. 72 Zu den phönizischen Königen als Bauherren vgl. E LAYI, Roi, 254f und D IES., Sidon, 31. 73 Zu dieser Auffassung des Textes vgl. NIEHR, Baǥalšamem, 40, Anm. 18. 74 Die Inschriften des Königs Bodaštart sind zuletzt von BONNET/XELLA, Inscriptions bearbeitet worden. 75 Vgl. dazu XELLA, Eschmun, 489f.492 und B ONNET, Astarté, 32f. Zu den Tempeln außerhalb von Sidon vgl. noch B ORDREUIL, P., À propos des temples dédiés à Echmoun 71

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Eine derartige Aufteilung von städtischem und ländlichem Heiligtum läßt sich auch für den Gott Melqart von Tyros aufzeigen. Auf der Insel Tyros wurden Melqart und Astarte als poliadische Gottheiten verehrt. In Ušu, dem heutigen Tell Rachidiyeh, auf dem Festland stand ein weiterer Melqart-Tempel. Über diesen sind wir leider nicht weiter informiert.76 Was die königlichen Stiftungen angeht, so sind hierzu aufgrund der Inschriften aus Byblos und Sidon einige Einsichten zu gewinnen. König Abibaal von Byblos stiftete den Sockel einer Statue des Pharaos Šišak I. für die „Herrin von Byblos“ (KAI 5),77 König Elibaal von Byblos stiftete die Büste des Pharaos Osorkon I. ebenfalls für die „Herrin von Byblos“ (KAI 6). 78 Des weiteren stiftete König Jehқaumilk von Byblos der selben Göttin einen Bronzealtar, eine goldene Gravierung (?), eine goldene Flügelsonne und eine Säulenhalle mit einem Dach (KAI 10,3–6). Im Hinblick auf den archäologischen und ikonographischen Hintergrund dieser Inschrift hat E. GUBEL zeigen können, daß sich einzelne Angaben aus KAI 10 zu einem Gesamtbild vereinigen lassen. Dies ist möglich aufgrund einer Darstellung auf einer Terrakottaplakette aus dem Louvre.79 Auf dieser Plakette ist ein Gebäude mit zwei auf einem Stylobat stehenden Säulen abgebildet, in welchem eine kultische Handlung, die der auf dem Relief der Jehқaumilk-Stele entspricht, stattfindet. Auf dem Architrav über den Säulen mit ionischen Kapitellen ist eine Flügelsonne angebracht. Darüber liegen zwei Löwen als Dachakrotere zu beiden Seiten einer Palmette.80 Das Terrakottarelief bildet die Portikus ab, die König Jehқaumilk laut der Inschrift KAI 10 dem Tempel der „Herrin von Byblos“ gestiftet hat.81 Hiermit vergleichbar ist eine weitere Plakette, welche die stehende Göttin im selben Naos abbildet. Die auf der linken Seite der Plakette erhaltenen Motive verweisen zusätzlich auf den Tempel der „Herrin von Byblos“. Die Plakette wird in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts v.Chr. datiert.82 Für Sidon ist die Stiftung eines šurinnu, d.h. einer Standarte, durch König Bodaštart aus CIS I 4 belegt. Näherhin spricht die Inschrift auf dem ______________________________________________________________________________________________

par les rois Echmounazor et Bodachtart, in: AMADASI GUZZO/LIVERANI/MATTHIAE (Hg.), Pyrgi, 105–108. 76 Zur sakralen Topographie von Tyros vgl. B ONNET, Melqart, 90–96; DIES., Astarté, 32f; XELLA, Eschmun, 493. 77 Zur Textergänzung vgl. B ONNET, B‘l Gbl, 21. 78 Zu m(’)š als Votivstatue bzw. Votivgabe vgl. die Angaben bei HOFTIJZER /J ONGELING, Dictionary, 589f. 79 Es handelt sich um die Plakette Louvre AO 27197; vgl. dazu GUBEL, Représentation, 264 fig. 1; DERS., Byblos tav. IV/1 und NUNN, Motivschatz, 12f mit Taf. 1,2. 80 Vgl. zur Beschreibung GUBEL, Représentation, 265 und DERS., Byblos, 78f. 81 So GUBEL, Représentation, 273f und XELLA, Pantheon, 207f. 82 Vgl. dazu die Abbildung und die Beschreibung bei GUBEL, Byblos, 78f mit tav. IV/2.

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noch erhaltenen Sockel von 71 cm Länge und 42,5 cm Höhe83 von einem šrn ’rs̟, den König Bodaštart seiner Göttin Astarte gelobt (ndr) und errichtet (bn) habe.84 Die Inschrift datiert aus dem Jahr der Thronbesteigung des Königs und erhält dadurch ihre besondere Bedeutung.85 Der phönizische Terminus šrn ’rs̟ ist als „Standarte des Landes“ aufzufassen. Dabei handelt es sich um ein Emblem von Sidon, d.h. ein „Landessymbol“, welches der Göttin Astarte gewidmet war.86 Diese Widmung an Astarte ist ein Indiz dafür, daß der Göttin eine besondere Relevanz für die Inthronisation und den Schutz des Königs zukam, wobei auch das Land Sidon eine Rolle spielt.87 Daneben sind noch weitere Weihungen seitens der Mitglieder des Königshauses von Sidon belegt. König Baalšillem von Sidon weihte dem Ešmun ein Bild (KAI 281). Der Sohn des Königs Abdelonim unternahm auf Kos eine Baumaßnahme zugunsten von Seeleuten (t‘l) und weihte diese der Göttin Astarte (KAI 292).88 Ergänzend sei noch ein Blick auf die phönizischen Belege für Stiftungen und Weihungen aus Zypern geworfen. Zwei Inschriften aus der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts v.Chr. bezeugen Stiftungen des Gouverneurs von Karthago, der dem König von Sidon unterstellt war, an den Gott Baal Lebanon, der als „Herr“ (’dn) des Gouverneurs bezeichnet wird.89 Der Vater des Königs Milkyaton brachte im vierten Regierungsjahr seines Sohnes und Nachfolgers dem Rešep Mkl von Idalion eine Statue dar (KAI 39). König Milkyaton hatte bereits im zweiten Jahr seiner Herrschaft dem Rešep Mkl ein Votiv (mrq‘ ) gewidmet (KAI 38).90 Sodann ist die bereits erwähnte Errichtung eines Tropaion für den Gott Baal Oz durch König Milkyaton und das ganze Volk zu nennen (KAI 288).91 4.3 Der König als Priester Dieser Zug begegnet nur in den Inschriften von Byblos und Sidon, ein Umstand, der aber in den Besonderheiten der Quellenlage begründet sein mag. Während der 1. Hälfte des 1. Jahrtausends v.Chr. ist von der Zeit des _______________ 83

Die Abmessungen und eine Abbildung bei G UBEL, E. Art Phénicien. La sculpture de tradition phénicienne, Paris – Gent 2002, 81 no. 69. 84 Vgl. zum Text BONNET, šrn, 215 und GUBEL, Art, 80. 85 Vgl. B ONNET, šrn, 216. 86 Vgl. dazu ausführlich B ONNET, šrn, 220–222; DIES., Astarté, 33f; GUBEL, Art, 80f. 87 Vgl. B ONNET, šrn, 34 und DIES., Astarté, 34. 88 Dazu B ONNET, Astarté, 87f. 89 Vgl. zuletzt NIEHR, H., Interferenz, 20 und LIPIēSKI, Itineraria, 46–48. 90 Zum Gott Rešep Mkl vgl. NIEHR, Interferenz, 13 und LIPIēSKI, Itineraria, 64. 91 Vgl. zuletzt NIEHR, Interferenz, 19f und LIPIēSKI, Itineraria, 94–96.

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Königs Ahқirom (um 1000 v.Chr.) bis zur Zeit des Königs Jehқaumilk (5. Jahrhundert v.Chr.) von einem Priesteramt des Königs nicht die Rede (KAI 1–10). Allerdings ist der erste Hinweis auf die Ausübung kultischer Tätigkeiten durch einen phönizischen König mit der Stele des letztgenannten Königs Jehқaumilk von Byblos gegeben, auf deren Bildszene der König als Kultoffiziant vor der „Herrin von Byblos“ erscheint. Das hier vollzogene Ritual, vielleicht eine Libation, ist nicht ganz deutlich. Es ist auch die Frage, ob der König im engeren Sinne als Priester agiert, zumal er sich den Titel „Priester“ (khn) nicht beilegt, oder ob er einfach als Herrscher von Byblos seine Dankbarkeit der Göttin gegenüber in einem rituellen Akt zum Ausdruck bringt.92 König Ozbaal von Byblos war Sohn eines Priesters der „Herrin von Byblos“ (KAI 11). Da die Inschrift keine weiteren Filiationsangaben enthält, scheint Ozbaal der Begründer einer neuen Dynastie bzw. ein Usurpator gewesen zu sein. Möglicherweise hat sich das Mitglied des höchsten Priesterhauses von Byblos auf den Thron der Stadt gesetzt.93 Für Sidon liegen die Dinge etwas anders. So bezeichnet sich König Tabnit von Sidon in seiner Sarkophag-Inschrift als Sohn des Ešmunazor I., der Priester der Astarte und König der Sidonier war. Tabnit selbst trägt ebenfalls die Titel Priester und König (KAI 13,1–2). Der Sohn des Tabnit, Ešmunazor II., hat als Mutter die Emaštart, die er als Priesterin der Astarte bezeichnet (KAI 14,15). Ist nach dem Tode des Tabnit der Titel des Priesters der Astarte auf die Witwe des Königs übergegangen? In diesem Zusammenhang fällt auf, daß Ešmunazor II. selbst den Titel eines Priesters der Astarte nicht trägt. Vielleicht konnte jeweils nur eine Person dieses Amt inne haben, sodaß es für Ešmunazor II. erst nach dem Tod seiner Mutter freigeworden wäre. Zudem war Ešmunazor II. bei seinem frühen Tod erst 14 Jahre alt und deshalb möglicherweise auch zu jung, um das Priesteramt auszuüben.94 Die Nachfolger des Ešmunazor II. tragen den Priestertitel nicht mehr, wofür ein direkter Grund nicht auszumachen ist.95 Es dürfte jedoch klar sein, daß die Königsherrschaft nach dem Tode des Ešmunazor II. an einen Vetter, Bodaštart, dessen Vater nicht König gewesen war, überging.96 Viel_______________ 92 Vgl. auch NUNN, Motivschatz, 13 und GUBEL, Art, 66, der in dieser Szene den König als Priester deutet. 93 Vgl. auch ELAYI, Roi, 259 und B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 46. 94 So auch ELAYI, Recherches, 31f; DIES., Sidon, 111; B AURAIN/B ONNET, Phéniciens, 81; B ONNET, šrn, 214f; DIES., Astarté, 33. 95 Vgl. auch ELAYI, Roi, 253f. 96 Vgl. B ONNET, šrn, 215; B ONNET/XELLA, Inscriptions, 103f; E LAYI, J., La chronologie de la dynastie sidonienne d’’Ešmun‘azor, Transeuphratène 27 (2004) 9–27, hier 10– 14.

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leicht blieb dann das Priesteramt in der Familie des Ešmunazor I., aus der es auch ursprünglich stammte. Bei einem Vergleich der Daten aus Byblos und Sidon fällt trotz der nur spärlichen Angaben immerhin auf, daß erst ab dem 5. Jahrhundert v.Chr. die Könige zweier phönizischer Königsstädte als Priester einer der Hauptgottheiten der Stadt begegnen. Hiermit könnte eine neue Entwicklung vorliegen, die eine engere Beziehung zwischen König und Gott erkennen läßt.

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Die Karte „Die phönizischen Städte im Ostmittelmeerraum“ aus: Der Neue Pauly 9, 2000, 913f.

„Ich bin der Herr, dein Gott“ Israel und sein Gott zwischen Katastrophe und Neuanfang ERIK AURELIUS

1 Als Israel starb, starb nicht Jhwh – und deshalb starb auch Israel nicht. Das ist das Besondere an diesem Volk: daß es seinen politischen Untergang überlebte. Anders gesagt: Das Besondere am Alten Testament ist seine Existenz. Das bleibt die einfachste und sicherste Antwort auf die Frage, wie sich denn eigentlich die israelitische Religion von denen der Nachbarvölker unterscheidet; was das Besondere am Alten Testament sei. Es ist ansonsten immer schwieriger geworden, diese Frage zu beantworten, je mehr die Altorientalistik unser Wissen über Leben und Denken der Nachbarvölker vermehrt hat. Dabei sind immer mehr Ähnlichkeiten mit dem Alten Testament zutage getreten. Und welche israelitischen Besonderheiten man auch immer in der gegenwärtigen Forschungslage zu definieren versucht – niemand kann ja garantieren, daß nicht eines schönen Tages etwas sehr Ähnliches bei irgendeinem Nachbarvolk entdeckt wird. Keine Entdeckungen können indessen die Tatsache verändern, daß das Alte Testament existiert. Weder Ammon noch Moab noch Edom haben solche Schriftsammlungen hinterlassen, und was wir vom Gottesglauben in Babylonien und Assyrien wissen, haben wir zum größten Teil selber durch archäologische Ausgrabungen herausgefunden. Diese Völker und ihre Religionen haben den Untergang der Staaten auf Dauer nicht überlebt. Das nimmt auch nicht wunder, wenn man die religiöse Bedeutung des Tempels und des Staates, in der Gestalt des Königs, im Alten Orient bedenkt. Der Tempel war der Ort der heilsamen Gegenwart der Gottheit auf Erden, „die Stätte deines Thronens auf ewig“, wie es in Salomos Tempelweihgebet heißt (1 Kön 8,13). Der Platz eines Tempels war nicht von Menschen, sondern von der Gottheit erwählt; die Menschen entdecken nur die Heiligkeit des Ortes, wie es auch der israelitische Erzvater Jakob im Traum tut: „Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist das Tor des Himmels“ (Gen 28,17). Durch den Ausdruck „Gottes Haus“ begründet er den Namen der Tempelstadt Bet-El; durch den Ausdruck „Tor des Himmels“ gibt er aber vielleicht den Ursprung der Er-

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zählung zu erkennen, denn „Tor der Götter“ hieß das weltbekannte religiöse Zentrum Mesopotamiens: bab-ili, Babel, Babylon. Wenn es aber diesen von der Gottheit selbst erwählten Wohnsitz nicht mehr gibt, wenn der Tempel von Feinden zerstört worden ist, dann wird auch fraglich, ob es fortan den Gott, unseren Gott gibt, nämlich als eine auf Erden handelnde, Leben und Heil spendende Macht, die den Seinen nahe sein kann. Ähnlich verhält es sich mit dem König. Unbeschadet aller Unterschiede in den Königsideologien, also den Staatstheorien der verschiedenen Staaten im Alten Orient, hat man in ihm im allgemeinen, auf diese oder jene Weise, die zuverlässige und unerläßliche Verbindung zwischen Gott und Menschen gesehen. Das kann man auch in den Klageliedern im Alten Testament nachlesen: Unser Lebensodem, Jhwhs Gesalbter, wurde gefangen in ihren Gruben, von dem wir dachten: In seinem Schatten könnten wir leben unter den Völkern. (Klag 4,20)

Wahrscheinlich hat sich die Religion in den Königreichen Israel und Juda nicht entscheidend von den Religionen der anderen Kleinstaaten in der Nachbarschaft unterschieden. Diese kleinen Länder haben sich, soweit wir wissen, kein großes und opferhungriges Pantheon geleistet, wie etwa die reiche Handelsstadt Ugarit oder die Großmächte am Nil und im Zweistromland. Sie haben sich eher mit je einem Staatsgott begnügt und insofern Ein-Gott-Verehrung, Monolatrie, ausgeübt, nicht programmatisch, aus irgendwelchen prinzipiellen Gründen, aber als praktizierte Wirklichkeit. Heute aber ist der biblische Monotheismus über die ganze Welt verbreitet. Warum hat sich die israelitische Religion so anders entwickelt als etwa die moabitische? Bei der Beantwortung der Frage muß man eine Entwicklung im 7. und 6. Jahrhundert v.Chr. nachzeichnen, an deren Ende ein durchdachter Monotheismus und ein Verbot gegen Götterbilder stehen. Allerdings ist es mein Eindruck, daß man mit zwei teilweise voneinander unabhängigen, parallel verlaufenden Entwicklungen rechnen sollte. Auf den Grund dafür werde ich zurückkommen, aber nenne ihn kurz schon jetzt. Einerseits gab es in jener Zeit eine prophetische Tradition, andererseits Gesetze und Geschichtsschreibung, kurz: die deuteronomistische Tradition. In der prophetischen Tradition erscheint die Polemik gegen Götterbilder als eine Folge des Monotheismus. In der deuteronomistischen Tradition hingegen erscheint die zunehmende Abneigung gegen Bilder als eine Vorstufe des Monotheismus. Es ist zugegebenermaßen auffällig, zwei parallele geistesgeschichtliche Entwicklungen in einer so begrenzten Gruppe wie den Nachfahren der zwei Kleinstaaten Israel und Juda anzunehmen. Unvor-

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stellbar ist das aber nicht; man könnte es damit in Verbindung bringen, daß der Jhwh-Glaube nach der Eroberung Jerusalems und der Wegführung eines Teils der Elite nach Babylon am Anfang des 6. Jahrhunderts zwei geographische Schwerpunkte hatte: Palästina und Babylonien. – Nun sage ich zuerst ganz kurz etwas zum historischen Rahmen. Dann werde ich versuchen, die religiöse Entwicklung nachzuzeichnen.

2 Geschichtliche Zeit beginnt in Israel und Juda mit der Staatenbildung im 10. Jahrhundert v.Chr. Zu einem gewissen Schlußpunkt kommt diese Geschichte mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 n.Chr. während des großen jüdischen Aufruhrs gegen Rom. Dann hörte Jerusalem auf, ein politisches und religiöses Zentrum zu sein, und die aus der biblischen Tradition hervorgegangenen Religionsformen, das Judentum, das Christentum und der Islam sind alle drei ohne Tempel und Opfer geblieben. Die große Wasserscheide in dieser 1000-jährigen Geschichte befindet sich im 7. und 6. Jahrhundert v.Chr., genauer: in den gut zwei Jahrhunderten von 722 bis 515. Die wichtigsten äußeren Daten kann man mit vier Jahreszahlen verbinden: 722, 587, 539 und 515 v.Chr. Im Jahr 722 wurde das Königreich Israel mit der Hauptstadt Samaria von den Assyrern erobert und in das assyrische Imperium eingegliedert. Teile der Oberschicht wurden an verschiedene Stellen nach Osten weggeführt und durch andere Gruppen aus anderen Provinzen ersetzt. Andere Teile der Bevölkerung flüchteten nach Süden, zu dem ebenfalls hebräischsprechenden und Jhwh-verehrenden Nachbarstaat Juda. Im Jahr 587 wurde das Königreich Juda von der neuen Großmacht Babylon erobert und die Hauptstadt Jerusalem mit ihrem Tempel zerstört. Das gefürchtete assyrische Reich war gegen Ende des 7. Jahrhunderts wie ein Kartenhaus zusammengefallen und auf der weltpolitischen Bühne von den Babyloniern nachgefolgt. Aus Jerusalem wurden Teile der Oberschicht nach Babylonien deportiert, aber dieses Mal durften die Weggeführten unter sich in kleinen Kolonien bleiben und haben ihre sprachliche und religiöse Identität beibehalten. Im Jahr 539 zog der Perserkönig Kyros in Babylon ein. Wegen vorangehender religionspolitischen Streitigkeiten in Babylon wurde er von den dortigen Priestern als Werkzeug und Diener des babylonischen Hauptgottes Marduk begrüßt. Damit war das kurzlebige neubabylonische Reich zu Ende. Auf den Machtwechsel folgte nach ein paar Jahrzehnten eine neue Bevölkerungspolitik: Weggeführte Gruppen durften in ihre alten Länder zurückkehren und ihre alten Religionen ausüben. Viele Juden sind

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trotzdem in Babylon geblieben; andere aber zogen allmählich zurück nach Judäa. Deshalb wird die Zeit 587–539 herkömmlich die Exilszeit genannt; davor liegt dann die vorexilische und danach die nachexilische Zeit. Im Jahr 515 wurde ein neuer Tempel in Jerusalem eingeweiht, ein Ersatz des zerstörten Tempels. Damit war der alte Kult mit seinen Opferritualen und seinen Psalmen wiederhergestellt – so mag es auf der Oberfläche ausgesehen haben. In Wirklichkeit aber hatte diese Religion einen tiefgreifenden Wandel durchgemacht. Der ehemalige Staatsgott Jhwh war zum einen und einzigen Weltgott, zum einzig existierenden Gott geworden. Das hat sich mit der Zeit auch auf der Oberfläche ausgewirkt, unter anderem in neuen Psalmen und fleißiger Bearbeitung der alten.

3 Der Wandel hat seinen Ausgangspunkt bei den Unheilspropheten des 8. Jahrhunderts, vor dem Untergang des Reiches Israel. Die Propheten waren, mit einer berühmten Charakterisierung von Julius Wellhausen, „Sturmboten“: Nicht die Sünde des Volkes, an der es ja nie fehlt und deretwegen man in jedem Augenblick den Stab über dasselbe brechen kann, veranlaßt sie zu reden, sondern der Umstand, daß Jahwe etwas tun will, daß große Ereignisse bevorstehen. In ruhigen Zeiten, seien sie auch noch so sündig, verstummen sie, wie in der langen Periode des Königs Manasse, um sofort ihre Stimme zu erheben, wenn eine Bewegung eintritt. Sie erscheinen als Sturmboten, wenn ein geschichtliches Gewitter aufzieht; sie heißen Wächter, weil sie von hoher Zinne schauen und melden, wenn etwas Verdächtiges am Horizont sich sehen läßt.1 Solche Sturmboten gab es damals auch bei anderen Völkern. Das Besondere an Amos und Hosea und anderen biblischen Propheten ist zweierlei. Erstens sind sie eben biblisch in dem Sinne, daß ihre Verkündigung den Anlaß zu schriftlicher Traditionsbildung, zu Bibelbüchern gegeben hat, so daß wir jetzt ein ganzes Buch unter dem Namen Hosea, ein Buch unter dem Namen Amos usw. besitzen. Das haben wir nicht etwa von assyrischen Propheten. Zweitens: So wie ihre Verkündigung im Buche steht, haben Amos und Hosea in Israel vor dem Untergang 722 und hat vor allem Jeremia in Juda vor dem Untergang 587 nicht nur Unheil, sondern Vernichtung, die endgültige Auflösung des jeweiligen Staates angekündigt, _______________ 1

WELLHAUSEN, J., Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 71914, 107.

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und zwar durch den eigenen Staatsgott Jhwh. „Das Ende ist gekommen für mein Volk Israel“, sagt er in Am 8,2. „Ihr seid nicht (mehr) mein Volk“, sagt er in Hos 1,9. „Selbst wenn Mose und Samuel vor mich träten, hätte ich kein Herz für dieses Volk. Schaffe sie mir aus den Augen, daß sie weggehen!“ sagt er in Jer 15,1. Jhwh wird anscheinend den Ast absägen, auf welchem er sitzt. Er kündigt das Verhältnis zum eigenen Volk auf. Als Grund dafür wird angegeben, daß das Volk, insbesondere die Führenden die einfachsten Gebote der Gerechtigkeit und der Liebe mißachtet haben. Ob diese Verkündigung des endgültigen Gerichts tatsächlich von den Propheten selber stammt, ist heute umstritten. Die neue Gegenthese lautet, daß sich die Propheten Israels nicht wesentlich von den Kollegen der Nachbarvölker unterschieden. Dann hätten sie das Unheil allenfalls als eine vorübergehende Strafe angekündigt; erst spätere Tradenten hätten die Verkündigung des endgültigen Gerichts in die Prophetenbücher eingebracht.2 Der Befund ist nicht ganz eindeutig. Einerseits ist kaum bestreitbar, daß die Gerichtsverkündigung in den Prophetenbüchern zum größten Teil erst auf Tradenten zurückgeht; zum Beispiel gilt das wahrscheinlich für alle drei Sprüche, die ich zitiert habe.3 Andererseits enthalten die ursprünglichen Sprüche der Propheten, soweit ich sehe, nicht nur Ankündigungen eines vorübergehenden, sondern auch eines endgültigen Unheils von Jhwh her, wenn auch nicht in solcher Deutlichkeit und theologischer _______________ 2

Vgl. zum Beispiel B ECKER, U., Jesaja – von der Botschaft zum Buch (FRLANT 178), Göttingen 1997; DERS., Der Prophet als Fürbitter: zum literarhistorischen Ort der Amos-Visionen, VT 51 (2001) 141–165; KRATZ, R.G., Das Neue in der Prophetie des Alten Testaments, in: F ISCHER, I./SCHMID, K./W ILLIAMSON, H.M. (Hg.), Prophetie in Israel (Altes Testament und Moderne 11), Münster 2003, 1–22; DERS., Die Propheten Israels, München 2003; DERS., Die Worte des Amos von Tekoa, in: KÖCKERT, M./N ISSINEN, M. (Hg.), Propheten in Mari, Assyrien und Israel (FRLANT 201), Göttingen 2003, 54–89. 3 Jer 15,1 stammt anerkanntermaßen nicht von Jeremia. Daß Hos 1,2–9 von vornherein eine literarische Nachahmung von Jes 8,1–4 darstellt, hat LEVIN, C., Die Verheißung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt (FRLANT 137), Göttingen 1985, 235–239, wahrscheinlich gemacht (und von Hos 1 hängen Hos 2–3 ab). Daß in Am 7–9, dem Schlußteil des Amosbuches, bereits der Kern, die vier Visionsberichte 7,1–8; 8,1–2, ebenfalls späterer Bearbeitung entstammt, hat BECKER , Prophet, gut begründet. Erstens bildet dieser Kern eine kunstvoll gestaltete literarische Komposition; dabei werden die ersten zwei Berichte (mit göttlicher Reue 7,3.6) von den letzten zwei (mit Rücknahme der Reuebereitschaft: „Ich kann nicht weiter an ihm vorübergehen“ 7,8; 8,2) vorausgesetzt, und umgekehrt setzen auch die ersten zwei Berichte die letzten zwei voraus, weil die ersten jeweils mit der Aussetzung der Strafe (Reue, aber nicht Vergebung) unentschieden enden und eine Fortsetzung verlangen. Zweitens bittet Amos um Vergebung (7,2), ohne daß von Schuld die Rede war; Anklagen aus Am 3–6 werden somit als dem Leser (sic) bekannt vorausgesetzt. Und von Am 7–9* hängt alles in Am 1–2 ab (mit Ausschluß der Reuebereitschaft: „Ich werde es nicht zurücknehmen“ 1,3.6.9.11.13; 2,1.4.6).

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Begrifflichkeit wie die späteren Erweiterungen, die aus der Zeit nach der Katastrophe stammen.4 Für solche Erweiterungen gab es durchaus einen verständlichen Anlaß. Die geistige Hinterlassenschaft der Propheten Amos und Hosea wurde nach Samarias Fall 722 von Israeliten nach Jerusalem mitgebracht; sonst hätten wir nichts von diesen Propheten gewußt. Und es läßt sich unschwer vorstellen, daß die Auflösung des Staates Israel zumindest einigen Köpfen in Jerusalem ein theologisches Problem bereitet hat. Der Gott des gestorbenen Staates war Jhwh, Jhwh von Samaria. Der war wohl nun auch gestorben – aber der eigene Gott hieß ebenfalls Jhwh, Jhwh von Jerusalem. War es in Wirklichkeit ein und derselbe Jhwh, der nun gegen den fremden Gott Assur verloren hatte, als Israel von Assyrien geschluckt worden war? Es ist leicht nachvollziehbar, daß solche Fragen Anlaß zu Reflexionen und zu Erweiterung und Verschärfung der Unheilsverkündigung der Propheten Amos und Hosea gegeben haben, und zwar mit der Pointe: Jhwh hat gar nicht verloren, er hat vielmehr das ganze Elend herbeigeführt und es im voraus durch seine Propheten angekündigt. Die fremde Großmacht war ein Werkzeug in seiner Hand. Wegen der arroganten Selbstgefälligkeit seines Volkes hatte Jhwh das Verhältnis zu ihm schon aufgekündigt. „Das Ende ist gekommen für mein Volk Israel.“ „Ihr seid nicht mein Volk.“ So ist der Staat Israel gestorben, aber der Staatsgott Jhwh am Leben geblieben. Wenn Juda gut 100 Jahre später zugrunde geht, 587, dann liegt schon eine Deutung bereit: Auch diese Katastrophe war keine schlechte Überraschung für Jhwh, sondern von ihm selbst bewirkt, dieses Mal durch die Babylonier, „den Feind aus dem Norden“, wie sie im Jeremiabuch heißen. Wenn aber Jhwh die imponierenden Großmächte für seine Zwecke benutzen kann, dann wird stillschweigend vorausgesetzt, daß er über sie und nicht nur über seine Staaten Israel und Juda herrscht. Dieselbe Voraussetzung ist hinter einem Brief des Propheten Jeremia erkennbar, den er schon vor 587 geschrieben haben soll und wahr_______________ 4 Wenn Am 5,18 von Amos stammt (so K RATZ, Worte, 79), wird der Prophet schon das endgültige Gericht von Jhwh her angekündigt haben, denn den „Tag Jhwhs“ soll man sich kaum anders denn als etwas Endgültiges vorstellen. Vgl. auch das Thema „kein Entrinnen“ in den allem Anschein nach von Amos stammenden Sprüchen 3,4–6; 3,12; 5,19, und zwar in 3,6 mit Herleitung des Unheils von Jhwh. Kratz will freilich 3,6 später als 3,8 ansetzen, weil V.6 die Pointe von V.8b teilweise vorwegnehme, und weist nichts von 3,4–8 dem Amos zu (Worte, 71 Anm. 48). Eher ist aber V.8 nachträglich an V.4–6 angehängt, denn V.8 tanzt sowohl formal als auch inhaltlich aus der Reihe, letzteres indem er V.6b – wenn Unheil, dann von Jhwh – von Hauptaussage zu Begründung (für V.8) verwandelt, als ob 6b ebenso selbstverständlich wie 4a, 4b, 5a, 5b und 6a wäre. Das war er jedoch eben nicht und kommt gerade deshalb als Schluß und Höhepunkt der Reihe 3,4–6. Unter diesen Umständen besteht kein Anlaß, den Spruch 3,4–6 dem Amos abzusprechen.

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scheinlich auch geschrieben hat an die Gruppe, die bei einem früheren babylonischen Angriff auf Jerusalem bereits 597 nach Babylon weggeführt wurde: Baut Häuser und wohnt darin! Pflanzt Gärten und eßt ihre Früchte! Nehmt Frauen und vermehrt euch, daß ihr nicht weniger werdet! Sucht das Heil der Stadt und betet für sie 5 zu Jhwh, denn in ihrem Heil liegt auch euer Heil! (Jer 29,5–7*).

Das kann man Unheilsprophetie nennen: Bereitet euch auf eine unüberschaubar lange Exilszeit vor. Doch gleichzeitig ist es eine verhaltene Heilsprophetie: Jhwh hält das Geschick auch der fremden, weit entfernten Stadt in seinen Händen: „Betet für sie zu Jhwh!“ Jerusalem und Juda wird bald untergehen, aber Jhwh wird nicht untergehen; das ist Jeremias Überzeugung. Es wird sich auch weiterhin lohnen, zu ihm zu beten und auf ihn zu hoffen. Zur vollen Entfaltung kommen solche Gedanken in Deuterojesaja, der Sammlung Heilsprophetie, die in Jes 40–55 erhalten ist. Der Kern der Sammlung ist im ersten Teil, innerhalb der Kapitel 40–48 zu suchen. Er stammt wahrscheinlich von einem uns namentlich unbekannten Propheten im babylonischen Exil zur Zeit der persischen Machtübernahme. Auch hier hat Wellhausen den Befund kurz und bündig beschrieben: Unser Prophet ist wie trunken von der Idee des Allmächtigen, der Hymnus von ihm rauscht in gleichmäßigem Gewoge durch alles was er sagt. Er zuerst feiert ihn nicht bloß als den Lenker der Weltgeschichte, sondern auch als den Schöpfer der Natur, des Himmels und der Erde, als den Ersten und Letzten, den Einzigen und Alleinigen. Was ihn dabei erhebt und begeistert, ist die Zuversicht: dieser Weltgott ist und bleibt unser Gott. Er hat zwar Israel verbannt und dahin gegeben, so daß kein Reich und kein Volk mehr ist. Aber dem in den Staub getretenen, verachteten, verzweifelten Rest wendet er seine 6 Gnade zu, der elende Wurm ist ihm wert, mit Rücksicht auf ihn lenkt er den Weltlauf.

Der Prophet steht erstens in der Tradition der Gerichtsprophetie, einschließlich der ersten schriftlichen Erweiterungen und Verschärfungen; zweitens greift er auf Psalmen aus dem vorexilischen Tempelkult in Jerusalem zurück; drittens entfaltet er seine Verkündigung anscheinend in bewußter Auseinandersetzung mit anderen Religionen, vor allem mit der babylonischen Mardukverehrung. 1. Im Sinne der Gerichtsprophetie sagt er: Die Staaten Israel und Juda sind wegen der Schuld des Volkes dahin, sie wird es nicht mehr geben. Der staatenlos gewordene Gott ist aber nicht dahin. Er lenkt immer noch die _______________ 5 Zur Literarkritik vgl. WANKE, G., Untersuchungen zur sogenannten Baruchschrift (BZAW 122), Berlin–New York 1971, 42, LEVIN, Verheißung, 170. 6 WELLHAUSEN, Geschichte, 150f.

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Geschicke seines Volkes, nun aber zum Guten, zur Befreiung aus dem Exil. Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihr zu, daß ihr Frondienst vollendet, ihre Schuld bezahlt ist, daß sie doppelt empfangen hat von der Hand Jhwhs für alle ihre Sünden! (Jes 40,1)

2. Bei diesen neuen Tönen greift der Prophet auf alte Psalmen zurück, die in regelmäßig wiederkehrenden Gottesdiensten den Sieg Jhwhs über die Chaosmächte und seinen Antritt der kosmischen Königsherrschaft gefeiert hatten, zum Beispiel Psalm 93: Jhwh ist König! In Hoheit ist gekleidet, ist gekleidet Jhwh, gegürtet mit Macht. […] Es erhoben Ströme, Jhwh, es erhoben Ströme ihr Brausen, es erheben Ströme ihren Schlag. Mehr als das Donnern mächtiger Wasser, 7 gewaltiger als die Brecher des Meeres, gewaltig ist in der Höhe Jhwh. (Ps 93,1a.3–4)

oder Psalm 24: Jhwhs ist die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und seine Bewohner. Denn er hat ihn über den Meeren gegründet, über den Strömen befestigt er ihn. […] Hebt, Tore, eure Häupter, erhebt euch, ihr ewigen Pforten, daß der König der Ehren einziehe! (Ps 24,1–2.7)

Jhwh und kein anderer hat gesiegt und ist König, sagen die Psalmen. Dabei sind nicht in erster Linie fremde Götter im Blick, sondern Chaosmächte, „Meere“ und „Ströme“ als Inbegriff aller unheimlichen Kräfte, die das Leben bedrohen – Meer und Strom heißen auf hebräisch „Jam“ und „Nahar“ genauso wie der Gegner Baals in Ugarit. Jhwh hat sie besiegt und besiegt sie immer wieder, versichern die Psalmen. Aber in Babylonien, wo lauter andere Götter, allen voran Marduk in der nächsten Umgebung verehrt werden, zieht Deuterojesaja ausdrücklich die Konsequenz: Jhwh und kein anderer ist König, das heißt Jhwh und kein anderer ist Gott, Schöpfer der _______________ 7

Mit einer allgemein anerkannten Emendation; vgl. BHS.

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Welt und Besieger der Chaosmächte, einschließlich der politischen Großmacht Babylon. Das ist im Grunde nicht neu, das solltet ihr schon aus den alten Psalmen wissen, argumentiert der Prophet: Wißt ihr denn nicht? Hört ihr denn nicht? Ist es euch nicht von Anfang an verkündigt? Habt ihr es nicht gelernt von Anbeginn der Erde? Er thront über dem Kreis der Erde, und die darauf wohnen sind wie Heuschrecken; er spannt den Himmel aus wie einen Schleier und breitet ihn aus wie ein Zelt zum Wohnen; er gibt die Fürsten preis, die Richter auf Erden macht er zunichte. (Jes 40,21–23) Zieht aus von Babel! Flieht von den Kaldäern! […] Erlöst hat Jhwh seinen Knecht Jakob. (Jes 48,20) Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, […] der zu Zion sagt: Dein Gott ist König! (Jes 52,7)

3. Damit sind wir schon am dritten Punkt: Deuterojesaja entfaltet die Botschaft in Auseinandersetzung mit anderen Religionen, mit dem Glauben an andere Götter, insbesondere an Marduk.8 Ein Hauptmerkmal der babylonischen Religion war der Glaube, daß die Götter das künftige Schicksal der Menschen festlegen und es durch verschiedene Vorzeichen, nicht zuletzt am Sternenhimmel, kundtun.9 Ein Hauptmerkmal der Verkündigung des Deuterojesaja ist dementsprechend die Behauptung, daß allein Jhwh die Zukunft kennt und kundtut, zwar nicht durch die Sterne, aber durch seinen Propheten, genau so wie er früher das Gericht über Israel und Juda durch seine früheren Propheten angekündigt hat. Die Götter der Völker werden bei Deuterojesaja wiederholt dazu aufgerufen, ihren Einfluß auf den Weltverlauf unter Beweis zu stellen. Weil sie das nicht können – denn ein Volk nach dem anderen ist durch die Perser besiegt worden, während Israel durch sie befreit wird –, zieht der Prophet die Folgerung, daß sie gar keine Götter sind:

_______________ 8 Vgl. zuletzt ALBANI, M., Deuterojesajas Monotheismus und der babylonische Religionskonflikt unter Nabonid, in: OEMING, M./SCHMID, K. (Hg.), Der eine Gott und die Götter. Polytheismus und Monotheismus im antiken Israel (AThANT 82), Zürich 2003, 171–201. 9 Vgl. ALBANI, Monotheismus, 174f, mit weiteren Hinweisen.

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Sagt, was künftig kommen wird, damit wir erkennen, daß ihr Götter seid! Tut irgendetwas, Gutes oder Böses, damit wir staunen und erschrecken. Siehe, ihr seid nichts, und euer Tun ist nichts […]. 10 (Jes 41,23–24)

Ein anderes Merkmal der babylonischen Religion war, daß die Macht des Hauptgottes Marduk über die übrigen Götter ebenso wie seine Macht über die Zukunft mit seiner Herrschaft über die Gestirne zusammenhing; denn die Sterne wurden als Standorte der Götter betrachtet.11 Demgegenüber sagt Deuterojesaja von seinem Gott und dem Sternenhimmel: Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat diese geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, daß nicht eins von ihnen fehlt. (Jes 40,26)

Ein drittes Merkmal der babylonischen Religion war zu dieser Zeit, daß verschiedene Parteien den siegreichen Perserkönig Kyros als Diener des babylonischen Marduk begrüßten und in Kyros den gottgesandten Helfer gegen die andere Partei erblickten.12 Dagegen stellt Deuterojesaja Kyros vielmehr als den Diener Jhwhs, sogar seinen Gesalbten, seinen Messias dar. So spricht Jhwh zu seinem Gesalbten […]: Ich will vor dir hergehen und das Bergland eben machen, die ehernen Türen will ich zerschlagen und die eisernen Riegel zerbrechen […]. Um meines Knechts Jakobs und um meines Erwählten Israels willen rief ich dich bei deinem Namen, gab dir Ehrennamen, obwohl du mich nicht kanntest […], damit man erfahre in Ost und West, daß außer mir nichts ist. Ich bin Jhwh, und einen anderen gibt es nicht (’anî yhwh we’ên ‘ôd),

_______________ 10 Vgl. KRATZ, R.G., Kyros im Deuterojesaja-Buch. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zu Entstehung und Theologie von Jes 40–55 (FAT 1), Tübingen 1991, 164– 167. 11 Vgl. die Hinweise bei ALBANI, Monotheismus, 182–188, auch zur Tendenz, die Vielzahl der Götter als verschiedene Aspekte von Marduk zu betrachten. 12 Einerseits der letzte babylonische König Nabonid, andererseits die Mardukpriester in Babylon; vgl. die Hinweise bei KRATZ, Kyros, 165; ALBANI, Monotheismus, 192–197.

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der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin Jhwh, der all dies tut. (Jes 45,1–7)

In den letzten Sätzen wird aus dem Monotheismus die monistische Konsequenz gezogen. Alles, was passiert, wird auf einen einzigen Willen zurückgeführt. Im Zusammenhang ist das nicht überraschend: Durch Kyros bereitet Jhwh Babylon Unheil und Israel Heil. Es liegt aber nahe zu fragen, ob die Formulierungen Jhwh nicht nur gegen Marduk, sondern vielleicht auch gegen den persischen Hochgott Ahura Mazda ausspielen, der im Licht wohnt und der Finsternis fern ist.13 Daß der Monotheismus jedoch nicht notwendig, wie bei Deuterojesaja, mit Monismus verbunden ist, zeigt etwas später die Schöpfungsgeschichte im ersten Kapitel der Bibel; darauf komme ich zurück. Als nächste Stufe der Entwicklung kommt in der prophetischen Tradition die Polemik gegen Götterbilder. Sie findet sich bei Deuterojesaja durchgehend in späteren Zusätzen, die jeweils einen älteren Zusammenhang unterbrechen;14 und der Ton ist ein anderer: nicht der einer ernsten theologischen Auseinandersetzung, sondern der des aufgeklärten, rationalistischen Spottes. Man hat anscheinend die gedankliche Anstrengung hinter sich, man hat schon einen monotheistischen Gottesglauben und schreibt mit leichter Hand über hausgemachte Götter, die nicht einmal ohne Hilfe stehen können. Der Meister stärkt den Goldschmied, der mit dem Hammer den Schlosser und sagt zur Lötung: sie ist gut! und macht es fest mit Nägeln, daß es nicht wackeln soll. (Jes 41,7) Keine Vernunft und kein Verstand ist da, daß er dächte: Die eine Hälfte (scil. eines Holzstücks) habe ich mit Feuer verbrannt und hab auf den Kohlen Brot gebacken und Fleisch gebraten und gegessen – und sollte den Rest zum Götzen machen und knien vor einem Klotz? (Jes 44,19)

4 Nun zurück zu den Anfängen der anderen, der deuteronomistischen Tradition. Das Gesetzbuch Deuteronomium ist im Kern eine modernere Fassung der Gesetzessammlung, die in Ex 21–23* erhalten ist. Der Anlaß der Modernisierung war ein neues und recht merkwürdiges Gesetz, das Hauptge_______________ 13 14

Vgl. KREYENBROEK, P.G., Theological Questions in an Oral Tradition, 201. Vgl. vor allem Jes 40,18–20; 41,6–7; 42,17; 44,9–20; 45,20b; 46,5–8.

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setz des Deuteronomiums, namentlich das Verbot, woanders als in Jerusalem Opfer darzubringen. Diese Abschaffung der vielen lokalen Heiligtümer und Priester hatte Auswirkungen auf allerlei Lebensbereiche, auch auf die Rechtsprechung, und verlangte eine Neufassung des alten Gesetzes.15 Wann genau die Idee der Zentralisierung des Opferkultes nach Jerusalem aufgekommen ist, ist umstritten. Nach der Erzählung in 2 Kön 23 hat König Josia sie im Jahr 622 durchgeführt. Das könnte jedoch eine spätere Legitimation dieser großen Veränderung sein; denn solange es das Königreich Juda noch gab, war ohnehin klar, wo der Jhwh-Glaube sein theologisch maßgebliches und auch wirtschaftliches Zentrum hatte: im königlichen Reichstempel in der Hauptstadt Jerusalem. Etwa 50 Jahre später wäre die Idee leichter verständlich, nach der Eroberung Judas durch die Babylonier 587. Danach gab es kein Reich mehr, keinen König und keinen Reichstempel. Dann war es zum ersten Mal nicht selbstverständlich, wo sich das Zentrum des Jhwh-Kultes befand (und sich künftig befinden sollte). Das müßte per Gesetz geregelt werden, um der allmählichen Ausdifferenzierung und Auflösung dieser Religion und damit auch auf Dauer dieses Volkes entgegenzuwirken. Der verlangten Einzigkeit des Kultortes entspricht im Deuteronomium die behauptete Einzigkeit des Gottes Jhwh, wie sie im sogenannten Schema proklamiert wird: „Höre Israel, Jhwh ist unser Gott, Jhwh ist einer“ (šema‘ yiĞrƗ’el yhwh ’ælohenû yhwh ’æhLƗd, Dtn 6,4). Daß die älteste Fassung des Deuteronomiums durch diese Proklamation eröffnet wurde, wird selten bezweifelt. Die Deutung und die genaue Übersetzung der Proklamation sind aber notorisch umstritten. Wörtlich übersetzt lautet sie »Jhwh unser Gott Jhwh ein«. Entscheidend für die Deutung sind drei Fragen. 1. Warum wird der Name Jhwh zweimal genannt? Die einfachste Antwort ist, daß er zweimal Subjekt ist, in zwei Sätzen, die formal parallel und deshalb wohl auch sachlich parallel sind und etwa dasselbe über Jhwh behaupten: „Jhwh (ist) unser Gott, Jhwh (ist) einer.“16 2. Warum heißt es „unser Gott“ (’ælohenû), nicht „dein Gott“ æ (’ lohækƗ), wie es sonst immer wieder im Deuteronomium heißt (235mal gegen 23mal yhwh ’æloheynû) und besonders hier nach der singularischen Anrede „Höre Israel“ (šema‘ yiĞrƗ’el) zu erwarten wäre? Eine erste Antwort muß lauten, daß das „unser“ dem Bekenntnis offenbar wichtig ist. _______________ 15

Zum folgenden vgl. AURELIUS, E., Der Ursprung des Ersten Gebots, ZThK 100 (2003) 1–21; DERS., Die fremden Götter im Deuteronomium, in: OEMING/SCHMID (Hg.), Der eine Gott, 145–169, besonders 165–169. 16 Wie LEVIN, Verheißung, 98, bemerkt: Die Wiederholung des Namens Jhwh „wäre wenig sinnvoll, wenn das vorhergehende ’æloheynû Apposition wäre. Es muß folglich als Prädikat gelesen werden“.

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3. Warum wird das Zahlwort „ein“ (’æhLƗd) benutzt? Hatte jemand behauptet, daß es mehr als einen Jhwh gäbe? Ja – jedenfalls war es durch Jahrhunderte hindurch eine geläufige Erfahrung gewesen, daß Israel und Juda im Krieg miteinander waren, daß also Jhwh von Samaria ins Feld gegen Jhwh von Jerusalem zog. Es war in den zwei Staaten sicher nicht selbstverständlich, daß hier wie dort derselbe Jhwh verehrt wurde. Erst nach Israels Untergang 722 setzt der Prozeß ein, der wohl durch Judas Fall 587 beschleunigt und jedenfalls durch das Deuteronomium kräftig gefördert wird; hier werden Nachkommen beider Staaten als ein Volk angeredet: „Höre Israel!“17 Bei diesem ungewohnten, starken Traditionen zuwiderlaufenden Prozeß hat wahrscheinlich die Proklamation „Jhwh ist unser Gott, Jhwh ist einer“ ihre erste Rolle gespielt.18 Denn auf diesem Hintergrund lassen sich alle drei Fragen zum Schema einfach beantworten. 1. Der Name Jhwh wird zweimal genannt, weil er zweimal Subjekt ist, in zwei Sätzen; und der formalen Parallelität der Sätze entspricht die sachliche Synonymität: Jhwh ist unser (beider) Gott, Jhwh ist einer (und nicht zwei). 2. Die Pluralform „unser“ wird deshalb benutzt, weil Jahrhunderte von Streitigkeiten überwunden werden sollen: Jhwh ist unser gemeinsamer Gott, nicht nur Judas und nicht nur Israels. 3. Das Zahlwort ’æhLƗd bedeutet dasselbe wie überall sonst: einer, ein einziger, im Unterschied zu zwei oder mehreren: Jhwh ist ein Jhwh, genauso wie sein Volk ein Volk ist: Israel. Damit sind die drei Herzstücke des Deuteronomiums genannt: ein Kultort, ein Jhwh, ein Jhwh-Volk. Dieselben drei Anliegen prägen den Grundbestand der Königsbücher, der die Geschichte Israels und Judas von David und Salomo bis zur Zerstörung Jerusalems 587 v.Chr. darstellt und um die Mitte des 6. Jahrhunderts, vor der hier noch nicht erwähnten persischen Eroberung Babylons hergestellt worden ist. Einerseits wird in den Königsbüchern die Idee der Kultzentralisation mit ermüdender Eintönigkeit eingeprägt; sie war offenbar neu und ungewohnt zu dieser Zeit. Ihre Mißachtung wird als die große Sünde, die Ursache des Untergangs beider Staaten hingestellt, obwohl die Väter den Maßstab gar nicht kannten, mit dem die Söhne sie messen (das kommt bekanntlich auch sonst in Geschichtsschreibung vor und muß nicht immer von Nachteil sein). Andererseits wird in den Königsbüchern anscheinend jeder Konflikt zwischen Israel und Juda gewissenhaft vermerkt, und doch läßt der Verfasser keinen Zweifel daran _______________ 17

Zu diesem Prozeß vgl. K RATZ, R.G., Israel als Staat und als Volk, ZThK 97 (2000)

1–17. 18

Mit einer ansprechenden Vermutung von LEVIN, C., Über den „Color Hieremianus“ des Deuteronomiums (1996), in: DERS. (Hg.), Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament (BZAW 316), Berlin–New York 2003, 81–95, 89; DERS., Das Alte Testament, München 2001, 70.

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aufkommen, daß der Gott Jhwh hier wie dort derselbe und deshalb auch das Volk im Grunde ein und dasselbe ist, wenn auch lange Zeit in zwei Staaten geteilt. Wir sind ein Volk, lautete das Programm; unser Kultort ist einer, unser Gott Jhwh ist einer, und unsere Vergangenheit ist eine und nicht zwei. Der erste Teil des Schema, „Höre Israel, Jhwh ist unser Gott“, hat eine breite und folgenreiche Wirkungsgeschichte in der sogenannten Bundesformel bekommen, das heißt der in verschiedenen Varianten begegnenden Aussage, daß Jhwh der Gott Israels und/oder Israel das Volk Jhwhs sei, zum Beispiel in Jer 7,23: Hört auf meine Stimme (= gehorcht mir), so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein,

oder in der ‚Heiratsurkunde’ zwischen Jhwh und Israel in Dtn 26,17–18, nach der Mitteilung aller Gesetze: Jhwh hast du heute sagen lassen, daß er dein Gott sein wolle und daß du auf seinen Wegen wandeln und seine Satzungen und Gebote und Rechte halten und auf seine Stimme hören wirst. Und Jhwh hat dich heute sagen lassen, daß du sein Eigentumsvolk sein wol19 lest, wie er dir zugesagt hat, und alle seine Gebote halten wollest.

Israel ist nicht mehr einfach deshalb Jhwhs Volk, weil es das seit eh und je gewesen ist. Der natürlichen, unhinterfragten Beziehung zum Staatsgott hatte die Geschichte durch den Untergang beider Staaten ein Ende gemacht. Die prophetische Deutung der Geschichte hatte das noch unterstrichen, als sie den Untergang jeweils als Folge der wohlüberlegten Kündigung der Gemeinschaft durch den Staatsgott Jhwh darstellte. Freilich war dadurch auch unterstrichen worden, daß Jhwh keineswegs verloren hatte, sondern unbeirrt die Weltgeschichte weiterführte. Hier zeigt sich nun die zweite Entwicklungslinie, die nicht zum Propheten Deuterojesaja in Babylon, sondern zum Gesetzbuch Deuteronomium, den deuteronomistischen Geschichtsbüchern und dem deuteronomistisch bearbeiteten Jeremiabuch führt, die eher in Palästina zu Hause sind. Die dahinterstehenden Theologen haben nach dem Untergang des Staates Juda starrsinnig den Staatsgott Jhwh auch weiterhin verehrt – allerdings nicht, als ob nichts passiert wäre. Die Selbstverständlichkeit, wenn man so will: die Unschuld war verloren.20 Jetzt, nach Schuld und Strafe, konnte das Volk nur durch eine Entscheidung Jhwhs Volk sein, richtiger: durch zwei, eine Entscheidung Jhwhs, _______________ 19

Zur Analyse und literaturgeschichtlichen Einordnung vgl. LEVIN, Verheißung, 101–

109. 20

Vgl. PERLITT, L., Bundestheologie im Alten Testament (WMANT 36), NeukirchenVluyn 1969, 114.

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sich Israel zum Volk zu erwählen, und eine Entscheidung des Volkes, dem Gott Jhwh zu gehören und ihm zu gehorchen. Beide Entscheidungen wurden zurück in die für alle Zukunft bestimmende Mosezeit, die ‚mythische Urzeit’ verlegt. In Wirklichkeit aber mußte sich nunmehr jede Generation, jedes Individuum für Jhwh entscheiden. Um diese Entscheidung wirbt von Anfang bis Ende das als Abschiedsrede des Mose gestaltete Deuteronomium: Leben und Tod habe ich dir vorgelegt, Segen und Fluch. So wähle nun das Leben, damit du am Leben bleibst, du und deine Nachkommen, indem du Jhwh, deinen Gott, liebst, auf seine Stimme hörst und ihm anhängst; denn das ist dein Leben und die Dauer deiner Tage, damit du in dem Land bleibst, das Jhwh deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob zu geben geschworen hat. (Dtn 30,19–20)

Auf dem Hintergrund der Bundesformel ist anscheinend in einem nächsten Schritt das erste der Zehn Gebote, das Fremdgötterverbot, konzipiert worden: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Die hebräische Formulierung ist auffällig abstrakt, mit dem Verb hyh, „sein“, wörtlich: „Es sollen nicht für dich andere Götter sein“, statt etwa, konkreter und geläufiger: „Du sollst nicht anderen Göttern nachfolgen“21 oder „dienen“22 oder sie „anbeten“.23 Die einmalige abstrakte Formulierung erklärt sich am einfachsten als Erläuterung der ebenfalls mit dem Verb hyh konstruierten Bundesformel: „Hört auf meine Stimme, so will ich für euch Gott sein (šim‘û beqôlî wehƗyîtî lƗkæm le’lohîm)“, „Jhwh hast du heute sagen lassen, daß er für dich Gott sein wolle (’æt-yhwh hæ’æmartƗ hayyôm lihyôt lekƗ le’lohîm)“. Das Fremdgötterverbot zieht daraus gleichsam nur die Konsequenz und benennt die andere Seite der Sache: „Es sollen nicht für dich andere Götter sein neben mir (lo’ yihyæh-lekƗ ’ælohîm ’aherîm ‘al-pƗnƗy)“. Die Attraktionskraft anderer Götter und ihrer Kulte war zu dieser Zeit, der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts offenbar groß genug, um das ausdrückliche Fremdgötterverbot als Erläuterung der Bundesformel hervorzurufen und ihm die hervorgehobene Stellung an der Spitze des Dekalogs zu geben:

_______________ 21 hlk ’ah Larê Dtn 6,14; 8,19; 11,28; 13,3; 28,14; Ri 2,12.19; 1 Kön 11,10; Jer 7,6.9; 11,10; 13,10; 16,11; 25,6; 35,15. 22 ‘bd Ex 20,5; Dtn 5,9; 7,4; 8,19; 11,16; 13,3.7.14; 17,3; 28,14.36.64; 29,25; 30,17; 31,20; Jos 23,16; 24,2.16; Ri 2,19; 10,13; 1 Sam 8,8; 26,19; 1 Kön 9,6.9 par 2 Chr 7,19.22; 2 Kön 17,35; Jer 11,10; 13,10; 16,11.13; 22,9; 25,6; 35,15; 44,3. 23 h Lwh Ex 20,5; Dtn 5,9; 8,19; 11,16; 17,3; 29,25; 30,17; Jos 23,16; Ri 2,12.17.19; 1 Kön 9,6.9 par 2 Chr 7,19.22; 2 Kön 17,35; Jer 13,10; 16,11; 22,9; 25,6.

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Ich bin Jhwh, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst sie nicht anbeten noch ihnen dienen, denn ich, Jhwh, dein Gott, bin ein eifernder Gott. (Ex 20,2–3.5a/Dtn 5,6–7.9a)

Die vor der Exilszeit praktizierte Monolatrie, die selbstverständliche Verehrung des eigenen Staatsgottes, ist so nach dem Untergang der Staaten Israel und Juda zur programmatischen Monolatrie geworden. Die Verehrung anderer Götter wird kategorisch verboten, nicht weil es diese Götter nicht gibt, sondern weil Jhwh „dein“ Gott ist, der „dich“ aus der Knechtschaft befreit hat. Das Verbot steht nicht nur als erstes Gebot an der Spitze des Dekalogs, sondern wird in den Geschichtsbüchern neben der Kultzentralisation als Maßstab bei der Beurteilung der Vergangenheit gebraucht; beides zeigt zur Genüge, daß es sich nicht von selbst durchgesetzt hat. Die Bezeichnung „andere Götter“ ist natürlich eine Verallgemeinerung; kein Mensch dient in Wirklichkeit „anderen Göttern“, sondern nur bestimmten Göttern mit bestimmten Namen. Die Verallgemeinerung entspricht aber der Entscheidung, vor welche die Deuteronomisten ihr Volk stellen wollten: entweder Jhwh-Verehrung und Weiterleben des Volkes trotz des Verlustes der politischen Selbständigkeit – oder Verehrung anderer Götter, aber dann spielt es in der Tat keine Rolle, welche. Das Volk würde mit der Zeit ohnehin aufhören, ein Volk zu sein (und die Menschheit wäre ohne das Alte Testament und auch ohne das Neue Testament geblieben). Als letzte Schritte der Entwicklung folgen in der deuteronomistischen Tradition Bilderpolemik und Monotheismus – in dieser Reihenfolge. Der allmähliche, fast unmerkliche Übergang vom Zentralisationsgebot über das Fremdgötterverbot zum Monotheismus läßt sich anhand des Ausdrucks „Holz und Stein“ (‘es wa’æbæn) verfolgen. Ursprünglich hieß das wohl so viel wie Aschera und Massebe, der Holzpfahl und der Steinmal, die in vorexilischer Zeit zu jedem ordentlichen Jhwh-Heiligtum gehörten (vgl. Jer 2,27)24 und die im Zuge der Kultzentralisation alle zerstört werden sollten.25 In den Flüchen in Dtn 28 ist aber der Ausdruck „Holz und Stein“ mit dem Begriff „andere Götter“ verbunden: _______________ 24 Zu den Masseben vgl. Gen 28,18, zu den Ascheren die einschlägigen Inschriften von Kuntillet ‘Ajrud und HLirbet el-Qôm; vgl. dazu P AKKALA, J., Intolerant Monolatry in the Deuteronomistic History (SESJ 76), Helsinki–Göttingen 1999, 193f. 25 So Dtn 12,3 in der jüngsten Fassung des Zentralisationsgebots (12,2–7; zur Literarkritik von Dtn 12, s. SMEND, R., Die Entstehung des Alten Testaments [ThW 1], Stuttgart 1978, 72f); hier werden die vielen Kultstätten sogar als heidnisch herausgestellt. Vgl. sonst noch Ex 23,24; 34,13; Dtn 7,5.25; 16,21f; Ri 2,2; 2 Kön 17,9–11.

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Jhwh wird dich und den König, den du über dich setzen wirst, zu einem Volk (gôy) führen, das du nicht gekannt hast, du und deine Väter, und dort wirst du anderen Göttern dienen, Holz und Stein. (Dtn 28,36)

Fremdgötterdienst stellt also hier nicht die Sünde, sondern die Strafe dar, wie sonst nur noch etwas später im selben Kapitel (und wie der Bilderdienst in Dtn 4,28; s.u.): Jhwh wird dich unter alle Völker (hƗ‘ammîm) zerstreuen von einem Ende der Erde bis zum anderen, und dort wirst du anderen Göttern dienen, die du nicht gekannt hast, du und deine Väter, Holz und Stein. (Dtn 28,64)

Im nächsten Kapitel, Dtn 29, soll in V.17 vor Verehrung der Götter der Völker gewarnt werden, und zu diesem Zweck wird Israel zuerst an Ägypten erinnert: Da saht ihr ihre Scheusale und ihre Greuel, Holz und Stein, Silber und Gold, die sie hatten. (Dtn 29,16)

Nun jedenfalls sind alle numinösen Anklänge an Ascheren und Masseben verschwunden. Aufgezählt neben Silber und Gold sind Holz und Stein nichts anderes als Material. Abscheulich bleiben die Phänomene allerdings; das zeigen die zwei ersten Bezeichnungen, „Scheusale“ (šiqqûsLîm) und „Greuel“ (gillûlîm).26 Im etwas jüngeren Kapitel Dtn 427 sind die von Menschen zusammengebastelten Götter eher lächerlich geworden: Dort werdet ihr Göttern dienen, die von Menschenhänden gemacht sind, Holz und Stein, die weder sehen noch hören und weder essen noch riechen. 28 (Dtn 4,28)

Und in König Hiskias Gebet in 2 Kön 19,15–19 (par. Jes 37,15–20) kommt als Schlußpunkt der ausdrückliche Monotheismus: Die Assyrer haben die Völker besiegen und ihre Götter zerstören können, weil diese Götter keine _______________ 26

Beide kommen im Dtn nur hier vor; gillûlîm (immer Plural) ist auf Ez konzentriert (39mal; sonst Lev 26,30; 1 Kön 15,12; 21,26; 2 Kön 17,12; 21,11.21; 23,24; Jer 50,2); šiqqûsL hat acht Belege in Ez, fünf in Jer, je drei in 1 Kön 11 (V.5.7 bis) und 2 Kön 23 (V.13 bis.24), drei in Dan und sonst Jes 66,3; Hos 9,10; Nah 3,6; Sach 9,7; 2 Chr 15,18. 27 Dtn 4,1–40 wird im ganzen jünger als Dtn 29–30 und in zwei Stufen (V.1–31 und 32–40) entstanden sein; vgl. AURELIUS, E., Zukunft jenseits des Gerichts. Eine redaktionsgeschichtliche Studie zum Enneateuch (BZAW 319), Berlin–New York 2003, 103f, Anm. 131, mit weiteren Literaturhinweisen. 28 Zu ’ælohîm im Sinne von Bildern, Artefakten, vgl. noch Ex 20,23; 32,31; Lev 19,4; Jos 24,14; 1 Kön 14,9; 2 Kön 17,29; 19,18/Jes 37,19; Jes 42,17; Jer 16,20.

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Götter (lo’ ’ælohîm), sondern von Menschenhänden gemacht waren, Holz und Stein. Es ist wahr, Jhwh, die Könige von Assyrien haben die Völker mit dem Schwert umgebracht […] und ihre Götter ins Feuer geworfen – denn sie waren keine Götter, sondern Werk von Menschenhänden, Holz und Stein –, und sie vernichtet. (2 Kön 19,17–18)

In diesem Text besteht kein Anlaß, einen Einfluß von Deuterojesaja zu vermuten. Der Monotheismus scheint hier vielmehr das Ergebnis einer lückenlosen Entwicklung innerhalb der deuteronomistischen Tradition zu sein.29 Je mehr die Altäre, Masseben, Ascheren und Bilder der vielen Kultstätten im Zusammenhang des Zentralisationsgebotes verurteilt werden,30 um so wichtiger wird der Unterschied, daß Jhwh keine Bilder, nicht einmal Ascheren und Masseben („Holz und Stein“) hat, während andere Götter Bilder haben; und um so unwirklicher erscheinen allmählich diese anderen Götter. Sie werden zu Göttern, die nicht nur Bilder haben, sondern Bilder sind und eben deshalb keine Götter sind. Das ausdrückliche Bilderverbot des Dekalogs ist nachträglich mitten in das erste Gebot eingeschoben worden.31 Zwischen dem Anfang: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (Ex 20,3/Dtn 5,7), und dem Schluß: „Du sollst sie nicht anbeten noch ihnen dienen“ (Ex 20,5/Dtn 5,9) steht nun etwas anderes, eine Erläuterung: „Du sollst dir kein Bild/keine Skulptur (pæsæl) machen ...“ (Ex 20,4/Dtn 5,8). Man könnte sagen: Das Bilderverbot wird vom Fremdgötterverbot geboren und ist im Dekalog in Dtn 5 noch ganz von der Mutter umarmt;32 aber im später vorangestellten Kap. 4 ist die Tochter erwachsen worden.33 Sie hat sich verselbständigt und ein eigenes Kapitel bekommen, das Kap. 5 mit dem Dekalog vorwegnimmt, um das nunmehr Wichtigste im voraus zu erörtern: die Einzigartigkeit Jhwhs, die durch seine Unsichtbarkeit und das dadurch begründete _______________ 29

Das Wortpaar „Holz und Stein“ steht sonst noch als Götzenpolemik in Jer 2,27 („Holz“ und „Stein“ um Hilfe bitten); 3,9 (Ehebruch mit „Stein und Holz“); Ez 20,32 („Holz und Stein“ dienen wie die Völker); Hab 2,19 („Holz“ und „Stein“ anrufen); Dan 5,4.23 (Götter aus „Gold und Silber, Kupfer, Eisen, Holz und Stein“ loben). 30 Vgl. Dtn 16,21f, ferner Ex 23,24; 34,13; Dtn 7,5.25; 12,3; Ri 2,2; 2 Kön 17,9–11. 31 Vgl. MORAN, W.L., The Conclusion of the Decalogue (Ex 20,17 = Dt 5,21), CBQ 29 (1967), 543–554, 553; SKWERES, D.E., Die Rückverweise im Buch Deuteronomium (AnBib 79), Rom 1979, 186; LEVIN, C., Der Dekalog am Sinai (1985), in: DERS., Fortschreibungen, 60–80, 64. 32 In der Dtn-Fassung beziehen sich die Pluralformen der Verben in 5,9 eindeutig auf die „anderen Götter“ von V.7. 33 Vgl. die Vater-Sohn-Metapher bei DOHMEN, C., Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament (BBB 62), Bonn 21987, 277.

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Bilderverbot bezeugt wird – und die Einzigartigkeit Israels als des Volkes dieses Gottes. Das Bilderverbot hat in Dtn 4 die sprachlichen Kleider der Mutter, des Fremdgötterverbots, übernommen; die Tochter ist dabei, die Mutter zu ersetzen. So hat der „Bund“ (berît) zwischen Jhwh und Israel in Dtn 4 nicht wie sonst das Fremdgötterverbot, sondern das Bilderverbot zum Inhalt (4,23);34 die Gottesbezeichnung „ein eifersüchtiger Gott“ (’el qannƗ’) schärft nicht wie sonst das Fremdgötterverbot, sondern das Bilderverbot ein (4,24);35 und „das in Jhwhs Augen Böse“ ist hier weder Mißachtung der Kultzentralisation, wie in den Königsbüchern, noch des Fremdgötterverbots, wie im Richterbuch (und Dtn 17,2), sondern des Bilderverbots (4,25). Freilich geht es nicht nur um Bilder in Dtn 4, sondern auch um Astralgottheiten. Sie sind ebenso sichtbar wie Götterstatuen, aber nicht von Menschen gemacht. Sie werden mit etwas größerem Respekt besprochen: (Hütet euch wohl, V.15,) wenn du die Augen gen Himmel erhebst und die Sonne, den Mond und die Sterne, das ganze Himmelsheer siehst, daß du dich verführen läßt, sie anzubeten und ihnen zu dienen, die Jhwh, dein Gott, allen Völkern unter dem ganzen Himmel zugewiesen hat. Euch aber hat Jhwh genommen und aus dem Schmelzofen, aus Ägypten geführt, damit ihr sein Erbvolk würdet, wie es heute ist. (Dtn 4,19–20)

Sonne, Mond und Sterne sind nicht lächerlich. Sie anzubeten ist anscheinend auch nicht lächerlich, sondern Jhwhs Wille – für andere Völker, nur nicht für Israel. Die bei den Propheten mit dem Monotheismus zunehmende Hoffnung, daß alle Völker eines Tages den Gott Israels verehren werden, ist nicht die Hoffnung der Deuteronomisten. Es geht ihnen offenbar so sehr um Israels Sonderstellung unter den Völkern, um die Erhaltung dieses Volkes durch Separation, daß sie keinen Geschmack finden an der Aussicht, daß alle Völker einmal Jhwhs Völker würden.36 Dessen ungeachtet enthält Dtn 4 gegen Ende eindeutig monotheistische Sätze. Die Gottesbezeichnung „ein barmherziger Gott“ (’el rahLûm) in V.31, denn ein barmherziger Gott ist Jhwh, dein Gott; er wird dich nicht verlassen noch verderben, wird auch den Bund nicht vergessen, den er deinen Vätern geschworen hat,

_______________ 34

Vgl. dagegen Dtn 17,2; 29,24, 31,16.20; Jos 23,16 u.ö.; ferner PERLITT, Bundestheologie, 36–38; LOHFINK, N., Bundestheologie im Alten Testament. Zum gleichnamigen Buch von Lothar Perlitt, in: DERS., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur 1 (SBAB 8), Stuttgart 1990, 325–361, 338–341. 35 Vgl. dagegen Ex 20,5/Dtn 5,9; Ex 34,14; Dtn 6,15. 36 Vgl. P AKKALA, Monolatry, 87–91, 236.

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hat im letzten und jüngsten Absatz des Kapitels eine Meditation über die Unvergleichbarkeit und, in der Tat, Einzigkeit des Gottes Israels ausgelöst (4,32–40). Hier erinnern Formulierungen – anders als in Hiskias Gebet in 2 Kön 19 – deutlich an Deuterojesaja und könnten von dort her übernommen sein. Wenn das zutrifft fließen mit anderen Worten die Traditionen hier wieder zusammen: Du hast es gesehen (scil. die Befreiung aus Ägypten), auf daß du erkennst, daß Jhwh der Gott ist; es gibt keinen außer ihm (’ên ‘ôd milbaddô). 37 (Dtn 4,35)

5 Zum Schluß möchte ich ein Wort zum Anfang der Bibel sagen, der Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift im ersten Kapitel der Genesis. Hier ist ein Schlüsselterminus aus Deuterojesaja übernommen: das Verb bƗrƗ’, „schaffen“, das zuerst von Deuterojesaja gebraucht wird, nie mit einem anderen Subjekt als Gott und nie in Verbindung mit einem Material vorkommt, also, wie es scheint, für das unfaßbare göttliche Wirken reserviert ist.38 Der Monotheismus erscheint in Gen 1 nicht wie bei Deuterojesaja als etwas Neues, das weit und breit begründet, hervorgehoben und erläutert werden müßte, sondern als ein Ausgangspunkt. Anders als in vergleichbaren antiken Schöpfungstexten gibt es hier keine Theogonie, nichts über die Herkunft und die Eigenschaften der Götter, und keinen Streit, keinen Machtkampf im Dasein. Es gibt nur eine Person auf der Bühne; andere Götter kommen nicht in den Blick. Geläufige Chaoselemente werden zwar genannt: Finsternis, Wasser und Wind, aber nicht als handelnde Mächte, sondern eben als Elemente, passive Phänomene. Gott schafft ohne Kampf und ohne Mühe. Und doch ist etwas Grundlegendes hier anders als bei Deuterojesaja. Das Weltbild ist eindeutig monotheistisch, aber nicht eindeutig monistisch. Die Überschrift der ganzen Erzählung sagt ohne Einschränkung, daß Gott „Himmel und Erde“, das heißt auf hebräisch „alles“, das ganze Universum, geschaffen hat. In der Erzählung bringt er dann als erstes das Licht hervor, aber es heißt nicht, daß er die Finsternis hervorbringt, und nicht, daß er die Finsternis für gut hält.

_______________ 37

Ähnlich 4,39; (7,9; 32,12.21.39;) 1 Kön 8,60; vgl. dazu besonders Jes 45,6.21; 46,9. Das Verb begegnet 16mal in Jes 40–55 (40,26.28; 41,20; 43,1.7.15; 45,7 bis.8.12.18 bis; 54,16 bis) und sonst in Gen 1,1–2,4a (siebenmal); 5,1.2 (bis); 6,7; Ex 34,10; Num 16,30; Dtn 4,32; Jes 4,5; 57,19; 65,17.18 (bis); Jer 31,22; Ez 21,35; 28,13.15; Am 4,13; Mal 2,10; Ps 51,12; 89,13.48; 102,19; 104,30; 148,5; Qoh 12,1. 38

„Ich bin der Herr“

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Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes (oder wahrscheinlich richtiger: ein Gottessturm) schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: „Es werde Licht!“ Und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Und es ward Abend und ward Morgen: Tag 1. (Gen 1,1–5)

Das hört sich wie eine bewußte Korrektur der Deuterojesajastelle an: Ich bin Jhwh, und einen anderen gibt es nicht, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. (Jes 45,6b–7)

In Gen 1 ordnet Gott die Finsternis in seine Schöpfung ein. Er nennt sie „Nacht“, und in der Benennung liegt eine Begrenzung, eine zeitliche Begrenzung: Die Nacht dauert nur bis zum Morgen; sie ist sogar nützlich, denn da kann man schlafen. Gleichwohl hat die Finsternis etwas Unheimliches an sich. Das weiß jeder, der vier Jahre alt gewesen ist; und solche elementare Erfahrungen soll man wahrscheinlich bei der Lektüre dieser Schöpfungserzählung nicht wegdenken. Es gibt in der „sehr guten“ Schöpfung (Gen 1,31) etwas Unheimliches; Gott hält es in Grenzen, aber es stammt nicht eindeutig von ihm. Dieser dualistische Zug hat in der Folgezeit mehr als Deuterojesajas Monismus den biblischen Monotheismus geprägt.

„Denn dein ist das Reich“ Das Judentum in persischer und hellenistisch-römischer Zeit REINHARD GREGOR KRATZ

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„Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen.“ So lautet die Doxologie, die in den christlichen Gottesdiensten das Vaterunser-Gebet beschließt. Sie basiert auf Formulierungen des Alten Testaments und der jüdischen Gebetstradition, die in den frühchristlichen Gemeinden fortlebte und auf diesem Wege auch in das Vaterunser gelangte.1 Die Traditionsgeschichte der Formel führt somit auf den originären Zusammenhang zwischen Judentum und Christentum am Ausgang der hellenistisch-römischen Epoche der Geschichte Israels, bevor die beiden Religionen ihre eigenen Wege gingen. Auf pointierte Weise zieht die Doxologie die theologische Summe des antiken Judentums. Daß es nicht viele oder mehrere Götter, sondern nur den einen Gott gibt, ist keine Frage mehr. Die Ausdifferenzierung einer spezifisch israelitisch-jüdischen Religion aus dem Kreis der syrischkanaanäischen Religionen ist abgeschlossen. Das Gegenüber ist nicht mehr die eigene, kanaanäische Vergangenheit, sondern die persische und die hellenistisch-römische Welt, der man sich klar überlegen weiß. Die Doxologie ist ein Bekenntnis zur unumschränkten Herrschaft des einen Gottes über alle Herrschaften, Mächte und Gewalten dieser Welt, d.h. auch über die persische und die hellenistisch-römische Fremdherrschaft. Und sie ist ein Bekenntnis zur unumschränkten Herrschaft des einen Gottes über alle Herrschaften, Mächte und Gewalten des Himmels und der göttlichen Welt, d.h. auch über die Götter der Perser, der Griechen und der Römer, nicht zuletzt über die bösen Geister, die Dämonen, die den Menschen dieser Zeit so sehr zu schaffen machten. Über allem steht das Reich Gottes, das die einen in der Gegenwart wenigstens teilweise schon verwirklicht sahen, die anderen für das Ende der Zeiten erwarteten und auf dessen Kommen sie hofften: „Denn dein ist das Reich“ jetzt und immerdar, und „Dein Reich komme“ im Himmel wie auf Erden – das sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille. Beides spiegelt die religiöse Grund_______________ 1

Vgl. PHILONENKO, M., Das Vaterunser, Tübingen 2002, 105–107.

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Reinhard G. Kratz

stimmung, die sich im Laufe der persischen und hellenistisch-römischen Zeit entwickelt hat und das Lebensgefühl sowie die Lebensführung des Judentums um die Zeitenwende prägte. So scheint mir die Doxologie, in der diese Grundstimmung in äußerster Konzentration zum Ausdruck kommt, ein vorzüglicher Anhaltspunkt zu sein, um sich in der Fülle des Stoffs zu orientieren und eine knappe Skizze vom Judentum in persischer und hellenistischer Zeit zu geben.2 Ich stütze mich für diese Skizze auf vier namhafte Quellenbestände, die Einblick in das Leben und Denken des antiken Judentums gewähren und verschiedene Stadien und Richtungen seiner Entwicklung dokumentieren: die Hebräische Bibel (das Alte Testament), die aramäischen Papyri von Elephantine, die Griechische Bibel (die Septuaginta) und die Schriftrollen vom Toten Meer. Wir begeben uns gewissermaßen auf Archivreise und suchen die vier Orte auf, an denen diese Quellenbestände gelagert waren: Jerusalem, Elephantine, Alexandria und Qumran.

I. Jerusalem Die Hauptquelle für das Judentum ist zweifellos die Hebräische Bibel, das von den Christen sogenannte Alte Testament. Es ist der Kanon der heiligen Schriften des antiken Judentums, auf den sich auch die rabbinische Tradition in Talmud und Midrasch bezieht. Wo genau die biblischen Bücher entstanden sind und wer sie verfaßt hat, wissen wir nicht. Es spricht aber vieles dafür, daß zur Zeit des Zweiten Tempels, in der die Bücher ihre letzte Gestalt erhielten, Jerusalem das Zentrum der jüdischen Schriftgelehrsamkeit war. Für gewöhnlich denkt man an den Tempel selbst und ein ihm angeschlossenes Archiv, in dem die biblischen Bücher gelagert waren.3 Doch auch dies ist keineswegs sicher. Bis weit in die hellenistische _______________ 2

Umfassende Überblicke über das Material und die einschlägige Literatur bieten: DAVIES, D. A./F INKELSTEIN, L., (Hg.), The Cambridge History of Judaism I. Introduction. The Persian Period, Cambridge 1984; DIES., The Cambridge History of Judaism II. The Hellenistic Age, Cambridge 1989; GRABBE, L. L., A History of the Jews and Judaism in the Second Temple Period I. Yehud: A History of the Persian Province Judah, London–New York 2004; M ULDER, M. J. (Hg.), Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew Bible in Ancient Judaism and Early Christianity (CRI II,1), Assen–Philadelphia 1988; SCHUERER, E., The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ (175 B.C.–A.D. 135), rev. and ed. by VERMES, G./MILLAR, F., Vol. I–III, Edinburgh 1973–1987; STONE, M. E., (Hg.), Jewish Writings of the Second Temple Period (CRI II/2), Assen–Philadelphia 1984. 3 Vgl. z.B. SCHMID, K., Buchgestalten des Jeremiabuches (WMANT 72), NeukirchenVluyn 1996, 41f mit Verweis auf 2Makk 2,13–15 und die einschlägige Literatur; zum

„Denn dein ist das Reich“

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Zeit hinein besitzen wir keine zuverlässigen Quellen darüber, wie es an dem wiederaufgebauten Tempel zuging und welche Texte dort in Gebrauch waren. Auch von öffentlichen Bibliotheken, in denen sich jedermann über den neuesten Stand der theologischen Literatur hätte informieren können, wissen wir nichts, zumal die Zahl derer, die lesen und schreiben konnten, nach wie vor begrenzt gewesen sein dürfte. Als Alternative zum Tempelarchiv kommen private Schreiberschulen und Bibliotheken religiöser Gemeinschaften in Frage, die sich neben und zunehmend auch gegen den Betrieb am Zweiten Tempel etablierten und die später in den Synagogen praktizierte, schriftgelehrte Buchreligion begründeten. Da diese nicht ohne weiteres mit dem gesamten in Jerusalem beheimateten, palästinischen Judentum gleichgesetzt werden kann, sprechen wir im Folgenden vom „biblischen“ Judentum. Auch wenn in der Hebräischen Bibel mehrheitlich von der alten Zeit, dem vorexilischen Israel der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v.Chr., die Rede ist, so ist es doch das Judentum der persischen und hellenistischen Zeit, das in den biblischen Schriften schreibt und über seine Vergangenheit nachdenkt, um die Zukunft zu gewinnen. Von daher müßte man eigentlich die ganze Hebräische Bibel in den Blick nehmen, um das biblische Judentum in allen seinen Facetten zu erfassen. Ich will mich hier aber auf die wenigen Schriften konzentrieren, die die persische und hellenistischrömische Zeit selbst zum Thema haben: die Bücher Esra und Nehemia, die Propheten Jesaja 40–66, Haggai, Sacharja und Maleachi sowie das Buch Ester, die allesamt Nachrichten über die Perserzeit enthalten, und das Buch Daniel, das darüber hinaus einen Ausblick auf die hellenistische Zeit bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts v.Chr. bietet. Faßt man die hier überlieferten Daten zusammen, ist die Geschichte des antiken Judentums schnell erzählt: Im Jahr 539 v.Chr., dem Jahr der Einnahme Babylons, gibt Kyros II. den Juden die Erlaubnis, nach Jerusalem zurückzukehren und den Tempel wiederaufzubauen. Kaum angekommen, machen sich die Rückkehrer unter Führung des Statthalters Serubbabel und des Hohenpriesters Joschua sofort ans Werk. Angespornt durch die Propheten Haggai und Sacharja, werden die zeitweise unterbrochenen Arbeiten im zweiten Jahr Dareios’ I., 520 v.Chr., wiederaufgenommen. Im sechsten Jahr Dareios’ I., 515 v.Chr., ist das Werk vollbracht, und der Tempel wird feierlich eingeweiht (Esr 1–6; Hag und Sach 1–8). Unter dem Nachfolger des Dareios, dem König Xerxes (nach der griechischen Version war es Artaxerxes), soll es zu einer Intrige am persischen Hof gegen die Juden gekommen sein. Durch den Einfluß Esters, einer Jüdin am persischen Hof, wendet sich jedoch das Blatt: Die Juden werden vor weiterer ______________________________________________________________________________________________

Problem KNAUF, E. A., Die Umwelt des Alten Testaments (NSK.AT 29), Stuttgart 1994, 221–237.

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Verfolgung verschont, die Übeltäter bestraft (Est). Die nächste Episode spielt im siebten Jahr des Königs Artaxerxes (I.). Der Schreiber und Priester Esra wird von Babylon nach Jerusalem entsandt, um dort Spenden für den Tempel abzuliefern und das Volk auf die Tora, das jüdische Gesetz, zu verpflichten (Esr 7–10; Neh 8). Bald darauf, im 20. Jahr Artaxerxes’ I., wird Nehemia, der das Amt des Mundschenks innehat, nach Jerusalem entlassen, um die Mauer wiederaufzubauen und die Verhältnisse in der Provinz Juda zu regeln (Neh). Als nächstes macht erst wieder das Danielbuch Andeutungen zu einem besonders leidvollen Kapitel der jüdischen Religionsgeschichte: der Religionsverfolgung unter dem seleukidischen König Antiochus IV. in der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts (Dan 7–12). Viel ist es also nicht, was man aus der Hebräischen Bibel erfährt. Sie bietet ein grobes chronologisches Gerüst, doch ein auch nur annähernd vollständiges Bild von der rund 500jährigen Geschichte des Judentums in persischer und hellenistischer Zeit ergibt sich daraus nicht.4 Die biblische Überlieferung beschränkt sich vielmehr auf einzelne, herausragende Ereignisse, die breit dargestellt und legendarisch ausgeschmückt werden. Die Darstellung sagt daher weniger etwas über die jüdische Geschichte als darüber aus, wie sich das Judentum selbst gesehen hat, genauer: wie sich derjenige Zweig des Judentums verstanden wissen wollte, der sich in Gestalt des biblischen Kanons behauptet und am Ende durchgesetzt hat.5 Für dieses Selbstverständnis des biblischen Judentums, das in sich keineswegs einheitlich ist, hier aber der Einfachheit halber als Einheit betrachtet wird, ist dreierlei kennzeichnend: Das erste Kennzeichen ist eine differenzierte Einstellung zur Fremdherrschaft.6 Schon die assyrischen und babylonischen Könige, die dem _______________ 4

Nach wie vor lesenswert ist die Darstellung von W ELLHAUSEN, J., Israelitische und jüdische Geschichte (1894, 71914), Berlin–New York 102004, bes. 166ff.193ff.275ff; DERS., Israelitisch-jüdische Religion (1905), in: SMEND, R. (Hg.), Julius Wellhausen, Grundrisse zum Alten Testament (TB 27), München 1965, 65–109, bes. 97–109. Für die historischen Fragen der Perserzeit vgl. außer den in Anm. 2 genannten Überblicken: GALLING, K., Studien zur Geschichte Israels im Persischen Zeitalter, Tübingen 1964; FREI, P./KOCH, K., Reichsidee und Reichsorganisation im Perserreich (OBO 55), Freiburg (CH)–Göttingen 21996; W ILLIAMSON, H. G. M., Studies in Persian Period History and Historiography (FAT 38), Tübingen 2004; für die hellenistische Zeit s.u. III–IV. 5 Zum Verhältnis von jüdischer Geschichte und biblischem Judentum vgl. KRATZ, R. G., Art. Perserreich und Israel, TRE 26 (1996) 211–217, 213f; DERS., Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels (FAT 42), Tübingen 2004, bes. 55ff. 6 Vgl. KRATZ, R. G., Translatio imperii (WMANT 63), Neukirchen-Vluyn 1991, bes. 154f.161ff; DERS., Kyros im Deuterojesaja-Buch (FAT 1), Tübingen 1991, bes. 175–191; D ERS., Judentum, 23ff.

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Königtum in Israel und Juda ein Ende bereiteten, handelten nach Meinung der Propheten des Alten Testaments im Auftrag Jhwhs. Doch die persischen Könige sind nicht zum Unheil, sondern zum Heil Israels bestellt. Trotz mancher Konflikte hat man sich mit der Fremdherrschaft arrangiert. Sie ist die äußere Bedingung, unter der sich das Judentum entwickelt. Solange die fremden Herrscher diese Entwicklung nicht stören oder sogar befördern, gelten sie als das von Gott zum Wohle seines Volkes eingesetzte Regiment. Diese Sicht der Dinge manifestiert sich vor allem im Blick auf den Bau und die Pflege des Tempels in Jerusalem, wofür vorher die judäischen Könige verantwortlich waren und nun die fremden Könige verantwortlich sind. Dies macht für den Anfang Kyros II. in seinem berühmten Edikt klar, mit dem das Esrabuch beginnt: „Im ersten Jahr des Kyros, des Königs von Persien, erweckte Jhwh – damit erfüllt würde das Wort Jhwhs, das durch den Mund Jeremias gesprochen war – den Geist des Kyros, des Königs von Persien, daß er in seinem ganzen Königreich mündlich und auch schriftlich verkünden ließ: So spricht Kyros, der König von Persien: Jhwh, der Gott des Himmels, hat mir alle Königreiche der Erde gegeben, und er hat mir befohlen, ihm ein Haus zu Jerusalem in Juda zu bauen. Wer nun unter euch von seinem Volk ist, mit dem sei sein Gott, und er ziehe hinauf nach Jerusalem in Juda und baue das Haus Jhwhs, des Gottes Israels; das ist der Gott, der zu Jerusalem ist.“ (Esr 1,1–3)

Thron und Altar bildeten im ganzen Alten Orient und so auch in Israel immer eine Einheit, auch unter den Bedingungen der Fremdherrschaft. Daneben hat sich im Judentum allerdings auch die andere Auffassung behauptet, wonach die Fremdherrschaft Israel als Strafe für seine Sünden gegen Gott auferlegt worden sei.7 Der unter der Obhut der fremden Könige wiederaufgebaute Zweite Tempel bedeutet demzufolge nichts; der Tempel wird weiterhin als zerstört und geschändet betrachtet. Diese Auffassung stand immer dann hoch im Kurs, wenn das Judentum in Bedrängnis geriet, was vor allem in hellenistischer Zeit und ganz besonders während der Religionsverfolgung unter Antiochus IV. der Fall war. So oder so bestimmt der Glaube an den einen Gott die Deutung der Fremdherrschaft. Ist Jhwh, der Gott Israels, der einzige Gott, sind ihm auch alle Völker und ihre Herrscher untertan. Nicht von ungefähr heißt Jhwh in den späten Texten der Bibel oft der „Gott des Himmels“, vor allem im Munde von Fremdherrschern.8 Als solcher kann er als der höchste und eine Gott aller Völker dieser Erde gelten, sei es, daß er die fremden Völker und Könige als Gerichtswerkzeuge gegen Israel benutzt, sei es, daß er sie zum Heil Israels beruft und auch von ihnen unbedingte Verehrung _______________ 7 Vgl. STECK, O. H., Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten (WMANT 23), Neukirchen-Vluyn 1967, bes. 110ff. 8 Nachweise bei KRATZ, Translatio, 215f.

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fordert. „Denn er ist der lebendige Gott, der ewig bleibt, und sein Reich ist unvergänglich und seine Herrschaft hat kein Ende“ bekennt im Buch Daniel der (persische) König Dareios, der hier „der Meder“ heißt (Dan 6,27). Die Formulierung gehört in die Vorgeschichte der eingangs zitierten Doxologie: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen.“ Das zweite Kennzeichen des biblischen Judentums ist die Tora, das jüdische Gesetz.9 Es umfaßt die fünf Bücher Mose, den Pentateuch, der gegen Ende der persischen Zeit autoritativen, gleichsam kanonischen Rang erlangte und in hellenistischer Zeit als erster ins Griechische übersetzt wurde. Die Tora unterscheidet und trennt Israel von den Völkern. In ihr ist der Wille Gottes offenbart, den zu halten über Tod oder Leben des Volkes und jedes Einzelnen in Israel entscheidet. Das Halten der Tora ist identisch mit dem Bekenntnis zum einen und einzigen Gott, dem Gott Israels und seiner Herrschaft über die Welt. Wer die Tora des Mose hält, der lebt bereits im Reich Gottes oder auf das Reich Gottes hin. Wer in Israel die Tora nicht hält, zählt unter die Völker, die Heiden, und ist der ewigen Verdammnis preisgegeben. Darum wird berichtet, daß unter Esra und Nehemia alle Geschlechter in Juda einer Abmachung beitreten und sich mit Eid verpflichten, „zu wandeln im Gesetz Gottes, das durch Mose, den Knecht Gottes, gegeben ist, und alle Gebote, Rechte und Satzungen Jhwhs, unseres Herrn (oder Herrschers), zu halten und zu tun“ (Neh 10,30). Dem Anspruch nach sollen sowohl der Kult am Zweiten Tempel wie das alltägliche Leben des frommen Juden den Gesetzen der Tora entsprechen. Als Wille des einen und einzigen Gottes steht die Tora über dem Gesetz der Fremdherrscher. Im günstigsten Fall wird das Gesetz Gottes von den Fremdherrschern anerkannt und durch ein königliches Dekret autorisiert, wie in Dan 6 oder Esr 7 nachzulesen ist: „Du aber, Esra, setze nach der Weisheit deines Gottes, die in deiner Hand ist, Richter und Rechtspfleger ein, die allem Volk Recht sprechen, das jenseits des Euphrat ist, nämlich allen, die das Gesetz deines Gottes kennen; und wer es nicht kennt, den sollt ihr es lehren. Aber jeder, der nicht sorgfältig das Gesetz deines Gottes und das Gesetz des Königs hält, der soll sein Urteil empfangen, es sei Tod oder Acht oder Buße an Hab und Gut oder Gefängnis.“ (Esr 7,25f)

Wird aber, wie unter Antiochus IV. geschehen, die Tora regelrecht außer Kraft gesetzt, ist der status confessionis gefordert, nach innen wie nach außen. Die Toraobservanz ist gewissermaßen die praktische Seite des Be_______________ 9

Vgl. KRATZ, Translatio, 225ff; DERS., Judentum, 187–226.

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kenntnisses. Mit ihr wird die Lebensführung zur Doxologie: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen.“ Das dritte Kennzeichen des biblischen Judentums ist die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen.10 Die Herrschaft Gottes über Israel und die Welt konnte immer nur partiell realisiert werden und war ebenso wie das Halten der Tora vielerlei Anfechtungen und Angriffen von innen wie von außen ausgesetzt. Aus diesem Grund erwartet das biblische Judentum die Vollendung der Gottesherrschaft nicht in dieser, sondern in der kommenden Welt, am Ende der Tage. Der Tempelkult und die Torafrömmigkeit, in denen sich das Reich Gottes schon im Diesseits manifestiert, stehen also unter einem eschatologischen Vorbehalt. Dieser eschatologische Vorbehalt ist einmal mehr, einmal weniger stark ausgeprägt, wird aber von fast allen geteilt. Er bewahrt das Judentum vor der gefährlichen Illusion, das Reich Gottes auf Erden, wenn nötig mit Gewalt, aufrichten zu können oder zu müssen. Mit Gewalt wird für das Reich Gottes immer nur dann gekämpft, wenn es unter Angriffen leidet. Doch in diesem Fall kämpfen nicht die Frommen selbst, sondern für sie streiten die Engel im Himmel. Hier, wo Gott und die Engel das Sagen haben, ist der Kampf längst entschieden und hier wird der Gottesdienst für den himmlischen Herrscher gefeiert. Auf der Erde hält der Kampf an und wird ausgetragen bis zum Ende, bis Gott alles in allem ist, oder mit den Worten des Danielbuchs: Dann wird „das Reich und die Macht und die Gewalt über die Königreiche unter dem ganzen Himmel dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden, dessen Reich ewig ist, und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen“ (Dan 7,27). Auch diese Formulierung gehört in die Vorgeschichte der Doxologie: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen.“

II. Elephantine Im Süden Ägyptens, auf der Höhe von Assuan, liegt die Nilinsel Elephantine, mit antikem Namen Jeb. Hier hat man vor rund 100 Jahren aramäische Papyri gefunden, die vom Leben einer Garnison in der mittleren Perserzeit um 400 v.Chr. zeugen. 11 In den Papyri begegnen uns Menschen, die nach der Sitte der Zeit Aramäisch und nicht Hebräisch sprachen, aber Jhwh-haltige Namen trugen und sich selbst Juden oder richtiger: „Judäer“ _______________ 10

Vgl. KRATZ, Judentum, 181ff. PORTEN, B., Archives from Elephantine. The Life of an Ancient Jewish Military Colony, Berkeley–Los Angeles 1968. Die Papyri zitiere ich nach der Ausgabe von PORTEN, B./Y ARDENI, A., Textbook of Aramaic Documents from Ancient Egypt (TADAE) A–D, Jerusalem 1986–1999. 11

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und die Leute von Juda ihre „Brüder“ nannten. Ginge es mit rechten Dingen zu, hätte man es mit Angehörigen des in der Hebräischen Bibel bezeugten biblischen Judentums in der ägyptischen Diaspora zu tun, nicht allzu lange bevor das alexandrinische Judentum auf den Plan trat und das jüdische Gesetz, die Tora, ins Griechische übersetzt wurde. Doch das ist nicht der Fall. Nicht nur geographisch und zeitlich, sondern vor allem religionsgeschichtlich liegen Welten zwischen dem biblischen Judentum und dem Judentum von Elephantine. Letzteres kann man geradezu als nichtbiblisches Judentum bezeichnen.12 Der Unterschied ist schon an einem Gebäude zu erkennen. Nach dem jüdischen Gesetz, der Tora in Dtn 12, darf es nur einen einzigen Kultort für Jhwh, den Tempel in Jerusalem, geben. Alle anderen Heiligtümer, die es in und außerhalb Judas gab, gelten nach dem Gesetz als unrein und anderen Göttern geweiht. Daher sollen sie zerstört werden. Die Judäer auf Elephantine kümmerten sich jedoch nicht um dieses Gesetz. Sie besaßen einen Tempel, den es nach der Tora nicht hätte geben dürfen. Von ihm ist in den Papyri die Rede, und er ist mittlerweile auch archäologisch nachgewiesen.13 Das jüdische Viertel von Elephantine grenzte im Süden an einen großen heiligen Bezirk des ägyptischen Widdergottes Chnum, die sogenannte „Chnumstadt“, und war davon durch eine breite Hauptstraße, die „Straße des Königs“, getrennt. Von dem jüdischen Viertel sind die Reste der südlichen Häuserzeilen erhalten und ausgegraben. Und genau hier, zwischen dem jüdischen Wohnviertel und der Chnumstadt, lag nach den Angaben der Papyri auch die jüdische Tempelanlage. Von ihr wurden jüngst Mauerreste gefunden, die von der bewegten Baugeschichte zeugen. Der Tempel wurde im 6. Jahrhundert (während der 26. Dynastie) gegründet, im späten 5. Jahrhundert (während der 27. Dynastie) auf Betreiben der ChnumPriester zerstört und bald danach mit Erlaubnis der persischen Behörden wieder aufgebaut. Im 4. Jahrhundert verlieren sich seine Spuren. Er ist der Erweiterung des weiter südlich gelegenen Chnum-Tempels zum Opfer gefallen und wurde in hellenistischer Zeit vollkommen überbaut. Der Grund für die Zerstörung des jüdischen Tempels unter Darios II. um 400 v.Chr. geht aus den Quellen nicht klar hervor. Für einen jüdisch_______________ 12 Vgl. KNAUF, E. A., Elephantine und das vor-biblische Judentum, in: KRATZ, R.G. (Hg.), Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden (VWGTh 22), Gütersloh 2002, 179–188. 13 Vgl. VON P ILGRIM, C., Textzeugnis und archäologischer Befund: Zur Topographie Elephantines in der 27. Dynastie, in: Stationen. Beiträge zur Kulturgeschichte Ägyptens (FS R. Stadelmann), hg. von H. Guksch/D. Pols, Mainz 1998, 485–497; DERS., Tempel des Jahu und „Straße des Königs“ – Ein Konflikt in der späten Perserzeit auf Elephantine, in: Egypt – Temple of the Whole World/Ägypten – Tempel der gesamten Welt (FS J. Assmann), hg. von S. Meyer, Leiden–Boston 2003, 303–317.

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ägyptischen Religionskonflikt gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Die Zerstörung könnte rechtliche Gründe gehabt haben. Wie der Ausgräber des jüdischen Viertels, Cornelius von Pilgrim, vermutet, reichte die Umfassungsmauer des jüdischen Tempels bis auf die große „Straße des Königs“ und berührte damit die Eigentumsrechte des persischen Königs und der ägyptischen Chnum-Priester, deren Heiligtum ebenfalls an diese Straße anstieß. Wie dem auch sei, über die Zerstörung des Tempels wurde von den Vertretern der jüdischen Kolonie eine Korrespondenz mit den persischen Behörden und den jüdischen Stellen in Palästina geführt, mit dem Ziel, eine Genehmigung für den Wiederaufbau zu erwirken.14 Diese Korrespondenz ist auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht aufschlußreich. Sie erinnert in vielem an den Bericht vom Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem und die aramäischen Dokumente in Esra 1–6, weist aber auch bezeichnende Unterschiede auf. Auch in der Korrespondenz von Elephantine spielt – wie im biblischen Judentum – die Fremdherrschaft eine wichtige Rolle. Gegenüber den persischen Behörden beteuert man seine Loyalität und verweist dafür auf die Geschichte. Ein wichtiges Argument, um die Genehmigung für den Wiederaufbau zu erhalten, lautet, daß sich die Judenschaft von Elephantine zu keiner Zeit an Aufständen gegen die Perser beteiligt habe und daß schon Kambyses, als er Ägypten einnahm, den jüdischen Tempel vorgefunden und ihn im Unterschied zu vielen ägyptischen Tempeln nicht zerstört habe. Man erkennt also die Fremdherrschaft an und spielt die eigene Loyalität gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen ägyptischen Nationalgefühle gegen die Perser aus. Doch im Unterschied zum biblischen Judentum wird die persische Fremdherrschaft nicht theologisch vereinnahmt und überhöht, der König nicht, wie in Esr 1 oder Jes 45, als Vasall oder gar Bekenner Jhwhs stilisiert. Das Reich Gottes, für das die Perserkönige in der Bibel arbeiten, spielt in der Korrespondenz keine Rolle. Vielmehr wird im praktischen Umgang mit den persischen Behörden die politische Balance gehalten. Das gilt auch für diejenigen Stellen, an denen ausdrücklich von den religiösen Dimensionen des Vorgangs die Rede ist. Schon die Grußformel des in doppelter Ausfertigung erhaltenen Bittschreibens (A4.7–8) empfiehlt Bagohi, den persischen Statthalter Judas, der Fürsorge des Himmelsgottes an, der ihm die Gunst des Königshauses und ein langes Leben gewähren möchte: „An unseren Herrn Bagohi, den Statthalter von Juda, Deine Knechte Jedonja und seine Genossen, die Priester in der Festung Jeb: Um das Wohlergehen unseres Herrn kümmere sich ganz besonders der Gott des Himmels zu jeder Zeit und er gewähre Dir Gunst vor

_______________ 14

TADAE A 4.3; 4.5; 4.7–8; 4.9; 4.10; dazu KRATZ, Judentum, 60–78.

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dem König Darius und den Söhnen des (Königs-)Hauses noch tausendmal mehr als schon jetzt! Und langes Leben gebe er Dir und sei Du zu jeder Zeit fröhlich und glücklich!“ (A4.7,1–2)

Nach der Tempelzerstörung, so heißt es weiter, hätten die Einwohner der jüdischen Kolonie Trauer getragen und sich mit Fasten und Beten an den Herrn des Himmels gewandt, was zur Bestrafung all derer geführt habe, die an der Zerstörung des Tempels beteiligt waren. Doch das Fasten könne kein Ende nehmen, solange der Tempel nicht wiederaufgebaut sei und die ausgesetzten Opfer auf dem Altar des Gottes JHW dargebracht würden. Dem Statthalter werden für die von ihm erbetene Unterstützung Opfer in seinem Namen und Fürbitte in Aussicht gestellt. Sein Eintreten für den Wiederaufbau sei „ein Verdienst (sidqh) vor JHW, dem Gott des Himmels, mehr als (das Verdienst) eines Menschen, der ihm Brandopfer und Schlachtopfer darbringt im Wert von 1000 Talenten Silber“ (A4.7,27f). Auch hier also der „Gott des Himmels“, der bei den Juden in Ägypten wie in Palästina den Namen Jhw (Jahu) trägt, der aber auch dem persischen Statthalter in Juda bekannt ist, welchen Gott auch immer er darunter verstand. Es scheint, als seien die nationalen Hochgötter, der jüdische Gott Jahu (oder Jhwh) und der achämenidische Reichsgott Ahuramazda, miteinander austauschbar gewesen. Entsprechende Zeugnisse in Babylon, wo die Achämeniden im Namen Marduks auftraten, und in Ägypten selbst, wo Ahuramazda unter dem Namen des Sonnengottes Aton-Re erscheint, bestätigen diesen Eindruck.15 Der Titel „Gott des Himmels“ ist in dem Bittgesuch von Elephantine in seiner ursprünglichen Verwendung im persischen Kanzleistil belegt. Anders als in der biblischen Überlieferung ist der „Gott des Himmels“ hier nicht der Gott Israels, der das Geschehen zugunsten seines Volkes Israel lenkt, sondern die höhere Instanz, bei und mit der um die Gunst der persischen Behörden geworben wird. Auch die religiösen Praktiken und Wünsche zielen in diese Richtung. Man findet sie auch in der Bibel, doch sind sie nicht aus der Tora abgeleitet, sondern entsprechen allgemein üblicher Praxis. Das Bittgesuch der Juden von Elephantine hat seine Wirkung nicht verfehlt. In einem Memorandum der Statthalter von Juda und Samaria wird der Wiederaufbau befürwortet (A4.9). Von einem Einspruch der Jerusalemer Führungseliten hören wir nichts. Weder die Konkurrenz zu Jerusalem noch die Reinheit der Gottesverehrung im Umfeld der ägyptischen Heiligtümer scheint ein Problem gewesen zu sein. Die Judäer auf Elephantine lebten als Juden unter den Völkern, soweit zu sehen, vom biblischen Ju_______________ 15

Für Babylon vgl. den Kyros-Zylinder, für Ägypten die in Susa gefundene DareiosStatue aus dem Atum-Tempel in Heliopolis. Dazu KRATZ, Translatio, 210f.213f.

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dentum und seinen heiligen Schriften, der Tora und der übrigen Bibel, unberührt. In dieselbe Richtung weisen auch andere Details der religionsgeschichtlichen Situation auf Elephantine.16 So entsprechen nicht alle Vorschriften in dem berühmten Kultbescheid eines jüdischen Gesandten zum jüdischen Mazzenfest der Tora.17 Der Gesandte beruft sich denn auch nicht auf sie, sondern auf eine Weisung des persischen Königs, von der allerdings nicht sicher ist, in welchem Zusammenhang sie mit dem Kultbescheid steht. Aufgrund des schlechten Erhaltungszustands des Textes läßt sich auch nicht sagen, ob die in Dtn 16 vollzogene Verbindung von Passa und Mazzot, die an die Herausführung aus Ägypten erinnert, vorausgesetzt ist. Zwar ist das Passa auf Ostraka belegt,18 doch wissen wir nicht, was man darunter verstanden hat, und es ist nicht auszuschließen, daß es sich (noch) um einen eigenen, im Unterscheid zum Mazzenfest in der Familie begangenen Festtag handelte. Einige Ostraka erwähnen den Sabbat.19 Man hat jedoch wiederum nicht den Eindruck, als seien die – von den Propheten eingeklagten (vgl. Am 8,5; Jer 17,19ff; Jes 58,13f) und von Nehemia durchgesetzten (Neh 10,32; 13,15ff) – Bestimmungen des biblischen Sabbatgebots (Ex 20,8–11//Dtn 5,12–16) in Geltung oder wenigstens bekannt, falls überhaupt der siebte Tag der Woche und nicht der Vollmondtag, der religionsgeschichtliche Vorläufer des biblischen Sabbat,20 gemeint ist. Und schließlich die anderen Götter. Bei Eiden in Verträgen und vor allem in einer Kollektenliste der jüdischen Garnison begegnen außer Jahu, dem biblischen Jhwh, weitere Gottheiten als Begünstigte. Sie heißen AnatJahu, Anat-Betel, Ascham/Eschem-Betel und Herem-Betel, und einige von ihnen werden, wie bei den Aramäern im benachbarten Syene üblich (A 2.1–7), auch in Briefadressen an Angehörige der jüdischen Kolonie auf Elephantine zusammen mit Jahu und weiteren Göttern (Bel, Nabu, Schamasch, Nergal und Chnum) angerufen.21 Wie der Name Anat-Jahu zeigt, handelt es sich nicht etwa um fremde, sondern um die eigenen Götter. Anat ist aus der kanaanäischen Mythologie als die Frau des Gottes Baal bekannt. Hier ist sie dem Jahu zur Seite gestellt wie Aschera in palästinischen In_______________ 16 Vgl. V INCENT, A., La religion des Judéo-Araméens d’Éléphantine, Paris 1937; P ORTEN, Archives, 103–150; DERS., The Religion of the Jews of Elephantine in the Light of the Hermopolis Papyri, JNES 28 (1969) 116–121. 17 TADAE A 4.1; dazu P ORTEN, Archives, 132f. 18 TADAE D 7.6,9f (convex); 7.24,5 (concave); dazu P ORTEN, Archives, 131f. 19 TADAE D 7.10,5; 7.12,9; 7.16,2; 7.35,7 und vielleicht auch 7.28,4; 7.48,5; dazu DOERING, L., Schabbat (TSAJ 78), Tübingen 1999, 23–42. 20 Vgl. MEINHOLD, J., Die Entstehung des Sabbats, ZAW 29 (1909) 81–112. 21 TADAE B 7.2,7; 7.3,3 C 3.15,127f; D 7.21,3; 7.30,3 u.ö. (vgl. die Belege in TADAE D, S. LXI).

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schriften des 9./8. Jahrhunderts v.Chr. dem biblischen Jhwh.22 Betel, wörtlich übersetzt „Haus Gottes“, ist wie der bekannte biblische Ortsname die Bezeichnung eines Kultplatzes und wurde vor allem von den Aramäern auch als Gottesname gebraucht. Neben Anat-Betel dürften auch EschemBetel („Name des Betel“?) und Herem-Betel („Bezirk des Betel“?) weitere Manifestationen desselben Gottes sein. Ob der Gott Betel und seine Hypostasen mit Jahu und dessen Hypostase Anat-Jahu identisch waren, ist schwer zu sagen. Die Kollektenliste C 3.15, die den Namen verschiedene Beträge zuordnet, läßt eher an verschiedene Gottheiten und wohl auch an verschiedene Kulte, wenn nicht Tempel wie in Syene, denken. Leider sind aus Elephantine keine religiösen Texte im einschlägigen Sinne, also Opferlisten, Kultrituale, Hymnen und Gebete, Beschwörungen oder Mythen, erhalten. Darum läßt sich über den konkreten Kultbetrieb am Tempel und das sonstige religiöse Leben ebenso wenig sagen wie über die religionshistorischen Verhältnisse in Jerusalem. Doch der Unterschied, um nicht zu sagen: der Gegensatz des Judentums von Elephantine zum biblischen Judentum liegt auf der Hand. Übereinstimmung herrscht zwar im Verhältnis zur Fremdherrschaft, in deren Dienst man steht und mit der man sich arrangiert. Im Unterschied zum biblischen Judentum ist dies auf Elephantine aber ganz selbstverständlich und natürlich; das Verhältnis bedarf auch im Konfliktfall keiner eigenen theologischen Begründung (wie etwa in Esr-Neh oder Dan 1–6). „Denn dein ist das Reich“ meint hier zu allererst das Reich der Achämeniden. Dem entspricht, daß jeder Hinweis auf die Tora oder die Eschatologie, die beiden anderen Merkmale des biblischen Judentums, fehlt. Doch nicht nur das, die wenigen Indizien, die wir haben, deuten darauf hin, daß die religiösen Einrichtungen sowie das religiöse Leben und Denken der Juden auf Elephantine genau dem entsprachen, was die Tora verbietet und auf dessen Überwindung die jüdische Eschatologie zielt. Das Judentum von Elephantine repräsentiert, wie gesagt, ein nicht-biblisches Judentum oder, wenn man so will, das israelitisch-judäische „Heidentum“. In der Forschung wird die jüdische Kolonie auf Elephantine für gewöhnlich als eine Ausnahme dargestellt. Manche meinen, der Synkretismus sei in Ägypten entstanden, wo die Juden in engem Kontakt zu Aramäern im persischen Heer lebten, die den Gott Betel (vgl. Jer 48,13) und die auch für das vorexilische Juda bezeugte Himmelskönigin (vgl. Jer 7,18; 44,15ff) verehrten.23 Andere meinen, die Juden von Elephantine hätten eine _______________ 22 RENZ, J./RÖLLIG, W., Handbuch der althebräischen Epigraphik I, Darmstadt 1995, 57–64 (Kuntillet Ajrud); 202–211 (Hirbet el-Kom). 23 P ORTEN, Religion, 120f; STOEBE, H.J., Überlegungen zum Synkretismus der jüdischen Tempelgemeinde in Elephantine, in: Beiträge zur Kulturgeschichte Vorderasiens (FS R.M. Boehmer), hg. von U. Finkbeiner/H. Hauptmann, Mainz 1995, 619–626.

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ältere, vorexilische Form des synkretistischen Jahwismus aus dem Mutterland Palästina mitgebracht, wo sich, wie die Bibel erzählt, der israelitische Jhwh-Glaube (unerlaubterweise) mit Elementen der kanaanäischen und aramäischen Religion vermischt habe.24 Mir scheint eine andere Erklärung näher zu liegen, die noch kaum in Betracht gezogen wurde. Sie lautet, kurz gesagt, so: Nicht Elephantine und die Juden (Judäer) in Ägypten, sondern die Bibel und das biblische Judentum waren in persischer Zeit (noch) die Ausnahme. In Elephantine las und studierte man jedenfalls nicht Tag und Nacht die Tora. In Gebrauch war eine ganz andere Literatur: die aramäische Fassung der Behistuninschrift des Königs Dareios I. (C 2.1) und das Achiqar-Buch (C 1.1), das eher den Vorstufen dessen entspricht, was in die biblische Überlieferung Eingang gefunden hat und hier theologisch gedeutet und überarbeitet wurde. Für Achiqar ist der Vorgang im Tobitbuch, einer Schrift des griechischen Alten Testaments, die auf ein semitisches Original zurückgeht und in Qumran sowohl in einer hebräischen als auch in aramäischen Handschriften bezeugt ist, mit Händen zu greifen. Hier hat sich eine jüdische Version des weitverbreiteten Stoffs erhalten, in der der weise Achiqar ganz vom biblischen Judentum vereinnahmt worden ist.25 Ähnlich verhält es sich mit der Religion. In Ägypten wie in Palästina stand außer Frage, daß Jahu/Jhwh der höchste Gott, der „Gott des Himmels“, sei. Doch daneben wurden offenbar noch andere Gottheiten oder göttliche Wesen im Umkreis Jahus verehrt, und auch der Kontakt zu den Göttern anderer Völker gestaltete sich recht ungezwungen. Ein typisches Schicksal ist das der Mibtachja, der Tochter eines gelegentlich als „Aramäer von Syene“ bezeichneten Juden von Elephantine. Aus ihrem Familienarchiv, das sich über drei Generationen erstreckt,26 geht hervor, daß sie mehrere Male verheiratet war: in erster Ehe mit einem Juden namens Jezanja, dem der Schwiegervater außer seiner Tochter ein Haus vermachte (B 2.4–5); anschließend offenbar mit einem Ägypter, dem Baumeister Pia, Sohn des Pahi, von dem sie sich aber wieder scheiden ließ, wobei sie anläßlich der Teilung des Vermögens einen Eid auf die ägyptische Göttin Sati ablegte (B 2.8); in dritter Ehe war sie wieder mit einem Ägypter, ebenfalls einem königlichen Baumeister mit Namen Eshor, Sohn des Seha, _______________ 24

W EIPPERT, M., Synkretismus und Monotheismus. Religionsinterne Konfliktbewältigung im alten Israel (1990), in: DERS., Jahwe und die anderen Götter. Studien zur Religionsgeschichte des antiken Israel in ihrem syrisch-palästinischen Kontext (FAT 18), Tübingen 1997, 1–24, 15; VAN DER T OORN, K., Anat-Yahu, Some Other Deities, and the Jews of Elephantine, Numen 39 (1992) 80–101. 25 Tob 1,21–22; 2,10; 11,18; 14,10; dazu KÜCHLER, M., Frühjüdische Weisheitstraditionen (OBO 26), Freiburg (CH)–Göttingen 1979, 364–379. 26 B 2.1–11; dazu P ORTEN, Archives, 235–263; etwas anders in P ORTEN/YARDENI, TADAE B, S. 15.

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verheiratet (B 2.6), doch ihre Söhne werden weiterhin als Juden (Judäer) von Elephantine (B 2.9) bzw. Aramäer von Syene (B 2.11) geführt. Das Schicksal macht deutlich, daß die Grenzen aufgrund persönlicher und ökonomischer Verbindungen wohl auch in religiöser Hinsicht fließend waren. Das bedeutet nicht, daß die Juden auf Elephantine ihre Identität aufgegeben und dem Synkretismus anheimgefallen wären. Nur ist es eben nicht die jüdische Identität, wie wir sie aus der Bibel kennen. Ob diese Situation eine Ausnahme war oder auch für Teile des palästinischen Judentums typisch ist, läßt sich nur schwer entscheiden. Die Juden von Elephantine sahen jedenfalls keinen Anlaß, sich und ihre unbiblischen Einrichtungen vor den Jerusalemern, mit denen sie in brieflichem Kontakt standen, zu verstecken. In dem Bittschreiben um Genehmigung zum Wiederaufbau des Tempels (A 4.7–8) reden sie ganz offen von der bisher üblichen Opferpraxis und haben von den Jerusalemern weder direkt noch auf dem Umweg über die Statthalter von Juda (Bagohi) und Samaria (Delaja und Schelemja, die Söhne Sanballats) ernsthaften Widerspruch erfahren. Es scheint, als habe es noch eine gewisse Zeit gebraucht, bis sich das biblische Judentum durchgesetzt und herumgesprochen hatte, daß es neben Jerusalem keine andere Kultstätte für Jhwh und neben Jhwh keine anderen Götter in Israel mehr geben durfte.

III. Alexandria Nach Jerusalem, dem Hauptsitz des palästinischen Judentums, war Alexandria das zweite große Zentrum des Judentums in hellenistischer Zeit, weswegen man auch gern vom „alexandrinischen“ Judentum spricht. Ein fundamentaler Gegensatz zum palästinischen Judentum bestand, unbeschadet gewisser Eigenheiten, nicht. Hier wie dort hielt die Hellenisierung des Judentums Einzug. 27 Und auch die griechische Übersetzung des Alten Testaments war keineswegs auf Alexandria beschränkt, nahm hier aber ihren Ausgang. Darum soll Alexandria mit seiner großen Synagoge und der berühmten, sagenumwobenen königlichen Bibliothek, in der Schriften aus aller Welt gesammelt wurden, pars pro toto für das hellenistische Judentum stehen. Von der königlichen Bibliothek von Alexandria sind zwar keine archäologischen Reste erhalten, doch wissen wir in etwa, welche Schätze sie barg. Unter ihnen soll sich, glaubt man der Legende, auch eine griechische _______________ 27

Zur Vorgeschichte und Entwicklung speziell in Palästina H ENGEL, M., Judentum und Hellenismus (WUNT 10), Tübingen 21973; DERS., Juden, Griechen und Barbaren. Aspekte der Hellenisierung des Judentums in vorchristlicher Zeit (SBS 76), Stuttgart 1976.

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Ausgabe der Bibel, genauer: die griechische Übersetzung des jüdischen Gesetzes, der Tora, befunden haben. Die Übersetzung soll im 3. Jahrhundert v.Chr. auf Wunsch des Königs Ptolemaios II. Philadelphos (285–246 v.Chr.) und durch Vermittlung eines Hofbeamten namens Aristeas von einer Delegation von 72 Priestern aus Jerusalem, sechs aus jedem der zwölf Stämme Israels, in 72 Tagen angefertigt worden sein.28 Von dieser Legende hat die griechische Übersetzung des (ganzen) Alten Testaments ihren Namen, den ihr allerdings erst die Christen zugelegt haben: die Septuaginta oder „Siebzig“. Wie auch immer man über den historischen Wert der Legende denkt, ein Körnchen Wahrheit dürfte sie enthalten. Der Vormarsch der griechischen Sprache und Kultur in Ägypten wie auch in Syrien-Palästina machte eine Übersetzung der heiligen Schriften der Juden ins Griechische notwendig. Und unter diesen heiligen Schriften verstand man zunächst allein die Tora, den sogenannten Pentateuch. Die Übersetzung der Tora war und blieb das Vorbild für die Übersetzung der übrigen Bücher, die in einem langen Prozeß, der sich bis ins erste nachchristliche Jahrhundert hinzog, nach und nach folgten.29 Die Übersetzung ist ein Indiz dafür, daß die biblischen Bücher in Palästina und der ägyptischen Diaspora mittlerweile hohes Ansehen genossen, und sie trug ihrerseits zur Stabilisierung ihrer Autorität bei. Sie setzt eine historische Entwicklung in spätpersischer und frühhellenistischer Zeit voraus, in der zuerst und allem voran die Tora und, wenigstens in ausgewählten Kreisen, bald auch die Propheten und die übrigen Schriften, unter ihnen vor allem die Psalmen Davids, zur Leitüberlieferung des antiken Judentums geworden sind und auch die religiöse Praxis am Tempel von Jerusalem mehr und mehr bestimmten. Die Reihe Tora, Propheten und „übrige Bücher“ wird gegen Ende des 2. Jahrhunderts v.Chr. im griechischen Prolog der Übersetzung des Buches Jesus Sirach vom Enkel des Verfassers genannt. Der entsprechende Bücherbestand bahnt sich schon in der hebräischen Fassung des Großvaters vom Anfang des 2. Jahrhunderts, vor allem im sogenannten Lob der Väter Sir 44–50 sowie in der Formulierung von Sir 38,34–39,1, an und entspricht in etwa dem des späteren hebräischen (jüdischen) Kanons. Darüber hinaus enthält der spätere griechische (christliche) Kanon weitere Schriften, die sogenannten Apokryphen und Pseudepigraphen, die entweder auf eine aramäische oder hebräische _______________ 28

Die Legende ist zum ersten Mal in dem pseudepigraphen Brief des Aristeas belegt, von dem Josephus, Ant XII, 11–118 und wohl auch Philo, VitMos II, 25–44 abhängig sind. Unsicher ist die Datierung des Zeugnisses Aristobuls im Zitat des Euseb (Praep Ev XIII, 12,1–2). 29 Vgl. HENGEL, M., Die Septuaginta als „christliche Schriftensammlung“, ihre Vorgeschichte und das Problem ihres Kanons, in: DERS./SCHWEMER, A.M. (Hg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum (WUNT 72), Tübingen 1994, 182–284.

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Urschrift zurückgehen oder ursprünglich griechisch verfaßt und durchweg von den Schriften des hebräischen Kanons abhängig sind. Es handelt sich um Nachschriften oder Nachahmungen sowie Ergänzungen der biblischen Bücher, die diese den Anforderungen und dem Geschmack der hellenistischen Zeit anpaßten. Auch sie trugen zur Ausbildung und Etablierung des biblischen Judentums bei. Die große Leistung der Septuaginta bestand darin, das biblische Judentum in die hellenistisch-römische Welt hinein getragen und verbreitet zu haben.30 Dies konnte nur gelingen, indem der Geist der hebräischen Texte in der Übersetzung erhalten blieb und umgekehrt der griechische Geist in das Denken des Judentums Eingang fand. Die Balance war nicht leicht zu halten. Die Abschottung gegen alles Griechische war das eine Extrem, die von jüdischen Kreisen mitgetragene Kultreform unter Antiochus IV., der einen Altaraufsatz für Zeus Olympios im Jerusalemer Tempel aufstellen und die Tora abschaffen ließ (1Makk 1), das andere. Dazwischen gab es die verschiedensten Versuche, einen Ausgleich zwischen der Väter Sitte und der neuen Zeit zu finden. Auf seine Weise sucht auch der älteste Beleg der Legende zur Entstehung der Septuaginta, der Aristeasbrief,31 der in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts v.Chr., also in etwa zeitgleich mit der griechischen Übersetzung und dem Prolog des Sirachbuchs, entstanden ist, den Ausgleich und führt vor Augen, welche Bedeutung der Septuaginta dabei zukam.32 Das Pseudepigraph will zeigen, daß das göttliche Gesetz der Juden alle Anforderungen erfüllt, die von der griechischen Philosophie an eine vernünftige und Gott wohlgefällige Gesetzgebung gestellt werden (Arist 31), und daß es sich so auch mit den Bedingungen und Ansprüchen der ptolemäischen Fremdherrschaft bestens verträgt, sofern diese sich dessen bewußt ist, wem sie das Regiment verdankt. Der jüdische Verfasser bedient sich dafür älterer, biblischer Deutungsmuster, die Tora und Weisheit identifizieren (Prov 8; Sir 24) und Gottes Herrschaft durch die Tora mit der Fremdherrschaft in Einklang bringen.33 Die biblischen Traditionen werden in ein positives Verhältnis zur hellenistischen (Popular-) Philosophie gesetzt, indem das jüdische Gesetz hier wie auch bei Aristobul und Philo mit den Mitteln der _______________ 30

Mit die wertvollsten Ausführungen hierzu findet man bei H ANHART, R., Studien zur Septuaginta und zum hellenistischen Judentum (FAT 24), Tübingen 1999, sowie SEELIGMANN, I.L., The Septuagint Version of Isaiah and Cognate Studies (FAT 40), Tübingen 2004. 31 A. P ELLETIER, Lettre d’Aristée a Philocrate (SC 89), Paris 1962; deutsche Bearbeitung von N. M EISNER in JSHRZ II/1, Gütersloh 21977, 35–87. 32 Vgl. zum Folgenden FELDMEIER, R., Weise hinter „eisernen Mauern“. Tora und jüdisches Selbstverständnis zwischen Akkulturation und Absonderung im Aristeasbrief, in: H ENGEL/SCHWEMER (Hg.), Septuaginta, 20–37. 33 S. die Hinweise oben Anm. 6.

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alexandrinischen Exegese „tropologisch“ (Arist 150–151), des näheren ethisch interpretiert (Arist 128–171, bes. 168f) und umgekehrt ein hellenistischer Fürstenspiegel regelmäßig mit dem Zusatz der göttlichen Veranlassung versehen wird (Arist 187–294, bes. 200.235). Die angestrebte „Synthese von Judentum und Hellenismus“34 hat einen theologischen Grund. In dieser Hinsicht geht das Pseudepigraph weiter als manche andere jüdisch-hellenistische Schrift. Der Ausgleich basiert auf der Gleichsetzung des Gottes Israels mit Zeus, dem griechischen „Gott des Himmels“: „Denn der dir (sc. dem König) das Reich wohl bestellt, ist, wie ich herausgefunden habe, derselbe Gott, der ihnen (sc. den Juden) das Gesetz auferlegt. Als Bewahrer und Schöpfer des Alls verehren sie nämlich Gott, den alle (verehren). Wir aber, o König, nennen ihn nur anders: ‚Zeus’ und ‚Dis’. Damit aber haben die Alten nicht unpassend zum Ausdruck gebracht, daß der, durch den alles belebt wird und entsteht, auch alles leitet und beherrscht.“ (Arist 15–16; vgl. Josephus, Ant XII, 21–22).

Die Gleichsetzung hat ebenfalls Tradition und reicht, wie wir sahen, bis in persische Zeit zurück. In hellenistischer Zeit ist sie jedoch wenigstens für das Judentum keineswegs mehr selbstverständlich, zumal sie hier wiederum unter Einfluß griechischen Denkens, nämlich der stoischen Etymologie der beiden Gottesnamen ‚Zeus’ und ‚Dis’, begründet wird35 und nach den Vorgängen unter Antiochus IV., die auf ebendieser Gleichsetzung beruhten, einen üblen Beigeschmack besaß. Für den Verfasser des Aristeasbriefs aber scheint die Krise überwunden zu sein, so daß er wie Aristobul und später auch Josephus unbefangen, nach innen in polemischer, nach außen in apologetischer Absicht, an die universale Gottesvorstellung anknüpfen konnte. Andere machten stattdessen einen eschatologischen Vorbehalt, der im Aristeasbrief fehlt. So hatte die griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel nicht nur eine Bedeutung für die griechischsprachigen jüdischen Gemeinden, sondern strahlte auch in die übrige hellenisierte Welt aus. Sie diente nicht zuletzt apologetischen Zwecken. Mit der Septuaginta konnte das Judentum vor einem literarisch, philosophisch und theologisch gebildeten, griechischen Publikum argumentieren und bestehen, wie, stellvertretend für die um die Septuaginta herum entstandene, umfangreiche jüdisch-hellenistische Literatur der Aristeasbrief selbst zeigt. Schon die historische Fiktion, wonach der königliche Bibliothekar und ein heidnischer Hofbeamter den ptolemäischen König dazu bewogen haben sollen, das jüdische Gesetz ins Griechische übertragen zu lassen und sich _______________ 34

TCHERIKOVER, V., The Ideology of the Letter of Aristeas, HThR 51 (1958) 59–85,

35

HENGEL, Judentum, 481–484.

70.

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ein Exemplar zu beschaffen, soll deutlich machen, daß die Übersetzung nicht nur für den eigenen Gebrauch bestimmt war. Bezeichnend ist auch, daß nicht nur der König, sondern ausgerechnet die am Hof anwesenden „Philosophen“, unter ihnen Menedemos von Eretria, den Ausführungen der aus Jerusalem angeforderten jüdischen Gelehrten und Dolmetschern der Bibel Beifall zollen und der theologischen Akzentuierung des hellenistischen Fürstenspiegels beipflichten (Arist 201.235). Dies und die ethische, auf das Tun der „Gerechtigkeit“ zielende Erklärung der jüdischen Gesetze mit den Mitteln der stoischen Homerexegese sollen beweisen, daß die Griechische Bibel auch den philosophisch gebildeten Heiden etwas zu sagen hat, ja der griechischen Philosophie sogar überlegen ist. Umsomehr mußte die Frage aufkommen, warum das jüdische Gesetz und die Männer, die nach ihm lebten, in der paganen Literatur nirgends erwähnt werden. Der Aristeasbrief geht an zwei Stellen auf dieses Problem ein. In Arist 31 wird Hekataios von Abdera, also ein paganer Schriftsteller, zitiert, der das Schweigen der Dichter und Historiker mit dem Respekt vor der „heiligen und reinen Anschauung“ in den Schriften der Juden begründet haben soll, was mit der vorher gemachten Aussage übereinstimmt, daß das jüdische Gesetz nicht nur philosophisch, sondern auch göttlich und rein sei. Über die Echtheit des Zitats läßt sich nur spekulieren. An der zweiten Stelle, gegen Ende der Schrift (Arist 312–316), erkundigt sich, angetan von der Übersetzung und dem Inhalt des jüdischen Gesetzes, der König bei seinem Bibliothekar Demetrios nach dem Schweigen der Dichter und Historiker. Auch Demetrios nennt die göttliche Autorschaft und die Heiligkeit als Grund und führt zur Illustration zwei Beispiele an, den Historiker Theopomp und den Tragiker Theodektes, die versucht haben sollen, aus dem Gesetz zu zitieren, daraufhin aber mit einer schweren Krankheit geschlagen worden seien und darum von ihrem Vorhaben abgelassen hätten. Im Hintergrund steht bereits die rabbinische Definition des Kanonischen, wonach der (unbefugte oder mißbräuchliche) Umgang mit den „heiligen Schriften“ (vgl. Josephus, Ap I, 10; Ant XX, 261), wozu hier auch die Benutzung einer ungenauen Übersetzung zählt (Arist 314), „die Hände verunreinigt“ (mYad 3,5; 4,6; vgl. Arist 305–306). Läßt sich den Reaktionen der Philosophen und den Beispielen der paganen Schriftsteller entnehmen, daß sich das gewaltige, einzigartige Unternehmen der Übertragung der Hebräischen Bibel ins Griechische auch an eine heidnische Leserschaft richtete, so gibt der angegebene Grund für die Zurückhaltung der heidnischen Autoren, die Reinheit und Heiligkeit des Gesetzes, zu erkennen, daß der primäre Zweck doch ein anderer war. Die Übersetzung zielte vor allem nach innen in die jüdische Gemeinschaft und sollte dazu animieren, in der fremden, in mancher Hinsicht hoch attraktiven, ja verführerischen Welt des Hellenismus an dem Glauben der Väter

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und dem Bekenntnis zum einen und einzigen Gott festzuhalten. Neben dem apologetischen Interesse war also in erster Linie die eigene, innerjüdische Standortbestimmung das Ziel. Der Aristeasbrief bringt auch dieses Ziel auf den Punkt.36 Wie in der hellenistischen Zeit allgemein üblich, steht das Bekenntnis zum einen Gott, dem Schöpfer und Lenker der Welt, an der Spitze aller Selbsterklärungen nach außen wie nach innen (Arist 132). Zwar besaß dieses Bekenntnis eine gewisse Affinität zur hellenistischen Philosophie und war am leichtesten vermittelbar, doch bedeutete es zugleich eine scharfe Abgrenzung gegen den heidnischen Götzendienst und alle übrigen Menschen, Griechen wie Ägypter (Arist 134–138). Dasselbe gilt nach den Erklärungen des Hohenpriesters Eleazar für das Gesetz als Ganzes, das die Juden als „Menschen Gottes“ davor bewahren soll, sich mit den anderen Völkern zu mischen und zu verunreinigen (Arist 139–142). Es umgibt das Judentum mit „undurchdringlichen Wällen“ und „eisernen Mauern“ (Arist 139). Das ist, bei allem Entgegenkommen in der tropologisch-moralischen Interpretation des Gesetzes, weniger nach außen als vielmehr nach innen gesagt. Die „undurchdringlichen Wälle“ und „eisernen Mauern“ wurden nötig, nachdem nicht erst unter Antiochus IV. einige der Versuchung erlegen waren, das Gesetz ihrer Väter, die Tora, preiszugeben, um mit allen Völkern „ein Volk zu werden“ (1Makk 1,41). Deswegen hat das Gesetz nicht nur eine für Heiden nachvollziehbare zeichenhafte Bedeutung, sondern auch die Bestimmung, daß sich die Juden „von allen Menschen unterscheiden“ (Arist 151). Nach innen, an die Adresse der jüdischen Gemeinschaft, gerichtet ist auch der Diskurs über die korrekte Übersetzung. Der fingierte Brief des Aristeas ist das Empfehlungsschreiben für die griechische Übersetzung der Tora, worunter man bald die ganze Griechische Bibel verstand. Damit aber sollte nicht nur der Kurs derjenigen bestätigt werden, die sich sowohl der hellenistischen Kultur öffneten als auch an den Überlieferungen und dem Bekenntnis der Väter festhielten. Es sollte offenbar auch anderen, abweichenden griechischen Fassungen und dauernden Revisionen des griechischen Texts entgegengetreten werden. Darum die ausführliche Schilderung der Übersetzungsarbeit, die auf Übereinstimmung der Dolmetscher und äußerste Genauigkeit Wert legt und in der prophylaktischen Verfluchung dessen, der etwas hinzufügt, umstellt oder hinwegnimmt, endet (Arist 301–311). Und darum auch der Hinweis auf fehlerhafte Übersetzungen (Arist 314). Geht es dabei im Aristeasbrief noch einigermaßen pragmatisch zu, so erhält die Tätigkeit der Übersetzer in der Version der Entstehungslegende bei Philo von Alexandrien (VitMos II, 25–44) einen _______________ 36

Vgl. FELDMEIER, Weise, 33–35.

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religiösen Anstrich. Der Aufenthaltsort der Übersetzer gewährt nicht nur die nötige Ruhe (Arist 301; VitMos 36), sondern bringt sie mit der Schöpfung in Kontakt, von der das Gesetz selbst handelt (VitMos 37). Das morgendliche Gebet der jüdischen Gelehrten (Arist 305f) bezieht sich ausdrücklich auf die bevorstehende Aufgabe (VitMos 36). Die Übereinstimmung der Übersetzer und Genauigkeit der Wiedergabe (Arist 302.310) verdankt sich prophetischer Eingebung; scheint es nach dem Aristeasbrief so, als sei die Zahl der Tage verabredet gewesen (Arist 307), so hier, als sei ein unsichtbarer Souffleur am Werk (VitMos 37). Die allgemeine Bewunderung gilt denn auch nicht den Übersetzern und dem königlichen Bibliothekar (Arist 308–309), sondern den Priestern und Propheten wie Mose, die eine dem Original ebenbürtige, damit gleichsam identische Übersetzung schufen (VitMos 40). Ihrem eigenen Anspruch nach und gemäß den antiken Zeugnissen ihrer Entstehung sollte die Septuaginta ein adäquater Ersatz für die Hebräische Bibel sein, um das griechischsprachige Judentum in Palästina und der Diaspora mit dem Bekenntnis des biblischen Judentums zu erreichen. Auch wenn die Übersetzung die theologischen Akzente ein wenig anders setzt und die Septuaginta vor allem durch den zusätzlichen Bestand an Apokryphen und Pseudepigraphen ein etwas anderes Gepräge hat, ist das Bekenntnis des alexandrinischen Judentums, soweit es die biblischen Schriften und ihre Auslegung betrifft, grundsätzlich kein anderes als das des hebräischen Kanons: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen“. Was inzwischen aus dem Judentum von Elephantine und seinesgleichen geworden ist, wissen wir nicht. Es dürfte in der Masse derer aufgegangen sein, die sich ganz der hellenistischen Lebensart verschrieben haben.

IV. Qumran Rund 250 Jahre liegen zwischen den Papyri von Elephantine, rund 100 Jahre zwischen den Anfängen der Septuaginta und den Schriftrollen, die nach rund 2000 Jahren, seit Mitte des 20.Jahrhunderts, in Chirbet Qumran am Toten Meer entdeckt wurden und mittlerweile fast vollständig publiziert sind.37 Das Archiv von Qumran gibt uns zum ersten Mal einen authentischen Einblick in das Leben und Denken einer jüdischen Gemeinschaft, _______________ 37 Die vollständige Liste bei TOV, E., The Texts from the Judaean Desert. Indices and an Introduction to the Discoveries in the Judaean Desert Series (DJD XXXIX), Oxford 2002. Zum Stand der Forschung F LINT, P. W./VANDERKAM, J.C., (Hg.), The Dead Sea Scrolls after Fifty Years. A Comprehensive Assessment, Leiden–Boston–Köln, I 1998, II 1999.

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die sich den biblischen Schriften – im Sinne des Worts – „verschrieben“ hat, und läßt noch erkennen, daß es sich bei dem biblischen Judentum um die Position einer Minderheit in Juda handelte, die sich, nicht zuletzt dank der griechischen Übersetzung, im Laufe der hellenistischen Zeit allmählich ausgebreitet und am Ende durchgesetzt hat. Die Gemeinschaft von Qumran38 ist wahrscheinlich aus einem Konflikt um das Hohepriesteramt am Zweiten Tempel zu Jerusalem hervorgegangen. Die fortschreitende Hellenisierung Judas und des Judentums hat auch vor dem Tempel nicht Halt gemacht. 175 v.Chr. bestieg Antiochus IV. mit dem Beinamen Epiphanes den seleukidischen Thron.39 Unter ihm wurde Onias III. aus dem Geschlecht der Zadokiden als Hoherpriester abgesetzt. Er mußte der hellenistischen Reformpartei weichen und den Platz seinem Bruder Jason überlassen. Doch auch er blieb nicht lange im Amt und wurde durch Menelaos ersetzt, einem Mann, der nicht aus der hohepriesterlichen Linie der Zadokiden stammte. Mit seinem Einverständnis wurde in Jerusalem die Kultreform durchgeführt, die auch die Juden in die hellenistische Einheitskultur zwingen sollte: die Anbringung eines Altaraufsatzes für den Gott Zeus Olympios und die Außerkraftsetzung der Tora (1Makk 1). Gegen diese Maßnahmen regte sich der bewaffnete Widerstand der Makkabäer, der dazu führte, daß im Jahre 164 v.Chr. die „Reform“ rückgängig gemacht, der Tempel gereinigt und wieder geweiht und ein Hoherpriester aus zadokidischem Geschlecht eingesetzt werden konnte. Kaum war die Gefahr von außen gebannt, brachen schon lange schwelende Konflikte im Inneren der jüdischen Bevölkerung auf. Die makkabäischen Kämpfer wollten mehr und kämpften – mit römischer Unterstützung im Hintergrund – weiter gegen die schwächelnden Seleukiden um die politische Herrschaft in Juda. Sie begründeten das hasmonäische Königtum und näherten sich immer mehr der hellenistischen Regierungs- und Lebensart an, bis 64 v.Chr. Pompejus in die tobenden Erbstreitigkeiten der Hasmonäer eingriff und sie zu Vasallen des römischen Imperiums machte. Das blieben sie bis zu den beiden jüdischen Aufständen gegen Rom im 1. und 2. Jahrhundert n.Chr., die brutal niedergeschlagen wurden und beim ersten Mal um 70 n.Chr. die Zerstörung des Zweiten Tempels, beim zweiten Mal um 135 v.Chr. die Vertreibung aus Jerusalem zur Folge hatten. _______________ 38

Zur Einführung STEGEMANN, H., Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 41994; VANDERKAM, J. C., Einführung in die Qumranforschung (engl. 1994), Göttingen 1998; zur Archäologie M AGNESS, J., The Archaeology of Qumran and the Dead Sea Scrolls, Grand Rapids, Cambridge 2002. 39 Zu den historischen Vorgängen nach wie vor grundlegend B ICKERMANN, E., Der Gott der Makkabäer, Berlin 1937; zur neueren Quellenkritik und Chronologie F ISCHER, T., Seleukiden und Makkabäer, Bochum 1980.

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Ihre politischen Ansprüche untermauerten die Makkabäer und späteren Hasmonäer durch die Besetzung des Hohenpriesteramts. Nach dem Tod des letzten Hohenpriesters aus zadokidischem Geschlecht, Alkimos, griff Jonathan, der Sohn des Judas Makkabäus, nach dem Amt; bald darauf vereinigten die Hasmonäer Königtum und Priestertum, Thron und Altar, in einer Person. Diese Situation scheint der Anlaß für einen Priester gewesen zu sein, aus Jerusalem auszuwandern und die Gemeinschaft von Qumran zu gründen. Möglicherweise war er ein Anwärter auf das Hohepriesteramt und legitimer Nachfolger des Alkimos, der aber nicht zum Zuge kam. In den Texten von Qumran wird er der „Lehrer der Gerechtigkeit“ genannt, der amtierende Hohepriester in Jerusalem, ein Makkabäer und kein Zadokide, hingegen als „Frevelpriester“ bezeichnet. Die religionsgeschichtlichen Verhältnisse im Jerusalem des 2. Jahrhunderts v.Chr. und der folgenden Jahrhunderte erinnern in vielem an das Bild, das auch der Aristeasbrief bietet. Die Tora, das jüdische Gesetz, und mit ihr der Glaube an den einen und einzigen Gott, scheinen mittlerweile wie selbstverständlich anerkannt gewesen zu sein. Auch die hellenisierten jüdischen Herrscher aus makkabäischem und hasmonäischem Geschlecht hielten nominell an der Tora fest wie alle anderen jüdischen Gruppierungen dieser Zeit, das alexandrinische Judentum, die Samaritaner und natürlich die Gemeinschaft von Qumran. Das Ansehen der Tora als der fundamentalen Urkunde des Judentums ist das einzige, was, wohl befördert durch die Herausforderungen und verschiedenen Krisen der hellenistischen Zeit, sämtliche jüdische Gruppierungen zusammenhielt. Doch was dies genau bedeutete, inwieweit die Tora etwa im kultischen und religiösen Leben Jerusalems auch tatsächlich eingehalten, wie sie ausgelegt und im einzelnen praktiziert wurde, ist nicht bekannt. Vieles deutet darauf hin, daß sich unter den Priestern und Gelehrten am Zweiten Tempel, den aus dem Neuen Testament bekannten Sadduzäern und Schriftgelehrten (Pharisäern),40 eine durchschnittliche jüdische Orthodoxie und Orthopraxie herausgebildet hat, die nach dem Vorbild des biblischen und des alexandrinischen Judentums den Ausgleich zwischen den Extremen suchte: Anerkennung der hellenistisch-römischen Fremdherrschaft, Anerkennung und Ausdifferenzierung der jüdischen Tora und eine abgemilderte, jedenfalls gegen innen und außen nicht zu kritische, nicht staatsfeindlich eingestellte Eschatologie, nach dem Motto: Gebt dem Kaiser was des Kaisers und Gott was Gottes ist. Lediglich im Leben des Einzelnen spielte die Eschatologie eine immer größer werdende Rolle. Im Zentrum stand der Gedanke der gerechten Vergeltung für das, was man im _______________ 40 Zur Gruppenbildung im Judentum um die Zeitenwende W ELLHAUSEN, J., Die Pharisäer und die Sadduzäer (1874), Göttingen 31967; STEMBERGER, G., Pharisäer, Sadduzäer, Essener (SBS 144), Stuttgart 1991.

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Leben geglaubt und getan hat. Da es sich dem äußeren Augenschein nach nicht immer auszahlte, Gott zu lieben und seine Tora zu halten, hoffte man auf die Vergeltung der guten und der schlechten Werke im endzeitlichen Gericht. Vor allem in griechischsprachigen und von der hellenistischen Popularphilosophie beeinflußten Schriften wird – nicht zuletzt darum – immer häufiger die Frage des Lebens nach dem Tod bedacht. Die Programmschrift dieser Ausprägung des biblischen Judentums ist das Buch Jesus Sirach, das Anfang des 2. Jahrhunderts auf Hebräisch verfaßt und gegen Ende des 2. Jahrhunderts ins Griechische übersetzt wurde. In den Augen der Gemeinschaft von Qumran, die man für gewöhnlich mit den Essenern identifiziert, und anderer, die sich selbst die „Frommen“ (hebräisch Chasidim, griechisch Asidaioi) nannten, war dies nicht genug. Das zeigt sich schon an dem Schriftenbestand, der sich in den Höhlen von Qumran und an anderen Orten am Toten Meer gefunden hat. Wenn man sich den Grundriß der Siedlung von Qumran vor Augen hält, so ist doch sehr erstaunlich, welch ungeheure Masse von Texten auf derart engem Raum überliefert, abgeschrieben oder neu verfaßt wurde, sofern die Schriftrollen tatsächlich alle aus dieser einen Siedlung stammen. Was sich findet, sind zum einen die ältesten uns bekannten Handschriften der biblischen Bücher, und zwar, mit Ausnahme des Esterbuches, Handschriften aller Bücher des hebräischen Kanons in mehreren Exemplaren und in mehreren, voneinander abweichenden Fassungen.41 Das bedeutet, daß die Gemeinschaft von Qumran nicht nur die Tora, sondern auch die übrigen biblischen Bücher, die Geschichtsbücher, die Propheten und Psalmen und alles andere als autoritativ ansah und studierte. Zwar gab es noch keinen Kanon der heiligen Schriften. Doch wie die vielen Zitate und die Kommentare über die Prophetenbücher und die Psalmen beweisen, hatten die im späteren Kanon zusammengestellten Bücher bereits einen besonderen Rang. Bemerkenswert ist, daß die Bücher des späteren hebräischen Kanons nicht nur in hebräischer Sprache, sondern, soweit vorhanden, auch schon in griechischer Übersetzung42 sowie Bücher des späteren griechischen Kanons und andere Apokryphen und Pseudepigraphen in ihrer hebräischen oder aramäischen Originalsprache überliefert wurden.43 Es deuten sich damit Querverbindungen zur Septuaginta und dem alexandrinischen Judentum an. _______________ 41 Vgl. ULRICH, E., The Dead Sea Scrolls and the Biblical Text, in: FLINT/ VANDERKAM (Hg.), Scrolls I, 79–100. 42 Vgl. GREENSPOON, L. J., The Dead Sea Scrolls and the Greek Bible, in: FLINT/V ANDERKAM (Hg.), Scrolls I, 101–127. 43 Vgl. FLINT, P. W., „Apocrypha,“ Other Previously-Known Writings, and „Pseudepigrapha“ in the Dead Sea Scrolls, in: FLINT/V ANDERKAM (Hg.), Scrolls II, 24–66.

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Das biblische Judentum ist demnach die Grundlage für die Gemeinschaft von Qumran, doch damit nicht einfach identisch. Qumran repräsentiert vielmehr ein fortgeschrittenes, radikalisiertes Stadium des biblischen Judentums. Fremdherrschaft und real existierender Tempel spielen eine untergeordnete Rolle. Dafür sind Toraobservanz und Eschatologie aufeinander bezogen und bis ins Extrem gesteigert. Die stark eschatologische Ausrichtung manifestiert sich zunächst in solchen nichtbiblischen Schriften, die außerhalb der Gemeinschaft entstanden sind, hier aber überliefert wurden. Es handelt sich um Apokalypsen und verwandte Offenbarungsliteratur.44 In ihr werden die Geheimnisse der himmlischen Welt, der gegenwärtigen wie der kommenden, offenbart: Der himmlische Tempel und der im Himmel gefeierte Gottesdienst, die an die Stelle des irdischen Tempels in Jerusalem und seinen Kult treten; das himmlische Reich und die Herrschaft des Messias, die die Herrschaft des Bösen im Menschen und in der Welt bekämpfen und ablösen; und vor allem die himmlische Ordnung der Zeiten von der Schöpfung bis zum Ende der Welt, in der die Drangsale der Gegenwart ihren von Gott festgesetzten Ort haben und das Ende tröstlicherweise im Voraus genau berechnet werden kann. In den Apokalypsen treten Geistesströmungen zutage, die die Menschen im Zeitalter des Hellenismus sehr bewegt haben: der Schicksalsglaube und das Problem der Determination des persönlichen Schicksals wie der allgemeinen Zeitläufe; die Frage nach der Herkunft des Bösen und nach der Rolle der Götter bzw. des einen Gottes in dem Dualismus von guten und bösen Mächten im Himmel wie auf der Erde, von Gott und Satan (dem Versucher), oder Gott und Belial (dem Nichtsnutz). Alte, längst überwunden geglaubte Vorstellungen des Polytheismus, Astrologie und Dämonologie, Magie und Mantik, erhielten von zwei Seiten her neue Nahrung, von der griechischen wie von der mesopotamischen Welt. In Gestalt der Angelologie, der Lehre von den guten und den gefallenen Engeln, die mit den Sternen identifiziert werden und das himmlische Gegenstück zu den Frommen und Sündern auf Erden darstellen, tauchen die alten Vorstellungen in der jüdischen Apokalyptik plötzlich wieder auf. Unter dem Vorzeichen des Bekenntnisses zum einen und einzigen Gott, dem Gott Israels und Schöpfer des Himmels und der Erden, dem, der das Licht und die Finsternis, das Heil und das Unheil, das Gute und das Böse schafft, werden sie theologisch bedacht und bearbeitet. Die Antworten auf die theologischen Fragen des hellenistischen Zeitalters konnten sehr verschieden ausfallen. Kohelet etwa ist kurz davor, an diesen Fragen zu verzweifeln. Er hält dennoch an Gott als dem Verborge_______________ 44

Vgl. COLLINS, J. J., Apocapyticism and Literary Genre in the Dead Sea Scrolls, in: FLINT/V ANDERKAM (Hg.), Scrolls II, 403–430.

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nen fest und empfiehlt mit der hellenistischen Popularphilosophie, zu essen und zu trinken und es sich gut gehen zu lassen, solange man Gelegenheit dazu hat und Gott es zuläßt: carpe diem. Jesus Sirach sieht das ganz anders. Für ihn ist der Wille Gottes in der Tora klipp und klar geoffenbart. Er benötigt keine zusätzlichen himmlischen Offenbarungen und ist weit davon entfernt, vor dem unberechenbaren Schicksal oder dem Bösen in der Welt zu kapitulieren. Denn die Schöpfung ist, wie Gen 1 lehrt, durch und durch gut. Alles hat Gott erkennbar zum Besten gefügt, das Gute für die Guten, das Böse für die Bösen, und alles zu seiner Zeit. Für die Apokalyptiker jedoch und die Leute von Qumran, die deren Schriften studiert und mehrfach abgeschrieben haben, ist überhaupt nichts klar. Auch für sie ist der Wille Gottes in der Tora und den übrigen Schriften der Hebräischen Bibel geoffenbart. Doch sind diese Schriften nicht ohne weiteres aus sich heraus verständlich, sondern dunkel und ihr Sinn verborgen. Sie bedürfen der zusätzlichen Offenbarung und der Auslegung – auf die eigene (leidvolle) Situation und auf die kommende Zeit, in der sich die von Gott bestimmte Ordnung der Zeiten erfüllen wird, das Gericht über Gute und Böse gehalten wird und Gott alles in allem ist. Noch deutlicher als in den importierten biblischen und nichtbiblischen Büchern ist das eschatologische Selbstverständnis der Gemeinschaft von Qumran in ihren eigenen Schriften zu fassen.45 Als Beispiel sei der Kommentar (hebräisch: Pescher) zum Buch Habakuk angeführt.46 Vers für Vers wird das biblische Prophetenbuch zitiert und – wie noch heute in der Predigt – ausgelegt. Die Weissagungen des biblischen Propheten Habakuk, von denen wir nicht genau wissen, von wann sie stammen, die aber ursprünglich sicher nichts mit Qumran zu tun hatten, gelten als das Wort Gottes für die eigene Situation. Die Auslegung bezieht die Weissagungen auf die Gemeinschaft von Qumran und sagt, auf wen und auf welche Zeit sie zielen. Hier eine Probe aus dem Pescher zum Buch Habakuk (1QpHab Kol VI,12–VII,14): „Auf meine Wacht will ich treten und mich auf meine Warte stellen und will spähen, um zu schauen, was er spricht zu mir, und was er erwidern wird auf meine Klage. Und Jahwe antwortete mir und sprach: Schreibe das Gesicht auf und grabe es ein auf die Tafeln, damit eilen kann, wer es liest.“ (Hab 2,1f)

_______________ 45 Zur Unterscheidung vgl. die Beiträge von LANGE, A., Kriterien essenischer Texte und HEMPEL, C., Kriterien zur Bestimmung „essenischer Verfasserschaft“ von Qumrantexten, in: FREY, J./STEGEMANN, H. (Hg.), Qumran kontrovers (Einblicke 6), Paderborn 2003, 59–69 und 71–85. 46 Ich zitiere nach der Studienausgabe von LOHSE, E., Die Texte aus Qumran, Darmstadt 1981, 227–243; weitere Propheten- und Psalmenkommentare a.a.O, 261–279, sowie im Fortsetzungsband von S TEUDEL, A., Die Texte von Qumran II, Darmstadt 2001, 215– 253.

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„Seine Deutung: ... Und Gott sprach zu Habakuk, er solle aufschreiben, was kommen wird über das letzte Geschlecht. Aber die Vollendung der Zeit hat er ihm nicht kundgetan. Und wenn es heißt: ‚Damit eilen kann, wer es liest’, so bezieht sich seine Deutung auf den Lehrer der Gerechtigkeit, dem Gott kundgetan hat alle Geheimnisse seiner Knechte, der Propheten.“ „Denn noch ist eine Schau auf Frist, sie eilt dem Ende zu und lügt nicht.“ (Hab 2,3) „Seine Deutung ist, daß sich die letzte Zeit in die Länge zieht, und zwar weit hinaus über alles, was die Propheten gesagt haben; denn die Geheimnisse Gottes sind wunderbar.“ „Wenn sie verzieht, so harre auf sie, denn sie wird gewiß kommen, und nicht wird sie ausbleiben.“ (Hab 2,3) „Seine Deutung bezieht sich auf die Männer der Wahrheit, die Täter des Gesetzes, deren Hände nicht müde werden vom Dienst der Wahrheit, wenn die letzte Zeit sich über ihnen hinzieht. Denn alle Zeiten Gottes kommen nach ihrer Ordnung, wie er es ihnen festgesetzt hat in den Geheimnissen seiner Klugheit.“

Der Text ist ein frühes Beispiel der Textexegese und der Schriftgelehrsamkeit, die schon die biblischen Schriften selbst auszeichnet und ein Wesensmerkmal des antiken Judentums überhaupt darstellt.47 Hier wird die Schriftgelehrsamkeit zum ersten Mal explizit. Die Kommentare von Qumran sind die unmittelbaren Vorläufer der Auslegung der Schriftzitate im Neuen Testament und in der rabbinischen Literatur. Sie sind von der tiefen Überzeugung durchdrungen, in den letzten Zeiten vor dem herbeigesehnten Ende der Welt zu leben. Doch die Zeit bis zum Ende kann sich verziehen. Darum – wie später auch im Neuen Testament – der Appell, auszuhalten, auszuharren bis ans Ende und nicht nachzulassen, den Dienst der Wahrheit zu versehen, womit hier natürlich der Gesetzesgehorsam gemeint ist. Der Gesetzesgehorsam, die Toraobservanz, ist aber nicht nur die praktische Seite des Bekenntnisses, sondern steht ganz im Dienst der Eschatologie. Das unterscheidet die Gemeinschaft von Qumran von anderen jüdischen Gruppierungen, auch vom biblischen Judentum, die Toraobservanz und Endzeiterwartung eher als zwei verschiedene Haltungen kennen. Die Verbindung mit der Eschatologie verleiht der Forderung des Gesetzesgehorsams besonderen Nachdruck, was sicher auch aus der Situation der Gemeinschaft von Qumran als einer marginalisierten Randgruppe zu erklären ist. Je weiter sie sich vom Judentum am Tempel zu Jerusalem entfernte, desto strikter wurden die Aufnahmebedingungen und Regeln für das toragemäße Leben in der Gemeinschaft. Auch hierzu sei eine kurze Probe zitiert, diesmal ein Stück aus der sogenannten Gemeinderegel 1QS,48 einer _______________ 47 48

Vgl. KRATZ, Judentum, 121ff. LOHSE, Texte, 4–43.

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Art Selbstbeschreibung der Gemeinschaft, und zwar die ungewöhnlich lange Satzfügung am Anfang der Schrift (Kol. I,1–11). „Buch der Ordnung der Gemeinschaft: Gott zu suchen mit ganzem Herzen und ganzer Seele, zu tun, was gut und recht vor ihm ist, wie er durch Mose und durch alle seine Knechte, die Propheten, befohlen hat; und alles zu lieben, was er erwählt hat, und alles zu hassen, was er verworfen hat; sich fernzuhalten von allem Bösen, aber anzuhangen allen guten Werken; und Treue, Gerechtigkeit und Recht zu tun im Lande; aber nicht länger zu wandeln in der Verstocktheit eines schuldigen Herzens und Augen der Unzucht, allerlei Böses zu tun; und alle, die willig sind, Gottes Gebote zu erfüllen, in den Bund der Barmherzigkeit herbeizubringen; vereint zu sein in der Ratsversammlung Gottes und vor ihm vollkommen zu wandeln gemäß allem, was offenbart wurde für die für sie bestimmten Zeiten; und alle Söhne des Lichtes zu lieben, jeden nach seinem Los in der Ratsversammlung Gottes, aber alle Söhne der Finsternis zu hassen, jeden nach seiner Verschuldung in Gottes Rache.“

Schärfer könnte der Gegensatz kaum formuliert sein, der zwischen Gerechten und Frevlern, Tätern und Übertretern des Gesetzes, Söhnen des Lichts und Söhnen der Finsternis gemacht wird. Der Gegensatz scheidet nicht nur Israel von den Völkern, sondern nimmt eine Scheidung innerhalb Israels vor. Die Gemeinschaft von Qumran erhebt den Anspruch, das wahre Israel zu sein, der neue Bund, der eigentlich der alte ist. Deswegen überliefert sie die alten biblischen und nichtbiblischen Schriften und fügt ihnen neue hinzu, die in der Sprache der alten gehalten sind und sich wortwörtlich auf sie beziehen. Sie reklamiert das biblische Judentum (nicht ganz zu Unrecht) für sich und untermauert die Scheidung von allem übrigen Judentum mit metaphysischen Mitteln: dem Gegensatz von Licht und Finsternis, heiligen und gefallenen Engeln, Wahrheit und Lüge, Gott und Belial. Was ist aus dem Judentum von Qumran geworden? Auf Dauer hat sich diese – radikalisierte – Variante des biblischen Judentums ebensowenig durchsetzen können wie die anderen Extreme, das Judentum von Elephantine oder das radikal hellenisierte (toralose) Judentum. Durchgesetzt hat sich der mittlere, gemäßigte Weg, der im biblischen und alexandrinischen Judentum angelegt ist und sich nach zwei Richtungen verzweigt hat, die hier aber nicht weiter verfolgt werden können: das Christentum und das rabbinische Judentum. Beide sind unter den Bedingungen der Fremdherrschaft entstanden und nehmen davon mehr oder weniger Notiz. Beide haben ihren Sinn auf den Tempel in Jerusalem gerichtet, kommen nach dessen Zerstörung im Jahre 70 n.Chr. aber auch gut ohne ihn aus. Toraobservanz und Eschatologie sind bei ihnen unterschiedlich gewichtet, doch in beiden Fällen im Rahmen des Praktikablen gehalten. Alexandrinische Exegese und rabbinische Kasuistik haben je auf ihre Weise dafür gesorgt, daß das Bekenntnis zum einen und einzigen Gott nicht den historischen Zufällen der Geschichte zum Opfer fiel, sondern im Judentum wie im

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Reinhard G. Kratz

Christentum bis heute Bestand hat und gelebt werden kann, daß also bis heute die Doxologie gebetet werden kann, mit der dieser Beitrag begann und mit der ich auch schließen möchte: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen.“          !    " !  ! #! 

Autorenverzeichnis AURELIUS, ERIK Professor für Biblische Theologie und ihre Didaktik, 1997–2004 Universität Göttingen, seit 2004 Bischof der Diözese Skara (Schweden) BICKEL, SUSANNE Dozentin für Ägyptologie, Universitäten Basel und Fribourg DE JONG,

ALBERT Dozent für Religionsgeschichte und vergleichende Religionswissenschaft, Universität Leiden GRONEBERG, BRIGITTE Professorin für Altorientalistik, 1989–1999 Universität Hamburg, seit 1999 Universität Göttingen JUNGE, FRIEDRICH Professor für Ägyptologie, Universität Göttingen

KRATZ, REINHARD G. Professor für Altes Testament, Universität Göttingen KREYENBROEK, PHILIP G. Professor für Iranistik, Universität Göttingen NIEHR, HERBERT Professor für Biblische Einleitung und Zeitgeschichte, Universität Tübingen und University of Stellenbosch NUNN, ASTRID Professorin für Vorderasiatische Archäologie, Universität Würzburg SCHWEMER, DANIEL Dozent für Altorientalistik, School of Oriental and African Studies London

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Autorenverzeichnis

SPIECKERMANN, HERMANN Professor für Altes Testament, 1989–1992 Universität Zürich, 1992–1999 Universität Hamburg, seit 1999 Universität Göttingen STERNBERG-EL HOTABI, HEIKE Professorin für Ägyptologie, Universität Göttingen ZGOLL, ANNETTE Privatdozentin für Altorientalistik, Universität Leipzig

Sachregister Achet-Aton 53f. Ahnenkult 269, 270, 271, 272f., 274, 277 Ahura MazdƗ 199, 200, 201, 202, 203, 204, 212, 213, 214, 215, 217, 218 Amun 7f., 8, 10, 16, 18, 36f., 58–60 Anthropozentrik 103 Ardat –Lilî 159, 162 Aristeasbrief 362–366 Assur 174, 176, 179, 181, 186–188 Aton 49 Atonhymnus 55–57, 62–65 Atontempel 47f., 54 Atum 18–20, 23–30, 35f. Audienzmodell 106, 108, 113 Avesta 200, 207f., 209f., 211ff., 216ff., 223–227, 231 Baal 285f., 290–300 Bes Pantheos 15–18, 36 Bilderverbot 342–343 Bingen, Hildegard von 13–16 Cella 171, 173, 174, 175, 176f., 178–181, 185, 186, 187–189 Chaosmächte 332, 344–345 Chepri 8f., 26–35 Den 84, 85, 95 Djet 88 Dualismus 199, 200, 201, 202, 212, 213, 214, 215, 216, 221, 222 Ebla 268, 270, 271, 273 Echnaton 47f. El 291, 293f., 296–298, 301 Elephantine 353–360 Enuma Elisch 134 Eschatologie 353.358.368–374 Falke 87–89, 96 Familie 267, 268, 269, 274f., 276, 277, 278, 279

Fremdgötterverbot 339–340 Fremdherrschaft 350–352, 355, 358, 362, 368, 370, 373 GƗthƗs 200, 209, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 222 Götterbilder 235, 335, 340–345 Götterhierarchien 118f., 124f. Gottesbild 105, 107ff., 118ff. Gottheiten, phönizische 303–324 Grab/Gräber 268, 270, 271, 273, 278 Hebräische Bibel 347–374, bes. 348–353 Hesiod 288–290, 292, 299 Hof 171, 173, 174–178, 181, 184, 185, 186, 187, 189 Horus 7f., 10, 14f., 17–25, 27, 30f., 33– 36, 38–40, 85, 89, 93, 96f. HafƗ÷e 175f., 177, 180 Interaktionskonzepte 107ff., 123f. Isis 10f., 18–23, 27f., 30–33, 35, 40 Ištar 136, 139–141, 153–163, 244, 246, 250, 256 Judentum — Alexandrinisches 360–366 — Biblisches 347–374, bes. 348–353 Kilili 159–162 König 267, 268f., 270, 271–273, 275, 276, 277f., 279, 324f. — als Sonnenpriester 50 Königtum — ägyptisches 79–97 — in den Avesta 225–227 — in der iranischen Geschichte 230–232 — in Mesopotamien 111–113 — phönizisches 303–324 Krone 272f.

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Sachregister

Marduk 134, 135, 138, 140, 150 Mari 176, 177, 178, 181, 184, 185, 268f. Memphis 81-82 Mesopotamien 131–133, 135, 144, 163 Mischwesen 144–146, 149–151 Monismus, monistisch 335, 344–345 Monolatrie 199, 200, 215, 218, 219, 221, 325, 340 Monotheismus X–XIX ,325, 335, 340– 345 Mot 285, 290, 292–298 Namtar 148, 151, 158 Narmer 83, 84, 87, 95 Osiris 10, 18–23, 28–31, 33–35, 40 Pestgebet 253f. Politisch-gesellschaftliche Strukturen 115f. Polytheismus X–XIX Qatna 268f., 270, 271, 273, 277f. Qumran 366–374 Re 8–10, 19, 25–31, 33–37, 89, 93, 94, 95 Rechtsfall-Modell 113f., 118, 123 Reichsbildung 114ff., 118, 124f. Reichspantheon 241–243, 245, 247–251, 254f:, 257, 260–262, 265 Religion — Ägyptische 3–6, 9, 11f., 17f., 36, 38f., 41 — Indo-Iranische 199, 200, 203, 204, 205 Sassanidische Dynastie 231–239 Schöpfer 283 Schöpfung 201, 202, 219, 220 Schwurgötterliste 243–250, 252–257, 260f., 265 Septuaginta 360–366 Sonnengott 244, 252, 254 Sonnengottheit 246, 250, 252

Sonnengöttin 244–248, 252f., 256f. Sonnenlauf 50 Sonnentheologie, Neue 51–53 Staat, ägyptischer 79–97 Staatspantheon 241, 257, 259, 264 Stadtstaaten 111, 114, 122, 123, 125 Statue 268, 270, 271–273, 274, 277f. Suti und Hor 51 Tempel — Ägyptischer 90–92, 95 — im Iran 233–238 — jüdischer 325f. Tempelzerstörung im Iran 236–237 Theogonie 287–290, 292–295, 299 Theologie, implizite und explizite 111 Theomachie 287–290, 293, 299f. Tor 171, 173, 174–178, 181, 184, 186, 187, 188, 189 Tora 352, 354ff., 360ff., 366ff. Ugarit 268, 269f., 271, 272, 273, 274, 275 Uruk 168f, 171f., 175f., 182, 184, 186, 188f. Vergöttlichung von Herrschern 112, 116 Wasser 168, 170, 175f., 181, 184, 185, 188, 189 Weltbild 103ff., 115–119 Wettergott 244–248, 250, 252, 255–257, 260, 262–264 Yamm 285, 290, 292–296, 298–300 Yašts 216, 217, 221 Yazılıkaya 243, 257–265 Zarathustra 200, 202, 205, 209, 212, 213, 214, 215, 216, 217 Zoroastrismus 223–238 Zurvanismus 220, 222 Zweistromland 131 Zwischenwesen 131, 145–148, 150f., 156, 163

Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) · Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)

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Götterbilder Gottesbilder Weltbilder Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike Band II Griechenland und Rom, Judentum, Christentum und Islam Herausgegeben von

Reinhard Gregor Kratz und Hermann Spieckermann

2., durchgesehene Auflage

Mohr Siebeck

Reinhard Gregor Kratz, geboren 1957; Studium der evangelischen Theologie und Gräzistik in Frankfurt a.M., Heidelberg und Zürich; 1987 Promotion; 1990 Habilitation; Professor für Altes Testament in Göttingen. Hermann Spieckermann, geboren 1950, Studium der evangelischen Theologie und Altorientalistik in Münster und Göttingen; 1982 Promotion; 1987 Habilitation; Professor für Altes Testament in Göttingen.

e-ISBN PDF 978-3-16-151150-9 ISBN 978-3-16-149886-2 ISSN 1611-4914 (Forschungen zum Alten Testament 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Studienausgabe in zwei Bänden 1. Auflage 2006 © 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg gebunden.

Inhaltsverzeichnis Griechisch-römische Religion WALTER BURKERT Mythen – Tempel – Götterbilder Von der Nahöstlichen Koiné zur griechischen Gestaltung .........................3 HEINZ-GÜNTHER NESSELRATH Die Griechen und ihre Götter .................................................................. 21 HEINZ-GÜNTHER NESSELRATH Tempel, Riten und Orakel Die Stellung der Religion im Leben der Griechen ................................... 45 DOROTHEE GALL Aspekte römischer Religiosität Iuppiter optimus maximus....................................................................... 69 ULRICH SCHMITZER Friede auf Erden? Latinistische Erwägungen zur pax Augusta ............................................. 93

Urchristliche Religion REINHARD FELDMEIER „Abba, Vater, alles ist dir möglich“ Das Gottesbild der synoptischen Evangelien ......................................... 115 REINHARD FELDMEIER „Der das Nichtseiende ruft, daß es sei“ Gott bei Paulus ..................................................................................... 135

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Inhaltsverzeichnis

Rabbinisches Judentum HANS-J ÜRGEN BECKER Einheit und Namen Gottes im rabbinischen Judentum........................... 153

Islamische Religion TILMAN NAGEL Schöpfer und Kosmos im Koran............................................................ 191 TILMAN NAGEL Die Anthropologie des Islams ............................................................... 211 TILMAN NAGEL Die muslimische Glaubensgemeinschaft als die Verwirklichung des göttlichen Willens auf Erden........................................................... 227

Die christliche Religion im Orient MARTIN TAMCKE Im Schatten von Schah und Kaliph Christsein östlich der griechisch-römischen Welt .................................. 243 MARTIN TAMCKE Zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühl Christsein im Haus des Islam ................................................................ 263

Nachwort ANDREAS BENDLIN Nicht der Eine, nicht die Vielen Zur Pragmatik religiösen Verhaltens in einer polytheistischen Gesellschaft am Beispiel Roms ............................................................. 279 J AN ASSMANN

Gottesbilder – Menschenbilder: anthropologische Konsequenzen des Monotheismus ...................................................................................... 313

Inhaltsverzeichnis

VII

Autorenverzeichnis .............................................................................. 331

Sachregister .......................................................................................... 333

Griechisch-römische Religion

Mythen – Tempel – Götterbilder Von der Nahöstlichen Koiné zur griechischen Gestaltung WALTER BURKERT

Die griechische Kultur hat Wirkungen entfaltet, die als einzigartig gelten können, die jedenfalls auf dem breiten Band der Tradition bis heute nachwirken. Sie ist die 'klassische' Kultur überhaupt. Dies geht vom Theater mit seinem griechischen Namen bis zur Tempelarchitektur, wie sie noch amerikanische Banken lieben, von Philosophie, Mathematik und Mystik bis zu dem großen Bronzegott vom Artemision im Nationalmuseum Athen1 – der dann auch zur Hemdenreklame herhalten muß. Die griechische Kultur hat in einer Weise ausgestrahlt, daß sie gerade auch bei Nichtgriechen als maßgebend empfunden wurde; darum hat sie dieses lateinische Wort classicus auf sich gezogen.2 Nun ist die griechische Kultur und Religion allerdings nicht gleichsam in fertiger Gestalt aus dem Haupt des Zeus entsprungen, auch nicht still für sich aus einer besonderen Begabung, einem Volksgeist oder vorgegebenen Kulturwillen erwachsen. Sie hat ihre Vorgeschichte und ihren Kontext im weiteren Rahmen dessen, was ich gerne als Nahöstlich-Mediterrane Koiné bezeichne. Koiné heißt zunächst ‚Gemein-Sprache’, bezeichnet dann aber auch einen Grundbestand gemeinsamer Kultur, deren Elemente hin- und hergereicht werden. Was im besonderen ‚Gottesbilder’ betrifft, kann man sagen: Die Elemente, aus denen die Griechen bauten, waren eigentlich alle schon da; sie sind in neuer Weise zusammengetreten, sie sind ausgebaut, intensiviert und akzentuiert worden und haben eben damit das ‚Klassische’ zustandegebracht. Von Mesopotamien, Syrien, Palästina und Ägypten war im hier gegebenen Rahmen schon die Rede; auf die Rolle der Hethiter im bronzezeitlichen Anatolien ist noch besonders hinzuweisen. Jedenfalls ist im 2. Jahr_______________ 1

SIMON, E., Götter der Griechen, München 1980 2 (1998 4), 86f., Abb. 83f. Diese Verwendung des Wortes classicus, das sich zunächst auf die Militär- und Steuer-‚Klassen’ bezieht, geht bekanntlich von der einen Stelle bei Gellius, Noctes Atticae 19,8,15 aus, ist aber in der Neuzeit zu einem weithin akzeptierten Leitbegriff geworden; vgl. ALLEMANN, B., Art. (das) Klassische, Historisches Wörterbuch der Philosophie IV, Basel 1976, 854–856. 2

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Walter Burkert

tausend sehr vieles früh und reich bezeugt. Iran mit Zarathustra und Ahuramazda liegt etwas abseits, samt dem Datierungsproblem, ist aber dann mindestens seit dem 6. Jahrhundert ein wichtiger und bald dominierender Partner in dieser fortbestehenden Koiné. Auch die bronzezeitlichgriechische, die kretisch-mykenische Welt ist Partner dieser Koiné, mit ihren Palästen und ihrer Palastbürokratie, mit ihren Königen und Göttern; sie ist allerdings von der schriftlichen Überlieferung her sehr viel schlechter gestellt. Im Bereich der Religion ist diese Koiné charakterisiert als eine Hochkultur mit Schriftgebrauch, mit der Herrschaft von Königen und mit einer zentral verwalteten Tempelwirtschaft; dies geht zusammen mit einem Götterkult, der aufs engste mit den politischen und wirtschaftlichen Strukturen vernetzt ist. Dies bedeutet fest organisierten Opferkult als RessourcenVerteilung und -tausch, eine Art elementares Steuersystem, wobei die Schlacht-Tiere ihre besondere Rolle spielen. Dazu gehören Praktiken der Divination im großen und im kleinen Rahmen; sie binden Alltagsentscheidungen an göttliche Zeichen und erfordern Spezialisten für den Umgang mit Göttlichem. Dazu gehört dementsprechend ein etabliertes Priestertum für die Durchführung von Opfer und Divination – in der Regel sind das ganze Familien, die vom Tempel leben. Dazu gehört das Königtum: Der König ist gottgesetzter Träger der Macht und Ordnung, ist damit immer auch Verwalter der offiziellen Religion. Der König sorgt für das Recht, er hat die Strafmacht, er führt die Kriege, diese allerdings wieder durchaus nach dem Willen und den Zeichen der Götter; etwaige Kriegsbeute kommt den Tempeln zugute. Zum ganzen gehört damit auch eine besondere Architektur, die Errichtung von Tempeln. Durchgesetzt hat sich weithin der sumerische Terminus E-GAL, ‚Großes Haus’, Fremdwort auch außerhalb der Keilschrift, so im Hebräischen. Bei den Assyrern allerdings scheint dann die Palastarchitektur die Tempelarchitektur qua Großarchitektur hinter sich zu lassen. Aber nach dem Untergang des assyrischen Ninive (612 v.Chr.) hat Nebkukadnezar den Tempelturm von Babylon restauriert, der E-temenan-ki heißt, ‚Haus der Begründung von Himmel und Erde’. Ganz selbstverständlich ist in dieser Koiné von Tempeln, Priestern und Königen der Polytheismus. Die Götter, die Verehrung und Opfer fordern, sind viele, mit lokalen und familiären Verwurzelungen, mit funktionalen Differenzierungen. Es gibt männliche und weibliche Gottheiten, Eltern und Nachwuchs, Paare, Vater und Tochter, Mütter und starke Söhne, und weiteres; vor allem gibt es eine ‚Götterversammlung’ und im Rahmen dieser durchaus auch Götterpolitik. Die literarische Erscheinungsform des Polytheismus ist die Göttermythologie. Neben Hymnen an einzelne Götter stehen Erzählungen und dann auch größere Kompositionen; diese können auf den Kult bezogen sein, wie vor allem Enuma elish, der Kulttext zum baby-

Mythen – Tempel – Götterbilder

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lonischen Neujahrsfest, der die Inauguration des Gottes Marduk mit der Besitznahme seines Haupttempels feiert. Es gibt aber auch sozusagen freie Entfaltung von Literatur, gipfelnd in ‚Menschheitsgedichten’ wie Atrahasis und Gilgamesh.3 Es gibt innerhalb dieser Koiné Besonderheiten, etwa den überbordenden Grabkult in Ägypten, aber auch Fehlstellen: keine Tempel, soweit man sieht, im Minoisch-Mykenischen, bis auf merkwürdig vielgestaltige Entwürfe ganz am Ende des Mykenischen.4 Doch wollen wir die Bronzezeit verlassen und auch den merkwürdigen Kultureinbruch um 1200 v.Chr. übergehen, als Großarchitektur, Paläste, Schriftsysteme weithin verschwanden und offenbar auch Völkergruppen sich verschoben. So tauchen die Philister in dem nach ihnen benannten Palästina auf; wir werden nie wissen, ob sie vielleicht Griechen waren.5 Die vom Späteren her bekannten Griechen finden sich in Griechenland, in Kleinasien, Kreta und Cypern, bald auch in Unteritalien und Sizilien. Ihre Kulturentwicklung wird angestoßen durch allgemeine Bewegungen vom Osten her. Zwei solcher Impulse sind vor allem zu fassen: der phönikische Mittelmeerhandel, in den sich die Griechen einklinken, und die Assyrische Eroberung, die von Osten her seit dem 9. Jahrhundert das Mittelmeer erreicht; sie hat wahrscheinlich Flüchtlinge vor sich hergetrieben und Söldner angelockt. Ein paar Bemerkungen zu den Phönikern6 – eine an sich unverbindliche griechische Bezeichnung für Leute aus den Städten Syriens. Es ging vorzugsweise um Metallhandel; am wichtigsten war offenbar Tyros. Phöniker kamen nach Cypern, gründeten dort Kition (Larnaka) um 900, sie kamen nach Kreta, Sizilien und Sardinien, sie gründeten die ‚Neustadt’ Karthago im heutigen Tunis 814 v.Chr., sie gewannen Südspanien, sie trieben Handel mit den Etruskern in Italien. Früh begannen Griechen sich zu beteiligen, hinter und mit den Phönikern, in Konkurrenz mit ihnen; Griechen hatten Niederlassungen in Syrien seit dem 9. Jahrhundert,7 sie fuhren in den Westen, nach Süditalien und Sizilien und setzten sich dort seit dem 8. Jahrhundert dauerhaft fest. Auf Cypern saßen Griechen schon seit langem; ein wichtiges Zentrum zwi_______________ 3

Die ältere, meist gebrauchte Sammlung der nahöstlichen Texte ist ANET; neuerdings TUAT; dort Atrahasis, 622–667; für Gilgamesh jetzt GEORGE, A. R., The Babylonian Gilgamesh Epic, Oxford 2003. 4 Siehe MARINATOS, N., Minoan Religion, Columbus S.C. 1993; B URKERT, W., La religione greca di epoca arcaica e classica, 2.ed. a cura di G. Arrigoni, Milano 2003, 106– 108. 5 Verwiesen sei auf DOTHAN, T., The Philistines and their material culture, London 1982; STAGER, L. E., Ashkelon Discovered, Washington 1991. 6 Verwiesen sei auf MARKOE, G., Die Phoenizier, Stuttgart 2003. 7 Details und Belege zum folgenden: BURKERT, W., Die Griechen und der Orient, München 2003.

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schen Ost und West wurde vom 10. bis zum 8. Jahrhundert Euboia; eine euböische Niederlassung bestand auf Pithekussa (Ischia), zusammen mit Phönikern, von wo die griechische ‚Neustadt’ Neapolis noch im 8. Jahrhundert gegründet wurde; auf Sizilien setzten sich erst Euböer fest, ihre Städte waren Naxos (bei Taormina) und Katane (Catania); dann drängte Korinth an die Spitze, Syrakus in Sizilien ist die dominierende korinthische Gründung im 8. Jahrhundert. Mit den phönikischen Kontakten geht die Übernahme der semitischen Schrift durch die Griechen zusammen, wahrscheinlich um 800 v.Chr. Die Assyrer ihrerseits hatten inzwischen das erste Weltreich der Alten Geschichte zustande gebracht, indem sie mit einer überlegenen Armee Jahr für Jahr die Nachbarn angriffen, Stämme, Fürstentümer oder Städte; diese wurden ausgeplündert, zu Tributzahlungen gezwungen. Die Stoßrichtung ging mehr und mehr nach Westen; Assurnasirpal erreichte das Mittelmeer im 9. Jahrhundert. Der Höhepunkt der Expansion und Macht fällt ins 8./7. Jahrhundert: Damaskus wurde um 800 erobert, Israel 722, Cypern um 700, Sidon wurde 670 gründlich zerstört, Ägypten kam von 671 bis 655 unter assyrische Herrschaft. Erst 612 haben Iraner und Babylonier dem Schrecken ein Ende gemacht und Ninive zerstört. Die Griechen waren die östlichsten der Westlichen, und dies war ihr Glück: Sie konnten von allen kulturellen Anregungen profitieren, ohne selbst empfindlich geschädigt oder zerstört zu werden, im Kontrast beispielshalber zu Sidon. So ist die Assyrerzeit gleichzeitig als ‚orientalisierende Epoche’ die eigentliche Aufstiegszeit der griechischen Kultur. So formte sich auch die besondere Art griechischer Religion und griechischer Gottesbilder. Wie gesagt: Eigentlich war alles schon da – doch Griechen bringen das, was sie von Barbaren übernehmen, eben ‚schöner heraus’, wie ein vielzitierter Satz aus der platonischen Epinomis es ausdrückt.8 Von einem dreifachen Großerfolg ist zu berichten: griechische Göttermythologie, griechische Götterbilder im konkreten, handwerklichen Sinn, und griechische Tempel.

1. Die Göttermythologie erscheint im Rahmen der griechischen Epik, der Großepen des sogenannten Homer, also Ilias und Odyssee, wozu die Theogonie und die Kataloge des Hesiod kommen; auch die sogenannten homerischen Hymnen gehören zu Stil und ‚performance’ dieser Art. Die Vorstellungen der Griechen selbst waren im folgenden maßgeblich von Homer _______________ 8

Platon (bzw. Philippos von Opus), Epinomis 987d.

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und Hesiod geprägt. Es gibt keine eigensprachlichen alt-sakralen Texte im Griechischen, wie Veda oder Gathas, Thora, oder auch Arval- und Salierlied in Latein. Die Epik ist eine in der Mündlichkeit begründete Kunstform, mit dem speziellen Versmaß des Hexameters, eine traditionelle und zugleich ständig improvisierende, sehr effektvolle Erzähl- und Vortragsform, von Spezialisten zur Perfektion ausgebildet, in ganz Griechenland verstanden. Seit dem 8. Jahrhundert ist Schriftlichkeit möglich; ob die uns vorliegenden Texte im 8. Jahrhundert oder, wie ich annehme,9 erst um 660 verfaßt sind, tut nichts zu Sache. In dieser Epik also spielen die Götter eine hervorragende Rolle; die traditionellen stehenden Beiwörter der Hexameterdichtung zeigen, wie sehr Götterrollen, Göttergeschichten, Göttercharakteristika in dieser Tradition verwurzelt sind. Versucht man eine Art Typologie, so werden als traditionsverhaftet und urtümlich zunächst Geschichten von Götterkämpfen auffallen, samt dem sogenannten ‚Sukzessionsmythos’, dem System, wonach der regierende Gott, der Wettergott, über eine eigentümliche Zwischengestalt vom Himmelsgott hergeleitet ist – das ist Zeus für die Griechen. Wie dann zusätzlich dieser herrschende Gott noch einmal von einem erschrecklichen Gegner herausgefordert wird, den er mit einiger Mühe doch besiegt und damit seine Souveränität bestätigt, dies erzählt Hesiod in der Geschichte von Zeus und Typhon, dies erzählen die Hethiter in mindestens zwei Versionen, mit der Schlange Illuyanka und mit Ullikummi. Hier sind die orientalischen Parallelen also besonders eng, ja sie werden lokal fixiert: Im hethitischen ‚Lied von Ullikummi’ erblicken die Götter den bedrohlichen Bergriesen Ullikummi vom ‚Berg Hazzi’ aus; beim griechischen Apollodor verfolgt Zeus das Monster Typhon bis zum Kasion oros, was mit ‚Berg Hazzi’ offensichtlich identisch ist. Dies ist ein Berg zwischen Antiocheia und Ugarit, von Ugarit aus der ‚Berg des Nordens’, ‚Berg Zaphon’. Dort war ein Bergheiligtum des Wettergottes, ‚Zeus Kasios’, dem noch Hadrian, ja Iulian geopfert haben.10 Hier hat man nicht nur Mythos in Verbindung mit lokalem Kult, wir haben sozusagen unsere Koiné in nuce. Die eigentlich homerische Göttermythologie ist freilich anderer Art. Götterkämpfe sind nur ein ferner Hintergrund, auf den gelegentlich angespielt wird. Auch Mythen von der Kosmogonie, wie wir sie im Ägypti_______________ 9 Diskussion und Bibliographie um Homer sind grenzenlos. Übersichten z.B. LATACZ, J. (Hg.), Zweihundert Jahre Homer-Forschung, Stuttgart 1991; MORRIS, F./P OWELL, B., A New Companion to Homer, Leiden 1997; M ONTANARI, F., ed., Omero tre mila anni dopo, Rom 2002. Vgl. auch B URKERT, W., Kleine Schriften I: Homerica, Göttingen 2001; dort 59–71 ein Argument zur Datierung ins 7. Jahrhundert. 10 B URKERT, W., Kleine Schriften II: Orientalia, Göttingen 2003, 40; Hesiod, Theog. 820–889; Illyanka TUAT 808–811; Ullikummi TUAT 830–844.

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schen und im Akkadischen kennen, sind im ‚homerischen’ Stil zurückgedrängt. Die Ilias spielt auf den Sukzessionsmythos an, Zeus ist der ‚Kronide’, und einmal ist vom Ursprung der Welt aus Wasser-Gottheiten die Rede, was direkt aus dem babylonischen Enuma elish stammen könnte.11 Aber kein griechischer Gott ‚erschafft’ die Welt. Großes Aufsehen hat erregt, als ein besonders krasses Stück kosmogonischer Phantasie im hethitischen Epos auftauchte, die Entmannung des Himmelsgottes, der griechisch Uranos heißt; inzwischen wissen wir, daß sogar in einer dem Hethitischen noch näher stehenden Weise ‚Orpheus’ davon erzählt hat.12 Die meisten homerischen Göttergeschichten aber lassen dergleichen im Hintergrund; die Götter scheinen sich auf der festgefügten Bühne unserer normalen Welt zu bewegen. Natürlich gibt es da einen Götterberg, Olympos, wo die Götter insgesamt ihre Wohnungen haben. Sie treten auf wie individuelle Personen, nicht nur mit ihrem je besonderen Namen, sondern auch mit einer gewissen ‚Persönlichkeit’. Auch bei Homer ist die ‚Götterversammlung’ ein fester Begriff. Da redet man miteinander, da gibt es Spannungen und kleine Intrigen. Man kann es ausnützen, wenn ein wichtiger Gott gerade abwesend ist, um einen Antrag durchzubringen, wie Athena gegen Poseidon am Anfang der Odyssee. Letztlich verträgt man sich: Ein einzelner Gott kann nicht gegen den vereinigten Willen der anderen Götter streiten, sagt Athena (Od.1, 78 f.). Zeus könnte dies vielleicht; aber wenn er im Begriff ist sich selbstherrlich über die Ordnung hinwegzusetzen, genügt ein Hinweis Athenas: „wir anderen Götter loben dies nicht“ (Ilias 16,443 vgl.4,29; 22,181), um ihn davon abzubringen. Über die Koiné geht Homer dabei in mindestens doppelter Weise hinaus: Zum einen ist diese Göttergesellschaft auf dem Olymp unter sich in extremem Maße menschlich-allzumenschlich, zum anderen ist sie unlösbar mit der eigentlichen Menschenwelt verschränkt, weil die Hauptgestalten der Troia-Mythologie alle irgendwie von Göttern abstammen, und das ragt in die Wirklichkeit hinein, bis weit in die historische Epoche: Die spartanischen Könige sind Herakliden, und Herakles ist Sohn des Zeus; aber auch die Familie des Perikles konnte sich von Nestor und damit von Poseidon herleiten.13 Göttermythologie ist bei Homer und Hesiod zugleich Heroenmythologie. Diese Art einer Vielfalt von ‚Zeus-entsprossenen Königen’ findet sich nicht in den orientalischen Texten. Es gibt einen kurzen Passus im Buch Genesis der Bibel (6,1–4), wonach sich Engel mit Menschen _______________ 11

B URKERT, Orient, 36–38. TUAT 828–830; Hesiod, Theog. 154–210; J ANKO, R., The Derveni Papyrus: An Interim Text, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 141 (2002) 1–62; BURKERT, Orient, 96–106. 13 T OEPFFER, J., Attische Genealogie, Berlin 1889, 225–244. 12

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paarten und ein Geschlecht von Heroen zeugten – das ist ein echte Parallele zu Hesiod, aber doch nur ein kurzes Streiflicht in der Thora. Der Iliasdichter dagegen hat aus der Götter- und Heroenmythologie eine durchgehende Doppelhandlung gemacht, er besetzt eine doppelte Bühne. Neben den Heroen agieren immer auch die Götter. Sie sind im Troianischen Krieg selbst auf die beiden Seiten aufgeteilt, Griechenfreunde und Troerfreunde, und Zeus, der höchste, ist beiden Seiten in besonderer Weise zugetan. Der ‚Götterapparat’ gilt seither als Charakteristikum des heroischen Epos, Philologen haben verlernt sich darüber zu verwundern, müssen aber doch festhalten, daß hier eine Besonderheit gerade gegenüber der nahöstlichen Koiné vorliegt. Man mache sich klar: Die Iliashandlung vom Zorn des Achilleus bis zum Tod des Hektor ließe sich ohne weiteres auch ohne Götter erzählen. Aber in unserem Text stehen die Götter am Anfang und am Ende und gleichsam an jeder Ecke, sie beschließen und greifen ein, und „der Beschluß des Zeus geht in Erfüllung“ (Ilias 1,5). Die Besonderheit der Ilias zeigt sich auch darin, daß es die Odyssee anders macht. Da stehen Götterversammlungen am Anfang und am Ende, ganz kurz auch einmal in der Mitte (Od. 13,125–159), dazwischen aber ist es nur Athena, die ihren Schützling Odysseus begleitet. Auch über jene andere Besonderheit der homerischen Göttermythologie haben wir aufgehört uns zu verwundern, die extreme Vermenschlichung. Man kennt sie, diese Olympier, wie sie da agieren, männlich oder weiblich, jung oder erwachsen, unverwechselbare Individuen, auch innerlich ‚menschlich’; und doch wird man dann wieder überrascht davon, wie drastisch die Texte sind, ohne Rücksicht auf Erbaulichkeit oder Erhabenheit. Zeus und Hera das problematische Elternpaar, Poseidon der Onkel, Demeter die Tante, beide leicht beleidigt, Apollon und Artemis als erfreuliche, wenn auch außereheliche Kinder, schwieriger Athena und Hephaistos, dazu Ares der tolle, den man treiben läßt. Es gibt die üblichen Familienprobleme, Spott und Zank der Geschwister, Ehekrach, Prügel für die Kinder. Hera hält die Stieftochter Artemis an den Händen fest und haut ihr den Köcher um die Ohren, daß die Pfeile herausfallen; heulend läuft Artemis weg, sucht Trost beim Vater Zeus, der dazu noch von Herzen lacht – eine Vorgabe für die Reaktion der Zuhörer; der Artemis-Mutter Leto verbleibt es, die Pfeile wieder aufzusammeln (Ilias 21,480–513). Das ist mit Gusto erzählt, mit Sinn für die Pointen, ohne Rücksicht auf Kult oder Theologie. Und was soll man davon halten, daß Hesiod ausgerechnet Zeus als Vorbild dafür anführt, daß Liebeseide nicht ernst zu nehmen sind (Hesiod Fr. 124)? Freilich darf man nicht, auf solche Szenen fixiert, das ganze für eine Karikatur nehmen. Die Götter Homers sind, den Menschen nah, auch überaus human. Sie erleben wie Menschen, sie lieben und hassen, sie können zürnen oder triumphieren, sie können auch leiden, ja mit-leiden. Blutige

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Tränen vergießt Zeus, als sein Sohn Sarpedon sterben wird, der Anführer der Lykier im Kampf gegen Patroklos (Ilias 16, 459 f.). Dies ergreift doch mehr als der Homerkritiker (Platon Resp. 388cd) wahrhaben wollte. Und in polarer Spannung zeigt sich in solchen Szenen auch wieder die einzigartige Erhabenheit der Götter: Ihr Handeln ist inkommensurabel, nicht verrechenbar. Sie sind auf die Menschen nicht angewiesen und bleiben die Fernen. „Um der Sterblichen willen“ – in Apollons Mund klingt das ausgesprochen distanzierend, ja geringschätzig (Ilias 21,380; 463); eben damit garantiert der Dichter einen Blick des Menschen auf göttliche Erhabenheit. Denn das ist die unverrückbare Grenze, die Götter und Menschen trennt: Die Götter sind die ‚Unsterblichen’, die Menschen aber die ‚Sterblichen’. Beide Bezeichnungen, athanatoi und thnetoi, sind ganz fest im Formelsystem der epischen Sprache verwurzelt. Ein doppelter Hintergrund scheint sich da aufzutun. Es gibt ein indogermanisches Wort für ‚unsterblich’, n-mrt-, griechisch ambrotos; welche Funktion dieses Wort bei hypothetischen ‚Indogermanen’ gehabt hat, ist hier nicht zu diskutieren; auf homerischem Niveau versteht man das Wort nur noch halb, auch Ambrosia als Götterspeise ist nicht speziell ‚Unsterblichkeit’; dafür hat man das neue Wort a-thanatos gebildet, das nun die Götter im Kontrast zu den Menschen eindeutig charakterisiert. Dabei scheint aber zugleich wieder ein Stückchen nahöstlicher Koiné durch: Zumindest im Gilgamesh-Epos, das den erwartbaren Tod zum zentralen Thema gemacht hat, steht der unaufhebbaren Sterblichkeit des Menschen die Unsterblichkeit der Götter gegenüber. „Götter wohnen mit der Sonne auf Dauer; die Menschheit – gezählt sind ihre Tage“.14 So spricht die Schenkin zu Gilgamesh: „Das Leben, das du suchst, findest du nicht. Als die Götter die Menschheit schufen, haben sie Tod für die Menschheit gesetzt, das Leben haben sie in die eigenen Hände genommen.“15 Unsterbliche Götter – sterbliche Menschen. Freilich, qua Menschenschöpfer wären die Götter für die gesetzte Ordnung verantwortlich – bei Homer sind sie demgegenüber entlastet. Übrigens haben die semitischen Sprachen kein vorgegebenes Wort für ‚unsterblich’, und die Charakteristik der Götter durch diesen Begriff scheint gar nicht fest zu sein: Es gibt Götter, die sterben, ja geschlachtet werden; ein Fest kann 'Tag des Begräbnisses der Gottheit' heißen;16 Tammuz-Adonis wird beweint, wie auch Osiris. Hier haben sich die Griechen inmitten der scheinbar naiven Göttermythologie mit einer theologischen Begriffsbildung vom Koiné_______________ 14

GEORGE, Gilgamesh I 200 f. (Altbab. Fassung III iv,140 ff.). GEORGE, Gilgamesh I 278 f. 16 Inschrift von Pyrgi, DONNER, H./RÖLLIG, W., Kanaanäische und Aramäische Inschriften, Wiesbaden 1966/69 2, Nr. 277. 15

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Hintergrund emanzipiert. Freilich drohen die so gefaßten Götter den Menschen dann endgültig allein zu lassen.

2. Auch was Götterbilder im engeren Sinn, Götterikonographie betrifft, ist zunächst vom Bereich der Koiné auszugehen: Bilder von Göttern aufzustellen und zu verehren war offenbar fast überall üblich – Israel fiel dann aus der Reihe. Freilich ist gerade aus Anatolien, Syrien, Ägpyten so gut wie nichts erhalten und vorzeigbar; rohe Stein-Idole gab es auch daneben. Die vielgestaltigen Befunde der Spätbronzezeit in Creta und Cypern müssen hier beiseite bleiben, obgleich wir den ‚gehörnten Gott’ von Enkomi auf Cypern 17 gern als Kultbild anerkennen möchten. Die griechische Tradition scheint sich dann seit der geometrischen Zeit nach östlichen Vorbildern zu entwickeln. Wichtig waren als Anregungen die relativ kleinen Bronzestatuetten des ‚Kriegergotts’, auch ‚Smiting God’ genannt, die aus Anatolien, Syrien, Phönikien kamen und die dann später zu Bildern von Zeus, Poseidon, Apollon weiterentwickelt wurden18; daneben stand eine Zeitlang die ‚nackte Göttin’ aus Syrien, die aber im 7. Jahrhundert wieder radikal aufgegeben wird.19 Dafür tritt die doch wohl vom Sport herkommende männliche Nacktheit auch für die jugendlichen Götter ein – erfunden ist das nicht für die Götter: Die großen alten ‚Kuroi’ der griechischen Marmorplastik sind sicher keine Götter, sondern Weihund Grabstatuen; die älteren Vasenbilder zeigen auch Hermes, Apollon, Dionysos durchaus als bekleidete bärtige Gestalten. Aber wenn um 700 der Seher Mantiklos vom Zehnten seiner Einkünfte – der Seherberuf rentierte – dem ‚Gott mit dem Silberbogen’ eine nur mit einem Gürtel bekleidete Statuette widmet, stellt sie offenbar eben diesen Gott dar;20 für uns ist das, nach den hammergeschmiedeten Bronzen von Dreros auf Kreta,21 eine der frühesten sicheren Götterdarstellungen. Es drängt sich auf, von solchen mehr gelegentlichen Weihungen eigentliche Kultbilder abzuheben, wie sie in den nun aufkommenden Tempeln vorauszusetzen sind. Man möchte Dreros gleich als Beispiel nehmen, doch bleibt es zunächst isoliert. Die Schwierigkeit ist, daß die Götterbilder of_______________ 17

B UCHHOLZ, H.G./KARAGEORGHIS, V., Altägäis und Altkypros, Tübingen 1971, Nr.

1740. 18

B URKERT, Orientalia 17–36. MARINATOS, N., The Goddess and the Warrior, London 2000; B URKERT, Orientalia 21f.; 36. 20 LIMC s.v. Apollon nr. 40; SIMON, Götter, 124, Abb. 117f. 21 SIMON, Götter, 125, Abb. 119. 19

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fenbar weithin aus Holz bestanden und damit keine Chance der Erhaltung hatten. Von einem der ältesten Tempel, dem der Hera auf Samos, heißt es außerdem, das Bild der Göttin sei zuerst eine ‚ungeschnitzte Holzplanke’ gewesen.22 Holzbilder wurden sicher mit echten, realen Gewändern bekleidet. Auch das berühmt-berüchtigte Bild der scheinbar vielbrüstigen Artemis von Ephesos ist auf diese Weise zustande gekommen.23 Wichtiger aber ist wohl sich klarzumachen, daß die Unterscheidung von ‚Kultbild’ und zusätzlichen gestifteten Bildern (anathemata) in den Quellen meist gar nicht wichtig genommen ist. Es gibt ein Wort für das ‚eingesetzte’ Bild, hedos, es gibt Riten der Weihung, hidryein, von denen wir wenig wissen; doch scheint das hedos nicht die Aufmerksamkeit zu monopolisieren. Man mag an eine katholische Kirche denken, wo oft nicht der Hauptaltar in der Apsis, sondern irgendein Bild in einer Nebenkapelle die Verehrung auf sich zieht, was die dort brennenden Kerzen anzeigen. Gravierende Mißverständnisse sind nicht ausgeschlossen: Stammt der übergroße Marmorkopf aus dem Bereich des Hera-Tempels von Olympia vom 'Kultbild' der Göttin oder vielmehr von einer Sphinx?24 Seit dem Ende des 7. Jahrhunderts gibt es dann den großen Fortschritt handwerklichen Könnens in der Marmorbearbeitung, und in der Mitte des 6. Jahrhunderts schafft die Erfindung des Bronzehohlgusses eine ganz neue Möglichkeit, wertvolle Bilder lebensgroß und überlebensgroß im Goldglanz vor Augen zu stellen. Wenige Meisterwerke dieser Art sind erhalten, so der Zeus oder Poseidon, der seit langem im Zentrum des Athener Nationalmuseums steht, oder die weniger bekannten Statuen im Piräus-Museum, Apollon, Athena, Artemis, die wahrscheinlich aus Delos abtransportiert worden waren.25 In der Antike galten als Höhepunkte die Goldelfenbeinbilder des Pheidias: die Athena Parthenos im Parthenon zu Athen, der Zeus im Haupttempel von Olympia. Bezeichnend ist, daß wir hier wie in anderen Fällen den Künstler kennen; Pheidias konnte offenbar wie ein Star auftreten. Die Kultbilder der Tempel sind damit ganz in den Bereich der bildenden Kunst integriert, der Tempel droht zum Museum zu werden: Man weiß und rühmt, welcher Künstler das Bild gefertigt hat. Es gibt ältere Relikte, etwa das Bild der

_______________ 22 Kallimachos Fr. 100 Pfeiffer. Vgl. im allgemeinen DONOHUE, A. A., Xoana and the Origins of Greek Sculpture, Atlanta 1988. 23 FLEISCHER, R., Artemis von Ephesos und verwandte Kultstatuen, Leiden 1973; SEITERLE, G., Artemis – die große Göttin von Ephesos, Antike Welt 10/3 (1979), 3–16. 24 SIMON, Götter 56 Abb. 50; Diskussion in LIMC IV s.v. Hera nr. 98. 25 STEWART, A., Greek Sculpture II, New Haven 1990, Nr.168–169; 511; 569–570. Zu ‚Poseidon’ (?) siehe Anm. 1.

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Hera von Tiyrns aus Birnbaumholz,26 aber das fällt nur dem auf, der danach sucht. Gewiß, im Rahmen der Troia-Mythologie gibt es das Palladion, das Athena-Bild, an dem das Schicksal von Troia hing; nur indem Diomedes und Odysseus es raubten, wurde Troia sturmreif.27 Aber es ist auffällig, daß man zwar an verschiedenen Orten behauptete, eben dieses Palladion zu besitzen, in Athen, in Argos oder anderswo, aber diese angeblichen Originale spielen gar keine beondere Rolle mehr; sie sind in ein paar Kulte eingebaut, aber nicht ‚Glaubenszentrum’. Sonst schaut man auf die Qualität und Pracht, auf die ‚Prunkstücke’ (agálmata), nicht auf den ‚Fetisch’. Das Bild der Athena Polias hat man im Krieg 480 evakuiert; das Palladion wohl auch, aber davon ist gar nicht die Rede. Es ist nicht ganz leicht zu sagen, was die besondere Faszination der eigentlich griechischen Götterbilder ausmacht, wie sie besonders von den wenigen erhaltenen Bronzen ausgeht. Sie sind voll anthropomorph, absolut menschlich, und doch überlegen kraft einer eigentümlichen Vollkommenheit. Die in ihrer Weise auch großartigen Bronzen von Riace im Museum von Reggio di Calabria sind keine Götter,28 sondern Athleten, imponierend-prahlerisch. Jedenfalls geht die Ausstrahlung der Götterstatuen über die problematische Familiarität der homerischen Götter weit hinaus; und doch soll gerade Pheidias gesagt haben, sein Zeus gebe den Zeus der Ilias wieder, als der da mit dem Nicken seines Hauptes den großen Olymp erschüttert.29 Nur kurz ist darauf zu verweisen, daß neben den plastischen Götterstatuen eine allgemeinere Götter-Ikonographie einhergeht, für uns vor allem durch die reiche Entfaltung der Vasenbilder vertreten.30 Jedenfalls hat die Leistung der griechischen Kunst das Bild der Götter in der ganzen Mittelmeerwelt für die folgenden Jahrhunderte bestimmt, qua Statuen und qua Bilder überhaupt; die attische Vasenmalerei war auch ein Exporterfolg. Vor allem die Etrusker und die Römer haben von Anfang an mitgemacht. Die Perser haben den Apollon von Didyma gleich in corpore mitgenommen,31 obgleich sie für sich weder Tempel noch Götterbilder hatten. Bezeichnend ist übrigens doch wohl, daß später dann eher die spätere Klassik die Vorbilder für die römischen Kopien lieferte, wobei, neben dem Apoll _______________ 26

Pausanias 2,17,5. B URKERT, W., Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin 1997 2, 189. 27 Vgl. Der Neue Pauly, IX 192f. 28 Datierung umstritten, RIDGWAY, B., Hellenistic Scupture III, Madison 2002, 199– 202. 29 Ilias 1,528–530; Strabo 8,3,30. 30 Das ganze Material jetzt zugänglich in LIMC; zudem sei auf S IMON, Götter verwiesen. 31 Pausanias 1,16,3; 8,46,3; durch Seleukos zurückgebracht.

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vom Belvedere, die nackte Aphrodite, erstmals von Praxiteles riskiert und danach mehrfach variiert, obenaus schwang.32 Als Höhepunkt des Anthropomorphismus, ja als Überschießen ins Absurde mag man es betrachten, daß auch abstrakte Mächte als vollmenschliche Figuren dargestellt werden; da Abstrakta im Indogermanisch-Griechischen in der Regel Feminina sind, kommen so ungezählte weibliche Gewandfiguren zustande, eher langweilig, gerade weil sie bedeutsam sind. Berühmt wurde z.B. die Eirene aus dem 4. Jahrhundert, ‚Friede’, als Frau, die den ‚Reichtum’, Plutos, als Kind im Arm trägt.33 Bemerkenswert ist allenfalls, daß im Bilde, qua Statue oder Relief, eine solche Abstraktion von einer traditionellen Göttin wie Hera oder Demeter eigentlich gar nicht zu unterscheiden ist. Man denkt die ‚Abstrakta’ gern den Göttern untergeordnet, als ihr Gefolge, und doch wirken sie auf diese zurück: Auch bei den Göttern mag die anthropomorphe Gestalt dann bald einmal nur noch als konventionelle Maske nicht-menschlicher Mächtigkeit erscheinen.

3. Endlich das dritte, vom Götterbild kaum abtrennbare Element, der Tempel als Haus des Gottes: Es war schon davon die Rede, wie das ‚Große Haus’ in der östlichen Koiné verankert ist; gerade im Kretisch-Mykenischen allerdings hat es keinen festen Platz, und auch später blieb es eine diskutable, wenn nicht entbehrliche Einrichtung – grundsätzliche Diskussion darüber gab es auch in Israel –. Zeus erhielt in Olympia seinen großen Tempel erst im 5. Jahrhundert, nachdem der Kult so an die 500 Jahre bereits im Gange war. Der früheste Bau im griechischen Bereich, den man ‚Tempel’ nennen kann, dürfte eine Anlage in Kommos im Süden Kretas sein, um 800 v.Chr.34 – aber das ist gerade ein Hafen, in dem Phöniker und Griechen sich regelmäßig trafen; Zentrum des Heiligen ist ein Drei-Stelen-Gebilde östlicher Art. Faßbar sind griechische Tempel dann seit dem 8. Jahrhundert, etwa in Samos; es scheinen zunächst ganz verschiedene Arten von ‚Häusern’ zu sein, die ‚groß’ gebaut werden.35 Der Rechteckbau mit Eingang an der _______________ 32

LIMC II, 1984, 46–63. LIMC III, 1986, s.v. Eirene nr. 8. 34 SHAW, J.W. & M.C., Kommos IV/1, Princeton 2000, 8–36 (‚Tempel B’). 35 COLDSTREAM , J.N., Greek temples: why and where?, in: E ASTERLING, P.E./MUIR, J.V. (Hg.), Greek religion and society, Cambridge 1985, 67–97; B URKERT, W., The Meaning and Function of the Temple in Classical Greece, in: FOX, M.V. (Hg.), Temple in Society, Winona Lake 1988, 27–47; SCHMITT, R., Handbuch zu den Tempeln der 33

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Schmalseite setzt sich durch. Dazu kommt der Säulen-Umgang, die Peristasis; sie kommt von Holzsäulen beim Holzbau her, wie auch die später so strenge Triglyphen-Metopen-Ordnung auf den Holzbau zurückverweist; aber das ist nun eben ‚Schmuck’ nach eigenem Gesetz. Entscheidend war dann die Erfindung der tönernen Dachziegel in der Mitte des 7. Jahrhunderts, was die so bezeichnende flache Steigung des griechischen Giebels mit sich brachte. Maßgebend war zunächst, so weit man sieht, der Tempel des Poseidon am Isthmos, vom Ende des 7. Jahrhunderts.36 Aus dem 6. Jahrhundert stammen dann die Standardtempel, von denen eindrucksvolle Reste auch für den Touristen noch zu finden sind, in Korinth, in Selinus auf Sizilien, und besonders in Paestum. Der Höhepunkt der Baukunst kam im 5. Jahrhundert, vor allem mit dem großen Zeustempel von Olympia und dem Marmor-Parthenon von Athen. Was sonst zu nennen wäre, Hephaisteion in Athen, Bassai in Arkadien, Syrakus und Agrigent in Sizilien, ist touristisch bekannt. Bis zum Ende des 4. Jahrhunderts war Griechenland mit Tempeln in einer Weise ausgestattet, daß es bis zum Ende der griechischen Geschichte kaum der Erweiterungen bedurfte. Mit der Vielgestaltigkeit in den Anfängen des Tempelbaus gingen auch vielerlei Funktionen einher; der Tempel war auch Versammlungsort und Opfermahl-Haus. In der klassischen Gestaltung wird der Tempel entleert von diesen Funktionen; er ist offiziell Wohnung der Gottheit. Doch wird das im Kult kaum ausgespielt: Die großen Opfer mit den Gebeten und Gelübden finden vor der Fassade statt, wo denn auch in der Regel der große Altar errichtet ist. Mit dem Opfer ist auch die Hauptform der Divination verbunden; teils offiziell, teils inoffiziell sind immer auch Seher zugegen. Zu privatem Gebet und Gelübe konnte man in den Tempel gehen – kontolliert vom Tempelpersonal; aber für die festlichen Begehungen liefert der Tempel eigentlich nur den Hintergrund, die Kulisse. Daß der Tempelbau mit der Polis-Kultur zusammengeht, ist eine fast schon triviale Feststellung; die Akropolis über Athen ist das allgegenwärtige Exemplum. Die Stadt finanziert, unterhält und kontrolliert die Tempel. Das Gemeinschaftsbewußtsein der Stadt konzentriert sich in ihnen; die Zerstörung der Tempel durch die Perser im Perserkrieg war der ganz unverzeihliche Frevel, mit dem man die ‚Barbaren’ dauerhaft belasten konnte.37 Man muß aber doch darauf verweisen, wie viele Sonderfälle von Heiligtümern mit bemerkenswerten Tempeln ‚außerhalb’ der Polis zu finden sind, in Olympia, am Isthmos, in Delphi; auch der berühmte Artemistem______________________________________________________________________________________________

Griechen, Bern 1992; B URKERT, W., Greek Temple-builders: Who, Where, and Why?, in: HÄGG, R. (Hg.), The Role of Religion in the Early Greek Polis, Stockholm 1996, 21–29. 36 GEBHARD, B., University of Chicago Excavations at Isthmia, 1989 I, Hesperia 61, 1992, 1–77, hier 25–51. 37 Herodot 8,143; Lykurgos, Gegen Leokrates 80 f.; Plut. Aristid. 10,5–6.

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pel von Ephesos war nicht Teil der Polis Ephesos, sondern galt als autonom. Trotzdem: Nur ganz selten wird ein Tempel zur selbständigen wirtschaftlichen Einheit; es gibt dementsprechend praktisch kein professionelles Priestertum, das vom Tempel lebt. Man ‚gibt’ den Tempel der Gottheit, ‚läßt ihn frei’ für die Gottheit – und kontrolliert dann alles im Detail durch die öffentliche Verwaltung. Delphi mag als Ausnahme gelten, ist aber seinerseits der Kontrolle durch die Amphiktionie unterworfen. Karl Schefold hat für die griechische Kultur die Bezeichnung ‚Tempelkultur’ geprägt, und das will besagen: Nicht nur, daß die Architekturformen des Tempels zum dauerhaften Standard wurden, der Tempel war der bedeutendste, zentral die Aufmerksamkeit fesselnde Bau, mit einem Maximum von Kunst und Aufwand errichtet. Dabei blieb der griechische Tempel ein relativ kleiner, überschaubarer Bau, auch finanzierbar – das weitaus teuerste am Akropolis-Ausbau waren die Substruktionen der Propyläen. Ansätze zu Riesentempeln, etwa in Agrigent, blieben stecken. Der Tempel ist in seiner Weise 'menschlich'. In anderen Nachbarkulturen nehmen diese Stelle der repräsentativen Großarchitektur Grabbauten ein, wie die Pyramiden in Ägypten, oder Paläste wie in Assyrien, später Bäder und Zirkus. Dergleichen fehlt in der klassischen griechischen Welt. Erst Kaiser Augustus in Rom hat dann seine Wohnung auf dem Palatin zugleich als Apollotempel gestaltet und damit Bahn gebrochen für die Paläste der Monarchen. Um zusammenzufassen: Der anthropomorphe Polytheismus hat in Griechenland in Verbindung mit der Polis eine äußerlich überzeugende Form gefunden, mit den vom Mythos vorgezeichneten Göttern, den Statuen und Tempeln. „Alle Menschen brauchen die Götter“, heißt es in der Odyssee (Od. 3,48), und man braucht sie alle. Wir haben in Athen: Athena auf der Akropolis, in Verbindung mit Nike, dem ‚Sieg’ für die Polis – ihrerseits als Mädchen dargestellt; Athena ist aber auch die Patronin der Olivenbäume, und auch der Wollarbeit, die in der Herstellung eines Gewandes für die Göttin, eines Peplos gipfelt. Ihr gegenüber, auf der anderen Seite der Agora, wohnt der Feuer- und Schmiedegott Hephaistos, der Handwerkergott; er hat insbesondere auch die Nichtbürger, die Metöken im Gefolge. Direkt auf der Akropolis hat auch Artemis von Brauron ihren Platz, die Göttin, der zudem ein Fest und ein daher rührender Monatsname von Munichia gilt; sie hat vor allem mit dem schwierigen Übergang vom Mädchen zur Frau zu tun. Zeus hat seinen Altar auf der höchsten Stelle der Akropolis, seinen großen Tempel aber, das Olympieion, außerhalb der Altstadt; es war so groß angelegt, daß erst Kaiser Hadrian den Tempel fertig bauen konnte. Es gibt auch ein Pythion für Apollon, ein Thesmophorion für Demeter und ein Eleusinion, mehrere Dionysos-Heiligtümer, überhaupt Kult-

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plätze noch und noch. Themistokles hat nach seinem Erfolg einen Tempel der Artemis Aristoboule gestiftet, indem er seinen eigenen ‚besten Plan’ im göttlichen Bereich verankerte.38 Poseidon hat seinen bedeutenden Tempel in Sunion, wo die vom Meer kommenden Schiffe des attischen Landes ansichtig werden. Wie Jacob Burckhardt in seiner Kulturgeschichte sagt: Man konnte leben mit dieser Religion.39 Man kann auch sagen: Wie man ohne sie leben könnte, war gar nicht einzusehen. Und doch ist dieser klassische Polytheismus, man möchte sagen: dieser Bilderbuch-Polytheismus nicht unangefochtenes Besitztum oder dauernde Errungenschaft. Dem Religiösen bleibt immer etwas Unfaßbares, Unheimliches, das auch durch perfekte Kunst nicht ganz gebändigt werden kann. Hier wäre nun von den Mysterien zu sprechen, den Geheimkulten mit persönlicher Zulassung durch ‚Initiation’, myesis des Mysten, und dem für Außenstehende vage gehaltenen Versprechen einer besonderen Seligkeit nach dem Tode.40 Daß die 'Unsterblichen' dem Tod einfach enthoben sind, wie es Homer darstellt, daß sie in ihrer brillanten Unsterblichkeit den Menschen alleinlassen, bedurfte offenbar der Korrektur. Das plastische Götterbild und die Tempelfassade genügen dann nicht. Neben Eleusis, das dauerhaften Erfolg gewann, gibt es vor allem auch dionysische, ‚bakchische’ Mysterien, über die wir in den letzten Jahrzehnten ganz neue Zeugnisse gewonnen haben.41 Das Geheimnis freilich umgibt auch sie und macht das Eindringen schwierig; es bleibt die Vermutung, daß das Überzeugende vor allem im Ritual gelegen haben muß, nicht faßbar in Dichtung, Bildkunst und Architektur. Sehr viel deutlicher, explizit und rational ist ein anderer Impuls, der als scheinbar ganz Neues in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts auftritt und die eben skizzierte Ausgestaltung des anthropomorphen Polytheismus radikal unterläuft. Das Stichwort heißt zunächst Xenophanes, Elegiendichter und sogenannter vorsokratischer Philosoph. Keiner dieser Begriffe, weder Vorsokratik noch Philosophie, stand damals zur Verfügung. Insofern ist nicht leicht zu beschreiben, was damals passiert ist. Es geht um Autoren, die schreiben – die Geistesgeschichte der Mündlichkeit geht ihrem Ende entgegen; am Ende wird die ‚Weisheit’ der Dichter ersetzt durch Diskussion der Wissenschaft, durch Naturwissenschaft und Dialektik. Diese Autoren schreiben mit einem neuen Anspruch, Wesentliches über die Welt zu sagen. Nun, es gibt längst eine Tradition von Weisheit und Weisheitsbü_______________ 38

Plut. Them. 22,2–3. B URCKHARDT, J., Griechische Kulturgeschichte, F. Stähelin (Hg.), Basel 1956/ 1957, 44 f. 40 B URKERT, W., Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt, München 1990, 19943. 41 B URKERT, Orient, 82–96. 39

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chern im Rahmen der genannten Koiné, die sich mit dem rechten Verhalten im Rahmen der Weltordnung befaßten;42 doch die neuen ‚Weisen’ wenden sich explizit gegen die Tradition, mit Kritik und Argumentation, auf dem Hintergrund einer triumphierend vorgestellten Individualität. Keiner dieser 'Weisen' hat je eine Autorität wie Konfuzius gewonnen, keiner wird zum Sektenhaupt, mit Ausnahme vielleicht des Pythagoras, der aber historisch kaum zu fassen ist; keiner hat ein bleibendes Grundsatz-Buch geschrieben, mit Ausnahme vielleicht des Parmenides; sie stehen einer gegen den anderen, oder gegen alle anderen, und begründen die griechische literarische Kultur als eine Streitkultur. Für den politisch-historischen Erfolg Griechenlands war dies nicht günstig; aber eine Lebendigkeit ist dadurch in unsere Kultur gekommen, die doch bis heute anhält. Was in diesem Wettkampf von Ansprüchen neuer Einsichten unter die Räder kommt, ist nun mit der Tradition der Dichter gerade der Polytheismus und insbesondere der Anthropomorphismus. Xenophanes schreibt sehr klare Verse, und die sind sehr bekannt: „Alles haben für die Götter gestiftet Homer und Hesiod, was bei den Menschen Schimpf und Tadel ist: Stehlen, Ehebruch treiben und einander betrügen“ (B 17). Die Belege dafür sind in Ilias und Odyssee leicht zu finden; das Vertrackte ist, daß man Xenophanes nicht leicht widersprechen kann. Seine Kritik erweitert sich noch vom Moralischen ins Grundsätzliche: „Wenn die Ochsen, die Pferde und Löwen Hände hätten, um mit Händen zu zeichnen oder Werke zustandezubringen wie die Menschen, würden die Pferde den Pferden, die Ochsen den Ochsen ähnlich die Gestalten der Götter zeichnen und Körper bilden von der Art, wie sie selbst ihre Gestalt haben“ (B 15); stellen sich doch die Neger ihre Götter stumpfnasig und schwarz vor, die Thraker rotblond und blauäugig (B 16). Und ganz überraschend dann die positive Aussage: „ein Gott, unter Göttern und Menschen der größte, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch im Denken. Als ganzer sieht er, als ganzer denkt er, als ganzer hört er. Stets bleibt er im gleichen, ohne sich zu bewegen; es ziemt sich nicht für ihn, bald da-, bald dorthin zu gehen. Ohne Anstrengung durch einen Akt des Denkens erschüttert er alles...“ (B 23–26). Xenophanes ist der erste scharfe Kritiker des Polytheismus und des Anthropomorphismus, überhaupt der Mythen im homerischen Stil, und er scheint zugleich etwas wie Monotheismus einzuführen. Neben Xenophanes steht Heraklit. Er galt schon den Alten, den native speakers of Greek, als ‚dunkel’; aber dies ist noch in seinen Fragmenten klar: Er hält nichts von Homer, von Hesiod, vom Dichter Archilochos, von Pythagoras, von Xenophanes; er kritisiert sogar direkt die religiöse Praxis: Der Phallos-Umzug für Dionysos ist, für sich betrachtet, ein Gipfel des _______________ 42

B URKERT, Orient, 55–78.

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Schamlosen; und wer zu Statuen betet, der handelt, wie wenn er mit einem Haus reden wollte. Demgegenüber steht auch bei Heraklit die Verkündung des ‚Einen’ (B 32): „Eines ist das Weise, Allein für sich; es will nicht genannt sein und will doch genannt sein mit dem Namen Zeus.“ Zeus bleibt also, mit Vorbehalt, anerkannt, er ist aber sicherlich etwas ganz anderes als der polternde Familientyrann der Ilias. Solche Art sich zu äußern und der Inhalt solcher Äußerungen kommt als Überraschung im griechischen Bereich. Man ist im allgemeinen geneigt, hier eben das ‚griechische Wunder’ festzumachen. Die allgemeine Tradition der Weisheitsliteratur ist hier gewiß überschritten. Was man wenig reflektiert hat und was doch fraglos präsent ist, das ist die Ideologie des Perserreichs. Da ist freilich die Quellenlage besonders schwierig.43 Doch genügen die wenigen keilschrift-persischen Königsinschriften, um klar zu machen, daß für den König ein Gott über alle anderen weit herausragt, Ahura Mazda, der das Königtum verliehen hat; doch werden die vielen anderen, auch lokal festgelegten Götter des Polytheismus im Perserreich nicht angegriffen. Die Göttertempel im Perserreich bestehen fort, ob Marduk-Tempel in Babylon oder Artemis-Tempel in Ephesos, der erst unter persischer Oberhoheit fertig gebaut wird und dessen Oberpriester einen persischen Titel führt, Megabyxos. In Jerusalem wird der Tempel neu wieder erbaut. Dabei gibt es keinen ‚reichspersischen’ Tempel, das architektonische Zentrum in Persepolis entfaltet sich als Palastanlage. Und doch steht die Frömmigkeit über allem: „Ahura Mazda hat mich zum König gemacht.“ Was die Götter und kraft ihrer der König garantiert, ist eine ‚Ordnung’. Hat Heraklits Insistieren auf dem göttlichen Nomos auch damit etwas zu tun? Was jedenfalls Xenophanes betrifft, so versteht man von hier aus erst recht, daß das monotheistische Verständnis seines Satzes ein Mißverständnis ist. „Ein Gott der größte unter Göttern und Menschen,“ das ist nicht rhetorische Figur; das will die anderen Götter nicht ausschalten, nur die universale Ordnung fixieren.44 Überhaupt soll Religion nicht abgeschafft, sondern auf geistigem Niveau reformiert werden; Homer wird übertrumpft durch eine neue Form geistiger Frömmigkeit. Was verloren geht, wenn mit der Menschengestalt auch die Menschlichkeit, das Verstehende und Verstehbare der Gottheit aufgehoben wird, wäre allerdings zu fragen. Was immer wieder erstaunen muß: ‚Orpheus’, Xenophanes, Heraklit – dies ist um Jahrzehnte früher gesagt worden als der Parthenon oder der Olympische Zeus geschaffen wurden. Und diese Thesen, diese Kritiken sind nie widerlegt worden. Dem Bilderbuch-Polytheismus scheinen damit _______________ 43

B URKERT, Orient, 109–113. Auch die Theogonie des ‚Orpheus’ präsentiert Zeus als den, „der der einzige wurde“, B URKERT, Orient, 99–103; J ANKO, Derveni. 44

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von vornherein die Fundamente abhanden zu kommen. Doch dies ist die dritte Feststellung: Trotz alledem hat die traditionelle Religion mit ihren Dichtermythen, ihren Götterbildern und Tempeln fortbestanden, einschließlich Parthenon und Zeus von Olympia. Erst in der Zeit des Proklos, um 470 n.Chr., 1000 Jahre nach Xenophanes, hat der Kaiser das Goldbild des Pheidias aus dem Parthenon nach Konstantinopel schaffen lassen, wo es dann verschwunden ist. Das Christentum war damals längst als Staatsreligion etabliert. Die Griechen hatten auf dem Grund der nahöstlichen Koiné eine besonders anschauliche, griffige Art des Polytheismus in Verbindung mit einer auf höchstes Niveau gebrachten Kunst entwickelt, mit Götterbild und Tempel auf dem Hintergrund der epischen Götterdichtung. Und doch hatte eben diese Ausformung der Religion eine gewisse Tendenz, sich selbst aufzuheben zugunsten einer spekulativeren, vertieften, vergeistigten Gottesauffassung. Bezeichnend ist, daß keiner der alternativen Ansätze sich durchsetzen konnte; weder eine heilige Schrift noch ein Dogma kam zustande, wie es auch an hauptberuflicher Priesterschaft weiterhin fehlte. Es blieb die Streitkultur der Intellektuellen, der Philosophenschulen. Man hat später drei Prinzipien möglicher ‚Theologie’ festgemacht, die theologia mythica, physica und civilis – ‚mythisch’ wie Homer, ‚physisch’ wie die Philosophen, ‚staatlich’ im Rahmen der Polis;45 dies sind Bildungsfrüchte, diskutabel und damit interessant, aber nicht verpflichtend. Es gibt keine Thora, kein Evangelium, keinen Qoran. Man kann Grundsätze üblicher Religion formulieren, die gemeinhin unerschütterlich bleiben: Es gibt die Götter, und sie kümmern sich um die Menschen, weshalb die traditionellen Kulte ihre lang erprobte Berechtigung haben.46 Fragt man nach den bedeutendsten religiösen Texten der Griechen, wird man vielleicht bei Aischylos ankommen; und der sagte, er bringe doch nur Kostproben von der großen Tafel Homers.47

_______________ 45

Varro bei Augustin, civ. 6,5; Aetius 1,6. B ABUT, J., La religion des philosophes grecs, Paris 1974. 47 Tragicorum Graecorum Fragmenta III: Aeschylus T 112. 46

Die Griechen und ihre Götter HEINZ-GÜNTHER NESSELRATH

Auch dem Menschen von heute sind aus der antiken griechischen Religion wenigstens noch die griechischen Götter (oder doch einige von ihnen) zumindest dem Namen nach bekannt, und sei es nur, um mit Zeus, Hera, Apollon und Athena manches Kästchen im Kreuzworträtsel auszufüllen. Die folgenden Ausführungen wollen versuchen, ein (notgedrungen sehr gerafftes) Gesamtbild der griechischen Götterwelt zu skizzieren, gegliedert nach vier Aspekten, die vor allem die Unterschiede der griechischen Gottesvorstellung gegenüber der immer noch sehr stark christlich geprägten des heutigen Europa zeigen sollen. Diese vier Aspekte sind 1. der Anthropomorphismus der griechischen Götter; 2. ihre Stellung im Kosmos als mächtige, aber nicht allmächtige Wesen; 3. ihre extrem große Zahl und Vielfalt; 4. ihre lokal zum Teil sehr verschiedene Präsenz und Interaktion mit anderen Göttern.

1. Anthropomorphismus „Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“ Dieser Satz Ludwig Feuerbachs (übrigens vorweggenommen von dem berühmten Göttinger Georg Christoph Lichtenberg) gilt für die griechischen Götter in ganz besonderem Maße: Sie haben nicht nur (in der Regel) menschliche Gestalt, sondern sie handeln und reagieren auch immer nach menschlichen Motiven und Kategorien. Schon die Griechen selbst haben diese Eigenart ihrer Götter als etwas typisch Griechisches empfunden. Immer wieder haben sie z.B. den Gegensatz zu den tierköpfigen Gottheiten Ägyptens hervorgehoben; so erklärt ein griechischer Sprecher in einem Stück des Komödiendichters Anaxandrides (1. Hälfte 4. Jahrhundert v.Chr.) einem Ägypter:1 Nicht könnte ich mit euch verbündet sein: Nicht nämlich Wesen noch Gesetz vergleichbar sind von uns; nein, voneinander vielmehr weit getrennt.

_______________ 1

Anaxandrides, , fr. 40 K.-A.

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Du betest Rinder an, ich aber opf’re Göttern; gewaltig groß als Gottheit, glaubst du, sei der Aal – gewaltig köstlich ist dagegen er für uns. Du ißt kein Schweinefleisch, ich aber freue mich daran am meisten; du ehrst den Hund, ich schlage ihn, wenn ich ihn fressend meine Speis’ erwisch’. Die Priester hier sind unversehrt – so das Gesetz; bei euch, wie’s scheint, sie müssen angeschnitten sein. Wann immer du die Katze leiden siehst, dann weinst du; ich dagegen bring’ sie um und häute sie. Bei euch, da gilt die Spitzmaus viel, doch nicht bei uns.

Ein halbes Jahrhundert vor Anaxandrides hat der Geschichtsschreiber Herodot die völlige anthropomorphische Ausgestaltung der Götter wesentlich als das Werk der bedeutenden ersten Dichter, also Homers und Hesiods, bezeichnet;2 und in der Tat ist in dieser Hinsicht der Einfluß der Mythenerzählung, wie die epischen Dichtungen Homers und Hesiods sie zeigen, von zentraler Bedeutung: Die unter dem Namen Homers überlieferten Epen Ilias und Odyssee erzählen von den griechischen Göttern in einer radikal ‘vermenschlichenden’ Sicht. Ein gutes Beispiel dafür bietet ein Stück vom Ende des 5. Buches der Ilias (V. 850–887), wo der griechische Held Diomedes – wenn auch mit Unterstützung der Göttin Athena – gegen keinen Geringeren als den griechischen Kriegsgott Ares selbst im Kampf anzutreten wagt. Die Partie zeigt sehr plastisch, wie gewaltig einerseits die griechischen Götter im Vergleich zu den Menschen sind, wie aber auch überaus menschlich sie sich andererseits gerieren: „(850) Und als sie nahe heran waren, gegeneinander gehend, / da stieß Ares zuerst zu ... / mit der ehernen Lanze, begierig, ihm [Diomedes] das Leben zu nehmen. / Doch diese [Lanze] ergriff mit der Hand die Göttin, die helläugige Athena, / und stieß sie weg, daß sie unter dem Wagenstuhl nutzlos herausfuhr. / (855) Als zweiter nun stürmte an der gute Rufer Diomedes / mit der ehernen Lanze. Und diese stemmte Pallas Athene / zuunterst gegen die Weichen, wo er [Ares] gegürtet war mit dem Schurz. / Dorthin traf sie ihn mit dem Stoß und riss die schöne Haut auf / ... Da brüllte der eherne Ares / (860) so laut, wie neuntausend hell aufschreien oder auch zehntausend / Männer im Kampf ... / Die aber ergriff ein Zittern, die Achaier und die Troer, / in ihrer Furcht; so brüllte Ares ... / Und wie aus Wolken finster erscheint der untere Luftraum, / (865) wenn sich bei Hitze ein Wind erhebt, ein schlimm wehender: / So erschien dem Tydeus-Sohn Diomedes der eherne Ares, / wie er (nun) zusammen mit Wolken auffuhr zum breiten Himmel. / Und schnell gelangte er zum Sitz der Götter, dem steilen Olympos, / und setzte sich nieder bei Zeus, dem Kronos-Sohn, bekümmert im Mute, / (870) und zeigte ihm das ambrosische Blut, das herabfloß aus der Wunde. / Und wehklagend sprach er zu ihm die geflügelten Worte: / ‘Zeus, Vater! verargst du es nicht, wenn du siehst

_______________ 2

Hdt. II 53,2: „Ich glaube nämlich, daß Hesiod und Homer chronologisch um vierhundert Jahre – und nicht mehr – älter sind als ich; sie aber sind es, die den Griechen das ‘Werden der Götter’ schufen und den Göttern ihre Bezeichnungen gaben, sie nach Ehren und Fertigkeiten unterschieden und ihre Gestalten anzeigten.“

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diese abscheulichen Dinge? / Immer ertragen wir Götter dir doch das Schaudervollste, / einer nach dem Willen des anderen, den Menschen Gunst erweisend. / (875) Mit dir hadern wir alle: du hast sie erzeugt, die sinnberaubte Jugfrau [Athena], / die verderbliche, die stets heillose Dinge anstellt. / Denn die andern Götter alle, so viele da sind im Olympos, / gehorchen dir ... Diese aber schiltst du weder mit einem Wort noch einem Werk, / (880) sondern läßt sie gewähren, da du selbst sie gezeugt hast, die abscheuliche Tochter. / Die hat jetzt des Tydeus Sohn, den übermütigen Diomedes, / aufgereizt, zu rasen gegen unsterbliche Götter! / Kypris hat er zuerst von nah in die Hand getroffen bei der Wurzel, / aber dann stürmte er gegen mich selbst, einem Daimon gleichend. / (885) Mich aber trugen davon die schnellen Füße – sonst hätte ich lange / dort Schmerzen ertragen unter den furchtbaren Leichen, / oder ich lebte geschwächt von den Hieben des Erzes.’“ (deutsche Übers. nach W. Schadewaldt, modifiziert)

Der mächtige Kriegsgott Ares, der hier gegen einen menschlichen Helden zum Kampf antritt und dabei sogar den Kürzeren zieht, kann zwar so laut wie neun- bis zehntausend Menschen brüllen, aber er tut dies, weil er eine Verwundung erlitten hat, die ihn – höchst menschlich – Reißaus nehmen und sich bei seinem Vater Zeus dann recht wehleidig beschweren läßt. Wie stark dieser Anthropomorphismus bereits vor der Entstehung der homerischen Epen, also etwa zu mykenischer Zeit (im 14. und 13. Jahrhundert v.Chr.), angelegt war, muß offen bleiben. Die mykenische Ikonographie, soweit inzwischen bekannt, scheint jedenfalls auch noch ‘Dämonen’ in Tiergestalt zu kennen.3 Seit der Herausbildung der typischen griechischen Staatsform des Polis-Stadtstaats und der ‘klassischen’ griechischen Religion im 8. Jahrhundert aber zeigen die bildlichen Darstellungen, beginnend mit den Vasen der sogenannten ‘geometrischen’ Zeit (8. und frühes 7. Jahrhundert), die Götter durchgehend in menschlicher Gestalt. Bereits im 6. Jahrhundert v.Chr. haben griechische Denker diesen Anthropomorphismus kritisch beleuchtet und zum Teil auch regelrecht verworfen. Zum einen wird hier der große Abstand des Göttlichen vom Menschen herausgestellt; die ‘Musenelegie’ des athenischen Staatsmanns Solon will u.a. zeigen, wie wenig einsehbar und noch weniger berechenbar das Handeln der Götter vom Menschen her ist. Zum anderen aber wird nun die Menschengestalt der Götter regelrecht als menschliche Projektion entlarvt: Den Philosophen Xenophanes von Kolophon, der dies in sehr eindringlichen Versen tut, könnte man geradezu einen griechischen Ludwig Feuerbach nennen, wenn er sagt: „Aber wenn Rinder und Pferde und Löwen nur Hände besäßen / und mit den Händen zu malen vermöchten und werken wie Menschen, / dann würden Pferde den Pferden und Rinder den Rindern ähnlich / auch der Götter Gestalten so malen und Körper so for_______________ 3

Das ‘Familiensystem’ der olympischen Götter (vgl. dazu u. S.29) scheint in mykenischer Zeit bereits weitgehend vorhanden gewesen zu sein; vgl. GRAF, F., Griechische Religion, in: NESSELRATH, H.-G., Einleitung in die Griechische Philologie, Stuttgart – Leipzig 1997, 457–504, hier 496.

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men, / ganz genau wie sie selbst die Gestalt, ein jedes Tier, hätten.“4 Xenophanes verurteilt ferner, daß Menschen den Göttern ein (fragwürdiges) Handeln nach menschlichen Mustern unterstellen; als die Urheber solcher Unterstellungen nennt er bemerkenswerterweise genau die gleichen Dichter, die nach dem späteren Urteil Herodots die griechische Götterwelt in dieser Weise überhaupt erst konstituierten: „Alles den Göttern angehängt haben Hesiodos und Homeros, / was bei den Menschen nur immer Schmach und Tadel bedeutet: / Stehlen und Brechen der Ehe und gegenseitig Betrügen.“5 Xenophanes’ kritische Äußerungen haben auf die religiöse Praxis der Griechen jedoch keinerlei Einfluß gehabt, und im Umkehrschluß zeigt gerade diese Kritik, wie stark die anthropomorphischen Vorstellungen der Götter bei den Griechen waren. Wie bei den Menschen spielen auch im Denken und Handeln dieser Götter die Emotionen Zorn und Liebe eine entscheidende Rolle. So kann ein Mensch vor allem deswegen Wohlergehen und Glück haben, weil Götter zu ihm – aus welchen Gründen auch immer – eine besondere Zuneigung empfinden (wie Athena z.B. zu Herakles oder Odysseus). Umgekehrt aber können göttlicher Zorn und Neid auch für großes Unglück verantwortlich sein: Daß es böse Folgen haben kann, wenn jemand bei einem Opfer einen bestimmten Gott oder eine Göttin vergißt, zeigt eine bereits in der Ilias (9,533–542) erzählte Geschichte von der Göttin Artemis, die einem entsprechend nachlässigen König einen mächtigen Eber ins Land schickte, der dann die Felder verwüstete. Solcher Götterzorn kann lange anhalten: Nachdem Odysseus den Sohn des Meergottes Poseidon, den wilden Kyklopen Polyphem, geblendet hat, ruft dieser seinen Vater um Vergeltung an, und Poseidons Grimm sucht fortan Odysseus’ Heimkehr bis zur letzten Etappe seiner Irrfahrten zu vereiteln. In ähnlicher Weise verfolgt der Zorn der Göttin Hera den Helden Herakles während seines ganzen irdischen Lebens, und dies nur deshalb, weil sie in ihm die Frucht eines Seitensprunges ihres allzu oft fremdgehenden Gemahls Zeus erblickt. Sind diese Götter einmal ergrimmt, zögern sie auch nicht, bei ihrer Vergeltung Menschen in Mitleidenschaft zu ziehen, die ihnen gar nichts getan haben: Im Stück Hippolytos des Euripides rächt die Göttin Aphrodi_______________ 4 Xenophanes VS 21 B 15. Vgl. B 16: „Schwarz und stumpfnasig, sagen Aithiopen, sei’n ihre Götter; / hellhäutig sei’n sie und rothaarig, sagen dagegen die Thraker.“ Xenophanes' eigene Gottesvorstellung ist sehr viel abstrakter; vgl. B 23: „Ein Gott ist da sowohl unter Menschen wie Göttern der Größte, / nicht irgendwie an Gestalt den Sterblichen gleich noch im Denken“; vgl. B 24: „Als Ganzer er sieht, als Ganzer er denkt, als Ganzer er hört auch“; B 25: „Fern von Mühe mit Geisteskraft nur beweget er alles“; B 26: „Stets verharrt er im selben, sich überhaupt nicht bewegend, / und seinen Platz zu wechseln schickt sich ihm nicht, mal hierhin, mal dorthin.“ 5 Xenophanes B 11. Vgl. auch B 12: „Möglichst viele verkündeten sie der Götter frevelnde Taten: / Stehlen und Brechen der Ehe und gegenseitig Betrügen.“

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te die Mißachtung, mit der sie der Theseus-Sohn Hippolytos straft, dadurch, daß sie seine Stiefmutter Phaidra sich in ihn verlieben läßt und ihm dadurch eine tödliche Intrige spinnt, in der auch die unschuldige Phaidra, deren sich Aphrodite skrupellos als Werkzeug bedient, zugrunde geht. Als Hera den ihr verhaßten Herakles im gleichnamigen Stück (wiederum des Euripides) im Augenblick seines größten Triumphes treffen will, versetzt sie ihn mit der Hilfe ihrer Dienerin Lyssa in Wahnsinn, und der rasend Gewordene erschießt daraufhin seine eigene Frau und seine Kinder. Gekränkte griechische Götter gehen in ihrem Zorn also buchstäblich über Leichen, auch über die von Unschuldigen. Immerhin aber lassen sich diese Götter in der Regel durch entsprechende Maßnahmen auch wieder gnädig stimmen, selbst wenn Odysseus nach seiner Rückkehr erst noch eine weitere lange Reise antreten muß, um Poseidon zu besänftigen, und Herakles erst sein Erdendasein beenden und selbst zum Gott werden muß, bevor Hera aufhört, ihn zu verfolgen. Normale Sterbliche können sich mit dem Gedanken trösten, daß sie so langdauernde göttliche Antipathien in der Regel nicht auslösen werden, da sie kaum in die Lage kommen, einem so ungeschlachten Götterkind wie Polyphem Schaden zuzufügen, noch auch selbst einem Seitensprung des Zeus entsprossen sind. Die griechischen Götter sind zwar leicht reizbar, aber in der Regel zumindest nicht dauerhaft nachtragend, wenn man sich Mühe gibt, einen Tort wieder gutzumachen Auch in einem anderen Punkt unterscheiden sich die griechischen Götter – so viele menschliche Fehler sie sonst auch haben – recht positiv von zumindest vielen Menschen: sie verstehen offenbar Spaß. Die Reihe der Texte, in denen Götter in einem unzweideutig komischen Licht erscheinen, beginnt wiederum bereits mit Homer: Im 8. Buch (266–367) der Odyssee trägt der Sänger Demodokos den Phäaken und ihrem Gast die Geschichte vom Ehebruch des Kriegsgottes Ares mit der Liebesgöttin Aphrodite vor, und wie der gehörnte Ehemann die zwei Sünder durch eine kunstreiche Vorrichtung in flagranti ans Bett fesselt, allen Göttern – die daran keinen geringen Spaß haben – öffentlich vorführt und sie erst wieder befreit, als man ihm eine ausreichende Entschädigung sicher zugesagt hat. Die Krone wird dem Ganzen aufgesetzt durch die Reaktionen der zu diesem Schauspiel eingeladenen göttlichen Voyeure – gesteht doch der verschmitzte Hermes dem Apollon, daß er sich eigentlich nichts Schöneres vorstellen kann, als genau so bei der wunderschönen Liebesgöttin zu liegen wie jetzt Ares: „O geschähe doch das ...! / Fesselten mich auch dreimal so viel unendliche Bande,/ und ihr Götter sähet es an, und die Göttinnen alle: / Siehe, so schlief' ich doch bei der goldenen Aphrodite!“ (339–342; Übersetzung J.H. Voß) Nach Homer geht der Götterspott in der griechischen Literatur munter weiter; einen Höhepunkt erreicht er in der attischen

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Komödie des Aristophanes, wie etwa die vorletzte Szene des Stücks ‘Die Vögel’ zeigen kann: Hier trickst der schlaue Mensch Peisetairos eine Delegation der Götter, die sich zu ihm bemühen muß, weil der von Peisetairos aufgebaute Vogelstaat die Götter sämtlicher Opfer durch die Menschen zu berauben droht, nach Strich und Faden aus, und man kann über die kollektive Hilflosigkeit dieser Götter nur den Kopf schütteln. Offenbar ist niemand auf die Idee gekommen, Aristophanes der Blasphemie zu bezichtigen; offensichtlich also verletzten solche Späße die Würde der Götter nicht. Von menschlichen Opfern seines Spotts – etwa dem mächtigen Politiker Kleon – hatte Aristophanes viel gefährlichere Reaktionen zu befürchten als von den Göttern seiner Polis.

2. Nicht Weltenschöpfer, aber mächtig: die Stellung der griechischen Götter in der Welt – und die Menschen Das Verhältnis der Griechen zu ihren Göttern ist wesentlich auch dadurch geprägt, daß die Menschen keine Geschöpfe dieser Götter sind; vielmehr war es nur ein einzelner dieser Götter – und bei weitem nicht der mächtigste –, nämlich Prometheus, der die Menschen geschaffen hat, und so zeigt auch nur er etwas wie Fürsorge für sie (indem er ihnen beispielsweise das Feuer verschafft, weswegen er dann seinerseits von Zeus schwer bestraft wird). Die übrigen Götter müssen sich in keiner Weise für die Menschen verantwortlich fühlen, und sie tun dies in der Regel auch nicht.6 Zwar gibt es Ausnahmen (s.u.), aber sie betreffen immer nur Wenige. Ja, nicht einmal mittelbar sind diese Götter Verursacher der menschlichen Existenz, denn sie haben auch die Welt nicht geschaffen: Folgt man der Darstellung der Weltentstehung in Hesiods Theogonie, dann entstand zuerst das Chaos, danach die Erde, unter ihr der Tartaros (Unterweltsschlund), und als viertes – bemerkenswerterweise – Eros, die Liebe. Danach entstehen aus Chaos und Erde weitere Potenzen und Phänomene der Welt, und es beginnen genealogische Abstammungen; aber erst nach mehreren Generationen sind die Götter vorhanden, denen die Griechen Opfer darbringen und Tempel bauen; sie verehren in ihnen nicht ihre Schöpfer, sondern Wesen, die in ihrer Welt nun einmal die größte Macht haben7 und mit denen man schon deshalb auf gutem Fuß stehen muß. So ist trotz aller Ähnlichkeit im Verhalten der Abstand zwischen Göttern und Menschen riesengroß: Die Götter sind unsterblich und führen in _______________ 6 Vgl. hierzu LEFKOWITZ, M., Greek Gods, Human Lives, New Haven – London 2003, 2.29. 7 LEFKOWITZ, Greek Gods, 235.

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wörtlichem Sinne ein ‘leichtes Leben’, wie es bei Homer mehrfach heißt (  : Il. 6,138; Od. 4,805. 5,122), ohne Arbeit, Mühsal und Schmerz; die Menschen, deren Leben im Vergleich dazu – um mit Thomas Hobbes (Leviathan I 13) zu sprechen – „nasty, brutish and short“ ist, dienen ihnen oft nur zur unterhaltsamen Ablenkung: Zeus sieht sich die blutigen Kämpfe vor Troja geradezu wie ein Fußballspiel an (vgl. Il. 8,51f. 11,336f. 14,4–13), gelegentlich auch wie ein interaktives Computerspiel – dann nämlich, wenn es ihm gefällt, selber einzugreifen und das mörderische Spiel nach seinem Gutdünken zu beeinflussen (vgl. Il. 17,593–596). Nur als sein eigener Sohn Sarpedon auf diesem Schlachtfeld durch die Lanze des Patroklos zu Tode kommen soll, wie es das Schicksal vorsieht, vergießt er aus Kummer blutige Tränen (16,459–461). Die Episode zeigt gut, daß selbst der Götterherrscher Zeus zwar mächtig, aber nicht allmächtig ist. Wenn die Menschen angesichts dieser Sachlage die Götter überhaupt für ihre Belange interessieren wollen, müssen sie ganz offen an das Eigeninteresse dieser Götter appellieren. Am Beginn der Ilias bittet der ApollonPriester Chryses seinen Gott, ihm die Befreiung seiner Tochter aus der Gewalt des griechischen Heerkönigs Agamemnon zu gewähren, indem er ihn daran erinnert, wieviele Opfer er ihm schon dargebracht habe (Il. 1,37– 41) – die hier zugrunde liegende Logik ist: Wenn Apollon jetzt hilft, wird er noch mehr Opfer bekommen. Fast noch unverblümter gibt sich ein in elegische Distichen gefaßtes Gebet an den gleichen Apollon aus dem Jahr 480 v.Chr., in dem der Verfasser darum bittet, die Stadt Megara vor der großen persischen Invasion zu retten, „damit dir die Menschen in Fröhlichkeit, wenn der Frühling kommt, die berühmten Hekatomben ausrichten können, sich an der Kithara und am lieblichen Fest erfreuend, mit Chören von Paiangesängen und lauten Festrufen rings um deinen Altar“ (Theogn. 775–779). Deutlicher kann man einem Gott wohl kaum klar machen, daß man ihm nur dann weiter aufwendige Opfer bringen kann, wenn er einem hilft zu überleben.

3. Ein ‘Polytheismus’ par excellence Unter den polytheistischen Religionen, die bisher in dieser Vortragsreihe vorgestellt wurden, ist die griechische (vielleicht neben der der Hethiter, die man auch das ‘Volk der Tausend Götter’ nennt8) eine der ausgeprägtes_______________ 8

Zu der Formel der „Tausend Gottheiten des Hatti-Landes“ vgl. HAAS, V., Die hethitische Religion, in: Die Hethiter und ihr Reich. Das Volk der 1000 Götter, Ausstellungskatalog (Red.: Helga Willinghöfer mit Uta Hasekamp), Stuttgart 2002, 102–111, hier 104.

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ten; statt Polytheismus könnte man geradezu schon von ‘Pleistotheismus’ sprechen. Der wohl größte Vorzug einer polytheistischen Religion ist es, daß sie es möglich macht, sich die Kräfte und Eigenarten, aber auch die Widersprüche der Welt, in der man lebt, mithilfe einer Vielzahl von Göttern zu erklären, die man sich voneinander subtil differenziert, aber auch in allen möglichen Kontrasten und Kombinationen vorstellen kann;9 die Vielfalt der griechischen Götter bietet hier ein wahrlich hoch entwickeltes Instrumentarium. Diese Vielfalt läßt sich nach zwei Kriterien systematisieren: nach den Orten, wo diese Götter ihre Sitze haben – nämlich oberhalb der Erde (d.h. in himmlischen Gefilden), auf der Erde (und der Bereich des Wassers, also vor allem der Meere, aber auch der Seen und Flüsse, sei hier hinzugerechnet) und unter der Erde – und nach ihrer Bedeutung; man kann ‘große’ und ‘kleinere/kleine’ oder sehr bedeutende (d.h. in der ganzen Welt wirkende) und weniger bedeutende (nur lokal wirkende) Gottheiten unterscheiden. Dieses System geht nicht restlos auf: soll man z.B. die neun Musen – Töchter des Zeus – und eine Reihe von Meeresgottheiten wie Okeanos, den alten Nereus und seine Töchter wie Thetis eher zu den ‘großen’ rechnen oder noch eine ‘mittlere Gruppierung’ hinzufügen? Aber auch und gerade diese Schwierigkeiten demonstrieren, wie vielfältig die griechische Götterwelt ist. Hier seien zunächst die sogenannten ‘Großen’ Götter vorgestellt, die Hauptpotenzen im Weltgeschehen und Hauptakteure in den zahlreichen griechischen Mythen; bereits sie sind an Zahl nicht wenig, aber noch überschaubar.10 Die ‘Großen’ Götter sind mehrheitlich im oberirdischen Bereich anzutreffen und werden nach ihrem Hauptwohnsitz, dem Olymp (der ursprünglich wohl mit dem großen Berg dieses Namens im Norden Thessaliens identisch war, den aber schon Homer als palastartiges Gefilde in einem himmlischen Ambiente beschreibt), die ‘olympischen’ Götter genannt. Der seit Homer und Hesiod faßbare griechische Mythos stellt sich sie (und übrigens nicht nur sie) als Großfamilie vor; im Kult sind vor allem sie die Empfänger von Opfern und Patrone von Festen, und sie decken _______________ 9 Die im Monotheismus fast unvermeidliche Theodizee – si deus, unde mala? – tritt dabei gar nicht auf. 10 Letzteres gilt nicht mehr für die anschließend zu betrachtenden sogenannten ‘Kleinen’ Götter, zu denen hier auch die sogenannten ‘Heroen’ gerechnet werden sollen; diese sind zwar in mancher Hinsicht von den ‘richtigen’ Göttern deutlich getrennt, zeigen aber in vielen einzelnen Fällen zum Teil Eigenschaften und Fähigkeiten, die von denen ‘echter’ Götter oft kaum zu unterscheiden sind. Schließlich gibt es dann auch noch ursprünglich fremde, nicht-griechische Götter, die jedoch in heller historischer Zeit geradezu ‘eingemeindet’ werden und damit die Flexibilität und Adaptionsfähigkeit dieses Polytheismus eindrucksvoll zeigen.

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gemeinsam auch den Hauptbereich des Lebens der Polis und ihrer einzelnen Bewohner ab. Die Olympier werden gern als Zwölfergruppe gedacht, wobei die Zusammensetzung etwas schwankt (ähnlich wie bei den Sieben Weisen und den Sieben Weltwundern): Die Leitungsposition in dieser Familie hat das Geschwister- und Ehepaar Zeus und Hera; daneben stehen ihre Geschwister Poseidon und Demeter, hinzu kommen mehrere Kinder des Zeus: Athena, Apollon und Artemis (diese beiden von der Göttin Leto), Hermes und Aphrodite. Diese Neun gehören regelmäßig zu den olympischen Zwölf; zu den eher austauschbaren gehört der Kriegsgott Ares,11 der Schmiedegott Hephaistos (Sohn der Hera, nicht immer auch des Zeus), die Herdgöttin Hestia (ebenfalls eine Schwester des Zeus), schließlich Herakles und Dionysos, die beide ihre Karriere sogar einmal als Sterbliche begonnen haben.12 Am Rande dieses Familiensystems befinden sich die Eltern der regierenden Dynastie, Kronos und Rhea, noch etwas entfernter steht deren Mutter Gaia (‘Erde’). Im Zentrum dieser Familie steht eindeutig Zeus; ihm am nächsten ist aber wohl nicht Hera, sondern Athena als die einzig aus seinem Kopf geborene Tochter einzuordnen.13 In etwas ambivalenter Position zu Zeus steht Aphrodite; sie wird vom Mythos zum einen als seine Tochter von der Göttin Dione angesehen (Hom. Il. 5,370), zum anderen aber auch als die aus dem Meer geborene Frucht des kastrierten Glieds des Uranos, der seinerseits der Vater von Zeus' Vater Kronos ist (Hes. Theog. 190–202). Ähnlich ambivalent steht der Schmiedegott Hephaistos zu Zeus, der gelegentlich auch als vaterloses Kind der Hera gilt (Hes. Theog. 927).14 Apollon und Artemis, Zwillingskinder des Zeus von der Göttin Leto, sind unter sich eng verbunden und bilden mit ihrer Mutter innerhalb dieser Familie _______________ 11

Und dies, obwohl er der einzige unbestrittene ‘eheliche’ Sohn des Paares Zeus und Hera ist; alle übrigen Kinder hat Zeus von anderen Göttinnen. 12 Zeus, Hera, Poseidon, Demeter, Hestia, Athena, Aphrodite, Hermes, Apollon, Artemis, Ares, Dionysos erscheinen als Zwölfgötter auf dem berühmten Fries des athenischen Parthenon-Tempels. Eine nicht unbeträchtliche Zahl dieser Olympier ist bereits auch in Linear B-Zeugnissen inschriftlich belegt: Zeus, Hera, Poseidon, Ares, Dionysos, Artemis, vielleicht Athena, auch Enyalios, Paian oder Eileithyia; abwesend sind vor allem Apollon und Aphrodite. Eine Getreidegöttin (Demeter?) ist in Mykene auf einem Fresko dargestellt. Vgl. GRAF, Griechische Religion, 498. 13 Diese Kopfgeburt kommt dadurch zustande, daß Zeus diejenige Göttin, die die präsumptive Mutter Athenas geworden wäre, verschlungen hat, weil ihm zuvor geweissagt wurde, ein Kind dieser Mutter werde ihn genauso vom Thron stürzen wie er selbst einst seinen Vater Kronos (vgl. Hes. Theog. 886–900). 14 Eine vergleichbar isolierte Position in dieser Götterfamilie hat der Kriegsgott Ares, und es entbehrt nicht einer gewissen Brisanz, daß gerade diese drei – Aphrodite, Hephaistos, Ares – vom Mythos in einem pikanten Dreiecksverhältnis zusammengespannt sind.

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eine Art ‘Nebenzentrum’,15 nicht zuletzt deshalb, weil Apollon und Artemis als Kinder einer Rivalin der rechtmäßigen Zeusgattin Hera ein Dorn im Auge sind. Kronos, der schon erwähnte Vater des Zeus, wurde von diesem in der Herrschaft abgelöst, um nicht zu sagen: gestürzt, und entweder an den Rand der Welt oder sogar in den Tartaros verbannt; dagegen hat seine Gemahlin (und Schwester) Rhea in dieser Familie eine viel integriertere Rolle behalten.16 Nur einige von diesen Göttern können hier – vor allem hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Menschen – etwas näher vorgestellt werden: Als höchster Gott ist Zeus der Erhalter jeglicher Art von Ordnung, auch der für die Polis relevanten. Seine Frau Hera ist vor allem für die ‘institutionelle’ Seite der zwischengeschlechtlichen Liebe unter Menschen zuständig, also für Ehe und Familie, seine Tochter (oder nach anderer mythischer Version auch Nicht-Tochter) Aphrodite dagegen für eine ‘funktionierende’ Sexualität.17 Im Bereich Liebe/Ehe spielt ferner die Göttin Artemis keine unverächtliche Rolle: Sie ist nicht nur Schutzherrin der Wildnis und der wilden Tiere, sondern auch – unter den Menschen – die spezielle Beschützerin aller jener, die sich noch nicht im Status der vollen ‘Zivilisiertheit’, d.h. des Erwachsenseins befinden, also aller Jungen und Mädchen vor der Geschlechtsreife und Ehe.18 Auch Demeter hat einen Anteil an der Ehe: Als Göttin des kultivierten Bodens ist sie nicht nur für das Wachsen einer neuen Saat auf dem Acker zuständig, sondern auch – und dies in nicht nur metaphorischem Sinne – für das Aufwachsen von in einer Ehe zustande gekommenen Kindern.19 So zeigen diese Götter nicht nur familiäre, sondern Funktionsverbindungen mit zum Teil feiner interner Differenzierung, wie sie gerade der Polytheismus möglich macht. Gleich drei Götter sind für den Krieg zuständig: Athena, Ares und ein unbekannterer Gott namens Enyalios. Zwischen Ares und Enyalios sind keine Funktionsunterschiede faßbar; Ares und Athena sind beide Gottheiten des Kampfes, doch kann in dieser Funktion nicht so sehr Ares einer Polis wichtige Dienste leisten – denn er verkörpert nur das wütende Rasen des Krieges an sich –, wohl _______________ 15

Vgl. GRAF, Griechische Religion, 496. Sie wird schon früh mit der aus Kleinasien stammenden (und dort immer noch vorrangig ansässigen) Bergmutter (   ) Kybele identifiziert. 17 Deshalb werden sowohl Aphrodite als auch Hera im Hochzeitsopfer angerufen und bilden auf diese Weise ein weiteres Beispiel (s.u.) für ein komplementäres Zusammenwirken in einem wichtigen menschlichen Bereich. 18 Deshalb gebühren ihr immer dann Opfer und Gaben, wenn eine junge Griechin oder ein junger Grieche den Zustand der Kindheit hinter sich läßt. 19 Die in Athen übliche rituelle Formel bei der Eheschließung überantwortet die Braut dem Bräutigam „zur Aussaat legitimer Kinder“(  ’   ); sie taucht regelmäßig auf, wenn in der Komödie ein Paar glücklich zusammenkommt: Men. Dysc. 842, Misum. 974 [444], Peric. 1013f. [435f.], Sam. 727, fr. 453 K.-A. 16

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aber Athena: Sie repräsentiert die ‘rationaleren’ Seiten des Krieges und kann dadurch für die auf kluge Selbstverteidigung angewiesene Polis zu einer regelrechten Schutzherrin, zur Athena Polias, avancieren, was sie nicht nur in dem nach ihr benannten Athen geworden ist. Athena hat ferner Bedeutung im handwerklich-technischen Bereich:20 Als Athena Ergane ist sie zusammen mit dem göttlichen Handwerker par excellence, dem humpelnden Schmiedegott Hephaistos, Patronin der handwerklich tätigen Menschen und hat als solche zusammen mit Hephaistos in Athen auch einen Tempel, das Hephaisteion (heute immer noch oft unter dem falschen Namen ‘Theseion’ bekannt) zwischen der Agora (dem Zentrum auch des Wirtschaftslebens) und dem Handwerkerviertel Kerameikos. Während Hephaistos vor allem auf Metallhandwerk ‘spezialisiert’ ist, ist Athena stärker die Göttin des Konstruierens und Bauens,21 ferner auch des Webens; damit wirkt sie bis in die Sphäre der häuslichen Beschäftigung der verheirateten Frau hinein. Nicht nur Athena ist eine Göttin von erstaunlicher Vielseitigkeit; dies gilt fast noch mehr von Apollon, dem Zwillingsbruder der Artemis. Apollon sind wichtige Feste an ganz verschiedenen griechischen Orten gewidmet: im spartanischen Amyklai die Hyakinthia, in Athen die Thargelia und Pyanopsia (mit Darbringung pflanzlicher Opfer und Reinigungsritualen); auf Delos erhält er sowohl blutige Hekatomben am sogenannten ‘Altar aus Hörnern’ als auch unblutige an einem benachbarten Altar, der nie von Feuer berührt werden durfte. Auf die in diesen Ritualen zum Ausdruck kommenden ganz gegensätzlichen Aspekte weist der homerische Apollonhymnos hin, der von der Geburt Apollons auf Delos erzählt: Kaum ist der kleine Gott das erste Mal gewaschen und nicht etwa mit Milch, sondern mit göttlichem Nektar und Ambrosia genährt worden, hält es ihn schon nicht mehr in seinen Windeln, und er erklärt seiner Mutter und ihren göttlichen Helferinnen (V. 131f.): „Lieb soll mir sein die Leier und der gekrümmte Bogen; künden auch werd’ ich den Menschen des Zeus unfehlbaren Ratschluß.“ Als Inhaber der Leier ist Apollon der helle Gott der musischen Kunst und des Gesangs; als das Symbol strahlender, geradezu sonnenhafter Schönheit und Reinheit (man denke an den ‘Kasseler Apollo’) erscheint er einmal den zum Goldenen Vlies fahrenden Argonauten in einer morgendlichen Epiphanie in wunderschönen Versen des hellenistischen Dichters Apollonios Rhodios (Arg. 2,674–684):

_______________ 20

Sie ist ja letztlich die Tochter der von Zeus verschlungenen Metis (vgl. o. Anm. 13), der personifizierten Geistes- und Verstandeskraft. 21 Sie ist nicht nur am Bau des ersten menschlichen Schiffes, der Argo, maßgeblich beteiligt, sondern auch am Trojanischen Pferd, wo sie Odysseus und Epeios assistiert.

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Da erschien ihnen Letos Sohn, von Lykien kommend auf seinem Weg fernhin zu den weiten Hyperboreern; golden wehten zu beiden Seiten der göttlichen Wangen Locken in reicher Fülle und bebten bei seiner Bewegung. In linker Hand den silbernen Bogen, und auf seinem Rücken ragte der Köcher herab von der Schulter; doch unter den Schritten zittert die ganze Insel und branden ans Festland die Wogen. Als sie ihn sahen, ergriff sie lähmendes Staunen, und keiner wagte zu heben den Blick zu den schönen Augen des Gottes, sondern sie standen und schauten zu Boden. Er aber fern schon schritt weit aus übers Meer durch die Lüfte ...

Als Gott des hier erwähnten silbernen Bogens kann Apollon Übles vertreiben oder vernichten (wie z.B. den Python-Drachen in Delphi, nach dessen Tod er dort sein Orakelheiligtum begründet), er kann den Menschen aber auch Übel senden, wie er es eindrucksvoll am Beginn der homerischen Ilias tut: Hier erhört er die Bitten seines Priesters, dem von König Agamemnon Unrecht geschehen ist, und erregt durch seine Pfeile im griechischen Heer eine verheerende Pest. Die Beschreibung seines Auftritts an dieser Stelle nimmt sich geradezu wie ein Negativ zu der strahlenden Schilderung des Apollonios aus (1,43–52, nach Voß, modifiziert): Also rief er betend, doch hörte ihn Phoibos Apollon. Von den Höhn des Olympos herab stieg er, zürnenden Herzens, auf der Schulter den Bogen und ringsverschlossenen Köcher, und die Pfeile erklangen laut an des Zürnenden Schulter, während er sich bewegt'; und gleichend der Nacht er einherging. Setzte sich drauf von den Schiffen entfernt, dann entsandte den Pfeil er; schrecklich klang dabei auf die Sehne des silbernen Bogens. Maultiere nur zuerst streckt’ er nieder und hurtige Hunde, dann aber richtet’ das bitt’re Geschoß er auch auf die Menschen, und er schoss; und die Leichenfeuer brannten ohn’ Ende.

Der gleiche Gott, der solche Seuchen sendet, kann sie aber auch wieder nehmen: Athen weiht ihm am Ende der großen Seuche in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges eine Gedenkstatue (um 430 v.Chr.), und auch an anderen Orten gilt er als Heilgott. Besonders wichtig ist dann aber das dritte Tätigkeitsfeld geworden, das Apollon an der zitierten Stelle im homerischen Hymnos ankündigt: das Weissagen der Ratschlüsse seines Vaters Zeus. Als Stätte solcher Verkündigungen ist Apollons Tempel in Delphi zum bedeutendsten Zentrum eines Apollonkults im griechischen Kulturraum geworden; in den dort im frühen 6. Jahrhundert v.Chr. eingerichteten ‘Pythischen Spielen’ kommen auch die musischen Aspekte Apollons voll zur Geltung. Während der Wintermonate weilt Apollon freilich fern von Delphi im Norden bei den glücklichen Hyperboreern, und dann regiert in Delphi ein

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ganz anderer Gott: Dionysos. Dionysos ist in manchem mit Herakles vergleichbar: Als illegitimer Sohn des Zeus von einer sterblichen Frau bringt ihm Zeus' Gemahlin Hera genauso wenig Liebe entgegen wie jenem, aber wie Herakles kann er Heras Anfeindungen nicht nur überstehen, sondern schließlich sogar selbst in den Götterhimmel aufsteigen. Weil Dionysos sich während seiner irdischen ‘Laufbahn’ weit von Griechenland entfernte und (im Mythos) erst nach einem langen Zug durch den Orient und Indien von Osten her nach Griechenland zurückkehrt, hat man ihn lange für einen ursprünglich nichtgriechischen Gott gehalten, dessen Kult sich in Griechenland zum Teil gewaltsam Bahn gebrochen habe, wie es noch die Bakchen des Euripides in packender Weise darstellen. Doch wurde Dionysos' Name inzwischen auf einem Linear-B-Täfelchen im kretischen Chania gefunden22 und muß daher bereits dem mykenischen griechischen Pantheon zugerechnet werden. So ist das Gewaltsame, das Mythen im Vordringen dieses Gottes festhalten, wohl etwas anders zu deuten: Dionysos verkörpert eine Tendenz, Grenzen zu sprengen und Ordnungen – zumindest zeitweilig – zu zerstören. Sein Beiname ‘Bakchos’ hängt mit einem zentralen griechischen Terminus für ‘wahnsinniges Rasen’ zusammen; sein Gefolge sind zum großen Teil die Satyrn, Mischwesen, die sowohl göttliche als auch tierische Eigenschaften besitzen. Dionysos selbst zeigt in seinem äußeren Erscheinungsbild sowohl männliche wie weibliche Elemente,23 verwischt also auch Geschlechtergrenzen; am attischen Anthesterienfest, wenn die Toten wieder in die Welt der Lebenden kommen, ist sein Tempel der einzige in der Stadt, der nicht geschlossen wird – dieser Gott ist also auch zur Unterwelt ‘offen’. Im Mythos hat Dionysos vor allem weibliche Anhänger (die Bakchantinnen), die in ihrem Verhalten jegliche zivilisatorische Grenze überschreiten (z.B. Tiere jagen, mit bloßen Händen zerreißen und roh auffressen). In Kultritualen sind diese zerstörerischen Tendenzen oft in sehr abgeschwächter Weise aufgefangen, 24 und gerade in Athen sind die Dionysosfeste – vor allem die zwei großen Theaterfeste, die Lenäen und die Großen Dionysien – sogar zu großen Polisfesten geworden, an denen sich die ganze Stadt vor ihren eigenen Bürgern und nach außen darstellt. Das ‘Rasen’ des Dionysos kommt hier zum Teil noch in fröhlicher Ausgelassenheit zum Vorschein, ist aber ganz in feste ‘FeierTage’ eingebunden, nach denen die Polis wieder zu ihrer ‘normalen’ Ordnung zurückkehrt. _______________ 22 Vgl. B REMMER, J.N., Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt 1996, 24. 23 Er trägt z.B. öfter den weiblichen Peplos als den männlichen Chiton. 24 Beispielsweise wird das ‘Rohfressen’, die Omophagie, durch ein Stück rohes Fleisch symbolisiert, das eine Priesterin in einen Korb legt.

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Ein weiterer etwas schillernder (aber weniger gewaltsamer) Gott ist Hermes. Ihm ist einer der schönsten (und zugleich lustigsten) homerischen Hymnen gewidmet; er erzählt, wie Hermes gleich nach seiner Geburt seinem Bruder Apollon bereits eine Rinderherde stiehlt. Ertappt und vor den Thron des Zeus geschleppt, weiß der kleine Dieb seinen zornigen großen Bruder nicht nur durch die gerade von ihm erfundene Leier zu versöhnen, sondern sich mit geschickter Rede auch vor Zeus zu behaupten und einen Platz im Olymp zu sichern; so ist Hermes der wirkungsvolle Kommunikator par excellence und wird gern mit der Erfindung der Rhetorik – der Kunst der wirksamen (wenn auch nicht unbedingt wahrheitsgetreuen) Rede – in Verbindung gebracht. Während sein (Halb-)Bruder Dionysos Grenzen einfach niederreißt, überwindet Hermes solche Grenzen auf ‘sanfterem’ Wege dank seiner Geschicklichkeit und ist wohl auch deshalb nicht nur zum Boten seines Vaters Zeus, sondern als Geleiter der Seelen von Verstorbenen auch zum Verbindungsglied der oberirdischen Götter zur Unterwelt geworden. Mit Hermes’ Geleit können wir nun auch die andere Gruppe der großen Götter kurz ins Auge fassen, die unterirdischen oder ‘chthonischen’ (nach dem griechischen Wort für ‘Erde’), die übrigens mit den ‘olympischen’ ebenfalls durch familiäre Bande verknüpft sind: Neben dem als Totenherrscher gedachten Hades-Pluton (Zeus    Hom. Il. 9,457), einem Bruder des ‘olympischen’ Zeus, steht hier seine Gattin Persephone, die als Tochter der Getreidegöttin Demeter (und ihres Bruders Zeus) im Attischen auch einfach Kore (‘das Mädchen’) heißt. Eine unheimliche Ergänzung dieser beiden stellt die Göttin Hekate dar, die genealogisch die Tochter einer Schwester der Mutter von Apollon und Artemis ist und im Verbund mit Gespenstern und schwarzer Magie auftritt. Die überwältigende Mehrheit der unterirdischen Götter bilden jedoch die namenlosen Totengeister,25 die zu den unzähligen ‘kleinen’ Göttern’ (s.u.) gehören. Insgesamt mag die griechische Götterwelt nicht ganz so dicht bevölkert sein wie etwa die indische (die in die Millionen geht), aber auch die griechischen Zahlen sind ganz beachtlich: In Hesiods Werken und Tagen (V. 252–255) heißt es einmal, es gebe auf Erden 30.000 (oder heißt es   …  , also gar ‘dreimal unzählige’?) unsterbliche Wächter des Zeus, die über die guten und schlechten Taten der Menschen wachen. _______________ In der römischen Kaiserzeit heißen sie kollektiv     und entsprechen den lateinischen Di Manes. Reguläre Kulte der Polis sind für auch die ‘großen’ chthonischen Gottheiten kaum bekannt, weil ihr Bereich nicht zu dem des Polislebens gehört. Kore-Persephone besitzt zwar eigene Heiligtümer und Feste, aber in anderer Funktion, nämlich z.B. als Stadtherrin von Kyzikos oder als Schützerin der heiratsfähigen Mädchen in Lokroi. Individuell erhalten die Toten natürlich den ihnen zustehenden Grabkult (s.u.). 25

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Diese vielen ‘kleinen’ Götter haben oft nur beschränkte Funktionen – z.B. ist Pan als Gott der Wildnis vor allem Beschützer der dort lebenden Hirten und ihrer Herden; Eileithyia ist nur in ihrer speziellen Funktion als göttliche Geburtshelferin bekannt; sie sind ferner oft lokal sehr beschränkter Natur, und viele ihrer Kulte deshalb vor allem (oder auch nur) inschriftlich faßbar.26 Lokal gebunden sind vor allem die zahlreichen Naturgottheiten. Grundsätzlich kann jeder Berg und jeder Fluß als Gottheit aufgefaßt werden; kultisch verehrt werden aber nur die Flüsse. Manchmal bringen diese Flußgötter es zu einer Rolle im Mythos, wie der trojanische Fluß Skamander, der in Homers Ilias (21,211–384) einmal zum gefährlichen Gegner des griechischen Helden Achill wird, oder Acheloos, der Gott des gleichnamigen westgriechischen Flußes, der mit Herakles um dessen künftige Frau Deianira kämpft (und dabei eines seiner Hörner einbüßt). Im Kult schließen sich kleinere Götter gern an größere an, wenn sie verwandte Funktionen haben: Die Silene und Satyrn folgen dem Dionysos, Nymphen dem Pan, aber auch dem Hermes (denn beide sind Hirtengottheiten oder können es jedenfalls sein), die Musen dem Apollon (der darum auch ‘Musenführer’ heißt), die Moiren dem Göttervater Zeus als dem Hüter der göttlichen Ordnung.27 Mit gewissen Abstrichen darf man zu den vielen ‘kleinen’ griechischen Gottheiten auch die sogenannten ‘Heroen’ ( ) rechnen. Zum Teil werden sie deutlich von den ‘richtigen’ Göttern geschieden: Herodot sagt einmal (2,44,5), daß es sowohl einen Gott namens Herakles gebe als auch einen ‘Heros’ (d.h. einen verstorbenen menschlichen Helden) dieses Namens und daß diejenigen Griechen am korrektesten handeln, die zum einen dem olympischen Gott Herakles opfern () und zum anderen dem Heros Herakles als Verstorbenem kultische Ehren erweisen ( );28 hier wird also sprachlich explizit zwischen Götter- und Heroenverehrung _______________ 26 Etwa derjenige der Leukothea, der ‘Weißen Göttin’, die vom Mythos mit Ino, der Tochter des Kadmos (Hom. Od. 5,333f.: hier trägt sie zur Rettung des schiffbrüchigen Odysseus vor dem Phaiakenland bei) identifiziert wird; dieses Beispiel zeigt, wie gelegentlich auch solche Lokalgottheiten in die panhellenische Mythologie ‘aufsteigen’ konnten. 27 Vgl. GRAF, Griechische Religion, 499. 28 Gerade Herakles ist ein besonderer (auch besonders komplexer) Fall mit seinen zahlreichen Kultstätten und Heiligtümern überall in Griechenland (mit vielen lokal sehr verschiedenen Ausprägungen, die auch Herodot hier immerhin andeutet). Eine gewisse Entsprechung zu dem hier skizzierten ‘doppelten’ Herakles findet sich bereits in der Odyssee (11,601–627), wo Odysseus in der Unterwelt auf den Schatten des – mithin also verstorbenen (und damit ‘heroisierbaren’) – Herakles trifft, während gleichzeitig ausdrücklich gesagt ist, daß Herakles in einer ‘zweiten Ausführung’ auch als Gott auf dem Olymp existiert.

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differenziert. Gleichwohl ist es zu Verwischungen und Annäherungen zwischen Götter- und Heroenstatus angekommen, nicht zuletzt deshalb, weil sich im Lauf der Zeit in der Kategorie der Heroen Wesenheiten verschiedener Herkunft gesammelt haben, angefangen von solchen, die in einer Frühzeit vielleicht einmal als regelrechte Götter galten (vgl. Helena, besonders in Sparta) bis hin zu wirklichen Menschen, die – aus verschiedenen Gründen (s.u.) – zu kultischen Ehren kamen.29 Zunächst aber sind Heroen einfach verstorbene Menschen, allerdings solche, die man nach ihrem Tod als mit besonderer Macht ausgestattet betrachtet und daher für würdig hält, verehrt (und um Hilfe angegangen) zu werden. Eine solche Verehrung kann in den Leistungen dieser Personen zu ihren Lebzeiten begründet sein, z.B. bei Stadtgründern ( ). Ein athenisches Beispiel dafür ist Theseus, der nicht nur in einem sogenannten ‘Synoikismos’ ganz Attika zu der einen Polis Athen vereinigt, sondern mit seinem Königtum auch den verfassungspolitischen Keim der späteren Demokratie gelegt haben soll.30 Vor allem in der Zeit der großen griechischen Kolonisationsbewegung (8. bis 6. Jahrhundert v.Chr.) war es üblich, die (in der Regel adligen) Leiter der Ansiedlungs-Expeditionen, die sogenannten Oikisten, nach ihrem Tod mit ‘heroischen’ Ehren und entsprechenden Kulten auszustatten. In anderen Fällen wird man auf Tote aufmerksam: Wenn diese nach ihrem Hinscheiden bestimmte Zeugnisse von ihrer (fortdauernden oder neuen) Macht ablegen, z.B. als Wiedergänger, kommen auch sie für einen solchen Kult in Frage. Besondere Bedeutung erlangen dabei die, die sich dauerhaft als Nothelfer und sogenannte Heilheroen erweisen; so brachte es der mythische Seher und Held Amphiaraos bei Oropos (an der Grenze Südostboiotiens zu Nordostattika) zu einem großen Kultzentrum, weil er dort von der (durch einen Blitz des Zeus gespaltenen) Erde verschlungen worden sein soll.31 Eine weitere Gruppe Heroen (und Heroinen) – zum Teil mit schon Genannten identisch – sind diejenigen, die _______________ 29 Zum Teil scheinen Heroenkulte in ihrer Entwicklung und Ausbreitung auch mit Initiationsriten und -kulten zusammenzugehen; ein Beispiel dafür ist der griechische Held Achill, dessen Kult besonders um den Hellespont herum – in der Nähe Trojas – zu finden war und sich dann mit der griechischen Kolonisation an der Nordküste des Schwarzen Meeres entlang ausbreitete). Vgl. GRAF, Griechische Religion, 481. 30 Im frühen 5. Jahrhundert v.Chr. nahm Theseus’ Verehrung einen besonderen Aufschwung: Um 475 brachte der athenische Feldherr und Staatsmann Kimon die angeblich auf der Insel Skyros liegenden Gebeine des Theseus feierlich nach Athen, um ihm hier ein Heroon zu begründen und Spiele, die sogenannten Theseia, einzurichten. Vgl. auch die mythische Gründerfigur Kadmos im Fall der Polis Theben. 31 Das bei Oropos zu findende Amphiareion wurde in klassischer Zeit zu einem großen Komplex, geradezu zu einer Art ‘Kur-Zentrum’ fast wie das Asklepios-Heiligtum in Epidauros; noch seine heute zu besichtigenden Überreste (u.a. mit einem Theater) haben beeindruckende Ausmaße.

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nach Erzählung des Mythos als Kinder aus der Verbindung von Göttern und Sterblichen auf die Welt kamen; von ihnen berichten die Heldengeschichten, die in den großen epischen Kriegen um Theben und Troja gipfeln. Bemerkenswerterweise kamen diese Helden im frühen 1. Jahrtausend oft zu neuen ‘heroischen’ Ehren, wenn ihnen nun noch aus mykenischer Zeit stammende Kuppelgräber zugeschrieben wurden: Gerade vom 8. Jahrhundert an finden sich bei einer Reihe dieser Gräber kultische Weiheoder Opfergaben, die nichts mit dem sonst in Griechenland üblichen Familien-Totenkult zu tun haben können, da die in den Kuppelgräbern bestatteten Toten bereits Hunderte von Jahren früher beigesetzt wurden; wahrscheinlich hängt diese neu aufkommende Verehrung von Helden der Vorzeit als Heroen mit der gerade in dieser Zeit einsetzenden neuen Phase der Verbreitung der homerischen Epen zusammmen (die nunmehr in schriftliche Form gebracht wurden). Es gibt sogar aus vergleichsweise ‘heller’ historischer Zeit noch Nachrichten über die ‘Heroisierung’ bestimmter Verstorbener, die einiges von den ‘Kriterien’ erkennen lassen, die zu einer solchen Heroisierung führen konnten. Im fünften Buch seines Werks erzählt Herodot von Philippos, dem Sohn des Butakides aus Kroton, einem Olympioniken, der „aufgrund seiner Schönheit von den Bewohnern von Egesta etwas erhielt, was keinem anderen zuteil wurde: an seinem Grab errichteten sie ein Heroenheiligtum und ehren ihn mit Opfern“ (5,47,1f.). Grund für die Heroisierung dieses Philippos ist also seine explizit hervorgehobene besondere Schönheit, weil sie ihm etwas verleiht, das über normales Menschenmaß hinausgeht.32 Im siebten Buch berichtet Herodot vom Tod und feierlichen Begräbnis des hochadligen Persers Artachaies, der den berühmten AthosDurchstich des Xerxes leitete, in der griechischen Stadt Akanthos; er zeichnete sich durch sehr hohen Wuchs und eine sehr weit tragende Stimme aus, und deshalb „opfern die Akanthier diesem Artachaies aufgrund eines Götterspruchs wie einem Heros“ (7,117,1f.). Auch hier sind besonderer körperlicher Wuchs und die mächtige Stimme ausschlaggebend dafür, daß diesem Mann – der nicht einmal ein Grieche ist! – ‘heroische’ Qualitäten zugesprochen werden.33 Einen noch bemerkenswerteren Fall einer Heroisierung in historischer Zeit schließlich berichtet der kaiserzeitliche Schriftsteller Pausanias (6,9,6–8): Dem Boxer Kleomedes von der Ägäis-Insel Astypalaia war 492 v.Chr. von den Kampfrichtern in Olympia der Sieg aberkannt worden, weil er seinen Gegner – wohl ohne Absicht – _______________ 32 Auch Götter zeichnen sich in der Regel durch eine potenzierte Schönheit aus; vgl. den goldlockigen Apollon, den Apollonios Rhodios vor den Argonauten erscheinen läßt, s.o. 33 Bei dem Entschluß, diesem Mann kultische Ehren zuteil werden zu lassen, ist übrigens ein Orakel involviert; das dürfte ein recht häufiger Vorgang gewesen sein.

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getötet hatte; Kleomedes verlor vor Wut und Schmerz über diese Zurücksetzung den Verstand, ging nach seiner Heimkehr nach Astypalaia in eine Schule mit sechzig Kindern und riß hier den das Dach tragenden Pfeiler nieder – mit entsprechenden Folgen für die anwesenden Schüler. Als die wütenden Eltern Kleomedes steinigen wollten, floh er ins Heiligtum der Athena, stieg dort in eine Truhe, zog den Deckel über sich zu, und niemand gelang es, ihn zu öffnen, bis die Verfolger das Holz der Truhe zerbrachen; da aber war in ihr kein Kleomedes mehr zu finden. Die entgeisterten Astypalaier erkundigten sich beim Orakel in Delphi, was da passiert sei, und erhielten zur Antwort: „Der Heroen letzten, Kleomedes von Astypalaia, / ihn ehret nunmehr mit Opfern, denn er ist nicht mehr sterblich!“ Ausschlaggebend in diesem zugleich skurrilen und gruseligen Fall ist wiederum, daß Kleomedes eben kein ‘gewöhnlicher’ Mensch ist: Seine gewaltige Kraft (die hier ähnlich wie bei dem biblischen Helden Samson zu einer Katastrophe führt) hebt ihn über Menschenmaß hinaus, und die geheimnisvollen Umstände seines Verschwindens tragen mit dazu bei (bzw. geben wohl sogar den Ausschlag), daß Kleomedes von der delphischen Pythia eines Heroenkultes für würdig befunden wird. Wie wichtig auch ‘politisch’ die Einrichtung und Aufrechterhaltung solcher Heroenkulte sein kann, sei kurz am Beispiel der zehn sogenannten attischen ‘Phylenheroen’ vorgeführt. Diese wurden im Zusammenhang mit der Etablierung der attischen Demokratie durch Kleisthenes um 510 v.Chr. vielleicht nicht völlig neu geschaffen, aber jedenfalls neu institutionalisiert: Kleisthenes wollte an die Stelle der vier alten, stark durch den alten Adel dominierten Phylen (das Wort bedeutet ‘Stämme’ und bezeichnet die wichtigsten Gruppierungen der attischen Bürgerschaft) zehn neue und in ihrer Zusammensetzung möglichst ausgewogene setzen, in denen der alte Adel keine solche Macht mehr haben sollte; und um diesen Phylen auch eine Dignität zu geben, die den ihr jeweils Angehörigen eine Identifikation mit ihnen erleichtern sollte, stellte er sie alle unter das Patronat je eines Heros, der mit der mythischen attischen Geschichte in besonderer Weise verbunden war.34 Die zehn seien hier kurz vorgestellt, um zu zeigen, aus welchen verschiedenen Substraten solche Heroen kommen können: • Erechtheus, Kekrops, Pandion und Aigeus waren mythische attische Könige: Erechtheus hatte erfolgreich Feinde von Attika abgewehrt (und dabei seine Töchter geopfert); Kekrops war der attische Ur-König par excellence (übrigens ein erdgeborenes, mischleibiges Wesen: sein Unterkörper lief in eine Schlange aus); von König Pandion sind dem Mythos vor allem seine Töchter Prokne und Philomele bekannt (er _______________ 34 Übrigens soll Kleisthenes diese Idee, mit Heroen Politik zu machen, von seinem gleichnamigen Großvater, dem Tyrannen Kleisthenes von Sikyon, übernommen haben (vgl. Hdt. 5,66,2–67,1).

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selbst scheint aber schon in alter Zeit sowohl in Athen wie in Megara einen Kult gehabt zu haben); Aigeus war vor allem als Vater des Theseus (und als Namengeber des ägäischen Meeres) berühmt. • Leos ist ein Kultheros rein lokal attisch-patriotischer Bedeutung: Seine Töchter, die Leokorai, opferten sich wie die Erechtheus-Töchter zum Wohle Athens. • Aias und Akamas nahmen beide am Trojanischen Krieg teil, wurden also im alten mythischen Epos gefeiert; Aias kam von der (seit dem frühen 6. Jahrhundert zu Athen gehörenden) Insel Salamis und war nach Achill der herausragendste griechische Held vor Troja; Akamas ist von lokalerer Bedeutung (er wurde vor allem im Kerameikos und im Hafen Phaleron verehrt). • Die drei noch übrigen Heroen, Hippothoon, Antiochos und Oineus, entstammen der attischen Lokalsage und sind daher im ‘panhellenischen’ Mythos kaum zu finden. Hippothoon war in Eleusis beheimatet (er soll in seiner Jugend ausgesetzt und von einer Stute ernährt worden sein); Oineus war vielleicht ein Angehöriger des attischen Königshauses; Antiochos soll von Herakles abstammen. Alle zehn hatten jeweils ein besonderes Phylenheiligtum an einem Hauptort ihrer Phyle (ringsum in Attika); dazu kam aber auch ein gemeinsames Standbild/Denkmal auf der athenischen Agora (die Basis kam man dort heute noch sehen), das sinnfällig demonstrierte, wie sich die zehn attischen Phylen im Zentrum des athenischen Staates vereinigten. Insgesamt stellen die Heroen ein sehr heterogenes Konglomerat dar; sie bilden gleichwohl einen wichtigen Teil des griechischen Polytheismus, vor allem in seiner je verschiedenen lokalen Ausprägung, die unter Punkt 4 noch etwas genauer zu betrachten ist. Wie flexibel und geschmeidig dieser Polytheismus ist, zeigen schließlich zwei weitere Kategorien, in denen sich ebenfalls eine ganze Reihe griechischer Götter fassen läßt: vergöttlichte Abstrakta und in die griechische Götterwelt ‘eingemeindete’ nicht-griechische Götter. Eine große Zahl vergöttlichter Abstrakta sind bereits im Pantheon von Hesiods Theogonie präsent: Unter den allerersten göttlichen Wesenheiten, mit denen Hesiods Kosmos beginnt, befinden sich Chaos (die ‘gähnende Leere’) und Eros, der vergöttlichte Geschlechts- und Paarungstrieb; aus dem Chaos entsteht die schwarze Nacht, aus dieser wiederum (in gleichsam dialektischem Umschlag) der helle Tag. An etwas späterer Stelle der Theogonie bringt die Göttin Eris (selber die personifizierte Zwietracht) folgende wenig anheimelnden Abstrakta als ihre göttliche Brut hervor (V. 226–232): schmerzensreiche Mühsal, Vergessen, Hunger, tränenreiche Schmerzen, Kämpfe, Schlachten, Morde und Männertötungen, Zänkereien, Lügen, Reden, Gegenreden, Rechtsverletzung, Verblendung, Eid. Die

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Vergegenständlichung und Vergöttlichung solcher Abstrakta ist also in der griechischen Religion eine seit jeher angelegte Möglichkeit. Gottheiten, die mit konkreten Gegebenheiten verbunden sind, wie Gaia (‘Erde’), Eros (‘Liebe’) oder Hestia (‘Herd’), besitzen schon in früher Zeit Kulte; Hestia ist wahrscheinlich sogar bereits eine Kultgöttin noch indoeuropäischen, d.h. vorgriechischen Ursprungs und ist sogar innerhalb der olympischen Götterfamilie (s.o.) als Schwester des Zeus präsent. Im Lauf der archaischen Zeit treten weitere Vergöttlichungen abstrakter Vorstellungen hinzu, z.B. Nike (‘Sieg’ = Siegesgöttin) oder Themis (‘Recht’); in hellenistischer Zeit sind dann sogar Gottheiten wie   oder !" (‘Eintracht’) „nicht literarische Fiktionen, sondern real verehrte Wesenheiten“.35 In der Neuzeit hat man in einer solchen Proliferation von göttlichen Abstrakta oft einen Verfall echten religiösen Gefühls gesehen; dies aber wird dem Phänomen schon deshalb nicht gerecht, weil es sich eben bis in unsere ältesten Texte zur griechischen Religion zurückverfolgen läßt. Vielmehr zeigt sich hier wiederum eine der Möglichkeiten des Polytheismus: In ihm können Potenzen, deren Wirkung Menschen zu erfahren geglaubt haben, zu völlig anthropomorphisierten Gottheiten werden.36 Schließlich sind auch die ursprünglich nicht-griechischen Götter in der griechischen Götterwelt eine keineswegs gering zu schätzende Erscheinung: In einem kontinuierlichen und schon früh beginnenden Prozeß erscheinen in den Panthea der griechischen Städte im Lauf der Zeit immer mehr solche aus nichtgriechischen Regionen kommende Gottheiten. So scheint keine Geringere als Aphrodite in den sogenannten ‘Dark Ages’ (d.h. zwischen 1200 und 800 v.Chr.) von Osten her eingewandert zu sein, und wohl im späten 8. Jahrhundert beginnt der Kult der phrygischen Bergmutter (Kybebe oder Kybele) zu expandieren, die schnell mit Rhea, der Mutter des Zeus (und seiner Geschwister), identifiziert wird. Als sich der Blick der Griechen dann – namentlich seit dem 5. Jahrhundert v.Chr. – bewußt reflektierend auf andere Religionen ausweitet, erweist sich ihr polytheistisches System erneut als bemerkenswert anpassungsfähig, denn es kann nunmehr in zwei Weisen auf diese fremden Götter reagieren: Zum einen lassen sich diese Gottheiten als grundsätzlich mit den griechischen identisch auffassen; in diesem Fall sucht man das Verbindende zu den ei_______________ 35 GRAF, Griechische Religion, 499. Die Attraktivität, die solche Personalisierungen von Abstrakta haben, liegt auf der Hand: Die Griechen haben sich mit Lust – und teilweise auch mit Verzweiflung – darum bemüht, sich mit Hilfe von Etymologien die Bedeutung der Götternamen und damit auch die Wesensmerkmale ihrer Träger zu erschließen (Kardinalbeispiel: der Kratylos Platons); vergöttlichte Abstrakta besitzen demgegenüber den Vorteil, daß sie unmittelbar verständlich sind. 36 Vgl. GRAF, Griechische Religion, 499.

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genen Göttern zu entdecken, in der Überzeugung, daß der jeweils verschiedene einzelsprachliche Name nur eine andere Bezeichnung für ein bereits bekanntes göttliches Wesen ist, die man ohne weiteres in die eigene Sprache (und in eine eigene Gottheit) ‘übersetzen’ kann. Diese auch Interpretatio Graeca genannte Betrachtungsweise ist z.B. bei Herodot sehr prominent:37 Er verwendet gern den griechischen Namen zur Bezeichnung auch ungriechischer Gottheiten und nennt etwa die ägyptische Isis Demeter (Hdt. 2,59,2) und den ägyptischen Osiris Dionysos (Hdt. 2,42,2). Kriterien für solche Gleichsetzungen sind die beobachteten Funktionen (und natürlich auch das Geschlecht: eine ägyptische Göttin kann nicht einem griechischen Gott entsprechen); die dabei gemachten Annäherungen sind freilich immer recht oberflächlich. Anders wird verfahren, wenn der spezifische fremde Kult regelrecht in Griechenland eingeführt wird. Das konnte durch in den griechischen Städten niedergelassene Fremde geschehen, die ihre Lokalkulte mitbrachten, die dann freilich außerhalb der engen ‘Landsmannschaften’ meist keinen großen Anhang gewannen. Ein Fall aber, in dem eine ausländische Gottheit recht prominent wird, ist der der thrakischen Göttin Bendis in Athen: Diese hat unter ihrem angestammten Namen bereits im späteren 5. Jahrhundert im athenischen Piräus viele Anhänger und ein eigenes Heiligtum sowie auch ein eigenes regelmäßiges Fest (die Bendideia), an dem sich auch Athener wie Sokrates ohne weiteres beteiligen, wie der Anfang der platonischen Politeia (1, 327a) zeigt, wo das betreffende Fest sogar eine recht ausführliche Beschreibung erhält.38 Andere Kulte, wie diejenigen der Götter Adonis oder Sabazios, faßten mehr in privaten Kultgruppen Fuß. Im Hellenismus expandierte dann stark der Kult der Isis – der in Alexandria bereits hellenisiert worden war – rund um das Mittelmeer, weil er über eine offensichtlich attraktive „Mischung von Exotik und Bekanntheit“ verfügte.39 In griechischer Spottliteratur (neben klassischen Komödienzeugnissen ist hier vor allem der Satiriker Lukian zu nennen, der einmal eine Götterversammlung beschreibt, in der sich alt eingesessene Götter heftig über fremde ‘Neuzugänge’ beklagen) und dann auch in der Moderne wird der Gegensatz zwischen einheimischen und fremden Göttern in der griechischen Religion zum Teil stark betont; dies wird jedoch der Realität nicht _______________ 37 Vgl. BURKERT, W., «Herodot als Historiker fremder Religionen», in: Hérodote et les peuples non grecs (Entretiens sur l'antiquité classique 35), Vandoeuvres-Genève 1990, 1–39. 38 Plat. rep. I 327a. 328a. Schon Kratinos' um 430 v.Chr. aufgeführte Komödie #   (fr. 73–89 K.-A.) machte sich offenbar über den Bendiskult lustig; höchstwahrscheinlich bestand der Chor des Stücks aus thrakischen Bendisverehrerinnen. 39 GRAF, Griechische Religion, 500.

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gerecht – der griechische Polytheismus konnte von außen kommende Kulte weitgehend assimilieren, umso mehr, wenn ihm dazu bereits vorhandene griechische Ansätze zur Verfügung standen (wie z.B. bei Rhea-Kybele, s.o.).

4. Die ‘doppelten’ Götter: lokale und ‘panhellenische’ Prägung Griechische Götter haben gewissermaßen eine doppelte Identität: einerseits eine ‘panhellenische’, die vor allem im Mythos zutagetritt und die, wie erwähnt, vor allem durch frühe Dichter wie Homer und Hesiod ausgestaltet wurde, und andererseits eine betont lokale, die stark an bestimmte örtlich gebundene Kulte geknüpft ist. Daraus ergibt sich ein bemerkenswertes Paradox: Einerseits ist der Wohnsitz der Götter par excellence der Olymp (gleich, ob man ihn sich als großen Berg oder als himmlischen Ort vorstellt); andererseits wohnen sie aber auch in ihren Lieblingsheiligtümern (Apollon in Delphi, Athena in Athen, Aphrodite auf Kythera) und sind darüber hinaus sogar an jedem ihrer Kultorte in ihrer Kultstatue direkt anwesend gedacht (vgl. dazu u. ‘Tempel, Riten und Orakel’, S.47); logisch ist das eigentlich unmöglich, aber Logik hat in einer Religion oft nur eine begrenzte Gültigkeit. Die lokal sehr verschieden ausgeprägten Identitäten der jeweils verehrten Gottheiten sind wesentlich dadurch geprägt, daß die maßgebliche politische Systemeinheit des klassischen Griechentums die Polis ist. Je nach Polis können daher die lokalen Erscheinungsformen einer Gottheit in Funktion, Kultform und selbst im Mythos differieren; daß aber diese lokal so unterschiedlich präsenten Götter dennoch Wesen bleiben, die man in auch an anderen Orten verehrten Göttern noch wiedererkennen kann, dafür hat eben die Traditionsstiftung der frühen griechischen Dichtung gesorgt, die über der lokal unterschiedlich ausgeprägten göttlichen Person gewissermaßen einen panhellenischen Überbau errichtet hat. Diese doppelte Identität spiegelt sich auch in der Namengebung der Götter in den einzelnen Kulten wider. Dort setzt sich dieser Name in der Regel aus zwei Bestandteilen zusammen: dem eigentlichen ‘Eigennamen’ (Zeus, Hera, Athena etc.) und einem kultischen Beinamen, einer Epiklese, abgeleitet von   = ‘anrufen’. Ohne diese Epiklese könnte man die betreffende Gottheit im Kult gar nicht anrufen; sie zeigt die jeweilige Funktions-Differenzierung bei der betreffenden Gottheit an, und mit ihrer Hinzufügung steigen wir aus der mythischen Vorstellung der Götter in die Bereiche der ‘praktischen’ Religion hinab; wie nämlich die in Heiligtümern gefundenenen Weihinschriften zeigen, gelten die von Menschen dargebrachten Opfer und Dedikationen in der Regel einer durch einen spe-

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zifischen Beinamen gekennzeichneten Gottheit. Anders als die Götter‘Eigennamen’, deren Bedeutung meist weder ‘selbst-redend’ noch etymologisch leicht erklärbar ist (was etwa heißt ‘Zeus’?), sind die Epiklesen meist unmittelbar verständlich, und dies aus gutem Grund: Ihre Aufgabe ist ja gerade die genauere Determinierung der Gottheit. Zum einen heben solche Epiklesen bestimmte Kultorte hervor, die als Herkunftsort der Gottheit verstanden werden können (z.B. Artemis Ephesia, Apollon Pythios, wenn diese Götter außerhalb von Ephesos oder Delphi verehrt werden oder wenn ihre lokale Besonderheit stärker betont werden soll), in anderen Fällen können sie auf Funktionsverbindungen mit ähnlichen Gottheiten hinweisen (z. B. Athena Areia).40 Vor allem aber drücken die Epiklesen bestimmte noch deutlich ablesbare Funktionen aus: So ist Apollon Apotropaios, der ‘Abwender’, der Abwehrer von Übeln, und Zeus Ktesios der Hüter des Besitzes. Auch wenn die Epiklese auf einen bestimmten Ort in der Polis hinweist – Zeus Agoraios wird auf der Agora, Apollon Propylaios vor dem Stadttor verehrt –, steht in der Regel dahinter eine entsprechende Funktion: Der Agoraios hat die Aufsicht über das politische Leben (das sich wesentlich auf der Agora abspielt), dem Propylaios ist der apotropäische Schutz des Tordurchgangs anvertraut. In dieser Weise kann z.B. der Gott Zeus einem Athener der klassischen Zeit in seinem alltäglichen Leben in vielen speziellen Formen entgegentreten:41 Als Zeus Hypatos wird er mit unblutigen Opfern verehrt; als Zeus Soter wird er innerhalb eines häuslichen Gastmahls mit der jeweils dritten Trankspende geehrt; als Zeus Polieus feiert man ihn an den Dipolieia im gleichen Monat Skirophorion (etwa Juni-Juli), als Zeus Meilichios am Diasien-Fest im Monat Anthesterion (Anfang Oktober). Im Hause selbst tritt er als Zeus Philios auf, d.h. als Schutzherr einer Mahlfeier; als Zeus Ktesios, d.h. als Schutzherr des häuslichen Besitzes; als Zeus Herkeios, Beschützer des Oikos und seiner Umfassung nach außen; als Zeus Kataibates, Abwender von Blitzen bei Gewitter; und die Reihe ließe sich fortsetzen. Fazit: Der griechische Polytheismus hat göttliche Wesen in erstaunlicher Vielfalt und Fülle – dazu mit vielen lokalen Spielarten – konzipiert und sich über viele Jahrhunderte hinweg als vorzüglich fähig erwiesen, immer noch neue Wesenheiten in diesen reichen Kosmos zu integrieren. Alle diese Wesen sind zwar unsterblich, aber in menschlicher Gestalt und mit _______________ 40

Seltener deutet der Beiname auf die Identifizierung zweier Gottheiten hin (z.B. Apollon Paian als Verbindung Apollons mit dem in mykenischer Zeit noch unabhängigen Heilgott Paiawon oder in der späteren Antike Zeus Asklepios als dem Zeus an Machtfülle ähnlicher Asklepios). 41 Nach B RUIT ZAIDMAN, L./SCHMITT P ANTEL, P., Die Religion der Griechen: Kult und Mythos, München 1994 (frz. Originalausgabe Paris 1989, 21991), 177f.

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menschlichen Eigenarten gedacht; sie sind mächtig (wenn auch nicht allmächtig), und ihre Macht zwingt die Menschen, sich mit ihnen zu arrangieren – was bei entsprechender Umsicht und mit geeigneten Maßnahmen (vor allem Opfern) in der Regel auch gelingt. Gelingt es nicht, d.h. muß der Mensch Unglücksfälle und Schicksalsschläge erleben, so kann er sie sich recht gut als von einer aufgebrachten Gottheit verursacht erklären (wobei deren Zorn gar nicht dem Betroffenen selbst gelten muß); die Welt wird damit zumindest verstehbar (wenn auch nicht unbedingt ungefährlich). Mehr als tausend Jahre lang half dieses Götterbild vielen Griechen, sich in ihrer Welt zurechtzufinden, und weder die kritischen Fragen eines Xenophanes im 6. Jahrhundert vor Chr. noch der Spott eines Lukian im 2. Jahrhundert nach Chr. konnte seine Lebensfähigkeit ernsthaft bedrohen; es waren erst die zum Teil recht brachialen Maßnahmen christlich gewordener römischer Kaiser, die ihm den Todesstoß versetzten.

Tempel, Riten und Orakel Die Stellung der Religion im Leben der Griechen HEINZ-GÜNTHER NESSELRATH

1. Die Orte der griechischen Religion: Heiligtümer, Götterbilder und Tempel Die heute noch sichtbarsten und imposantesten Überreste der griechischen Kultur sind ihre Tempel. Sie bilden in der Regel den Mittelpunkt ganzer Heiligtümer, sind aber keineswegs deren ältester Teil. Zur „Minimalausstattung“ 1 eines griechischen Heiligtums gehört ein Altar als Opferort, dazu Weihgeschenke (von Bittstellern, die ein Anliegen an die Gottheit haben oder dieser für ein erfülltes Anliegen danken wollen) und meist auch ein Kultbild der jeweils verehrten Gottheit; ein eigentlicher Tempel dagegen ist nicht notwendig. Nach außen ist das Heiligtum in der Regel durch eine mehr oder weniger hohe Mauer abgeschlossen und heißt deshalb Temenos (von , ‘schneiden’): ein aus dem übrigen Raum ausgeschnittenes Areal. Dieser Raum ist    (‘heilig’), d.h. dem Verkehr mit dem Übermenschlichen vorbehalten und geradezu Eigentum eines bestimmten Gottes. Als Eigentümer dieses    kann die Gottheit auch besonderes Verhalten verlangen, z.B. den Zutritt beschränken oder diesen sogar ganz verbieten.2 Wo ein Heiligtum liegt, hängt in der Regel mit dem Charakter der jeweiligen Gottheit zusammen. Das Heiligtum einer Stadtgottheit (etwa der Athena), liegt auf der Akropolis, dem Mittelpunkt einer Stadt; das von Marktgottheiten wie Zeus Agoraios oder Hermes liegt am Markt, das von Handwerkergottheiten wie Hephaistos in den Handwerkerquartieren. Kultorte ländlicher Gottheiten (etwa Pans und der Nymphen) liegen außerhalb einer Stadt (ein ländliches _______________ 1 GRAF, F., Griechische Religion, in: NESSELRATH, H.-G., Einleitung in die Griechische Philologie, Stuttgart – Leipzig 1997, 457–504, hier 465. 2 In der Regel kann das    von Menschen, die mit der zugehörigen Gottheit in Kontakt treten wollen, betreten werden; daneben gibt es aber auch den tatsächlich unbetretbaren Raum, das $% , das durch göttliches Einwirken (etwa einen in den Boden gefahrenen Blitz des Zeus Kataibates, ‘Herniederfahrer’) menschlichem Zugriff völlig entzogen ist und infolgedessen auch nicht einmal Kult enthält, der ohne menschliche Kult-Ausübende nicht möglich ist. Vgl. GRAF, Griechische Religion, 466.

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Pan-Heiligtum bildet den Mittelpunkt in Menanders Stück Dyskolos), ebenso zahlreiche Heiligtümer des Meergottes Poseidon (am Meeresufer) und viele des Himmelsherrschers Zeus (auf Bergen). Weniger leicht erklärbar ist, warum Heiligtümer der Demeter (Göttin des Ackerbaus) zwar vor der Stadt, aber doch in Stadtnähe liegen (oft in einem Hügelhang).3 Auch große Heiligtümer von Zeus' Gemahlin Hera (die Heraia) liegen aus nicht ganz klaren Gründen vor den Städten (so im Fall von Argos und Samos, aber auch die westgriechischen von Metapont, Kroton und Paestum in Unteritalien). Noch weiter draußen liegen viele Heiligtümer der Artemis (so das Heiligtum der Artemis Brauronia an abgelegener Stelle der attischen Ostküste), was bei dieser Göttin der Wildnis nun wieder leichter verständlich ist. Der wichtigste Bestandteil eines Heiligtums ist der Altar, denn an bzw. auf ihm vollzieht man den wohl wichtigsten kultischen Ritus: das Opfer. Ob dieser Altar ein kleiner (sogar transportabler) Steinblock oder eine monumentale Großanlage wie der berühmte Altar von Pergamon ist, seine Grundstruktur ist stets dieselbe: Auf einem Sockel (den eine einfache Stufe, aber auch eine große Freitreppe bilden kann) erhebt sich der eigentliche Altarkörper, dessen Oberseite so eingerichtet ist, daß dort ein Feuer brennen kann; dazu dient ein metallener Aufsatz mit hochgezogenen Rändern, der das Feuer und das Brandgut zusammenhält. Der Sockel erhöht den Altar, weil das auf ihm präsentierte Opfer meist Göttern gilt, die sich im ‘überirdischen’ Raum befinden.4 Der Altar ist auf diese Weise buchstäblich der „‘Brennpunkt’ der Kommunikation zwischen Mensch und Gott“;5 Weihreliefs zeigen ihn als ‘Schnittstelle’ zwischen den opfernden Menschen mitsamt ihrem Opfertier auf der einen Seite und den empfangenden Göttern auf der anderen. Im Heiligtum steht ferner regelmäßig ein Kultbild der hier verehrten Gottheit, das in alter Zeit – auch noch auf Vasenbildern des 5. Jahrhunderts v.Chr. – im Freien sein konnte, seit klassischer Zeit aber regelmäßig in einem Tempel zu finden ist. Das kultische Götterbild hat doppelten Charakter: Zum ei-

_______________ 3 Auch sonst läßt der Demeter-Kult eine etwas ambivalente Stellung zur Polis vermuten: Eines ihrer wichtigsten Feste, die Thesmophorien, sind ein Frauenfest, in dessen Verlauf die männlich dominierte Poliskultur wenigstens für einige Tage rückgängig gemacht wird (vgl. u.). 4 Opfer an Unterweltsgötter oder Totengeister pflegen demgegenüber in einer vertieften Opfergrube dargebracht zu werden, dem % . Er ist in Anlage und Funktion seit Hom. Od. 11,24f. gut belegt; weil er dem rituellen Kontakt mit den Toten und der Unterwelt dient, ist er in die Erde eingesenkt. Er kann wie Odysseus' Grube eine einmalige und vorübergehende Einrichtung, in ausgebauten Heiligtümern (insbesondere der Demeter, wie in Priene) aber auch fest (als quadratische, mit Stein sorgfältig ausgemauerte Grube, auf die Bretter zur Abdeckung aufgelegt wurden) gebaut sein. 5 GRAF, Griechische Religion, 467.

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nen ist es ein individuelles und an einem bestimmten Ort aufgestelltes Bild;6 zum andern holt es etwas, was eigentlich überzeitlich und göttlich ist, in die Gegenwart der Menschen hinein und ‘ist’ dann auch in gewissem Sinne die jeweilige Gottheit.7 Der griechische Ausdruck für ein solches Kultbild ist , ‘Wohnsitz’: Die Gottheit ‘wohnt’ buchstäblich in ihrem Bild, nicht anders als die Götter nach der ‘panhellenischen’ mythischen Vorstellung im Olymp wohnen, der ebenfalls  heißt.8 Auf die damit nie völlig gelöste Spannung zwischen der Annahme des Kultes, daß die Gottheit im Bild anwesend ist, und dem ‘Wissen’ des Mythos, daß die Götter entweder ganz außerhalb der Menschenwelt oder allenfalls noch in einem besonders prominenten irdischen Tempel wohnen, wurde im vorangehenden Kapitel bereits hingewiesen (in „Die Griechen und ihre Götter“, S.42). Die Vorstellung, daß der Gott in seinem Kultbild direkt zugegen ist, ist sehr hartnäckig; die zahlreichen Geschichten von wundertätigen Kultbildern setzen geradezu voraus, daß sich das Göttliche in diesem Bild irgendwie manifestiert. Im 2. Jahrhundert n. Chr. macht sich der Satiriker Lukian in unübertroffener Weise über diese Vorstellung lustig, indem er in seiner Schrift Zeus als Tragödienschauspieler den geplagten Göttervater eine Krisensitzung der olympischen Götter einberufen läßt, in der die einzelnen Götter umso bessere Plätze erhalten sollen, aus je größerem und kostbarerem Material ihr Kultbild gefertigt ist (Kap. 7–12); da ist dann der riesige Koloß von Rhodos – der allen anderen auch noch Sicht und Platz wegnimmt – eindeutig im Vorteil. Schon bei Homer lesen wir von einem überlebensgroßen Kultbild der Athena, an das die Troerinnen sich im 6. Buch der Ilias (V. 301–311) bittflehend wenden. Aber noch im 7. Jahrhundert sind die meisten Kultbilder (soweit uns faßbar) deutlich unterlebensgroß. Großplastische Bilder erscheinen dann im Lauf des 6. Jahrhunderts, und im 5. Jahrhundert werden von den damaligen großen griechischen Künstlern die berühmten eindrucksvollen Goldund Elfenbeinbilder geschaffen, z.B. die Athena Parthenos im Parthenon in Athen und der thronende Zeus im Zeustempel von Olympia durch Phidias, die Hera des Polyklet im Heraion von Argos. Gleichwohl verschwinden die altertümlichen und kleinen Bilder, die sogenannten Xoana (‘Schnitzwerk’, d.h. aus Holz hergestellte Götterbilder), nicht völlig, sondern werden nun teilweise neu verwendet: Ihre ‘Tragbarkeit’ macht sie für Riten gut brauchbar,

_______________ 6 Es kann sogar ausgewechselt werden, wenn es in irgendeiner Weise beschädigt wird oder aber auch der Ästhetik nicht mehr entspricht. 7 Weil es diese Bedeutung hat, wird es auch sorgfältig gepflegt, mit Blumen bekränzt, mit kostbarem Öl poliert und gelegentlich auch neu eingekleidet. 8 Vgl. Hom. Od. 6,42:    &  .

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in denen die im Götterbild präsente Gottheit ihren ‘normalen’ Platz verläßt, um anschließend in einer Prozession wieder dorthin zurückzukehren.9 Heiligtümer sind ferner der Ort, an dem man Weihgeschenke aufstellt; sie können die Folge eines erfüllten Wunsches,10 aber auch durch eine Traumerscheinung der betreffenden Gottheit veranlaßt sein.11 Zu solchen Weihungen gehört regelmäßig eine Weihinschrift, die in Prosa oder Versen Empfänger, Stifter und gegebenenfalls Anlaß der Weihung angibt. Eine Vielzahl von Weihgeschenken in einem Temenos ist eine Empfehlung für die Gottheit, die offenbar häufig hilft. Oft werden Statuetten oder Statuen, Wertgegenstände, Weihreliefs (also bildliche Darstellungen) geweiht.12 Kleine billige Statuetten sollten wohl immer nur individuellen Dank ausdrücken; große Statuen dagegen vermehrten die Ausstattung des Heiligtums und heißen daher auch    , ‘Schmuckstücke’. Als solcher Schmuck dienen auch die in ein Heiligtum gestifteten Wertgegenstände. Im Lauf der Zeit sammelten sich auf diese Weise in manchen Heiligtümern enorme Schätze an; bezeichnend ist der Fall von Delphi, dessen gehortete Reichtümer sich im mittleren 4. Jahrhundert v.Chr. phokische Kriegsherren skrupellos aneigneten und zehn Jahre lang ihr nicht unbeträchtliches Heer daraus finanzieren konnten.13 Ein Anlaß für Weihungen sind auch biographische Einschnitte: Hier weiht der Mensch, was er im neuen Lebensabschnitt nicht mehr braucht, als Dank für die Hilfe der Gottheit während des vergangenen, aber auch als Versprechen weiterer solcher Gaben im neuen. So weihen Mädchen ihre Bälle und Puppen der Artemis, wenn sie erwachsen werden und heiraten, Handwerker ihre Werkzeuge, wenn sie ihren Beruf aufgeben. Neben individuellen Weihungen gab es auch kollektive, also von Städten getätigte, z.B. eines Teils der vom Feind erbeuteten Waffen nach einem erfolgreichen Feldzug für die hilfreiche Gottheit; damit konnte man gerade in panhellenischen Heiligtümern wie Olympia auch die eigenen Triumphe herausstellen. _______________ 9

Am Vorabend der athenischen Großen Dionysien etwa wird das alte Bild des Dionysos Eleuthereus aus seinem Tempel am Südabhang der Akropolis aus der Stadt gebracht, und mit seiner Rückführungsprozession beginnt das eigentliche Fest. Ähnlich wird das alte Holzbild der Athena auf der athenischen Akropolis (zunächst im alten Athena-Tempel, später im Erechtheion) jeweils an den Plynteria (von , ‘waschen’) aus der Stadt gebracht, gewaschen und neu eingekleidet, ebenso das alte Holzbild der Hera von Samos am Fest der Tonaia. Zu weiteren Beispielen s. GRAF, Griechische Religion, 469. 10 Dann gibt die zugehörige Weihinschrift der Hinweis, daß das Weihgeschenk (   ), ‘gemäß dem Gebet’, das den Wunsch zum Ausdruck brachte, aufgestellt wurde. 11 Dann findet sich auf der Weihinschrift die Formel  ’ $ („gemäß dem Traum“). 12 Statuetten (in der Regel aus billigem Material: Blei oder noch häufiger Terrakotta) stellen Tiere oder Menschen oder Götter dar, wobei die Unterscheidung zwischen Mensch (‘Adorant’) und Gottheit nicht immer klar ist. Auch sicher identifizierbare Götterbilder müssen übrigens nicht mit der Gottheit, in deren Temenos sie geweiht werden, identisch sein. 13 Vgl. Diod. 16,33,2; 36,1.

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Die am besten faßbare Gattung sind Weihreliefs auf Ton oder Stein. Die meisten von ihnen stellen eine typische Opferszene dar: eine Gruppe von opfernden Menschen, Männer, Frauen, Kinder mit Diener und Opfertier, die vor die meist größer dargestellte Gottheit hintreten; zwischen beiden steht oft der Altar. Dabei ist nicht das Relief das eigentliche Geschenk, sondern vielmehr das (dargestellte) Opfer, dessen Vollzug – als Zeichen menschlicher Frömmigkeit – durch das Weihrelief der Gottheit und der Mitwelt gegenüber dauerhaft dokumentiert werden soll. Wie eingangs gesagt, sind es aber die Tempel, die – sobald vorhanden – zum Mittelpunkt der Heiligtümer werden. In ihrer dann ‘kanonisch’ gewordenen Form – nämlich mit einem hausartigen Kernbau (durchaus in der Tradition des mykenischen Megaron) und einer ihn umgebenden (wohl von der ägyptischen Sakralarchitektur angeregten) Säulenhalle – sind diese Tempel seit dem 7. Jahrhundert v.Chr. nachweisbar.14 Bei den frühen ‘Ringhallentempeln’ wird Stein nur für die Fundamente und den Sockel des Zentralraums verwendet; die daraufgesetzten Mauern aus Lehmziegeln und die Säulen, das Gebälk und der Dachstuhl bestehen aus Holz. Die ‘Steinwerdung’ des Ringhallentempels erfolgt im frühen 6. Jahrhundert v.Chr.:15 580 v.Chr. wird der Hera-Tempel in Olympia mit 6 x 16 Säulen noch aus Holz erbaut, zeigt aber bereits die dann typische Gestalt des langgestreckten archaischen dorischen Tempels. Etwa zur gleichen Zeit, seit 570 v.Chr., zeigt sich im ionischen Gebiet die ionische Bauordnung; auf Samos entsteht der erste der gewaltigen ionischen Dipteroi, ein Ringhallentempel mit doppelter Säulenumrahmung (ein ‘Säulenwald’ von insgesamt 104 schlanken, 18 m hohen Säulen) auf einer Grundfläche von 52,5 x 105 m. Ähnlich riesige und reich geschmückte Tempel entstanden wenig später in Ephesos und Didyma, dann auch in den großen Kolonialstädten Siziliens (Akragas, Selinunt). Als die einzigen griechischen Monumentalbauten der archaischen Zeit demonstrieren diese Tempel plastisch die hohe Bedeutung der Götterverehrung, zugleich aber auch, daß die Poleis, die sie errichteten, sich stark fühlten und stark waren. Seit dieser Zeit ist der griechische ‘Normaltempel’ eine langrechteckige, mit seiner Eingangsschmalseite nach Osten ausgerichtete Halle (‘Cella’); in ihrem Inneren steht hauptsächlich das Kultbild auf einer dem Eingang gegenüberliegenden Basis. Der zum Tempel gehörende Altar liegt gewöhnlich östlich vor der Eingangsfront. _______________ 14

Einer der ältesten ist der Apollontempel in Korinth, in der 1. Hälfte des 7. Jahrhunderts aus sorgfältig behauenen Blöcken in einer im Vorderen Orient üblichen Quaderbautechnik errichtet. Hierzu und zum folgenden vgl. MARTINI, W., Griechische Kunst: Archaische Zeit, in: NESSELRATH, H.-G., Einleitung, 596f. 605–608. 15 Das früheste Beispiel ist ein Artemistempel auf der Insel Korfu, d.h. an der griechischen Peripherie.

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Obwohl dieser Tempel architektonisch und bildhauerisch reich ausgestattet ist, hat er – jedenfalls in klassischer Zeit16 – im wesentlichen nur eine einzige Funktion, nämlich das Kultbild der betreffenden Gottheit würdig zu beherbergen; nur in diesem Sinn ist er ein ‘Haus Gottes’. Opfer und Gebet der Gemeinde fanden immer draußen am Altar statt. Das schließt nicht aus, daß einzelne ihre Gebete auch im Tempel – gleichsam unter den Augen der im Kultbild anwesenden Gottheit – sprechen konnten; schon in der Ilias (6,301– 304) gehen troische Frauen unter der Führung ihrer Priesterin Theano bittflehend bis zur Kultstatue der Athena in ihrem Tempel und legen ihr einen Peplos auf die Knie. Als Herberge des Kultbilds ist der Tempel übrigens gar nicht immer klar von einem sogenannten ‘Schatzhaus’ zu unterscheiden, das ja ebenfalls als Aufbewahrungsort kostbarer Weihgeschenke – mit Einschluß großer Götterbilder – dient. Gerade in neuerer Zeit wurde heftig um die Funktion des Parthenon gestritten: War er wirklich ein ‘Tempel’ für die Stadtgöttin Athena oder vielleicht ‘nur’ ein (dann freilich gigantisches) Schatzhaus zur Hortung athenischer Staatsreichtümer?17

2. Riten, Gebete, Opfer, Feste: Die Praxis der griechischen Religion Jede Religion, auch die griechische, aktualisiert und manifestiert sich in Handlungen, die man – in der Regel auf eine genau vorgeschriebene Weise – vollzieht oder tut, und diese beiden Verben liegen auch den griechischen Termini für religiöse Riten zugrunde: Sie heißen   (‘Vollzüge/Vollendungen’) oder einfacher   (‘was man tut’) oder auch  (‘was man aus rechtem Brauch/Tradition tut’). In dieser Allgemeinheit zeigen diese Begriffe gut, daß die Riten der griechischen Religion in nahezu jeder normalen wie Ausnahmesituation präsent sind: Riten durchziehen den Tag vom morgendlichen Gebet an die Hausgötter bis zum Ablauf des _______________ 16

In archaischer Zeit war die Funktion der Tempel vielfältiger, wie die erhaltenen Grundrisse zeigen: Neben dem üblichen Hallentempel mit dem Kultbild gibt es archaische Tempel mit einen viereckigen Herd als Feuer- und Opferstelle im Innern. Solche Tempel hat man teilweise mit den Männerhäusern außergriechischer Kulturen verbinden wollen; entsprechende Institutionen sind in den konservativen dorischen Städten belegt (vgl. die Syssitien in Sparta), und dort sind auch einige der Herdtempel lokalisiert; vgl. GRAF, Griechische Religion, 472f. 17 In einer Rede bei Thukydides (2,13,5) tut Perikles jedenfalls so, als handle es sich bei der kostbaren Ausstattung des großen Standbilds der Athena Parthenos um für den Staat verwendbare Mittel. Vgl. SCHNEIDER, L./HÖCKER, CHR., Die Akropolis von Athen, Darmstadt 2001, 117. 122. 152f.

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abendlichen Symposions (dort bis in die Abfolge der verschiedenen Trankspenden an verschiedene Götter). Riten begleiten auch die Politik: Jede Ratsund Volksversammlung beginnt mit einem Ritus, jeder zwischenstaatliche Vertrag wird durch einen besiegelt. Riten markieren ferner die wichtigen Übergangspunkte eines menschlichen Lebens (Geburt, Aufnahme in die Erwachsenenwelt, Heirat, Kindbett, Tod). Daneben gibt es Sonderriten auch für besondere Situationen: Apotropäische Riten sollen Übel fernhalten, kathartische (in ‘Reinigungs’zeremonien) bereits aufgetretene Übel wieder entfernen oder den Menschen auf den Umgang mit dem Göttlichen vorbereiten; divinatorische Riten (vgl. u.) dienen der Zukunftserforschung. Der wichtigste Ritus ist das Opfer; mit ihm tritt man mit Gottheiten in direkten und – so hofft man – nützlichen Kontakt. Auch hier läßt die griechische Begrifflichkeit die ubiquitäre Präsenz dieses Ritus erkennen: ‘Opfern’ heißt bei den frühen griechischen Dichtern einfach  , ‘tun’; von einer bereits spezialisierteren Opferform kommt das in der Prosa für „opfern“ sehr gängige Verb : Es hängt etymologisch mit dem lateinischen fumare zusammen und bedeutet eigentlich „rauchen/räuchern“; es weist zugleich auf die wichtige Rolle des Feuers bei einem großen Teil griechischer Opfer hin. Bei den verschiedenen Opferarten ist die wohl wichtigste Unterscheidung die zwischen dem blutigen Tieropfer und dem unblutigen Opfer; letzteres kann in der Ausgießung von Flüssigkeiten, dem Verbrennen von Weihrauch oder auch von Kuchen bestehen.18 Zentral für die griechische Religion ist das Tieropfer,19 das sich freilich aus der Perspektive der Götter eigentlich recht nachteilig ausnehmen müßte, denn während ihnen von dem geopferten Tier nur die wertlosen Teile verbrannt werden, bekommen die Menschen das schmack- und nahrhafte Fleisch für sich. Wie es zu dieser seltsamen Aufteilung kam, versucht Hesiods Theogonie mit einem aitiologischen Mythos zu erklären, in dem Prometheus, der Schöpfer und große Fürsorger der Menschen, gegenüber dem Göttervater Zeus einen regelrechten Opferbetrug begeht (Hes. Theog. 535–557; Übers. nach H. Gebhardt/E. Gottwein):

_______________ 18

Eine weitere Unterscheidung liegt darin, was nach dem Opfer mit dem Geopferten geschieht: Schließt sich an ein Opfer der Verzehr des Opfertiers an oder wird dieses ganz vernichtet oder weggegeben (Verzichtopfer)? Ferner kann man nach den Funktionen unterteilen, denen ein Opfer dienen soll (Gabenopfer, Reinigungsopfer, divinatorisches Opfer). Vgl. BURKERT, W., Opfertypen und antike Gesellschaftsstruktur, in: STEPHENSON, G. (Hg.), Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswissenschaft, Darmstadt 1976, 168– 187. 19 Die hierfür gebräuchlichsten Tierarten sind Ochsen, Stiere und Kühe (‘Boviden’), Schafe und Ziegen (‘Ovicapriden’), schließlich Schweine. Weil Schafe am erschwinglichsten waren, sind sie auch die häufigsten Opfertiere; Boviden sind wesentlich teurer, Schweine auf ganz bestimmte Situationen (und Götter) beschränkt. Vgl. GRAF, Griechische Religion, 460.

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Denn als einst sich verglichen die Götter und sterblichen Menschen, Dort zu Mekone, da legt' er, den mächtigen Stier mit Berechnung Teilend, die Stücke zurecht, um den Sinn des Zeus zu betrügen. Hier das Fleisch und die Innereien, triefend vom Fette, legt er hinein in die Haut, mit dem Magen des Stiers sie verhüllend; Dort aber dann die weißen Knochen mit trugvoller Kunst er Ordnet in schöner Weise sodann, mit schimmerndem Fett sie bedeckend. Damals sprach nun zu jenem der Vater der Götter und Menschen: „Du, des Iapetos Sohn, ruhmreichster von sämtlichen Herrschern, Lieber, wie hast du doch so ungleich geschieden die Teile!“ So mit sarkastischem Spotte sprach Zeus, der ewigen Rat weiß. Diesem entgegnete drauf der verschlagene Denker Prometheus, lächelt’ auch sanft, doch nicht vergaß er dabei die trugvollen Künste: „Zeus, erhabenster, größter der Götter, der ewiggebornen, Wähle von beiden, so wie die Lust im Herzen dich heißet!“ Sprach's mit listigem Sinn; doch Zeus, der ewigen Rat weiß, nahm den Trug wahr und verkannt' ihn nicht und erdachte Verderben Sterblichen Menschen im Geist, das bald vollenden sich sollte. Und mit beiden Händen hob hoch er das glänzende Stierfett, Schrecklich ergrimmend im Geist, und Zorn gelangte ins Herz ihm, als er die Knochen, die weißen, des Stiers mit dem Truge gesehen. Seitdem pflegt auf Erden der Menschen Geschlecht zu verbrennen Weißliche Knochen den Göttern auf duftenden Opferaltären.

Prometheus’ Opferbetrug hat für die Menschen, aber auch für Prometheus selbst üble Folgen: Den Menschen enthält Zeus nunmehr das Feuer vor (so daß sie das ihnen zugefallene Opferfleisch gar nicht braten können), und als ihnen Prometheus mit List auch dieses verschafft, läßt Zeus ihn an den Kaukasus anschmieden, wo ihm ein Adler täglich die Leber ausfrißt (521–5. 614– 616); den Menschen aber läßt er von Hephaistos Pandora, die Ahnherrin aller Frauen erschaffen, unter denen die Männer fortan zu leiden haben (Hes. Theog. 558–616). Seit Homer ist uns das sogenannte ‘olympische’ (also an die Götter des Himmels gerichtete) Tieropfer aus vielen Texten detailliert bekannt; eine ausführliche Beschreibung bietet bereits das 3. Buch der Odyssee (417–472), wo König Nestor von Pylos der Göttin Athena eine Kuh opfert und die einzelnen Phasen des Vorgangs ausführlich beschrieben werden:20 Nestor ordnet zunächst die Vorbereitung des Opfers an (417–429); dann werden die Kuh und ein Goldschmied geholt, der ihre Hörner würdig schmücken soll (430–435); bereits zu diesem Zeitpunkt findet sich auch die Göttin selbst ein, um beim weiteren Geschehen zugegen zu sein (435f.). Dann schmückt der Goldschmied die Hörner des Tieres (436–438); zwei Söhne Nestors führen die Kuh zum Opferplatz (439), ein dritter bringt Wasser in einem Becken sowie _______________ 20

Vgl. BRUIT ZAIDMAN, L./SCHMITT PANTEL, P., Die Religion der Griechen: Kult und Mythos, München 1994 (frz. Originalausgabe Paris 1989, 21991), 31f.

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Gerste in einem Korb (440–442), ein vierter trägt die Axt für die Tötung des Tieres (442f.), ein fünfter ein Gefäß zum Auffangen des Blutes (444). Dann wäscht sich Nestor als Opferherr die Hände, verstreut die Gerste, richtet ein Gebet an Athena, und wirft ein paar Haare, die er vom Haupt der Kuh abgeschnitten hat, in das bereits brennende Feuer (444–446); dieses ‘Beginnen’ (    ) leitet dann zur eigentlichen Opferung über. Jetzt nämlich tritt der Axtträger heran und läßt durch einen Hieb die Kuh zu Boden sinken (448– 450); zugleich stoßen die anwesenden Frauen einen rituellen Schrei (die ) aus (450–452). Die eigentliche Schlachtung – bei der das Tier mit dem herausströmenden Blut auch das Leben verliert – führt der sechste Nestor-Sohn durch (453–455). Danach beginnt die Zerteilung des toten Tieres: Die Schenkel werden herausgeschnitten, mit Fett umwickelt und der Göttin verbrannt, wobei Nestor noch Wein als Trankspende in die Flammen gießt (456–460); das übrige Fleisch wird auf Spieße gesteckt, für die anwesenden Menschen gebraten (461–463), und das Opfermahl kann beginnen. Etwas bescheidener – aber im Prinzip vergleichbar – geht es in der Opferprozession zu, in der in der Komödie Dyskolos („Der Griesgram“) des Dichters Menander eine attische Familie aufs Land zieht, um in einem Heiligtum des Gottes Pan ein Lamm zu opfern, weil die Herrin des Hauses einen beunruhigenden Traum gesehen hat, in dem Pan eine wichtige Rolle spielte (V. 407–418). Das Ganze ist natürlich komisch verfremdet: Als Vorauskommando (V. 393–426) treten auf der Schlachter, d.h. der Koch Sikon, der ein höchst widerwilliges Lamm hinter sich herziehen muß, und der Haussklave Getas, der unter der Last der von ihm zu schleppenden Utensilien (vor allem Kochgeschirr, das für das nach dem Opfer an Ort und Stelle vorgesehene Festessen vorgesehen ist) fast zusammenbricht. Bald darauf erscheint der ganze Familientroß auf der Bühne (430–439), beginnt mit den Opfervorbereitungen (440f. 447–453) und bringt mit seinem Lärm einen einsiedlerisch veranlagten alten Bauern (den ‘Griesgram’ des Stücktitels), der gleich nebenan wohnt, fast zur Raserei (V. 442–447) ... Neben dem Tieropfer gibt es verschiedene Formen des unblutigen Opfers: Bei der Trankspende oder Libation (; kommt auch in Verbindung mit anderen Riten vor) werden zu verschiedenen Gelegenheiten verschiedene Flüssigkeiten verwendet: zu Beginn und am Ende des Symposions Wein, im Grabkult Wasser, zur Grenzmarkierung Öl. Mit dem Räucheropfer, bei dem duftendes Holz und seit dem 7. Jahrhundert vor allem Weihrauch verbrannt wird, werden gern andere Opfer begleitet. Seltener ist das Verbrennen von diversen Opferkuchen oder Früchten; Kuchenopfer richten sich oft an Heroen, Acker- oder Baumfrüchte sind Erstlingsopfer (  ) bei der Ernte, bevor man diese für sich selbst in Anspruch nimmt.

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Neben dem Opfer ist der zweite wichtige Weg, um mit einer Gottheit in Kontakt zu treten, das Gebet. Gebete werden auf Griechisch als  (‘das, was man sagt’) bezeichnet und damit von den übrigen Riten, den   (‘das, was man tut’), abgehoben; sie sind regelmäßig in drei Teile gegliedert: Zunächst nennt eine ‘Anrufung’ (invocatio) den Namen der Gottheit samt Epiklesen und wichtigen Kultorten und fordert so die Gottheit zum Hören oder Kommen auf; danach verweist der Beter in einem narrativen Teil (pars epica) auf frühere Ritualleistungen, die er erbracht hat, und stellt seine eigene Not o.ä. dar, um seinen Wunsch zu legitimieren; erst dann spricht er diesen konkret aus (preces). Man fällt also nicht mit der Bitte ins Haus; nur in dringenden Fällen kann die Bitte an die zweite Stelle rücken.21 Ein Gebet ist auch der Hymnos, jedoch eines, das von besonderen Interpreten (Chören oder individuellen  ) vorgetragen wird. Als aufwendige literarischmusikalische Gebilde sind Hymnen stets für besondere Gelegenheiten, nämlich Feste der Gottheit vorgesehen; sie können den gleichen Status wie kostbare Weihgeschenke haben und werden deshalb oft im Heiligtum aufgezeichnet.22 Eine wichtige Sonderform von Riten hat die Entfernung einer Befleckung (  , ) zur Aufgabe, denn diese hindert den Menschen an einem adäquaten Umgang mit dem Göttlichen. Um Reinheit vor jedem Kontakt mit Göttern (auch vor dem Betreten eines Heiligtums) zu gewährleisten oder gegebenenfalls wieder herzustellen, sind solche ‘kathartischen’ Riten von inschriftlich überlieferten Sakralgesetzen oft detailliert ausformuliert.23 Das Konzept geforderter Reinheit betrifft aber auch jede – leichte oder schwere – Störung der normalen Ordnung. Solche Störungen sind Krankheit (insbesondere Wahnsinn), schwere Verbrechen wie Totschlag oder Mord, aber auch natürliches Sterben, sowie jede Form von Sexualität (einschließlich Geburt und Menstruation). All dies darf in einem Heiligtum nicht vorkommen, und wer ‘draußen’ mit solchen Dingen zu tun hatte, muß sich rituell reinigen, bevor er das Heiligtum betritt. Als Quelle von Verunreinigung können sogar _______________ 21

Vgl. GRAF, Griechische Religion, 463. Gelegentlich sogar mit der musikalischen Notierung, wie am Schatzhaus der Athener in Delphi. 23 Ein sehr aufschlußreiches Beispiel dafür ist eine am Ende des 4. Jahrhunderts v.Chr. aufgezeichnete Inschrift (SOKOLOWSKI, F., Lois sacrées des cités grecques, Supplément, Paris 1962, Nr. 115) aus dem nordafrikanischen Kyrene in Libyen, die bis auf ein Orakel des delphischen Apollon im späteren 7. Jahrhundert zurückgeht. Dieser Text sieht z.B. Opfer gegen das Wüten von Seuchen vor, denn als deren Ursache wird oft eine von außen kommende Befleckung angenommen (vgl. den Mythos des Königs Ödipus). Die Inschrift enthält ferner Vorschriften über Reinigungen nach Sexualverkehr und nach dem Kontakt mit einer Wöchnerin, sowie über die durch das Opfern eines nicht erlaubten Opfertiers eingetretene Verunreinigung; auch Vorschriften um Heirat und Erstgeburt nehmen einen beträchtlichen Raum ein. 22

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ganze soziale Gruppen (Sklaven, Frauen, Fremde) von einem Heiligtum ausgeschlossen werden. Ist eine Verunreinigung eingetreten, muß man sie durch Riten beseitigen. In einfacheren Fällen geschieht dies durch Waschungen; gravierendere (Mord, Krankheit, Seuche, Besessenheit) brauchen auch stärkere Reinigungen, oft mit Hilfe von blutigen Reinigungsopfern. Besonders komplex ist die Sühne für einen Mord; wenigstens in nachhomerischer Zeit konnte die rituelle Reinigung eine solche Sühne nicht mehr zur Gänze leisten, sondern mußte nun auch juristisch geregelt werden. Dies zeigen z.B. die Eumeniden des Aischylos: Der Muttermörder Orest läßt sich auf seiner Flucht vor den Rachegöttinnen seiner Mutter zwar sogar mehrfach kultisch-religiös von Apollon reinigen; er wird die Erinnyen aber erst endgültig los, als man ihn in Athen vor dem Gerichtshof des Areopag auch juristisch freispricht. Nicht alle Riten kann jeder Grieche selbst vollziehen, sondern wie in anderen Religionen gibt es auch in der griechischen Welt als Spezialisten für den Umgang mit dem Göttlichen Priester,    bzw.     geheißen,24 also Leute, die mit dem ‘Heiligen’ umgehen. Wichtigste Aufgabe solcher Priester ist die Durchführung von staatlichen und privaten Opfern, von denen sie als Lohn einen Anteil (Schenkel, Zunge, Haut) erhalten, ferner die Opferschau, wenn kein spezialisierter Seher verfügbar ist. Daneben beraten sie die Polisbeamten bei ihren sakralen Pflichten und beaufsichtigen das Heiligtum und sein Personal. Bereits die älteste literarische Stelle, an der eine Priesterin auftritt, ist sehr aufschlußreich für die Stellung solcher Kultfunktionäre in den griechischen Städten (auch wenn hier von einer trojanischen Priesterin die Rede ist). Es heißt da (Hom. Il. 6,300): „Diese (Theano, die Priesterin der Athena Polias) hatten die Troer zur Priesterin gemacht.“ Offenbar ist Theano also durch einen allgemeinen Beschluß der Bürger definitiv (und möglicherweise lebenslang) zur Priesterin bestellt worden; dies ist in der Tat der typische Berufungsmechanismus von Priestern in den griechischen Städten bis ans Ende des Heidentums. Als Frau ist die griechische Priesterin übrigens zwar juristisch genauso unmündig wie alle griechischen Frauen, aber ein Priesteramt kann ihr eine für griechische Frauen außergewöhnliche Präsenz in der Öffentlichkeit verschaffen; die einzige Frau etwa, die bei den olympischen Spielen den nackten männlichen Athleten zuschauen darf, ist die Priesterin der Göttin Demeter. Es ist auch kaum zufällig, daß von den literarisch oder inschriftlich faßbaren Frauen wenigstens der klassischen Zeit sehr viele Priesterinnen sind. _______________ 24 Das Wort taucht bereits in den mykenischen Linear B-Texten auf (sowohl ijereu als auch ijereja, also ‘Priester’ und ‘Priesterin’); der älteste literarische Beleg für    ist die Hom. Il. 1,63;    taucht in 6,300 auf, wo uns die trojanische Athena-Priesterin Theano begegnet. Homerisch heißt der Priester auch   , ‘Beter’. Vgl. GRAF, Griechische Religion, 473.

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Insgesamt unterscheiden sich Priester institutionell nicht von den anderen Funktionären der Polis, die ebenfalls von der Versammlung der Bürger gewählt werden. Viel seltener ist in unseren Quellen davon die Rede, daß eine Gottheit selbst sich ihren Priester auswählt.25 Die gerade zitierte Homer-Stelle zeigt ferner, daß man im griechischen Polytheismus stets Priester oder Priesterin einer bestimmten Gottheit und eines bestimmten Heiligtums dieser Gottheit ist (Theano ist daher „Priesterin der Athena“); da die einzelnen Gottheiten, die einzelnen Heiligtümer und die einzelnen Kulte sich sehr voneinander unterscheiden, gibt es in der griechischen Religion keinen homogenen und in sich geschlossenen ‘Priesterstand’. Gegenüber den in der Regel jährlich wechselnden Amtsträgern der Polis üben Priester ihr Amt oft länger, zum Teil für eine ganze Lebenszeit aus.26 Ferner kommt es vor, daß nur Angehörige bestimmter Geschlechter auch bestimmte Priesterämter ausüben dürfen: Selbst im demokratischen Athen stellt etwa die Familie der Eteobutaden die Priester für zentrale Kulte auf der Akropolis, nämlich den Priester für Erechtheus-Poseidon und die Priesterin für Athena Polias. Eine solche besondere Herkunftsbedingung kann dadurch begründet sein, daß bei den betreffenden Priesterämtern die Tradierung besonderen ‘arkanen’ Wissens erforderlich ist, das nicht einfach ‘demokratisiert’ werden darf. Ob aber demokratisch oder durch aristokratische Tradition legitimiert, die soziale Stellung eines Priesters oder einer Priesterin war in einer griechischen Stadt stets hoch: Schon der Apollon-Priester Chryses, der zu Beginn des 1. Ilias-Buches eine wichtige Rolle spielt, fühlt sich an Ansehen den griechischen Adligen ebenbürtig, und die schon erwähnte Priesterin Theano ist die Frau des Antenor, eines der führenden Männer Trojas neben König Priamos. Vielleicht der wichtigste Indikator des umfassenden Einflusses der griechischen Religion auf das Leben der Menschen sind die Feste, die einen religiösen Bezug haben, und das sind letztlich alle. Zum einen konstituieren solche Feste die an ihnen Teilnehmenden stets als eine zusammengehörige Gemeinschaft: So ist für Athener das Feiern der Panathenäen ein Mittel der Selbstdefinition, für Ionier (zu denen die Athener als Untergruppe gehören) das Apaturien-Fest, für Griechen allgemein die großen panhellenischen Wettkampf_______________ 25

Unter einer solchen Prämisse wird unter den Kandidaten ausgelost und der Losentscheid dann als göttlich bestimmt angesehen. Dies ist (namentlich in demokratisch verfaßten Städten wie Athen) eine vielfach gängige Praxis auch bei der Bestimmung von staatlichen Amtsträgern; gegenüber diesem ‘weltlichen’ Vorgang ist bei der Priester-Erlosung neu nur die Formulierung, die der Gottheit die (per Los sich ergebende) Auswahl zuschreibt. 26 Die Gründe für die verschiedenen Amtszeiten scheinen vor allem politischer und ökonomischer Natur zu sein: Stark ausgeprägte (‘radikale’) Demokratien wie Athen ziehen einen jährlichen Wechsel vor, ostgriechische Städte dagegen Priester auf Lebenszeit; hier werden Priestertümer regelrecht versteigert (Einzelhinweise bei GRAF, Griechische Religion, 474).

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Feste in Olympia, Delphi und anderswo. Es gibt auch vielfältige Feste unterhalb der Ebene der Gesamtpolis, von Phratrien (Sippen- oder Geschlechterverbänden) und Dörfern (   oder, in Athen,  ). Wie groß die Vielfalt der Feste z.B. attischer Demen (Dörfer) sein kann, zeigt der inschriftlich aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts v.Chr. erhaltene Opferkalender des Demos Erchia:27 Hier ist nur ein einziger Monat (Maimakterion, November – Dezember) ohne Opferfest. Zum anderen bilden Feste aber auch wichtige Fix-Punkte für einen geregelten Ablauf von Zeit, ja stellen diesen eigentlich erst her, und zwar ebenso für die Lebenszeit eines Individuums (mit Festen zur Geburt, Geschlechtsreife, Heirat, Tod) wie für ‘allgemeine’ und regelmäßig wiederkehrende Zeitspannen wie das Jahr und den Monat. Bestimmte Feste gehören zu bestimmten Jahreszeiten, und gerade auch Jahresende und -anfang werden durch Feste besonders markiert (vgl. u.). Wie eng die griechische Zeitrechnung und die griechische Religion miteinander verbunden sind, ersieht man daraus, daß die meisten Monatsnamen28 sich von einem wichtigen Fest ableiten, wobei diese Namensliste und damit auch der Kalender von Polis zu Polis (und erst recht zwischen den großen griechischen Stämmen) variieren: der ionische Monat '(  leitet sich von den Anthesteria ab, der dorische und äolische '(   von den Agrionia; selbst Monatsnamen, in denen Götternamen enthalten zu sein scheinen (etwa der  in Athen), gehen nicht direkt auf diesen Gott zurück, sondern auf ein mit ihm verbundenes Fest (hier den Posideia). Drittens tragen Feste durch bestimmte Riten und durch die Vergegenwärtigung und Inszenierung bestimmter Mythen einer Gottheit auch viel dazu bei, unter den Festteilnehmern von dieser Gottheit ein bestimmtes Bild zu evozieren oder vielleicht sogar erst zu konstruieren. Allerdings sind die Beziehungen zwischen Fest und Gott nicht immer direkt oder gar eindimensional: Der Name eines Festes kann sich ebenso oft von auffälligen Riten (  : ‘Fest des Reinigens, Waschens’,   : ‘Fest des   , d.h. des aus dem ersten Korn der neuen Ernte gebackenen Brotes’,  : ‘Fest des Sonnenschirms’) wie von Götternamen herleiten; in manchen Fällen wissen schon die antiken Zeugnisse nicht mehr, welcher Gottheit ein Fest gilt (so ist bei den attischen Skira durchaus umstritten, ob hier Demeter oder Athena im Mittelpunkt stehen). Auch wird in einem Fest meist mehr als nur einer Gottheit geopfert. Um die Vielfalt griechischer Feste überschauen zu können, ist eine Einteilung nach ihren Funktionen hilfreich: Am städtischen Opferfest stellt sich die politische Gemeinschaft selbst dar und vergewissert sich dadurch ihrer eige_______________ 27

SOKOLOWSKI, F., Lois sacrées des cités grecques, Paris 1969, Nr. 18. Zu ihnen vgl. TRÜMPY, C., Untersuchungen zu den altgriechischen Monatsnamen und Monatsfolgen, Heidelberg 1997. 28

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nen Bedeutung. Dies geschieht mit einer großen, die ganze Stadt einbeziehenden Prozession, einem Opfer an die Stadtgottheit und dem anschließenden gemeinsamen Verzehr des Opferfleisches; ferner gehören fast immer ein Agon und die Präsentation der neu in den Polisverband aufgenommenen Bürger des betreffenden Jahres dazu. Ein klassisches Beispiel für diesen Festtypus sind die Panathenäen (vgl. u.). Im sogenannten Auflösungsfest werden die normalen Strukturen des Zusammenlebens für eine bestimmte Zeit außer Kraft gesetzt (‘aufgelöst’). Zu diesem Typus gehören die Feste des Gottes Dionysos, in denen es zu einer Umkehr der normalen Verhältnisse kommt: An den Anthesterien z.B. sind die Toten mitten unter den Lebenden präsent, im Komödien-Anteil der Großen/Städtischen Dionysien wird Sexualität – normalerweise ein Tabubereich – in zum Teil provokativer Weise zur Schau gestellt (z.B. in den sogenannten Phallophorien29). In Reinigungsfesten werden z.B. Kultstatuen entkleidet, gewaschen und danach wieder neu eingekleidet (z.B. das alte Xoanon der Athena Polias an den attischen Plynteria).30 Das Erneuerungsfest feiert eine Erneuerung der Ordnung (oft mit Einholung von ‘neuem Feuer’). Im sogenannten Frauenfest geht es um die Beschwörung von Fruchtbarkeit sowohl auf der menschlich-biologischen als auch auf der agrarischen Ebene. Dies zeigt gut das Thesmophorienfest, das lokal sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.31 In Athen sahen die drei Thesmophorien-Festtage folgendermaßen aus:32 Am ersten, genannt ‘Anodos’ stiegen die Frauen mitsamt ihrer Fest-‘Ausrüstung’ (darunter quiekende Ferkel, die am Abend dieses Tages geopfert wurden) zum Heiligtum der Demeter ‘hinauf’. Dort bauten sie sich Hütten und Liegen aus Weidenruten, Flohkraut und bestimmten Lorbeerarten – alles Pflanzen, die als Anti-Aphrodisiaka galten. Die geopferten Ferkel wurden nicht verbrannt oder verzehrt, sondern unterirdisch deponiert33 _______________ 29

Zu diesen vgl. Ar. Ach 373ff. und fr. 24 des Historikers Semos von Delos (FGrHist

396). 30

Eine weit radikalere Form des Reinigungsfestes ist das Pharmakosritual, in dem die Verunreinigungen einer Gemeinschaft einem Außenseiter als ‘Sündenbock’ (&   ) aufgeladen und mit ihm aus der Gruppe entfernt werden (Thargelia, s.u.). 31 In Athen dauerte es drei Tage (vom 11. bis zum 13. Pyanopsion, d.h. im Oktober – November; vgl. Schol. Ar. Thesm. 80), in Sizilien dagegen sogar zehn Tage (aufgrund der wichtigeren Stellung der Göttin Demeter und ihrer Tochter Kore in den sizilischen Panthea). Daß das Thesmophorienfest ausschließlich von Frauen gefeiert wird, ist Zeichen einer ‘verkehrten Welt’; weitere Inversionsriten sind, daß die Frauen während des Festes in Laubhütten ( ) wohnen, die städtische Zivilisation also zeitweilig aufgeben. Ferner sind Fasten und anti-sexuelle Symbolik (vgl. u.) wichtig. 32 Vgl. BREMMER, J.N., Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt 1996, 87–89; GRAF, Griechische Religion, 486. 33 Warum dies getan wurde, versucht ein aitiologischer Mythos zu erklären, der in einem Lukian-Scholion (p. 275,23–276,28 Rabe), unserer schriftliche Hauptquelle zu den teilweise seltsamen Vorgängen am Thesmophorienfest, erzählt wird: Weil beim Raub der Persephone

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– eine bemerkenswerte Abweichung vom üblichen Opferbrauch. Am zweiten Tag fasteten die Frauen (dieser Tag hieß deshalb auch  , ‘Fasten’) auf dem Boden sitzend und in düsterer Stimmung; damit evozierten sie die Trauer der Demeter nach der Entführung ihrer Tochter.34 Am dritten Tag wurden die inzwischen weitgehend verrotteten Überreste der am ersten Abend geschlachteten Ferkel aus den unterirdischen Gruben wieder hervorgeholt und nun gleichsam als ‘Düngemittel’ für die Fruchtbarkeit des Landes auf Altäre gelegt; ferner betete man an diesem Tag speziell zu Kalligeneia35 für eine möglichst gedeihliche menschliche Fortpflanzung, weswegen dieser ganze Tag auch Kalligeneia (‘schöne Geburt’) hieß.36 Die Thesmophoria versetzen ihre Teilnehmerinnen in eine vorkulturelle Vergangenheit, um am Ende wieder in die Gegenwart zurückzukehren; die durchgeführten Riten sollen sowohl die Ertragsfähigkeit der Äcker als auch die Geburtsfähigkeit der Frauen fördern. Wie unheimlich den Männern dieses Nur-Frauen-Fest war, zeigt die Komödie ‘Die das Thesmophorienfest feiernden Frauen’ des Aristophanes: Hier macht sich der Tragödiendichter Euripides große Sorgen, daß die dieses Fest gerade feiernden athenischen Frauen bei dieser Gelegenheit – wo sie von Männern unbeaufsichtigt sind – etwas Böses gegen ihn aushecken könnten, weil er in seinen Stücken Frauen doch immer so negativ darstelle. Um frühzeitig von dem ihm drohenden Unheil zu erfahren, überredet er einen Verwandten, sich als Frau verkleidet unter die das Fest feiernden Frauen zu mischen; aber der Verkleidete fliegt auf, und nun hat Euripides alle Hände voll zu tun, den Gefangenen wieder frei zu bekommen. Obwohl aber das Thesmophorienfest in diesem Stück eine so entscheidende Gegebenheit darstellt, erfahren wir so gut wie nichts über die bei diesem Fest durchgeführten Rituale – sie waren also, ___________________________________________________________________________________________________________

auch die Schweine eines Hirten namens Eubuleus von dem sich öffnenden Erdspalt verschlungen worden waren, würden auch die Ferkel in unterirdischen Adyta deponiert. Aus den in dem genannten Scholion skizzierten Riten ergibt sich vielleicht auch eine einigermaßen befriedigende etymologische Erklärung des Wortes Thesmophoria (BURKERT, W., Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 1977, 367):  hängt mit dem Verb   zusammen und kann das ‘Niedergelegte’ bedeuten; – &  ist mit &  verbunden, bezeichnet also ein ‘Tragen’ – hier vielleicht das Tragen der (zuvor in den Gruben niedergelegten) Ferkelüberreste auf die Altäre. 34 Am gleichen Tag ließ das übrige (‘männliche’) Athen seine Gefangenen frei und suspendierte Gerichts- und Ratssitzungen; mit diesem Aufhören des üblichen städtischpolitischen Lebens brachte auch die männliche Polis das ‘Anomale’ des Tages, sehr deutlich zum Ausdruck. 35 Kalligeneia gilt teils als eigene Göttin (Plut. Aet. Graec. 31, 298B; Alciphr. Ep. 2,37,2; 4,19,1), teils aber auch als Beiname der Demeter (Hesych  472) oder als ihre Tochter (Phot. Lex.  118). 36 Wahrscheinlich fanden auch an diesem Tag die anzüglichen Scherz- und Spottreden statt, die in manchen Quellen mit dem Thesmophorienfest verbunden werden, und markierten das Ende der Fastenperiode des zweiten Tages.

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weil geheimgehalten, einem Autor wie Aristophanes offenbar wirklich weitgehend unbekannt. Als männliches Gegenstück der Thesmophoria könnte man die Apaturia37 bezeichnen, ein ebenfalls dreitägiges Fest des ganzen ionischen Stammes (vgl. Hdt. 1,147,2), das in Athen an drei Tagen im letzten Drittel des Pyanopsion (Oktober – November) gefeiert wurde und an dem nur Männer beteiligt sind. Der Festname geht zurück auf das Wort *sm-pator-ja („die Gruppe mit denselben Vätern oder Ahnen“38); hier konstituieren sich wichtige Unterabteilungen der Polis neu: die sogenannten ‘Phratrien’ (‘Bruderverbände’). Während die Frauen an den Thesmophoria fasten müssen, dürfen die Männer an den Apaturia ausgiebig tafeln; der erste Tag des Festes trägt sogar den Namen   (‘Abendessen’). Am zweiten Tag werden den Göttern Zeus Phratrios und Athena Phratria als Hütern der sozialen Ordnung Opfer dargebracht; dieser Tag heißt deshalb '(  , ‘Zurückbiegen’ (nämlich des Halses des Opfertieres vor der Tötung). Am dritten Tag werden die im vorangegangenen Jahr geborenen Knaben und Mädchen in die Listen der Phratriemitglieder eingeschrieben; ohne diese Eintragung kann man kein athenischer Staatsbürger werden. Am gleichen Tag bringen die Epheben (die heranwachsenden jungen Männer) zum Einstand in das Erwachsensein ein Haaropfer dar – danach heißt der Tag )   (‘Schurtag’) –, und die Phratrie erhält ein ‘Hochzeitsopfer’ (mit Festschmaus), wenn ein Mitglied sich verheiratet oder eine Frau neu einheiratet. So stellen die Riten dieses Festes die stets neu zu sichernde Fortdauer des Phratrieverbandes heraus. Fast immer stehen mehrere Einzel-Feste der Polis in einem gegenseitigen semantischen Bezug. So bilden in Athen etwa die vier Dionysosfeste der Wintermonate einen zusammenhängenden Zyklus: Im Posideon (Dezember – Januar) finden die ‘Ländlichen Dionysia’ statt, im Gamelion (Januar – Februar) die Lenaia, im Anthesterion (Februar – März) die Anthesteria und im Elaphebolion (März – April) die ‘Städtischen Dionysia’. Noch komplexer ist der Zusammenhang der Feste des attischen Neujahrszyklus, der ausgezeichnet zeigen kann, wie eng in diesen vielfältigen Festen eine Polis und ihre Religion miteinander verflochten sind.39 Das attische Neujahr fällt – ganz anders als unseres – in die ‘tote’ Zeit des Hochsommers (etwa Mitte Juli). Um diese Jahresfuge (zwischen dem letzten Tag des Monats Skirophorion und dem ersten Tag des Monats Hekatombaion) gruppieren sich zahlreiche Feste, deren erstes die Thargelia am 6. und 7. Tag des nach diesem Fest benannten vorletzten Monat des Jahres, dem Thargelion, sind: Am ersten Tag behängen _______________ 37

Zu ihnen vgl. BRUIT ZAIDMAN/SCHMITT PANTEL, Religion, 65f.; GRAF, Griechische Religion, 487. 38 Das Suda-Lexikon ( 2940) erklärt den Festnamen (u.a.) mit     . 39 Hierzu vgl. GRAF, Griechische Religion, 489f.

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die Athener zwei Männer niederer Herkunft mit Feigen,40 führen sie in der Stadt herum und verjagen sie schließlich aus ihr; offensichtlich sollen die beiden als Sündenböcke die Befleckungen der Stadt mit sich wegnehmen. Die eigentlichen Thargelia am zweiten Tag heißen nach einem rituellen Gericht, zu dem noch unreife Ackerfrüchte in einem Topf zusammengekocht und Apollon als Erstlingsopfer (  ) dargebracht werden; wegen der am gleichen Tag in die Phratrien aufgenommenen neuen Kinder trägt Apollon in Athen auch den Beinamen      (‘Ahnengott’). Die Thargelia sind also ein mehrschichtiges Erneuerungsfest: es geht um rituelle Reinigung, um Herstellung neuer Nahrung und um Erneuerung der Gesellschaft. Ein Erneuerungsfest sind auch die Plynteria (‘Waschfest’), wohl am 25. Thargelion. Ihr Hauptritual wird freilich unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgehalten: Weibliche Mitglieder der Priesterfamilie der Praxiergiden entkleiden das alte hölzerne Bild der Athena Polias auf der Akropolis und bringen es mit einem Tuch verhüllt zum Meer, wo es von jungen Mädchen gewaschen wird; der Prozession wird ein Korb Feigenpaste, Symbol der ersten menschlichen Nahrung, vorangetragen. Am Abend gelangt das Bild der Göttin dann unter Fackellicht wieder zurück auf die Akropolis und wird hier neu eingekleidet. Ferner wird den Moirai, den Schicksalsgöttinnen, geopfert, die jedem Neuanfang beistehen sollen. Daß Athena Polias an diesem Tag von ihrer Stadt abwesend ist, läßt den ganzen Tag als Unterbrechung des normalen Lebens und sogar als Unglückstag, & , gelten.41 Es folgen die Skira, ein ausgesprochenes Frauenfest,42 am 12. Tag des nach diesem Fest benannten letzten Jahresmonats Skirophorion. Vor dem Fest ziehen die Priesterin der Athena und der Priester des Poseidon (die Vertreter der beiden zentralen Kulte auf der Akropolis) unter einem   genannten Sonnenschirm aus der Stadt aus;43 dies versetzt Athen gleichsam zurück in die Zeit noch vor dem Wettstreit der beiden Götter, der überhaupt erst Athens Identität begründete. Ebenso verläßt der Priester des Helios die Stadt und deutet damit eine Aufhebung der täglichen Ordnung, verkörpert durch die

_______________ 40 „Die Feigen stehen in doppeltem Kontrast zur normalen Kultur, zu den Früchten des Ackerbaus ebenso wie zum Opferfleisch; sie deuten auf Süße, Üppigkeit, Zügellosigkeit, einen Hauch von Goldenem Zeitalter, von dem die Realität sich hart abzusetzen hat“ (BURKERT, Griechische Religion, 140). Vgl. auch die Rolle von Feigenpaste bei den Plynteria (u.). 41 Ausgerechnet an diesem Tag kam 408 v.Chr. der umstrittene athenische Politiker Alkibiades in seine Heimatstadt zurück (Plut. Alc. 34,1–2). 42 Aristoph. Thesm. 834 (mit Schol. ad loc.); Eccl. 18 (mit Schol. ad loc. 43 Vgl. Harpocrat. s.v.  ; eine andere Ableitung des Festnamens ist, daß die genannte Prozession zu einem Heroen-Bezirk namens Skiron am Weg nach Eleusis zieht.

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Sonne, an.44 An diesem Tag dürfen die Frauen ausnahmsweise ihr Frauengemach verlassen und sich selbständig versammeln; es ist kein Zufall, daß Aristophanes in seinem Stück ‘Die Frauenvolksversammlung’ die athenischen Frauen gerade an diesem Tag das Komplott schmieden läßt (vgl. V. 17f.), das eine Frauenherrschaft in Athen an die Stelle der unfähigen Männer setzen soll. Zwei Tage später, am 14. Skirophorion, werden am Altar des Zeus Polieus auf der Akropolis die Diipolieia gefeiert,45 die durch das ungewöhnliche Opfer eines – sonst dafür verpönten – Arbeitsochsen gekennzeichnet sind. Der zu diesem Opfer erzählte Mythos ruft die Einführung des Tieropfers schlechthin in Erinnerung;46 das Fest evoziert also ebenfalls einen Anfang. Den Diipolieia korrespondieren als weiteres Zeusfest später im gleichen Monat (genaues Datum unsicher) die Diisoteria, mit Prozession und Stieropfer im Heiligtum des Zeus Soter im Piräus, also ungewöhnlicherweise weitab vom Zentrum der Stadt; dieses prächtige und fröhliche Fest (mit einer Regatta der Epheben) betont die Aspekte Rettung (Zeus Soter) und Gesundheit (Asklepios und Hygieia sind ebenfalls involviert). Zeus Soter erhält schließlich am letzten Tag des Jahres zusammen mit Athena Soteira ein Opfer auf der Agora, das mit seinem Namen   (‘Anfangsritual’) den Weg ins neue Jahr weist. Das erste wichtige Fest dieses neuen Jahres, die angeblich bereits vom attischen Urkönig Kekrops begründeten Kronia,47 findet am 12. Tag des Monats Hekatombaion48 statt. Ihr auffallendster Zug ist eine gemeinsame Mahlzeit der Herren mit ihren Sklaven (vergleichbar den römischen Saturnalien): Dies und das Patronat des – sonst kaum mehr in Erscheinung tretenden – Gottes Kronos, den Zeus schon vor langer Zeit in der Weltherrschaft abgelöst hat, weisen auf eine vor der jetzigen Ordnung des Zeus liegende ‘Goldene Zeit’ zurück. Vier Tage später (am 16. Hekatombaion) rufen die Synoikia den Synoikismos Athens durch den König Theseus in Erinnerung,49 feiern damit die _______________ 44

Ein ebenfalls stattfindender Wettlauf der Epheben vom athenischen Dionysostempel zum Tempel der Athena Skiras in Phaleron (also vom Zentrum zum Rand des Staatsgebiets) läßt sich in dieselbe Richtung deuten; vgl. GRAF, Griechische Religion, 490. 45 Der Name erklärt sich aus dem Dativ   (vgl. dazu Schol. Ar. Pac. 420b). 46 Vgl. Paus. 1,24,4, ferner Porph. Abst. 2,28. 47 Vgl. Philochoros, FGrHist 328 F 97. 48 Er hat seinen Namen nach einer ‘Hekatombe’ für Apollon am 7. Tag, die aber in historischer Zeit in Athen keine große Rolle mehr spielte. 49 Vgl. Thuc. 2,15,2:   # % ,     *  



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Gründung der Stadt in ihrer jetzigen Gestalt und markieren den Beginn einer neuen, geordneten Zeit. Ganz ist die ‘Normalität’ freilich noch nicht erreicht, denn das Opferfleisch aus dem an diesem Fest der Göttin Athena dargebrachten Opfer wird roh verkauft und nicht gemeinsam verzehrt. Die Vollendung der Ordnung feiert dann das große abschließende Fest am Ende des Monats, die Panathenaia, das der Stadtgöttin Athena gewidmete Hauptfest Athens, das jedes fünfte Jahr als Große, sonst als Kleine Panathenäen gefeiert wird; der Unterschied liegt vor allem im Umfang der zugehörigen Wettkämpfe. Am Beginn steht eine nächtliche Feier (Pannychis),50 an die sich ein Fackellauf anschließt, der im Hain des Heros Akademos neues Feuer holt und dann über die Agora bis zum Altar der Athena auf der Akropolis trägt. Den Höhepunkt des Festes bildet eine große Prozession vom DipylonTor quer durch die Agora bis zum Altar der Göttin auf der Akropolis. In dieser Prozession sind alle Menschengruppen der Stadt vertreten: junge Krieger, alte Männer, Bürgertöchter,51 die Amtsträger der Stadt, aber auch Abordnungen der nichtbürgerlichen Stadtbevölkerung;52 im 5. Jahrhundert waren auch Repräsentanten der Bündnerstädte rund um die Ägäis dabei und vielleicht auch Sklaven beteiligt. Die Hauptfunktion dieser Prozession ist die Übergabe des neuen Peplos, eines von ausgewählten Frauen gewobenen Gewandes, an die Stadtgöttin im Erechtheion.53 Dann wird der Stadtgöttin eine Hekatombe weißer Kühe geopfert, die anschließend gemeinsam von der Stadtgemeinschaft verzehrt werden. In all diesen Festen wird die enge Verflechtung von Polis und Religion unmittelbar deutlich. Zwar gab es in der griechischen Religion nicht wie in anderen Kulturen eine mächtige Priesterschaft, die vielfältigen Einfluß auf das Leben der Menschen ausübte (vgl. o.), aber die Polis selbst achtete scharf auf die richtige Ausübung dieser Religion und stand der Entwicklung von Anschauungen, in denen sie eine Gefahr für ihre religiösen Kulte vermutete, sehr reserviert gegenüber, und sie konnte in Gestalt ihrer Amtsträger gegebenenfalls energisch eingreifen, um solche Gefahren abzuwenden. Sokrates ist nur der bekannteste Fall eines Intellektuellen, der wegen – vom heutigen Standpunkt aus betrachtet – vielleicht unorthodoxer, aber eigentlich harmloser Ansichten im Jahr 399 v.Chr. in einem Prozeß wegen Asebie („mangelnder Gottesverehrung“) zum Tod verurteilt wurde. Bereits mehrere Jahrzehnte ___________________________________________________________________________________________________________

     #   $ ·   * *  '(   $            . 50 Griechische Feste – auch die griechische Tageszählung – beginnen stets bei Sonnenuntergang. 51 Mit verschiedenen Aufgaben: als ‘Ergastinai’, die den Peplos für die Olivenholzstatue der Athena gewoben haben; und als ‘Kanephoroi’ (Korbträgerinnen). 52 Sie und ihre Söhne trugen als ‘Skaphephoroi’ Tabletts mit Opfergaben, ihre Frauen als ‘Hydriaphoroi’ Wasserkrüge, ihre Töchter als ‘Skiadephoroi’ Sonnenschirme. 53 Vorher im alten Athena-Tempel auf der Akropolis.

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früher war auch der Philosoph Anaxagoras wegen Asebie belangt worden, weil er lehrte, die Himmelskörper seien keine Götter, sondern MaterieAnhäufungen; er konnte sich einem ähnlichen Urteil nur durch rechtzeitige Flucht entziehen. Der Sophist Protagoras wurde aus Athen verbannt und seine Bücher verbrannt (Diog.Laert. 9,52), weil sein Buch ‘Über die Götter’ mit dem Satz begann: „Über die Götter kann ich nichts wissen, weder daß sie sind noch daß sie nicht sind noch von welcher Gestalt sie sind“ (VS 80 B 4). Diese Beispiele zeigen, daß die Polis in der richtigen Befolgung ihrer Kulte offensichtlich eine wichtige Bedingung ihres Selbsterhalts sah und von ihren Bürgern daher auch entsprechendes Verhalten einforderte.

3. Ein wichtiges Angebot an den Menschen: Zukunftsdeutung durch Orakel und Seher Abschließend sei noch ein Bereich betrachtet, in dem die griechische Religion den Menschen wichtige Hilfestellung für ihr Leben bot, nämlich Antworten auf die jeden bedrängende Frage: „Was wird morgen sein?“ Der Mensch ist allen möglichen Kontingenzen – Krankheiten, Notsituationen, Kriegen – ausgesetzt, und er muß immer wieder Entscheidungen über Unternehmungen treffen, deren Ausgang ungewiß ist. Als der junge adlige Athener Xenophon vor der Entscheidung stand, ob er sich dem Feldzug des persischen Thronprätendenten Kyros anschließen solle oder nicht, riet ihm Sokrates, dazu das Orakel in Delphi zu befragen. Daraufhin fragte Xenophon dort an, „zu welchem von den Göttern er beten und opfern müsse, um den geplanten Weg am schönsten und besten zu gehen und mit Erfolg und heil wieder zurückzukehren“, und er teilte Sokrates dann die Antwort des Orakels mit; Sokrates freilich wies ihn (zu Recht) darauf hin, daß er besser erst einmal gefragt hätte, ob er an diesem Feldzug überhaupt teilnehmen solle (Xen. Anab. 3,1,5–7). Daß der Mensch sich im Rahmen der in seiner Religion zur Verfügung stehenden Möglichkeiten um solche Antworten bemüht, leuchtet unmittelbar ein: Wenn er die Furcht vor dem Zukünftigen verlieren möchte, muß er versuchen, mit den die Zukunft kennenden Göttern (darunter vor allem Zeus und als sein Vermittler Apollon) in Kontakt zu treten. Gelegentlich – im homerischen Epos sogar häufig – senden die Götter von selbst Zeichen (durch Träume, Vögel, Blitze u.a.), die dann gedeutet werden müssen. Da man sich auf solche ‘Sendungen’ aber nicht verlassen kann, muß der Mensch seinerseits durch bestimmte Riten die Kommunikation mit den Göttern aufzunehmen versuchen. Die griechische Religion bietet dazu grundsätzlich zwei Möglichkeiten an: Man kann Seher (also Spezialisten) konsultieren, die umherwandernd in die Polis kommen oder dort vielleicht auch ‘stationär’ zur Verfügung stehen, oder man kann sich selber zu einer der großen Orakelstät-

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ten begeben, um dort Hilfe für anstehende Zukunftsentscheidungen zu erhalten. Die gerade genannten Seher (um mit der ersten Möglichkeit zu beginnen) stehen bei ihrer ersten Erwähnung in der Ilias auf derselben Stufe wie die Priester; Achill will den Grund für die durch Götterzorn gesandte Pest von einem „Priester, Seher oder Traumdeuter“ (Il. 1, 62f.) erfahren. Im griechischen Wort für Seher ( ) steckt noch der Begriff für kultische Ekstase (  ), die solche Personen in einigen Mythen auszeichnet, etwa die trojanische Seherin Kassandra in Aischylos' Agamemnon oder in den Troerinnen des Euripides. In historischer Zeit freilich gehen die Seher ‘rationaler’ ans Werk: Sie haben – vor privaten oder öffentlichen Entscheidungen – Zeichen aus Träumen oder Vogelflug zu deuten54 und vor allem auch die Opferschau durchzuführen.55 Ferner können Manteis in den Dienst einzelner Persönlichkeiten, z.B. von Feldherren treten, denen sie Opfer und Vorzeichen deuten. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Seher Megistias (er leitete sich von dem mythischen Seher Melampus her): Er harrte bei den tausend griechischen Kämpfern in den Thermopylen aus, fiel zusammen mit ihnen und erhielt von dem Dichter Simonides ein ehrenvolles Grabepigramm (vgl. Hdt. 7,228,3). Überhaupt können Seher in Feldzugssituationen den Gang des Geschehens stark beeinflussen: Noch im Jahr 396 brach der spartanische König Agesilaos einen Feldzug ab, weil die Opferzeichen zu ungünstig waren (Xen. Hell, 3,4,15).56 Von den Manteis zu unterscheiden sind die Prophetai, die an den großen Orakelheiligtümern als Empfänger und vor allem als Deuter der göttlichen Äußerungen fest etabliert sind.57 In den Orakelstätten von Delphi und Didyma (wo Apollon als Übermittler von Zeus' Wissen verstanden wurde) ist ein ekstatisches Medium (in Delphi die Pythia, in Didyma die Nachkommen von Apollons Geliebten Branchos) für das eigentliche Empfangen des göttlichen Wissens zuständig; dessen inspirierte Äußerungen werden dann von den er-

_______________ 54

Wenn nicht andere Spezialisten wie Traumdeuter (vgl. wieder Ilias 1,62) oder Vogelschauer zuständig sind. 55 Außerdem können sie geradezu als ‘Magier’ tätig werden, wie an einer Stelle von Platons Staat recht explizit geschildert ist (2,364bc). 56 Vor der Schlacht von Plataiai 479 standen Griechen und Perser einander zehn Tage untätig gegenüber, weil die Opferzeichen keiner Seite den Angriff rieten (Hdt. 9,36–9). 57 Gelegentlich können die Tätigkeiten von Seher und Prophet zusammenfallen (Pind. Nem. 1,60 nennt den Seher Teiresias, Aesch. Eum. 19 die Pythia  &); normalerweise aber differenziert die Terminologie präziser: So unterscheidet Pindar (fr. 150 Snell) die Muse als Geberin eines Orakels (und fordert sie deshalb auf:   -  ) von der eigenen Auslegung dieses Orakels ( &  ’ ); vgl. GRAF, Griechische Religion, 476.

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wähnten  &   gedeutet, oft in Versform gebracht und an die Fragesteller weitergegeben.58 Bereits Homer nennt Delphi (Od. 8,79f.) und Dodona (Od. 14, 327f.) als feste Heiligtümer, die sich dauerhaft um die divinatorische Kommunikation mit den Göttern kümmern. Solche Heiligtümer sind zwar einzelnen Poleis zugeordnet (Didyma zu Milet, Klaros zu Kolophon), liegen aber außerhalb der Poliszentren, und ihre Kulte gehören nicht in den Rahmen der Polis, sondern hier tritt der Einzelne als Individuum in Kontakt zur Gottheit. Zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v.Chr. wird das Orakel von Delphi zur wichtigsten griechischen Orakelstätte; Delphi entscheidet auch bei zwischenstaatlichen und religiösen Problemen (Beginn von Kriegen, Gründung von Kulten) und sanktioniert nicht zuletzt die Gründung von Kolonien.59 Der Geschichtsschreiber Herodot (1,46,2–49) berichtet in seinem ersten Buch von einem ‘Qualitätstest’, den der lydische König Kroisos bei sämtlichen damals wichtigen griechischen Orakelstätten (Delphi, Abai in Phokis, Dodona, dem Amphiareion an der Grenze Attikas, dem Trophonios-Orakel in Böotien und dem Branchiden-Orakel in Didyma bei Milet) vornahm und der der Stiftung Warentest alle Ehre gemacht hätte: Seine Boten sollten an einem ganz bestimmten Tag das jeweilige Orakel fragen, was der Lyderkönig Kroisos gerade tue, und er hatte sich für diesen Zeitpunkt etwas ganz Besonderes ausgedacht: Er ließ nämlich Schildkröten- und Lammfleisch zusammen in einem zugedeckten Kessel kochen. Laut Herodot gaben nur zwei Orakelstätten die richtige Antwort: Delphi und das Amphiareion. Dementsprechend fragte Kroisos nun Delphi nach seinen Chancen in einem Krieg gegen den Perserkönig Kyros, erhielt die berühmte zweideutige Antwort („Kroisos wird ein großes Reich zerstören ...“), deutete sie falsch – und verlor prompt den Krieg, was aber Delphis Reputation keinen Abbruch tat, denn es hatte ja keine falsche Antwort gegeben. Auch als Delphi zu Beginn der Perserkriege einen Sieg der Perser voraussagte und dann durch die Ereignisse klar widerlegt wurde, konnte dies sein Ansehen nicht dauerhaft schädigen; die Anfragen gingen im 5. und 4. Jahrhundert unvermindert weiter. Eine wichtige ‘Nebenform’ der Divination spielte bei der Heilung von Seuchen und anderen Krankheiten eine Rolle: Weil man diese als von Göttern herbeigeführt ansah, erschien die Divination als ein Weg, zunächst den übermenschlichen Verursacher auszumachen und dann mit entsprechenden rituel_______________ 58 An anderen Stätten geht es verschieden zu: Bei Trophonios erhält man durch eine eigentliche Katabasis, bei Amphiaraos durch Inkubation (s.u.) direkten Zugang zum Heros; in Dodona vermitteln die Blätter der heiligen Eiche oder die heiligen Tauben den Willen des Zeus. 59 Private Themen treten in den Anfragen sehr zurück (im Unterschied beispielsweise zu Dodona, wo die sehr vielen erhaltenen Orakel seit dem 5. Jahrhundert fast ausschließlich dem Privatleben gelten).

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len Gegenmitteln entweder zu versöhnen oder zu vertreiben. Da Krankheit oft auch als Folge einer Verunreinigung verstanden wurde, überschnitten sich hier Apollons mantische und kathartische Funktionen.60 Seit dem späteren 6. Jahrhundert übernahm in diesem Bereich Apollons Sohn Asklepios immer mehr die ursprünglichen Funktionen seines Vaters.61 Die divinatorische Methode war in allen Asklepieia62 prinzipiell dieselbe: Im sogenannten ‘Einschlafraum’ ( ) legten sich die Orakelbefrager nach bestimmten zuvor vollzogenen Riten63 auf dem Fell eines geopferten Schafs zum Schlafen (‘Inkubation’), um dann vom Gott während dieses Schlafs entweder direkt Heilung oder zumindest (im Traum) Hinweise auf die notwendigen Riten und Therapien (oft Bäder und Waschungen) zu erhalten. Diese ‘Tempelmedizin’ hat während der ganzen Antike neben der ‘technischen’ Medizin bestanden; noch im 2. Jahrhundert n. Chr. hat der Redner Aelius Aristides durch entsprechende jahrelange Kuren im Asklepieion von Pergamon schließlich eine hartnäckige Krankheit überwunden. Um zusammenzufassen: Die griechische Religion war ständig und auf vielfältige Weise im Leben der Menschen präsent. Sie gab ihnen Mittel und Wege an die Hand, um mit den Göttern auf nützliche Weise in Beziehung zu treten; sie zeigte ihnen, wo im Universum sie standen, wie man Unglücksfälle und Schwierigkeiten begreifen und auf sie reagieren konnte, und sie bot in den Praktiken der Divination konkrete Hilfestellungen, um sich der Zukunft stellen zu können. Polis und Religion durchdrangen einander und stützten sich gegenseitig; erst in der Spätantike, als die griechischen Städte unter dem immer rissiger werdenden Dach des römischen Kaisertums auch ihrer eigenen Probleme nicht mehr Herr werden konnten, mag auch diese Entwicklung – und nicht nur das von höchster staatlicher Instanz nunmehr geförderte Christentum – dazu beigetragen haben, daß die alte Polisreligion ihren früheren umfassenden Beitrag zur menschlichen Lebensbewältigung nicht mehr leisten konnte.

_______________ 60 Bereits im 1. Buch der Ilias wird ein solcher Prozeß der Heilung durch Besänftigung von Apollons Groll exemplarisch vorgeführt (vgl. o.). 61 Asklepios' Kult strahlte aus Nordgriechenland (Trikka) und der Peloponnes (Messene) und hier dann besonders von seinem wichtigsten mutterländischen Heiligtum, Epidauros, weit aus und machte den (ursprünglichen) Heros schließlich – in der römischen Kaiserzeit – zu einem überaus wichtigen Gott, der sogar mit Zeus gleichgesetzt wurde (vgl. den Asklepios-Hymnos des kaiserzeitlichen Rhetors Aristeides, 2. Jahrhundert n. Chr.). 62 Übrigens auch im Heiligtum des Amphiaraos im attischen Oropos. 63 U.a. einem Opfer an die Göttin -, um die Erinnerung an den Traum zu behalten.

Aspekte römischer Religiosität Iuppiter optimus maximus DOROTHEE GALL

Wer sich in Kenntnis griechischer Religion und griechischer Mythologie dem römischen Kulturraum nähert, gewinnt leicht den Eindruck, es handele sich bei der römischen Religion um ein nur in der Nomenklatur variiertes Abbild der griechischen, um dieselben Götter und Götterbilder, um ähnliche Tempel und Altäre, Opfer und Riten. Die einschlägigen Darstellungen in den mythologischen Lexika bei Preller und Roscher1 unterstützen diesen Eindruck in vielen Details und ähneln tendenziell den zeitgleich entstandenen Literaturgeschichten in ihren Urteilen zur römischen Epik oder Tragödie: Demnach gilt für die Römer weitgehend dasselbe wie für die Griechen, nur ist alles etwas verworrener und insgesamt qualitativ schlechter. Diesem Urteil liegt allerdings ein tiefes Mißverständnis zugrunde: Denn wie die römische Literatur bei aller thematischen Nähe zur griechischen eigene Ziele hat, so ist auch die römische Religion von anderem Denken und Gefühl geprägt als die griechische. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat das in wachsender Klarheit herausgestellt. Noch in hohem Maße von griechisch-römischem Analogiedenken geprägt ist Franz Altheims Studie zu den römischen Göttern.2 Auf frühes archäologisches Material, Inschriften und Abbildungen aus dem römischitalischen Raum bezieht sich dagegen Kurt Latte, wobei er ein Schwergewicht auf den Aspekt der Funktion der einzelnen Gottheiten legt.3 Gerhardt Radke sucht nach Varros Muster im Rückgriff auf die Etymologie der alten Namen römisch-italischer Gottheiten Aufschluß über ihre Herkunft und ihr Wesen, ein Verfahren, das dem hermeneutischen Zirkel nicht immer entgehen kann.4 George Dumézil ordnet die römisch-italischen Götter, Kulte _______________ 1

PRELLER, L., Römische Mythologie, bearb. v. H. Jordan, 2 Bde, Berlin 1881–1883 3. Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, hg. v. ROSCHER, W. H., Leipzig 1897–1902. 2 ALTHEIM , F., Griechische Götter im alten Rom (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 22,1), Gießen 1930. 3 LATTE, K., Römische Religionsgeschichte (Handbuch der Altertumswissenschaft 4), München 1960. 4 RADKE, G., Die Götter Altitaliens (Fontes et Commentationes 3), München 19792.

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und Mythen dem indogermanischen Gut zu und öffnet so den Zugang zu einer komparatistisch orientierten Entschlüsselung auf der Basis von Analogien, Parallelen und Antithesen – ein freilich sehr spekulatives und insofern in der Forschung höchst umstrittenes Verfahren.5 Jüngere Forschung konzentriert sich eher auf römische Text- und Bildzeugnisse. So entwickelt R. M. Ogilvie seinen Zugang zur römischen Religion aus einer intensiven Lektüre historischer und dichterischer Texte.6 Methodisch analog untersucht Eric M. Orlin die politischen Implikationen und Instrumentalisierungen des Religiösen in Rom.7 Erika Simon stellt in einem umfänglichen und überaus hilfreichen Überblick über das römische Pantheon den Zusammenhang zwischen archäologischen und Textzeugnissen her.8 Eine Gesamtsichtung des Phänomens römischer Religion, verbunden mit einer Sammlung der einschlägigen Quellentexte (leider nicht im Original, sondern nur in englischer Übersetzung), bieten M. Beard, J. North und S. Price.9 In jüngster Zeit greift auch die Frauen- und Geschlechterforschung in den Diskurs um römische Religion ein; Ariadna Staples wertet beispielsweise römische Kultbräuche vom genderStandpunkt aus und gelangt zu interessanten Einblicken in die Natur weiblicher Gottheiten und spezifische Formen der Teilhabe oder Ausgrenzung von Frauen in verschiedenen Kulten.10 _______________ 5

DUMÉZIL, G., Jupiter Mars Quirinus, 3 vols, Paris 1941–1945; D ERS., Archaic Roman Religion, 2 vols, Chicago 1974 . Dumézils These, daß Strukturen, die in anderen Kulturen der indogermanischen Völkerfamilie Götterkonflikte hervorbringen, in der römischen Überlieferung den Protagonisten der gentes zugewiesen wurden, wirft ein interessantes Schlaglicht auf die römische Geschichtsschreibung. 6 OGILVIE, R. M., The Romans and their Gods. In the Age of Augustus, London 1969. 7 ORLIN, E. M., Temples, Religion and Politics in the Roman Republic, Leiden u.a. 1997. 8 SIMON, E., Die Götter der Römer, München 1990. 9 B EARD, M./NORTH, J./PRICE, S., Religions of Rome, 2 vols., vol. 1, A History; vol. II A Sourcebook, Cambridge 1998. Weitere Einführungen und Überblicke in Auswahl: KOCH, C., Der römische Jupiter (Frankfurter Studien 14), Frankfurt 1937; LATTE, K., Römische Religionsgeschichte, München 1960; FERGUSON, J., The Religions of the Roman Empire, London 1970; NOCK, A. D., Essays on Religion and the Ancient World, Oxford 1972; W AGENWOORT, H., Wesenszüge altrömischer Religion, ANRW I 2 (1972) 348–362; MUTH, R., Vom Wesen römischer ‚religio‘, 1978; DERS., Einführung in die griechische und römische Religion, Darmstadt 1988 (zur römischen Religion: 202ff.); LIEBESCHÜTZ, J.H.W.G., Continuity and Change in Roman Religion, Oxford 1979; MACMULLEN, R., Paganism in the Roman Empire, New Haven–London 1981; BERGEMANN, C., Politik und Religion im spätrepublikanischen Rom, Stuttgart 1992; VALANTASIS, R. (Hg.), Religions of Late Antiquity in Practice, Princeton 2000. RÜPKE, J., Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001. 10 STAPLES, A., From Good Goddess to Vestal Virgins: Sex and Category in Roman Religion, London 1998.

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Wer versucht, das Phänomen römischer Religiosität zu erklären, hat nicht zuletzt mit zwei sehr verschiedenartigen Schwierigkeiten zu kämpfen: Zunächst einmal ist es, angesichts der zahlreichen Kultureinflüsse, denen die Römer ausgesetzt waren, letztlich unmöglich, eine genuin römische Religion zu beschreiben; sie existiert nicht11 oder allenfalls als Konglomerat aus Elementen verschiedener Provenienz, die nachweislich seit dem 6. Jahrhundert v.Chr. in Rom eindringen und den römischen Kult beeinflussen. Im römischen Glauben treffen viele Elemente zusammen: altes italisches Gut, von autochthonem Charakter bzw. sehr früh in die Appennin-Halbinsel importiert; der Glaube der Etrusker, deren Herkunft bis heute ungeklärt ist und die eine gewisse Zeit über Rom herrschten; die Religion der Griechen aus klassischer und hellenistischer Zeit, die sich die Römer in einem fruchtbaren Kulturtransfer aneigneten; mancher Einfluß aus Karthago, Ägypten und Kleinasien, den Händler oder Sklaven mit sich brachten. Der allmähliche Aneignungsprozeß dieser sehr unterschiedlichen Elemente durch die römische Religion führt dazu, daß diese im Lauf der Jahrhunderte einer kontinuierlichen Entwicklung unterworfen ist; die römische Religion des 6. Jahrhunderts v.Chr. ist ein in vieler Hinsicht anderes Phänomen als die der augusteischen Zeit. Ein zweites Problem stellt die Quellenlage dar. Zu den Eigenarten römischer Religion gehört, daß es kaum repräsentative zeitgenössische Schriften über sie gibt. Die im eigentlichen Sinn theologischen Schriften der Römer sind nicht nur selten, sie entstammen auch einer relativ späten Zeit, in der römische Religion bereits durch den griechischen Einfluß modifiziert worden war. Varros Antiquitates rerum divinarum, in Fragmenten erhalten, aber eine viel benutzte Quelle für spätere theologische, historische und aitiologische Schriftsteller, bezeugen schon im Titel, wie sehr die Ursprünge römischer Religion im 1. Jahrhundert v.Chr. antiquarischer Forschung bedurften. So ist nicht verwunderlich, daß Varros Erklärungen bei aller Gelehrsamkeit häufig fragwürdig sind: Er wird zum Opfer der in seiner Zeit äußerst beliebten etymologischen Spekulation oder bringt sein an griechischem Mythos und griechischen Kulten erworbenes Wissen in die Erklärung römischer Religion mit ein. Ähnliches gilt für Ciceros Schriften De natura deorum, De divinatione und De legibus. Sie bieten interessante Einblicke in die Vielfalt des römischen Pantheons, in eine Fülle von Bräuchen, Kultriten und sakralen Gesetzen; auch, was ein aufgeklärter Römer des 1. Jahrhunderts v.Chr. glaubte und welche Modelle von Götterglauben ihm die hellenistische Philosophie anbot, läßt sich aus diesen Texten ableiten. Aber sie stellen _______________ 11 Ein ursprünglich römischer Kult scheint nur für die Penaten nachweisbar. Von allen anderen Göttern erfahren wir, daß sie zu einer bestimmten Zeit eingeführt wurden (vgl. ORLIN, 14).

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keinen systematischen ‚Katechismus’ römischer Glaubensinhalte dar, und wie der römische Götterhimmel entstanden ist und was ihn eigentlich ausmacht, bleibt unklar.12 Überliefert ist eine geringe Zahl an Gebeten und Kultvorschriften. Die hier dokumentierten Namen römischer Götter sind unter anderem sprachgeschichtlich interessant, nicht zuletzt, weil sie einen indogermanischen Ursprung nahe legen. Der Sinn der Gebetsformeln ist aber nicht immer klar: Zum Kultlied der Salier bemerkt Quintilian, nicht einmal die Priester verstünden seine archaische Ausdrucksweise.13 Es hatte zu seiner Zeit bereits die Qualität einer Zauberformel angenommen, die mit skrupulöser Genauigkeit vorgetragen werden mußte, unabhängig davon, ob ihr konkreter Aussagewert noch einsichtig war.14 Inschriften in Stein bewahren einige staatliche Erlasse zur Kultausübung. Solche politisch motivierten Eingriffe in die Kulte sind aber nicht selten eine Reaktion auf das, was die Magistrate als ‚Fehlentwicklung’ der Religionsausübung interpretieren. Sie dokumentieren also nicht die ursprüngliche Religion, sondern eine Stufe in der Adaption oder Ausgrenzung eines fremden Kultes bzw. ein neues und bisher ungewöhnliches Verfahren in einem alten Kult, also eine Erweiterung unter fremden Einfluß. So ist etwa eine recht umfängliche Verfügung über die Bacchanalien erhalten, den orgiastischen Bacchus-Kult, der vermutlich durch Griechen in Rom heimisch gemacht wurde, von der Obrigkeit aber als aufrührerisch und sittenverderbend interpretiert und drastisch reglementiert wurde.15 Erhalten ist auch eine Inschrift über die Ausführung der Jahrhundertfeier des Jahres 17 v.Chr., eine von den Griechen entlehnte Form der Götterverehrung, die mit ursprünglichem römischem Kult wenig zu tun hat.16 Eine nicht uninteressante, aber gleichfalls mit Vorsicht zu rezipierende Quelle stellen die frühchristlichen Polemiken gegen die pagane Religion dar17 – nicht nur, weil sie in hohem Maße tendenziell gefärbt sind, sondern auch, weil sie kein Interesse an einer Scheidung zwischen griechischen und römischen Göttern und Kulten haben. _______________ 12 Wichtige Quellen für Details römischer Religion sind daneben die Naturalis Historia des älteren Plinius, Servius` Vergil-Kommentar, Macrobius und die Schrift des Verrius Flaccus zum römischen Kalender, die in späteren Auszügen (Pompeius Festus; Paulus Diaconus) erhalten ist; vgl. SIMON 14f. 13 Quint., Inst. or. 1,6,40f. 14 Vgl. B ÜCHNER, K., Fragmenta poetarum Latinorum, Leipzig 1982, 1–4. 15 CIL 12,581,10; vgl. RÜPKE, 38ff. 16 Umgekehrt gibt manche latinische Inschrift Aufschluß über römischen Kultbrauch, so wohl die Inschrift von Iguvium in umbrischer Sprache zum Kult der frühen Trias von Iuppiter, Mars und Quirinus; vgl. B EARD/NORTH/PRICE, II 8ff. 17 Lactanz, Divinae Institutiones, Buch 1: De falsa religione, Buch 2: De origine erroris; Minutius Felix, Octavius; Tertullian, Apologeticum; Dracontius, Laudes Dei.

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Auch römische Historiographie, vor allem Livius, Ab urbe condita, ist eine wichtige Quelle für die Details des Kults und für die allmähliche Ausweitung des römischen Pantheons in historischer Zeit. Livius schildert Götterfeste, protokolliert Tempelgründungen in all ihren Phasen, vom Gelöbnis bis zur Weihung, verfolgt die Einführung neuer Gottheiten und Kulte in ihren Ursachen und im procedere. Von systematischer Theologie ist er natürlich noch weiter entfernt als Cicero, und auch historisch ist er nicht ganz zuverlässig; allzu deutlich neigt er zur Verklärung der Vergangenheit und zur Rückprojektion zeitgenössischer Bräuche auf die Frühzeit. Die vielfältigen Einblicke in römische Religion, die die Dichtung bietet, werfen ebensoviel Fragen auf, wie sie lösen: Lucrez` De rerum natura, epikureische Philosophie im Lehrgedicht, scheint weniger gegen römischen Aberglauben anzukämpfen als gegen griechischen.18 Vergils Aeneis entfaltet einen Gottesbegriff, der nicht aus römischer Frömmigkeit, sondern aus der stoischen Philosophie entlehnt ist; Ovids Fasti, eine systematische Darstellung des römischen Festkalenders in dichterischer Form, geben sich zu oft Alternativerklärungen oder auch zugestandener Aporie hin, um uneingeschränkt hilfreich zu sein. Die Problematik der literarischen Quellen ist also zweifach: Es gibt keine römische Theologie19, keine systematischen Darstellungen der frühen römischen Religion, keine Beschreibung des Pantheons und keinen Katalog der Glaubensinhalte und Kultregeln. Und die vorliegenden Testimonien stammen zum großen Teil aus einer Zeit, als die römische Religion bereits gemäß griechischer Denkweise interpretiert wurde. So entspricht die Darstellung nur einer Spätstufe, die Interpretation einer nicht ursprünglich römischen Denkweise. Das könnte schon für den Begriff religio gelten, dessen Etymologie umstritten ist. Cicero, in De natura deorum, leitet ihn von religere ab, also von dem Wortstamm legere. Basis der Religion ist demnach die wiederholte Lektüre, die, so kann man vermuten, die sorgfältige Beachtung der Kultvorschriften garantiert.20 Der christliche Autor Lactanz führt dagegen religio auf religare zurück – binden, verpflichten21. Immerhin lassen sich die beiden Etymologien auf einen gemeinsamen Bedeutungsnenner bringen, der mit den zu konstatierenden Phänomenen in Übereinstimmung _______________ 18

Vgl. OGILVIE 86. KERENYI, K., Die Religion der Griechen und Römer, München 1963, sieht in diesem Verzicht eine Verwandtschaft römischer religio mit der philosophischen Skepsis und epoché, eine „Achtung und Behutsamkeit, die in ihrer vollen, Negatives und Positives vereinigenden Form spezifisch römisch war.“ (119); den Gehalt römischer religio bilde nicht „eine Lehre von den Göttern, sondern das Sein der Götter, das sie ebenso voraussetzt und auf eine natürliche, unemphatische Weise ununterbrochen bejaht, wie auch die pietas dies tut“ (120). 20 Vgl. MUTH 1988, 223, und 1978, 342–53. 21 Lactanz, div.inst. 4,28,3. 19

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steht: das Bewußtsein einer Verpflichtung, das sich in der genauen Beachtung vorgegebener kultischer Rituale äußert. Diese Definition wird durch eine weitere ciceronische Aussage gestützt. Ebenfalls in De natura deorum stellt Cicero apodiktisch fest, wenn man die Römer mit fremden Völkern vergleichen wolle, so seien sie in allen übrigen Bereichen gleich oder sogar unterlegen, in der Religion, das heißt im Götterkult, aber seien sie allen anderen Nationen überlegen.22 Der Satz ist in mehrfacher Hinsicht erhellend. Religio wird gleichgesetzt mit cultus deorum, Götterkult; sie liegt demnach weniger im Denken und Fühlen als im Tun begründet. Dazu paßt, daß Cicero Religion als ein Nationalphänomen seines Volkes definiert. Er behauptet nicht etwa, die Römer seien als Individuen besonders fromm und gottesfürchtig, sondern daß alle Römer gewissenhaft einem Regelkodex folgen, der mit dem Namen religio belegt werden kann. Eine weitere Facette des Wortstamms klärt das Adjektiv religiosus. Im römischen Festkalender, den Fasti, ist ein dies religiosus ein Tag, der eine besondere Verpflichtung oder ein Verbot trägt; analog dazu gibt es loci religiosi, libri religiosi – Orte oder Bücher, die im positiven Sinn, als Gebot, oder im negativen, als Tabu, eine spezifische Verpflichtung bewirken. Menschen, die solche Gebote und Tabus befolgen, können ebenfalls als religiosi bezeichnet werden. Religio stellt demnach eine Verpflichtung dar, in der das Formale eine große Rolle spielt: Sie bindet den Menschen an ein nach festen Ritualen zu vollziehendes Verhalten gegenüber der Gottheit. Religio ist Bindung. Sie erlegt dem Menschen rituelle Handlungen und Tabus auf, an deren Einhaltung sein Wohlergehen gebunden ist. Dieser Charakter römischer religio hat einige spezifische Konsequenzen: Religio muß nicht erklärt und verstanden werden, sie muß – wie Magie – wirken. Praktizierte religio ist weitgehend unabhängig von der Gesinnung und Moral des Menschen: Sie besteht in der minutiösen Befolgung der Kultriten und Tabus. Sie stiftet nicht die fromme Begegnung des einzelnen mit der Gottheit, sondern erzwingt in magischer Weise das Gelingen des Lebens, den Erhalt der Gemeinschaft, das Wohlergehen des Staates. Auf inhaltlicher Ebene wird diese Verpflichtung von Cicero als iustitia – gerechtes Handeln – definiert: Gerechtes Handeln gegenüber den Göttern heißt religio, gegenüber den Eltern pietas.23 Gerechtes Handeln gegenüber den Eltern – das bedeutet, ihnen das zukommen zu lassen, was ihnen zusteht; es steht ihnen aber zu, weil sie selbst ihre Pflicht gegenüber den Kindern erfüllt haben.24 Ebenso ist auch die religio eine Haltung, die auf _______________ 22 Cicero, ND 2,3,8: et si conferre volumus nostra cum externis, ceteris rebus aut pares aut etiam inferiores reperiemur; religione, id est cultu deorum, multo superiores. 23 Iustitia erga deos religio, erga parentes pietas; Cic., part. 78; inv. 2,66. 24 In diesem Sinn ist das berühmte und häufig verbildlichte Motiv des Aeneas, der seinen gelähmten Vater aus dem brennenden Troia trägt, zu interpretieren. Im Jahr 180

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Reziprozität beruht: Sie gibt den Göttern, was ihnen zusteht, weil die Götter ihrerseits den Menschen das ihnen Zustehende geben und erhalten. Für römisches Denken ist die Gottheit keine metaphysische Macht, die jenseits irdischer Belange steht – auch das ein Grund dafür, daß der Epikureismus in Rom nur eine begrenzte Wirkung entfalten konnte. Die Gottheit wirkt zugunsten und zu Lasten der Menschen. Wie mit einem militärisch überlegenen Nachbarn muß man mit ihr einen Ausgleich finden, der beiden Teilen das ihnen Nützliche und Zustehende beschert: Dieser ausgeglichene Zustand ist der Götterfrieden, die pax deum.25 Ein Problem liegt darin, daß die Götter, wenn sie zürnen, den Menschen keine Kriegserklärung schicken; sie senden einfach ihre tödlichen Waffen über die Grenze: Pest, Dürre, Hungersnot, Zwietracht oder feindliche Heere. Solche Ereignisse sind aber wie Herolde: Sie verkünden unmißverständlich, daß die pax deum durch menschliche Schuld gebrochen wurde; diese Schuld gilt es also zu erkennen und zu sühnen. Umgekehrt gilt mit gleicher Sicherheit: Wenn die Menschen den Götterfrieden einhalten, sind die Götter ihnen nützlich. Die Götter dazu zu bewegen, Nutzen zu stiften, sie davon abzuhalten, Schaden anzurichten, das ist die eigentliche Aufgabe römischer religio. In der Ars amatoria konstatiert Ovid: Expedit esse deos, et ut expedit, esse putemus26. Es ist nützlich, daß es Götter gibt, und so wie es nützt, so wollen wir es auch glauben. Der Satz wird in der Forschung oft zitiert als Beispiel ovidischer Frivolität, die selbst die römische Religion nicht schone. Tatsächlich hat sich Ovid hier gar nicht so weit von dem allgemeinen römischen Begriff von religio entfernt: Die Götter stiften Nutzen für die Menschen, und in dem Maß, wie sie nützen, glaubt man an sie, d.h. pragmatisch: erweist man ihnen kultische Ehren. Schaut man aus diesem Blickwinkel auf die Römer, so sind sie tatsächlich ein höchst religiöses Volk gewesen: Nicht durch eine persönliche fromme Innigkeit – wenngleich eine solche für einige Römer bezeugt ist – sondern durch die umfängliche, aufwendige27 und den Regeln gewissenhaft treue Ausübung des Kults.

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v.Chr. wurde der Pietas im forum holitorium sogar ein eigener Tempel errichtet (Livius 40,34,3). 25 Vgl. Livius 4,30,9; 7,2,2; 27,23,4 u.a. 26 Ovid, Fast. 2, 637. 27 Zwischen 509 und der Mitte des 1. Jahrhunderts v.Chr. wurden in Rom immerhin ca. 80 öffentliche Tempel geweiht (vgl. ORLIN 18).

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Die vorliegende Untersuchung kann nur einen kleinen Einblick in die Vielfalt römischer Religiosität vermitteln; sie bedient sich dafür eines planmäßigen Eklektizismus, indem sie sich weitgehend auf einen Gott, Iuppiter Optimus Maximus, den kapitolinischen Iuppiter, beschränkt und an den Details seines Kults einige Merkmale römischer Religiosität darzustellen sucht. Iuppiter Optimus Maximus, „der beste und größte Iuppiter“, erfuhr in historischer Zeit in Rom die höchsten Ehren. Sein Tempel stand auf dem Kapitol. Die römische Republik empfand ihn so sehr als ihren ganz eigenen Gott, daß Cicero, Livius, Tacitus und Plutarch seine Weihung unison dem ersten Konsul der Republik zuschreiben.28 Tatsächlich wurde das Heiligtum höchstwahrscheinlich noch unter der Herrschaft der etruskischen Könige errichtet und wohl auch geweiht, wenngleich vielleicht in deren letzten Jahren.29 Es handelte sich um einen Dreifachtempel etruskischer Bauart. Am Ort seiner Errichtung soll sich ein altes Heiligtum des Gottes Terminus befunden haben; da sich der ihm heilige Stein nicht entfernen ließ, wurde er in den neuen Tempel mit einbezogen. In dessen drei nebeneinander liegenden cellae verehrte man eine Göttertrias: Iuppiter in der Mitte, zu seinen Seiten Iuno und Minerva. Sie waren in Form von Statuen präsent, wie man sie auch sonst an etruskischen Kultstätten vorfindet. Der Tempel war Zentrum oder Ausgangs- bzw. Endpunkt zahlreicher Zeremonien. Hierher kamen römische Knaben am Tag, an dem sie die toga virilis, die rein weiße Männertoga, anlegten, um zu opfern. Auch hohe Magistrate, die ihr Amt antraten, brachten hier ein Opfer dar. Der Triumphzug siegreicher Feldherren führte hierher; der Triumphator trug dabei Kleider aus dem Bestand des Tempels. Alljährlich am 13. September, dem Tag der Weihung des Tempels, und an den Iden des November richteten die Priester ein festliches Mahl für alle Magistrate und Senatoren aus; diesem Mahl präsidierten die drei Götterstatuen ‚leibhaftig’. Auch an den ludi plebeii, sportlichen Wettkämpfen vom 4.–17. November im circus, nahmen die Götterstatuen teil; sie wurden von einer feierlichen Prozession vom Kapitol zum Circus hinabgeleitet, wo sie die Spiele beaufsichtigten. So weit die Fakten. Welchen Aufschluß geben sie über römische Religiosität? Iuppiter ist der Gott, den man gemeinhin mit dem griechischen Zeus identifiziert.30 Vielleicht gehen beide auf dieselbe indogermanische Gott_______________ 28

Vgl. Cic., De rep. 2,36; Liv. 2,8,6 ; Tac., Hist. 3,72 ; Plut., Popl. 14,16. Vgl. WERNER, R., Der Beginn der römischen Republik, München–Wien 1963. 30 Daß die Benennung griechischer Götter durch römisch-italische Namen spätestens im 3. Jahrhundert v.Chr. durch Livius Andronicus vollzogen wurde, geht aus dem bei Gellius, N.A. 3,16, 11 zitierten Vers aus Livius` Odusia hervor. 29

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heit zurück; zumindest sind die beiden Namen miteinander verwandt: Durch den alle italischen Sprachen betreffenden Lautwechsel von eu zu ou dürfte im italischen Raum aus dem Vokativ Zeu pater die Form Iuppiter entstanden sein.31 Das Attribut pater gehört diesem Vokativ untrennbar an. Eine vokativische Anrufung ohne das Vaterattribut, analog dem griechischen o Zeu, ist nicht möglich. In dieser Akzentuierung des Vatertums wird ein Merkmal römischer Weltsicht faßlich: Die familiäre Ordnung wird nicht nur auf den Staat übertragen, sondern auch auf die Beziehung zwischen Göttern und Menschen. Der pater familias mit seiner Gewalt über Leben und Tod spiegelt im kleinen Bereich die Macht des Königs über seine Untertanen, die ihrerseits ein geringeres Abbild der Macht der Götter über die Menschen und Städte darstellt. Nicht nur Iuppiter wurde mit dem Beinamen pater versehen; auch andere Götter, so vor allem der sehr alte Gott Ianus, der durch eine geläufige, aber vielleicht falsche Etymologie mit ianua – Haustür – in Verbindung gebracht und als Gott des Eingangs und Ausgangs interpretiert wurde. Er ist ein Gott, der den Neubeginn schützt und im Gebet als Mittler zwischen Menschen und Göttern wirkt; deshalb wird er in alten Gebetsformeln noch vor Iuppiter angerufen. Daß auch der vergöttlichte Stadtgründer Romulus mit dem Vater-Attribut angerufen wurde, erklärt sich leicht aus seiner Rolle als Stammvater der Römer; in der Literatur erhält später, als der Gründungsmythos um Romulus durch den Aeneas-Mythos Konkurrenz erhält, auch Aeneas den Beinamen pater. Iuppiter ist also Lichtbringer und zugleich als Gott Analogon zum pater, der mächtigsten Gestalt im Familienverbund. Sein Vatertum ist aber allein erhöhtes Abbild der römischen Gesellschaft; es ist nicht Attribut eines Göttervaters. Anders als die Griechen ordneten die Römer ursprünglich ihren Göttern keine göttlichen Kinder zu. Die Vorstellung einer Götterfamilie von Zeus und Hera mit den Kindern Aphrodite, Apollo, Artemis usw. ist, selbst als der Kult dieser „Zeuskinder“ in Rom heimisch wurde, nicht übernommen worden.32 Die Resistenz der Römer gegenüber der griechischen Vorstellung der Götterfamilie hat ihren tiefsten Grund im numinosen Charakter römischer Götter: Sie wurden nicht eigentlich anthropomorph-personal aufgefaßt, sondern in erster Linie als wirkende Kräfte, numina. Die zahlreichen Göt_______________ 31

Iuppiter ist als grammatische Form ein Vokativ; der zugehörige Nominativ Diespiter ist eine spätere Konstruktion, die in alten Testimonien nicht vorkommt; vgl. RADKE, 155 ff. 32 Die Formel divom pater hominumque (Vater der Götter und Menschen) ist zwar gut belegt, meint aber doch keine biologische Vaterschaft, sondern die Autorität des pater familias.

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terstatuen aus dem römischen und italischen Raum scheinen dies zu widerlegen; sie stehen aber vielfach unter etruskischem Einfluß oder entstammen einer Zeit, in der die Römer bereits selbst mit griechischer Mythologie und Religion konfrontiert wurden. Der Begriff numen wird heute meist auf ein indogermanisches Wort für Bewegung zurückgeführt. Hier kann man offensichtlich einen sehr archaischen Ursprung von Religiosität überhaupt erfassen: Bewegung, die sich dem menschlichen Betrachter in ihrer Kausalität nicht unmittelbar erschließt. Wo solche Bewegung stattfindet, das Wehen des Windes in Blättern, die Bewegung der Wellen im Meer oder der Gestirne am Himmel, wirken göttliche Kräfte. Das Wort numen selbst ist im Lateinischen nicht vor dem 2. Jahrhundert v.Chr. bezeugt33; das erklärt sich allerdings leicht aus der geringen Neigung der Römer zur Theologie, wobei ein eher dialektisches Verhältnis vorliegt: Gerade der numen-Glaube, der das Göttliche nicht im Wesen, sondern im Wirken der Gottheit ansiedelt, versperrt ja den Zugang zur Theologie.34 Schon für die frühen Kulte ist der numen-Glaube offenbar. Besonders illustrativ ist der Kult des Terminus, des Grenzsteins bzw. – gemäß römischer Religiosität – des Gottes, der die Heiligkeit der Grenzen garantiert. Die Information, daß sich sein Heiligtum am Ort des Tempelbaus für den kapitolinischen Iuppiter befand und sich nicht von dort verrücken ließ, verdanken wir Livius und Ovid35; sie ist wohl in dem Sinn zu deuten, daß der Terminus-Kult um einiges älter ist als der Kult des Iuppiter Optimus Maximus. Terminus schützt die Grenzen zwischen Bauernhöfen und zwischen Gemeinden; er ist also ein alter ländlicher Gott. Sein Festtag am 23. Februar, dem letzten Tag des alten römischen Jahres, das im März begann36, führt zu der Vermutung, daß er auch zeitliche Grenzen schützte. Vielleicht waren an seinen Kult auch Initiationsriten geknüpft, dann ging der Brauch römischer Knaben, am Tag, an dem sie die Kindertoga ablegten, dem kapitolinischen Iuppiter ein Opfer darzubringen, auf dessen Vorgänger Terminus zurück.37 Der Kult des Terminus als Beschützer der

_______________ 33

Accius, fr. 646 und 691 RIBBECK; Lucilius 895. W LOSOK, A., Römischer Religions- und Gottesbegriff in heidnischer und christlicher Zeit, AuA 16 (1970) 39–53, sieht die einzige Form römischer Theologie in ihrem Geschichtsbild, das Geschichte als Wirken der Götter auffaßt; der größte römische Theologe sei deshalb Vergil. 35 Livius 1,55,3; Ovid, Fast. 2,667. 36 Varro, ling. 6,3,13. 37 Ähnlich initiatorischen Charakter hat der Brauch, daß Bräute ihre Kinderkleidung im Tempel der Fortuna Virgo am Forum Boarium weihen; vgl. SIMON 195ff. 34

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Ackergrenzen vollzog sich gewöhnlich da, wo er wirkte, an den Grenzsteinen. Er wurde nicht anthropomorph dargestellt.38 Der numen-Charakter römischer religio tritt auch in den Beinamen der römischen Götter hervor, die zwischen verschiedenen Wirkungsweisen der Gottheit differenzieren. Iuppiter war als Lucetius, leuchtender Iuppiter, Lichtgott und besaß Kulte auf mindestens zwei römischen Hügeln, dem mons Caelius und dem mons Viminus. Dazu paßt, daß ihm die Idus, die Vollmondtage, heilig waren; schon der älteste römische Kalender bezeichnet sie als feriae Iovis. In weiterem Sinn war Iuppiter der Gott der Wetterphänomene und wurde als Iuppiter Fulgur, Blitzgott, und Iuppiter Tonans, Donnergott, verehrt. Hier berührt er sich mit dem Blitzeschleuderer Zeus. Iuppiter Stator ist der Iuppiter, der die Feinde aufhält: Im Krieg gegen die Sabiner soll Romulus ihm ein fanum, ein Heiligtum, gelobt haben, wenn die Römer die Sabiner abwehren könnten.39 Dieses Gelübde wurde allerdings erst von späteren Generationen im Jahr 294 v.Chr. erfüllt – als der kapitolinische Iuppiter-Tempel längst existierte.40 Livius, der all das berichtet, kommt nicht auf den Gedanken, die Römer hätten Romulus` Versprechen auf Grund der Existenz des kapitolinischen Tempels als erfüllt ansehen können; er hatte einem spezifischen Wirken des Gottes sein Gelübde abgelegt, dem deshalb ein eigener Tempel und Kult zustanden. Einer sehr frühen magisch-numinosen Stufe römischer Religiosität dürfte auch der Kult des Iuppiter Feretrius entstammen, der ebenfalls auf dem Kapitol, aber in einem eigenen Tempel verehrt wurde. Livius berichtet, er sei von Romulus begründet worden und der älteste Tempel Roms (Liv. 1,10,6). In diesem Tempel befand sich nie ein Kultbild des Gottes; er enthielt aber zwei magisch-bedeutsame Gegenstände: einen Feuerstein in Form eines Messers, den lapis silex, und ein hölzernes Gestell, das feretrum. Bei dem lapis silex wurden Bündnisse beschworen; er diente auch dazu, das anläßlich solcher Bündniszeremonien Iuppiter geschuldete Opfertier zu töten. Am feretrum hingen die Feldherren, die eigenhändig einen gegnerischen Anführer in der Schlacht erschlagen hatten, ihre Beute, die spolia opima, auf. Dieser Iuppiter Feretrius ist also Schutzgott der Römer _______________ 38 Den numen-Charakter alter römischer Frömmigkeit kann man auch noch in einem Motivsplitter der vergilischen Aeneis fassen. Aen. 8,351f. erklärt Euander, der seinen Gastfreund Aeneas über das Gebiet des späteren Rom führt, hier (nämlich dort, wo später das römische Kapitol sein wird) lebe eine Gottheit, man wisse nicht, welche. Das Heilige ist demnach ursprünglich dem Ort zu eigen und manifestiert sich als spürbares Wirken, als heiliger Schauer, der die Menschen ergreift. Erst unter dem Einfluß griechischen Glaubens entwickelt sich die komplementäre, aber doch religiös ganz andersartige Vorstellung, ein Ort sei heilig, weil er von einem heiligen Wesen bewohnt werde (vgl. O GILVIE , 13f.). 39 Livius 1,12, 6. 40 Livius 10, 37, 15.

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im Krieg, aber auch Garant der Bündnistreue. Er manifestiert sich im lapis silex, dem heiligen Stein, und nimmt in dieser Manifestation Eide entgegen. In der gesamten Geschichte des Kultes wurde er nie anthropomorph abgebildet. Der gemeinsame Kult der kapitolinischen Trias war vermutlich eine Neuerung in Rom, die die Etrusker mit ihrem Tempelbau förderten.41 Es scheint aber, als rekurriere diese Trias in ihrer Struktur und teilweise auch im Personal auf eine ältere römische Götterdreiheit, der Iuppiter (wahrscheinlich als Feretrius42) angehörte. Daß er schon vor der etruskischen Königsherrschaft der oder einer der Hauptgötter Roms war, macht schon sein Priester, der flamen Iovis, wahrscheinlich. Flamen ist ein sehr alter Priestername; er kam neben dem Iuppiterpriester noch den Priestern von Mars und Quirinus zu. Diese Gemeinsamkeit hat zu der Vermutung geführt, in vorhistorischer Zeit habe es einen gemeinsamen Kult von Iuppiter, Mars und Quirinus gegeben; neuere archäologische Funde unterstützen diese Vermutung.43 Mars ist ein alter Schutzgott der Römer, der als lanzenbewehrter Gott mit dem griechischen Ares identifiziert wurde, tatsächlich aber mehr Schutz- als Kriegergott ist. Das carmen arvale, ein inschriftlich überliefertes Gebet, legt nahe, daß ihm der Schutz der Staatsgrenze, des ager Romanus, anvertraut war.44 Quirinus ist wahrscheinlich eine ursprünglich sabinische Gottheit; zumindest hatte er ein Heiligtum auf dem Aventin, dem Zentrum der alten sabinischen Siedlung.45 Letztlich scheinen Mars und Quirinus in Wesen und Funktion einander eng verwandt gewesen zu sein. Die aus der Partizipation am Priesterstand der flamines zu erschließende gemeinsame Verehrung von Mars und Quirinus könnte also den Synoikismus von Römern und Sabinern widerspiegeln, aus dem Rom entstand – ein historischer Prozeß, den auch der Mythos vom Raub der Sabinerinnen durch die junge Mannschaft des Romulus abbildet. Schon in archaischer Zeit hätte dann das römische Pantheon die politischen _______________ 41 Inwieweit sie damit eigene Kultbräuche in Rom einführten, ist unsicher. Servius` Nachricht (zu Aen. 1,422), den Etruskern hätten nur Städte als rechtmäßig gegolten, in denen drei Tore und drei Straßen und drei Tempel diesen drei Göttern geweiht seien, scheint eher fraglich. In Griechenland gibt es die Trias von Zeus, Here und Athene nur einmal, bei den Phokäern (Paus. 10,5,1). Daß die kapitolinische Trias ebenso wie die phokäische abgebildet war, nämlich durch ein Sitzbild Iuppiters und Standbilder Minervas und Iunos (so RADKE 40), ist aber keineswegs sicher. 42 Vgl. BEARD/NORTH/PRICE, II 6f. (zu Festus p. 204 L INDSAY s.v. Opima spolia). 43 RADKE 158; dagegen MUTH 1988, 228 Anm. Eine weitere Göttertrias aus Liber, Libera und Ceres erhielt im Jahr 496 einen Kult in Rom. 44 Acta fratrum Arvalium, CIL I² 2. 45 Über seine Natur ist keine Klarheit zu gewinnen: D UMÉZILS Theorie, er sei ein alter Agrargott, stützt sich auf ebenso unsichere Zeugnisse wie die in jüngerer Zeit bevorzugte Deutung als Kriegsgott.

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Verhältnisse in der Stadt abgebildet. Iuppiter wurde beiden Stadtgottheiten vielleicht als alter Himmelsgott und damit zugleich – da Eide unter freiem Himmel abgelegt wurden – als Gott des Eidschwurs zugeordnet, eine Kraft, die den Frieden in der neuen Völkergemeinschaft garantierte und eine ausgleichende Rolle wahrnahm.46 Die Etrusker installierten nun in Rom eine neue Göttertrias, die kapitolinische. Die Kulte für Mars und Quirinus blieben an anderen Orten bestehen; auch ihre flamines existierten weiter. Aber die zentrale römische Göttertrias bekam eine andere Gestalt. Zu Iuppiter gesellten sich Iuno und Minerva. Iuno ist keineswegs Komplementärgestalt zu Iuppiter, obwohl der Name diese Vermutung nahe legen könnte. Sie ist eine italische Konkurrenzgottheit zu ihm: Wie Iuppiter in Rom, so ist Iuno Stadtherrin in vielen italischen Städten gewesen, in Falerii, Tibur, Veii und anderswo. Der Name dieser alten italischen Gottheit hängt wahrscheinlich mit dem lateinischen Wortstamm iuv- zusammen, der auch in iuventus, Jugend (bzw. iuvenis, junger Mann oder junge Frau) zugrunde liegt. Das Stadtpatronat einer weiblichen Gottheit läßt keinen Schluß auf ein vorhistorisches italisches Matriarchat zu, dokumentiert aber die Bedeutung alter Fruchtbarkeits- und Mutterkulte im italischen Raum. So erklärt sich auch, daß Iuno nicht nur Stadtgöttin ist, sondern zugleich in besonderer Weise Patronin der Frauen; ihre Beinamen zeigen ihr vielfältiges Wirken: Als Iuno Sororia bewirkt sie das Schwellen der Brüste, die weibliche Pubertät; als Fluonia steht sie den Frauen während der Menstruation bei, als Pronuba bei der Hochzeit, als Opigena und Lucina bei der Entbindung. Auch Minerva ist eine alte italische Gottheit; sie besaß wie Quirinus einen Kult auf dem Aventin, war also vermutlich schon den Sabinern, die diesen Hügel ursprünglich besiedelten, heilig. Zahlreiche italische Städte verehrten sie, ähnlich wie die griechische Athene, schon im 6. Jahrhundert als Göttin der Künste und des Handwerks; insofern repräsentiert sie auch eine bestimmte Bevölkerungsschicht. Die Errichtung von Tempel und Kult für die kapitolinische Trias liest sich auf diesem Hintergrund wie ein kluger politischer Schachzug: Die etruskischen Könige bewahren das Modell einer Göttertrias; sie erheben den alten Stadtgott Iuppiter zum Abbild des Königtums, das sie durch diese göttliche Autorität stützen.47 Sie stellen ihm, gleichsam als seinen Hofadel, zwei Gottheiten zur Seite, die eine alte italische Tradition haben und _______________ 46

Vgl. RADKE, 158. Vgl. Livius 1,55,1 über Tarquinius Superbus, den nach der Sage letzten König Roms, der dafür gesorgt habe, mit dem Iuppitertempel ein Mahnmal seiner Herrschaft und seines Namens zu hinterlassen (ut Iovis templum in monte Tarpeio monumentum regni sui nominisque relinqueret). 47

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zugleich einerseits die römischen Frauen, andererseits die Handwerker in den Staatskult einbinden; Minerva repräsentiert zudem die sabinischen Wurzeln Roms, für die zuvor Quirinus stand. Die kapitolinische Trias bindet also die unterschiedlichen Gruppen der Stadt zusammen: die Römer und Sabiner; die Männer und Frauen; die Aristokratie und die Bürger. Sie wurde aber nie als Götterfamilie – mit dem Ehepaar Iuppiter und Iuno und der Iuppitertochter Minerva – aufgefaßt. Der Wille der Römer, die gesellschaftlichen Gruppen in ihrem Götterhimmel zu repräsentieren und damit auch gesellschaftliche Spannungen aufzufangen und auszugleichen, läßt sich auch an dem Kult der Dioskuren Castor und Pollux in Rom ablesen. Man sieht ihre Statuen aus der frühen Kaiserzeit heute am Aufgang zum Kapitolsplatz, wo sie ihre Pferde am Zügel führen. Die Zwillinge wurden schon sehr früh48 aus dem griechischen Raum in das römische ‚Pantheon’ importiert, als Schutzgötter der Reiter (equites), also eines Teils der römischen Oberschicht, der bisher nicht spezifisch unter den römischen Göttern präsent war. Auch auf wirtschaftliche Krisen reagiert die Republik durch die Institution fremder Götter und Kulte: Während des Krieges gegen die Volscer befürchtete man eine Hungersnot; die Einführung des Kultes der Göttertrias Liber, Libera und Ceres, dreier Götter, die für das Gedeihen von Frucht und Korn zuständig sind, beschwichtigte wohl weniger die Götter als die entsprechenden Ängste der Massen; so entstand zugleich ein plebeisches Gegenstück zu der patrizischen Trias auf dem Kapitol.49 Aus ähnlichem Grund erhielt die Göttin Flora 238 oder 241 v.Chr. einen Tempel in Rom; sie sollte eine Dürre abwehren. Aber das römische Pantheon bildet auch in seinen Erweiterungen eine Art von Bollwerk für den Moralkodex der römischen Gesellschaft: Im 3. Jahrhundert v.Chr. bauten die Römer ihren ersten Tempel für Venus. Bezahlt wurde er nach Livius` Zeugnis aus den Strafgeldern, die römische Ehefrauen leisten mußten, die des Ehebruchs überführt waren. Der Tempel wies eine Doppelcella auf; die eine war Venus als Liebesgöttin geweiht, die andere der Personifikation der mens, der Vernunft. Mens wird Venus, der körperlichen Begierde, als Korrektiv beigesellt; das göttliche Duo symbolisiert die Bedeutung des Geschlechtstriebs ebenso wie die Notwendigkeit seiner Kontrolle. Daß Abstracta wie die mens Kulte erhalten – die Römer verehrten auch Fides, Spes und Concordia – dokumentiert den Rang _______________ 48

Im Jahr 499 wurde ein Castor-Tempel auf dem forum Romanum gelobt, 484 geweiht; Liv. 2,42,5; vgl. RADKE 39. 49 Vgl. GLADIGOW, B., Zur Ikonographie und Pragmatik römischer Kultbilder, in: W ELLER, H./STANBACH, N. (Hg.), Iconologia sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. FS K. Hauck, Berlin 1994, 9–24, hier, 12.

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dieser Tugenden im römischen Selbstverständnis. Es dürfte zugleich auf konkrete Bedürfnisse oder auf die Erfahrung helfender Kräfte zurückgehen; auch hierin dokumentiert sich der numen-Charakter römischer Religiosität. Daß der Kult der kapitolinischen Trias anfangs unter etruskischem Einfluß stand, zeigt sich nicht nur an der Architektur des Tempels, die etruskischen Vorbildern folgte, sondern auch und besonders in den Kultbildern, die im Tempel aufgestellt und am kultischen Gastmahl und an öffentlichen Spielen teilnahmen. In früher Zeit scheinen die Römer die Notwendigkeit, ihre Götter durch Kultbilder sinnenfällig zu machen, nicht verspürt zu haben.50 Die Statuen im kapitolinischen Iuppitertempel gelten als die frühesten anthropomorphen Götterbilder in Rom. Eine solche anthropomorphe Gottesvorstellung entsprach dem Glauben der etruskischen Herrscher, nicht aber dem ursprünglichen Glauben ihrer Untertanen, deren älteste Kulte keine Kultbilder kannten.51 Die etruskischen Könige implantierten also vermutlich ihr Götterbild in der Stadt, die sie beherrschten. Sie lösten damit eine Umorientierung römischer Religiosität an griechischetruskischen Vorbildern aus, die sich in allen Quellen und in der bildenden Kunst niederschlägt. Auch die Beinamen des kapitolinischen Iuppiter optimus maximus sind vielleicht eine Art Korrektur römischer numen-Religiosität – wenn der Begriff in demselben Sinn gebraucht ist wie in der Rechtssprache. Dort bedeutet die Wendung ut optimus maximusque sit die Freilassung eines Sklaven ohne jede Auflage. Nach diesem Modell steht Iuppiter optimus maximus nicht nur, wie die Superlative verdeutlichen, über allen anderen Göttern oder auch allen anderen Iuppiter-Manifestationen, sondern ist auch selbst gänzlich frei von spezifischen Zuschreibungen und Bindungen52: Die Formulierung schließt sich also an den numen-Charakter römischer Religiosität an, überwindet ihn aber. Die Einführung der kapitolinischen Trias durch die Etrusker und die Einführung zahlreicher Kulte aus dem griechischen und kleinasiatischen Raum dokumentieren, daß das römische Pantheon ein offenes System war; es konnte erweitert und modifiziert werden. Daran hatten die sibyllinischen Bücher einen großen Anteil. Sie standen in engem Zusammenhang zum Kult Iuppiters; in einem Gelaß unter dem kapitolinischen Tempel bewahrte _______________ 50 Vgl. Varro, fr. 18 CARDAUNS; demnach haben die Römer nicht vor dem 6. Jahrhundert Kultbilder aufgestellt. Da Varro Kultbilder ablehnt, mag hierin aber auch eine Verklärung der Vergangenheit liegen; vgl. GLADIGOW, 9. 51 Dem sehr alten Vesta-Kult ist der Anthropomorphismus immer fremd geblieben; im Vesta-Tempel gab es bis zuletzt kein Kultbild. 52 Cic., De nat. deor. 3, 87 erklärt die Attribute einfacher mit der göttlichen Macht, Gesundheit und Wohlstand zu erzeugen.

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man sie auf. In der Zeit der etruskischen Könige, der Tarquinier, sollen sie nach Rom gekommen sein: Eine alte Frau, später wurde sie mit einer der Sibyllen, der weissagenden Frauen, identifiziert, bot dem König Tarquinius Priscus neun Bücher mit griechischen Prophezeiungen zu einem enorm hohen Preis an; als er zu handeln versuchte, verbrannte sie erst drei, dann weitere drei Bücher. Der König kaufte schließlich die verbliebenen drei Bücher zum ursprünglich für alle neun geforderten Preis.53 Die Geschichte ist natürlich von mythisch-legendenhafter Qualität. Sie vermittelt aber eine wesentliche Information: Die Herkunft der Bücher war den Römern in historischer Zeit nicht mehr bewußt, klar war ihnen nur ihr außerrömischer Ursprung und ihr hoher Wert. Diese Prophezeiungen wurden von einem eigens dafür bestimmten Kollegium in Krisenzeiten konsultiert und im Sinn einer konkreten Handlungsanweisung interpretiert. Opfer, Tempelbauten und vor allem die Übertragung fremder Kulte nach Rom waren häufig die Folge einer Befragung der libri Sibyllini, die man durchführte, wenn die pax deum gestört schien; die Sibyllenorakel galten also als wichtiges Instrument, um Roms Sicherheit und Wohlstand zu erhalten. Als sie im Jahr 82 v.Chr. gemeinsam mit dem Tempel des kapitolinischen Iuppiter verbrannten, ruhten die Römer nicht, bis sie eine neue Sammlung aus griechischen Prophezeiungen zusammengekauft hatten. Das Verfahren erzwingt geradezu die Frage, warum sich die Römer in Dingen von unmittelbarer Relevanz für die eigene Stadt an in griechischer Sprache verfaßten Orakeln orientierten. Als Antwort kann man anführen, daß gerade der geheimnisvolle Ursprung der Bücher ihnen einen numinosen Charakter verlieh; der hohe Respekt der Römer vor der griechischen Kultur, der sie später auch dazu trieb, planmäßig griechische Künstler nach Rom zu holen, mag gleichfalls eine Rolle spielen.54 Nicht außer acht lassen sollte man aber auch den politischen Nutzen des Verfahrens. Die in griechischen Versen abgefaßten Orakel erschlossen sich nur den Gebildeten, also der Oberschicht. Zudem vermittelten sie ebenso wenig wie die Eingeweideschau oder der Vogelflug konkrete Handlungsanweisungen, sondern eher vage und vieldeutige Formulierungen und Hinweise, die in verschiedener Weise interpretiert werden konnten. Die Konsultation der Sibyllinischen Bücher bot also in Krisenzeiten ein Ventil für die Ängste des Volkes, dem demonstriert wurde, daß die Magistrate etwas unternahmen; sie lieferte aber die Magistrate nicht spontanen Äußerungen von Volksfrömmigkeit aus, sondern ließ ihnen einen weiten Spielraum religiöser Manipu-

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Dionysios v. Halikarnassos, Ant.Rom. 4,62. Vgl. NORTH, 1976, S. 9.

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lation.55 Für die Römer war Religion das, was ihnen das Wohlwollen der Götter und damit den Bestand von Staat, Bürgerschaft und Familie sicherte. Da die Befragung der Sibyllinischen Bücher ebendies bewirkte, wurde sie nicht in Frage gestellt. Nicht selten in der Geschichte der Stadt Rom erteilten die libri Sibyllini den Rat, fremde Kulte nach Rom zu holen – Apollo und den epidaurischen Aesculap im Jahr 293 anläßlich von Seuchen56, Venus Erycina aus dem sizilischen Erice anläßlich des zweiten punischen Krieges57, die Magna Mater deum Kybele aus dem phrygischen Kleinasien58. Es ist natürlich kein Zufall, daß die drei genannten Kulte auch zu jeweils opportuner Zeit die enge Verbundenheit Roms mit Griechenland, Sizilien und Kleinasien zum Ausdruck brachten.59 Die Immigranten des römischen Pantheons wurden nicht als Konkurrenz zu den einheimischen Göttern empfunden: numina kennen keine Eifersucht. Sie wurden aus Nützlichkeitserwägungen nach Rom geladen, wo die alten Götter eine Krise zuließen oder ihrer nicht Herr wurden. Daß die prunkvolle Instauration einer neuen Gottheit in Rom dem Volk Ablenkung von seinen Sorgen brachte und mit einer hoffnungsvolleren Stimmung vielleicht auch heilbringende Aktivitäten in Gang setzte, ist ein Aspekt, auf den antike Quellen nicht verweisen, der sich dem modernen Betrachter aber aufdrängt. Der Gott Aesculap half auch ganz konkret: In seinem Tempel auf der Tiber-Insel fanden Kranke Aufnahme und Hilfe. Die Übertragung fremder Kulte nach Rom konnte auch die Konsequenz römischer Expansionspolitik sein: Die sog. evocatio forderte die Götter einer eroberten Stadt auf, ihren alten Wohnsitz zu verlassen und nach Rom zu ziehen, wo ihnen Tempel und Kult versprochen wurde. Auf Grund solcher evocatio holte man z.B. die Götter der eroberten Stadt Veii nach Rom.60 Die Forschung hat kontrovers über die Ursachen solcher Kultübertragung geurteilt: Ist es ein Gefühl der Schwäche, das dazu verleitet, die eigene Position durch Vermehrung der göttlichen Patrone zu verbessern, _______________ 55

Die Oberschicht behielt sich im allgemeinen die Ausübung divinatorischer Praxis, also auch der Eingeweide- und Vogelschau, vor; beide Disziplinen verlangten ja Spezialwissen. 56 Livius 10,47,6f. 57 Livius 23,30,13. 58 Livius 29,14,5ff. Kybeles Kult wurde im Jahr 217, also während des zweiten Punischen Krieges, aus Erice importiert und entwickelte sich rasch zum Kult der Prostituierten. Als Korrektiv begründeten die Römer im 2. Jahrhundert den Kult der Venus Verticordia – die die Herzen (zum sittlichen Handeln) wendet, ein deutliches Signal an die Gesellschaft. 59 Auf die libri Sibyllini wird aber auch der seit dem Jahr 399 v.Chr. geübte Brauch der lectisternia zurückgeführt, öffentlicher „Bewirtungen“ von Götterstatuen. 60 Liv. 5,21,3,5. Zur Formel der evocatio vgl. Macrob., Sat. 3,9,7.

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oder spricht daraus eher das Bewußtsein eigener Stärke, das Vertrauen, alle fremden Kulte, mit denen man in Berührung kommt, nutzbringend zu assimilieren? Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte: Die Römer waren skrupulös darauf bedacht, kein göttliches numen zu vernachlässigen, das ihnen nützlich oder schädlich sein konnte, denn das hätte eine Schwächung der res Romana bedeutet; sie unterwarfen die importierten Kulte aber zugleich sorgfältigen Kontrollen und ließen nicht zu, daß sie die Verpflichtungen des Staates gegenüber den alten Gottheiten schwächten.61 Sehr altertümlich wirkt gegenüber solchen utilitaristischen Maßnahmen des Kultimports der Brauch, als Mittel gegen die Pest einen Nagel in die cella-Wand des kapitolinischen Iuppiter-Tempels einzuschlagen.62 Der alte magische Grundton römischer Religiosität tritt hier deutlich hervor. Auch in manchen Kultbräuchen, die Ovid in den Fasti tradiert, liegt ein Element des Magischen: So wurden an den Cerealia, dem Fest der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres, Füchse durch den Circus getrieben, an deren Rücken eine brennende Pechfackel befestigt war – ein alter Fruchtbarkeitszauber oder eine Art von Beschwörung des feurigen Sonnengottes.63 In völliger Klarheit und in rationaler Überformung begegnet der magische Anteil römischer Religiosität in der Strenge ihrer Kultvorschriften. Die Gebetsformel mußte mit minutiöser Genauigkeit vorgetragen werden, von keinem Husten oder Stottern unterbrochen, ungestört von der Anwesenheit unheiliger oder dem Kult schädlicher Kräfte.64 Das Opfertier mußte frei und ohne Anzeichen von Beunruhigung zum Altar schreiten. Die Zeremonie durfte durch nichts unterbrochen werden. Daß Opferhandlungen mehrfach, ja sogar so aufwendige Kultereignisse wie mehrtägige Spiele ein- oder zweimal wiederholt werden mußten, weil es eine Störung gegeben hatte, ist vielfach bezeugt. Man möchte den Vergleich mit einem Vertragswerk ziehen, aus dem sich der Gott „herauswinden“ kann, wenn irgendein Paragraph nachlässig formuliert ist. Aber das ist zu modern gedacht, vielmehr verbinden sich hier magische und traditionalistische Aspekte: Wenn die Beschwörung des numen einmal durch eine bestimmte Vorgehensweise gelungen ist, soll _______________ 61 Daß religiöse Toleranz ein Zeichen römischer Stärke ist, legt der Umgang mit Religionsverboten nahe. Wenn Augustus die zuletzt noch im Jahr 45 verbotenen Compitalia wieder zuläßt, ist das weniger ein Zeichen von Liberalität, als ein Hinweis, daß er Staat und Gesellschaft für hinlänglich gefestigt hielt. Auch die Christen erfreuten sich in Zeiten, in denen das römische imperium florierte, gewöhnlich größerer Freiheiten als in Krisenzeiten. 62 Zum ersten Mal scheint das im Jahr 363 stattgefunden zu haben (Livius 7,3,3; vgl. Orlin 24). 63 Das Ritual schildert Ovid, Fast. 681ff. 64 Bei vielen Kulten galt die Anwesenheit von Sklaven als Entweihung; Kulte, bei denen sie zugelassen waren, wandelten sich leicht zu reinen Sklavenkulten. Auch Frauen waren von einigen Kulten, so dem Hercules- und Marskult, ausgeschlossen.

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die exakte Wiederholung des Verfahrens sicherstellen, daß dem numen ein weiteres Mal dieselbe Bindung auferlegt wird. Der Priester des kapitolinischen Iuppiter war als pontifex maximus der höchste Priester des Staatskults. Er wohnte in der regia, der Königshalle. Römisches Priestertum war kein eigener Beruf; es lag in der Hand des römischen Amtsadels, die Priesterämter übernahmen prominente Magistrate. Das entsprach nicht zuletzt einem Bedürfnis des Staates nach Kontrolle, zeigt aber auch, daß Magistrat und Priester dieselbe Funktion hatten, nämlich die Sorge für Ordnung und Sicherheit in der res publica: hier im Kräftespiel der Bürger, dort im Verhältnis zu den Göttern.65 Der pontifex maximus war ein äußerst wichtiger Mann; es ist kein Zufall, daß seit Caesar die römischen Kaiser dieses Amt für sich beansprucht haben. Aber die Machtstellung des pontifex maximus ist nicht nur ein Instrument politischer Kultkontrolle, sondern auch ein Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse: Wie Iuppiter auf der Götterebene, so spiegelt er auf der Menschenebene die römische Gesellschaftsordnung mit ihrer patria potestas, der väterlichen Allgewalt über Leben und Tod, wider. Als Symbol des Familienvaters besitzt er auch symbolische Töchter: die Vestalinnen, sechs junge Mädchen oder Frauen, die den Kult der Göttin Vesta ausführten. Daß Vesta im Namen und im Kult ein Analogon zur griechischen Hestia ist, verdankt sich wohl noch gemeinsamem indogermanischem Gut; sie ist die Gottheit des Herdfeuers. Aufgabe der Vestalinnen ist es, dieses Feuer zu hüten und die Speisen für bestimmte Opfer zuzubereiten; solange sie der Göttin dienen, müssen sie jungfräulich bleiben. Sobald sie – noch als Kinder – ihr Amt antreten, werden sie aus der patria potestas ihres eigenen Familienvorstands entlassen und in die des pontifex maximus gegeben. Gewissermaßen als seine Haustöchter versehen sie den Dienst am Herd Vestas. Die Vernachlässigung dieses Dienstes wurde wie ein Staatsverbrechen bestraft: Ließen sie das Feuer im heiligen Herd ausgehen, hat man sie in historischer Zeit „nur“ ausgepeitscht, aber dies war vielleicht eine Ersatzhandlung für die frühere Strafe der Hinrichtung. Verlor eine Vestalin ihre Jungfräulichkeit – und jede Staatskrise legte den Verdacht nahe, daß ebendies geschehen sei – so wurde sie lebendig in ein unterirdisches Verließ eingemauert, ein Verfahren, das noch im 2. Jahrhundert v.Chr. praktiziert wurde. _______________ 65

MUTHS These, der römische Priester vertrete – im Unterschied zum christlichen – nicht die Gemeinde gegenüber dem Gott, sondern den Gott gegenüber der Gemeinde (Muth 1988, 208), scheint insofern eher abwegig. Passender wäre der Vergleich mit Diplomaten, die am Hof eines übermächtigen Potentaten nach Kräften die Interessen ihres Heimatlandes repräsentieren. Die Identität von Priestern und Magistraten verhinderte auch die Entwicklung einer Dichotomie zwischen civitas terrena und civitas Dei.

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Der Staatskult des Iuppiter Optimus Maximus hat bis zur endgültigen Christianisierung des imperium Romanum Bestand gehabt. Vorangehende Versuche, ihn zurückzudrängen oder zu ersetzen, sind gescheitert. Augustus` Vorliebe für den Kult des Apollo – er ließ ihm auf dem Palatin, nahe seinem privaten Wohnhaus, einen prunkvollen Tempel bauen und die sibyllinischen Bücher dorthin überführen – konnte den kapitolinischen Iuppiter nicht nachhaltig schwächen: Nach Augustus` Tod wurden die libri Sibyllini an ihren alten Ort zurückgebracht. Auch Kaiser Elagabals Versuch, den syrischen Sonnengott, dessen Priester er war, 218 n. Chr. zum Hauptgott des römischen Reiches zu erheben und ihm alle anderen Götter unterzuordnen – versehen mit den Beinamen Summus Exsuperantissimus, der Höchste, Allübertreffende, übertrumpfte er in der Kulthierarchie den kapitolinischen Iuppiter – hatte nur kurze Zeit Bestand: Nach nur vier Jahren wurde Elagabal gestürzt (222) und Iuppiter kam wieder zu seinem Recht.

*** War der Staatskult Abbild der politischen Machtstrukturen einerseits, der Familien andererseits, so war auch umgekehrt der familiäre Kult Abbild des Staatskults. Wie die Priester, an erster Stelle der pontifex maximus, den Kult im Namen von Staat und Gesellschaft ausübten und die „Gemeinde“ vor dem Gott vertraten, so praktizierte der Familienvater die Verehrung der Götter im Namen der Familie. Er tat dies vor dem Familienschrein, dem Analogon zum Tempel. Und er verehrte darin seine jeweils eigenen Gottheiten: den Genius, die Lares, die Penates. Der Genius ist der Schutzgeist des Hausherrn, also eine ihm ganz individuell angehörige potestas. Er wurde als kindhafte oder zumindest kleine Gestalt dargestellt. Die Lares begegnen im ältesten römischen Kultlied, das erhalten ist, dem Lied der Arvalbrüder, einer Priesterschaft mit hoch archaischen Kultriten. E nos Lases iuvate, Auf, ihr Lases (=Laren), helft uns, heißt es hier. Sie waren wahrscheinlich chthonischer Natur, also der Erde und dem Totenkult zugewandte Dämonen; Verehrung fanden sie ebenso an Wegen und Kreuzungen wie am Hausaltar. Der Begriff Penates hängt vielleicht mit einem Zentrum des familiären Lebens, des Speisekammer, penus, zusammen, aber die Etymologie ist umstritten. Wenn die Lares als chthonisch zu deuten sind, dann erfahren sie in den Penates ihr überirdisches Supplement. Die familiären Penates konnten ganz oder teilweise mit den kapitolinischen Göttern identisch sein, die Fa-

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milie konnte aber auch andere oder ältere römische Gottheiten verehren.66 Die Abbildfunktion von privatem und Staatskult zeigt sich wieder darin, daß der Begriff Penates auch zumindest in der Literatur für die Staatsgötter benutzt wird: In Vergils Darstellung rettet Aeneas die Penates Troias und bringt sie mit sich nach Italien. Ein privates Opfer des pater familias sah meist die Spende von Wein und Weihrauch vor; es ist durch zahlreiche Abbildungen bezeugt. Wein und Weihrauch konnte der Familienvater auch in den öffentlichen Tempeln darbringen; er konnte dort auch Schlachtopfer vollziehen lassen, die Ausführung übernahmen die Priester oder Priesterdiener, um den richtigen Ritus zu garantieren. Ein wichtiger Bestandteil römischer Privatfrömmigkeit war der Kult der Ahnen. Die Ahnen, in kleinen Statuetten im Atrium vertreten, symbolisierten die fortwirkende Erinnerung an die Toten, die als Vorväter und Vorbilder über den Tod hinaus Respekt und Dank verdienen; sie bezeugten nicht den Glauben an Vergöttlichung oder metaphysische Unsterblichkeit. Um noch einmal an den Himmelsgott Iuppiter anzuknüpfen: Im römischen Pantheon besaß er kein Analogon in Form eines Unterweltgottes; es gab kein Totenreich, in dem die Geister der Verstorbenen Lohn oder Strafe empfingen. Das heißt nicht, daß die Römer die Toten für null und nichtig hielten: Sie schrieben ihnen eine Art geminderte Existenz in den Gräbern zu, hielten aber durchaus für möglich, daß sie aus ihren Gräbern zurückkehrten und den Menschen Schaden zufügten; daher war der Totenkult unter anderem von dem Interesse geprägt, solche Rückkehr zu verhindern, die Toten also in ihren Gräbern festzuhalten: Man gab ihnen bei der Bestattung kleine Mengen an Speisen und Getränken mit und brachte an den Parentalia, dem Fest des Totengedenkens im Februar, Speiseopfer an den Grabstätten dar.67 Eine wesentliche Funktion des Totenkults liegt aber auch darin, die Erinnerung (memoria) an den Toten wach zu halten und den Rang der familia durch den Rekurs auf ihre bedeutenden Ahnen zu erhöhen; diese Funktion zeigt sich deutlich im Brauch, die imagines derjenigen Vorfahren, die wichtige politische Funktionen ausgeübt hatten, bei Leichenzügen mitzuführen.68 _______________ 66

Ebenso konnten auch die Kaiser jeweils andere Götter als die der kapitolinischen Trias bevorzugen, was sich u.a. in der Darstellung von Göttern und Tempeln auf den Münzen niederschlägt; vgl. CHRIST, K., Antike Numismatik. Einführung und Bibliographie, Darmstadt 1991 3, 65. 67 Der Brauch dauert noch bei den Christen fort; Augustinus berichtet von seiner Mutter, die durch den Mailänder Bischof Ambrosius daran gehindert wird, an den Gräbern der Heiligen Weinspenden darzubringen (Confessiones 5,2,2). 68 Vgl. KIERDORF, W., Totenehrung im republikanischen Rom, in: B INDER, G./EFFE, B. (Hg.), Tod und Jenseits im Altertum (Bochumer Altertumswissenschaftliches Kolloquium 6), Bochum 1991, 71–87.

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Was dem christlichen Betrachter auffällt, ist das Fehlen einer eigentlichen Volksfrömmigkeit, eines von größeren Bevölkerungskreisen gemeinsam praktizierten Kults, wie ihn z.B. christliche Gottesdienste oder Prozessionen darstellen. Römische Religiosität beruht in erster Linie auf dem Prinzip der Stellvertretung: Die Priester sind verantwortlich für das Wohlwollen der Götter gegenüber dem Staat, der Hausvater für ihr Wohlwollen gegenüber der Familie. Dennoch gab es Manifestationen von Volksfrömmigkeit, die sog. supplicationes – gemeinsame und geordnete Massenopfer an den öffentlichen Altären. Auch sie organisierten aber gewöhnlich die Behörden, indem sie eine supplicatio ausriefen und festlegten, ob nur die Männer oder auch Frauen und Kinder teilnehmen sollten, ob nur ein Gott oder mehrere angerufen wurde und in welchen Tempeln. Livius berichtet zwar auch von einer spontanen supplicatio, in der die Volksfrömmigkeit schon vor der öffentlichen Proklamation Ausdruck fand;69 das war aber eine auffällige Ausnahme. Die Frömmigkeit des Volkes wandte sich eher den aus Ägypten, Kleinasien und Judäa importierten Religionen zu: Isis, Kybele und Attis, Mithras – und Jesus Christus. Daß diese fremden Religionen in Rom eine so fundamentale Wirkung entfalten konnten, verdanken sie vor allem drei Faktoren: der Kluft zwischen privater und öffentlicher Frömmigkeit, die den Privatkult dem Interesse der Obrigkeit entzog, solange er nicht staatsbedrohende Züge annahm;70 den Defiziten einer archaischen, in historischer Zeit durch politische, utilitaristische und philosophische Einflüsse überformten und in Ritualen erstarrten römischen Religiosität, die keine Gefühlsfrömmigkeit und keine mystische Gotteserfahrung vorsah; dem Verzicht römischer Religion auf eine Eschatologie – angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen und Krisenerfahrungen der späten Republik und frühen Kaiserzeit besonders einschneidend.

*** Betrachtet man römische Religiosität im Vergleich mit antiken Religionen oder auch dem Christentum, so ist vor allem das Fehlen von Aspekten wichtig, die für andere Religionen prägend sind: _______________ 69

Livius 3,63,5. Daß Römer längere Zeit nicht zu Attis-Priestern werden durften, hängt mit deren Kastration zusammen, die für einen römischen Bürger als unannehmbar erschien; sittlich begründet ist auch das Verbot der Isis-Mysterien und die Ausweisung des Kults aus der Stadt. Religiöse Verdikte wurden u.a. mit dem Vorwurf der Unzucht oder blutrünstiger Opfer gerechtfertigt; sie folgen zugleich der Intention, den Staatskult zu sichern und so Schaden von der res publica abzuwehren. 70

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Römische Religiosität sucht keinen Zugang zum Wesen der Götter. Ihr fehlt das spekulative Element griechischer Religionsphilosophie. Die römische Religion taugt nicht dazu, Ethik in einem von der Gottheit erlassenen Gesetzeskanon71 oder in der vorgelebten sittlichen Qualität der Gottheit zu begründen. Dieses Manko gleicht die römische Gesellschaft aus, indem sie den Moralkanon in sich selbst festmacht, im Nutzen für die Gemeinschaft und den Staat. Die römische Religion ist frei von Zügen der Mystik. Sie bietet weder Erhebung noch Trost. Es gibt keine Weltflucht in die Religion, religio ist immer auf das Diesseits bezogen. Sie besitzt auch nicht das Potential, in der Erkenntnis des Göttlichen das Menschenbild auszuformen. Römische Religion kennt die korrekte Befolgung magischer Gebote, die in der Polarität des Gelingens oder Scheiterns steht. Dieses Gelingen oder Scheitern hängt aber allein vom rituellen Handeln ab, nicht vom Glauben des Handelnden. Dieser Glaube kann vorhanden sein oder auch fehlen.72 Die römische religio kennt das beleidigte numen, das seine Hilfe verweigert. Sie kennt das numen, das durch fremde Magie stärker gebunden ist und deshalb den Feinden, den anderen, beisteht. Sie kennt nicht den eifersüchtigen Gott. Es kann fatal sein, an einem bestimmten Tag oder Ort oder zu einem bestimmten Anlaß d e n Gott anzurufen, der nicht zuständig ist. Es ist aber nicht nur unanstößig, sondern ein Gebot des Ritus, zu unterschiedlichen Anlässen unterschiedliche Gottheiten anzurufen. Und es ist außerdem immer sicherer, ein paar Götter zuviel als einen zu wenig zu verehren. Das Fehlen spekulativer Religiosität, individueller Ethik, mystischer Gotteserfahrung und religiöser Exklusivität lässt sich freilich auch in positive Formeln kleiden: Römische Religion ist diesseitsbezogen und, ungeachtet ihres magischen Charakters, pragmatisch. Sie ermuntert dazu, das Leben in der Gemeinschaft aktiv zu gestalten. Sie betreibt keinen Menschenkult. Auch Gesinnungsinquisitorik ist ihr fremd. Was der einzelne glaubt, ist ihr letztlich gleichgültig, wichtig ist seine Partizipation an den Kulten und Riten, die den Bestand der Gemeinschaft garantieren. Die Toleranz gegenüber dem individuellen Denken erstreckt sich auch auf fremde Kulte. Römische Religion duldet fremde Religiosität nicht nur, sondern bemächtigt sich ihrer planmäßig. Sie setzt auf Sicherheit, schließt das Risiko, eine wirkende Macht zu vernachlässigen, nach Kräften aus; sie weiß

_______________ 71 Allenfalls in der ganz allgemeinen Form, daß Treue, Anstand, Vaterlandsliebe etc. den Göttern lieb seien. 72 Vgl. OGILVIE, The Romans and Their Gods, 6, und BEARD/NORTH/P RICE I, X.

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sich aber auch stark genug, fremden Glauben zu steuern und sich dienstbar zu machen.73 Die Begegnung mit den Etruskern, den Griechen, den Ägyptern, dem kleinasiatischen Osten mit seiner ganz anders konstituierten Religiosität hat die Römer allerdings die besondere Natur ihrer eignen Religiosität auch als Mangel erkennen lassen. Sie reagieren darauf in einer sehr plausiblen Weise: Sie eignen sich die Vorstellung einer anthropomorphen Götterwelt mit differenziert personalen Gottheiten mit jeweils eigener Geschichte und eigenen Bildnissen an: Die Götter werden anschaulich, die numina zu anthropomorphen göttlichen Individuen umgedeutet. Der magische Charakter römischer religio und dessen politische Funktion verlangen aber zugleich die Beibehaltung der eigenen Kultriten, die sich nun auf Gottheiten richten, die einer Synthese römischen numen-Glaubens und griechisch-anthropomorpher Götterbilder entspringen. Die griechischen Göttergestalten werden auf diese Weise für die Römer zu politischen und gemeinschaftsbezogenen Göttern. Die ägyptischen und östlichen Kulte bieten dagegen ein Ventil für individuelle Frömmigkeit und Heilshoffnung. Die Taktik der Römer, fremde Kulte zu integrieren und zu instrumentalisieren, hat am Christentum mit seiner strikten Absage an jegliche Form des Polytheismus versagt; die emotionalen, ethischen und eschatologischen Defizite der römischen Religion spielen dabei eine wesentliche Rolle; es gehört aber auch zur Ironie der Geschichte, daß die rasche Ausbreitung des christlichen Glaubens nicht nur durch die religiöse Toleranz der Römer, sondern mehr noch durch die Organisations- und Kommunikationsstrukturen des römischen imperium ermöglicht wurde. Nicht verschwiegen werden soll aber auch eine Leistung, die aus den christlichen Kreisen der späteren Kaiserzeit selbst hervorging: die Bereitschaft, sich mit der hellenistischen Philosophie zu versöhnen und von einem Glauben des einfachen Volkes zur Religion auch der Gebildeten zu werden. Man könnte diese Synthese als Wiederholung der großen Synthese-Leistung auffassen, die die römische Republik leistete, als sie den eigenen ererbten Kult mit dem griechischen Götterhimmel versöhnte. _______________ 73 Aus sehr realen machtpolitischen Interessen erwächst die Religionspolitik der römischen Kaiser auch da, wo sie sich vom Polytheismus abwendet und – mittels des Christentums – eine homogene Glaubensgemeinschaft herzustellen sucht: Der eine Gott legitimiert den Herrschaftsanspruch des einen Kaisers, die einheitliche Religion stärkt die Einheit der das imperium Romanum bildenden Völker und erleichtert in diversen Aspekten den Zugriff des Staates auf den einzelnen. Zu Konzept und Scheitern des Bestrebens, die Monarchie durch die Stärkung des christlichen Monotheismus zu legitimieren, vgl. B ARCELÓ, P., Die Macht des Kaisers – Die Macht Gottes: Alleinherrschaft und Monotheismus in der römischen Kaiserzeit, in: DERS. (Hg.), Contra quis ferat arma deos? Vier Augsburger Vorträge zur Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit, München 1996, 79–101.

Friede auf Erden? Latinistische Erwägungen zur pax Augusta1 ULRICH SCHMITZER Daß Götterwelt, Religion und Politik in Rom seit der Königszeit eng zusammengehören, selbst wenn man den Terminus „Staatsreligion“ für dieses Phänomen vermeiden will, ist vernünftig nicht bestreitbar. Wie sich diese Beziehungen aber im einzelnen höchst diffizil und differenziert gestalten (und damit allzu pauschale Behauptungen hinfällig werden), das soll exemplarisch anhand der pax Augusta, einer offenkundig vom Princeps ad hoc in diese Funktion eingeführte göttliche Entität, erörtert werden. Damit ergibt sich zugleich ein paradigmatischer Blick auf die politische Funktion des römischen Pantheon (mag das auch ein primär architektonisch konnotierter Begriff sein)2 in der Zeit des Augustus (43 v. – 14 n.Chr.). Wir fragen nicht so sehr nach den politischen Voraussetzungen des durch Augustus gebrachten Friedens3 – den historischen Fakten –, sondern nach dessen Wahrnehmung, wofür zunächst v.a. poetische Äußerungen zur Friedensthematik im frühen Prinzipat stehen sollen; sodann geht es im umfangreicheren zweiten Teil um die Zeit nach der Zäsur des Jahres 17 v.Chr. sowie um die jeweils divergenten Ausprägungen der pax Augusta im Stadtbild Roms und in dessen literarischen Repräsentationen: Dabei wird der so monolithisch wirkende Block des „Augusteischen“ bei näherem Hinsehen vielgestaltig. Der letzte Teil deutet die Transformation der pax Augusta aus zeitlicher Begrenztheit in eine universale heilsgeschichtliche Utopie an. * _______________ 1

Der vorliegende Beitrag ist eine insbesondere um die rezeptionsgeschichtlichen Aspekte gekürzte, mit den notwendigsten Literaturangaben versehene Variante meiner Antrittsvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin (Januar 2004). Eine ausführlichere Publikation in monographischer Form ist in Vorbereitung. 2 Vgl. die Belege in Thes. ling. Lat. X,1, s.v. pantheus, 239,24–2404: Die frühesten Belege scheinen die Arvalakten von 58/59 sowie Plin. nat. 9,121 zu sein. 3 Eine Anthologie antiker Friedensvorstellungen bietet LANA, I., L’idea della pace nell’antichità, S. Domenico di Fiesole 1991.

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„Grundtext für die poetische Geschichtsdeutung des augusteischen Zeitalters“4 und damit speziell für die Friedensthematik ist die 4. Ekloge5 Vergils6. Sie reagiert auf die katastrophale Abwesenheit des Friedens in den Bürgerkriegen nach Caesars Tod7, eine tiefgreifende Störung des inneren Gleichgewichts in apokalyptischer Dimension. Nur göttliches Eingreifen kann diesem existenzbedrohenden Zustand abhelfen und den universalen Frieden, den Frieden auf Erden bringen. Von der Hoffnung darauf spricht Vergils Prophezeiung (4–7): Vltima Cumaei uenit iam carminis aetas; magnus ab integro saeclorum nascitur ordo. iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna, iam noua progenies caelo demittitur alto. Das Ende der alten Zeit ist gekommen, wie es die Prophetin verkündet hat. Von neuem beginnt der große Umlauf der Jahrhunderte. Schon kehrt auch die Gerechtigkeit wieder, schon das Reich des Friedensgottes Saturn, schon wird ein neues Geschlecht vom Himmel herabgesandt.

Diese neue Zeit ist untrennbar verbunden mit der Geburt eines Kindes, über dessen Identität viel (und fruchtlos) debattiert wurde, von dem aber feststeht, daß es zur Weltherrschaft berufen ist (17): pacatumque reget patriis uirtutibus orbem. Den befriedeten Erdkreis wird er mit den Tugenden des Vaters regieren.

Das besondere Interesse an dieser Ekloge bis in unsere Tage rührt nicht zuletzt her von der Nähe zum Weihnachtsevangelium, das ja ebenfalls Hirten und sodann der gesamten Menschheit „Friede auf Erden“ verheißt. „‚Die Endzeit ist also gekommen, die Geburt eines göttlichen Kindes steht bevor. Es ist dazu berufen, nach Tilgung der alten Sündenschuld die Menschheit zu erneuern, für die ein Zeitalter des Friedens anbricht. Darob herrscht in der ganzen Welt, im Himmel wie auf Erden, Freude.’ Man stel_______________ 4

SCHMIDT, E.A., Augusteische Literatur. System in Bewegung, Heidelberg 2002, 99. Vgl. als Überblick KRAUS, W., Vergils vierte Ekloge: Ein kritisches Hypomnema, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II.31.1 (1980) 604–645; G ALINSKY, K., Augustan Culture. An interpretive introduction, Princeton 1996, 90–121. 6 Siehe als Gesamtdarstellung immer noch BÜCHNER, K., P. Vergilius Maro. Der Dichter der Römer, Stuttgart 1959 (München 31978) = RE 8A,1, 1955, und RE 8A,2, 1958; außerdem HARDIE, P., Virgil (Greece & Rome, New Surveys in the Classics 28), Oxford 1998 – 20f. zur 4. Ekloge; eine zusammenfassende Darstellung im Rahmen der „Studienbücher Antike“ des Olms-Verlags durch den Verfasser ist in Vorbereitung. 7 Zur politischen Dimension der Eklogen siehe jetzt die Literatur bei LUTHER, A., Historische Studien zu den Bucolica Vergils (Österrreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 698), Wien 2002 mit einem Neuansatz der Datierung auf die 20er Jahre. 5

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le sich vor, einem Unbefangenen werde die Frage vorgelegt, welcher Text in diesen Sätzen auf seinen Wesensinhalt gebracht ist. Er würde antworten: der des Evangeliums.“ Das liest man bei Eduard Norden8, der die Querverbindungen zwischen 4. Ekloge und den messianischen Erwartungen des Alten und Neuen Testaments formgeschichtlich analysiert und auf ägyptisch-orientalische Vorstellungen zurückgeführt hat. „Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee“ wendet den Blick zwar auf das „woher?“, also nach rückwärts. Daß allerdings „den Dichter“ „die Händel dieser Welt“ nicht gekümmert hätten (144), läßt sich nur behaupten, wenn man den Kontext, das Corpus der Eklogen und die augusteische Literatur und Kunst insgesamt isolierend außer Acht läßt. Gerade die Sibyllenorakel, die auch Vergils Text zugrunde liegen, waren offenbar von besonderer Brisanz, denn nachdem Augustus die Suprematie erlangt hatte, sorgte er auch dafür, daß die unkontrollierte Zirkulation dieser Texte ein Ende hatte, indem er sie kanonisieren ließ und die für echt befundenen im Apollo-Tempel auf dem Palatin deponierte.9 Im Gegensatz zu Norden interessieren uns deshalb heute die synchronen Vernetzungen, die die Friedensthematik in das politisch-kulturelle Geflecht ihrer eigenen Zeit einbinden, und die Bedingungen, unter denen sich die Transformation dieses vielschichtigen Gebildes zu retrospektiver Eindeutigkeit vollzog. * Die Frage nach dem Frieden durchzieht leitmotivisch die gesamte augusteische Zeit.10 Am Beginn, etwa in der 16. Epode des Horaz oder den Eklogen Vergils11, steht die tiefe Kluft zwischen der Sehnsucht nach Rettung aus der Verzweiflung und der Realität der Bürgerkriegszeit, die nun schon beinahe ein Jahrhundert andauerte und einem neuen schrecklichen Höhepunkt zusteuerte. Allerdings fehlt ein umfassendes sozial- oder mentalitätsgeschichtliches Instrumentarium, um zu erkunden, wie die Stimmung war unterhalb der finanziell und politisch führenden Kreise, denen auch die Dichter ange_______________ 8

NORDEN, E., Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee, Leipzig 1924 ( 1931). 9 Vgl. anders akzentuiert NORDEN 154f. 10 An aktuellen Gesamtdarstellungen siehe B LEICKEN, J., Augustus. Eine Biographie, Berlin 1998; KIENAST, D., Augustus. Prinzeps und Monarch, Darmstadt 31999, außerdem immer noch SYMES, R., „The Roman Revolution“, Oxford 1939, nunmehr in der deutschen Neuausgabe: Die Römische Revolution. Machtkämpfe im antiken Rom, Stuttgart 2003. 11 Vgl. STROH, W., Horaz und Vergil in ihren prophetischen Gedichten, Gymnasium 100 (1993) 289–322. 2

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hörten. Die Befindlichkeit der einfachen Bevölkerungsschichten läßt sich nur indirekt ermitteln, etwa indem man aus der „hohen“ Literatur Extrapolationen über das nichtstädtische Land und die Bauern vornimmt. Ein unerwarteter punktueller Einblick ergibt sich durch die glückliche Kombination poetischer und historiographischer Quellen: Als nach Caesars Tod sein Erbe Octavian dessen Veteranen mit Ackerland zur Altersversorgung auszustatten hatte, führte das in weiten Teilen Italiens zu einer Welle von Enteignungen der alteingesessenen Bauern führte, rotteten sich die landlos Gewordenen auch in Rom zusammen, um auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam zu machen.12 Daß dies aber ein individueller Protest war, vielmehr geradezu ein Bitten um persönliche Privilegierung, das zeigt Vergils 1. Ekloge13: Der Hirt Tityrus hatte es in Rom erlangt, anders als sein Nachbar Meliboeus, seinen Besitz behalten zu können. Und dafür weiß er dem Urheber Dank (ecl. 1,40–45): {T.} Quid facerem? neque seruitio me exire licebat nec tam praesentis alibi cognoscere diuos. hic illum uidi iuuenem, Meliboee, quotannis bis senos cui nostra dies altaria fumant. hic mihi responsum primus dedit ille petenti: 'pascite ut ante boues, pueri; summittite tauros.' Was hätte ich tun sollen? Weder war es mir anderswo möglich, der Knechtschaft zu entrinnen noch so in ihrer Gegenwart hilfreich wirksame Götter kennenzulernen. Hier sah ich jenen Jüngling, Meliboeus, für den unsere Altäre alljährlich zwölfmal rauchen. Hier gab jener mir auf meine Bitte als erster zur Antwort: „Weidet wie früher eure Rinder, ihr Knaben, zieht die Stiere auf.“

Damit kommt nun plötzlich eine religiöse Dimension in das politisch induzierte Geschehen. Daß das kein Zufall ist, zumindest nicht für Vergil, das zeigt der Blick auf den Schluß des 1. Buches der Georgica, wo die Hoffnung auf ein Ende des Krieges untrennbar verbunden ist mit Octavian (Verg. georg. 1): di patrii Indigetes et Romule Vestaque mater, quae Tuscum Tiberim et Romana Palatia seruas, hunc saltem euerso iuuenem succurrere saeclo ne prohibete ... ... saeuit toto Mars impius orbe.

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_______________ 12 KEPPIE, L.J.F., Vergil, the Confiscations, and Caesar’s Tenth Legion, Classical Quarterly 31 (1981) 367–370; DERS., Colonisation and Veteran Settlement in Italy 47 – 14 B.C., Rome 1983. 13 CLAUSEN, W.V., On the Date of the First Eclogue, Harvard Studies in Classical Philology 76 (1972) 201–20; WIMMEL, W., Vergils Tityrus und der perusinische Konflikt. Zum Verständnis der 1. Ecloge, Rheinisches Museum für Philologie 141 (1998) 348–361.

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O ihr heimischen Götter unseres Vaterlands, und Romulus und Mutter Vesta, die du den etruskischen Tiber und den römischen Palatin behütest! Verwehrt doch wenigstens diesem Jüngling nicht, unserer aus den Fugen geratenen Zeit zu Hilfe zu eilen ... Auf dem ganzen Erdkreis wütet der verruchte Mars.

Wir übergehen hier die Entwicklung der folgenden Jahre (Tibull, Properz, Inschriften) und beschränken uns auf die generelle Feststellung: Die römische pax14 (abgeleitet von paciscor, einen Vertrag schließen) ist immer vom Zentrum, niemals von der Peripherie her gedacht – darin der pax Americana unserer Tage vergleichbar. Die innere Befriedung nach Bürgerkriegen (Ciceros pax civilis, Philip. 7,23) ist sekundär gegenüber der Ruhe nach der Niederringung eines Feindes, der harmonische Ausgleich außenpolitischer Interessen fällt schon gar nicht darunter, im Gegenteil: Die Klage des Britannen-Führer Calgacus in Tacitus’ Agricola (30,4) ist völlig berechtigt, aber ohne reelle Chance auf Gehör in Rom: ubi solitudinem faciunt, pacem appellant. Wo sie eine Einöde schaffen, nennen sie es Frieden.

Denn in Rom verknüpfte man das Friedensthema mit erfolgreich geführten Expansionskriegen, ja ließ dabei sogar das Motiv der Goldenen Zeit ins Spiel kommen. Das berühmteste Beispiel ist die Zukunftsschau des 6. Aeneis-Buches (791–795; 851–853): hic uir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, Augustus Caesar, diui genus, aurea condet saecula qui rursus Latio regnata per arua Saturno quondam, super et Garamantas et Indos proferet imperium ... tu regere imperio populos Romane memento haec tibi erunt artes, pacique imponere mores parcere subiectis sed debellare superbos. Dies, dies ist der Mann, den du oft und oft schon verheißen gehört hast, Caesar Augustus, aus göttlichem Stamm, der wieder die Goldenen Zeiten in die Fluren bringen wird, die einst vom latinischen Saturn regiert wurden, der über die Garamanten und Inder die Herrschaft ausdehnen wird; ... Du, Römer, denke daran, mit deinem Befehl die Völker zu lenken, dies werden deine Kunstfertigkeiten sein, und dem Frieden Gesittung zu verleihen, die Unterworfenen zu schonen, die Hochmütigen aber im Krieg niederzuzwingen.

Trotzdem: Diese poetischen Äußerungen meiden die direkte, platte Herrscherpanegyrik, sondern beziehen Augustus nur indirekt oder in futurischer Aussage bzw. konjunktivischer Aufforderung ein. Daß in dieser _______________ 14 T HOME, G., Zentrale Wertvorstellungen der Römer Bd. 2, Bamberg 2000, 85–116; außerdem Thes. ling Lat. X,1, 863,22–878,1 sowie die Dresdner „Bibliographie Römische Werte“ s.v. pax: http://www.tu-dresden.de/sulifkp/Werte/Wertbegriff1.htm#43.

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Zeit das Thema auch für hemmungsloses Herrscherlob nutzbar war, beweist der Blick auf die gleichzeitige griechische Literatur. So schreibt Philippos von Thessalonike (Anth. Pal. 6,236, Übers. H. Beckby):15 ./%   , &   ,

'(       :  %   &   

  %%  %  . )         :      

     *  &. Wir, die Schnäbel aus Erz, die seefrohen Waffen der Schiffe, Zeugen des Aktischen Kriegs, ruhen hier göttergeweiht. Sieh, schon drängt sich in uns die wächserne Gabe der Bienen, und im Kreise umher wimmelt’s vom summenden Schwarm. Danken wollen wir Cäsars vortrefflicher Staatskunst: es bringen feindliche Waffen sogar Früchte des Friedens hervor.

Während die römischen Autoren meist dem finanziell abgesicherten Ritterstand angehörten und sich (und auch dank Schützern wie Maecenas und Messalla) geistige Unabhängigkeit bewahren konnten16, waren diese griechischen Autoren sowohl auf materiellen Erfolg angewiesen als auch in den höfisch-monarchischen Denkformen des Ostens befangen. Denn wir finden Vergleichbares in Ehreninschriften für Augustus aus Halikarnass oder Priene über den Geburtstag des Kaisers. Aus letzterer sei ein Ausschnitt (in der paraphrasierenden Übersetzung Adolf von Harnacks) zitiert, woraus die messianischen Gedanken unverkennbar hervorgehen (OGIS 458): [ 

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]   …      [] $    %    . Die Vorsehung, die über Allem im Leben waltet, hat diesen Mann zum Heile der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, daß sie ihn uns und den kommenden Geschlechtern als Heiland gesandt hat; aller Fehde wird er ein Ende machen und alles herrlich ausgestalten ... In seiner Erscheinung sind die Hoffnungen der Vorfahren erfüllt; er hat nicht nur die früheren Wohltäter der Menschheit sämtlich übertroffen, sondern es ist auch unmöglich,

_______________ 15

Vgl. SCHMITZER, U., Die Macht über die Imagination. Literatur und Politik unter den Bedingungen des frühen Prinzipats, RhM 145 (2002) 281–304. 16 Vgl. W HITE, P., Promised Verse. Poets in the society of Augustan Rome. Cambridge/Mass., London 1993.

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daß je ein Größerer käme ... Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich knüpfenden Freudenbotschaften („Evangelien“) heraufgeführt ... Von seiner Geburt muß eine neue Zeitrechnung beginnen.

Hinter solchen Loyalitätsbekundungen, die den Frieden auf Erden gekommen sehen (die Anklänge zur Geburtsgeschichte Jesu sind abermals evident), bleibt auch das einzige Auftragswerk der augusteischen Dichtung deutlich zurück, das carmen saeculare des Horaz.17 17 v.Chr. ließ Augustus den alten Brauch einer Entsühnungsfeier, der ludi saeculares18, wieder aufleben und gestaltete diese zur Legitimation der eigenen Herrschaft. Nach Konsultation der Sibylle wurde die Zeit der Bürgerkriege für beendet erklärt; eine neue Ära galt als angebrochen, in der die alten Konflikte keine Rolle mehr spielen sollten, das „Ende der Geschichte“. Und so liest man in Horaz’ Festgedicht (Übers. Burger/Färber): fertilis frugum pecorisque Tellus spicea donet Cererem corona; nutriant fetus et aquae salubres et Iovis aurae. ... Quaeque vos bobus veneratur albis clarus Anchisae Venerisque sanguis, impetret, bellante prior, iacentem lenis in hostem. ... iam Fides et Pax et Honos Pudorque priscus et neglecta redire Virtus audet adparetque beata pleno Copia cornu. Reich an Früchten und Vieh möge Tellus zieren Ceres mit dem Ährenkranz. Reine Wasser, Iuppiters Lüfte mögen nähren die Saaten. ... Und was erfleht von euch mit weißer Rinder Weihung des Anchises und der Venus edler Sproß, mög er’s erlangen, dem Gegner übermächtig, dem überwundenen Feinde mild.

_______________ 17

P UTNAM, M., Horace’s „Carmen Saeculare“. Ritual Magic and the Poet’s Art, Yale UP 2001. 18 SCHNEGG-KÖHLER, B., Die augusteischen Säkularspiele (Archiv für Religionsgeschichte 4), München 2002.

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... Schon Treue und Friede und Ehre und Scham wie in alter Zeit und auch die verschmähte Tugend wiederzukehren wagen, und es erscheint segensreich mit vollem Füllhorn der Reichtum.

Dieses Jahr 17 ist für die Friedenskonzeption der augusteischen Zeit eine wichtige Zäsur. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß man19 nun aus dem politischen Begriff eine religiöse Inkarnation schuf, die den Herrscher und den Frieden untrennbar miteinander verbinden sollte, die Pax Augusta. Damit zog eine neue Gottheit in das römische Pantheon ein (die griechische Eirene scheint dabei kaum eine Rolle gespielt zu haben20, allenfalls könnte man als Vorbild an die Pax-Prägungen unter Caesar denken21). Da Augustus die Initiative dafür dem Senat zuschrieb, vermied er die Gefahr, als gefährlicher Neuerer und Unruhestifter auf dem Gebiet der Staatsreligion zu gelten – ein indirektes Vorgehen, das typisch ist für seine Herrschaftsstrategie. Die Pax steht in der Reihe von in Rom seit langem bekannten Abstraktionen, etwa dem Kult der Spes oder gar der Fortuna huiusce diei. Mit seiner Kreation steht Augustus in der Tradition der römischen Nobilität seit mittelrepublikanischer Zeit.22 Es ist also nicht nur ein monarchischer Akt, den Augustus hier vornahm, wie man leicht vermuten könnte, sondern er steht in der Kontinuität des Wettstreits zwischen den führenden gentes in Rom, nur daß das agonale Moment mit der Entstehung des Prinzipats weggefallen war. Unbestritten ist aber, daß es Augustus darum ging, alle auch nur halbwegs relevanten Götter der römischen Tradition für seine Zwecke zu vereinnahmen, von den Laren und Penaten über selbst so problematische Götter wie Bacchus und Kybele bis hin zu Iuppiter, Apollo und Mars. Letzteren beiden waren zwei der bedeutendsten Architekturkomplexe in Rom – der Palatin und das Augustusforum gewidmet. Die Pax Augusta aber zeigt, wie diese religiösen Funktionalisierungen gebündelt wurden _______________ 19

Diese vorsichtige Formulierung ist gewählt, da wir wenig Genaues über die Wege der Vermittlung politischer „Propaganda“ wissen; vgl. KOLB, A., Wege der Übermittlung politischer Inhalte im Alltag Roms, in: WEBER, G./ZIMMERMANN, M. (Hg.), Propaganda – Selbstdarstellung – Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jahrhunderts n. Chr. (Historia Einzelschriften 64), Stuttgart 2003, 137–143. 20 Vgl. B LOCH, R., Eirene, Neuer Pauly 3 (1997) 921. 21 SCHERF, J., Pax 2), Neuer Pauly 9 (2000) 455f. 22 RÜPKE, J., Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, 62; vgl. HÖLKESKAMP, K.-J., Rekonstruktionen einer Republik (Historische Zeitschrift Beiheft 34), München 2004, 71f. über die Konkurrenz der Nobilität und deren Niederschlag in der Stadtlandschaft.

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und ist so auch repräsentativ für den Umgang mit dem Götterganzen im Prinzipat des Augustus. Der für die Pax Augusta errichtete Altar soll uns nun als Monument, als Gegenstand offizieller Beschreibung und der Dichtung beschäftigen.23 * Die Ara Pacis sieht bekanntlich folgendermaßen aus: Den eigentlichen Altar umschließen auf allen vier Seiten mit Reliefs geschmückte Wände. Die Stirnseiten sind durch die beiden Eingänge durchbrochen, jeweils rechts und links davon sind großformatige Reliefs angeordnet, auf der einen Seite Mars und Aeneas, auf der anderen Tellus/Italia und Roma. Aeneas ist der opfernde Aeneas pius, nicht der kriegerische Ahnherr der Aeneaden. Auch Mars ist der den Frieden, den überwundenen Krieg im Innern symbolisierende Gott, der Ahnherr von Romulus und Remus. Der außenpolitische Aspekt zeigt sich am ehesten bei Roma, die auf erbeuteten Waffen sitzend und damit siegreich über die fremden Völker dargestellt ist: parta victoriis pax, wie Augustus selbst über die Schließung des IanusTempels schreibt (Mon. Anc. 13). Verbunden sind die beiden Stirnseiten durch die Prozessionsfriese. Die Zonen mit floralen Motiven und den eingefügten Tieren symbolisieren die jetzt wiedergekehrte Goldene Zeit. Wie es zu diesem Bau kam, liest man in den Res gestae des Augustus im Wortsinn lapidar und dem epigraphischen ȖȑȞȠȢ gemäß (Mon. Anc. 12): Cu]m ex H[ispa]nia Gal[liaque, rebus in iis p]rovincis prosp[e]re [gest]is, R[omam redi] Ti. Ne[r]one [et] P. Qui[ntilio consulibu]s, aram [Pacis A]u[g]ust[ae senatus pro] redi[t]u meo co[nsacrandam censuit] ad cam[pum Martium, in qua ma]gistratus et sac[erdotes virginesque] V[est]a[les anniversarium sacrific]ium facer[e iussit]. Als ich aus Spanien und Gallien – die Angelegenheiten waren in den Provinzen glücklich zu Ende gebracht – nach Rom zurückkehrte, unter dem Konsulat des Ti. Nero und des P. Quintilius, da beschloß der Senat für meine Rückkehr die Weihung des Altars des Augustusfriedens auf dem Marsfeld, an dem die Beamten, Priester und Vestalinnen auftragsgemäß alljährlich ein Opfer vollführen sollten.

Die Inschrift gibt Aufschluß über den Anlaß (den adventus), die Datierung (13 – 9 v.Chr.), die Lage (im Areal des Marsfeldes), den Auftraggeber und schließlich die mit den alljährlichen Opferzeremonien Betrauten. Zusammen mit dem Familiengrab der gens Iulia, dem Mausoleum, und der Sonnenuhr, dem Horologium Solarium, bildet der Altar den nördlichen _______________ 23

Aus der Fülle der Literatur siehe SIMON, E., Augustus, München 1986, 26–46; ZANKER, P., Augustus und die Macht der Bilder, München 1987, 126–130; 172–188; Kaiser Augustus und die verlorene Republik. Kat. Ausstellung Berlin 7. Juni-14. August 1988, Berlin 1988, 400–426 (S. Settis); GALINSKY, Augustan Culture, 141–155.

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Abschluß des Marsfeldes. Dieses Ensemble gehört damit neben dem Palatin und dem Augustusforum zu den drei städtebaulichen Schwerpunkten, mit denen der princeps seine Stadt dauerhaft prägte (Suet. Aug. 28,3): Vrbem neque pro maiestate imperii ornatam et inundationibus incendiisque obnoxiam excoluit adeo, ut iure sit gloriatus marmoream se relinquere, quam latericiam accepisset. Die Stadt, die nicht gemäß der Erhabenheit ihres Weltreiches geschmückt war und die durch Überschwemmungen und Brände gelitten hatte, stattete er so sehr aus, daß er sich mit vollem Recht rühmte, er hinterlasse eine Stadt aus Marmor, nachdem er sie aus Ziegeln übernommen gehabt habe.

Die Stadt wird durch Augustus nicht einfach ausgeschmückt, sie wird zur Bühne der Selbstdarstellung, vor allem durch die Monopolisierung der Bilderwelt und damit der Imagination. Angesichts der Perfektion, mit der Augustus das Spiel mit Assoziationen und eindringlichen Symbolen beherrschte, wäre es naiv zu glauben, er hätte den Ort seiner Selbstdarstellung etwa nur nach Grundstücksverfügbarkeit gewählt. Das Marsfeld ist das genuine Areal des Kriegsgottes, der dem Friedensaltar Heimstatt bietet. Das entspricht auch der dort verlaufenden Stadtgrenze, dem geheiligten pomerium, also der Grenze zwischen drinnen und draußen, zwischen Krieg und Frieden (domi militiae) mit der zugehörigen Scheidung der magistratischen Kompetenzen und der ritualisierten passage zwischen beiden Sphären etwa im Triumphzug. Es wird außerdem zum Symbol der Beherrschung der Zeit, der Tages- und Jahreszeit im Horologium, der Lebenszeit im Mausoleum, das in der memoria die Ewigkeit des Kaiserhauses sicherte, schließlich zeigt sich die (politisch heikle) Verwischung der Grenze zwischen Privat- und Staatssphäre. Auch der Tatenbericht ist Teil der Inszenierung. Das Original stand auf zwei Stelen vor dem Augustusmausoleum. Die epigraphische Omnipräsenz24 des Princeps in Rom führte in diesem Fall sogar zur Selbstkontrolle: Der Betrachter konnte gewissermaßen die Gebrauchsanweisung der Ara Pacis mit der Realität vergleichen. Und wenn man den Blick etwas weitet, so ergibt sich eine Sichtverbindung zwischen diesem Ensemble und dem von Agrippa errichteten Bau des Pantheon, zumal neuere archäologische Befunde zeigen, daß die Nordausrichtung zur ursprünglichen architektonischen Konzeption zählt. Solche Sichtachsen sind für die römische Religion traditionellerweise ohnehin von großer Bedeutung.25 Ohne in die Diskussion über die tatsächliche Funktion des Pantheon einsteigen zu wollen – zweifelsfrei ist _______________ 24 ALFÖLDY, G., Augustus und die Inschriften: Tradition und Innovation. Die Geburt der imperialen Epigrafik, Gymnasium 98 (1991) 289–324. 25 Siehe RÜPKE, Religion, 176.

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allerdings, daß Agrippa Augustus in eine göttliche Sphäre rücken wollte –, läßt sich demnach gewiß festhalten, daß die gens Iulia, die Beherrschung der Zeit, der Friede des Augustus und die Gesamtheit der Götter in engem Zusammenhang untereinander stehen. * Der genuine literarische Ort der Begegnung von Monument und Text ist aber die expositorische Beschreibung, die Ekphrasis, die das Bildwerk zur Sprache bringt und die verschiedenen Aussagemodi überschneidet. Solche Ekphraseis haben in jüngerer Zeit mit Blick auf die aristotelische Spannung zwischen Erzählung und Beschreibung verstärktes literaturwissenschaftliches Interesse auf sich gezogen26, sei es als Gegenstand der Rhetorik, sei es in narrativen Texten, wo sie ein retardierendes, das Geschehen kommentierendes Moment darstellen. Geradezu eine Aneinanderreihung solcher Ekphraseis sind Ovids Fasti, der gelehrte poetische Kommentar zu den ersten sechs Monaten des römischen Kalenders und seinen staatsreligiösen Aitiologien27 – tempora cum causis (1,1). Ovid hatte mit der programmatischen Ankündigung begonnen (1,13):28 Caesaris arma canant alii, ego Caesaris aras. Von Augustus’ Kriegen mögen andere singen, ich singe von Augustus’ Altären.

Nun sorgt tatsächlich ein Altar für den jüngsten Zuwachs des Festkalenders, die Ara Pacis mit den alljährlich am Weihetag, am 30. Januar, stattfindenden Feiern. Die einschlägige Passage ist in drei Abschnitte gegliedert: Sie beginnt mit einer Orts- und Datumsangabe (1,709–722):29 Ipsum nos carmen deduxit Pacis ad aram: haec erit a mensis fine secunda dies. Das Gedicht selbst hat uns zum Altar des Friedens weggeführt: Dies wird der zweite Tag vor dem Ende des Monats sein.

Es folgt die Anrede der den Tag und den Ort beherrschenden Gottheit selbst: _______________ 26 Vgl. die Literatur bei SCHMITZER, U., Praesaga ars. Zur literarischen Technik der Ekphrasis bei Valerius Flaccus, WJA NF 23 (1999) 143–160. 27 Vgl. als Überblick SCHMITZER, U., Ovid, Hildesheim 2001, 141–174; außerdem DERS., Neue Forschungen zu Ovid, Gymnasium 109 (2002) 143–166; Teil 2, Gymnasium 110 (2003) 147–182; Teil 3 im Druck. 28 Vgl. MERLI, E., Arma canant alii. Materia epica e narrazione elegiaca nei fasti di Ovidio (Studi e testi 16), Firenze 2000. 29 Siehe jetzt die Einzelerläuterungen bei Ovid, Fasti I. A Commentary by Steven J. Green (Mnemosyne Suppl. 251), Leiden et al. 2004.

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frondibus Actiacis comptos redimita capillos, Pax, ades et toto mitis in orbe mane. dum desint hostes, desit quoque causa triumphi: tu ducibus bello gloria maior eris. sola gerat miles, quibus arma coerceat, arma, canteturque fera nil nisi pompa tuba. horreat Aeneadas et primus et ultimus orbis: siqua parum Romam terra timebat, amet. Das Haar bekränzt mit dem Laub von Actium, komm her, Friede, und bleibe mild auf dem ganzen Erdkreis. Wenn nur die Feinde fehlen, dann mag auch der Grund für einen Triumph fehlen. Du wirst für die Feldherrn ein größerer Ruhm sein als der Krieg. Nur die Waffen soll der Soldat tragen, mit denen er Waffen in die Schranken weist, mit der wilden Tuba soll nichts als der Festzug musikalisch begleitet werden. Vor den AeneasSprößlingen soll der Erdkreis von Ost bis West schaudern: Und wenn denn ein Land zu wenig Rom gefürchtet, dann soll es nun lieben.

Am Ende steht in einer weiteren Apostrophe die kultische Anweisung: tura, sacerdotes, Pacalibus addite flammis, albaque perfusa victima fronte cadat; utque domus, quae praestat eam, cum pace perennet ad pia propensos vota rogate deos. Weihrauch, ihr Priester, gebt zum Feuer des Friedens, und ein weißes Opfertier soll mit blutüberströmter Stirn fallen. Und daß das Haus, das ihn gewährt, zusammen mit dem Frieden ewig dauere, dafür bittet bei frommen Opfern die geneigten Götter.

Die Fasti standen lange Zeit im Abseits der Ovid-Forschung und dienten allenfalls Religionshistorikern als Steinbruch für Faktenmaterial. Seit Beginn der 90er Jahre hat aber besonders die italienische und angelsächsische Forschung das Werk als Literatur neu entdeckt, die genuin poetischen Verfahren nachgezeichnet, sowie den Platz im „augusteischen Diskurs“30 und der römisch-hellenistischen Literaturgeschichte intensiv diskutiert. Die Ara Pacis-Passage – die einzige erhaltene poetische Auseinandersetzung mit diesem Monument31 – beginnt wie eine Fremdenführung: Das Gedicht selbst übernimmt die Leitung (vergleichbar ist trist. 3,1) und „führt weg“: Das kann in dieser singulären Wendung eine Digression signalisieren, oder es verweist auf die exzentrische Lage fern ab vom Stadtmittelpunkt, zumal das Gedicht die Bewegung nachvollzieht: Der vorheri_______________ 30

Grundtext dieses Ovid-Verständnisses ist B ARCHIESI, A., The Poet and the Prince. Ovid and Augustan Discourse, Berkeley et al. 1997 (ital. Original 1994). 31 Siehe als Anthologie der bei Ovid behandelten Bauwerke B OYLE, A.J., Ovid and the Monuments. A Poet’s Rome (Ramus Monographs 4), Bendigo 2003; die Quellen finden sich zusammengestellt bei T ORELLI, M., Pax Augusta, Ara, in: STEINBY, E.M. (Hg.), Lexicon Topographicum Urbis Romae 4, Roma 1999, 70–74.

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ge Eintrag (27. Januar) hatte dem im Herzen Roms, auf dem Forum, gelegenen Dioskurentempel gegolten. Der Dichter, der sich mitsamt dem Leser dieser Führung anvertraut hat (das ist im nos eingeschlossen), greift dann zu einer doppelten Apostrophe, die sich zum einen an die das Monument eponym beherrschende Gottheit, zum anderen an die für den Kult zuständigen Priester wendet. Solche Hinwendungen zu sekundären Adressaten lassen den Leser Zeuge eines Gesprächs zwischen dem Dichter und seinen poetischen Geschöpfen werden und Belehrung erfahren. Wer soll nun belehrt werden? Gewiß nicht der realienkundlich interessierte Leser unserer Tage, der deshalb möglicherweise enttäuscht die Lektüre beendet. Vielmehr geht es um das literarische Publikum in Rom, das die Ara Pacis als spektakuläre Bereicherung der Stadt kannte. Ovid schreibt keinen Reiseführer für Fremde, keinen Strabon oder Baedeker, auch keinen fiskalischen Sachkatalog mit buchhalterisch-pedantischer Vollständigkeit. Seine Fasti sind als Dichtung eingebunden in einen intertextuellen Referenzrahmen. Dieser konstituiert sich zunächst durch den Rekurs auf die vergilischen Friedenstexte, auf die 4. Ekloge und das 6. Aeneis-Buch, zu denen sie im Verhältnis von Verheißung und Erfüllung stehen: Die Friedenssehnsucht der Bürgerkriegszeit ist ebenso gestillt wie die Erwartung der römischen Universalherrschaft. Sie nehmen weiter Bezug auf die Res gestae mit ihren kultischen Anweisungen: Entweder gab es, wie seit Kornemann immer wieder vermutet wurde, ein „Urmonument“, das in mehreren redaktionellen Schritten bis zur endgültigen Gestalt erweitert wurde und Ovid schon lange vor dem Tod des Augustus bekannt war32, oder unsere Passage stammt aus der zweiten Auflage der Fasti, entstanden erst nach dem Tod des Princeps. Fest steht aber: Als Ovid in der Verbannung das erste Buch überarbeitete, war ihm Augustus’ Inschrift bekannt und als Folie nutzbar. Wenn man sich noch weiter von solchen stets ein wenig quellenkritisch-positivistisch anmutenden Prioritätsfragen löst, wird das Verhältnis wechselseitiger Dialogizität der beiden Texte umso deutlicher: Sie gehören zum intertextuellen Geflecht, das die augusteische Zeit durchzieht. Wie Augustus, so geht es Ovid mit der poetischen Topographie der Fasti um die Inbeschlagnahme signifikanter Plätze, nur mit den spezifischen Mitteln der Dichtung. Das erstreckt sich beispielsweise auch auf die Organisation des 1. Fasti-Buches: Es hatte begonnen mit der langen Unterredung zwischen dem Dichter und dem Gott Ianus, dem Gott des Anfangs, aber auch dem Gott zwischen drinnen und draußen, der wie die Ara Pacis _______________ 32 Siehe KORNEMANN, E., Mausoleum und Tatenbericht des Augustus, Leipzig–Berlin 1921, 34; RAMAGE, E.S., Nature and Purpose of Augustus „Res Gestae“ (Historia Einzelschriften 54), Stuttgart 1987, 132–135.

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gemäß römischem Denken die Grenze zwischen Krieg und Frieden verkörperte. Das hatte Augustus durch die Erfindung eines vorgeblich altrömischen Rituals, der Schließung der Türen des Ianustempels, in eigenem Interesse demonstriert. Die Ara Pacis aber ist mit ihrer für die traditionelle Tempelarchitektur ungewöhnlichen Zweitürigkeit eine Adaption des Ianustempels, so daß Ovid auch auf diese indirekte Weise den Kreis des ersten Buches, des Friedensbuches, schließt. Es ist demnach geradezu die Parallelaktion zum politischen Projekt der pax Augusta, die pax Ovidiana, deren Organisator nicht der Princeps, sondern der poeta ist. Wenn Augustus versuchte, die Stadt Rom zu einem Text, zu seinem Text umzuschreiben33, dann wird sie durch Ovid zum Palimpsest, und das in einem ganz anderen Sinn als in Sigmund Freuds berühmten Vergleich des menschlichen Unterbewußten mit den verschiedenen Schichten der Stadt Rom. Es geht nicht um die ungeschiedene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, vielmehr wird unter der Gegenwart die historische Dimension, die Gewordenheit der Stadt, sichtbar. Und diese Gegenwart ist nicht ohne Fallstricke: Während Augustus im Bildprogramm wie in den Res gestae direkte Hinweise auf die Bürgerkriege sorgsam meidet, bekränzt Ovid seine Pax mit dem Lorbeer von Actium.34 Das ist auch tatsächlich der einzige von Augustus dauerhaft errungene Sieg; die außenpolitische Lage wurde gerade in der Entstehungszeit der Fasti wieder prekär, so daß die Triumphe und imperatorischen Akklamationen – nimmt man die Worte Ovids ernst – so etwas wie Niederlagen darstellen, gerade weil Augustus das Prestige der Triumphe für sich und sein Haus reserviert hatte. Seitdem der Bau der Ara Pacis begonnen worden war, hatte es fünf Triumphe gegeben (einen des Drusus, drei des Tiberius und einen des Germanicus), vier davon über die Germanen – tam diu Germania vincitur, könnte man beinahe mit Tacitus sagen. Ähnlich zweischneidig und damit typisch für die Fasti ist, wenn Ovid das Attribut Augusta nur flüchtig per Allusion im letzten Distichon erwähnt, wenn die dynastische Relevanz des Weihedatums völlig übergangen wird (der 30. Januar war zugleich der Geburtstag Livias), wenn das notorisch zerstrittene Kaiserhaus als ganzes mit der Garantie des Friedens assoziiert wird.

_______________ 33 Vgl. SCHMITZER, U., Rom in der (nach-)antiken Literatur. (Re-)Konstruktion und Transformation der urbanen Gestalt der Stadt von der augusteischen Zeit bis zur Moderne, Gymnasium 112 (2005) – im Druck. 34 Siehe generell GURVAL, R.A., Actium and Augustus. The Politics and Emotions of Civil War, Ann Arbor 1995 (unsere Stelle nur en passant in 14,24).

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Dieser Befund latenter Subversität35 gilt auch für einen weiteren zentralen ideologischen Aspekt: Das große Thema der Ara Pacis ist das politische Ritual, mittels dessen der Friede erst zum Augustusfrieden wird, betonen doch die beiden Prozessionsreliefs den Vorrang der kaiserlichen Familie. Allerdings haben die dargestellten Szenen keine direkten Pendants in der Realität. Sie sind idealtypische Prozessionen, die aktuell die concordia des Kaiserhauses gerade in einer Phase innerer Spannungen demonstrieren sollen und zudem ein künftiges monarchisches Ritual vorwegnehmen. Denn etablierte Herrschaftssysteme, vor allem Monarchien, aber auch die römische Republik, verfügen über ein ausgeprägtes System von Ritualen. Der Prinzipat des Augustus jedoch ist durch seinen Übergangscharakter geprägt: nicht mehr Republik, noch nicht gefestigte Monarchie. Augustus mußte darum bemüht sein, sein eigenes Ritualsystem aufzubauen. Egon Flaig hat jüngst die Auswirkungen solcher Bestrebungen auf die Ikonographie am Verhältnis von traditionellem aristokratischen Begräbnis und Augustusforum beleuchtet.36 Die Prozessionen der Ara Pacis sind ein vergleichbares Dokument solch veränderter Semantik. Sie stellen die Angehörigen des Kaiserhauses gleichberechtigt neben die führenden Priesterschaften der Stadt, noch dazu in der gleichen, zwischen Iuliern und Claudiern geschiedenen Weise wie beim symbolträchtigen Leichenbegängnis für Marcellus 23 v.Chr. Die beiden Prozessionsfriese gehören also zu Augustus’ Suche nach adäquaten Ausdrucksformen für die neue Lage. Ovid geht demgegenüber seine eigenen Wege. Die pompa, von der er spricht, ist nur der Festzug der Priester, die Einbindung des Augustus und der Seinen ist nicht einmal indirekt genannt. Die ritualisierten Triumphzüge werden sogar explizit abgelehnt. Und noch etwas fehlt: Livia, die Gattin des Augustus, an deren Geburtstag der Altar demonstrativ eingeweiht wurde, ist von Ovid mit keiner Silbe bedacht. Diese Aussparungen korrespondieren mit der bereits erwähnten Betonung der peripheren Lage des Altars. Diese Unterschiede zwischen den Intentionen des Augustus und Ovids poetischer Version setzten sich auch in der im engeren Sinn ekphrastischen Passage fort. Wollte man versuchen, daraus den Altar zu rekonstruieren, er sähe in einem auf dem Text fußenden Modell im Kern wohl folgendermaßen aus: Eine Pax spielte dann die Hauptrolle im Bildprogramm, was sich mit dem numismatischen Befund ohne weiteres vereinbaren ließe, etwa der _______________ 35 Vgl. auch P ASCO-PRANGER, M., Added Days. Calendrical Poetics and the JulioClaudian Holidays, in: HERBERT-BROWN, G. (Hg.), Ovid’s Fasti. Historical Readings at its Bimillennium, Oxford 2002, 271–272. 36 FLAIG, E., Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom (Historische Semantik 1), Göttingen 2003, 94–98.

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Cistophorenprägung von 28 v.Chr. aus Ephesus mit einer von triumphalem Lorbeer umgebenen Pax, deren Attribute Herd und caduceus das bürgerliche Wohlergehen bezeichnen (Gell. 10,27,3: Q. Fabius, imperator Romanus, dedit ad Carthaginienses epistulam. ibi scriptum fuit populum Romanum misisse ad eos hastam et caduceum, signa duo belli aut pacis).37 Diese siegreiche Pax wäre als zentral zu denken, umgeben von römischen Soldaten und unterworfenen Barbaren, außerdem wären ein oder mehrere Repräsentanten des Herrscherhauses marginal einzubeziehen. In der Tat gibt es Kunstwerke aus augusteischer Zeit, die solchen Vorgaben eher entsprächen, wie die Augustusstatue von Primaporta mit der Tellus und dem römischen Sieg auf dem Brustpanzer oder die Gemma Augustea mit Roma und Augustus in der Mitte. Ein weiteres Beispiel ist ein Sardonyx-Kameo aus der Zeit des Tiberius, der die Göttin Pax mit Caduceus und Füllhorn zeigt (soweit auch die Beschreibung bei Simon, Augustus, 235), wobei die Göttin mit einem sieghaften Lorbeerkranz bekrönt ist. Allem Anschein nach gibt es eine zeitliche Differenz zwischen den poetischen Äußerungen und der staatlichen Repräsentation. Die reale Ara Pacis ist viel eher mit dem carmen saeculare des Horaz vergleichbar, nicht nur was die in Bild und Text dargestellten Elemente der Friedensthematik anbelangt, sondern auch hinsichtlich ihres abschließenden Charakters: Sie blicken beide zurück, erklären eine düstere Epoche für beendet, weisen aber keine Zukunftsperspektive, und wenn, dann nur im Sinne des „Ende der Geschichte“-Konzepts. Die Fasti dagegen setzen sich mit dem Resultat auseinander, geben der von Augustus für seine „Gute Herrschaft“ reklamierten Pax Autonomie und eröffnen so die Debatte neu. Die Fasti sind das Gedicht, an dem Ovid am längsten und als letztem gearbeitet hat. In ihrer heute vorliegenden Gestalt sind sie erst nach dem Tod des Augustus entstanden. Verbannt seit 8 n. Chr. nach Tomi, den Ort der Letzten Welt am Schwarzen Meer, hatte Ovid festgestellt, daß dort die Barbaren unbeeindruckt von der pax Augusta agieren und das Imperium Romanum bedrohen konnten. Die Exilelegien, die Tristia und die Epistulae ex Ponto, in denen er seine Erfahrungen schildert, sind der Gegentext zu den Fasti. Der Friede auf Erden erwies sich auf die Probe gestellt als bitter dekouvrierte Illusion. Die Ara Pacis ist, wie gesagt, die steingewordene Manifestation und Festschreibung eines langen Prozesses hin zur Eröffnung des „Zeitalters des Friedens“ (Zanker 172). Doch sie ist in vergleichbarer Weise wie die Dichtung vom Frieden auch ein differenziertes und interpretationsbedürftiges Gebilde, das mehrere Verständnisebenen hat: die direkte politische Aussage, die der Senat mit der Dedikation verband und die auch der _______________ 37

Diese und andere Belege finden sich bequem zugänglich in der Numismatischen Bilddatenbank Eichstätt: http://www.ifaust.de/nbe/.

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tieferem Kunstverständnis abholde Flaneur auf dem Marsfeld begriff, und im Gegensatz dazu der Reiz für den Kenner. Dieser konnte die Feinheiten würdigen, die Gleichzeitigkeit eigentlich ungleichzeitiger Stile, mit denen klassische (z.B. den Parthenonfries adaptierende) und hellenistische Elemente vereinigt wurden, so daß eine neue Semantik der augusteischen Kunst entstand. Kurz, sie repräsentiert die Zeichenhaftigkeit von Augustus’ städtebaulichem und künstlerischem Konzept in nuce. Dieses politische Zeichensystem des Prinzipats steht den autonomen semantischen Systemen der augusteischen Kunst und Literatur gegenüber. Für Letztere liegen seminale Studien vor, für die Kunst von Tonio Hölscher38, für die Literatur nunmehr von Ernst A. Schmidt, der die augusteische Literatur als „System in Bewegung“ (s.o.) sieht. Wir stehen erst am Anfang eines Prozesses, der genuin interdisziplinär ist und hoffentlich zum tieferen Verständnis der wechselseitigen Beziehungen führt. * Die augusteische Zeit ist kein totales oder totalitäres Ganzes (mit einem Reichspropagandaminister ante verbum), sondern sie ist geprägt durch Polyphonie, die mehr als nur „two voices“ enthält. Daß dies grundsätzliche Loyalität nicht ausschließt, sondern sogar voraussetzt, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht.39 Hier gilt es nur den prinzipiellen Unterschied zwischen offiziellen Verlautbarungen und der Staatskunst einerseits und der autonomen Literatur andererseits festzuhalten, und nicht durch den Rekurs auf stoffliche Gemeinsamkeiten zu verschleiern. Denn Vergils private Hirtendichtung, Tibull und Horaz’ Carmen saeculare sind der Staatskunst zeitlich und inhaltlich voraus, ja scheinen Maßstäbe für das Friedensthema gesetzt zu haben. Die erste große architektonische Gesamtanlage, der Palatin (eröffnet um 23 v.Chr.) ist dagegen noch vom Sieg- und Bestrafungsgedanken geprägt. Erst die Ara Pacis mit ihrem Platzensemble und das Augustusforum sprechen vom überwundenen Krieg und bedienen sich dabei auch in der Bildersprache Vorstellungen, die von der Literatur vorgeprägt sind. Daß Augustus das Vorhandene nutzte, entspricht seiner Strategie des Konsenses, die nach dem polarisierenden (und ermordeten) Iulius Caesar der Garant für den anhaltenden Erfolg war. Zugleich kanonisierte er damit die Gedanken- und Bilderwelt, was wiederum Ovid zu einem Alternativkonzept provozierte. So gesehen ist die gesamte augusteische Zeit ein dialogisches, sich selbst veränderndes System, keine monolithische Einheit. _______________ 38 39

HÖLSCHER, T., Römische Bildersprache als semantisches System, Heidelberg 1987. SCHMITZER, Macht über die Imagination, passim.

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* Dennoch hat sich ein anderes Bild der augusteischen Zeit im kulturellen Bewußtsein des Abendlandes festgeschrieben. Das ist, um nicht mißverstanden zu werden, keine Kritik am Rezeptionsprozeß, denn die Rezeption hat gegen ihre Kritiker immer recht, sondern lenkt den Blick auf die Spannung von Realität und deren Wahrnehmung. Der erste Erfinder, der ʌȡ‫ޒ‬IJȠȢ İ‫ۻ‬ȡİIJȒȢ, nicht nur der pax Augusta, sondern auch der augusteischen Eindeutigkeit überhaupt ist Augustus: Es war eine seiner genialsten und weitreichendsten Erfindungen. Richard Thomas hat gezeigt, wie die Botschaft von Vergils Dichtung von Anfang an, unter aktiver Förderung des Augustus, auf augusteische Eindeutigkeit hin interpretiert und auch umgeschrieben wurde und wie sich das bis in die Gegenwart fortsetzt, indem nicht ins Bild passende, ambivalente Züge ignoriert, athetiert oder hermeneutisch retuschiert werden.40 Dies läßt sich aber auch als Metapher für die augusteische Zeit insgesamt wie für die pax Augusta als epocheprägendes Merkmal nehmen. Die Konstruktion der Regierungszeit des Augustus als saeculum Augustum (Suet. Aug. 10,3) ist einer der lehrreichsten Transformationen der Antike. Die Nachwelt hat es Augustus gerne geglaubt, daß er den Frieden in die Welt gebracht hat.41 Auch die Christen stimmten in den Chor der Bewunderer ein. Schon das Lukas-Evangelium setzt die Geburt des Messias und die Regierungszeit des Augustus in einen Kausalnexus ( /             *     )   (  &      .) und betont in Abkehr von radikalen frühchristlichen

Strömungen die Loyalität der neuen Religion zum römischen Staat. Hatte Augustus sich selbst und seine Politik in enge Verbindung mit der (paganen) religiösen Sphäre gesetzt, so macht es nun auch Christen keine Schwierigkeit, ihn geradezu in das Heilsgeschehen einzubeziehen. Dafür stehen als Beispiel die an Mark Aurel gerichteten Worte des Melito von Sardes (Euseb. Eccl. Hist. 4,26,8):               ’              *  %  ,    &      (       ,            $*         . Und zum stärksten Beweise, daß unsere Religion zugleich mit der so glücklich begonnenen Monarchie zum Wohle derselben aufgeblüht, dient der Umstand, daß diese seit der Regierung des Augustus von keinem Unglück betroffen worden ist, sondern daß im Gegenteil nach dem allgemeinen Wunsche alles nur deren Glanz und Ruhm vermehrt hat.

_______________ 40

THOMAS, R., Virgil and the Augustan Reception, Cambridge 2001. KLEIN, R., Das Bild des Augustus in der frühchristlichen Literatur, in: VON HAEHLING, R. (Hg.), Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und Ablehnung, Darmstadt 2000, 205–236. 41

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Und gänzlich zur Synthese kam es am Karfreitag des Jahres 325. In einem Schreiben an die Synode von Antiochien schuf Kaiser Konstantin die erste christliche Deutung von Vergils 4. Ekloge, die damit auch für die christliche Rezeption der pax Augusta zum Grundtext wird – ein kurzer Ausschnitt (Euseb., Constantini imperatoris oratio ad sanctum coetum 19,3f., 8):   2%  * ,  ’ ,   

   * 1   ,                       ,   3 +    *       '4    :

./ $      & .            5  : 0 -  ,   &   .   &   ;     : $6 )       &, )       0% . …   &         & ’      ,    %   *          ’ $1     7 

… Auf Augustus folgte Tiberius und zu dessen Zeit erst leuchtete die Gegenwart des Erlösers auf, verbreitete sich das Geheimnis seiner heiligen Religion und erstand das neue Geschlecht des Volkes, von dem, wie ich glaube, der Fürst der römischen Dichter singt: Drauf wird ein neues Geschlecht von Menschen dem Erdkreis sich zeigen: Und wiederum in einer der bukolischen Dichtung ganz fremden Weise: Laßt von großer Kunde uns singen, sizilische Musen! Was ist deutlicher als dies? Er setzt ja hinzu: Schon ist zum Ende gekommen der Spruch des Orakels von Kumä und er meint mit der Kumäerin offenbar die Sibylle ... Wir erkennen da, daß dies deutlich und dunkel zugleich in allegorischer Weise ausgesprochen ist; denn denjenigen, die tiefer die Bedeutung der Worte zu erforschen suchen, wird die Gottheit Christi vor Augen geführt, doch verhüllt der Dichter die Wahrheit.

Damit ist nicht nur die Synthese vollzogen, die über die Antike und das Mittelalter hinweg bis in die Neuzeit Bestand haben sollte, sondern auch als rezeptionsgeschichtlicher Treppenwitz in neuer Weise eine Verbindung hergestellt, die aus Sicht der modernen Philologie und Religionsgeschichte genetisch besteht: Vergils 4. Ekloge und das Weihnachtsevangelium stammen aus demselben ägyptisch-orientalischen Kontext der messianischen Heilserwartungen, die sich in den Jahrzehnten um Christi Geburt verdichtet hatten.

Urchristliche Religion

„Abba, Vater, alles ist dir möglich“ Das Gottesbild der synoptischen Evangelien REINHARD FELDMEIER

1. Jesus Christus als das Bild Gottes. Hinführung Die bisherigen Beiträge haben deutlich gemacht, welche Spannung in der Gottesfrage steckt, auch welches Konfliktpotential. Um so mehr überrascht es, daß dieses Thema, das ja eigentlich das Thema der Theologie schlechthin ist, von dem sie ihren Namen hat – Theologie als verantwortete Rede von Gott –, in der neutestamentlichen Exegese eher ein Schattendasein fristet. Erst in jüngerer und jüngster Zeit sind einige Spezialuntersuchungen und Sammelbände dazu erschienen1; auch in den neutestamentlichen Theologien wird diese Frage eher am Rande erörtert. Das hängt sicher mit einer anderen überraschenden Beobachtung zusammen: Gott kommt in den Evangelien kaum vor. Gott kommt kaum vor, wenn man unter Vorkommen sein direktes Auftreten, sein Eingreifen und Handeln meint. Nur zweimal tritt er direkt auf, zumindest hören wir seine Stimme, nämlich bei Jesu Taufe (Mk 1,11 par.) und bei dessen Verklärung (Mk 9,7 par.). Da aber besteht die Pointe der himmlischen Stimme gerade darin, daß Gott von sich weg verweist, hin auf den Menschen Jesus von Nazareth. Am Beginn des Evangeliums widerfährt dies Jesus allein, wenn der Himmel zerreißt, der Geist auf ihn herabfährt und die himmlische Stimme ihm kundtut: „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ Bei der Verklärung wird dieses Bekenntnis Gottes zu seinem Sohn vor den drei anwesenden Jüngern wiederholt, jetzt als Proklamation in der dritten Person und mit explizitem Verweis an diesen Sohn: „Dies ist _______________ 1 Spezialuntersuchungen: KLUMBIES, P.-G., Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext (FRLANT 155), Göttingen 1992; G UTTENBERGER, G., Die Gottesvorstellung im Markusevangelium, Berlin (u.a.) 2004; SADANANDA, D. R., The Johannine Exegesis of God. An Exploration into the Johannine Understanding of God (BZNW 121), Berlin (u.a.) 2004; Sammelbände: KLAUCK, H.-J. (Hg.), Monotheismus und Christologie. Zur Gottesfrage im hellenistischen Judentum und im Urchristentum, Freiburg (u.a.) 1992; B USSE, U. (Hg.), Der Gott Israels im Zeugnis des Neuen Testaments, Freiburg (u.a.) 2003; POPKES, W./BRUCKER, R. (Hg.), Ein Gott und ein Herr. Zum Kontext des Monotheismus im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 2004.

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mein geliebter Sohn. Auf ihn sollt ihr hören.“ Nur hier, in diesem Menschen Jesus von Nazareth, dem „geliebten Sohn“, ist Gott selbst zu finden. So verstehen dies offenbar auch die übrigen neutestamentlichen Schriften. Programmatisch leitet etwa das Johannesevangelium seine Darstellung der Geschichte Jesu Christi mit den Worten ein, daß dieser uns den Gott, den noch nie jemand gesehen hat, dargestellt hat (Joh 1,18). Entsprechend kann dann Jesus auch in der Briefliteratur als das     , als das Bild Gottes bezeichnet werden – so von Paulus in II Kor 4,4. Der Kolosserbrief, das Schreiben eines Paulusschülers, präzisiert dies noch: Der „Sohn, dem seine Liebe gilt“ (Kol 1,13) ist das Bild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). Der Hebräerbrief verbindet diesen Verweis auf Jesus Christus mit einer ganzen Offenbarungstheologie: Gott hat im Sohn zu uns gesprochen, so Hebr 1,2 f., in dem Sohn, der Abglanz von seiner Herrlichkeit und Abbild seines Wesens ist. Bei der Frage nach dem Gottesbild der Evangelien werden wir also verwiesen auf den im Evangelium portraitierten Gottessohn. Allein – was ist dies für ein Bild? Wie wird denn hier Gott dargestellt – in jenen Erzählungen von einem galiläischen Bauhandwerker, der nach kurzer Wirksamkeit als Wanderprediger am Kreuz hingerichtet wurde? Mit dem, was zu dieser Zeit an Götterbildern üblich war, mit den ikonographischen wie den literarischen, hat dies wenig gemein. Hier kommt kein Gott zur Darstellung. Selbst wenn man einige außergewöhnliche Taten, die von diesem Jesus auch berichtet werden und von denen gleich noch zu sprechen sein wird, als Ausdruck einer gewissen göttlichen Macht deutet, die hier am Werk ist – die Passion und der elende Tod am Kreuz scheinen jede Behauptung der Göttlichkeit dieses Menschen Jesus geradezu sinnfällig zu widerlegen. Das ist es, was schon der erste große Kritiker des Christentums, der Mittelplatoniker Kelsos, zwar polemisch-penetrant, aber durchaus nicht falsch hervorgehoben hat.2 Und was der Denker mit Argumenten tut, das tun einfachere Gemüter mit Karikaturen: Die älteste Kreuzesdarstellung ist nicht zufällig ein Spottkruzifix, das die Anbetung eines gekreuzigten Esels zeigt, versehen mit der Unterschrift: Alexamenos (offenbar ein christlicher Mitsklave) betet seinen Gott (!) an. Das Bild, das uns nach dem Zeugnis des Neuen Testaments den unsichtbaren Gott zeigen soll, scheint diesen eher zu verstellen. Zumindest sieht man hier keine göttliche Souveränität dargestellt, „Menschen verachtend und des Verhängnisses spottend“, um noch einmal eine Bedingung des Kelsos für ein anständiges Götterportrait zu zitieren.3 Die Evangelien erzählen vielmehr die Geschichte eines Menschen, eines Menschen, der _______________ 2 Vgl. v.a. seine Auseinandersetzung mit der Passion, ORIGENES, Contra Celsum II,13–46. 3 ORIGENES, Contra Celsum II,33.

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sich im Übrigen auch selbst in aller Deutlichkeit von Gott unterscheidet. Als etwa einer zu Jesus kommt und ihn – vergleichsweise bescheiden – mit „guter Lehrer“ anspricht, fährt Jesus ihn an: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer dem einen Gott“ (Mk 10,18). In der eschatologischen Rede sagt Jesus explizit, daß Tag und Stunde des Weltendes niemand weiß, „auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater“ (Mk 13,32). Vielleicht am schärfsten tritt diese Unterscheidung in der Todesstunde zutage, wo der Gottessohn, verhöhnt von den Menschen ob seiner Ohnmacht, mit dem Schrei stirbt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mk 15,34 par. Mt 27,46). Eben diese, zumindest in ihrem Ausgang so gar nicht göttliche Geschichte als die Selbstoffenbarung Gottes zu verstehen – das ist die Aufgabe, vor die sich der Ausleger des Neuen Testaments gestellt sieht. Das soll im Folgenden anhand der synoptischen Evangelien Markus, Matthäus und Lukas dargestellt werden. Dabei gehe ich an dem ältesten Evangelium, dem Markusevangelium entlang, welches zugleich die Vorlage der anderen beiden bildete, und ergänze dessen Aussagen durch Beispiele der synoptischen Seitenreferenten. Damit nehme ich eine gewisse Unschärfe in Kauf, was das spezifische Profil der einzelnen Evangelien anlangt. Ich nehme das in Kauf, um jenseits aller möglichen und nötigen Differenzierungen zunächst einmal die fundamentalen Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, welche die drei ersten Evangelien in ihrer Rede von Gott verbinden.4 Eine solche grundsätzliche Überlegung scheint mir auch deshalb wichtig, weil das Gottesbild der Evangelien nur unzureichend erfaßt ist, wenn man, wie dies häufig geschieht, sich auf bestimmte Gleichnisse oder Worte Jesu in den jeweiligen Evangelien beschränkt, in welchen mehr oder minder explizit von Gott gesprochen wird, um diese dann zu einem Gottesbild (des Markus, des Lukas, des Matthäus) zusammenzufügen. Es geht vielmehr darum, den Hinweis der Evangelien selbst ernst zu nehmen und theologisch fruchtbar zu machen, daß Gott sich im Gottessohn und damit in der Geschichte, die von diesem erzählt wird, zu erkennen gibt. Dazu gleich eine Klarstellung: Wenn Jesus als Gottessohn bezeichnet wird, so ist die Referenz auf Gott in diesem Titel nicht prädikativ gemeint in dem Sinn, daß damit das ‚Göttliche’ an diesem Menschen bezeichnet würde, ein wie auch immer göttlicher Mensch, sozusagen eine Art ‚Halbgott’. Zwar war Jesus ein charismatischer Wundertäter – das ist m.E. auch historisch kaum zu bestreiten – aber jedes Ansinnen, seine Gottessohnschaft durch solche Taten zu beweisen (in der Rockoper Jesus Christ Superstar wird dies etwas flapsig in der Forderung des Herodes dargestellt: „Show me that you are no fool, walk across my swimmingpool“), jede _______________ 4

Die johanneische Rede von Gott ist ein Sonderfall, den ich in Anbetracht der vorgegebenen Beschränkung jetzt hier einmal außer Acht lasse.

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Demonstration der Göttlichkeit durch Wunder wird in den Evangelien strikt zurückgewiesen.5 Den theologischen Grund dafür erläutert die ausgeführte Versuchungsgeschichte am Anfang des Lukas- und des Matthäusevangeliums (Lk 4,1 ff. par. Mt 4,1 ff.). In dieser mythologischen Erzählung werden in Form eines Streitgespräches mit dem Teufel die beiden einander widerstreitenden Interpretationsmöglichkeiten dieses Titels aufeinander bezogen. Der Teufel leitet dort seine Aufforderungen zum Machterweis ein mit der Wendung: „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann …“ – und er nennt dann die Bedingungen: dann tu ein Wunder und verwandle diese Steine zu Brot, dann zeige allen, daß Gott hinter dir steht und spring von der Tempelzinne. Der Versucher will den ‚Gott’, auf den im Titel Gottessohn Bezug genommen wird, im Sinne eines Prädikatsbegriffes für Macht verstanden wissen6; ‚Gottessohn’ würde zum Synonym für den ‚Übermenschen’. Das aber heißt in letzter Konsequenz: Der Teufel will einen Gottessohn ohne Gott, er will einen Sohn ohne Vater. Jesus hält dagegen, daß der Mensch von jedem Wort lebt, das aus Gottes Mund kommt, er weigert sich, Gottes Treue in der Öffentlichkeit zu überprüfen, und zuletzt lehnt er auch die ihm angebotene Weltherrschaft ab und macht deutlich, daß er allein Gott anbetet und ihm dient. Er zitiert dazu drei Bibelstellen, die alle aus dem Beginn des Deuteronomiums stammen, zwei von ihnen aus Dtn 6, wo sie das Gebot der Gottesliebe explizieren. Damit macht Jesus in allen drei Antworten klar, daß es für ihn nicht um ihn selbst geht, sondern um den, auf den sein Titel verweist: Auf Gott. Für Jesus ist somit die Bezeichnung „Gottessohn“ Ausdruck einer Beziehung, einer Beziehung, die nicht eigenmächtig über das Gegenüber zu verfügen strebt, sondern sich diesem restlos unterstellt. Jesus ist also – so könnte man etwas zugespitzt sagen – darin der Gottessohn, daß er ganz und gar Mensch bleibt – selbst das Prädikat der Güte nimmt er nicht für sich in Anspruch, wie die Zurückweisung in jenem zitierten Lehrgespräch zeigte. Damit aber erweist er sich als das Gegenbild zu jenem mythischen ersten Menschen Adam, der nach dem Zeugnis der Schrift gerade der Gemeinschaft mit Gott verlustig ging, weil er selbst sein wollte wie Gott (und der diesen Willen zur Macht allen Nachkommen vermacht hat). Jesus will nicht sein wie Gott, und so besteht er die Versuchung. Möglicherweise will die Versuchungsgeschichte der Evangelien auch explizit als Antitypos zu jener ersten Versuchung gelesen werden.7 Doch wie dem auch sei: In jedem Fall _______________ 5

Vgl. Mk 8,10 ff.; Mt 12,38f; 16,1–4; Lk 11,16.29. Dies ist ja der geläufige Gottesbegriff; vgl. MENANDER, Fragmente, 257:       ; CICERO, Natura Deorum I,45: „Habet enim venerationem iustam, quicquid excellit“. 7 An ihrem Ende steht die etwas rätselhafte Bemerkung, daß – nachdem der Teufel den Gottessohn verlassen hat – die Engel kommen und Jesus dienen. Nun gibt es eine 6

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zeigt der Dienst der Engel, daß die vom ersten Adam zerstörte Einheit von göttlicher und menschlicher Welt im „letzten Adam“, wie Paulus Jesus auch nennen kann (I Kor 15,45), wieder Wirklichkeit wird. Möglich ist solches, weil dieser Mensch Jesus von Nazareth seine Gottessohnschaft als radikal theozentrische Existenz versteht. In diesem Menschen, welcher dem Versucher nicht erlag, ist Gott gegenwärtig. Jedes der drei Evangelien versucht dies gleich am Anfang auf seine Weise deutlich zu machen. Nach dem ältesten Evangelium sind dies die ersten Worte, die Jesus spricht, die Ankündigung: „Erfüllt ist die Zeit und nahe gekommen ist die Herrschaft Gottes“ (Mk 1,15). Noch enger versuchen die synoptischen Seitenreferenten die Zusammengehörigkeit Gottes mit diesem Menschen Jesus durch das Motiv der Zeugung durch den Heiligen Geist zu unterstreichen (Mt 1,20; Lk 1,35), die noch entsprechend ausgedeutet wird: Bei Matthäus interpretiert der Engel den hebräischen Namens Jehoschua (gräzisiert: Jesus, deutsch: Gotthilf): Gott wird durch diesen Menschen sein Volk von seinen Sünden retten (Mt 1,21), so daß dieser, wie weiter ausgeführt wird, der Immanuel ist, der „Gott mit uns“ (Mt 1,23). Im Lukasevangelium preist Zacharias in seinem Benedictus den Gott Israels, der in diesem Kind sein Heil aufrichtet (Lk 1,67 ff.), und die himmlischen Heerscharen loben bei der Geburt des Kindes Gott, der jetzt seinen Frieden auf der Erde aufrichtet (Lk 2,13 f.). Diese Anfänge sind die Vorzeichen, unter denen dieses ganze Leben verstanden werden will, so verstanden, daß das, was im Folgenden erzählt wird, nicht nur ein winziger Bestandteil der Menschheitsgeschichte ist, sondern daß hier zugleich von Gott selbst und seinem Handeln erzählt wird. Das geschieht natürlich am sinnfälligsten in Jesu Machttaten, die eben nicht die vom Teufel geforderten Zauberkunststücke sind, sondern Taten, in denen letztlich Gott selbst handelt und die durch Krankheit und Selbstentfremdung gestörte Welt seiner Herrschaft unterwirft. In dieser göttlichen  , in dieser Vollmacht, tritt Jesus auf. Der Machtcharakter tritt vor allem in den Exorzismen deutlich zu Tage: Die Dämonen wittern gleichsam in Jesus den durch ihn handelnden Gott, der ihre Macht zerstört, und sprechen eben dies aus (Mk 1,24 par.; 3,11 par.; 5,7 par.); entsprechend kann Jesus zu einem, den er von seiner Besessenheit befreit hat, sagen: „Geh in dein Haus zu den deinen und verkünde ihnen, wie Großes der Herr (= Gott) dir getan hat, und wie er sich deiner erbarmt hat“ (Mk 5,19 par.). An anderer Stelle interpretiert Jesus selbst sein exorzistisches Handeln als Gottes Machtergrei______________________________________________________________________________________________

jüdische Überlieferung, der zufolge Adam vor dem Fall von den Engeln bedient wurde, die ihm zum Verdruß der Schlange das Fleisch brieten und den Wein kühlten (bSan 59b: Jehuda ben Tema sagte: „Adam lag im Paradies [beim Mahle] und dienende Engel bereiteten ihm das Fleisch und kühlten ihm den Wein“). Dies scheint jetzt, nach dem Bestehen der Versuchung, wieder der Fall zu sein.

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fung: „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist Gottes Reich schon unter euch angebrochen“ (Lk 11,20 par. Mt 12,28).8 Auch bei den Heilungswundern erregt nicht nur die Vollmacht des Wundertäters Aufmerksamkeit, sondern es wird in ihnen auch die Größe des durch ihn wirkenden Gottes gepriesen (Lk 9,43) bzw. der Gott, der ihm diese Macht gegeben hat (Mt 9,8). Nach einem der größten Wunder, der Auferweckung des Jünglings zu Nain, konstatiert die Volksmenge: „Gott hat sein Volk besucht“ (Lk 7,16). Doch nicht nur die Taten, auch Jesu Verkündigung bringt Gott nahe: Jesu Gleichnisse machen die verborgene Gegenwart der anbrechenden Gottesherrschaft plausibel (vgl. Mk 4,26–32) und beziehen die Hörer auch in dieses Geschehen ein (vgl. Mt 13,44–46). In seiner Lehre legt Jesus den Willen des Vaters aus, wenn nötig sogar gegen den Wortlaut der Tora (Mt 5,21 ff.; 19,8 f.). Meist zu wenig beachtet wird, daß auch Jesu Verhalten Gottes Wesen gegenüber anderen zur Geltung bringt. Wenn etwa Jesus mit gesellschaftlichen Außenseitern zu Tisch sitzt und sie so in die anbrechende Gottesherrschaft einbezieht, dann begründet dies Jesus im ältesten Evangelium mit seiner Sendung zu denen, die der Heilung bedürfen (Mk 2,17). Bei Matthäus wird dies explizit auf Gottes Wort und Willen zurückgeführt, wenn das Prophetenwort Hos 6,6 zitiert wird: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“ (Mt 9,13 vgl. 12,7). Und im Lukasevangelium erzählt Jesus die Gleichnistrilogie vom Verlorenen (Lk 15). Diese Gleichnisse werden ja dort, wo vom neutestamentlichen Gottesbild gehandelt wird, gerne herangezogen, vor allem das letzte Gleichnis, das vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32). Dabei wird jedoch meist zu wenig beachtet, daß diese Gleichnistrilogie die Zuwendung Jesu zu den „Zöllnern und Sündern“ kommentiert (Lk 15,1 f.) – der lukanische Jesus begründet sein Verhalten unmittelbar mit Gottes Erbarmen (so Lk 15,20) und dessen Freude über die Heimkehr des Verlorenen (vgl. Lk 15,7.10.32 vgl. Lk 19,10). Dieser Gott ist auch dort gegenwärtig und bestimmend, wo der Sohn ins Leiden und in den Tod geht. Szenisch zeigt dies die in allen drei Evangelien berichtete Verwandlung Jesu in göttliche Herrlichkeit in der Verklärungsszene, die ja bewußt auf die erste Leidensweissagung folgt; die schon zitierte Himmelsstimme: „Dies ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören“ (Mk 9,7 par.) ist gleichsam Gottes Antwort auf Jesu Weg ins Leiden. Entsprechend sind auch die Leidensweissagungen im so genannten passivum divinum, im ‚göttlichen Passiv’ formuliert, der ehrfurchtsvollpassivischen Umschreibung von Gottes Handeln. Kurz: In dem Reden und Tun, im Verhalten und im Erleiden dieses Jesus ereignet sich gleichsam der machtvolle Einbruch der göttlichen Lebensmacht in eine von Krankheit und Tod, Verblendung und Gewalt be_______________ 8

Deshalb reagiert Jesus auch so schroff, wenn diese exorzistische Macht Jesu auf widergöttliche Kräfte zurückgeführt wird (vgl. Mk 3,22–27 par.).

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stimmte Wirklichkeit, einer schöpferischen Energie, die als personaler Wille erfahren wird. Wenn Jesus in diesem Sinn das Bild Gottes ist, dann heißt dies: Gott meint in den Evangelien das von dem Menschen Jesus unterschiedene, aber auf ihn bezogene und ihn so elementar bestimmende Gegenüber. Nur in seinem Bezug zum Sohn begegnet Gott in den Evangelien – als eine durch diesen wirksame Macht. Nur in dieser Doppelheit von Ereignis und Entzogenheit, von Selbstmitteilung und Verborgenheit ist dieser Gott im Evangelium gegenwärtig. Das bestätigen, wie eingangs gesagt, gerade auch die beiden einzigen Szenen, in denen eine unmittelbare Wirksamkeit Gott berichtet wird, die Himmelsstimmen bei der Taufe und der Verklärung. Gott verweist auf den Sohn und der Sohn auf den Vater. Wenn von Gott in den Evangelien gesprochen wird, dann ist dieser durchgehende Bezug Gottes auf den Sohn und des Sohnes auf diesen Gott, dieses „Verweisungsgefüge“9 zu beachten; es ist dem elementar relationalen und dialogischen Charakter der Rede von Gott Rechnung zu tragen. Gott erscheint immer nur als der auf andere Bezogene und so durch sie und an ihnen Handelnde – zuerst und im Besonderen als ‚Vater’ auf den Menschen Jesus von Nazareth, und dann durch diesen als den ‚Sohn’ auch auf andere Menschen. Insofern liegt es bei der Frage nach dem Gottesbild der Evangelien nahe, dort zu beginnen, wo sich dieser Dialog am unmittelbarsten ereignet, bei den Gebeten Jesu. Schon daß Jesus immer wieder betet, macht ja deutlich, daß er sich als Gottessohn nicht selbst genug ist, sondern daß er auf diesen Gott bezogen ist und bleibt. Und es zeigt darüber hinaus, daß dieser Gott auch dem Sohn ein unverfügbares Gegenüber bleibt. Etwas salopp ausgedrückt, aber durchaus in Abwehr eines verbreiteten Mißverständnisses: Gottessohnschaft heißt nicht, daß Jesus online mit dem Himmel wäre. Das wird noch deutlicher, wenn man den Inhalt der Gebete betrachtet.

_______________ 9

B AUR, J., Die Trinitätslehre als Summe des Evangeliums, in: DERS., Einsicht und Glaube. Aufsätze, Göttingen 1978, 112–121, 118.

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2. Vater und Herr. Jesu Gebet10 Nun gibt es nicht allzu viele Gebete, die in den Evangelien im Wortlaut mitgeteilt werden. In diesen aber zeigt sich ein Doppeltes: Zum einen stehen diese Gebet eindeutig in jüdischer Tradition. Damit bestätigt sich auch im Bereich des Gebets, daß Jesus in seinem Reden mit und von Gott in den Traditionen des Alten Testaments und des antiken Judentums steht. Seine Gottessohnschaft hat ihn nach der Überzeugung der synoptischen Evangelien nicht aus der Gemeinschaft des jüdischen Volkes ausgesondert. Der Gott, den Jesus als Vater anspricht (vgl. Lk 11,2 par. Mt 6,9), ist der Gott Israels. Besonders bemerkenswert ist die Verwendung der Anrede Abba, die ein Spezifikum der Gebetsanrede Jesu gewesen zu sein scheint und als solche zum Gemeingut der urchristlichen Gebetssprache wurde: Diese Vateranrede, vor allem in Form des vertrauensvoll-familiären Abba, ist Ausdruck für die besondere Intimität der Gottesbeziehung Jesu, wie ja besonders Joachim Jeremias gezeigt hat.11 Das ist aber nur die eine Seite der Medaille: Die Anrede Gottes als Vater, ja als Abba impliziert auch, daß so, wie der Sohn sich vom Vater her versteht, der Vater nur von seinem Bezug zu diesem Menschen her zu verstehen ist, auf den er als seinen geliebten Sohn verweist. In seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion, in den Ausführungen zum Gottesbegriff unter dem Titel „Das Reich des Vaters“ sagt Hegel: „Das Wahre der Persönlichkeit ist eben dieß, sie durch dieß Versenken, Versenktseyn in das Andere zu gewinnen.“12 Das trifft ziemlich exakt das, was die Evangelien über Jesus von Nazareth als Gottessohn sagen – aber es trifft letztlich auch auf Gott zu. Auch dieser ist der Vater nur in seiner Bindung an diesen Sohn. Deswegen kann Jesus sagen: „Alles ist mir von meinem Vater übergeben, und keiner erkennt den Sohn außer dem _______________ 10

Ich werde hier nicht näher auf die ziemlich umstrittene Frage eingehen, welche Gebete denn vom historischen Jesus stammen und welche ihm später in den Mund gelegt wurden. Freilich sei wenigstens kurz meine Position angedeutet: Bei einigen Gebeten, so beim Herrengebet oder bei Jesu Gebet in Gethsemani, gibt es gute Gründe, sie in ihrem Grundbestand dem historischen Jesus nicht abzusprechen (vgl. F ELDMEIER, R., Die Krisis des Gottessohnes. Die Gethsemaneerzählung als Schlüssel der Markuspassion [WUNT II,21], Tübingen 1986, 133–139). 11 JEREMIAS, J., Abba, in: DERS., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 15–67. Allerdings kam es Jeremias vor allem auf das Gottesverhältnis Jesu an, die Anrede Gottes als Abba verstand Jeremias somit als deutlichsten Ausdruck für das, was oben als die theozentrische Daseins- und Handlungsorientierung Jesu bezeichnet wurde. 12 HEGEL, G. W. F., Vorlesung über die Philosophie der Religion, Zweiter Band, in: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hg. von H. G LOCKNER, Bd. 16, Stuttgart 1928, 239.

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Vater und keiner erkennt den Vater außer dem Sohn und wem der Sohn es offenbaren will“ (Mt 11,27 par. Lk 10,22). Der Zielpunkt dieses Wortes macht zugleich deutlich, daß dieser Gottesbezug Jesu zwar einzigartig ist, aber nicht exklusiv: Die Übernahme des „Abba, Vater“ als Gebetsanrede durch die christlichen Gemeinden – Paulus bezeugt die Kenntnis dieser aramäischen Anrede (samt ihrer ungeschickten griechischen Übersetzung13) nicht nur in den von ihm gegründeten galatischen Gemeinden (Gal 4,6), sondern auch in der von anderen gegründeten römischen (Röm 8,15) – zeigt ebenso wie die Vateranrede im Herrengebet, daß diejenigen, die zu Jesus gehören, in sein Gottesverhältnis mit einbezogen werden und so auch selbst „Söhne Gottes“ werden (Mt 5,9.45), oder wie Paulus (Röm 8,15 ff.) sagt: Die Glaubenden haben als Miterben Christi den Geist der Sohnschaft empfangen und sind dadurch Gottes Kinder, so daß sie Gott mit „Abba, Vater“ anrufen. Das ist allerdings nur die eine Seite. Dieser als Abba angerufene himmlische Vater ist zugleich der transzendente Herr des Kosmos, dessen Thron der Himmel und dessen Fußschemel die Erde ist (Mt 5,34 f.). Entsprechend kann auch in den Gebeten die Vateranrede von Jesus ergänzt werden durch eine so genannte pars epica, ein sich an die Anrufung (die so genannte invocatio) anschließender Lobpreis, welcher die unumschränkte göttliche Macht und Würde dieses als Vater angerufenen Gottes unterstreicht. So beginnt etwa der so genannte Heilandsruf mit den Worten: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde“ (Lk 10,21 par. Mt 11,25). Letzteres drückt die unbedingte Souveränität Gottes aus, die in diesem Falle darin besteht, daß dieser Herr des Himmels und der Erde sich zu erkennen gibt, wem er will, und das sind gerade nicht diejenigen, die als Weise und Verständige sich für so einen erhabenen Gegenstand kompetent wähnen und für kompetent gehalten werden, sondern ihr Gegenteil, die ‚Unmündigen’. Dieser Gott ist also nicht auf die Fähigkeiten des Menschen angewiesen, um erkannt zu werden – er teilt sich mit, wem er will, er schafft sich sozusagen dort, wo alle Voraussetzungen dazu fehlen, seine eigenen Theologen, wie er dies ja auch bei Jesus getan hat, diesem galiläischen Bauhandwerker, der in keiner Weise zur Elite seines Volkes gehörte. Der ‚Herr des Himmels und der Erde’, der sich seine eigene Wirklichkeit schafft, ist der souveräne ‚Mächtige’, den das Magnifikat der Maria am Eingang des Lukasevangeliums als den preist, der seine Macht gerade darin erweist, daß er sich den bestehenden Machtstrukturen widersetzt: Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut die Hochmütigen, erbarmt sich aber der Geringen, er stürzt die Gewaltigen vom Thron und erhöht die Niedrigen, er sättigt die Armen mit Gütern und läßt die Reichen leer ausgehen _______________ 13

Der aramäische Status emphaticus wird durch den Artikel wiedergegeben.

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(Lk 1,46 ff.). Es ist Gott in seiner majestätischen Hoheit und Souveränität, der  , wie er immer wieder genannt wird (Mk 5,7; Lk 1,32.35.76 u.ä.), der ‚Höchste’, der sich nicht vor dem Menschen verantworten muß, sondern von dem der Mensch zur Rechenschaft gezogen wird, der dieser Welt frei gegenübersteht, in sie eingreift, ja ihre Ordnungen umstürzt, wo sie seinem Willen widersprechen. Insofern ist diese Macht Gottes nicht die Macht des Faktischen; im Gegenteil: Der neutestamentlichen Rede von Gottes Macht eignet dort, wo explizit auf ihren Machtcharakter Bezug genommen wird, eine stark kontrafaktische Komponente. Das sei kurz erläutert. Zwar setzt Jesus auch die in den Ordnungen der Natur wirksame Macht des Schöpfers und Erhalters voraus, welche die Vögel unter dem Himmel nährt und die Lilien auf dem Felde kleidet, eine in der Natur erfahrbare Fürsorge, welche auch den Menschen von der Sorge um sein Dasein befreit (Mt 6,25 ff.). Aber an diesen Stellen wird Gottes Macht zwar vorausgesetzt, aber es wird bezeichnenderweise nicht explizit auf den Begriff der Macht Bezug genommen. Wo dagegen in den Evangelien explizit auf die Macht bzw. Allmacht Gottes rekurriert wird, da wird damit zugleich immer die göttliche Überlegenheit über die Determinanten dieser Wirklichkeit betont. So begründet die Zusage, daß bei Gott kein Ding unmöglich ist, die Verheißung des Engels Gabriel an Maria, daß sie als Jungfrau ein Kind gebären wird (Lk 1,37), und als die Jünger nach dem Gespräch mit dem Reichen an der Möglichkeit verzagen, gerettet zu werden, tröstet Jesus sie mit dem Verweis darauf, daß bei Gott alles möglich ist (Mk 10,27 par.). Umgekehrt verrät der Zweifel der Sadduzäer an der Möglichkeit einer Auferstehung nur – so der Vorwurf Jesu im Streitgespräch mit diesen – daß sie auf das Menschenmögliche fixiert die Macht des „Gottes der Lebenden“ verkennen, dessen    dessen Macht und Vermögen gerade nicht an den Bedingungen des irdischen Daseins ihre Grenze finden (Mk 12,18–27 par.). Diese Stellen zeigen auch: Wenn von Gottes Macht gesprochen wird, dann ist dies nicht die Übermacht göttlichen ‚Fürsichseins’, und schon gar nicht handelt es sich um die Willkür einer durch nichts beschränkten potentia absoluta. Der ‚Sitz im Leben’ der Rede von der göttlichen Macht bzw. Allmacht ist vielmehr die Vertrauensäußerung oder der Zuspruch, und das hängt eben damit zusammen, daß in den Evangelien von Gott nur im Bezug auf den Sohn und durch diesen auf die Menschen die Rede ist. Folglich ist auch dessen Macht eine, die diesem Gegenüber zugute kommt, die den Menschen nicht entmächtigt, sondern ermächtigt. So wie der Sohn in seiner Vollmacht aus dieser göttlichen Macht handelt, so ist diese göttliche Macht auch für die Glaubenden da, wie Jesus auch explizit betont: „Alles ist möglich dem zugute, der glaubt“ (Mk 9,23 par.).

Abba, Vater

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Gott als Gegenüber des Menschen Jesus ist also in den Evangelien in zweifacher Weise bestimmt: - zum einen als der als Abba angerufene Vater, - zum anderen als der Herr, der Höchste, ja der Allmächtige. Dabei muß man sich davor hüten, aufgrund unseres Vorverständnisses von Macht und Barmherzigkeit beides als Gegensätze zu verstehen. Zwar legt die Metapher der Vaterschaft wohl etwas mehr das Gewicht auf Gottes Zuwendung und das Vertrauen in ihn, während die Machtprädikate seine Souveränität und Überlegenheit betonen – aber die Pointe der beiden Prädikate in den Evangelien ist gerade nicht ihre Entgegensetzung, sondern ihre Verschränkung: So wie in der Antike im Vaterbegriff immer auch das Moment der patria potestas präsent ist, die väterliche Allgewalt über Leben und Tod14, der es zu gehorchen gilt, so zielt umgekehrt, wie eben dargetan, die Betonung der göttlichen Allmacht nicht auf die Übertrumpfung des Menschen, sondern auf den Zuspruch der göttlichen Möglichkeit zur Hilfe. Das läßt schon erkennen, was im Folgenden noch weiter auszuführen sein wird: Bei dem Gott, wie ihn die Evangelien als Vater Jesu Christi bezeugen, sind Macht und Zuwendung, sind Allmacht und Barmherzigkeit nicht Gegensätze, sondern sie werden aufs Engste aufeinander bezogen. Am markantesten finden sich diese Elemente in einem Gebet Jesu vereint, in dem dieser das einzige Mal so etwas wie eine ihn persönlich betreffende Bitte äußert. Es ist das Gebet Jesu im Garten Gethsemani. Dort – direkt vor seiner Verhaftung – leitet Jesus die Bitte, den ‚Kelch’ doch an ihm vorübergehen zu lassen, mit den Worten ein: „Abba, Vater, alles ist dir möglich“ (Mk 14,36). Nur hier wird innerhalb des Neuen Testaments die Vatermetapher – intensiviert durch das familiäre Abba – mit dem Prädikat der Allmacht kombiniert. „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen“ – die ersten beiden Gottesprädikate des christlichen Credos finden sich also nur in jenem Gebet Jesu vereint. Das allein lohnt schon näheres Zusehen.

3. Der allmächtige Vater und der angefochtene Sohn. Gethsemani Dabei mag es den Blick schärfen, wenn der Durchgang durch die Evangelien zunächst einmal unterbrochen wird, um in Form eines religionsgeschichtlichen Vergleichs gleichsam noch einmal von außen einen Blick auf dieses Gebet Jesu zu werfen. Das bietet sich an, denn abgesehen von dem aramäischen Abba zeigt die Kombination von Vatermetapher und All_______________ 14

Vgl. in diesem Band den Beitrag von Dorothee Gall.

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machtsprädikat auf den ersten Blick nichts spezifisch Jüdisches oder Christliches. Bereits in dem berühmten Zeushymnus des Stoikers Kleanthes wird der Göttervater als   angesprochen und als   gepriesen, als Vater und Allmächtiger; ähnlich ist die Göttin Isis in den Metamorphosen des Apuleius sowohl rerum naturae parens (Met XI,5,1) als auch omnipotens dea (XI,16,3), und in den Metamorphosen des Ovid wird Zeus wiederholt als pater omnipotens (vgl. I,154; II,304; IX,271 u.ä.) bezeichnet, eben als allmächtiger Vater. Die Besonderheit der Anrede Jesu – und damit auch die Besonderheit der Rede von Gott in den Evangelien – erschließt sich erst dort, wo man den Ort dieser Anrede und ihre Funktion wahrnimmt. Gerade durch den Vergleich mit dem großartigen stoischen Hymnus kann das, was eingangs über den dialogischen und kontrafaktischen Charakter der Rede von Gott in den Evangelien gesagt wurde, noch einmal profiliert werden. Im Kleantheshymnus wird Zeus – dessen Prädizierung als ‚vielnamiger’ zeigt, daß dieser Name letztlich Akzidenz ist, daß vielmehr in diesem ‚Erhabensten der Unsterblichen’ letztlich alle Göttergestalten inbegriffen sind – zum Auftakt angerufen als „Urheber der Natur, der du alles nach dem Gesetz lenkst“. Damit ist schon deutlich, was das Weitere noch ausführt: Vater ist Zeus als der Urheber des Kosmos15, allmächtig wird er genannt, insofern er Exponent der kosmischen Ordnung ist. Als      ist er die in allen Dingen wirkende Vernunft, die als      diese durch vernünftige Gesetzmäßigkeit geordnete16 Wirklichkeit bestimmt (Z 12.21). Der Göttervater des Pantheons wird also mit dem stoischen Logos, der alles durchwaltenden Weltvernunft identifiziert. Sein Wesen und Wirken sind deshalb jedem einsichtig, sofern dieser sich selbst der Vernunft bedient, so daß der hier angestimmte Lobpreis eigentlich für alle Sterblichen eine Selbstverständlichkeit, ja eine religiöse Pflicht () sein müßte. Auch der für einen Stoiker ungewöhnliche Schluß dieses Hymnus17 mit der Bitte um Gewährung von Einsicht bestätigt dies nochmals, wenn es der Zweck solcher Einsicht ist, wie der Schlußsatz sagt, „das allgemeine Gesetz, wie es recht ist, zu preisen“. Mit einem Wort: Das Allmachtsprädikat und die Vatermetapher identifizieren die Gottheit als Ursprung und Exponenten des vernünftig geordneten Alls, welcher sich der Mensch nur aner_______________ 15 Die Verbindung von Vatermetapher und Schöpfungsvorstellung findet sich schon bei P LATON, Tim 28c: Gott ist Vater und Schöpfer (    ) des Alls; vgl. weiter CICERO, Natura Deorum I,30. 16 Das Problem der Störung dieser Ordnung wird zwar nicht ausgeblendet, aber es wird gleichsam wegrationalisiert, indem das Böse ausschließlich als Produkt unvernünftiger Entscheidungen der Menschen definiert wird. 17 Diese mit gesteigerter sprachlicher Emphase eingeleitete Schlußbitte um Gewährung von Einsicht ist ungewöhnlich – sie ist eigentlich dem stoischen Weisen selbst erreichbar; vgl. dafür SENECA, Epistulae 41,1.

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kennend beugen kann – und eben dies ist ja auch der eigentliche Stolz des stoischen Weisen; würde er gegen das Schicksal aufbegehren, so würde er töricht handeln und sein Wesen verfehlen. So betet derselbe Kleanthes, dem wir auch den oben zitierten Hymnus verdanken: 18

„Führ du mich Zeus, und du Pepromene , wohin der Weg von euch mir ist bestimmt! Ich folg euch ohne Zaudern. Sträub ich mich, 19 so handl’ ich schlecht – und folgen muß ich doch.“

Der Kontext des Gebetes Jesu könnte verschiedener kaum sein. Preist der stoische Philosoph in immer gültigen Sätzen die sich stets gleich bleibende, auf göttliche Leitung zurückgeführte Wohlordnung des Seins, die er als ein Weiser nur bejahend hinnehmen kann, so ist Jesu Gebet gleichsam ein Schrei nach dem Eingreifen Gottes. Gesprochen in der Stunde bitterer Anfechtung, da den bisher so selbstsicher in den Tod gehenden Gottessohn jähes Entsetzen überfällt, da die engsten Vertrauten in schier unterirdischer Empfindungslosigkeit schlafen und einer der eigenen Anhänger die Häscher heranführt; hier, in der Stunde der äußersten Krise, da alles fraglich wird, was das Leben Jesu bestimmt hat, da der Menschensohn in die Hände der Sünder preisgegeben wird und der Vater dies zuläßt, hier wendet sich der Sohn nochmals an Gott mit der Bitte, doch noch das scheinbar Unabwendbare abzuwenden. In diesem Zusammenhang spricht er Gott – zum einzigen Mal im Evangelium – als Abba an, insistiert also gerade hier, im Moment der erschreckenden Verborgenheit Gottes, durch diese familiäre Form der Anrede auf der Nähe dieses Gottes. Zugleich wird in der pars epica die Anerkenntnis der göttlichen Macht zum Bekenntnis der Allmacht gesteigert. Der Kontext der Bitte zeigt, daß Allmacht hier etwas ganz anderes als im stoischen Hymnus ist: Es ist nicht die alles determinierende Macht des unwandelbar gleichen Weltgesetzes, dem man sich nur fügen kann: „Sträub ich mich, so handl’ ich schlecht – und folgen muß ich doch.“ Ganz anders hier: Mit jenem „Abba, Vater, alles ist dir möglich“ appelliert Jesus an den persönlichen Willen dieses Gottes und zugleich an dessen Macht zum Eingreifen und zur Unterbrechung des Weltlaufes. Dabei ist es wohl nicht unwichtig, daß dieses Gebet nach dem Bericht der Synoptiker _______________ 18

Pepromene ist das Schicksal bzw. dessen Personifikation als Schicksalsgöttin. POHLENZ, M., Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Bd. 1, Göttingen ²1959, 106; vgl. weiter die Ausführungen Senecas in einem seiner berühmten Epistulae morales ad Lucilium: „Ich füge mich nicht der Gottheit, sondern stimme ihr zu. Aus eigenem Antrieb, nicht weil es unausweichlich ist, folge ich ihr. Niemals wird mich ein Unglücksfall treffen, den ich betrübt, den ich mit bösem Blick annehme … Alle Schicksalsschläge aber, über die wir seufzen, vor denen wir zurückschrecken, sind Tribute an das Leben. Von ihnen, mein Lucilius, sollst Du Dir Freilassung weder erhoffen noch erbitten“ (SENECA, Epistulae morales ad Lucilium 96,2). 19

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in der Passahnacht stattfindet, in jener Nacht, in der Israel die wunderbare Errettung durch Gottes Macht feiert, eine Nacht, die in jüdischer Tradition, wie ein Blick in die Passahhaggada bestätigt, als die Nacht des göttlichen Rettungshandelns schlechthin verstanden wurde.20 So ist es auch hier Gott in seinem Wesen als Retter und Befreier, der hier als der Allmächtige angerufen wird, der Gott, dessen Macht und Möglichkeiten größer sind als alles, was in dieser Welt Macht hat. Allerdings hat dieses Gebet neben der Anrufung und der Bitte noch ein drittes Element, und das ist sein Schluß. So entschieden Jesus in Gott dringt und ihn um sein Eingreifen bittet, so eindeutig ordnet er sich auch dessen Willen unter, selbst dort, wo dieser seinem eigenen Willen aufs Äußerste widerstreitet: „Aber nicht [geschieht], was ich will, sondern was du willst“ (Mk 14,36). Im Griechischen wird dies noch markanter als im Deutschen ausgedrückt, da anstelle der näher liegenden subjektiven Negation  (zu übersetzen wäre: „Aber nicht soll geschehen, was ich will, sondern was du willst“) die objektive Negation  (hebr.  statt ) verwendet wird, welche als Faktum konstatiert, daß es letztlich allein der Wille des Vaters ist, der entscheidet. Beides bestimmt also das Gottesverhältnis Jesu: Sein Vertrauen in den allmächtigen Vater – aber auch die Anerkennung des souveränen göttlichen Willens, dem er sich fraglos unterstellt. Es geht nicht an, diese Spannung in ein zeitliches Nacheinander aufzulösen, als habe Jesus erst nicht gewollt, sich dann aber nach innerem Kampf gefügt. Nein – beides, Widerstand und Ergebung sind in Jesu Beten gleichzeitig. Jesus hat bis zuletzt diesen Kelch nicht trinken wollen, wie die dreimal wiederholte Bitte eindeutig zeigt, aber er hat ebenso in allen drei Bitten klar gemacht, daß es etwas gibt, das ihm noch wichtiger ist als sein eigener Wille – und dies ist der Wille des Vaters! Nun könnte man, wenn man nur auf das ‚Ergebnis’ blickt, der Meinung sein, eigentlich liefe beides doch auf das Gleiche hinaus wie beim Stoiker: Beide beugen sich der Allmacht des göttlichen Vaters und nehmen an, was ihnen von dieser verhängt ist. Aber gerade in der scheinbaren Übereinstimmung wird der elementare Unterschied deutlich: Der stoische Weise erweist in der gleichmütigen Hinnahme dessen, was ihm widerfährt, seine Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung, seine Seelenstärke und in_______________ 20

Eine Auflistung dieser Wunder am Ende des Festes wird eingeleitet mit der Feststellung: „Eine Fülle von Wundern vollbrachtest du des Nachts. Mit Anfang der ersten Wache dieser Nacht.“ HEIDENHEIM , W., Die Pessach-Haggada, Basel 1999, 51; „Wieweit der Kern der sogenannten Passah-Haggadah zurückreicht ist nicht textmäßig feststellbar, aber thematisch dürften die ältesten bekannten Stücke den Vorstufen in der Zeit vor 70 n. Chr. nicht fern stehen, auch das NT weist in diese Richtung.“ M AIER, J., Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels (NEB, Ergänzungsband zum AT 3), Würzburg 1990, 111.

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nere Freiheit. Dagegen geht es bei Jesus um die Bejahung des väterlichen Willens – er bejaht diesen selbst dort, wo ihm dieser Vater fremd, ja feindlich entgegen zu treten scheint. Somit geht es im Evangelium um die bis zur äußersten Konsequenz festgehaltene Liebe zu Gott. Denn dies ist ja das eigentlich Ungeheuerliche an dieser Szene: Daß der Gott, der nach dem Zeugnis der Evangelien in Jesus Christus den anderen Menschen erfahrbar wurde, nun gegenüber dem Sohn schweigt, so daß dieser, nachdem er das dritte Mal zurückkommt und statt einer himmlischen Antwort seine erneut schlafenden Gefährten findet, nur noch im so genannten ‚göttlichen Passiv’ seine Verwerfung21 durch Gott konstatieren kann: „Preisgegeben wird der Menschensohn in die Hände der Sünder“ (Mk 14,41). Diese Einsicht in die Preisgabe durch Gott ist alles andere als eine ‚Lösung’ in dem Sinn, daß nun die Spannungen beseitigt wären. Im ältesten Evangelium, bei Markus und ihm folgend bei Matthäus, setzt diese göttliche Preisgabe ja das folgende Unheil in Gang: Judas gibt Jesus den Kriegsknechten preis, diese geben ihn preis an das Synhedrium, dieses gibt ihn preis an Pilatus und dieser zuletzt den Verurteilten an die Kriegsknechte. Und am Ende dieser fortlaufenden Preisgabe hören wir Jesus noch ein letztes Mal mit seinem Vater sprechen – und da ist es der klagendanklagende Schrei in der Todesstunde auf Golgatha: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mk 15,34 par. Mt 27,46). Von Gethsemani bis Golgatha gähnt gleichsam ein Abgrund der Gottesfinsternis – und dieser darf nicht weginterpretiert werden; vielmehr gilt es zu bedenken, was es heißt, daß der als „Abba, Vater“ angerufene Gott sich dem Sohn entzieht – und doch bis zuletzt ‚mein Gott’ bleibt. Denn wie immer es um die historischen Wurzeln dieser Erzählung bestellt sein mag – jene Erzählung, die immer auch ein gefundenes Fressen für Kritiker des Christentums war22, wurde von den frühchristlichen Gemeinden nicht nur tradiert, sondern sogar zur längsten Einzelerzählung der Passion ausgestaltet. Offenkundig fand man hier Entscheidendes über den Gott gesagt, der selbst dort noch als lieber Vater und Allmächtiger angerufen wird, wo er nicht eingreift und durch diese Inaktivität sowohl den Glauben an seine Güte wie das Vertrauen in seine Macht Lüge zu strafen scheint. Gerade hier, in jener dunklen und harten Geschichte, da der Vater zum Flehen des Sohnes schweigt, wird deutlich, was es heißt, Gott im Gegenüber zum Sohn als Vater und Allmächtigen anzurufen. Oder anders gesagt: Es wird deutlich, was es heißt, Gott und die Liebe zusammen zu denken.

_______________ 21 22

Vgl. FELDMEIER, Krisis, 216–229. Vgl. ORIGENES, Contra Celsum II,24.

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4. Gottesliebe Als Jesus bei den letzten Auseinandersetzungen in Jerusalem gefragt wird, was denn das wichtigste Gebot sei, antwortet er mit einem Zitat aus Dtn 6,4, welches zunächst die Einzigartigkeit Gottes betont: „Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist ein Herr“ (Mk 12,29), und er fährt fort: „Und du sollst Gott, deinen Herren, lieben mit deinem ganzem Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Gesinnung und mit all deiner Kraft“ (Mk 12,30 par.). Dies wird explizit als das erste und damit oberste Gebot bezeichnet, das der Nächstenliebe wird zumindest in der ältesten Fassung bei Markus noch nachgeordnet. Ich weiß nicht, ob es im Bereich der orientalischen Religionen eine echte Entsprechung zu dieser Liebe gegenüber Gott gibt – in der griechisch-römischen Antike scheint dies, diesen Hinweis verdanke ich dem Heidelberger gräzistischen Kollegen Herwig Görgemanns, nicht der Fall zu sein. Die Götter sind zu ehren, nicht nur mit Opfern, sondern durchaus auch mit religiöser Scheu, man muß sich ihnen fügen, sich gut mit ihnen stellen, sich ihres Wohlwollens versichern; man kann sich bemühen, ihr Günstling, gar Freund sein; in der philosophischen Theologie vom Platonismus bis zum Epikureismus werden sie auf unterschiedliche Weise zu Vorbildern, die es nachzuahmen, denen es gar gleich zu werden gilt. Aber daß die Liebe zu Gott wichtiger ist, als alles andere, wie Jesus unter Bezug auf das Alte Testament sagt, daß Gott einer ist, der mit dem rückhaltlosen Einsatz der ganzen Person samt aller ihrer Kräfte und Fähigkeiten23 zum Bezugspunkt ihres Denkens und Wollens gemacht wird, daß sich alles auf dieses göttliche Du konzentriert, so vorbehaltlos, daß dieses über alle eigenen Bedürfnisse gestellt wird – dies scheint eine Besonderheit des biblischen, vor allem auch des neutestamentlichen Gottesverhältnisses zu sein. Nun ist diese Gottesliebe nicht nur der Anspruch an die Gläubigen – sie ist, wie schon angedeutet, zuerst die vollständigste Beschreibung dessen, was von Jesus selbst zu sagen ist. Er ist derjenige, der sich selbst von diesem Gott her definiert, der eben nichts anderes sein will als eben dies: Der Sohn. Was er gegenüber dem Teufel programmatisch für sein Leben festgehalten hat, das löst er jetzt ein. In diesem Leben, gerade an dieser Passion kann gesehen werden, was die Liebe zu Gott in letzter Konsequenz bedeuten kann – man kann dies in der Theologie gegenüber dem inflationären und banalisierenden Gebrauch des Wortes Liebe im Zusam-

_______________ 23 Die nacheinander aufgelisteten Aspekte der Personalität ‚Herz’, ‚Seele’, ‚Gesinnung’, ‚Kraft’ werden noch durch ein jedes Mal hinzugefügtes  , ‚ganz’, ‚ungeteilt’ verstärkt.

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menhang mit Gott nicht deutlich genug betonen. Liebe ist ja weiß Gott nichts harmloses, und die Liebe zu Gott ist es erst recht nicht.24 Man erfaßt diese Gottesliebe aber nicht adäquat, wenn man sie nur als menschliche Haltung versteht. Nach dem Zeugnis der Evangelien ist die radikal theozentrische Existenz Jesu dessen Antwort auf jene göttliche Liebeserklärung, in der bei der Taufe und der Verklärung Gott ihn als seinen Sohn identifiziert hat. Die Liebe zu Gott ist die Entsprechung zur Liebe Gottes, der deshalb als Abba angesprochen wird, als geliebtes und liebendes Gegenüber. Auf eine sehr strenge Weise sind die Evangelien Liebesgeschichten, die Geschichten der gegenseitigen Bindung von Vater und Sohn, einer Bindung, an der der Sohn auch noch im eigenen Untergang festhält. Auch angesichts einer Wirklichkeit, welche dieses Vertrauen ad absurdum zu führen scheint, spricht er diesen Gott als Abba und mein Gott an. Darauf antwortet Gott nach dem Zeugnis der Evangelien durch die Auferweckung. Diese Auferweckung wäre mißverstanden als bloßes ‚happy end’, welches das Bisherige nun glücklich vergessen läßt. Die Auferstehung ist vielmehr die Antwort auf die Gottesliebe Jesu, insofern Gott auch und gerade in der Leidensgeschichte des Sohnes sich als der erweist, als der er angerufen wurde: Als der sich im Sohn den Menschen zuwendende allmächtige Vater.

5. „und ist ein Wunder vor unseren Augen“ Auch dies wird in den Evangelien erzählend ausgeführt. In besonders komprimierter Weise tut dies das so genannte Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1–10 par.). Wie immer dessen Überlieferungsgeschichte vorzustellen ist25 – in seiner jetzigen Form ist es eine die Passion deutende Allegorie. Erzählt wird – unter Anspielung auf verschiedene alttestamentliche Erwählungstraditionen – von einem Menschen, der nach sorgfältiger Anlage seines Weinbergs diesen den Pächtern überläßt und verreist. Als die Pacht fällig wird, sendet er einen Knecht, um sie in Empfang zu nehmen. Doch _______________ 24

Auch ein Paulus, der in seinen Briefen das hohe Lied der göttlichen Gnade singt, sagt den von ihm als Kinder Gottes und Lichter der Welt angesprochenen Philippern, daß sie ihr Heil „mit Furcht und Zittern schaffen“ sollen (Phil 2,12.15). Martin Luther hat entsprechend in seinem kleinen Katechismus das Gebot der Gottesliebe mit der stereotyp wiederkehrende Wendung übersetzt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben.“ 25 Es spricht manches dafür, daß es sich um eine ursprüngliche Gerichtsparabel handelt, mit der Jesus selbst seine Gegner vor einem Vorgehen gegen sich warnte, und daß diese Erzählung dann nach Ostern auf Jesu Geschick bezogen und dabei allegorisiert wurde; Vgl. HENGEL, M., Das Gleichnis von den Weingärtnern Mc 12,1–12 im Lichte der Zenonpapyri und der rabbinischen Gleichnisse (ZNW 59), Berlin 1968, 1–39.

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dieser Knecht wird mißhandelt und leer zurückgeschickt. Ähnlich geht es anderen Abgesandten, wobei sich der Konflikt durch das Verhalten der Pächter dramatisch zuspitzt – bis hin zum Mord. Deutlich spielt dies auf die Propheten an, die vom Gottesvolk abgelehnt werden – möglicherweise spielt die Ermordung des letzten Knechtes auf Johannes den Täufer an. Wie dem auch sei: Nach der Mißhandlung und Ermordung vieler Knechte sendet der Besitzer nämlich zuletzt seinen Sohn in der Hoffnung, daß dieser respektiert wird. Doch damit verrechnet er sich gründlich: Überzeugt, mit der Tötung des Erben den Weinberg endgültig in den eigenen Besitz zu bringen, töten die Pächter auch diesen letzten Gesandten, den „geliebten Sohn“ des Weinbergbesitzers, wie es ausdrücklich heißt. Nun endlich greift der Besitzer ein und exekutiert ein fürchterliches Strafgericht an den Übeltätern: „Auf böse Weise wird er die Bösen zugrunde richten“ – ohne Zweifel dachten die Evangelisten dabei an die Eroberung und Zerstörung Jerusalems. Mit diesem Gleichnis – das hat O.H. Steck gezeigt26 – wird der Widerstand gegen Jesus heilsgeschichtlich verortet in dem Antagonismus zwischen dem Ruf Gottes durch seine Boten und dem sich diesem Umkehrruf verschließenden Gottesvolk, wie er in alttestamentlichen und frühjüdischen Texten breit bezeugt ist. Doch bemerkenswerter Weise ist damit das Geschehen noch nicht zu Ende: An diese so zu ihrem schlimmen Ende gekommene Geschichte wird nun in V. 10 völlig unvermittelt ein Psalmwort angefügt, das in höchsten Tönen dieses Geschehen preist: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden; vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen.“ Die Erzählung, die im verdienten Gericht über die Pächter zu ihrem Ende gekommen war, wird in jenem angefügten Psalmwort gewissermaßen auf anderer Ebene w e i t e r e r z ä h l t . Das zeigt: Was auf der Ebene der handelnden Menschen sich nur als ein ausweglos in der Katastrophe endendes Unheilsgeschehen darstellt, ist durch Gottes heilvolles Eingreifen zu etwas ganz anderem geworden. Entsprechend werden die Traditionen der Gerichtsprophetie, welche den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Parabel bilden, abgelöst durch die Sprache des Psalters, genauer noch: durch den letzten Psalm des Passahhallels. Die ganze Erzählung hat nun i h r e P o i n t e i n d e r l o b p r e i s e n d e n D e u tung dieses Unheilsgeschehens als Heilsgeschehen. Dieser doppelte Ausgang ist möglich, weil hier zwei Geschichten erzählt werden. Das eine ist die Geschichte vom Menschen und dessen mörderischer Selbstbehauptung gegen Gott und dann auch gegen seinen Mitmenschen, wie sie archetypisch schon in der Urgeschichte vorgeführt wurde und wie sie in der Geschichte des Gottesvolkes immer wieder Wirk_______________ 26

STECK, O. H., Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, NeukirchenVluyn 1967, 269–273.

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lichkeit wurde, bis hin zur Ermordung dessen, welcher als der verheißene Immanuel, der ‚Gott-mit-uns’ sein Volk von seinen Sünden retten sollte (vgl. Mt 1,21–23). Doch wie schon in den Erzählungen des Alten Testaments behält das Unheil nicht das letzte Wort. Zum Evangelium, zur frohen Botschaft, gehört diese unheilvolle Geschichte, weil in ihr zugleich von Gott erzählt wird, von dem Gott, der gerade dort, wo die Geschichte mit dem Mord zu ihrem irreversiblen schlimmen Ende gekommen ist, etwas ganz Neues entstehen läßt. Die Untat, die eigentlich die letzte Brücke zwischen Gott und seinem Volk zerstört hat, wird von diesem zur Grundlage eines Neuanfanges gemacht.27 Das Zerbrechen des Ablaufs einer in sich geschlossenen Erzählung, kann nur noch im Kontrast zu dieser als das Wunder des göttlichen Widerspruchs gepriesen werden. In diesem heilvollen Widerspruch gegen die Menschen und das von ihnen angerichtete Unheil bleibt Gott den Menschen und damit sich selbst treu. Diese im Widerspruch zu Schuld und Tod Heil und Leben schaffende Macht Gottes hat Jesu Auftreten bestimmt. Jesu auch in der Passion durchgehaltenes Vertrauen in Gott, den Vater, den Allmächtigen wurde in der Erhöhung des Gekreuzigten bestätigt. In der Person dieses Jesus Christus erschließt sich daher das – nur mit Vorbehalt so zu nennende – ‚Gottesbild’ der Evangelien.

_______________ 27

Eine alttestamentliche Entsprechung dazu ist die Josephsgeschichte. Besonders das Resümee des Joseph in Gen 50,20 hebt dies hervor: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen und zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich ein großes Volk am Leben zu erhalten.“

„Der das Nichtseiende ruft, daß es sei“ Gott bei Paulus REINHARD FELDMEIER

1. Die Herausforderung: Der Gekreuzigte als Bild des lebendigen Gottes In dem ältesten Schreiben des Neuen Testaments, im ersten Brief des Paulus an die Thessalonicher, bringt der Apostel die Bekehrung der Christen von Thessalonich mit folgenden Worten auf den Begriff: „Ihr seid zu Gott umgekehrt von den Götzenbildern, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen“ (I Thess 1,9). Die Formulierung ist an sich nicht originell; die Bezeichnung Gottes als ‚lebendiger’ findet sich bereits im Alten Testament1, die Entgegensetzung dieses lebendigen Gottes zu den Götterbildern gehört zum apologetischen Repertoire der Diasporasynagoge.2 Entsprechend profiliert der wohl in Ägypten in späthellenistischer oder frührömischer Zeit verfaßte jüdische Bekehrungsroman Joseph und Aseneth3 den „lebendigen Gott“ Israels gegenüber den „toten und stummen Götzenbildern“ (JosAs 8,5). Das Neue Testament tritt auch hier in die Fußstapfen des hellenistischen Judentums, wenn es seinen Gott als den „lebendigen“ von den als „stumme Götterbilder“ (I Kor 12,2) bzw. als    , als „Nichts“ (Apg 14,15), ontologisch degradierten paganen Göttern absetzt. Das spezifisch Christliche der paulinischen Rede von Gott wird deutlich, wenn man den Apostel fragt, wo Gott denn zu erkennen ist. Dann erhält man die erstaunliche Auskunft: „Ich bin der Meinung, unter euch nichts anderes zu kennen als allein Christus, und diesen als Gekreuzigten“ – so der Apostel in I Kor 2,2. Immer wieder konzentriert der Apostel seine gesamte Botschaft in diesem einen Punkt: „Euch wurde Christus als der _______________ 1

Vgl. KREUZER, S., Der lebendige Gott. Herkunft und Entwicklung einer alttestamentlichen Gottesbezeichnung (BWANT 116), Stuttgart 1983. 2 Rudolf Bultmann stellt lapidar fest, Paulus setzte hier „die Propaganda des hellenistischen Judentums fort.“ BULTMANN, R., Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 9 1984, 71f. 3 Vgl. B URCHARD, CH., Joseph und Aseneth (JShrZ II,4), Gütersloh 1983, 614 gibt als möglichen Entstehungszeitraum dieser Schrift die Zeit zwischen dem späten zweiten Jahrhundert vor Christus und dem Aufstand unter Trajan (115–117 n. Chr.) an.

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Gekreuzigte vor Augen gemalt“ (Gal 3,1), „wir verkündigen euch den gekreuzigten Christus“ (I Kor 1,23). Damit aber entsteht eine nicht unbeträchtliche Spannung: - Die christliche Missionspredigt zielt auf die Abkehr von den ‚toten’ Göttern hin zu dem lebendigen Gott. - Wer dieser Gott ist, erkennt man jedoch, wenn man auf den Gekreuzigten blickt, also auf einen getöteten Menschen, und das Bild dieses Hingerichteten, der Crucifixus, wurde dann ja auch zu dem Symbol des Christentums4. Nun ist diese Aufgabe, Gott und den Tod Jesu Christi zusammen zu denken, letztlich jeder christlichen Theologie aufgegeben. Jedoch hat Paulus die damit verbundene theologische Herausforderung wohl am schärfsten gesehen und sich ihr am konsequentesten gestellt, gerade auch im Blick auf die christliche Rede von Gott. Schon ein einfacher Blick in die Konkordanz zeigt dies: Allein in den sieben heute für echt gehaltenen Paulusbriefen wird das Substantiv  – also das griechische Wort für Gott – 430 mal verwendet; außer I Kor 13 und 16 findet sich kein Kapitel seiner Briefe, in welchem das Wort ‚Gott’ nicht erscheint.5 Dieser Gott aber, das unterstreicht der Apostel durchgängig, ist der Vater Jesu Christi, er wirkt in und durch den Sohn. Durch dieses Unterfangen, den lebendigen Gott konsequent mit dem Gekreuzigten zusammen zu denken, durch seine Kreuzestheologie ist Paulus zum ersten großen Theologen des entstehenden Christentums geworden. Daß gerade Paulus sich der Aufgabe einer Theologie des Kreuzes stellt, kommt nicht von ungefähr. Denn der Radikalität der paulinischen theologia crucis, d.h. der Erkenntnis Gottes im gekreuzigten Christus, liegt eine radikale Erfahrung mit diesem Gott zugrunde, welche zu der Hinwendung des Paulus zum Christentum führte. In der Frühzeit des Christentums bedeutete die Entscheidung zur Nachfolge wohl immer auch einen einschneidenden Bruch mit den bisherigen Lebensbezügen.6 In den Nachfolgeworten der Evangelien wird dies in aller Deutlichkeit als Zerwürfnis mit der Familie ausgedrückt: „Meint ihr, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht (…). Es wird der Vater gegen _______________ 4

Zumindest gilt dies für dessen abendländische Variante. KLUMBIES, P.–G., Die Rede von Gott in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, Göttingen 1992, 11. 6 Wenn etwa die Jesusjünger Jakobus und Johannes ihren Vater Zebedäus bei den Netzen zurückließen, um Jesus nachzufolgen (Mk 1,19 f.), dann wird der Vater über seine Söhne wahrscheinlich genauso wenig begeistert gewesen sein wie die Familie des Levi, als dieser zum selben Zweck die Zollstation verließ (Mk 2,14). Auch die Frauen, die nach Mk 15,40 Jesus von Galiläa nachgefolgt sind, werden ja in ihrem früheren Leben in einen sozialen Kontext eingebunden gewesen sein, den sie sicher nicht zum Entzücken ihrer Familien hinter sich zurückgelassen haben. 5

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den Sohn sein und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen die Schwiegertochter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter.“7 Vermutlich hatte auch Paulus Entsprechendes bei seiner Hinwendung zum Christentum erlebt – aber dieser Aspekt tritt bezeichnenderweise völlig zurück hinter dem weit elementareren Erlebnis eines theologischen Umbruchs. Denn Paulus war zuvor als Pharisäer ein „Eiferer“, wie er es selbst zweimal sagt (Gal 1,14; Phil 3,6), er war einer, der sich mehr als seine Altersgenossen als ein Verteidiger der väterlichen Überlieferungen hervortat (Gal 1,14). Eben jener Eifer für den Gott der Bibel hat ihn auch dazu gebracht, die christlichen Gemeinden zu verfolgen – weil er in der Verfolgung derer, die die Verbindlichkeit dieser Überlieferungen in Frage stellten, die Heiligkeit des Gottes Israels verletzt sah. Wenn diesem Paulus nun aber Christus erscheint, dann versteht er dies so, daß ihm, der im Namen Gottes die Anhänger dieses Christus verfolgt, nun der von Gott Auferweckte entgegentritt. Das aber bedeutet: Der durch seinen Tod am Kreuz in den Augen aller Menschen widerlegte Christus ist von Gott selbst ins Recht gesetzt. Letztlich stellt sich also dem Eiferer für Gott dieser Gott selbst in den Weg. Paulus bringt es in Gal 1,15 f. so auf den Punkt: „Es gefiel Gott (…) seinen Sohn in mir zu offenbaren.“ Mit diesem göttlichen Widerspruch aber wird so ziemlich alles auf den Kopf gestellt, was bisher gültig war. Der Apostel schreibt dann auch ziemlich drastisch, daß ihm das, was er für wertvoll gehalten hatte, nun zum Schaden wurde, ja daß er es jetzt für Kot hält (Phil 3,7 f.). Diese Formulierungen lassen etwas von der Radikalität der ‚Umpolung’ erahnen, die sich durch die Begegnung mit dem Auferstandenen an Paulus vollzogen hatte – eine Erschütterung seines bisherigen Denkens und damit auch seines Gottesbildes, eben weil seinem Eifern für Gott von diesem Gott selbst widersprochen wurde. Das ist die so genannte Bekehrung oder Berufung des Paulus. Wie immer man diese Lebenswende nun genau bezeichnet8 – das entscheidende ist, daß die Begeg_______________ 7

Lk 12,51.53; vgl. weiter Mt 10,37 par. Lk 14,26; Mk 3,31–36 par. Dazu eine kurze terminologische Anmerkung: Früher wurde immer von der Bekehrung des Paulus gesprochen, heute wird statt dessen lieber von dessen Berufung gesprochen. Das ist insofern berechtigt, als der Begriff ‚Bekehrung’ den falschen Eindruck erweckt, als habe sich Paulus vom Judentum zum Christentum bekehrt, was ein Anachronismus ist, da es das Christentum als eigene Religionsgemeinschaft noch nicht gab. Paulus versteht sich noch als Hebräer und Israelit (II Kor 11,22 vgl. Phil 3,5), und er spricht von sich als Berufenem, nicht als Konvertiertem, und deutet diese Berufung unter Bezug auf die Berufung der Propheten durch Gott im Alten Testament (Vgl. LOHSE, E., Paulus. Eine Biographie, München 1996, 60.). Freilich darf nun seinerseits der Begriff der Berufung nicht verdecken, daß diese Begegnung mit Christus für Paulus so elementar war, daß dadurch letztlich sogar die für den Juden zentrale Grenze gegenüber der heidnischen Welt aufgehoben wird, da in der Beziehung zum gekreuzigte Christus, so sagt es Paulus 8

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nung mit dem Auferstandenen für Paulus eine elementare Neuorientierung seines theologischen Denkens verlangte. Dabei bildete gerade die Identität Gottes das entscheidende Problem, denn dieser Gott, der ihm hier entgegentrat, war ja nicht ein anderer Gott; es war derselbe Gott Israels, dem Paulus auch bisher zu dienen geglaubt hatte. Und das heißt: Auch sein Wort, wie es in den heiligen Schriften niedergelegt ist, bleibt weiter der entscheidende Orientierungspunkt. Nur muß das, was bisher eindeutig zu sein schien, jetzt neu verstanden werden. Wenn etwa, um das Beispiel aus Gal 3,13 zu nehmen, im alttestamentlichen Gesetz derjenige, der am Holz hängt, verflucht wird (Dtn 21,23), dann ist und bleibt der gekreuzigte Christus ein Verfluchter. Die Aufgabe besteht freilich jetzt darin, dieses Unheil mit dem Inhalt der Heilsbotschaft zusammen zu denken, diesen Fluch also jetzt ganz anders zu verstehen als bisher, nicht als Ausdruck definitiver Verwerfung, sondern als Moment des göttlichen Heilshandelns. In dem Versuch, diese Denkbewegung des Apostels nachzuzeichnen, will ich einen etwas ungewöhnlichen Einstieg wählen: Ich will zunächst zeigen, wie Paulus nicht von Gott spricht. Daran schließt sich natürlich die Darstellung an, wie er von Gott spricht. Ein nächster Punkt – überschrieben ‚Gott in Christus’ – macht dann deutlich, warum Paulus so von Gott spricht, um dann unter der Überschrift ‚Erkennen als Erkanntsein’ zu zeigen, wie Gotteserkenntnis möglich ist. Abschließend soll nochmals die Spannung zwischen dem Gottesprädikat der Lebendigkeit und Gottes Gegenwart im Gekreuzigten zum Thema werden.

2. Wie Paulus nicht von Gott spricht Wenn in der Metaphysik über das Göttliche nachgedacht wird, dann wird dieses mit Prädikaten bestimmt, welche die differentia specifica des göttlichen Wesens als dessen Andersartigkeit und Überlegenheit gegenüber unserer Wirklichkeit auf den Begriff bringen. Das kann via eminentiae geschehen, d.h. durch die Verabsolutierung der als positiv eingeschätzten Eigenschaften unserer Welt (aus ‚wissend’ wird dann ‚allwissend’, aus ‚mächtig’ wird ‚allmächtig’), oder häufiger via negationis, d.h. durch Verneinung ihrer negativen Aspekte (dem ‚vergänglich’ wird ‚unvergänglich’ entgegengesetzt, ‚sterblich’ wird zu ‚unsterblich’, ‚endlich’ zu ‚unendlich’, ‚begrenzt’ zu ‚unbegrenzt’, ‚sichtbar’ zu ‚unsichtbar’ usw.). Solches bleibt nicht auf den Bereich der paganen Philosophie beschränkt; das gebildete Diasporajudentum hat in dieser Redeweise eine Chance gesehen, die ______________________________________________________________________________________________

in Gal 6,15, „weder Beschneidung noch etwas bedeutet noch Unbeschnittenheit, sondern [nun die] neue Schöpfung [da ist]“. Dieser Bruch wird durch den Begriff der Berufung nur bedingt zum Ausdruck gebracht.

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Transzendenz und Unverfügbarkeit des biblischen Gottes auszudrücken, wie besonders an dem jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien gesehen werden kann, einem etwas älteren Zeitgenossen des Apostels. Auch Paulus entstammt diesem Diasporajudentum, und auch er kennt und verwendet derartige Adjektive. Bis auf eine Ausnahme, wo er in Aufnahme frühjüdischer Götzenpolemik gegen die Verehrung von Geschöpfen anstelle des Schöpfers polemisiert (Röm 1,20 ff.) und entsprechend das ganze Gewicht auf den „unendlichen Unterschied“9 zwischen Schöpfer und Geschöpf legt, verwendet er derartige Adjektive jedoch nicht für Gott, sondern er prädiziert damit das von Gott den Glaubenden zugeteilte Heil wie das ‚ewige Leben’, den ‚unvergänglichen Kranz’, die ‚ewige Behausung’, die ,nicht mit Händen gemacht ist’.10 Am dichtesten finden sich diese Prädikate, vor allem die der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit, im Auferstehungskapitel von I Kor 15, um dort die Existenzweise derer zu beschreiben, die von Gott nach dem Bild des himmlischen Menschen (vgl. 1 Kor 15,49) umgestaltet worden sind.11 Kurz: Aus den klassischen Gottesprädikaten, welche das exklusive Anderssein des göttlichen Wesens auf den Begriff bringen, werden in der paulinischen Theologie inklusive soteriologische Prädikate. Dem entspricht dann auch die Art und Weise, wie der Apostel von Gott spricht.

3. Gottesprädikate Für Gott selbst dagegen verwendet Paulus kaum Adjektive12, und an den wenigen Stellen, wo er dies doch tut, etwa um Gottes Treue13 oder seine Wahrhaftigkeit14 zu bezeichnen, da sind dies Attribute, die nicht Gottes Abgrenzung von allem anderen, sondern seine Beziehung zum Ausdruck bringen. Andere Adjektive werden umgewidmet oder spezifisch ergänzt. So wird das klassische biblische Gottesprädikat der ‚Heiligkeit’ gar nicht mehr für Gott verwandt, sondern prädiziert entweder den an den Glauben_______________ 9 „infinitum inter Deum atque hominem discrimen“; LÖSCHER, V. E., Praenotiones Theologicae, Wittenberg 21713, 342. 10 Die Ausnahme Röm 16,26 ist textkritisch umstritten. 11 „Es wird gesät ins Vergehen, es wird auferstehen in Unvergänglichkeit. Es wird gesät in die Verachtung, es wird auferstehen in Glanz, es wird gesät in Schwäche, es wird auferstehen in Macht“ (I Kor 15,42 f.). Und wenig später: „Alle aber werden wir verwandelt werden. Es muß nämlich dieses Vergängliche mit Unvergänglichkeit bekleidet werden und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit“ (I Kor 15,51c.53). 12 Zum Folgenden vgl. FELDMEIER, R., Paulus, in: AXT-P ISCALAR, CHR./RINGLEBEN, J. (Hg.), Denker des Christentums, Tübingen 2004, 1–22. 13 I Kor 1,9; 10,13; II Kor 1,18 vgl. I Thess 5,24. 14 1 Thess 1,9· ; Röm 3,4: .

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den wirkenden ‚heiligen Geist’ oder gleich diese selbst als ‚Heilige’. Die Rede von Gottes Gerechtigkeit15, die Gott ja markant von der Ungerechtigkeit der unter die Sünde versklavten Welt unterscheidet, hat ihre Pointe gerade nicht in der Entgegensetzung, sondern in der Überwindung dieses Gegensatzes, wie etwa Röm 3,26 zeigt; die in Christus von Gott geschaffene Sühne wird dort als Erweis der göttlichen Gerechtigkeit gedeutet, und zwar dergestalt, daß so Gott „selbst gerecht ist und die gerecht macht, die aus dem Glauben an Jesus leben“. Neben das Adjektiv  ‚ ‚gerecht’ tritt das Partizip    ‚gerecht machen’ – erst beides zusammen macht Gottes Gerechtigkeit aus! Gott begnügt sich sozusagen nicht mit seinem eigenen ‚Gerechtsein’, sondern zu diesem gehört ein entsprechendes Handeln; dazu gehört es, daß er auf die ungerechte Welt ausgreift, in dieser seine Gerechtigkeit durchsetzt. Gottes Wesen erweist sich durch sein entsprechendes Wirken. Und so verwendet der Apostel zumeist dort, wo er durch eine attributive Rede von Gott spricht, mit der er so etwas wie Gottes Wesen zu erfassen sucht, nicht Adjektive, sondern die vom Verb abgeleiteten Partizipien. Es wäre ermüdend, diese jetzt alle aufzulisten16; daher mag hier der summarische Hinweis genügen, daß – bezogen auf Gott – bei Paulus einer handvoll Adjektive mehr als sechzig Partizipien gegenüberstehen. Diese Sprachform ist theologisch aufschlußreich, denn während Adjektive das göttliche Sein qua Eigenschaften definieren, machen die Partizipien deutlich, daß dieser Gott _______________ 15

Röm 3,26 vgl. Röm 3,5; 9,14. Einige Beispiele: Gott ist der Schöpfer (Röm 1,25), als Ursprung, der das Nichts ins Sein ruft (Röm 4,17), und als Erhalter, welcher im Leben Samen und Brot darreicht (II Kor 9,10). Gott ist der Lebendige (Röm 9,26; II Kor 3,3; 6,16; I Thess 1,9), der die Toten lebendig macht (Röm 4,17 vgl. I Kor 15,45) bzw. von den Toten erweckt (Röm 4,24; 7,4; 8,11; II Kor 1,9; 4,14; Gal 1,1). Er ist über allem (Röm 9,5) und unterwirft alles, selbst den Tod als „letzten Feind“ (I Kor 15,27 f.). Die Pointe dieser Macht ist allerdings, daß er die Glaubenden mächtig macht (Phil 4,13), ihnen den Sieg über den Tod verleiht (I Kor 15,57), so daß das Sterbliche vom Leben verschlungen wird (II Kor 5,4). Er besitzt seinen Reichtum für alle (Röm 10,12), teilt seine Gaben mit (I Kor 12,11) und gibt Gedeihen (I Kor 3,6), gibt Ehre (I Kor 12,24) und das Unterpfand des Geistes (II Kor 1,22), aber auch den Eifer ins Herz des Mitarbeiters (II Kor 8,16). Gott prüft unsere Herzen (I Thess 2,4), erfaßt die nichtigen Gedanken der Weisen (I Kor 3,20) und verhängt seinen Zorn (Röm 3,5). Zugleich aber liebt er (Röm 8,37), erbarmt sich (Röm 9,16), tröstet (II Kor 1,4; 5,20; 7,6), macht fest (II Kor 1,21), versiegelt (II Kor 1,22) und vermag zu stützen (Röm 16,25). Er bewirkt die Geistesgaben (I Kor 12,6), das gute Werk (Phil 1,6) und das Wollen und Vollbringen (Phil 2,13). Er beruft (Gal 1,6; 5,8; I Thess 2,12), sondert von Mutterleib aus (Gal 1,15), salbt (II Kor 1,21) und führt im Triumphzug mit (II Kor 2,14). Er schickt seinen Sohn (Röm 8,3) und macht dem Tod seines Sohnes gleichgestaltig (Phil 3,10). Er spricht gerecht (Röm 3,26; 4,5; 8,23), rechnet Vergehen nicht zu (II Kor 5,13), versöhnt den Kosmos mit sich (II Kor 5,19) und richtet das Wort von der Versöhnung auf (II Kor 5,19). 16

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seinem Wesen nach eine wirkend auf andere bezogene Macht ist, eine Macht, welche, das zeigt die nähere Betrachtung dieser Partizipien, diesem Gegenüber zugute kommt.17 Von diesem Gott kann man gar nicht reden, ohne zugleich zu sagen, daß alles aus ihm und durch ihn und zu ihm hin besteht (so Röm 11,36 vgl. I Kor 8,6). Zugespitzt auf die Christen wird dies noch durch zahlreiche passive Partizipien unterstrichen, die in der Form des passivum divinum deutlich machen, daß gläubiges Dasein durch Gottes Zuwendung konstituiert ist: Die Christen sind von Gott ausgesondert (Röm 1,1), eingesetzt (Röm 1,4), geheiligt (Röm 15,16; I Kor 1,2), geliebt (I Thess 1,4), gerettet (I Kor 1,18), befreit (Röm 6,22), versöhnt (Röm 5,10), gerechtfertigt (Röm 5,1.9), mit dem Geist begabt (Röm 5,5), mit Gnade beschenkt (Röm 12,6; 15,15; I Kor 1,4; 3,10), begnadet (I Kor 2,12), reich gemacht (II Kor 9,11), mit Erkenntnis (Röm 15,14) bzw. mit der Frucht der Gerechtigkeit erfüllt (Phil 1,11). Zu verweisen ist weiter auf die Verbaladjektive, welche die Zuwendung Gottes zu den Adressaten als deren Wesen bestimmen: Sie sind , Berufene, $, Erwählte,  , Geliebte. Mit alledem wird so von Gott gesprochen, daß er als Ursprung und Ziel allen Seins (Röm 4,17; I Kor 15,28) diesem gegenübersteht, andererseits aber im Gottessohn den Glaubenden nahe kommt, näher, als diese sich selbst nahe zu kommen vermögen.18 So macht er sie zu neuen Menschen, wie dies ein Schüler des Paulus genannt hat (Eph 2,15; 4,24). Während also, wie oben gesehen, die klassischen exklusiven Gottesprädikate zu soteriologischen Prädikaten werden und nun das dem Menschen eröffnete Heil bezeichnen, spricht Paulus von Gott als dem, der auf die von ihm getrennte Welt ausgreift, indem er sie mit sich versöhnt, den Sünder gerecht spricht, die Verlorenen rettet und in alledem seine neue Schöpfung heraufführt. Ihren Grund aber hat diese Rede von Gott in der paulinischen Kreuzestheologie, also in der Verbindung des lebendigen Gottes mit dem getöteten Menschen.

4. Gott in Christus Schon ein Blick in die Konkordanz zeigt, daß Paulus Gott und Christus aufs engste zusammenrückt. Immer wieder wird davon gesprochen, daß Gott durch Christus für uns und an uns tätig geworden ist: Durch Christus gibt er uns den Sieg über den Tod (I Kor 15,57), durch Christus wird die Gnade ihre Herrschaft antreten und aufgrund der Gerechtigkeit ewiges Le_______________ 17

Das bestätigen auch die Stellen, wo auch in der paganen Welt Partizipien im Blick auf Gott begegnen, in Hymnen, welche die Weltlenkung Gottes beschreiben (vgl. das %     im Zeushymnus des Kleanthes). 18 Vgl. JÜNGEL, E., Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 41982.

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ben bewirken (Röm 5,21). Paulus hat dafür sogar eine eigene Terminologie geprägt, die formelhafte Wendung  7  , ‚in Christus’, die ein Spezifikum seiner Sprache und Theologie ist: Sie kommt bei ihm 164 mal vor, während sie sich außerhalb seiner Briefe kaum mehr findet.19 Einige Beispiele: „Die Sünder werden umsonst gerecht gemacht aus Gottes Gnade durch die Erlösung, die in Jesus Christus ist“ (Röm 3,24). „Die Bezahlung der Sünde ist Tod, das Gnadengeschenk Gottes aber Ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Röm 6,23). In Christus schenkt Gott uns alles (Röm 8,32), in Christus ist die Gnade Gottes gegeben (I Kor 1,4). In Christus hat Gott Freiheit gegeben (Gal 2,4), in Christus Segen (Gal 3,14), in Christus den Siegespreis der himmlischen Berufung (Phil 3,14), in Christus führt er die Glaubenden im Triumphzug mit sich (II Kor 2,14). In Christus ist die Liebe Gottes, von der uns nichts mehr trennen kann (Röm 8,39). Gott hat in Christus den Kosmos mit sich versöhnt (II Kor 5,19). Durch dieses Wirken Gottes in Christus, das wurde ja oben schon angedeutet, wird nun auch das Leben der Gläubigen in den Machtbereich Gottes einbezogen und damit verwandelt. Sie leben nun selbst ‚in Christus’, wie Paulus dann ebenfalls immer wieder sagen kann. Auch hier einige wenige Beispiele: „Betrachtet euch als solche, die zwar durch den Bezug auf die Sünde Tote sind, aber als Lebende im Bezug auf Gott in Christus“ (Röm 6,11). „Von ihm [nämlich von Gott her] seid ihr in Christus, welcher euch von Gott her zur Weisheit wurde und zur Gerechtigkeit und zur Heiligkeit und zur Erlösung“ (I Kor 1,30). In Christus begegnen sich Gott und die Glaubenden, und damit gewinnen diese Anteil an Gottes Gerechtigkeit, an seiner Heiligkeit, seiner Kraft und seiner Lebendigkeit. Dies ist das Herzstück der paulinischen Theologie und das Revolutionäre seines Redens von Gott. Der Schöpfer hat sich im Gekreuzigten auf den Tod und das Verbrechen dieser Welt eingelassen, um gerade am Ort des Todes neues Leben ermöglichen zu können. Gott hat sich also, so sagt es der Erste Korintherbrief, in der Torheit und dem Anstoß (  ) des Kreuzes geoffenbart, um so seine rettende Macht zu erweisen. „Ist Gott für uns – wer könnte gegen uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns preisgegeben hat – wie sollte er nicht mit ihm uns alles schenken?“ (Röm 8,31 f.). Was mit diesem „alles“ gemeint ist, sagt etwa der eben zitierte Vers aus I Kor 1,30: „Von ihm [nämlich von Gott her] seid ihr in Christus, welcher euch von Gott her zur Weisheit wurde und zur Gerechtigkeit und zur Heiligkeit und zur Erlösung.“ Das heißt: In Christus ist Gottes Gerechtigkeit – deshalb sind die Glaubenden _______________ 19

Eine bedingte Ausnahme ist der Erste Petrusbrief, wo diese Wendung noch dreimal vorkommt (3,16; 5,10.14), wohl ein Hinweis auf paulinischen Einfluß. Vgl. dagegen HERZER, J., Petrus oder Paulus? Studien über das Verhältnis des Ersten Petrusbriefes zur paulinischen Tradition (WUNT 103), Tübingen 1998, 84–106.

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in Christus Gerechte; in Christus ist Gottes Heiligkeit – deshalb sind die Glaubenden in Christus Heilige; in Christus ist Gottes Liebe – deshalb sind die Glaubenden in Christus Geliebte. Oder um nochmals Paulus zu zitieren: „Ist jemand in Christus, dann ist er Neuschöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (II Kor 5,17). Das darf nun nicht so verstanden werden, als würde Gott einfach beide Augen zudrücken. Nein, eine Liebe, die an der Lieblosigkeit nur freundlich vorüberginge, wäre unerträglich gleichgültige Lieblosigkeit, und eine Gerechtigkeit, die ‚alle Fünfe gerade sein läßt’, ist eben nichts anderes als Ungerechtigkeit. Die Pointe von Gottes Liebe in Christus besteht also nicht in einem göttlichen ‚Laisser-faire’, sondern darin, daß Gott in Christus die Folgen der sehr wohl verdienten Strafe selbst auf sich genommen hat. Deswegen ist es nicht nur der Auferstandene, in dem Gott erkannt wird, sondern gerade der Gekreuzigte. Sehr prägnant drückt dies der Apostel in Spitzensätzen aus, welche die spätere Theologie mit dem Theologumenon des beatum commercium, des ‚seligen Wechsels’, auf den Begriff gebracht hat: Christus ist arm geworden, damit wir reich würden (II Kor 8,9), Gott hat den, der nicht die Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm zur Gerechtigkeit Gottes würden (II Kor 5,21), Christus ist gestorben, damit wir mit ihm leben (I Thess 5,10). Gott ist also bei Paulus nicht Gegenstand von Betrachtungen und Spekulationen, sondern er ist die  , die Kraft und Fähigkeit, welche die Glaubenden befreit, erlöst, verwandelt, die sie zu Kindern Gottes macht, die ihnen Geduld und Kraft gibt, sie selbst in der Ohnmacht stark macht und im Leiden mit Freude und Hoffnung erfüllt. Von Gott kann man deshalb nach Paulus nicht ‚an sich’ sprechen, sondern so, daß dieses sein Wirken an den Glaubenden, dieses Bestimmtsein durch ihn dabei immer mit ausgesagt ist, z.B. in aktiven und passiven Partizipien. Das sei anhand der paulinischen Aussagen zur Gotteserkenntnis noch ausgeführt.

5. Erkennen als ‚Erkanntsein’. Gotteserkenntnis bei Paulus Wenn man sich die Lebenswende des Paulus vergegenwärtigt, welchem im Rückblick sein früheres Eifern für Gott als eine einzige große Verirrung erscheint, dann verwundert es nicht, wenn der Apostel über die Möglichkeiten des Menschen, von sich aus Gott zu erkennen, sehr gering denkt. Zwar gibt es die theoretische Möglichkeit, den Schöpfer aufgrund seiner Werke in der Schöpfung zu erkennen, wie Röm 1,18 ff. konstatiert, aber faktisch wird diese Möglichkeit immer verfehlt; statt dessen kommt es, wie gerade Röm 1,18 ff. ausführt, zur Vergötzung der Geschöpfe anstelle des Schöpfers: „Gott erkennend haben sie ihm nicht als Gott die Ehre erwiesen

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oder gedankt, sondern sind in ihren Überlegungen dem Nichtigen verfallen und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert (…). Und sie haben die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes verkehrt in ein Bild, das einem vergänglichen Menschen gleicht oder Vögeln oder Vierfüßlern oder Kriechtieren“ (Röm 1,21.23). Aber nicht nur die Heiden verfehlen den Gott, den sie aus der Schöpfung erkennen könnten: Auch die Juden haben zwar den Vorteil, Gottes Wort zu kennen (vgl. Röm 3,2), aber ihr Eifer um Gott, den ihnen der Apostel durchaus konzediert, ist   ’ , wie Röm 10,2 sagt, er geschieht nicht entsprechend der rechten Erkenntnis. Folgerichtig wird wiederholt betont, daß alle Menschen von sich aus Gott gerade nicht bzw. nicht in rechter Weise erkennen. In Anlehnung an den alttestamentlichen Psalter (Ps 14,3; 53,3) kann der Apostel sagen: „Keiner ist verständig, keinen gibt es, der Gott sucht“ (Röm 3,11; vgl. Röm 1,21; I Kor 2,8.14). Aus diesem zusammenfassenden Urteil über Heiden und Juden scheint die einzig mögliche Schlußfolgerung die zu sein, daß allein die Christen die rechte Erkenntnis Gottes haben. Allein – so einfach ist das nicht, schon deshalb nicht, weil jede menschliche Erkenntnis Gottes vorläufig und begrenzt ist. Paulus konstatiert in I Kor 13,12: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem verzerrten Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Als Glaubende leben die Christen eben noch – im Glauben, und das heißt: sie schauen Gott noch nicht (II Kor 5,6 f.), so daß sie noch nicht einmal wissen, wie sie recht beten sollen (Röm 8,26). Aber das Problem besteht nicht nur in der Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens, sondern mehr noch in der verfehlten Intentionalität eines Erkennens, welches auf Verfügung über das Erkenntnisobjekt abzielt. Im Gegensatz dazu ist ein Erkennen Gottes durch den Menschen nur möglich in Gestalt einer gegenseitigen Wahrnehmung, was in dem „von Angesicht zu Angesicht“ ja schon anklang. Entsprechend führt Paulus die eben zitierte Aussage noch durch ein Parallelglied näher aus: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem verzerrten Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Noch erkenne ich nur stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“ Gott Erkennen ist also mehr als die Erfassung einer res durch den intellectus, wodurch das Erkenntnisobjekt dann ‚begriffen’ ist. Die Erkenntnis von Angesicht zu Angesicht bezeichnet demgegenüber einen reziproken Vorgang, in welchem das Gegenüber keineswegs nur passives Objekt ist, sondern seinerseits den Erkennenden erkennt. Das Erkennen, von dem Paulus hier im Zusammenhang mit der Gotteserkenntnis spricht, ist nur im Horizont einer gegenseitigen Beziehung möglich, genauer noch: dort, wo sich der Mensch in einer solchen Beziehung vorfindet (und nicht zufällig findet sich das eben zitierte Wort am Ende des so genannten ‚Hohen Lieds

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der Liebe’ in 1 Kor 13). Diese immer schon bestehende Abhängigkeit des Erkennenden vom Erkennen des göttlichen Gegenübers ist zur Geltung zu bringen, wenn man im Sinne des Paulus von Gotteserkenntnis spricht. Durch dieses Erkanntsein durch Gott ist erst der rechte Gottesdienst möglich: „Aber damals nun, als ihr Gott nicht kanntet, habt ihr denen gedient, die ihrem Wesen nach keine Götter sind. Jetzt aber habt ihr Gott erkannt, genauer noch: Ihr seid von ihm erkannt“ (Gal 4,8 f.). Diesen einigermaßen komplizierten Sachverhalt, daß rechte Gotteserkenntnis nur möglich ist, wo der Mensch selbst zuvor von Gott erkannt ist, macht Paulus an einer Frage deutlich, bei der, so sollte man meinen, im biblischen Kontext alles unstrittig ist: Beim Monotheismus. Anlaß der Ausführungen in I Kor 8,1 ff. ist die Frage, ob man das Fleisch von Tieren, die am Tempel geopfert wurden, essen darf. Es gab in Korinth eine Gruppe von Christen, die aufgrund des Wissens darum, daß es nur einen Gott gibt, keinerlei Probleme damit hatte, solches Fleisch zu essen. Paulus würde ihnen in der Sache auch zustimmen – wenn es da nicht andere gäbe, welche offensichtlich noch so in früheren Vorstellungen befangen waren, daß damit, wie Paulus sagt, „ihr Gewissen befleckt würde“ (V.7). Damit aber würde die Erkenntnis Gottes nicht retten, sondern vernichten. V.11 schreibt Paulus: „Der Schwache geht nun zugrunde durch deine Erkenntnis, der Bruder, um dessentwillen Christus starb.“ Die Erkenntnis der Starken, daß es nur einen wahren Gott gibt, ist zwar richtig, wie Paulus konzediert in I Kor 8,1: „Was aber die Götzenopfer betrifft, so wissen wir, daß wir alle Erkenntnis haben.“ Aber wenn dieser abstrakt rechtgläubige Monotheismus nun dazu benützt wird, die eigenen Interessen durchzusetzen, obgleich es noch Menschen gibt, die in früheren Abhängigkeiten befangen dadurch Schaden nehmen, dann erweist sich diese scheinbar unumstößlich richtige Erkenntnis Gottes als falsche Erkenntnis: „Erkenntnis bläht auf, Liebe baut auf. Wenn jemand meint, er habe erkannt, der hat noch nicht erkannt“ (I Kor 8,1). Die richtige Satzwahrheit über Gott ist eine falsche Erkenntnis, weil sie zwar den korrekten Lehrsatz zitiert, diesen aber nicht so zur Geltung bringt, daß damit die befreiende Macht Gottes Ereignis wird, sondern im Gegenteil das rechtgläubige Wissen benutzt, um eigene Interessen durchzusetzen – selbst wenn dabei Geschwister zugrunde gehen. Die Alternative zu dieser ‚aufblähenden’ Erkenntnis bringt der Apostel in die abschließende Formel: „Wenn aber jemand Gott liebt, dieser ist von ihm erkannt“ (I Kor 8,3). Was in I Kor 13 durch den Kontext des ‚Hohen Lieds der Liebe’ im Hintergrund stand, ist hier bereits explizit gesagt: In einem Erkenntniszusammenhang mit Gott steht, wer Gott liebt. Das unterstreicht nochmals das oben Ausgeführte, daß man Gott gegenüber nicht die Perspektive des neutralen Beobachters einnehmen kann, sondern nur die des Beteiligten, des

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Betroffenen, des ‚Erkannten’. Gott erkennt nur der, der sich von ihm bestimmt weiß und bestimmen läßt, der sich von ihm erkannt weiß. Erkannt weiß er sich zunächst als das, was er von sich selbst aus ist: als einer, der Gott fern ist, der verblendet ist, der in Abhängigkeiten und Schuld verstrickt ist, oder wie Paulus das nennt: der von der Macht der Sünde versklavt ist (vgl. Röm 6,16 f.; 7,14 ff.). Aber das Erkennen des Vaters Jesu Christi bedeutet eben, wie die bisherigen Ausführungen zur paulinischen Rede von Gott bei Paulus gezeigt haben, nicht nur den analysierenden Blick des Richtenden. Vielmehr ist dieser erkennende Blick Gottes der Blick der schöpferischen Liebe, der die Menschen nicht auf das fixiert, was diese von sich selbst aus sind, sondern sie als das anerkennt, was sie nach seinem Willen sein sollen: Gerechte, Geliebte, Heilige, Gottes Kinder. Deshalb aber kann auch von diesem Gott eben immer nur so geredet werden, daß derjenige, der etwas über ihn erkennt und sagt, von diesem Gott als dem spricht, der sich bereits selbst zu ihm in Beziehung gesetzt, dessen Geist in ihm wohnt, der ihn anerkannt und so sich recht gemacht hat. In Korrelation zur Gotteskindschaft des Menschen spricht deshalb Paulus von Gott als Vater. Das ist das Wahrheitsmoment des berühmten Satzes von R. Bultmann: „Will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden.“20 Man kann dies leicht mißverstehen, als ob die Aussagen über Gott letztlich nur Aussagen über den Menschen seien, so daß das Geheimnis der Theologie, wie es schon der Religionskritiker Feuerbach in seinem ‚Wesen des Christentums’ behauptet hat, die Anthropologie sei.21 Bultmann hat dies keineswegs so gemeint, sondern er wollte damit auf den Begriff bringen, was er als Neutestamentler gerade bei Paulus gesehen hatte: Nicht die Anthropologie ist das Geheimnis der Theologie, sondern die Theologie ist das Geheimnis der Anthropologie. Die Theologie ist das Geheimnis der Anthropologie, insofern vom Menschen nur dort recht geredet wird, wo dieser durch Gott erkannt wird und dieses Urteil dankbar als sein Wesen anerkennt. Nur in dieser Erkenntnis, selbst von Gott erkannt, das heißt: von Gott als recht anerkannt zu sein, kann er dann auch seinerseits Gott recht erkennen. Oder um es in der Sprache des Paulus zu sagen: Wer sich als von Gott gerecht gemachten Sünder erkennt, kann Gott als den erken_______________ 20

B ULTMANN, R., Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?, in: DERS., Glauben und Verstehen I, Tübingen 31958, 26–37, 28. 21 „Was nämlich in dieser Schrift sozusagen a priori bewiesen wird, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist, das hat längst a posteriori die Geschichte der Theologie bewiesen und bestätigt. »Die Geschichte des Dogmas«, allgemeiner ausgedrückt: der Theologie überhaupt, ist die »Kritik des Dogmas«, der Theologie überhaupt. Die Theologie ist längst zur Anthropologie geworden“; FEUERBACH, L., Wesen des Christentums, in: DERS., Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin 1973, 7.

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nen, der ihn gerecht gesprochen hat. Eben das meint Paulus, wenn er sagt: „Jetzt aber habt ihr Gott erkannt, genauer noch: Ihr seid von ihm erkannt“ (Gal 4,9); „Noch erkenne ich nur stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin (I Kor 13,12); „Wenn aber jemand Gott liebt, dieser ist von ihm erkannt“ (I Kor 8,3).

6. Der lebendige Gott als der ‚Lebendigmachende’ Kehren wir nochmals zum Ausgangspunkt zurück, der paulinischen Kreuzestheologie. Gegenüber dem verbreiteten Mißverständnis, das Kreuz sei eine Art krudes Opfer für einen zürnenden Gott, ist grundsätzlich festzuhalten: Gott ist für das Neue Testament ein Gott des Lebens, nicht ein Gott des Todes. Und das gilt auch für Paulus: Nicht Gott hat Jesus getötet, sondern die „Herrscher dieser Welt“ haben ihn gekreuzigt (I Kor 2,8). Gott hat auch nicht den Tod Jesu verlangt. Wenn Paulus sagt, daß er seinen Sohn dahingegeben, preisgegeben hat, dann heißt dies: er hat diesen Tod zugelassen. Warum er das getan hat, das versucht der Apostel in seiner Kreuzestheologie deutlich zu machen. Um nochmals an das Eingangskapitel zu erinnern, an das Problem, wie jetzt die von der Schrift bezeugte Verfluchung Christi zu verstehen sei; jetzt heißt es dazu bei Paulus im Sinne des ‚fröhlichen Wechsels’: Christus wurde zum Fluch, um uns vom Fluch loszukaufen (Gal 3,13). Was meint das? Am Kreuz zeigen sich die tödlichen Folgen der menschlichen Gottferne, dessen, was in der Bibel   heißt, Sünde und deren Folge, der Tod. Dabei ist es das Unheimliche der Sünde, daß sie ihre Macht nicht nur in der menschlichen Bosheit und Unmoralität zeigt, sondern daß sie sich auch der besten menschlichen Eigenschaften bedient – bis hin zur Moral und zur Religion. Das war ja gleichsam die Urerfahrung des Paulus bei seiner Begegnung mit dem Auferstandenen, daß sich seine eigene Religiosität, sein durchaus in bester Absicht geschehenes Eifern für Gott als etwas erwies, das verblendet gegen Gott selbst gerichtet war. Gerade hier am Ort der Verblendung, der Lüge, des Fluches, hat Gott eingegriffen, nicht indem er die ungerechte menschliche Geschichte als gerechter Richter abgebrochen hat, sondern indem er dem, was da an Unheil geschehen ist, eine neue heilvolle Wendung gab. ‚Christus wurde zum Fluch, um uns vom Fluch loszukaufen’, d.h. im Sohn hat Gott sich also geradezu selbst ‚definiert’ als der, welcher sich selbst und dem Menschen gerade darin treu bleibt, indem er der Sünde als dem verhängnisvollsten Drang in die Beziehungslosigkeit entgegentritt; indem er die Folge des Fluches selbst trägt, widerspricht er dem Tod zugunsten des Lebens. So erweist er sich gerade im Tod seines Sohnes als der ‚lebendige Gott’.

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Wie eingangs gesehen, hatte diese Bezeichnung Gottes als ‚lebendiger Gott’ ihren ‚Sitz im Leben’ im apologetischen Repertoire der Diasporasynagoge, welche den biblischen Gott polemisch von den ‚stummen’, ‚nichtigen’, ‚toten’ Götterbildern abgrenzte. Das Prädikat ‚lebendig’ gewann sein Profil aus der Entgegensetzung des biblischen Gottes zu den auf ‚tote Bilder’ reduzierten paganen Gottheiten. Insofern aber auch schon der alttestamentliche Gott ein Gott ist, bei dem die Quelle des Lebens ist, wie der Psalmist sagen kann (Ps 36,10), gewinnt das Prädikat ‚lebendig’ über die Abgrenzung hinaus auch eine aktive, das Wirken Gottes bestimmende Bedeutung. Im antiken Judentum wird entsprechend die Bezeichnung ‚lebendig’ erweitert zu ‚lebendig machend’, griechisch  . Das antike Judentum formt daraus ein Gottesprädikat, das nun gerade angesichts der Todeswirklichkeit die lebenschaffende Schöpfermacht hervorhebt: Gott ist   , der die Toten belebt, so preist ihn das Achtzehnbittengebet, er ist der      (JosAs 20,7 vgl. 8,9; syrBar 48,8). Daß Paulus diese letzte Wendung in Röm 4,17 wörtlich übernimmt, zeigt noch einmal, wie sehr er auch in seinem Reden von Gott aus jüdischen, aus biblischen Traditionen lebt. Zugleich gewinnt diese Gottesbezeichnung ihre eigentliche Pointe dadurch, daß sich Gott am Kreuz als der Lebendigmachende erwiesen hat und so die Macht des Todes gebrochen hat, nicht nur für Christus, sondern für alle, die in Christus sind. „Wenn aber Christus in euch ist“, so bringt dies Röm 8,10 f. auf den Begriff, „ist zwar euer Leib tot wegen der Sünde – der Geist aber ist Leben (    ) wegen der Gerechtigkeit. Wenn aber der Geist dessen, der Christus von den Toten erweckte, in euch wohnt, wird derjenige, der Christus von den Toten erweckte, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen () – durch den in euch wohnenden Geist.“ Im großen Auferstehungskapitel I Kor 15 wird dieses Wort   ein Schlüsselwort für das Handeln Gottes: So wie in Adam der Tod über alle kam, „so werden in Christus alle lebendig gemacht werden“ (I Kor 15,22:   – wieder jenes passivum divinum). Christus als der ‚letzte Adam’ ist das    , der lebendig machende Geist (I Kor 15,45). Das ist der Sieg, der uns durch Christus gegeben ist (I Kor 15,57). Indem Paulus an allen diesen Stellen nicht von der Auferweckung, sondern vom ‚Lebendigmachen’ spricht, macht er bewußt das Tun Gottes, das in der Auferstehung erkannt wird, zum Verstehensschlüssel für Gottes Handeln insgesamt: Gott ist derjenige, der aus dem Tod Leben schafft. Entsprechend kann Paulus mit Hilfe dieses Begriffes   das Wirken Gottes in den vielfältigen Bereichen des Lebens wahrnehmen, etwa in dem lebenschaffenden Wirken Gottes, das in den Vorgängen der Natur zu sehen ist: Selbst im Entstehen der Pflanze aus dem absterbenden Korn sieht er diese lebenschaffende Schöpfermacht, die sich am Kreuz Christi geoffen-

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bart hat, am Werk (I Kor 15,36). Die Auferweckung läßt also auch in der Schöpfung Gott als die Macht erkennen, die immer wieder aus dem Tod Leben hervorgehen läßt. Entsprechend wird auch in Röm 4,17 die Aussage, daß Gott die Toten lebendig macht, mit der Schöpfung aus dem Nichts verbunden: Gott ist der, der „die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft.“ In Röm 4 kennzeichnet diese Näherbestimmung, die fast schon eine Definition Gottes darstellt, den Glauben Abrahams. Sie kennzeichnet den Glauben des Erzvaters, der, wie Paulus unter Berufung auf Gen 15,6 feststellt, diesem zur Gerechtigkeit angerechnet wurde und der somit die heilsgeschichtliche Begründung für die paulinische Rechtfertigungsbotschaft gibt. Der Glaube an den Gott, der „die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft“, ist der Glauben an den Gott, welcher den Tod als die „Entlohnung der Sünde“ (Röm 6,23) überwindet; dies ist der Gott, auf den sich der Rechtfertigungsglaube stützt. Entsprechend können die Gerechtfertigten als solche bezeichnet werden, die „gleichsam aus den Toten leben“ (Röm 6,13); auch die von Paulus für das Ende der Geschichte erwartete endgültige Annahme Israels wird, so der Apostel in Röm 11,15, „Leben aus den Toten“ sein. Endlich nimmt der Apostel die Wirksamkeit dieses lebendig machenden Gottes auch immer wieder in dessen bewahrendem Handeln in seinem Leben wahr. So schreibt er am Beginn des Zweiten Korintherbriefes (II Kor 1,8–10): „Wir wollen euch nicht in Unklarheit lassen, liebe Geschwister, über die Bedrängnis, die uns in der Asia widerfuhr, daß wir übermäßig beschwert waren, so daß es über unsere Kraft ging und wir am Leben verzweifelten. Wir hatten über uns bereits das Todesurteil gesprochen. [Das aber hatte den Sinn], daß wir nicht auf uns selbst unser Vertrauen setzten, sondern auf den Gott, der die Toten auferweckt. Er, der uns aus einem so mächtigen Tod gerettet hat und retten wird, in ihn haben wir unsere Hoffnung gesetzt, daß er uns auch weiterhin retten wird.“ Der lebendige Gott, so wie ihn Paulus im Gekreuzigten erkannt hat, ist etwas deutlich anderes als einer der seligen Unsterblichen. Als den Lebendigmachenden sieht ihn der Apostel am Werk – als die sich in Christus gegen Verblendung, Verfehlung und Vergänglichkeit durchsetzende Lebensmacht des Schöpfers und Vaters.

Rabbinisches Judentum

Einheit und Namen Gottes im rabbinischen Judentum HANS-J ÜRGEN BECKER

Das einzige Dogma, das die Mehrheit moderner jüdischer Theologen seit Moses Mendelssohn anerkenne, sei das Dogma, das Judentum habe keine Dogmen – so eine polemische Feststellung Solomon Schechters aus dem Jahre 1889.1 Er selbst war dagegen der Auffassung, man könne durchaus von jüdischen Dogmen sprechen, wenn man diesen Begriff nur mit der gebotenen Vorsicht verwende: allzu spezifisch christliche Interpretationen sollten vermieden werden. Dennoch war es offenbar der Wunsch des konservativen Reformers, durch seine Verwendung des Dogmenbegriffs die jüdische Theologie auf der Höhe der christlichen anzusiedeln und zu zeigen, daß sie dem Vergleich mit ihr durchaus standzuhalten vermag.2 Heute ist solche Apologetik obsolet; geblieben ist aber der alte Wunsch nach einer faßbareren, systematischeren Darstellung jüdischer Theologie, als sie die klassischen, rabbinischen Quellen des Judentums bieten. Das Bemühen darum prägte schon die dreizehn Glaubensartikel des Maimonides aus dem 12. Jahrhundert. Der zweite von ihnen lautet: „Ich glaube mit vollkommenem Glauben, daß der Schöpfer, gepriesen sei sein Name, einzig ist, daß es keine ihm vergleichbare Einheit gibt und daß er allein unser Gott war, ist und sein wird.“ Einen solchen Satz sucht man in der rabbinischen Literatur vergeblich, so daß Solomon Schechter in seinem 1909 zuerst erschienenen (und bis heute mehrfach nachgedruckten) Buch „Some Aspects of Rabbinic Theology“ schon im Titel einräumen muß, daß aufgrund der Art der Quellen eben höchstens „Aspekte“, nicht aber ein System rabbinischer Theologie dargestellt werden können.3 Das liegt letztlich daran, daß der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff „Theologie“ und die damit bezeichnete Sache eben keine Erfindung der Rabbinen ist. Sie haben sich _______________ 1

SCHECHTER, S., „The Dogmas of Judaism“, JQR O.S. 1 (1889) 48–61 und 115–127, hier 48. 2 Dies geschah auch im Sinne der von der Reformbewegung betriebenen Konfessionalisierung des Judentums: formulierte Glaubensartikel sollten die „mosaische Konfession“ von anderen, christlichen Konfessionen unterscheiden, sie aber zugleich mit ihnen verbinden; dazu B AECK, L., „Besitzt das überlieferte Judentum Dogmen?“, zuerst erschienen in MGWJ 70 (1926) 225–236. 3 SCHECHTER, S., Some Aspects of Rabbinic Theology, London 1909; vgl. auch seine Reflexionen zur Problematik einer „rabbinischen Theologie“ in der Einleitung zu diesem Werk, bes. 16f.

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zwar durchaus mit Themen befaßt, die wir der Theologie zuordnen würden, aber sie haben sie nicht systematisch behandelt und keine entsprechende systematisierende Terminologie entwickelt. Will man sich also über theologische Konzepte in den verschiedenen Werken der rabbinischen Literatur verständigen, so ist man genötigt, dazu ein beschreibendes Vokabular zu verwenden, das diese Werke selbst nicht kennen, ein Vokabular, das vielmehr erst seit der großen Synthese des Mittelalter, der des Maimonides, auch in die jüdische Tradition Eingang gefunden hat. Man muß sich der Tatsache bewußt bleiben, daß die Anliegen der Rabbinen damit letztlich nicht authentisch zur Sprache gebracht werden.4 So würde man etwa, wenn man die Rabbinen unter die Befürworter der Existenz Gottes einreihen wollte, zugleich beachten müssen, daß sie den abstrakten Begriff der Existenz gar nicht kennen – es gab in der Antike dafür kein hebräisches oder aramäisches Äquivalent. Die rabbinischen Quellen sprechen vielmehr von der Existenz Gottes, indem sie sein Wirken beschreiben. Typisch dafür ist die aramäische Übersetzung von Ps 14,1, wo es heißt: „Der Tor spricht in seinem Herzen: Gott gibt es nicht“ – dieses törichte „Gott gibt es nicht“ übersetzt Targum Onqelos: „Es gibt keine Herrschaft Gottes auf der Erde.“ Der Bibel zufolge wirkt Gott in der Geschichte. Statt über Gottes Existenz zu philosophieren, sprechen die Rabbinen daher auf der Grundlage der Schrift von seiner Herrschaft und seinem Wirken in der Geschichte. Sie tun dies nicht nur in schriftgelehrten Diskussionen, sondern vor allem auch im vergegenwärtigenden Ritus der jüdischen Feste, deren Verlauf in der rabbinischen Literatur ausführlich behandelt wird. Auf diese Weise geben die Rabbinen eben keine Antwort auf die für sie müßige Frage, ob Gott ist, sondern wer er ist, nämlich der erschaffende, erwählende und befreiende Gott. Der mit diesen Worten angedeuteten Dynamik des Heilshandelns Gottes muß der statische Begriff der Existenz unangemessen erscheinen. Die Existenz Gottes als solche wird daher von den Rabbinen nicht thematisiert. Erst in der jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters ist davon die Rede, daß Gott „war, ist und sein wird“, und auch ein hebräisches Wort für den Existenzbegriff wird von den gelehrten Schulen in Südfrankreich erfunden. Ähnlich wie mit der Existenz scheint es sich zunächst mit der Einheit Gottes zu verhalten. Denn auch der abstrakte Begriff „Einheit“ hat im rabbinischen Hebräischen oder Aramäischen keine Entsprechung und kann nur verbal ausgedrückt werden. Aber anders als Gottes Existenz wurde seine Einheit schon in frührabbinischer, tannaitischer Zeit gegen verschiedene _______________ 4

Vgl. KADUSHIN, M., The Theology of Seder Eliahu, New York 1932, 17ff.; Ders., The Rabbinic Mind, New York 31972, 8–10.

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Gruppen inner- und außerhalb des Judentums apologetisch und polemisch profiliert. Die entsprechende Interpretation bestimmter biblischer Aussagen mußte vor allem innerjüdisch verteidigt werden, denn die Gewißheit, daß Gott Einer ist, hatte sich erst über eine längere Zeit innerbiblisch entwickelt. Während es für die Rabbinen keinen Zweifel an der Einzigkeit Gottes gibt, ist ja in der Bibel zum Teil noch ganz unpolemisch von den Göttern anderer Völker die Rede: Der Gott Israels ist der einzige Gott für Israel, aber nicht unbedingt für die Welt. Die Rabbinen interpretieren solche Stellen im Sinne der Nichtigkeit der anderen erwähnten „Götter“. Die Schrift spricht demnach aus der Sicht der fremden Völker, wenn sie sie als „Götter“ bezeichnet: in Wirklichkeit sind sie aber keine, sondern werden allesamt zu Unrecht verehrt. Der in dieser Auffassung zum Ausdruck kommende universale Monotheismus – wie wir es nennen würden – gründet sich vor allem auf zwei schon innerbiblisch hervorgehobene Stellen, nämlich auf den Beginn des Dekalogs in Ex 20,2–5 und auf Dtn 6,4, wo es heißt: „Höre, Israel, der HERR, unser Gott, der HERR ist Einer.“ Das ist der Beginn des Shma Yisra’el, das zum zentralen Bekenntnis des synagogalen Gottesdienstes werden sollte. Ob es diese im engeren Sinne liturgische Funktion schon in der frühen rabbinischen Zeit besaß, erscheint zumindest fraglich, denn die Mishna – das um 200 n.Chr. zusammengestellte, grundlegende Werk der rabbinischen Literatur – diskutiert Fragen wie die, ob man zur Rezitation des „Höre, Israel“ vom Esel absteigen muß, oder ob ein Erntearbeiter dazu auf dem Baum bleiben darf, auf dem er gerade arbeitet. Andererseits berichtet die Mishna im Traktat Tamid 5,1 von der Lesung des Dekalogs und des „Höre, Israel“ in der täglichen Tempelliturgie, also in der Zeit vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n.Chr. Ob diese Mitteilung historisch zutrifft, ist unsicher. Klar ist lediglich, daß die Mishna für ihre eigene Zeit in vier speziell diesem Thema gewidmeten Kapiteln (mBer 1–4) die individuelle abend- und morgendliche Rezitation des „Höre, Israel“ als selbstverständliche Praxis voraussetzt. Der vollständige Text des „Höre, Israel“ besteht heute aus drei biblischen Abschnitten, die im Morgen- und im Abendgebet von jeweils verschiedenen Lobsprüchen umrahmt sind. Die Mishna setzt die Lobsprüche ebenso wie die Bibeltexte als bekannt voraus und zitiert sie nur mit ihren jeweiligen Anfangsworten. Der erste Abschnitt des Shma Yisra’el ist Dtn 6,4–9: 4 Höre, Israel, der HERR, unser Gott, der HERR ist Einer. 5 Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Vermögen. 6 Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen sein, 7 und du sollst sie deinen Söhnen wiederholen und von ihnen sprechen, wenn du in deinem Hause sitzt und wenn du auf dem Wege gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst. 8 Und du sollst sie zum Zeichen auf deine Hand binden, und

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sie sollen zum Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, 9 und du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben.

Das Hauptgewicht dieses ersten Abschnitts liegt auf seinem ersten Satz, bei dem man heute, als äußeres Zeichen der Konzentration, die Augen mit der Hand bedeckt. Das gewichtigste Wort des ersten Satzes aber ist das Wort echad, „Einer“, das bei der Rezitation besonders betont oder langgezogen werden kann. Das Motiv der Einheit Gottes, wie wir abstrakt sagen würden, steht damit ganz betont am Anfang des Bekenntnisses. Der darauf folgende Vers handelt von der Ungeteiltheit des Menschen, die dieser Einheit entspricht: dem einen Gott kann nur der ganze Mensch dienen, „mit ganzer Seele und mit ganzem Vermögen“. Die abschließenden Verse sind schon in der Antike wörtlich befolgt worden: „Du sollst sie zum Zeichen auf deine Hand binden, und sie sollen zum Merkzeichen zwischen deinen Augen sein“ wurde mit Hilfe der sogenannten Gebetsriemen, hebräisch tefillin (manchmal auch nach dem Griechischen „Phylakterien“ genannt) ganz konkret umgesetzt. Es handelt sich um Lederriemen, die zur ShmaRezitation um die Hand, den linken Oberarm und um den Kopf gebunden werden, so daß zwei an ihnen befestigte Kapseln auf den Oberarm gegenüber dem Herzen und auf die Stirn zu liegen kommen. Diese Kapseln enthalten Pergamentstreifen mit den ersten beiden Abschnitten des „Höre, Israel“ und darüber hinaus Ex 13,1–10 und 11–16, wo es im Zusammenhang der Befreiung aus Ägypten ebenfalls zweimal heißt (V. 9 und 16): „Darum soll es dir wie ein Zeichen sein auf deiner Hand und wie ein Merkzeichen zwischen deinen Augen.“ Solche tefillin wurden sowohl in Qumran gefunden, als auch – aus der Zeit des Bar-Kokhba-Aufstands 132– 135 n.Chr. – im judäischen Wadi Murabba’at.5 Auch das im ersten ShmaAbschnitt gebotene „Du sollst sie auf die Pfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben“ wurde schon in der Antike konkret durch die sogenannte Türpfostenkapsel, hebräisch mesusa, verwirklicht. In dieser neben der Eingangstür eines Hauses oder einer Wohnung angebrachten Kapsel ist eine Pergamentrolle mit den biblischen Texten eingelegt, die das MesusaGebot enthalten. Der zweite Abschnitt des „Höre, Israel“ ist Dtn 11,13–21. Er faßt zunächst alle Gebote im Gebot der Gottesliebe und des Dienstes Gottes zusammen und beschreibt die Verheißung des Segens, die darauf liegt. Dann benennt er ausdrücklich die gegenteilige Möglichkeit, auf der eben kein Segen liegt (V. 16): „Hütet euch, daß euer Herz nicht betört wird und ihr abweicht und _______________ 5 Vgl. KUHN, K.G. (Hg.), Phylakterien aus Höhle 4 von Qumran (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philologisch-Historische Klasse, Jahrgang 1957, 1. Abhandlung), Heidelberg 1957.

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anderen Göttern dient und vor ihnen niederfallt.“ Die darauf folgenden Verse enthalten wieder das Tefillin-Gebot und das Gebot der Mesusa. Der dritte Abschnitt, Num 15,37–41, nennt ein weiteres Zeichen: die sogenannten Schaufäden, hebräisch zizit: 37 Und der HERR sprach zu Mose: 38 Sprich zu den Israeliten und sage ihnen, daß sie sich Fäden machen an die Zipfel ihrer Kleider für ihre Generationen und eine blaue Schnur in die Fäden der Zipfel tun. 39 Und sie sollen euch als Schaufäden dienen: sooft ihr sie anseht, sollt ihr aller Gebote des HERRN gedenken und sie tun, nicht aber eurem Herzen und euren Augen nachspähen, denen ihr nachbuhlt; 40 auf daß ihr gedenkt und alle meine Gebote tut und heilig seid eurem Gott. 41 Ich bin der HERR, euer Gott, der ich euch aus dem Lande Ägypten geführt habe, daß ich euer Gott sei, ich, der HERR, euer Gott.

Das Zizit-Gebot bezog sich ursprünglich auf das alltägliche Obergewand, an dessen Enden die gedrehten Wollfäden anzubringen waren. Daraus entwickelte sich später zum einen der Gebetsmantel (tallit), zum anderen der im Alltag unter den Obergewändern getragene Umhang mit den applizierten Fäden (arba kanfot).6 Inhaltlich steht im Zentrum des dritten ShmaAbschnitts die Erinnerung an den Exodus in Form einer Vergegenwärtigung der befreienden Kraft Gottes. Der Mishna zufolge (mPes 10,5) ist man in jeder Generation verpflichtet, sich selbst so anzusehen, als wäre man aus Ägypten ausgezogen. Der Exodus wird also nicht als ein vergangenes, nur historisches Ereignis betrachtet, sondern als die in jeder Generation gegenwärtige Befreiungs- und Erlösungserfahrung. Die drei Abschnitte des Shma Yisra’el sind nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt aufgrund einer theologischen Entscheidung zusammengestellt worden, sondern im Laufe der Zeit zusammengewachsen. Die antiken Tefillinfunde und Handschriftenfragmente zeigen, daß der dritte Abschnitt zunächst noch nicht dazugehörte und stattdessen wohl der Dekalog eine größere Rolle spielte. So enthält der berühmte, nach seinem Entdecker benannte alexandrinische Papyrus Nash, zu datieren wahrscheinlich schon in das 2. Jahrhundert v.Chr., zu katechetischem oder liturgischem Gebrauch den Dekalog und den Beginn des Shma;7 Fragmente des Dekalogs fanden sich neben den ersten beiden Shma-Abschnitten auch in den Kapseln der

_______________ 6 FOHRER, G., Glaube und Leben im Judentum, Heidelberg – Wiesbaden 31991, 61f.; OSTEN-SACKEN, P. v.d., Katechismus und Siddur. Aufbrüche mit Martin Luther und den Lehrern Israels (VIKJ 15), Berlin 21994, 185ff. (auch zum folgenden). 7 Ibid. 61.160. Faksimile und hebräischer Text bei WÜRTHWEIN, E., Der Text des Alten Testaments. Eine Einführung in die Biblia Hebraica, Stuttgart 41973, 130f.

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Gebetsriemen aus Qumran, zu datieren etwa in das 1. Jahrhundert v.Chr.8 Der dritte Abschnitt fehlt hier, und er hatte und hat bis heute auch insofern eine Sonderstellung, als er nur morgens, nicht aber abends rezitiert wird. Die Mishna begründet aus dieser ihr bereits vorgegebenen liturgischen Tatsache die nachgestellte Position des dritten Abschnitts am Ende des „Höre, Israel“, obwohl er ja nach biblischer Reihenfolge dem zweiten vorangehen müßte. Dieselbe Mishnastelle (mBer 2,2) begründet auch die Reihenfolge der ersten beiden Abschnitte, wie folgt: Warum steht (der Abschnitt) Shma (d.i. der erste Abschnitt Dtn 6,4ff.) vor (dem Abschnitt) Wehaya im shamoa (d.h. Dtn 11,13ff.)? Damit man erst das Joch der Himmelsherrschaft auf sich nehme und danach das der Gebote.

An diese Erklärung schließt sich eine weitere, zu den Zehn Geboten, an, die die Frage beantwortet, warum der Dekalog nicht gleich am Beginn der Tora stehe. Die Antwort darauf ist, daß am Anfang des Weges Gottes mit Israel die geschichtliche Erfahrung und Anerkennung Gottes als des Herrn stehen müsse. Erst wenn dieses Verhältnis begründet ist, folgen die Gebote Gottes und der Gehorsam gegenüber seinen Geboten als Ausdruck dieses Verhältnisses.9 Die Mishna, auf die sich die bisherigen Ausführungen stützen, markiert mit ihrer Zusammenstellung älterer mündlicher und schriftlicher Überlieferung das Ende der sogenannten tannaitischen Epoche, in die auch weitgehend die Tosefta und eine Reihe palästinischer Midrashim hineingehören, aus denen im folgenden noch zitiert werden soll. Problematisch ist es dagegen, zur Beschreibung liturgischer Sachverhalte in dieser Zeit auf den Siddur, das jüdische Gebetbuch, zurückzugreifen, das erst im frühen Mittelalter, und zwar zunächst im Zweistromland, schriftlich fixiert wurde. Wenn die Mishna in den ersten Kapiteln des Traktats Berakhot die Umrahmung des „Höre, Israel“ mit bestimmten Benediktionen voraussetzt, muß offen bleiben, ob sie dabei den Wortlaut der Lobsprüche im Sinn hat, die sich im jüdischen Gebetbuch finden. Die in der Mishna zitierten Anfangsworte stimmen zwar mit denen im Siddur überein, aber die Verfasser der Lobsprüche im Siddur könnten sich auch umgekehrt an die in der Mishna genannten Anfangsworte angelehnt haben. Beschränkt man sich daher auf die Mishna als Quelle, so läßt sich doch immerhin aus den dort genannten Anfangsworten der jeweils ersten Benediktion vor dem „Höre, Israel“ im Morgen- bzw. im Abendgebet eine bestimmte theologische In_______________ 8

SCHNEIDER, H., „Der Dekalog in den Phylakterien von Qumrân“, BZ 3 (1959) 18–

31. 9

Vgl. B ECKER, H.-J., Auf der Kathedra des Mose (ANTZ 4), Berlin 1990, 162–164 (zu mBer 2,2).

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tention ableiten. Der Lobspruch vor der morgendlichen Shma-Rezitation heißt nämlich „Schöpfer des Lichts“, der vor der abendlichen „Der die Abende heraufführt“. Es ging, wie sich aus diesen Titeln mit großer Wahrscheinlichkeit schließen läßt, um die Zusammengehörigkeit der im „Höre, Israel“ betonten Einheit Gottes mit seinem fortdauernden Wirken als Schöpfer, der die alleinige Macht über seine Schöpfung hat und sie täglich erneuert. Der damit hervorgehobene theologische Zusammenhang zwischen der Einheit Gottes und seinem Schöpferwirken wird in der Mishna nicht nur hier, als Teil des Gebets, sondern auch mehrfach in apologetischem Kontext vorausgesetzt. Eine Stelle im Traktat über den Götzendienst (mAZ 4,7) bemüht sich darum, Einwände gegen die Einzigkeit Gottes zu entkräften, die sich aus der ungestörten Existenz von Götzen und Götzendienst ergeben. Statt von „Götzendienst“ spricht die Mishna allerdings von „Avoda Sara“, das heißt wörtlich „fremder Dienst“, und die „Götzen“ werden zumeist, je nachdem, wovon die Rede ist, konkret als „Standbilder“, „Asherot“, „Sterne“ usw. bezeichnet. Die in der Mishna gestellte Frage lautet: Wenn die fälschlich als Götter verehrten Dinge keine Macht haben, warum werden sie nicht von dem vernichtet, der doch die uneingeschränkte Souveränität über seine Schöpfung besitzt? Wenn Gott der Götzendienst nicht gefällt, warum verhindert er ihn nicht, indem er die Götzen zerstört? Man fragte die (jüdischen) Ältesten in Rom: Wenn (Gott) keinen Gefallen hat am fremden Dienst, warum vernichtet er ihn nicht? Sie antworteten ihnen: Wenn sie einer Sache dienen würden, die die Welt nicht nötig hat, so würde er (diese Sache) vernichten. Aber sie dienen der Sonne, dem Mond, den Sternen und Sternbildern. Soll er denn seine Welt untergehen lassen wegen der Dummköpfe?

Schon der Ort des Gesprächs und der Inhalt der Frage legen die Annahme nahe, daß nicht Juden sie stellen – nach einer Parallelüberlieferung der Tosefta sind es denn auch ausdrücklich „Philosophen“. Die Geschichte ist aber im Ganzen kein Bericht über einen tatsächlich geschehenen Vorgang, sondern eine literarische Konstruktion. Gespräche von Repräsentanten der nicht-jüdischen Welt mit verschiedenen Rabbinen bilden in der rabbinischen Literatur geradezu eine eigene Gattung. Auf eingangs gestellte Fragen haben dabei die befragten Rabbinen meist eine überraschend gute Antwort. Oft setzen die Gespräche auf beiden Seiten ein hohes Maß jüdischer Bildung voraus. Manchmal erklären sich merkwürdig erscheinende Fragen erst von der Antwort her. Darum ist anzunehmen, daß die Rabbinen gerne sie interessierende, aber in gewisser Hinsicht kompromittierende Fragen „Philosophen“ oder auch „Kaisern“, römischen Matronen und anderen in den Mund legten, um dann eine überzeugende Antwort im Namen

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eines Rabbis zu formulieren. Diese Antwort ist zur Unterrichtung der Rabbinenschüler gedacht; die Apologetik hat also eine innerjüdische Ausrichtung. Die in dem zitierten Beispiel gestellte Frage lautet: Wenn der fremde Dienst nicht wohlgefällig ist (vor Gott), warum vernichtet er ihn nicht? Man könnte hinzufügen: Hat er etwa nicht die Macht, ihn zu vernichten? Oder ist der Götzendienst vielleicht doch wohlgefällig vor Gott? Eine solche Frage dürfte von einem Rabbi kaum gestellt werden. Inhaltlich aber ist sie durchaus naheliegend: Wie verträgt sich die Macht Gottes mit seiner Indifferenz gegenüber dem Götzendienst? Er könnte doch leicht die Götzen vernichten? Aber, so die Antwort, bei diesen Götzen handelt es sich um wesentliche Bestandteile der Schöpfung: Sonne, Mond und Sterne. Ihre Zerstörung käme einer Zerstörung der Schöpfung gleich, einem Akt, der wiederum in keinem Verhältnis zu seinem Anlaß stünde: wegen einiger „Dummköpfe“, die die Schöpfung mit dem Schöpfer verwechseln, wird Gott nicht seine Schöpfung vernichten. Denn dies ist die Verhältnisbestimmung Gottes zu den Götzen in diesem Text: es ist das Verhältnis des Schöpfers zu den Geschöpfen. Die Götzen besitzen keinerlei eigenständige Macht. Die „Philosophen“ geben sich mit dieser Antwort aber keineswegs zufrieden: Da sagten sie zu ihnen (den Ältesten): Wenn es so ist, so sollte doch (Gott unter den Dingen, die als Götzen verehrt werden,) untergehen lassen, was die Welt nicht nötig hat, und bestehen lassen, was die Welt nötig hat!

Es sind ja nicht immer gleich Sonne, Mond oder Sterne, die verehrt werden, sondern oft auch Bilder aus Metall, Stein oder Ton. Der Mishnatraktat Avoda Sara kennt zahlreiche Klassen solcher Götzen. Diese könnte Gott doch immerhin vernichten. Die Antwort hierauf ist nicht weniger geschickt als die Frage: Sie antworteten ihnen: Wir werden doch nicht die Position derer stärken, die jenen (den Himmelskörpern) dienen, daß sie sagen: Da seht ihr, daß sie Götter sind, denn sie sind (im Unterschied zu den anderen) nicht vernichtet worden.

Der Sinn der Argumentation besteht darin, Gottes passives Verhalten im Hinblick auf alle Arten von Götzen zu rechtfertigen. Die großen vernichtet er darum nicht, weil sie Teile seiner Schöpfung sind, die er nicht um menschlichen Irrtums willen untergehen lassen will. Die kleinen vernichtet er nicht, um nicht die großen zu stärken und dem Irrtum Vorschub zu leisten, sie seien wirklich Götter. Das Argument gegen die Einheit Gottes, das in diesen Texten zurückgewiesen wird, ist die fortdauernde Existenz der Götzen und des Götzen-

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dienstes. Die Antwort auf diesen Einwand lautet, daß Gott um des Erhalts seiner Schöpfung und ihres natürlichen Laufes willen Geduld mit den Götzendienern hat. Sie müssen zwar später Rechenschaft ablegen, haben aber bis dahin noch eine Frist. Die Geduld Gottes, die sich darin zeigt, daß er seinem Zorn gegen Götzen und Götzendiener nicht freien Lauf läßt, ist die Bedingung für den Bestand der Welt und für den Lauf der Geschichte. Darüber hinaus ist sie aber auch die notwendige Voraussetzung für die von Gott gewollte Eigenverantwortlichkeit des menschlichen Handelns. Dem Menschen ist gesagt, was gut und was böse ist, und die Möglichkeit der freien Wahl ist ihm von Gott gegeben. Gerade in seiner Geduld mit der Schöpfung erweist sich Gott demnach als ihr einziger Souverän. Eine Konsequenz, die die Mishna daraus zieht, ist ihr bemerkenswerter Verzicht auf jeglichen religiösen Eifer gegen die Ungläubigen. Im Traktat über den Götzendienst geht es statt dessen ausschließlich um die eigene, möglichst klare Abgrenzung vom Götzendienst der Heiden und von ihren Götzen. Er handelt daher vor allem von Vorkehrungen, die man treffen soll, um gar nicht erst mit Götzendienst in Berührung zu kommen, diskutiert aber auch die Frage, inwieweit etwa Bruchstücke von ausgedienten Götzen oder Teile von heidnischen Bildern zu profanen Zwecken verwendet werden dürfen. Die striktere Lösung in den verschiedenen Einzelfällen wird dabei immer wieder maßgeblich mit Dtn 13,18 begründet: „Nicht das Geringste vom Gebannten soll an deiner Hand haften.“ Im alltäglichen Leben war dies offenbar nicht immer leicht einzuhalten. Die Vertreter der Auffassung, man dürfe ein Götzenbild nicht einmal ansehen, mußten zum Beispiel zugeben, daß man angesichts des römischen Kaiserkults dann auch die Münzen des alltäglichen Gebrauchs nicht ansehen durfte, auf denen der Kaiser abgebildet war. Oder sollte man auf den allseits beliebten und zur Körperreinigung auch notwendigen Besuch im städtischen Dampfbad verzichten, weil dort in der Regel Götterstatuen aufgestellt waren? Die Mishna bietet dazu eine anschauliche Geschichte (mAZ 3,4): Proklos ben Ploslos (offenbar verballhornt aus „Peroklos Philosophos“) befragte Rabban Gamli’el in Akko, als der im Bad der Aphrodite badete. Er sagte zu ihm: In eurer Tora steht geschrieben „Nicht das Geringste vom Gebannten soll an deiner Hand haften.“ (Dtn 13,18) Wieso badest du (dann) im Bad der Aphrodite? Er sagte zu ihm: Man antwortet nicht (auf solche Fragen) im Bad. Nachdem er (das Bad) verlassen hatte, antwortete er ihm: Nicht ich bin in ihren Bereich gekommen, sondern sie kam in meinen Bereich. Man sagt nicht: Ein Bad ist zur Zierde der Aphrodite gemacht worden, sondern: Eine Aphrodite ist zur Zierde des Bads gemacht worden.

Die Aphrodite-Statue gehört also nach Rabban Gamli’el zum schmückenden Inventar des Bads; sie ist offensichtlich nicht Gegenstand religiöser

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Verehrung, sondern nur Beiwerk wie ein beliebiges Mosaik oder eine ornamentale Wandbemalung. Ein weiteres Argument bringt die Fortsetzung dieser Mishnastelle: Eine andere Antwort: Selbst wenn man dir viel Geld (dafür) geben würde, würdest du etwa nackt und mit Sperma behaftet zu deinem Götzen (in den Tempel) hineingehen und vor ihm urinieren? Diese (Aphrodite) aber steht über dem Ende der Abflußrinne, und alles Volk uriniert vor ihr. Es steht (aber) nur geschrieben „ihre Götter (sollt ihr zerschlagen)“ (Dtn 12,3) – was wie eine Gottheit behandelt wird, ist verboten; was nicht wie eine Gottheit behandelt wird, ist erlaubt.

Kriterium für einen Götzen ist demnach die Verehrung, die ihm entgegengebracht wird. Die heidnische Verehrung eines Bildes oder einer Statue definiert diese als Götzen. Wenn der Nichtjude ein Bild nicht als Götzen behandelt, dann liegt auch kein Grund vor, es jüdischerseits als Götzenbild zu betrachten.10 Schwieriger ist das Problem im Blick auf Naturalien, die zum Götzendienst hergestellt oder benutzt wurden. Wie kann man sicherstellen, daß man keinen zur Libation bestimmten Wein oder zum Götzenopfer verwendetes Fleisch zu sich nimmt (mAZ 2,19)? Was ist, wenn sich herausstellt, daß das Holz, das man gerade verfeuert hat, von einem Baum stammte, mit oder unter dem Götzendienst getrieben wurde (mAZ 3,9–10)? Die Beschäftigung mit solchen Fragen zeugt von der Ernsthaftigkeit des Problems: Israel darf, auch indirekt, nicht am Götzendienst teilhaben. Der Mishnatraktat Avoda Sara befasst sich mit diesen Dingen auf gänzlich unpolemische, sachliche Weise. Sein Anliegen ist es, der Anwendung der biblischen Bestimmung über „Gebanntes“ bis ins Detail nachzugehen. An keiner Stelle spekuliert er dabei über eine möglicherweise in einem Götzenbild verborgene Kraft, die gemieden werden müßte. Vielmehr schließt er jegliche Berührung mit anderen Göttern darum aus, weil er sie für bloße Götzen hält und dem einen Gott die Ehre geben will. So exklusiv das rabbinische Bekenntnis in dieser Beziehung ist, so anspruchsvoll ist es, wie sich gezeigt hat, in der Praxis. Man könnte es darüber hinaus auch radikal nennen, und zwar im wörtlichen Sinne. Da Gott als Wurzel aller Dinge verstanden wird, ist die Bezeichnung für einen Gottesleugner hebräisch kofer ba-’iqar, jemand, der die Wurzel negiert. Solche Leugnung Gottes, die nicht dasselbe sein muß wie Atheismus, wird natürlich vor allem den Nicht-Juden nachgesagt. Sie dienen falschen Göttern und lehnen den einen Gott ab. Es gibt aber auch den jüdischen kofer ba-’iqar, der Gott kennt, ihn aber nicht anerkennt. Seine Gottesleugnung _______________ 10 Zu weiteren Einzelzügen von mAZ 3,4 s. J ACOBS, M., „Römische Thermenkultur im Spiegel des Talmud Yerushalmi“, in: S CHÄFER, P. (Hg.), The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture I (TSAJ 71), Tübingen 1998, 219–311, hier 260ff.

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läßt sich aus seinen Taten ablesen. Er kümmert sich nämlich nicht um die Gebote und gibt damit zu erkennen, daß er die Herrschaft Gottes nicht akzeptiert. So heißt es in der Tosefta (Shevu’ot 3,6): Einmal verbrachte Rabbi Re’uven den Sabbat in Tiberias. Ein gewisser Philosoph suchte ihn auf und fragte ihn: Wer ist (deiner Meinung nach) in der Welt verhaßt? (Der Rabbi) antwortete ihm: Einer, der den verleugnet, der ihn erschaffen hat. Fragte ihn (der Philosoph): Wie (das)? Der antwortete ihm (vgl. Ex 20,12ff.): Du sollst Vater und Mutter ehren; du sollst nicht morden; du sollst nicht die Ehe brechen; du sollst nicht stehlen; du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten; und du sollst nicht begehren: ein Mensch wird nichts (davon) verleugnen, ohne (zuvor) die Wurzel verleugnet zu haben, und ein Mensch wird nicht hingehen und (eines dieser Gebote) übertreten, wenn er nicht (zuvor) den verleugnet hat, der es geboten hat.

Die Antwort des Rabbi ist auf dem Hintergrund der überraschenden Tatsache zu verstehen, daß auf der zweiten Tafel des Dekalogs Gott nicht ein einziges Mal genannt wird, anders als auf der ersten. Daraus zieht er den Schluß, daß diese Gebote des menschlichen Umgangs miteinander nicht als in sich sinnvoll oder verbindlich betrachtet werden können. Vielmehr hänge ihre Gültigkeit von der zu Beginn des Dekalogs gebotenen Anerkennung des einen Gottes ab, Ex 20,3: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Das Bekenntnis zu diesem einen Gott umfaßt zugleich seine Anerkennung als Schöpfer, Ex 20,11: „Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist.“ Erst danach folgen die zitierten Gebote, allen voran das Ehren von Vater und Mutter, dem im biblischen Kontext eine Segensverheißung unter Erwähnung des Gottesnamens angefügt ist und das daher noch einmal eine Sonderstellung einnimmt. Grundsätzlich aber gilt nach der Auslegung in der Mekhilta, daß jemand, der seinen Schöpfer verleugnet, also den Beginn des Dekalogs nicht akzeptiert, keinen Grund hat, die Gebote der zweiten Tafel zu halten. Da diese Gebote nicht sinnvoll sind ohne die Anerkennung des Schöpfers, ist auch der Umkehrschluß erlaubt: jemand, der seinen Schöpfer verleugnet, ist gerade daran zu erkennen, daß er die von ihm gegebenen Gebote nicht hält.11 Hierin kommt wieder deutlich zum Ausdruck, daß die Rabbinen das Bekenntnis zu dem einen Gott nicht auf einer theoretischen Ebene verhandeln. Es wird nicht über Existenz oder Nicht-Existenz Gottes gestritten, sondern um das Bekenntnis zu Gott, das sich im Halten der Gebote äußert. Theologie und Ethik sind unmittelbar aufeinander bezogen, abstrakte Spekulationen fehlen. Das Leugnen des eigenen Schöpfers erscheint dabei als widersinnig; Leugnung oder Anerkennung sind aber jedenfalls ablesbar am _______________ 11

Zu kofer ba-’iqar und verwandten Begriffen vgl. URBACH, E.E., The Sages. Their Concepts and Beliefs, Jerusalem 21979, 26–29.

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Umgang mit den Geboten, die der Schöpfer den Menschen gegeben hat. Es wird also weniger die zugrundeliegende Geisteshaltung thematisiert, als vielmehr die Praxis: ein kofer ba-’iqar, ein „Leugner der Wurzel“, ist daran zu erkennen, daß er die Gebote des zwischenmenschlichen Miteinanders bricht. Jemand, der dies tut, ignoriert die Gegenwart Gottes, der die Taten seiner Geschöpfe kennt und beobachtet. Der Mensch wird zur Rechenschaft gezogen werden – nicht für seine Geisteshaltung, sondern für die daraus erwachsenen Taten. Sie lassen eindeutig auf sein Verhältnis zu Gott schließen. Ein Gottesleugner ist also nicht nur jemand, der Gott offenkundig schmäht, sondern auch jemand, der ihn in seinem Handeln ignoriert. Es ist nicht so sehr ein theoretischer Atheismus, sondern gerade diese Ignoranz, gegen die die Rabbinen angehen: eine Art praktischer Atheismus, der annimmt, daß Gott so wenig von der Welt und vom Menschen weiß oder wissen will, daß man entweder berechtigt ist, völlig unter Absehung von Gott zu handeln oder aber daß man, im Fall des Falles, seine Taten leicht vor ihm verbergen kann. Dem ist aber nicht so. Gott interessiert sich für den Menschen. Er kennt sein Herz, und er kennt seine Taten. Wer dies leugnet, leugnet nach rabbinischer Auffassung Gott selbst. Er ist ein kofer ba-’iqar, einer, der die Wurzel aller Dinge, auch seine eigene Wurzel verneint. In Anlehnung an die epikureische Philosophie, die behauptete, Gott oder die Götter kümmerten sich nur um sich selbst, nicht aber um die Menschen, wird ein solcher Gottesleugner in der rabbinischen Literatur auch mit dem griechischen Namen „Apikoros“, „Epikureer“, bezeichnet. Im Gegensatz zum „Apikoros“ unterstreichen die Rabbinen mit ihrem Bekenntnis zu dem einen Gott zugleich ganz entschieden die Gültigkeit seiner Gebote.12 Eine weitere Gotteslehre, der die Rabbinen das Bekenntnis zur Einheit Gottes betont gegenüberstellen und die zugleich zur abgrenzenden Profilierung dieser Einheit dient, ist offenbar die gnostische. Denn auf wen sonst könnten sich jene Stellen in Talmud und Midrash beziehen, die gegen die Auffassung argumentieren, es gebe „zwei Mächte im Himmel“? Die Forschung hat hier immer das dualistische Gottes- und Weltbild der Gnosis im Hintergrund gesehen, die Lehre von den zwei Göttern, der eine der verborgene, gütige Gott, nach dessen Erkenntnis der Mensch streben soll, um die Welt der Erlösung näherzubringen, der andere der böse Schöpfergott, der

_______________ 12

B ECKER, H.-J., „’Epikureer’ im Talmud Yerushalmi“, in: SCHÄFER (Hg.), Talmud Yerushalmi I, 397–421.

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Demiurg, der gerade dies zu verhindern sucht.13 Schwer zu beantworten ist aber die Frage, welche „gnostischen Kreise“ die Rabbinen konkret vor Augen hatten. Bekanntlich war ja die Gnosis keine einheitliche Bewegung, sondern bestand aus vielen verschiedenen, vorwiegend sich christlich verstehenden, aber auch rein paganen Gruppierungen. Außerdem gab es mindestens eine jüdische Richtung, deren schriftliche Zeugnisse der Gnosis zumindest nahestehen: es sind die sogenannten Hekhalot-Texte, die Traktate von den himmlischen Palästen. In ihnen spielt u.a. der Aufstieg zum Thron Gottes durch die Himmelssphären eine Rolle, ein Aufstieg, der nur mittels der Kenntnis bestimmter Siegel, Kombinationen von Gottes- und Engelnamen und magischer Praktiken gelingen kann. Trotz weitgehender Parallelen zu den bekannten gnostischen Schriften fehlt dieser Literatur aber etwas, das man oft als Bindeglied zwischen den verschiedenen gnostischen Gruppierungen angesehen hat, nämlich das dualistische Gottesbild. Wie immer man diese esoterischen jüdischen Texte einordnet – vermutlich stammen sie erst aus späterer, nachtannaitischer Zeit und haben ihren Ursprung nicht in Palästina, sondern im Zweistromland14 – ihnen fehlt jedenfalls gerade jenes dualistische Element, mit dem sich die rabbinischen Quellen auseinandersetzen, wenn sie gegen die angeblichen „zwei Mächte im Himmel“ argumentieren. So enthält etwa die Mekhilta, der tannaitische Midrash zum biblischen Buch Exodus, folgende Auslegung zu Ex 20,2, dem gewichtigen Vers zu Beginn des Dekalogs, der mit den Worten „Ich bin der HERR, dein Gott“ beginnt:15 R. Natan sagt: (Diesem Vers) entnehmen wir eine Antwort auf die Häretiker, die sagen, es gebe zwei Götter: Als (Gott), er sei gepriesen, aufstand und sprach „Ich bin der HERR, dein Gott“, wer war da, der aufstand und ihm widersprach?

Die Auslegung im Namen Rabbi Natans will besagen, daß doch die angebliche höhere Macht, die über dem Gott stand, der Israel das Gesetz gab, hier wegen der Anmaßung des Demiurgen hätte eingreifen müssen. Sie hätte dem Gott des Gesetzes nicht erlauben können, zu sagen „Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten führte, aus dem Sklavenhaus“, sondern hätte einschreiten und widersprechen müssen. Die _______________ 13 Forschungsüberblick bei SEGAL, A.F., Two Powers in Heaven. Early Rabbinic Reports about Christianity and Gnosticism, Leiden 1977, 9ff.; vgl. außerdem COHON, S.S., Essays in Jewish Theology, Cincinnati 1987, 114ff. 14 BECKER, H.-J., „The Magic of the Name and Palestinian Rabbinic Literature“, in: SCHÄFER, P. (Hg.), The Talmud Yerushalmi and Graeco-Roman Culture III (TSAJ 93), Tübingen 2002, 391–407. 15 MekhY Bachodesh 5 (HOROVITZ 220).

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Schrift sagt aber nichts von einem solchen Eingreifen einer höheren Macht. Daraus ist zu schließen, daß es eine solche höhere Macht nicht gab und nicht gibt. Vielmehr ist der Gott, der das Gesetz gab, der einzige. Er ist identisch mit dem Gott, der sich überall in der Bibel manifestiert und der sich in der Geschichte Israels immer wieder auch als Befreier und Erlöser offenbart hat. Das betont die Mekhilta, indem sie das Zeugnis der Schrift ausdrücklich für unvereinbar mit einer möglichen dualistischen Anschauung der „Völker der Welt“, also mit einer nicht-jüdischen Position, erklärt, die dennoch meint, sich auf die Schrift berufen zu können:16 Die Schrift gibt den Völkern der Welt keine Handhabe, zu sagen: Es gibt zwei Mächte, sondern (sie sagt; Ex 20,2): „Ich bin der HERR, dein Gott.“ Ich (war da) in Ägypten. Ich (war da) am Meer. Ich (war da) am Sinai. Ich (war da) in der Vergangenheit, ich (werde da sein) in der Zukunft. Ich (bin da) in dieser Welt, ich (werde da sein) in der zukünftigen Welt.

Dieser Abschnitt interpretiert den Gottesnamen, das Tetragramm, das in Ex 20,2 verwendet wird, im Sinne des „Ich bin, der ich bin“ in Ex 3,14: Ich, der euch in der Vergangenheit begleitende und in der Gegenwart erscheinende Gott, werde auch in der Zukunft da sein. Derselbe Gott, der jetzt, am Sinai, das Gesetz gibt, hat Israel in der Vergangenheit aus Ägypten befreit und wird Israel auch in der Zukunft erlösen. Um dies zu untermauern, zitiert die Mekhilta im weiteren noch vier Belegstellen aus der Schrift, die im Verständnis des Midrash alle die Identität des einen Gottes durch die Zeiten hindurch beweisen (Dtn 32,39; Jes 46,4; Jes 44,6; Jes 41,4). Sie besagen, daß Gott unter seinen verschiedenen Handlungsweisen wie Töten und Lebendigmachen, Schlagen und Heilen, Tragen und Erretten immer der einzige und selbe ist. Der erlösende und der gebietende Gott ist einund derselbe. Dies bringt Ex 20,2, „Ich bin der HERR, dein Gott“, nach Auffassung des Midrash auch dadurch zum Ausdruck, daß dort die beiden biblischen Gottesnamen der HERR, also das Tetragramm, und „Gott“, also hebräisch elohim, unmittelbar nebeneinander stehen. Unter den verschiedenen in diesen beiden Namen zum Ausdruck gebrachten Aspekten und Wirkweisen Gottes ist er ein- und derselbe.17 _______________ 16

Horovitz 220; Kontext und Parallelen bei SEGAL, Two Powers, 33ff. Dazu im folgenden. Einer der in der Mekhilta zitierten Verse, Jes 44,6, dient auch im (späten) Midrash Rabba zu Exodus 20,2 der Verteidigung der Einheit Gottes, dort aber wohl gegen eine rechtgläubige, jedenfalls nicht klar als gnostisch charakterisierte christliche Position (ShemR 29,5): „’Ich bin der HERR, dein Gott’ – R. Abbahu sagte: Gleichnis von einem König von Fleisch und Blut, der regiert und einen Vater oder Bruder hat. Der Heilige, er sei gepriesen, sprach: Ich bin nicht so. ‚Ich bin der Erste’, denn ich habe keinen Vater; ‚und ich bin der Letzte’, denn ich habe keinen Bruder; ‚und außer mir ist kein Gott’, denn ich habe keinen Sohn.“ Die Ausrichtung der Polemik hat sich gegenüber der frühen, tannaitischen Zeit offenbar verändert. 17

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Der Stelle aus der Mekhilta und weiteren, vergleichbaren Texten im Midrash geht es primär um die Schriftauslegung. Wir können daher aus ihnen nicht unmittelbar auf konkrete, im Hintergrund stehende gnostische Lehren schließen, denn die gegnerische Position könnte im Sinne der Schriftdeutung schematisiert und verzeichnet worden sein. Auffällig ist aber, daß die Mekhilta ihre antidualistische Position gerade in der Interpretation des Dekalogs entwickelt. Gott erscheint ja in Ex 20,2 als der Geber des Gesetzes. Es war aber die christliche Gnosis, die den gesetzgebenden Gott von dem Gott der Liebe geschieden hat. Der Gott, der das Gesetz gegeben hat, der auch die Welt geschaffen und den Menschen in die Gesetze dieser Welt verstrickt hat, ist der anmaßende Demiurg, der unseren Aufstieg zu dem wahren Gott, dem Vater Jesu Christi, dem Gott der Liebe, verhindern will. Die inhaltliche Zielrichtung des zitierten Textes wird am ehesten plausibel, wenn man in ihrem Hintergrund gerade eine ähnliche Auffassung annimmt: Der Gott, der das Gesetz am Sinai gegeben hat – so der Midrash – war auch in Ägypten da. Er ist also nicht der zweite, gesetzgebende Gott nach einem ihm vorausgehenden und über ihm stehenden, liebenden und befreienden Gott, sondern er ist der Erste. Er ist auch der Letzte, denn er wird seine Herrschaft niemandem übergeben. Die Rabbinen sahen sich zu solchen Beweisen und Widerlegungen aus der Schrift gerade darum genötigt, weil die Bibel selbst in mancher Hinsicht dualistischen Theorien Vorschub zu leisten scheint; die gnostischen Gegner konnten sich also, wenn auch zu Unrecht, auf Schriftverse stützen. Besonders problematisch war in diesem Zusammenhang die biblische Gottesbezeichnung elohim, im Hebräischen eine Pluralform. Die Rabbinen verweisen dazu stereotyp auf die mit diesem Plural verbundene Verbform, die im Singular steht. So kann niemand behaupten, zwei Mächte hätten die Welt erschaffen, denn es heißt in Gen 1,1: „er (elohim) schuf“, nicht „sie schufen“. Es kommt auf die Verbform an, nicht auf die grammatikalische Form des Gottesnamens. Nun kennen sich allerdings die Häretiker wieder gut in der Bibel aus, denn sie wissen auch, daß in Gen 1,26 Gott anscheinend von sich selbst im Plural spricht: „Lasset uns Menschen machen.“18 Im Midrash Rabba zu Genesis 1,26 setzen sich verschiedene Rabbinen mit dem Problem auseinander und vertreten Auffassungen wie die, Gott habe zu sich selbst gesprochen, oder er habe die Seelen der zukünftigen Frommen angesprochen, die zu dieser Zeit schon anwesend waren. Im Namen Rabbi Yonatans wird folgende Geschichte angeführt:19 _______________ 18 Zur kontroversen Auslegung von Gen 1,26 im Judentum und frühen Christentum s. URBACH, The Sages, 205ff. 19 BerR 8,8; T HEODOR/ALBECK 61.

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Zu der Stunde, da Mose die Tora niederschrieb, schrieb er das Werk eines jeden Schöp20 fungstages auf. Als er zu dem Vers kam: „Gott sprach, lasset uns Menschen machen“ etc., sagte (Mose zu Gott): Herr der Welt, welch einen Anlaß gibst du (mit dieser Formulierung) den Häretikern (zu behaupten, es gebe mehrere Mächte)! (Gott) antwortete ihm: Schreib! Wer irren will, der irre.

Sehr realistisch kommt hier zum Ausdruck, daß jemand, der von der Existenz zweier Mächte überzeugt war, sich wohl auch nicht vom Gegenteil hätte überzeugen lassen, wenn in Gen 1,26 der Singular gestanden hätte. Der Midrash fährt fort: Der Heilige, er sei gepriesen, sagte zu ihm: Mose! Werde ich nicht Große und Kleine hervorgehen lassen aus dem von mir erschaffenen Menschen? Wenn nun ein Großer bedenkt, ob er (bei einer Entscheidung) die Erlaubnis des Kleineren einholen soll, wird er da nicht sagen: Warum sollte ich wohl Erlaubnis einholen von dem Kleinen? Dann aber wird man zu ihm sagen: Lerne von deinem Schöpfer, der, was oben und was unten ist, erschuf – als er aber zur Erschaffung des Menschen kam, ließ er sich von den Dienstengeln beraten.

Mit dieser Tradition wird zunächst das Problem des „Lasset uns Menschen machen“ in Gen 1,26 gelöst: das „wir“ schließt die Engel in Gottes Entscheidung für den Menschen ein. Für die Konsultation der Engel aber muß sich Gott gewissermaßen rechtfertigen. Diese Rechtfertigung bezieht sich auf das spätere Verhalten des Menschen: Gott gibt ihm ein Vorbild dafür, daß der Mächtige seine Macht nicht bedenkenlos nutzen soll. So wie Gott als der allein Mächtige sich dennoch mit den Engeln berät, so sollen sich auch die Starken unter den Menschen mit den Schwachen beraten. Diese ethische Deutung des „wir“ in Gen 1,26 betont zugleich den prinzipiellen Abstand zwischen dem starken Gott und den schwachen Engeln – zumal die Fortsetzung der Stelle deutlich macht, daß Gott auf die Meinung der Engel dann gar keine Rücksicht nimmt! – und zerstreut auf diese Weise jeglichen Zweifel an der alleinigen Herrschaft Gottes. Neben den Midrashim enthält auch die Mishna eine Reihe offensichtlich antidualistischer Stellen, deren genaue Adressaten aber ebenfalls im Dunkeln bleiben.21 So erklärt die Mishna im Traktat Sanhedrin 4,5 den Bericht in Gen 2, nach dem Adam allein und nicht von vornherein als Menschenpaar erschaffen wurde, als Vorsichtsmaßnahme gegen die sonst mögliche Ansicht zukünftiger Häretiker, es gebe mehrere Mächte im Himmel. Denn, so ist diese Stelle wohl zu deuten, wären zwei Menschen erschaffen worden, so hätte man sagen könne, jede Macht hätte einen erschaffen: die gute _______________ 20 21

98ff.

Es wird ihm nach rabbinischer Vorstellung von Gott diktiert. Vgl. zum Folgenden die Diskussion der Mishnabelege bei SEGAL, Two Powers,

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den Pneumatiker, die böse den Sarkiker, mit der Konsequenz einer entsprechend deterministischen Anthropologie und Ethik.22 Zwei andere Abschnitte der Mishna behandeln das Thema der „zwei Mächte im Himmel“ unter dem Aspekt unorthodoxen Gebets oder besser: inakzeptabler Gebetsformeln. Dem Traktat Megilla 4,9 zufolge erkennt man einen Häretiker daran, daß er sagt: „Mögen (die) Guten dich segnen.“ Der Jerusalemer Talmud erklärt das in yMeg 4,10/1 so, daß der Beter bei dieser Formel zwei himmlische Mächte im Sinne hat. Die Fortsetzung der zitierten Mishnastelle und die erst hier einsetzende Parallele im Traktat Berakhot 5,3 führen weiterhin drei Gebetsformeln an, bei deren Verwendung ein Vorbeter zum Schweigen gebracht werden müsse, darunter: „Des Guten wegen möge deines Namens gedacht werden.“ Hierbei könnte man fälschlich meinen, nur des Guten wegen solle des göttlichen Namens gedacht werden, nicht aber des Schlechten wegen – so die Auslegung im babylonischen Talmud (bBer 33b; bMeg 25a). Das wäre nicht richtig, denn der eine Gott vereint verschiedene Eigenschaften in sich: er ist nicht nur gütig, sondern auch gerecht – das Miteinander und die Balance beider Eigenschaften ist das Thema zahlreicher rabbinischer Texte. Gott darf nicht reduziert werden auf die Eigenschaft der Güte. Wenn dies geschieht, dann liegt der Verdacht nahe, daß nur dem guten Gott im Gegenüber zu einem anderen, dem gerechten Gott, gedankt wird, also ein Dualismus zugrunde liegt. Trifft diese Auslegung der Mishna durch die Gemara zu, so kann man gnostisierende Judenchristen im Hintergrund der rabbinischen Polemik vermuten, die dem liebenden christlichen Gott den jüdischen Gott des Gesetzes und der Gerechtigkeit gegenübergestellt und damit die Spannung aufgelöst haben, die dem rabbinischen Bekenntnis zu dem einen Gott, der diese Eigenschaften in sich vereint, ganz wesentlich innewohnt. Für diese Deutung würde auch die Tatsache sprechen, daß Formulierungen des jüdischen Gebets diskutiert werden – eine Zielrichtung gegen nicht-jüdische Positionen ist entsprechend unwahrscheinlich. Da allerdings weder Mishna noch Gemara die Gegner beim Namen nennen, muß es auch hier bei einer _______________ 22 Ähnlich ist die babylonische Gemara zu dieser Mishnastelle (bSan 37a) der Auffassung, der Bericht über die Erschaffung des Menschen in der Genesis wolle vor allem herausstellen, daß im Anfang nicht etwa zwei Menschen (nämlich ein Frevler und ein Gerechter) erschaffen wurden. Dies nämlich hätte den Frevlern als Entschuldigung für ihre bösen Taten dienen können; sie hätten sagen können: die Bosheit kommt uns als Erbe zu. Dem Talmud kommt es hier darauf an, daß Frevler durch ihre Taten, nicht durch ihre Herkunft, zu Frevlern werden. Er betont den freien Willen des Menschen, sich für das Böse oder für das Gute zu entscheiden. Diejenigen, die nach der Mishna an „mehrere Mächte im Himmel glauben“, werden hier vorrangig zu Deterministen. Die antignostische Zielrichtung der Mishna tritt dabei stark in den Hintergrund – die Zeiten und die Gegner haben sich geändert.

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Vermutung bleiben, zumal nicht einmal die antidualistische Ausrichtung der angeführten Mishnastellen mMeg 4,9 und mBer 5,3 wirklich eindeutig ist. Beide Stellen führen, in übereinstimmendem Wortlaut, neben der genannten Gebetsformel zwei weitere an: Derjenige, der sagt: Deine Güte erstreckt sich bis hin zum Vogelnest, oder: Des Guten wegen möge deines Namens gedacht werden, oder: Wir danken, wir danken – der soll zum Schweigen gebracht werden.

Die auf Dtn 22,6f. bezogene erste Formel läßt sich, wenn man will, ähnlich wie die zweite interpretieren – in beiden Fällen würde in einem Gebetszusammenhang nur Gottes Güte erwähnt, sein Zorn und seine Gerechtigkeit aber unterschlagen und insgeheim einer zweiten Macht im Himmel zugeschrieben. Warum aber darf der Vorbeter nicht sagen: „Wir danken, wir danken“? Die Formel „Wir danken“ – in einfacher Ausführung! – stammt aus dem Achtzehngebet, für die Mishna das Gebet schlechthin. Dessen vorletzte Benediktion beginnt mit den Worten: „Wir danken dir, der du der Herr, unser Gott bist.“ Es geht anscheinend darum, daß jemand nicht nur das „wir danken“ verdoppelt, sondern die gesamte Benediktion, vielleicht mit jeweils verschiedenem Wortlaut. Wer dies tut, setzt sich dem Verdacht aus, daß er sich an zwei Mächte im Himmel wenden will – so wiederum die Auslegung des babylonischen Talmuds (bBer 33b; bMeg 25a). Da jemand im Blick ist, der im jüdischen Gottesdienst das wichtigste Dank- und Bittgebet, nämlich das Achtzehngebet vorspricht, kann es sich in der Konsequenz dieser Interpretation nur um einen Juden mit dualistischen Neigungen handeln. Wiederum liegt es also nahe, an einen gesetzestreuen Judenchristen zu denken, der das öffentliche Gebet zur Verbreitung seiner Ansicht mißbraucht, neben dem Geber des Gesetzes sei auch und vor allem dem über ihm stehenden Vater Jesu Christi Dank geschuldet. Zweifel an dieser Interpretation ergeben sich allerdings daraus, daß der Mishnatext nur die Formel „Mögen (die) Guten dich segnen“ ausdrücklich unter Häresieverdacht stellt, während die drei weiteren, ursprünglich wohl aus anderer Tradition stammenden Formeln – nur sie werden auch in mBer 5,3 überliefert – lediglich Anlaß bieten, den Vorbeter „zum Schweigen“ zu bringen. Sie dürfen also vor allem nicht öffentlich gebetet werden. Gerade diesen Aspekt betont die Gemara des Jerusalemer Talmuds in yMeg 4,10/2, wenn sie die Verdoppelung des „wir danken“, wie auch die des „Amen“ und des „Höre“, im individuellen Gebet für erlaubt erklärt. Man muß also auch hier wieder sehr vorsichtig sein. Rückschlüsse auf bestimmte judenchristlich-gnostische Lehren oder Praktiken sind auf keinen Fall möglich, zumal die antidualistischen Argumente der Rabbinen sich zum Teil auch auf solche christlichen Lehren beziehen ließen, die gar nicht spezifisch gnostisch und daher aus katholischer Sicht häresieverdächtig

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waren, sondern die etwa nur auf ähnliche Weise von Gott wie von Christus sprachen. Dabei fällt allerdings auf, daß die rabbinischen Texte, die sich klar gegen ein nicht gnostisch geprägtes Christentum richten und dabei Verse wie Ps 2,7 („Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“), Qoh 4,8 oder Dan 3,25 kontrovers interpretieren, frühestens aus amoräischer Zeit stammen und überwiegend in besonders späten Sammelwerken dieser Epoche überliefert sind.23 Erst spät scheint also die Notwendigkeit verspürt worden zu sein, spezifische Argumente gegen das rechtgläubige Christentum vorzubringen. Offenbar wurde das Christentum, soweit es überhaupt die Aufmerksamkeit der Rabbinen auf sich ziehen konnte, in tannaitischer Zeit noch überwiegend als eine Spielart des gnostischen Dualismus oder des paganen Polytheismus wahrgenommen.24 Die Einheit Gottes begegnet im jüdischen Gebetbuch und in der synagogalen Liturgie als ein immer wiederkehrendes Leitmotiv. Es ist dort zentral verankert in der Rezitation des Shma Yisra’el und vorausgesetzt in den Benediktionen, die es einleiten und abschließen. Die Lobsprüche im Morgen- und im Abendgebet preisen den einen Gott vor allem in seinem Wirken als Schöpfer, Erwähler und Erlöser. Neben diesen drei Bezeichnungen Gottes enthält der Siddur aber eine Fülle weiterer Attribute: Schild Abrahams, Erwecker der Toten, Heiler der Kranken, Erbauer Jerusalems – um nur einige zu nennen. Die meisten führen von dem einen Gott unmittelbar zu seinen geschichtlichen Manifestationen. Nur eine geringe Zahl von Namen bleibt übrig, deren Ableitungen und Bedeutungen sich nicht ohne weiteres von den Eigenschaften Gottes in Bezug auf die Welt her erklären. Die beiden bekanntesten stammen aus der Bibel: das Tetragramm, ausgesprochen adonai („der HERR“), und elohim („Gott“). Darüber hinaus sind als älteste rabbinische Bezeichnung Gottes ha-maqom („der Ort“) und als der im babylonischen Talmud am häufigsten verwendete Gottesname ha-

_______________ 23 BemR 10,3; QohR 4,8; yShab 6,10/14. Ebenso auffällig ist bereits die Tatsache, „daß es keine tannaitische ‚Jesus-Stelle’ gibt und auch von den amoräischen JesusErwähnungen eher alle nachtalmudisch als talmudisch sind“, wie J. MAIER, Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, Darmstadt 1978, 273 aus seinen Untersuchungen schließt. Zu möglichen (späten) Ansätzen einer rabbinischen Auseinandersetzung mit der Trinitätslehre vgl. COHON, Essays, 124ff. 24 Maiers Ergebnis, „das rabbinische Interesse am frühen Christentum [sei] weitaus geringer [gewesen] als gemeinhin angenommen wird“ (ibid.), ist insofern zu relativieren, als das „frühe Christentum“ eine vielgestaltige Größe war und sich die rabbinische Abwehr des Dualismus womöglich (!) in Gänze gegen ein gnostisch geprägtes Christentum richtete.

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qadosh barukh hu („der Heilige, er sei gepriesen“) von herausragender Bedeutung.25 Das Tetragramm wurde in der Zeit der Mishna nicht mehr ausgesprochen. Geht es in einer schriftgelehrten Diskussion der Rabbinen um den Gottesnamen, so wird er entweder einfach als ha-shem („der Name“) oder als shem ha-meforash bezeichnet. Was dieser letztere Ausdruck ursprünglich besagte, ist nicht mehr eindeutig zu klären, denn der zugrunde liegende Wortstamm parash hat mehrere Bedeutungen. Seine Verwendung an den einschlägigen Stellen in den Targumim und im Midrash ist allerdings recht eindeutig. Wenn es zum Beispiel in Lev 24,16 heißt, jemand, der den Namen des HERRN – das Tetragramm – „antaste“, mache sich des Todes schuldig, so erklärt der Midrash, das interpretationsbedürftige Wort noqev („antasten“) sei an dieser Stelle als mefaresh zu verstehen.26 Von dessen möglichen Bedeutungen aber kommt hier nur „aussprechen“ in Frage.27 Der shem ha-meforash wäre demnach der ausgesprochene Name Gottes. Solange der Jerusalemer Tempel noch stand, wird dies auch tatsächlich die Hauptbedeutung gewesen sein: der „ausgesprochene“, nämlich im prägnanten Sinne nur im Tempelkult ausgesprochene Name.28 Da aber seit der Zerstörung des Tempels dieser Name nicht mehr ausgesprochen wurde, weil der dazu notwendige kultische Rahmen fehlte, wandelte sich die Bedeutung von shem ha-meforash in ihr Gegenteil: die Wendung bezeichnete seither paradoxerweise nicht mehr den ausgesprochenen, sondern den „unaussprechlichen“ Namen – so wird der Begriff heute zumeist übersetzt. Über den Umgang mit diesem ausgesprochenen oder unaussprechlichen Namen in der Zeit des Tempels sagt die Mishna im Traktat Sota 7,6: Im Heiligtum spricht man den Namen (so) aus, wie er geschrieben steht, im übrigen Lande aber in seiner Umschreibung. Der Tempel war demnach der einzige Ort, an dem der Gottesname ausgesprochen werden durfte, und zwar, wie sich anderen Stellen entnehmen läßt, zum einen durch den Hohenpriester anläßlich des Versöhnungsfestes, zum anderen in dem von den Priestern erteilten aaronitischen Segen.29 Nach der Zerstörung des Tempels _______________ 25

Eine Zusammenstellung aller weiteren in der rabbinischen Literatur verwendeten Namen und Bezeichnungen Gottes und eine diesbezügliche Untersuchung der einzelnen Sammelwerke bietet MARMORSTEIN, A., The Old Rabbinic Doctrine of God. I. The Names and Attributes of God, London 1927, 54ff. Eine übersichtliche Liste der häufigsten Attribute findet sich bei COHON, Essays, 163f. 26 Pesiqta de-Rav Kahana, Pisqa 22 (MANDELBAUM 330). 27 Ebenso versteht auch die Septuaginta den Vers. 28 Zum Aussprechen des Namens im Tempel vgl. yYoma 3,7/6–8; bQid 71a; bPes 50a; BECKER, Magic, 403ff. 29 tYom 2,2; weitere Belege bei MARMORSTEIN, Old Rabbinic Doctrine, 19ff.

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wurde dieser Name nicht mehr ausgesprochen. Die Scheu vor einem nichtkultischen Gebrauch des Namens geht aber auf noch frühere, biblische Zeit zurück – darauf deuten klare Anzeichen vor allem bei den späteren Propheten und in den Büchern der Chronik hin. Die Septuaginta übersetzt das Tetragramm mit ho kyrios, „Herr“. Dies entspricht dem rabbinischen Gebrauch, den Namen als adonai, „Herr“ zu lesen. Dieses adonai meint die Mishna, wenn sie von der „Umschreibung“ des Gottesnamens spricht. Die Praxis der Lutherbibel, überall dort, wo der Gottesname im hebräischen Urtext der Bibel steht, wie die Septuaginta „Herr“ zu übersetzen, dabei aber Großbuchstaben zu verwenden, ähnelt dem masoretischen Gebrauch, in Bibelhandschriften den Gottesnamen in seinem Konsonantenbestand auszuschreiben, aber graphisch durch die Hinzufügung der eigentlich nicht zugehörigen Vokale von adonai deutlich zu machen, daß es sich hier um etwas Besonderes handelt.30 Mishna und Tosefta teilen mit, der Hohepriester habe am Versöhnungstag in verschiedenen Sühnegebeten beim Aufstützen auf die Opfertiere und beim Ziehen der Lose den Gottesnamen insgesamt zehn Mal ausgesprochen. Bei jeder Erwähnung des Namens, so die Mishna, stimmten die Priester und das Volk, das in der Opferhalle stand, mit den Worten ein: „Gelobt sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches immer und ewig!“31 Gerade diesen Lobspruch sieht die Mishna im Traktat Berakhot als Responsum nach der Rezitation des ersten Satzes des Shma Yisra’el, „Der HERR, unser Gott, der HERR ist Einer“, vor. Sie schließt dadurch die Einheit Gottes eng mit seinem Namen zusammen: der eine Gott ist unverwechselbar in seinem Namen. Obwohl er unverwechselbar ist, ist er aber nicht verfügbar. Dies ist die Erkenntnis, die dazu führt, daß dieser Name eben nicht ausgesprochen wird – auch nicht in der Rezitation des „Höre, Israel“ selbst. Wenn es gerade die Unverfügbarkeit Gottes ist, die der Gottesname in seiner biblischen Interpretation („Ich werde der sein, als der ich mich erweisen werde“; Ex 3,14) ursprünglich ausdrücken will, dann ist es bei den Rabbinen gerade der Verzicht auf das Aussprechen des Namens, der dieser Intention am ehesten gerecht wird. Denn wenn Gott durch seinen Namen verfügbar und berechenbar wird, dann liegt die Gefahr nahe, daß seine Heiligkeit, das heißt seine Unantastbarkeit und Unverfügbarkeit, durch den Mißbrauch des Namens beschädigt wird. Solcher Mißbrauch war nicht nur _______________ 30

Vergleichbar ist bereits die Verwendung der althebräischen Schrift für den Gottesnamen in manchen Handschriften aus Qumran und aus der Kairoer Genisa (zum Beispiel im – griechischen! – Aquilatext). 31 mYoma 3,8; 4,2; 6,2.

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eine theoretische Möglichkeit, sondern praktische Realität. Die esoterische Hekhalot-Literatur und ihr verwandte jüdisch-magische Fragmente aus der Kairoer Genisa enthalten Neukombinationen der Buchstaben des Gottesnamens und verraten dabei zum Teil theurgische Absichten.32 Die Kenntnis des Namens und seiner Permutationen wurde zur Herstellung von Amuletten und Zauberschalen benutzt.33 Für die Rabbinen sind solche Bräuche heterodox. Zwar waren auch manche von ihnen durchaus fasziniert von der Wirkkraft des Gottesnamens. Dies zeigt besonders der Midrash Rabba zur Genesis, in dem sich eine größere Zahl von Buchstabenspekulationen im Zusammenhang mit der Erschaffung der Welt findet. Der magische Gebrauch aber war den Rabbinen suspekt, und damit standen sie sicherlich im Hauptstrom der biblischen Tradition; ebenso wie mit ihrem NichtAussprechen des Namens, das der in der Schrift bezeugten Heiligkeit und Unverfügbarkeit Gottes gerecht zu werden suchte und im Judentum weiterhin sucht. Der Gottesname hat als von Gott mitgeteilter Name Teil am Wesen Gottes selbst. Darum hat er magische Kraft und muß vor theurgischem Mißbrauch geschützt werden. Die eindeutigste Ablehnung magischen Gebrauchs des Namens findet sich in der Mishna im Traktat Sanhedrin 10,1. Nach dieser Stelle hat im Prinzip ganz Israel Anteil an der kommenden Welt, aber einige Gruppen eben doch nicht, nämlich diejenigen, die sagen, es gebe keine Auferstehung der Toten, sowie die, die sagen, die Tora sei nicht vom Himmel, und schließlich die Epikureer. Wenn man überhaupt von rabbinischen Dogmen reden wollte, dann wären hier die entscheidenden aufgezählt: die Totenauferstehung und der Offenbarungscharakter der Schrift. Hinzu kommt die Ablehnung der Epikureer, die die Fürsorge Gottes für die Welt und für die Menschen bestreiten. Wenn die Mishna sagt: Folgende haben keinen Anteil an der kommenden Welt, dann werden damit die aufgezählten Ansichten für heterodox erklärt, so daß also umgekehrt der Glaube an die Auferstehung der Toten, an den Offenbarungscharakter der Tora und an die Fürsorge Gottes für die Menschen zu den Grundpfeilern rabbinischer Lehre erklärt werden. Diese Dreierliste ist nun in der Mishna durch zwei Aussprüche im Namen Rabbi Akivas bzw. Abba Sha’uls erweitert worden:

_______________ 32

SCHÄFER, P., „Magic and Religion in Ancient Judaism“, in: DERS./KIPPENBERG, H. (Hg.), Envisioning Magic. A Princeton Seminar and Symposium, Leiden etc. 1997, 19– 43; DERS./SHAKED, S. (Hg.), Magische Fragmente aus der Kairoer Geniza, Bd. 1–3 (TSAJ 42.64.72), Tübingen 1994–97. 33 NAVEH, J./SHAKED, S., Magic Spells and Formulae. Aramaic Incantations of Late Antiquity, Jerusalem 1993.

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[Rabbi Akiva sagt:] Auch wer außen befindliche Bücher liest [gemeint sind möglicherweise epikureische oder gnostische Schriften] und wer über einer Wunde flüstert und sagt (Ex 15,26): „Keine der Krankheiten, die ich auf Ägypten legte, werde ich auf dich legen, denn ich bin der HERR, dein Arzt.“

Hier ist klar auf den magischen Gebrauch des zitierten biblischen Verses angespielt, der den Gottesnamen, das Tetragramm, enthält. Da in diesem Vers von Gott als Heilendem die Rede ist, wird er „über einer Wunde geflüstert“, offenbar um Heilung herbeizuführen. Ein solcher Gebrauch der Schrift ist nicht zulässig – es handelt sich um einen Mißbrauch der Kraft des Gottesnamens. In der Mishna heißt es weiter: Abba Sha’ul sagt: Auch wer den Namen mit seinen Buchstaben ausspricht.

In diesem Dictum wird der magische Gebrauch des unaussprechlichen Namens gar nicht weiter erläutert, sondern selbstverständlich vorausgesetzt.34 Neben dem Tetragramm verwendet die rabbinische Literatur die Gottesbezeichnung elohim „Gott“. Beide Namen kommen vorwiegend in Bibelzitaten vor. Die Rabbinen haben aber wissen wollen, warum die Schrift an manchen Stellen el und seine Derivate bevorzugt, an anderen dagegen das Tetragramm. An welcher Stelle welcher Gottesname gebraucht wird, erschien ihnen durchaus nicht willkürlich. Ausgehend von Ex 34,6–7 haben sie den Namen adonai, „HERR“, mit der göttlichen Barmherzigkeit und Gnade in Verbindung gebracht. In Ex 34,4–5, der Einleitung zur Erscheinung Gottes am Sinai bei der Erneuerung der Gesetzestafeln, heißt es: Und er hieb zwei steinerne Tafeln zu wie die ersten, und Mose stand am Morgen früh auf und stieg auf den Berg Sinai, wie ihm der HERR geboten hatte, und nahm die zwei steinernen Tafeln in seine Hand. Da zog der HERR nieder in einer Wolke, und er trat daselbst zu ihm und rief den Namen des HERRN an. Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief: ...

In diesem kurzen, einleitenden Text kommt schon viermal der Gottesname vor. Das, was Mose aber nun ausruft, als Gott vor seinem Angesicht vorübergeht, beginnt mit dem doppelten Gottesnamen HERR HERR und benennt anschließend eine lange Reihe von Eigenschaften Gottes: „barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue“ usw. – _______________ 34

In amoräischer Zeit gehen die rabbinischen Traditionen zum magischen Gebrauch des Gottesnamens in Palästina und im Zweistromland auseinander. Während die Bedeutung des Themas im Land Israel stark abnimmt, erfährt es im babylonischen Judentum zumindest punktuell eine Neubewertung, wie der Talmud Bavli mit einer Reihe von Texten zeigt, die den magischen Gebrauch des Namens nicht mehr strikt ablehnen, sondern ihm neutral oder sogar positiv gegenüberstehen; vgl. BECKER, Magic, 396ff.

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es sind Eigenschaften der Gnade und des Erbarmens. Sie werden erstmals im babylonischen Talmud (Rosh ha-Shana 17b) die „dreizehn Middot“, das heißt dreizehn „Maße“ oder Eigenschaften Gottes genannt. Zahlreiche Stellen im Talmud und in den Midrashim gehen nicht zuletzt wegen dieser Stelle in ihrer Schriftauslegung davon aus, daß das Tetragramm in der Bibel die Eigenschaften der Liebe und Barmherzigkeit Gottes betont oder exegetisch impliziert, der Name elohim „Gott“ hingegen seine Eigenschaften des Zorns und der Gerechtigkeit. In Bezug auf den Rechtskontext des Gottesnamens elohim weisen sie zum Beispiel auf Ex 22,8, 22,27 und Ps 36,7 hin. Es sind aber letztlich nicht einzelne Verse, die diese Lehre begründen, sondern eine Gesamtschau des Textes der hebräischen Bibel. Wendet man sich von den amoräischen Quellen, in denen die beschriebene Zuordnung explizit formuliert und implizit vorausgesetzt wird, zurück zum tannaitischen Midrash, so stellt man fest, daß dort die Interpretation von adonai und el/elohim noch nicht festliegt. An manchen Stellen kann, mit leicht abweichender Terminologie, die „gute Eigenschaft“ im Unterschied zum späteren Konsens auch mit el/elohim und die „zerstörerische Eigenschaft“, wie sie hier heißt, mit dem Tetragramm in Verbindung gebracht werden. An anderen Stellen ist die Zuordnung umgekehrt, wie in den amoräischen Quellen, aber es werden die älteren Begriffe „gute Eigenschaft“ und „zerstörerische Eigenschaft“ statt „Barmherzigkeit“ und „Gerechtigkeit“ verwendet. Erst im Übergang zur amoräischen Epoche hat man sich offenbar langsam davon überzeugt und darauf festgelegt, daß adonai das Maß der Barmherzigkeit und el das der Gerechtigkeit bezeichnet.35 Auf dem Hintergrund des schon erwähnten gnostischen Dualismus läßt sich dieser Entwicklung eine apologetische Bedeutung abgewinnen. Gut und Böse werden durch ihre Verknüpfung mit Gottes biblischen Namen unauflöslich als Eigenschaften des einen Gottes interpretiert. Die verschiedenen Namen bezeichnen nicht verschiedene Mächte im Himmel, sondern einander ergänzende Attribute des einen Gottes. Gleichzeitig bleibt das Böse nicht einfach das unverständlich Böse, sondern es wird zur Strafe, zum Recht, zur Gerechtigkeit Gottes, wird also in eine Beziehung zum menschlichen Handeln gebracht. Ebenso ist es mit dem Guten, das im Verhältnis zum Menschen Gnade und Erbarmen ist, also etwas, das zu den _______________ 35 Bei Philo kann die Zuordnung, wie in manchen tannaitischen Texten, ebenfalls noch umgekehrt sein. – Alle Quellenangaben zu diesem Absatz finden sich bei M ARMORSTEIN, Old Rabbinic Doctrine, 43ff. Marmorstein geht aber in seiner eigenen Deutung der Quellen zu weit, wenn er das später nicht mehr vertretene Interpretationsschema als das „ursprüngliche“ bezeichnet; dagegen schon URBACH, Sages, 452f.

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menschlichen Taten in Beziehung steht: nur wer eigentlich Strafe verdient hat, kann Gnade erfahren. Weil Gut und Böse bei Gott liegt, muß er um des Guten und um des Bösen willen gelobt werden. Wie aber verhalten sich nun adonai und elohim, Gnade und Recht zueinander? Die Antwort der Rabbinen ist die, daß Gnade vor Recht geht und im Zweifelsfall die Eigenschaft des Erbarmens die der Gerechtigkeit überwiegt. Das gilt insbesondere am Versöhnungstag, der im Zeichen des seinerzeit im Tempel ausgesprochenen Tetragramms steht, wie der homiletische Midrash zu Leviticus 23,24 deutlich macht:36 „Gott steht auf unter Hornblasen, der HERR beim Schall des Shofar.“ (Ps 47,6) Wenn der Heilige, er sei gepriesen, hinaufsteigt, um sich auf den Thron des Rechts zu setzen am Neujahrstag, dann steigt er hinauf zum Gericht. Das ist es, was geschrieben steht: „Gott steht auf unter Hornblasen.“ Sobald aber die Israeliten (am Versöhnungstag) ihre Shofarot nehmen und blasen, (gilt): „Der HERR beim Schall des Shofar.“ Was tut der Heilige, er sei gepriesen? Er steht auf vom Thron des Rechts und setzt sich auf den Thron des Erbarmens, er wird von Mitleid mit ihnen erfüllt und ändert für sie das Maß des Rechts in das Maß des Erbarmens. Wann? „Am ersten Tag des siebten Monats (sollt ihr Ruhetag halten mit Hornblasen zum Gedächtnis, eine heilige Versammlung).“ (Lev 23,24)

Ein Vers legt den anderen aus, weil in beiden das seltene Wort „Hornblasen“ vorkommt: Lev 23,24 sagt, um welchen Zeitpunkt es bei dem Hornblasen in Ps 47,6 geht. Der in Leviticus genannte Termin ist „der erste Tag des siebten Monats“, der Versöhnungstag. An diesem Tag also, so Ps 47,6, „steht Gott (elohim) auf unter Hornblasen, der HERR (adonai) beim Schall des Shofar“. Die Verwendung von elohim im ersten Versteil impliziert, daß es Gott in seiner Eigenschaft als Richter ist, der hier „aufsteht“. Überdies liegt es nahe, daß ein Richter sich von seinem Richtstuhl erhebt. Was aber tut er dann? In der zweiten Hälfte des Psalmverses fehlt ein eigenes Verb: „der HERR beim Schall des Shofar“. „Der HERR“ (adonai) kann aber kaum etwas anderes tun, als sich in seiner Eigenschaft als Erbarmer auf den Gnadenstuhl zu setzen, den „Thron des Erbarmens“. Unter dem Klang des Widderhorns am Versöhnungstag wird also Gott von Mitleid erfüllt und verwandelt das Maß des Gerichts für Israel in das Maß der Gnade. Die beiden Attribute ergänzen und bedingen einander, sie halten eine Balance, ohne die die Welt nicht bestehen könnte. Beide sind unverzichtbare Aspekte der Beziehung Gottes zur Welt. Zu Beginn des zweiten Schöpfungsberichts in Gen 2,4 heißt es: „Am Tag, als adonai elohim (Luther: Gott, der HERR) Erde und Himmel machte.“ Diese Zusammenstellung der _______________ 36

WaR Emor 29,3 (MARGULIES 674f.).

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beiden Gottesnamen zu Beginn des Schöpfungsberichts legt dem Midrash zur Genesis den Gedanken nahe, Gott habe zu Beginn der Weltschöpfung den Gedanken verworfen, die Welt könne allein auf das Maß des Rechts oder allein auf das Maß der Barmherzigkeit gegründet werden. Weil er voraussah, daß eine solche Welt nicht würde Bestand haben können, nahm er beides und errichtete darauf die Welt.37 Demnach genügt also weder das Maß des Rechts, noch das Maß der Gnade, um die Grundlage einer Ordnung zu schaffen, in der die menschliche Gesellschaft sich entfalten kann. Recht muß mit Gnade gemischt und Gnade durch Recht gestärkt werden. Daher warnen die Rabbinen vor dem exklusiven Gebrauch eines dieser Attribute. Im Zweifelsfall allerdings überwiegt bei Gott letztlich die Gnade. Die Kraft Gottes besteht paradoxerweise darin, daß es ihm gelingt, immer wieder die Eigenschaft des Rechts in sich zu besiegen. Nach Dtn 3,24 betet Mose: „Herr HERR, du hast angefangen, deinem Knecht deine Größe zu zeigen und deine starke Hand.“ Wie verhält sich der Gottesname adonai am Anfang dieses Gebets zu der am Ende erwähnten „starken Hand“, die doch eher an die Durchsetzung von Recht erinnert als an Gnade? Diese Frage beantwortet der Midrash Sifre zu Numeri:38 „(Deine) starke (Hand)“ – weil du das Maß des Rechts bezwingst durch Erbarmen, wie es heißt (Mi 7,18–19): „Wer ist ein Gott wie du, der Sünde trägt und Schuld vergibt (dem Rest seines Eigentums, der seinen Zorn nicht ewig festhält, sondern den es verlangt nach Gnade?) Er wird sich wieder unser erbarmen, bezwingen unsere Sünden.“

Ähnlich begründet die Tosefta in Traktat Sota 4,1 das Übergewicht der Gnade biblisch, mit einem Satz aus dem Dekalog: Ist das Maß der Güte größer oder ist das Maß der Vergeltung größer? Das Maß der Güte ist fünfhundert Mal größer als das Maß der Vergeltung, über das es heißt (Ex 20,5): „Der die Sünde der Väter heimsucht an den Kindern (d.h. das Maß der Vergeltung gilt über zwei Generationen)“; über das Maß der Güte aber sagt (die Schrift; ibid.): „Der Gnade tut bis in (die) tausendste (Generation)“. Hieraus ist zu schließen, daß das Maß der Güte fünfhundert Mal größer ist als das Maß der Vergeltung.

Das Übergewicht der Gnade darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es nach den Rabbinen die grundsätzliche Balance zwischen beiden ist, die die Welt erhält. Die beiden wichtigsten Namen und Eigenschaften Gottes kommen zusammen dem Bestand der Welt und den Menschen zugute. Auch sie geben also keinen Aufschluß über ein weltabgewandtes Wesen Gottes, sondern über seine Beziehung zu den Menschen. In der Tat rufen Gottes Gerechtigkeit und Gottes Barmherzigkeit bei den Menschen ent_______________ 37 38

BerR 12,15 (T HEODOR/ALBECK 112f.); vgl. 21,7 (202). SifBem Pinchas 134 (HOROVITZ 180).

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sprechende Haltungen hervor. Entspricht der Einheit Gottes die Ungeteiltheit des Menschen in seinem Dienst, wie sie im „Höre, Israel“ gefordert wird, so rufen göttliches Erbarmen und göttliche Gerechtigkeit beim Menschen die Antworten der Liebe und der Furcht hervor. Die angemessene menschliche Haltung zu Gott ist charakterisiert durch das Miteinander von Liebe und Furcht. Der zweite Vers des Shma Yisra’el wird daher im Midrash Sifre zu Deuteronomium folgendermaßen kommentiert:39 „Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben“ – handle aus Liebe. (Die Schrift) hat unterschieden zwischen dem, der aus Liebe handelt, und dem, der aus Furcht handelt. Wer aus Liebe handelt, dessen Lohn ist doppelt und wird verdoppelt. Wie die Schrift sagt (Dtn 10,20): „Den HERRN, deinen Gott, sollst du fürchten und ihm dienen.“ Hast du einen Menschen, der seinen Nächsten fürchtet – wenn der ihn braucht, läßt er ihn im Stich. Du aber: handle aus Liebe. Denn du hast keine Liebe, wo Furcht ist, und keine Furcht, wo Liebe ist, außer im Verhältnis zum Ort (= zu Gott) allein.

Liebe und Furcht sind nicht nur Gefühle: es sind vielmehr Haltungen, die man sich in kritischen Situationen bewußt machen kann und soll. So heißt es im Jerusalemer Talmud, Berakhot 9,7/5: Handle aus Liebe und handle aus Furcht. Handle aus Liebe – wenn du zum Haß kommst, wisse, daß du liebst, und (daß) niemand, der liebt, (zugleich) haßt. Handle aus Furcht – wenn du zur Auflehnung kommst, wisse, daß du fürchtest, und (daß) sich niemand, der fürchtet, auflehnt.

Solche Stellen in der rabbinischen Literatur stehen in der biblischen Tradition, besonders des Deuteronomium, aber auch der Psalmen, in denen Liebe und Furcht in einer ebenso engen Verbindung stehen wie Recht und Barmherzigkeit Gottes. Ebenso ist es im Buch Sirach, aus dem die Rabbinen viel geschöpft haben. Dort heißt es: Von ganzem Herzen fürchte Gott und heilige seine Priester, mit ganzem Vermögen liebe deinen Schöpfer und verlasse seine Diener nicht.40 Die beiden Verse verlaufen formal und inhaltlich parallel, im ersten ist von der Furcht, im zweiten, komplementär oder gleichbedeutend, von der Liebe die Rede. In der Mishna erscheint der Begriff der Furcht Gottes in dem berühmten Spruch des Antigonos aus Sokho in Avot 1,3: Seid nicht wie Knechte, die ihrem Meister dienen um des Lohnes willen, sondern seid wie Knechte, die ihrem Meister dienen nicht um des Lohnes willen; und Himmelsfurcht [d.h. Gottesfurcht] sei über euch.

_______________ 39 40

403.

SifDev We-etchanan 6 (FINKELSTEIN 54). Sir 7,29–30, hebräische Version (ed. M.Z. S EGAL 47); zitiert bei URBACH, Sages,

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Es ist nicht klar, ob sich dieser Spruch primär auf das Verhältnis eines Sklaven zu seinem Herrn, eines Tagelöhners zu seinem Arbeitgeber oder eines Gelehrtenschülers zu seinem Lehrer bezieht. Wer keinen Lohn erwartet, dient aber auf jeden Fall aus einem anderen Motiv, etwa aus Dankbarkeit, oder aus Liebe. Wahrscheinlich will das Antigonos-Dictum den Schüler ermahnen, seinem Rabbi zu dienen und bei ihm die Tora zu studieren, ohne dafür schließlich große Ehre zu erwarten. Auf diese Weise erklärt es sich zwanglos aus dem inhaltlichen Zusammenhang mit einem weiteren, zentralen rabbinischen Konzept: dem des Lernens der Tora nicht um Lohn, sondern um ihrer selbst willen, hebräisch lishma, oder „aus Liebe“, leshem ahava. Außerdem aber, so wird dem Spruch des Antigonos aus Sokho sogleich angefügt, soll auch Furcht über dem Lernenden sein. Der Dienst Gottes, der aus Furcht und Liebe geschieht, ist dem überlegen, der nur aus Liebe geschieht.41 Wo immer sie von Gott spricht, lenkt die rabbinische Literatur den Blick sogleich auf den Menschen. Umgekehrt aber besteht sie darauf, den Menschen, wenn man so sagen darf, aus göttlicher Perspektive zu betrachten; sie verliert sich also nicht in reiner Immanenz, sondern bezieht ihre Maßstäbe aus der zugleich transzendenten und immanenten Realität Gottes und der menschlichen Seele. Darum gibt es für die Rabbinen keine Wahrnehmung der Realität Gottes an den ganz konkreten menschlichen Gegebenheiten vorbei. Solche Gegebenheiten kommen in vielen rabbinischen Bezeichnungen Gottes unmittelbar zum Tragen. Man muß diese metaphorischen Bezeichnungen im Grunde als Kurzformen längerer Gleichnisse verstehen, die aber gar nicht mehr vorgetragen werden müssen, damit die Bilder verständlich werden. Zu den verbreitetsten Namen dieser Art gehören „Vater“ und „König“. Sie lassen sich, wie auch adonai und elohim, appellativ verwenden und spielen daher eine große Rolle in der synagogalen Liturgie. Dort werden sie im Gebet zur Anrufung Gottes gebraucht, wobei elohim zumeist nicht absolut steht, sondern mit Abraham, Isaak und Jakob verbunden wird: „Gott Abrahams“ usw.; damit liegt auch in der Liturgie der Ton nicht so sehr auf dem Wesen Gottes, als vielmehr auf seiner Geschichte mit den Erzvätern, mit Israel und der Menschheit. Darüber hinaus kennt die rabbinische Literatur viele Gottesbezeichnungen, die nicht als Anrede verwendbar sind, von denen einige aber dennoch eine große Rolle spielen. Die beiden wichtigsten sollen nun noch kurz erläutert werden: ha-maqom, „Ort“, und ha-qadosh barukh hu, „der Heilige, er sei gepriesen“. Diese beiden Bezeichnungen können praktisch unterschiedslos _______________ 41

Vgl. ibid.; BECKER, Kathedra, 172ff.

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verwendet werden. In den mittelalterlichen Handschriften der rabbinischen Literatur wird häufig die eine durch die andere ersetzt; auch ha-maqom barukh hu, „der Ort, er sei gepriesen“, kommt des öfteren vor. Das liegt daran, daß beide Bezeichnungen keine spezifischen Kontexte an sich ziehen, in denen sie und nur sie gebraucht werden. Die Streuung dieser beiden Gottesnamen in den verschiedenen rabbinischen Werken ergibt allerdings eine klare zeitliche Abstufung ihrer Verwendung: ha-maqom findet sich weit überwiegend in den älteren, tannaitischen Quellen und in den tannaitischen Schichten beider Talmudim, während „der Heilige, er sei gepriesen“ offenbar die vorherrschende Gottesbezeichnung der amoräischen Epoche ist: sie findet sich auf fast jeder Seite des babylonischen Talmuds, und zwar überwiegend in seinen redaktionellen, aramäisch geschriebenen Teilen, dort in der aramäischen Form qudsha berikh hu. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß zu einer bestimmten Zeit immer nur ein bestimmter Gottesname verwendet worden sei; vielmehr sind immer, je nach regionalem und literarischem Kontext, viele Gottesbezeichnungen zu gleicher Zeit in Gebrauch gewesen. Aber bei den unspezifisch verwendeten Namen „der Ort“ und „der Heilige, er sei gepriesen“, zeigt sich deutlich eine stärkere Neigung der amoräischen Quellen zu ha-qadosh barukh hu und der tannaitischen zu ha-maqom.42 Es ist daher erstaunlich, daß ein griechisches Äquivalent zu ha-maqom, der Ort – etwa ho tópos – als Gottesname in den griechischen Quellen einschließlich des Neuen Testaments nicht belegt ist, während ha-qadosh, der Heilige, übersetzt ho hágios, immerhin etliche Male vorkommt. Zum Beispiel übersetzt dort, wo die hebräischen SirachFragmente el, „Gott“, lesen, die griechische Fassung dreimal hágios, „der Heilige“ (Sir 43,10; 47,8; 48,20), und in der Gemeinderegel von Qumran wechselt ha-qadosh, „der Heilige“, mit el, „Gott“. Während also die Bezeichnung Gottes als „der Heilige“ insgesamt breiter belegt und auch außerrabbinisch und sogar vorrabbinisch bezeugt ist, scheint „der Ort“ als Gottesname ausschließlich rabbinisch, genauer gesagt tannaitisch zu sein. Da nun aber die Bezeichnung ha-maqom ja ursprünglich eine Bedeutung, einen speziellen Sinngehalt vermittelt, scheint der vorwiegend indifferente Gebrauch dieses Namens bei den Rabbinen bereits auf eine relativ späte Phase seiner Verwendung hinzudeuten. Sehr wahrscheinlich ist die Bezeichnung vorrabbinisch. Der „Ort“ schlechthin ist in der Mishna das Heiligtum in Jerusalem (mBik 2,2). Ha-maqom, „der Ort“, setzt die heilige Stadt und den Tempel als Wohnstätte Gottes für Gott selbst. Daher wird _______________ 42 MARMORSTEIN, Old Rabbinic Doctrine, 108ff. Dieser Befund bleibt im Ganzen unbestreitbar, auch wenn sich E SH, S. (' ' )' „Der Heilige (Er sei gepriesen)“. Zur Geschichte einer nachbiblisch-hebräischen Gottesbezeichnung, Leiden 1957 um Relativierung bemüht und sich gegen weitergehende Schlüsse auf die relative Entstehungszeit der beiden Bezeichnungen ausgesprochen hat.

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diese Bezeichnung in der Zeit vor der Zerstörung des Tempels entstanden sein. Daß sie auch nach der Zerstörung Jerusalems in Gebrauch blieb, läßt vermuten, daß sie schon eine längere Tradition hinter sich hatte, die sie legitimierte. Wegen des Bezugs auf das Heiligtum könnte es sich um eine ursprünglich priesterliche Gottesbezeichnung handeln. Wenn der Wohnort Gottes zu seinem Namen wird, dann drückt dieser Name vor allem die Präsenz Gottes aus, für die der Wohnort steht. Der Name ha-maqom aber verlor angesichts des zerstörten Tempels bald an Kraft, so daß er seit der frühen amoräischen Zeit nur noch wenig verwendet wurde. Die Bezeichnung ha-qadosh barukh hu, “der Heilige, er sei gepriesen“, trat weitgehend an seine Stelle. In der älteren Überlieferung war aber hamaqom so fest verankert, daß sich später die Notwendigkeit ergab, den Sinn dieses Namens zu erklären; so fragen die Midrashim zu Gen 28,11:43 Warum nennt man den Namen des Heiligen, er sei gepriesen, „Ort“ (maqom)?

Die Frage zeigt, daß „der Heilige, er sei gepriesen“ der übliche Gottesname war, denn er wird fraglos vorausgesetzt. Erklärt werden soll, warum in der älteren Überlieferung die Bezeichnung maqom verwendet wird. Die Antwort lautet: Weil er der Ort seiner Welt ist, und nicht etwa seine Welt sein Ort.

Wie ist dieser Satz zu interpretieren? Die erste Hälfte ergibt für sich genommen wenig Sinn: die Aussage, daß Gott ein „Ort“ ist, wird aus sich heraus nicht verständlich. Sie ist als Umkehrung der zweiten Hälfte zu verstehen: nicht etwa ist seine Welt – das heißt die von ihm geschaffene Welt – sein Ort. Aber auch diese zweite Satzhälfte allein wäre zumindest mißverständlich. Man könnte sie, für sich genommen, als eine Bestreitung der Immanenz Gottes interpretieren. Dies wird im Kontext der gesamten Aussage abgelehnt: Gott ist immanent, erschöpft sich aber nicht in der Immanenz. Da die Welt seine Schöpfung ist, transzendiert er die Schöpfung, die geschaffene Welt kann daher nicht sein einziger Ort sein. Vielmehr ist er der Ort der Welt: die Welt ist kleiner als er, und sie existiert nicht losgelöst von Gott – außer ihm hat die Welt keinen Ort. Daher ist er nicht ein Ort der Welt, sondern der Ort der Welt. Diese Herleitung des Namens hamaqom im Midrash ist nicht an einer historischen Erklärung interessiert, sondern an einer theologischen. Das vorliegende Problem ist das der Immanenz und Transzendenz Gottes. Abgewehrt wird die Vorstellung der _______________ 43

Zitiert nach MHG zu Gen 28,11 (M ARGULIES 198); Parallele in GenR 68,9 (THE-

DOR /ALBECK 777).

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reinen Immanenz Gottes. Gott ist der Ort der Welt und damit umfassender als sie. Der Gottesname ha-qadosh barukh hu, auf den abschließend näher eingegangen werden soll, ist der in der rabbinischen Literatur der amoräischen Zeit mit Abstand am meisten verwendete. Er wird so oft gebraucht, daß seine inhaltliche Bedeutung zurücktritt, das heißt, sein Gebrauch ist kontextunspezifisch. Dennoch ist dieser Name in seinem theologischen Gehalt tief im rabbinischen Denken verwurzelt. Er verweist bei genauerer Betrachtung auf zentrale Aspekte rabbinischer Theologie. Übersetzt wird haqadosh barukh hu traditionell: „der Heilige, er sei gepriesen“. Allerdings bedeutet das Wort barukh eigentlich nicht „gepriesen“, sondern „gesegnet“; ha-qadosh barukh hu müßte dementsprechend „der Heilige, er sei (oder auch: ist) gesegnet“ heißen. Nun ist in der Regel Gott selbst der Urheber des Segens. Wenn Gott durch den Menschen „gesegnet“ wird, kann damit kaum dasselbe gemeint sein. Vielmehr bedeutet „segnen“ vom Menschen in Richtung auf Gott die Anerkennung Gottes als Quelle des Segens, als Urheber segensreicher Handlungen. Diese Anerkennung aber kann nicht anders als dankend, lobend oder preisend vollzogen werden.44 Aus diesem Grund ist das Wort barukh, „gepriesen“ oder „gelobt“, ein Grundwort des jüdischen Gebets schon in der Mishna. Alle Gebete schließen mit der Eulogie barukh atta adonai „Gelobt seist du, HERR“, mit unmittelbar folgender Benennung der segensreichen Handlung Gottes, um deretwillen er in dem jeweiligen Lobspruch gepriesen wird: „der das Licht erschafft“, „der sein Volk Israel in Liebe erwählt hat“, „der Israel erlöst“ usw. Alle Benediktionen des Achtzehngebets schließen mit der barukh-Formel.45 Dabei ist klar, daß das mit dem barukh herbeigerufene Lob nicht etwa zu einer anderen Gelegenheit, sondern im Gebet selbst vollzogen wird, das heißt, das Lob wird gerade mit diesem Satz ausgesprochen. So könnte man die Eulogie barukh atta vielleicht präziser übersetzen durch: Sei hiermit gelobt, HERR, wonach die Angabe des Grundes folgt: weil du das Recht liebst, weil du Frieden schaffst, weil du der Schild Abrahams bist usw. Sowenig nun der Gottesname ha-qadosh barukh hu, „der Heilige, er sei gepriesen“, selbst als Gebetsanrede verwendet werden kann – er spricht ja von Gott in der dritten Person – so stark ist dennoch das in ihm enthaltene appellative Element. Denn wie die Eulogie der Benediktionen, so wünscht auch das barukh hu des Gottesnamens nicht das Lob herbei, sondern ist selbst schon das Lob: „er sei gepriesen“ – hiermit. „Der Heilige, er sei gepriesen“ kann also zwar nicht als Anrede Gottes dienen, ist aber liturgisch geprägt. Indem man diese Bezeichnung gebraucht, um über Gott zu spre_______________ 44 45

OSTEN-SACKEN, P. v.d., Katechismus und Siddur, 33f. Vgl. ibid. 247ff.

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chen, lobt man ihn zugleich. Auf diese Weise wird das Lob Gottes in die alltägliche oder auch in die gelehrte Rede von Gott hineingetragen. Was bedeutet es, wenn Gott mit der Bezeichnung ha-qadosh als heilig, ja mehr noch: als „der Heilige“ schlechthin bezeichnet wird? Hierzu ist vor allem auf den biblischen Hintergrund zu verweisen, demzufolge der Mensch dem Heiligen Raum geben muß, um ihm begegnen zu können. In Exodus 3 erscheint dieses Motiv bei der Theophanie im Dornbusch an zentraler Stelle: Bevor Gott sich Mose als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu erkennen gibt, spricht er zu ihm (Ex 3,5): „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land.“ An einer weiteren zentralen Stelle der Geschichte Gottes mit Israel, der Theophanie und dem Bundesschluß am Sinai in Exodus 19, spielt das Motiv des Heiligen eine entscheidende Rolle. Gott fährt in einer Wolke auf den Berg Sinai hinab, aber bevor dies geschehen kann, muß sich das Volk seinerseits durch konkrete Reinheitsriten „heiligen“ (V. 14f.); außerdem „heiligt“ Mose den Berg, indem er eine Grenze zieht und für den Zeitraum von drei Tagen verhindert, daß Mensch oder Tier diese Grenze überschreiten. Danach findet auf dem Gipfel des Berges Sinai die Berührung des Heiligen mit dem nur Geheiligten statt. Schließlich ist Jesaja 6,1– 5 zu nennen, die Thronvision des Propheten mit dem für die jüdische Liturgie so wichtigen Trishagion der Serafim (Vers 3): „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zeva’ot, alle Lande sind erfüllt von seiner Herrlichkeit.“ Das Heilige konfrontiert den Propheten mit seiner eigenen Unreinheit, die ihn, wie Israel in Exodus 19, von Gott trennt. Gottes Heiligkeit bezeichnet den Unterschied zwischen ihm und der Welt, aber die Bibel zeugt nicht nur von der damit gegebenen Distanz, sondern auch von dem Willen Gottes, Israel und der Welt nahe zu sein, und von der Möglichkeit Israels und der Menschen, sich zu heiligen und so einen Raum der Begegnung bei sich zu schaffen. Das Bemühen um Heiligung ist also das Bemühen, Gott entgegenzukommen, indem man ihm ähnlich wird, wie es heißt (Lev 19,2): „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott.“ So sind auch die Maße der Stiftshütte, des „Zelts der Begegnung“, nicht menschliche, sondern von Gott offenbarte Maße, denn der Raum, in dem Gott unter den Menschen wohnt, muß gottähnlich, „heilig“ sein. Umgekehrt setzt das in der biblischen Geschichte sichtbare Bemühen Gottes um die Nähe zur Welt ein immer erneutes Weltförmig-Werden Gottes, ein Sich-Einlassen mit der Welt voraus. Die Rabbinen haben der Beschäftigung mit dem Heiligen in der Welt und der damit verbundenen Unterscheidung von Rein und Unrein eine ganze Ordnung der Mishna und entsprechend umfangreiche Diskussionen im ba-

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bylonischen Talmud gewidmet. Sie gehören zu den am schwersten zugänglichen Teilen der rabbinischen Tradition. Warum haben sich die Gelehrten so intensiv mit diesen Dingen befaßt? Sicherlich ist es vor allem die Tatsache, daß die biblische Überlieferung ihnen so breiten Raum gibt. Die Heiligkeitsgesetze, die Gebote zu Rein und Unrein und die Vorschriften zur Errichtung des Heiligtums und zum Tempelkult bilden einen schon vom Umfang her sehr gewichtigen Bestandteil des Pentateuch. Darüber hinaus können aber gerade die Reinheitsvorschriften als Quelle alltäglicher Heiligkeit und in dieser Hinsicht als Inbegriff der Gebote verstanden werden, wie es ein bekannter Satz aus der Mekhilta zu Ex 22,30 ausdrückt:46 Wenn der Ort (ha-maqom, Gott) ein neues Gebot für Israel gibt, fügt er ihnen Heiligkeit hinzu.

Dieses Konzept, daß alle Gebote eine Quelle der Heiligkeit sind, liegt der rabbinischen Gestaltung auch der alltäglichen Verrichtungen zugrunde. Sie werden begleitet von Lobsprüchen, die die Mishna im Traktat Berakhot formuliert. Vor dem Essen, zum Beispiel, soll man sagen: Gelobt seist du, HERR, unser Gott, König der Welt, daß du Brot aus der Erde hervorbringst. Dies ist schon eine spezielle Form des Lobspruchs. Die allgemeinere, zu verschiedenen Anlässen verwendete Form lautet: Gelobt seist du, HERR, unser Gott, König der Welt, der uns durch seine Gebote geheiligt und uns geboten hat – hier folgt der jeweilige Ritus, zum Beispiel die Tefillin anzulegen, die Laubhütte einzurichten, den Shofar zu blasen usw. Gott heiligt Israel durch die Gebote, Israel bestätigt und vollzieht diese Heiligung durch das Halten der Gebote. Heiligkeit Gottes und Heiligung Israels aber werden theologisch aufs engste mit dem Lob Gottes, dem barukh der Benediktionen, verknüpft. In diesem barukh und seiner Verbindung mit der jeweiligen Handlung konkretisiert sich die Berührung der Menschen mit Gott und Gottes mit der Welt im Medium des Heiligen, das heißt, wenn man das Wort nicht zu eng faßt, auf sakramentale Weise. Die Gottesbezeichnung ha-qadosh barukh hu, „der Heilige, er sei gepriesen“, bringt diese Berührung in jeder Situation, in der von Gott gesprochen wird, zum Ausdruck. Sie enthält und benennt zugleich die Heiligkeit Gottes und den Lobpreis dafür, daß er nicht in seiner Heiligkeit verharrt, sondern den Menschen die Möglichkeit gibt, an ihr teilzuhaben durch das Auf-sichNehmen seiner Königsherrschaft und seiner Gebote. Darum wird Gott in den Benediktionen „König“ genannt, und im Jerusalemer Talmud heißt es sogar:47

_______________ 46 47

MekhY Mishpatim 20 (HOROVITZ 320). yBer 9,1/4.

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Eine Benediktion, mit der nicht (die Erwähnung des) Königtums (Gottes) verbunden ist, ist keine Benediktion.

Die dazu angeführte Begründung aus der Schrift ist Ps 145,1: „Ich will dich erheben, mein Gott, du König, und deinen Namen loben immer und ewig.“ In diesem Vers sind tatsächlich unter dem Stichwort des Lobes alle drei Gottesbezeichnungen enthalten, die auch in den Lobsprüchen gewöhnlich genannt werden: Gott, König und „Name“ (impliziert das Tetragramm). Dies ist ein Beispiel für die erstaunliche Konvergenz rabbinischen und biblischen Denkens. Die Assoziationsfelder decken sich. Die Rabbinen finden ihre zentralen Konzepte in der Bibel wieder, nachdem sie sie quasi autonom entwickelt haben. Sie lesen sie in die Schrift hinein und dann wieder heraus. Diese Art der Interpretation ist trotzdem nicht willkürlich und gezwungen, sondern führt wie von selbst immer wieder in die größeren biblischen Zusammenhänge hinein. Sofern man von einer Kohärenz theologischer Ideen in der rabbinischen Literatur sprechen darf, erstreckt sie sich auch auf die Bibel und hat die Kohärenz biblischer theologischer Ideen zur Voraussetzung.48 Darin rechtfertigt sich das rabbinische Konzept der Tora, der Lehre, als ein Begriff, der die gesamte rabbinische Tradition umfaßt und der die Schrift als einen wesentlichen Teil mit einschließt. Erst im Rahmen dieser lebendigen Tradition wird die Schrift nach rabbinischer Auffassung in ihrer ganzen Bedeutungsfülle jeweils aktuell erschlossen.49 Während die klassische griechische Philosophie den Weg von den konkreten Erscheinungen zu den abstrakten Ideen ging, steht am Anfang und im Zentrum der rabbinischen Theologie die konkrete Realität Gottes. Diese Realität ist aber in ihrem Wesen unbegreiflich und nur in ihrer Beziehung zum Menschen greifbar. Sie läßt sich nicht in einem System darstellen, schon gar nicht in einem System abstrakter Begriffe. Grundlegende Aspekte der rabbinischen Aussagen über Gott können weder abgeleitet noch begründet werden, allen voran die Einheit und Einzigkeit Gottes. Unbeirrbar weisen die Rabbinen heidnischen Polytheismus und gnostischen Dualismus zurück. Auf der anderen Seite zeugen nicht zuletzt die Gottesnamen und -attribute der rabbinischen Literatur mit ihrem Reichtum an theologischen Einsichten und Erfahrungen von dem Bewußtsein, daß Gott auf viele verschiedene Weisen wahrnehmbar und beschreibbar ist.50 _______________ 48

KADUSHIN, M., Organic Thinking. A Study in Rabbinic Thought, New York 1938, 2f.; 12–15; 219–229. 49 BECKER, H.-J., Der Jerusalemer Talmud, Stuttgart 1995, 11. 50 LANGE, N. de, Judaism, Oxford 1986, 108f.

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So wurzelt rabbinische Theologie in der Einheit Gottes, stellt sich aber niemals als bloße Theorie dar. Ihre Voraussetzung und ihr Ziel ist der in der Geschichte existierende Mensch, der eine Aufgabe in der Welt hat. Nicht zufällig sind daher die wichtigsten Feste des rabbinischen Judentums Feste der geschichtlichen Vergegenwärtigung. Durch ihren liturgischen Vollzug findet jüdische Theologie zu sich selbst, so wie umgekehrt erst aus der Vergegenwärtigung geschichtlicher Ereignisse, von der Schöpfung bis zur zukünftigen Erlösung, Theologie wird.

Islamische Religion

Schöpfer und Kosmos im Koran1 TILMAN NAGEL

Es gibt Vorurteile, die man nicht ausrotten kann. Ein solches Vorurteil ist die Behauptung, der Islam sei eine Religion der Wüste. Man sieht ihn vor dem geistigen Auge, den Propheten Mohammed, in einer mit Felsbrocken übersäten Einöde, des Nachts natürlich, unter klarem Sternenhimmel, unvermittelt von Allah angeredet mit Worten der reinsten Wahrheit und des tiefsten Tiefsinnes. Was soll uns dieses Zitat des Islamkitsches am Beginn einer Vorlesung über diese Religion? Auch Kitsch birgt eine Aussage in sich, und so weist der einsame Mohammed unter dem nächtlichen Wüstenhimmel auf eine stillschweigend angenommene Prämisse hin: Die Offenbarung, die Mohammed erhielt, ist etwas ganz Besonderes, liegt fernab von aller banalen Lebenswirklichkeit; der Koran ist gleichsam ein Text ohne Kontext, hineingesandt in die barbarische Umwelt des heidnischen Arabien. Unvermittelt wurde dieses Heidentum beiseite geräumt und ersetzt durch die höchste der Menschheit überhaupt erreichbare Stufe der Zivilisation, durch den Islam, Allahs ewig wahren Gesetzeswillen. So haben es die Muslime schon seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert den unterworfenen Andersgläubigen, die sich nicht gern den kulturell rückständigen Eroberern beugten, weiszumachen versucht, und selbst die europäische Orientforschung hat sich mehr oder minder stark von den Behauptungen beeindrucken lassen, deren Verbildlichung der Prophet in der Wüste ist. Da es uns in dieser Vorlesung aber um religionsgeschichtliche Erkenntnis geht, muß man sich von jener Fiktion freimachen. Wenn man den religionsgeschichtlichen Ort des Islams ermitteln will, dann ist der Koran eben nicht Allahs ewiges Wort, sondern die Rede des Menschen Mohammed, der sich in einer bestimmten geschichtlichen Situation als einen von Allah berufenen Propheten verstand und die damit verbundenen Ansprüche religiöser und politischer Führerschaft einem Teil seiner Zeitgenossen auferlegen konnte. Wie dies geschah, welches Gottesbild er _______________ 1 Diese Vorlesung faßt einige Erkenntnisse zusammen, die ich im Rahmen einer umfangreichen Biographie Mohammeds ausführlich darlege und begründe; ich hoffe, dieses Werk 2008 zu veröffentlichen.

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hierfür fruchtbar machte und welche langfristigen Folgen sein Werk zeitigte, das ist der Gegenstand der Vorlesungen über den Islam im Rahmen unseres Graduiertenkollegs.

I Die ältesten Worte der Offenbarung – nicht die älteste Sure – sind laut muslimischer Überlieferung die Verse, die am Anfang von Sure 74 zu stehen gekommen sind. Sie lauten: „Der du dich in dein Obergewand gehüllt hast! Stehe auf und warne! Und deinen Herrn, den rühme! Und deine Kleider, die reinige! Und den Schmutz, den meide!“ Verknüpft wird die Entstehung dieser Worte mit einem religiösen Brauch, den man in Mekka übte: Einzelne nach der Vertiefung ihrer religiösen Erfahrungen strebende Männer begaben sich zum unweit der Stadt gelegenen Berg HirƗ’ und verbrachten dort eine längere Zeit in einsamen Andachtsübungen. Diesem Brauch folgte auch Mohammed, und eines Tages fand er sich von einer Vision Allahs überwältigt; in panischer Angst stürzte er nach Hause, wo er seiner Ehefrau HadƯ÷a zurief, man möge ihn bedecken; der Anblick, der ihm zuteil geworden war, hatte ihn zutiefst erschreckt. Sure 53, die der erste Text gewesen sein soll, mit dem er sich um 612 an die Öffentlichkeit wandte und ihr jenes Erleben preisgab – gemäß der uns in Ansätzen überlieferten Chronologie der mekkanischen Jahre Mohammeds, lag es ungefähr drei Jahre zurück –, spricht von mehreren Visionen solcher Art. Die spätere muslimische Korandeutung, besorgt um das Dogma von der Unsichtbarkeit Allahs im Diesseits, behauptet, es sei in Sure 53 vom Engel Gabriel die Rede; aber es wird dort von dem, der Mohammed erschien, allein in Topoi geredet, die der Koran auf Allah bezieht. „Beim Stern, wenn er fällt! Euer Gefährte (d.i. Mohammed) geht nicht in die Irre und ist nicht fehlgeleitet! Er redet nicht nach Belieben! Es ist nichts anderes als eine Eingebung, die ihm eingegeben wird. Jemand mit starken Kräften hat sie ihn gelehrt, jemand mit Macht. Er hatte sich aufrecht gesetzt, dort ganz oben am Horizont. Dann kam er näher und ließ sich herab, zwei Bogenspannweiten oder näher. Nun gab er seinem Knecht ein, was er ihm eingab. Das Herz lügt nicht, was es sah. Wollt ihr ihm bestreiten, was er sieht? Und er sah ihn ein anderes Mal herabkommen, beim Christdorn ganz am Ende, dort, wo der Garten mit dem Ruheplatz ist. Der Blick wich nicht, war aber auch nicht aufdringlich. Er hatte von den Wunderzeichen seines Herrn das größte gesehen“ (Vers 1–18). Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß Mohammed hier seine Visionen erwähnt, um das, was er verkündet, als wahr zu rechtfertigen – „Er gab

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ihm ein, was er ihm eingab“. Wir wissen mit diesem Zitat aus Sure 53 freilich noch nicht, wer es ist, der sich ihm zeigte. Aus den folgenden vier Versen können wir jedoch vorläufigen Aufschluß gewinnen. „Was meint ihr von al-LƗt, al-‘UzzƗ und von ManƗt, der anderen, dritten? Euch behaltet ihr die Söhne vor, ihm (sollen bloß) die Töchter gehören? Das ist eine ungerechte Verteilung!“ Die Mekkaner möchten dem „Herrn“ weniger Prestige zugestehen, als sie für sich selber beanspruchen. So verhalten sie sich, wie man aus der reichhaltigen Überlieferung zum vorislamischen Arabien weiß, auch bei den Opfern. Die drei Göttinnen bedenken sie stets reichlich, Allah, von den alten Arabern als deren Vater betrachtet, lassen sie nur wenig zukommen. Er ist ihnen zu weit weg; seine drei Töchter sind den alltäglichen Anliegen näher und taugen als Fürsprecherinnen. Es folgt nun Vers 23, der stilistisch wie dem Inhalte nach aus dem Rahmen fällt; er setzt eine, wenn auch rohe, theologische Reflexion voraus, wie sie der Koran erst in jüngeren Partien aufweist. Man wird ihn also als einen späteren Einschub betrachten müssen. Nach muslimischer Überlieferung, die sich mit den philologischen Befunden der Koranforschung deckt, hat Mohammed den Text seiner „Lesung“ vielfach revidiert; ein großer Teil dieser überarbeiteten Stellen ist der frühen muslimischen Korangelehrsamkeit bekannt gewesen. Nimmt man diese Angaben ernst, dann eröffnet sich ein erstaunlich klarer Blick auf den Gang der Entwicklung des mohammedschen Gottesverständnisses. Vers 23 von Sure 53 lautet: „(Die Göttinnen) sind nichts weiter als Namen, die ihr und eure Väter ersonnen haben. Allah hat (hierfür) keine Vollmacht herabgesandt. Sie“ – nämlich die Gegner des Propheten – „folgen allein ihren Vermutungen und dem, was sie sich zurechtlegen, und dies, obgleich zu ihnen schon die Rechtleitung von ihrem Herrn gekommen ist.“ Vergleichbare Erwägungen findet man erst in der spätmekkanischen Sure 6, in der Abraham sich ebenfalls auf die ihm bereits geschenkte Rechtleitung beruft und die Vielgötterei nicht nur wegen der Machtlosigkeit der von den Heiden verehrten Gestirne, sondern vor allem deswegen ablehnt, weil Allah zu solch einem Kult keine Vollmacht erteilt habe. In ganz anderem Zusammenhang werde ich auch auf diese Thematik in den nächsten beiden Vorlesungen zurückkommen. Nach diesem spätmekkanischen Einschub heißt es in Sure 53 weiter: „Oder wird dem Menschen etwa zuteil, was er wünscht? Allah gehören das Diesseits und das Jenseits!“ Diese Sätze, Vers 24 und 25, bilden den inhaltlichen Anschluß an Mohammeds empörten Ausruf: „Euch behaltet ihr die Söhne vor, ihm (sollen bloß) die Töchter gehören? Das ist eine

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ungerechte Verteilung!“ Dann wieder ein Einschub: In den Versen 26 bis 32 läßt sich Mohammed über die Fürsprache aus, die sich manche von den Engeln erhoffen; nur wenn Allah es will, wird sie irgendeine Wirkung haben; überhaupt hat Allah, anders als jene Polytheisten vermuten, alles allein in der Hand; er vermag am Ende gerecht zu urteilen, auch verzeihen kann er. Er schuf die Menschen aus Erde und ließ sie als Leibesfrucht heranwachsen. Er weiß am besten, wer gottesfürchtig ist. Dann kehrt der Text zu den knappen, impressionistischen Ausdrücken zurück, die den Anfang von Sure 53 prägten. Ich gebe den Text von hier an wörtlich und vollständig wieder: „Was meinst du von dem, der sich abwendet? Der nur wenig gibt und knausert? Weiß er vom Verborgenen, so daß er es sieht? Oder wurde ihm nicht gesagt, was in den Schriftstücken des Mose steht? Und Abrahams, der (alles) erfüllte? Daß dem Menschen nur zuteil wird, was er erstrebt? Und daß man das Ergebnis des Strebens sehen wird? Daß ihm dann voll entgolten wird? Daß bei deinem Herrn alles endet? Daß er es ist, der Lachen und Weinen macht? Sterben und leben läßt? Daß er das Paar schafft, männlich und weiblich? Aus einem Samentropfen, wenn dieser hervorgestoßen wird? Daß (Allah) auch die andere Hervorbringung (am Jüngsten Tag) obliegt? Daß er Reichtum und Besitz schenkt? Daß er der Herr des Hundssterns ist? Daß er das alte Volk der ‘Ɩd vernichtete? Und die Tamnjd, und niemanden am Leben ließ? Und davor die Leute Noahs? Sie waren frevlerisch und aufsässig! Daß er die dem Untergang Geweihte zugrunderichtete und dabei ganz bedeckte? Welche Wohltaten deines Herrn willst du bestreiten? Dies ist eine von den Warnungen. Die Katastrophe steht bevor! Außer Allah vermag niemand sie abzuwenden! Ihr wundert euch über solche Rede? Ihr lacht? Ihr weint nicht? Frivol wie ihr seid? Werft euch (lieber) vor Allah nieder und betet (ihn) an!“

II Von diesen Texten aus, vom Anfang der Sure 74 und von Sure 53 her, wollen wir nun Mohammeds Vorstellungen von Allah und Kosmos erkunden und danach fragen, in welche Richtung sie sich im Laufe seiner Prophetenschaft weiterentwickelt haben. Wer ist es, von dem er sich in den Visionen überwältigt fühlt und als dessen Sprachrohr er sich im Koran versteht? Beginnen wollen wir unseren Gang durch die altarabische und frühislamische Religionsgeschichte mit einer Erörterung des vielleicht rätselhaftesten Verses aus Sure 53: Die Menschen, an die sich Mohammed wendet, machen sich nicht ständig bewußt, daß Allah der Herr des Hundssterns ist (Vers 49). Mit dieser Bemerkung stellt der Prophet einen Bezug zur heidnischen Religion seiner Zeit her. Deren auffälligste Riten waren

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die vielen Pilgerreisen, die man nicht nur nach Mekka unternahm, sondern die die Menschen auch an andere Orte der Arabischen Halbinsel führten. Ein vielschichtiges Geflecht aus unterschiedlich gearteten Beziehungen einzelner Stämme zu den vielen uns namentlich bekannten Wallfahrtsorten prägte die religiöse Praxis jener Epoche. Manche dieser Orte wurden von einer bestimmten Sippe betreut, die von den Einkünften lebte, die der Ritenvollzug für sie erbrachte. Die mekkanischen Quraišiten sind das bekannteste Beispiel. Es gab aber auch heilige Orte, die keine ständigen Bewohner hatten. Der Pilgerverkehr war natürlich nur dann möglich, wenn die Stämme während der Zeit des Kultes Blutfehden ruhen ließen und überhaupt Frieden wahrten. Dies durchzusetzen, verlangte den vom Heiligtum lebenden Sippen ein hohes Maß an politischem Geschick ab. Dies zu den allgemeinen Lebensverhältnissen, wie sie für Mohammed selbstverständlich waren! Sobald sich nun die Mitglieder eines Stammes einem heiligen Bezirk genähert hatten, bekundeten sie der dort verehrten Gottheit die Bereitschaft, ihr zu dienen. Jeder Stamm hatte seine charakteristischen Huldigungsrufe; sie leben noch heute in dem vereinheitlichten „Labbaika AllƗhumma labbaika!“ der Mekkapilger fort. Aus der Überlieferung kennen wir eine große Anzahl vorislamischer Rufe, von denen einer unsere Aufmerksamkeit weckt. Er war bei dem jemenischen Stamm der Bannj Madhi÷ in Gebrauch, die ihn an ihrem der Gottheit Jaƥnjt  geweihten Pilgerheiligtum verwendeten. Jaƥnjt  – der Name bedeutet „er hilft“ – wird übrigens in der frühmekkanischen Sure 71 erwähnt, die Noah gewidmet ist. Mohammed empfindet sich hier dem Schicksal dieses von ihm als Vorgänger betrachteten Mannes an und läßt ihn darüber klagen, daß sein Volk nicht bereit sei, die heidnischen Gottheiten aufzugeben; diese tragen durchweg arabische Namen, darunter JaƥnjŠ (Vers 23). – Wie also huldigen die Madhi÷ ihrem Jaƥnjt ? „Dir zu Diensten (labbaika)!“ rufen sie, „dir zu Diensten, Herr des Hundssterns, Herr der höchsten Himmel, Herr von alLƗt und al-‘UzzƗ!“ Was bedeutet diese Huldigungsformel? In dem Augenblick, in welchem sich die Bannj Madhi÷ dem Heiligtum des JaƥnjŠ nähern, bekunden sie, daß er nun der höchste Herr sei, Herr auch der Göttinnen al-LƗt und al-‘UzzƗ. Diese Aussagen gelten selbstverständlich nur unter diesen Umständen; beträte man einen Ort, an dem al-‘UzzƗ verehrt wird, dann wären solche Worte unmöglich; ihr müßte man anders huldigen und dabei ihr den höchsten Rang zuerkennen. Solche situationsbedingte Monolatrie nimmt Mohammed in den erwähnten Versen 23 und 26 bis 32 von Sure 53 aufs Korn, nachdem er sich in der ältesten Textschicht lediglich über die Vermutung der Mekkaner mokiert hat, Allah könnte sich mit den wenig Prestige eintragenden Töchtern

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begnügen. Die Argumente, die in den Versen 23 sowie 26 bis 32 dargelegt werden, sind hingegen grundsätzlicher Natur und setzen eine Auffassung von Allah und der Welt voraus, die sich in dem langen aus rhetorischen Fragen bestehenden Schlußteil bereits ankündigt: Allah ist der Schöpfer und der Lenker der Geschichte, bei ihm endet alles! Da dies so ist – so der Gedankengang der später eingefügten Verse –, steht den irrtümlich als Töchter Allahs und als Göttinnen angerufenen al-LƗt, al-‘UzzƗ und ManƗt gar keine eigene, von Allah unabhängige Macht zu Gebote: Infolgedessen ist es sinnlos, sie anzurufen. Eine solche Verallgemeinerung hätte den Bannj Madhi÷ keineswegs eingeleuchtet, da sie ja nur aus den gegebenen Umständen heraus JaƥnjŠ als dem Herrn des Hundssterns huldigten. Wir stehen damit vor der Frage, was Mohammed dazu veranlaßte, sich zu einer Verehrung Allahs als des höchsten Herrn durchzuringen, die von den an den einzelnen Wallfahrtsheiligtümern jeweils geltenden Umständen abzusehen vermochte. Wenden wir uns noch einmal dem Hundsstern zu. Er wurde auch im vorislamischen Mekka verehrt, insbesondere von den HuzƗ‘iten. Diese waren im überlieferten genealogischen System ein wie die Bannj Madhi÷ zu den jemenischen Arabern gerechneter Stamm, der, so die erinnerte Geschichte Mekkas zur Zeit Mohammeds, die Stadt und das Heiligtum der Kaaba beherrscht hatte, bevor die Quraišiten dort das Regiment übernahmen. Die Quraišiten waren um 500 aus dem syrisch-palästinensischen Raum zugewandert, hatten Mekka besetzt und dem Kaaba-Kult eine neue Deutung gegeben. Sie verbanden ihn mit der Gestalt Abrahams, auf den sie über Ismael die eigene Abstammung zurückführten. Es ist hier nicht der Ort, die weitreichenden politischen, religiösen und wirtschaftlichen Folgen dieser Usurpation zu beschreiben, obgleich deren Kenntnis für eine angemessene Beurteilung des Lebenswerks Mohammeds unentbehrlich ist. Jedenfalls galten in quraišitischer Zeit die Pilgerreisen nach Mekka der Verehrung des in der Kaaba gegenwärtigen Allah; Örtlichkeiten in der Nähe Mekkas, die heute in die muslimischen Pilgerriten einbezogen sind, waren damals anderen Gottheiten geweiht. Folglich hatten die Quraišiten dort auch nicht das Sagen; sie wohnten, und das war das Ungewöhnliche an den mekkanischen Verhältnissen, um die Kaaba herum unmittelbar in dem heiligen Bezirk, in dem eine ganzjährige Friedenspflicht galt. Also nicht nur eine Sippe von Kultdienern lebte hier – derartiges kannte man auch von anderen arabischen Heiligtümern –, sondern fast ein ganzer Stamm, von dessen Mitgliedern nur wenige für die Riten verantwortlich waren. Außerdem lebten in Mekka zu Mohammeds Zeit noch die aus der Herrschaft gedrängten HuzƗ‘iten, mit denen der Prophet in der mütterlichen Linie verwandt war. Sein huzƗ‘itischer Ururgroßvater soll

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nun darauf bestanden haben, man dürfe nur den Hundsstern anbeten, da dieser allein, wie es wörtlich heißt, „den Himmel in der ganzen Breite überquert“, mithin also eine Bestimmungsmacht besitzt, die derjenigen aller übrigen Gestirne überlegen ist. An diese Lehren hätten sich die Quraišiten erinnert gefühlt, als Mohammed sich mit seinen Vorstellungen an sie gewandt habe. Auch der Hundsstern, das wirkmächtigste Gestirn, hat aber einen Herrn über sich, erkannten die Bannj Madhi÷, nämlich Jaƥnjt  . In der situationsbedingten Monolatrie gibt es stets einen höchsten Herrn, eine höchste Herrin. In Sure 53 nun wird diese Aussage ins Prinzipielle gewendet: Allah ist der Herr des Hundssterns, ja der höchste Herr überhaupt. Dies zu begründen ist die Aufgabe der Einschübe, in denen Mohammed gegen die Verehrung von al-LƗt, al-‘UzzƗ und ManƗt argumentiert; diese drei sind allen übrigen Geschöpfen gleich, können nur nach Allahs, des Schöpfers, „Vollmacht“ handeln. Daß der Hundsstern nur ein Geschöpf sei, findet sich zum ersten Mal übrigens nicht im Koran, sondern in einem Gedicht, das ‘AbdallƗh b. az-Ziba‘rƗ, ein Heide, verfaßte, als Mekka den Angriff des äthiopischen Herrschers im Jemen, Abrahas, heil überstanden hatte (vgl. Sure 105): „Gepeinigt wichen (die Äthiopier) von der Talschaft Mekkas zurück. Seit ewigen Zeiten vergriff sich niemand am heiligen Bezirk. Der Hundsstern war (noch) nicht geschaffen in jenen Nächten, als (Mekka) schon für unverletzlich erklärt wurde.“ Mohammeds Botschaft nimmt also Bezug, so wollen wir hier vorerst bilanzieren, auf eine religiöse Strömung, in der sich unterschiedliche Formen der Monolatrie auflösen. Was die Monolatrie untergräbt und schließlich gleichsam unglaubwürdig macht, ist die Vorstellung von einer Schöpfung bzw. die Gleichsetzung des höchsten Herrn mit dem Schöpfer. Wie Schöpfung in diesem Zusammenhang aufgefaßt wird, muß uns in Kürze ausgiebig beschäftigen. Wir müssen uns zuvor noch einmal den ältesten Texten des Korans, insbesondere Sure 74, Vers 1 bis 5 zuwenden, die wir zwar zitiert, aber bisher nicht in unsere Betrachtungen einbezogen haben. Dort war vom Rühmen des Herrn die Rede und vom Reinigen der Kleider. Allah ist, wie wir jetzt wissen, der „höchste Herr“; so wird er in den ältesten Texten des Korans genannt, noch nicht der einzige. „Preise den Namen deines höchsten Herrn!“ beginnt Sure 87, „(des höchsten Herrn), der schuf und dann ebenmäßig ausrichtete ...“ Oder: „Niemand hat bei ihm eine Wohltat gut, die entgolten werden müßte! Man ist wohltätig allein im Streben nach dem Antlitz des höchsten Herrn!“ (Sure 92, 19 f.). Wie die meisten Quraišiten gehörte Mohammed einem Kultbund an, dessen Namen man mit „die Strengen“ übersetzen könnte. Die Mitglieder

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dieses Bundes hatten zweierlei Aufgaben: Zum einen versorgten sie Pilger fremder Stämme mit der für die Umrundung der Kaaba vorgeschriebenen rituell reinen Kleidung, ja waren während der heiligen Tage gewissermaßen Paten je eines auswärtigen Pilgers; zum anderen aber, und das ist für uns wichtig, beanspruchten sie für sich ein besonders enges Verhältnis zu dem an der Kaaba verehrten Allah, dem sie sowohl als dem Herrn des Hundssterns wie auch als dem „Herrn der dritten, anderen, und Herrn von al-LƗt und al-‘UzzƗ“ huldigten – wir rufen uns Sure 53 ins Gedächtnis zurück. Dieser Herr ist es, den Mohammed nach den Aussagen von Sure 53 geschaut haben muß, und er hat ihn nicht bloß geschaut, sondern von ihm auch einen Auftrag empfangen. Er soll aufstehen und die Menschen warnen, und er soll die Kleidung reinigen. Die „Strengen“, so wird uns berichtet, mußten sich stets der Tatsache bewußt sein, daß die Kaaba ein heiliger, unverletzlicher Ort sei; sie selber hieß „die Strenge“ und bildete den Mittelpunkt des Bundes, der seinen Mitgliedern nicht gestattete, während der Pilgersaison die außerhalb Mekkas gelegenen, anderen Gottheiten geweihten Kultorte aufzusuchen. Darüber hinaus waren den „Strengen“ eine Reihe weiterer Dinge verboten, die den übrigen Pilgern gestattet waren. Die „Strengen“ durften im Weihezustand bestimmte Milchprodukte wie klares Butterfett nicht herstellen; sie durften kein Zelt aus Tierhaaren betreten; einen Säugling nur dann von der Mutterbrust entfernen, wenn er sich sattgetrunken hatte; sie durften sich nicht die Haare und Nägel schneiden, keine wohlriechenden Essenzen verwenden; sie mußten neue, reine Gewänder anlegen und durften die Kaaba nur beschuht umkreisen, denn der Boden durfte wegen seiner Heiligkeit nicht mit bloßen Füßen berührt werden. Der Sinn, den diese merkwürdigen Bräuche haben, wird uns gleich deutlich werden; er ist als rohe Vorstufe im Kosmos- und Schöpfungsverständnis des Korans gleichsam sublimiert worden. Den Schmutz zu meiden und die Kleidung zu reinigen, lautete der Auftrag, den Mohammed der am Horizont geschaute, dann aber beängstigend nahe rückende Herr erteilt hatte. Wenn wir die Überlieferungen zu den rituellen Bräuchen der „Strengen“ genauer überprüfen, dann ergibt sich folgendes: Wenn jemand zum ersten Mal die Wallfahrt zur mekkanischen Kaaba unternimmt, muß er diese entweder nackend umrunden und die abgelegte Kleidung an der Kaaba zurücklassen, oder er muß sich das Gewand eines der „Strengen“ leihen, notfalls gegen ein Entgelt. Die abgelegte Kleidung wurde übrigens nicht wieder benutzt, sondern blieb, man weiß nicht genau, wo, auf dem nicht eben großen Platz um das Heiligtum liegen, bis sie von der Witterung und von den Füßen der Pilger ganz verschlissen war. In Sure 7 polemisiert der Prophet gegen diese heidnischen Sitten. Es ist der Satan, der Adam und Eva überredet, sie sollten sich nackt ausziehen, damit sie

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ihre Scham betrachten könnten (Vers 27); in Wahrheit habe Allah den Menschen die Kleidung geschenkt, damit sie sie gerade auch an den Kultstätten trügen (Vers 31 f.). Waren in der Zeit, in der Mohammed zum Mann reifte, die Nacktheit vor Allah oder die Anwesenheit vor ihm in geliehenen rituell reinen Kleidern nur während des Pilgerkultes üblich, so folgt aus der Aufforderung, die der Herr an den Propheten richtete, ein ganz anderes, die herkömmliche Verfahrensweise von Grund auf veränderndes Vorgehen: Wenn man sich in die Gegenwart des höchsten Herrn begibt, dann möge man dies in rituell gereinigten Gewändern tun, und zwar immer – die Aufforderung ist allgemein gefaßt – und unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kultbund. Neben der Auflösung der Monolatrie ist diese Entschränkung die zweite Verallgemeinerung eines Rituals, die wir im Zusammenhang mit dem Wirken Mohammed beobachten. Auf die Verallgemeinerung der Reinheitsgebote, die sich heutzutage als ein Grundelement des Ritualrechts wiederfindet – nur in rituell reiner Kleidung dürfen die Riten vollzogen werden –, beziehen sich die ältesten Zeugnisse einer Wahrnehmung der von Mohammed begründeten Glaubenspraxis durch Dritte. Die Quraišiten bezeichneten ihn und seine Anhänger als „SƗbi’er“, sich zu ihm zu bekennen hieß tasabba’a, „SƗbi’er werden“. Mit diesem Namen belegte man die Verfechter gnostischer Religiosität, ohne daß man den arabischen Quellen entnehmen könnte, ob eine spezifische Gruppierung gemeint war. Spuren eines gnostischen Menschenbildes erkennt man in einzelnen, kurzen Passagen früher Suren. So erfahren wir, Allah habe den Menschen zwar in schönster Ausrichtung geschaffen, ihn dann gleichwohl „zum Untersten der Unteren“ gemacht, abgesehen von denen, die glauben und fromme Werke tun; diese erhalten einen Lohn, der keineswegs als eine Gnadengabe zu werten sei (Sure 95). Das Paradies, ein Ort, durch den „unten“ das Wasser fließt – eine Reminiszenz an den durch das Wasser und den Leviathan von der Welt hermetisch abgeschlossenen Bereich des guten Gottes – ist den „ihm Nahegebrachten“ unter den Menschen schon zugesagt; daneben gibt es zu seiner Rechten diejenigen, die es sich verdienen, zu seiner Linken die Verworfenen. Diese Dreiteilung der Heilsnähe (Sure 56, 7–14 und 88–94), die in der sonstigen koranischen Eschatologie nicht vorkommt, dürfte die gnostische Einteilung der Menschen in Hyliker, Psychiker und Pneumatiker widerspiegeln. Ganz ungewöhnlich ist auch eine Passage in Sure 74: die Hölle müsse jedermann zur Warnung dienen, „denen unter euch, die vorankommen wollen oder zurückbleiben. Jede Seele ist Geisel dessen, was sie erwarb“ (Vers 32–38). Der Bagdader Religionsgeschichtler aš-ŠahrastƗnƯ (gest. 1154) legt ausführlich dar, worin das SƗbi’ertum bestehe. Wieder vermissen wir den

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Bezug zu einer greifbaren Gruppierung, der Bezug zu koranischen Formulierungen ist aber deutlich: Reinheit ist das wesentliche Element ihrer Frömmigkeit, sie herbeizuführen, ist ein Akt des „Erwerbens“, für den jeder Mensch selber verantwortlich ist. Aš-ŠarastƗnƯ stellt dieser Überzeugung gegenüber, was er als „unsere Lehre“ charakterisiert, nämlich die, wie er meint, bereits als islamisch zu bezeichnende Religion der heidnischen arabischen Gottsucher, der HanƯfen, deren Kernbegriff die ursprünglich von Allah jedem Menschen anerschaffene Seinsart (arab.: alfitra) sei. Er zitiert damit Sure 30, Vers 30, in spätmekkanischer Zeit offenbart, wo es heißt: „Richte dein Gesicht als ein Gottsucher – hanƯf – auf die Glaubenspraxis! Denn dies ist die (eigentliche) Seinsart (arab.: alfitra), gemäß der Allah die Menschen geschaffen hat. Es gibt keine Möglichkeit, die Schöpfung Allahs auszutauschen...“ und damit sich selber durch eigenes „Erwerben“ für das Paradies zu qualifizieren. Eine schroffe Zurückweisung gnostischer Überzeugungen enthält der Koran in dem erst in Medina offenbarten Lichtvers Sure 24, Vers 35, in dem Allah selber als das Licht der Himmel und der Erde beschrieben wird, das überall im Diesseits aufscheint. Dem Gnostiker, der die Lichtpartikel in sich aufhäufen möchte, um auf diese Weise zu eigenem Nutzen am Erlösungswerk mitzuarbeiten, wird in diesen Worten alle Hoffnung auf ein Verfügen über das Licht entzogen.

III Den ereignisgeschichtlichen Hintergrund iranischen Einflusses auf etliche Klane der Quraišiten, der sich bis weit in die Omaijadenzeit nachweisen läßt, können wir hier auch in Ansätzen nicht erörtern. Wir wollen vielmehr nun zu Sure 53 zurückkehren und sie auf der Grundlage der gewonnenen Einsichten weiter analysieren. Der höchste Herr hat sich Mohammed gezeigt. Ist er der gnostische ferne Gott, in dessen Seinsbereich man durch Selbstläuterung gelangen kann – weshalb die Ausweitung der heidnischen Ansätze ritueller Reinheit zu einem entsprechenden Handeln geboten wäre –, oder kündigt sich in Sure 53 jener Allah an, dessen Schöpfung niemand „austauschen“ kann? Betrachten wir die Verse 36 bis 41! „Oder wurde ihm nicht gesagt, was in den Schriftstücken des Mose steht? Und Abrahams, der (alles) erfüllte? Daß dem Menschen nur zuteil wird, was er erstrebt? Und daß man das Ergebnis des Strebens sehen wird? Daß ihm dann voll entgolten wird?“ Der flüchtige Blick legt eine klare Antwort nahe – hier ist vom eigenständigen Streben des Menschen nach dem Heil die Rede. Wie wir in der nächsten Vorlesung erfahren werden, hat man diese Sätze in der Tat so ausgelegt. Wir müssen aber umsichtig zu Werke gehen. Der „Herr

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des Hundssterns“ macht, wie es kurz darauf heißt, weinen und lachen, gibt dem Menschen allen Besitz; er bildet ihn nach der Empfängnis im Mutterleib heran und ist, wie hieraus gefolgert werden soll, auch fähig, ihn zum Jüngsten Gericht zum Leben zu erwecken. Vor allem die Nennung der „Schriftstücke Moses und Abrahams“ legt eine ganz andere als die gnostische Deutung des Verständnisses Allahs nahe. Diese Schriftstücke sind ja keineswegs irgendwelche Register, in denen über die Handlungen der Menschen Buch geführt wird. Diese Vorstellung kennt der Koran auch, und zwar in den sehr frühen Suren 69 und 80: Das Urteil am Jüngsten Tag fällt nach dem Inhalt des an diesen Stellen kitƗb genannten schriftlichen Verzeichnisses der Handlungen im Diesseits aus; diese Verse stehen demnach im Einklang mit der Selbsterlösung, zum mindesten aber mit dem Gedanken, daß das Urteil Allahs je nach dem Stand an Activa und Passiva ergehen wird, die der einzelne Mensch in seinem Erdendasein aufgehäuft hat. Die Schriftstücke in Sure 53 heißen jedoch suhuf, ein Wort, das die Idee eines umfangreichen Dokuments oder Codex’ Liste evoziert. Die „Schriftstücke des Mose“ meinen das Diktat, das im Buch der Jubiläen ihm ein Engel übermittelt; dieses Diktat erzählt die ganze Heilsgeschichte seit dem „Beginn der Schöpfung“. Abraham, der, wie es in Sure 53, Vers 37 heißt, alles ihm Auferlegte erfüllte, ist demgemäß der Abraham des Buches der Jubiläen, wo man liest: „Und er trennte sich von seinem Vater, damit er nicht die Götzen anbeten mußte. Und er fing an, anzubeten den Schöpfer aller Dinge, daß er ihn errette aus dem Irrtum der Menschenkinder...“ Kurze Zeit nach der Entstehung von Sure 53 wird Mohammed in Sure 19 und Sure 26 den Streit Abrahams mit seinem Vater um die Nichtigkeit des Götzendienstes schildern; in Sure 37, etwa aus der gleichen Zeit, treibt der jugendliche Abraham seinen Spott mit den Idolen, denen seine Eltern und das ganze Volk Verehrung zollen. Die Erwähnung der „Schriftstücke“ Moses und Abrahams deutet demnach auf das Eindringen einer ganz anderen Thematik als derjenigen der selbstverantwortlichen Heilssuche in die mohammedschen Offenbarungen hin: Der höchste Herr bestimmt das Geschick des von ihm geschaffenen Diesseits, und zwar vollkommen und, wie im Buch der Jubiläen angedeutet, über den ganzen Zeitraum der Geschichte hinweg. Er ist der Herr, der lachen und weinen macht, dem man den Reichtum verdankt, auf dessen souveränes Entscheiden das Schicksal der ‘Ɩd und der Tamnjd zurückzuführen ist, die Sintflut desgleichen und die Vernichtung von Sodom, der dem Untergang geweihten Stadt (Vers 54). „Welche der Wohltaten deines Herrn willst du denn bestreiten?“ muß sich Mohammed im nächsten Vers fragen lassen.

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Indem diese Gottesidee – Allah als der souveräne Schöpfer und Lenker des Diesseits – Macht über den Propheten gewinnt, schließt sich gleichsam die Tür zu allen theologischen Konzeptionen, in denen dem Kosmos – und mit ihm dem Menschen – ein gewisses Maß an Autonomie, eigener Seinsmächtigkeit, persönlicher Heilsverantwortlichkeit zugestanden wird. In seiner Tragweite werden wir diesen Sachverhalt in den nächsten beiden Vorlesungen erkunden, wobei wir den engen zeitlichen Rahmen, die Jahre der Prophetenschaft Mohammeds, überschreiten werden. Als der allein alles Schaffende und alles Lenkende kann Allah nicht mehr der höchste Herr sein; er ist jetzt unbedingt der Einzige, und in der Tat wird er von Mohammed nicht mehr als der höchste Herr bezeichnet. Und auch die Wendung „der Herr des Hundssterns“ kann nun nicht mehr das gleiche meinen wie zuvor. Eine situationsbedingte Monolatrie verbietet sich ganz und gar. Eine Episode, die man schon im 8. Jahrhundert am liebsten aus der Vita Mohammeds getilgt hätte, nämlich die Affäre um die sogenannten „satanischen Verse“, verdeutlicht am klarsten die nach der überlieferten Chronologie im fünften Jahr nach der Berufung abgeschlossene folgenreiche Wandlung in Mohammeds Gottesauffassung. Die von Mohammed eingeführten Riten enthielten ein Element, das seinen mekkanischen Kritikern gänzlich fremd war und ihren Ärger oder Spott herausforderte: die Prosternation oder vielleicht besser, die Proskynesis, über deren Sinn gleich einiges gesagt werden soll. Einige der Anhänger Mohammeds entschlossen sich in jenem fünften Jahr, nach Äthiopien auszuwandern, wo sie ihrem Kult ohne Störung nachgehen konnten. Bald darauf erreichte sie aber die Nachricht, Mohammeds Gegner hätten nun ebenfalls während des Vortrags des Korans die Proskynesis vollzogen. Die Asylanten begaben sich auf den Heimweg, erfuhren dann jedoch die näheren Umstände, unter denen es zu diesem Zugeständnis der Mekkaner gekommen war: Die drei Töchter Allahs seien hoch in den Himmel hinauffliegenden Vögeln vergleichbar, deren Fürsprache man erhoffen dürfe, hatte Mohammed eingeräumt und seinen mekkanischen Feinden dadurch ein Festhalten an ihren monolatrischen Vorstellungen ermöglicht. Doch kurz darauf zog Mohammed dieses Zugeständnis zurück, die Spannungen mit den heidnischen Mekkanern verschärften sich wieder, mehr Anhänger des neuen Glaubens als zuvor zogen nach Äthiopien. Der umstrittene Satz hatte freilich die in Sure 53 geäußerte Kritik daran, daß die Mekkaner Allah weniger Prestige zugestehen wollten als sich selber, keineswegs zurückgenommen und betonte sogar die Geschöpflichkeit von al-LƗt, al-‘UzzƗ und ManƗt. Wenn aber Allah die Geschichte, das Handeln der Menschen in ihr und zuletzt auch das Urteil über die

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Menschen am Jüngsten Tag allein nach seinem unauslotbaren Ratschluß festlegt, dann geht es keineswegs an, jenen drei eine autonome Fürsprache zuzubilligen. Mohammed zog deshalb den einen Kompromiß andeutenden Satz zurück, an seiner Stelle finden sich jetzt die Erwägungen über den rein fiktiven Charakter jener Göttinnen, zu deren Verehrung Allah keinerlei Vollmacht erteilt habe. Später, als er nach Medina gehen mußte, bereute Mohammed übrigens seine Kompromißbereitschaft ausdrücklich und lastete sie den Machinationen des Satans an (Sure 22, 52–55). Die muslimische Geschichtserinnerung übergeht diese Episode am liebsten, weil sie sich einem bestimmten dogmatischen Bild von der Funktion eines Propheten in einem von Allah gelenkten Universum verpflichtet fühlt. Für den Historiker ist jedoch gerade diese Episode ein äußerst wertvolles Zeugnis für das innere Ringen Mohammeds um eine klare Gottesvorstellung, hinter der zuletzt auch Erwägungen politischer Opportunität zurückstehen müssen. Besser vielleicht als lange Zitate aus dem Koran veranschaulicht jenes Ereignis, wie sich der von Mohammed verkündete Allah bis in die mittelmekkanische Zeit zu einer alles bestimmenden Macht entwickelt hat, der der ganze Kosmos, das Diesseits, als eine seinsmäßig durch und durch von ihm abhängige Gegebenheit gegenübergestellt ist. Die alles beherrschende Metapher für dieses Verhältnis von Gott und Kosmos ist der auf seinem Thron sitzende, von dort herab die Welt, sein ständig im Geschaffen-Werden begriffenes Werk, lenkende Allah. „Bei denen, die in Reihen stehen! Die dabei verscheuchen, dann eine Mahnung vortragen! Euer Gott ist einer! Der Herr der Himmel und der Erde und was zwischen beiden liegt, der Ostgegenden (und der Westgegenden)!“ Sure 37 beginnt mit diesen Worten; sie gehört bereits in die mittleren mekkanischen Jahre Mohammeds, die Zeit etwa zwischen 614 und 619. Daß Allah einer sei, ist hier klar ausgesprochen, aber nicht nur das. Wir finden in diesen Sätzen deutliche Hinweise auf das Gottesbild, das Mohammed vor Augen steht. Eine Analyse der einleitenden Schwurformeln wird uns die Augen öffnen. Die altarabische Literatur kennt zahlreiche Beispiele für derartige Formeln. Der Eid ist in jener Kultur der kräftigste Beweis für eine Behauptung, und so war es üblich, daß die Wahrsager ihre Sprüche mit solchen Formeln einleiteten. Sehr oft wurden Wahrsager von zwei in einen Ehrenstreit verwickelten Personen oder Parteiungen aufgesucht, damit sie entschieden, wem der höhere Rang zukomme. Man durfte allerdings nicht mit der Tür ins Haus fallen; zuerst mußte man prüfen, ob der Seher in guter Verfassung war. Auf dem Weg zu ihm las man irgendeinen nicht alltäglichen Gegenstand auf und verbarg

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ihn. Ehe der Seher mit der eigentlichen Frage konfrontiert wurde, mußte er raten, wo was versteckt sei. „Ich schwöre beim Licht und beim Mond! Bei der Klarheit und der ewigen Zeit! Bei den Winden und den Gestalten! Ihr habt mir den Kadaver eines Geiers versteckt, in einem Tuch aus Haar, bei einem Burschen von den Bannj Nasr!“ So äußerte sich ein Wahrsager in einem Zwist unter quraišitischen Sippen, und weitere Eide stellte er seiner Entscheidung voran. Mit ähnlichen Schwüren leitete Mohammed manche seiner ältesten Offenbarungen ein – eben um ihre Wahrheit zu bekräftigen. Wie auch bei den Schwüren der Wahrsager belegt, handelte es sich bei den von Mohammed angerufenen Wesenheiten bisweilen um die Überbringer der danach verkündeten Botschaft: „Bei denen, die losgelassen sind, mit fliegender Mähne! Bei denen, die wie ein Sturm daherbrausen! Bei denen, die ausgreifende Schritte tun, etwas deutlich machen, eine Mahnung verkünden!“ (Sure 77). Eine Mahnung, als solche versteht Mohammed seine Botschaft in den frühen Suren, eine Mahnung übermitteln in Sure 37 auch die, die in Reihen stehen und verscheuchen. In Fällen wie den eben zitierten denkt die alte islamische Kommentarliteratur an Pferde; Pferde als Boten des Jenseits sind in der Religionsgeschichte eine geläufige Erscheinung; aber auf Sure 37 kann man diese Erklärung offensichtlich nicht anwenden. Ein Blick in die hochreligiöse altarabische Dichtung, die zu Mohammeds Lebzeiten einige herausragende Vertreter aufweist, hilft uns weiter. Umaija b. abƯ s-Salt, der bekannteste von ihnen, setzte den Erzählstoff vor allem des Alten Testaments in arabische Verse, von denen uns viele überliefert sind. Zur Ausleuchtung des Hintergrundes der entsprechenden koranischen Textpartien hat man Umaija in der Forschung möglichst nicht herangezogen. Befangen in der Vorstellung, der Koran müsse das Primäre sein, die unter Umaijas Namen überlieferten Verse mithin in einem nicht abschätzbaren Maß apokryph, schlichte Versuche also, die koranischen Erzählungen in das den Arabern geläufige Genre der Poesie zu übertragen, hat man sie zwar ediert, nicht aber in eine Analyse des frühen Islams einbezogen. Da für die Richtigkeit dieser Hypothese nichts außer einer petitio principii im Sinne unseres eingangs beschriebenen Islamkitsches spricht, werfen wir sie über Bord, schauen uns bei Umaija um – und werden sogleich fündig. In einem in unterschiedlichen Quellen bezeugten Gedicht beschreibt er den Kosmos, der nach frühislamischer Vorstellung aus sieben untereinandergeschichteten „Erden“ und sieben übereinandergetürmten Himmeln besteht, deren unteren der Mensch erblickt. Dieser Himmel gleicht, so Umaija, einem windstillen Meer; am Rande sind Engel postiert, die vom zweiten Himmel beschattet werden: Allah selber west im siebten auf einem Thron, der wie ein mit Edelsteinen verzierter Tragsessel aussieht

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und von vier Cherubim gehalten wird, die die Gestalt eines Mannes, eines Stieres, eines Adlers und eines Löwen haben. Viele Engel verharren vor Allah in Anbetung, viele andere durchfliegen mit seinen Anweisungen die sieben Himmel. Wir sind damit unversehens bei den Anfangsversen von Sure 37 gelandet. Die Wächterengel, die den ersten Himmel umstehen, verscheuchen die Satane, die heimlich lauschen, was im höchsten Rat verhandelt wird, und das, was sie aufschnappen, den Wahrsagern einflüstern, die auf diese Weise ihre betrügerischen Geschäfte bestreiten. Damit ist es vorüber, seit Mohammed von Allah zum Sprecher auserwählt wurde. „Wir“, so heißt es in Sure 37 weiter, „schmückten den untersten Himmel mit dem Zierat der Sterne, und dies zum Schutz vor jedem aufsässigen Satan. Sie lauschen nicht mehr der höchsten Ratsversammlung, man wirft nach ihnen von überall her, um sie zu verjagen. Und es steht ihnen eine ewige Strafe bevor! Nur manch einer erhascht etwas, und sogleich folgt ihm eine lodernde Sternschnuppe!“ (Vers 6–10). Allah, der eine Gott, regiert von seinem Thron herab sein Schöpfungswerk, mit seinen Befehlen durchqueren zahllose Engel den Raum. Die Satane, die den Wahrsagern erlauschte Worte zutragen, sind keine berufenen Sprecher des Einen auf dieser Erde. Der eine Allah hat nur einen befugten Sprecher, und das ist selbstverständlich Mohammed. Nicht nur eine Mahnung überbringen die, die wie ein Sturm dahinbrausen, oder auch die, die in Reihen stehen. In den Schwüren von Sure 79 sind es wieder Pferde, „die rasch dahinschweben“, „im Rennen gewinnen“, und die einen Botendienst leisten. Was sie austeilen (Vers 5), ist die göttliche Fügung, arabisch al-amr. Dieser Begriff ist im Koran der allgemeinste, der das ununterbrochene Handeln Allahs in und mit seiner Schöpfung zum Ausdruck bringt, und steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem göttlichen Schaffen, ist mit ihm aber nicht deckungsgleich. Betrachten wir, um weiteren Aufschluß zu gewinnen, einen Abschnitt aus der spätmekkanischen Sure 7. „Euer Herr ist Allah“, lesen wir in Vers 54, „der die Himmel und die Erde in sechs Tagen geschaffen und sich danach auf seinen Thron gesetzt hat. Er macht, daß die Nacht den Tag bedeckt, wobei sie ihn eilends zu erreichen sucht. Und die Sonne, den Mond und die Sterne hat er durch seine Fügung (den Menschen) dienstbar geschaffen. Wirklich, sein sind die Schöpfung und die Fügung. Voll Segen ist Allah, der Herr aller Menschen.“ Alles, was Allah unentwegt herstellt, empfängt eine Zweckbestimmung durch die Fügung, die er ihm zuweist. Folgen wir Sure 7 noch um weitere vier Verse: „Ruft euren Herrn in Demut und Furcht an! Er liebt nicht die, die den Anstand verletzen. Stiftet kein Unheil im Land, nachdem es in Ordnung gebracht worden ist, und ruft ihn als den, den ihr fürchtet und nach dem ihr verlangt! Die Barmherzigkeit Allahs ist

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denen nahe, die Gutes tun. Er ist es, der den Wind als Freudenbotschaft vor seiner Barmherzigkeit aussendet. Wenn er dann schwere Wolken hochhebt, führen wir diese an einen leblosen Ort. Dort lassen wir das Wasser hinabregnen und bringen dadurch Früchte aller Art hervor. So werden wir dereinst auch die Toten hervorbringen. Vielleicht laßt ihr euch mahnen. Und die Pflanzen des guten Ortes treiben mit Erlaubnis des Herrn hervor; am schlechten Ort jedoch gedeihen sie nur spärlich. So wandeln wir die Wunderzeichen ab für Leute, die dankbar sind“ (Vers 55–58). Die Fügung stiftet zwischen allen von Allah geschaffenen Erscheinungen und Wesenheiten einen dem Menschen einleuchtenden Zusammenhang, sie erst macht aus allem einen Kosmos, der im Koran fast immer in ganz naiver Weise als dem Menschen zu Nutz und Frommen beschrieben wird. Aber nicht nur das! Sie stiftet auch einen Zusammenhang zwischen dem, was jetzt ist, und dem, was am Ende des Diesseits kommt, und sie zeigt dem aufmerksamen Beobachter, daß nicht er selber es ist, der irgend eine Handlung begeht und durch sie ein angestrebtes Ergebnis erzielt. In diesen beiden aus dem Konzept der Fügung Allahs hergeleiteten Konsequenzen unterscheidet sich die von Mohammed skizzierte Welt diametral von derjenigen seiner meisten arabischen Zeitgenossen. Diese nämlich, so heißt es in zahlreichen polemischen Passagen des Korans, rechnen sich die Ergebnisse ihrer Handlungen selber zu und leugnen die Auferstehung und das Gericht. Daß sie nach ihrem Tode noch einmal für ihren irdischen Lebenswandel Rede und Antwort stehen sollen, betrachten sie als eine Zumutung. Die Fügung, die Allah austeilen läßt, macht demnach nicht nur aus dem Raum und den Dingen der Schöpfung einen durch und durch von ihm bestimmten Kosmos, sondern auch aus der Zeit, die von der Gestaltung der Welt aus dem Nichts bis zu deren Vernichtung einen linearen Verlauf nimmt. Die Fügung ist, indem sie letzteres leistet, nicht allein der einzige dem Menschen erkennbare Daseinsgrund dessen, was er um sich herum wahrnimmt, sie ist zugleich auch das Gesetz, das Allah allem, also auch ihm, gibt und das sich in unverfälschter Form in Allahs Worten, im Koran, niederschlägt bzw. niedergeschlagen hat. Dies geht beispielsweise aus der mekkanischen Sure 97 hervor, die gemeinhin auf den Vorgang der Offenbarung bezogen wird. „Wir haben ihn“ – wohl: den Koran – „in der Nacht der göttlichen Bestimmung hinabgesandt. Woher weißt du, was die Nacht der Bestimmung ist? Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. Die Engel und der Geist steigen in ihr mit Erlaubnis ihres Herrn hinab, jegliche Art von Fügung. Voll Heil ist sie bis zum Anbruch der Morgenröte.“ Was der Geist sei, machte schon Mohammeds Zuhörern

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Probleme; in Sure 17, Vers 85 klärte er sie darüber auf, daß der Geist ein Teil der Fügung Allahs sei, befähigt, so haben wir zu ergänzen, die Fügung Allahs in menschliche Worte umzuformen und Mohammed vorzutragen. Mit seiner Rede bezeugt sich Allah unmittelbar als im Kosmos gegenwärtig, was wir sonst lediglich, wie vorher erwähnt, aus den Wirkungen erschließen können – der Regen beispielsweise bringt Nahrung hervor. In der späteren Theologie wird man leidenschaftlich über den Seinsstatus dieser Rede streiten – gehört sie ganz dem göttlichen Sein zu, ist sie Teil seiner Schöpfung, oder ist sie etwas Drittes, das es eigentlich angesichts der klaren Gegenüberstellung von Allah, dem schöpferischen Sein, und dem Diesseits, dem geschaffenen Sein, gar nicht geben dürfte? Für Mohammed selber, der ja kein Theologe war, stand außer Frage, daß in den Worten des Korans, die er und seine Anhänger vortrugen, ein jenseits der gewöhnlichen Dinge und Erscheinungen des Kosmos liegendes Sein gegenwärtig war, oder besser: im Vortragen vergegenwärtigt wurde. Eben deshalb verlangte er auch von den Zuhörern der Koranrezitation die Proskynesis, was, wie erwähnt, bei den Mekkanern auf Widerwillen stieß. Im Gebetsritual und in den vereinzelten Niederwerfungen, die bei der Rezitation bestimmter Stellen des Korans empfohlen werden, ist dieses Verlangen Mohammeds gleichsam kanalisiert worden. Der Glaube an das „Verborgene“, wie er beispielsweise am Beginn von Sure 2 zur Pflicht gemacht wird, ist ebenfalls ein Ausdruck für Mohammeds Idee vom Kosmos, der letzten Endes nicht durchschaut werden kann und daher hingenommen werden muß. Diese Vorstellungen – der Kosmos als ein von Allah souverän gestalteter Prozeß, in den auch der Mensch ganz und gar einbezogen ist – sind für Mohammed so übermächtig, daß demgegenüber das Bild des Schöpfers, der „am Anfang“ die Welt aus dem Nichts ins Leben ruft, vollkommen verblaßt. Wir finden im Koran keinen Schöpfungsbericht, keine Darstellung des Sechs-Tage-Werkes, wohl aber einige ferne Anklänge an die biblische Szenerie. „Seit ihr etwa schwieriger zu schaffen oder der Himmel?“ fragt Mohammed in Sure 79 und fährt fort: „Er hat ihn gebaut, hat sein Dach oben errichtet und ihn ebenmäßig ausgedehnt, machte die Nacht des Himmels dunkel und ließ sein Sonnenlicht hervortreten. Und die Erde hat er danach hingebreitet. Wasser und Weide brachte er aus ihr hervor, und die Berge verankerte er fest, euch und eurem Vieh zum Gebrauch“ (Vers 27–33). Am Ende der Passage steht gleich wieder die Zweckbestimmung, das, was der Fügung zu danken ist. Diese ist hier nicht genannt, aber sie ist mitgedacht, so daß dem Werk Allahs der Charakter des Einmaligen, des Anfangs genommen und das Wirken in die Gegenwart

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hinein verlängert wird. Ähnliches beobachten wir an vielen Stellen im Koran, wir wollen es hier bei dem einen Beispiel bewenden lassen. Worauf es Mohammed im Zusammenhang mit der Schöpfung ankommt, erkennen wir an den insgesamt sieben Stellen im Koran, an denen er summarisch auf den Anfang zu sprechen kommt (7,54; 10,3; 11,7; 25,59; 32,4; 50,38; 57,4): „Er ist es, der die Himmel und die Erde in sechs Tagen schuf. Dann nahm er auf dem Thron Platz. Er weiß, was in die Erde eindringt und was aus ihr heraustritt, was vom Himmel herabkommt und was in ihn hinaufsteigt. Er ist mit euch, wo immer ihr seid. Allah durchschaut alles, was ihr tut“ (Sure 57,4). Der Thron, oder genauer, daß Allah auf ihm sogleich nach Beendung der Schöpfung auf ihm Platz nimmt, um sein Werk wie ein allzuständiger, allmächtiger Herrscher zu regieren, das fasziniert Mohammed, und von dieser Vorstellung aus entwirft er das Verhältnis von Gott und Welt. Allein was den Menschen betrifft, so finden wir im Koran immer wieder eine eigenartige Doppelung, die seine Ausnahmestellung im Kosmos plausibel machen soll. In Sure 53 fehlt diese Doppelung noch; Allah schafft den Menschen aus einem Samentropfen, hieß es dort – Schöpfung allein als das Bewirken des alltäglichen Vorganges der Zeugung. In den mittelmekkanischen Suren tritt ein Motiv hinzu: „Wir haben den Menschen aus einem erlesenen Stück Lehm geschaffen. Darauf machten wir ihn zu einem Samentropfen an einem festen Ruheplatz, schufen dann aus dem Tropfen einen Embryo, aus dem Embryo einen Fötus, dann aus dem Fötus Knochen, die wir mit Fleisch bekleideten. Hierauf bildeten wir ihn zu einem anderen Geschöpf um. Voller Segen ist Gott, der beste Schöpfer“ (Sure 23, 12–14). An die Erschaffung des Menschen aus Lehm knüpft Mohammed die Aussage, Allah hauche ihm etwas von seinem Geist ein. Der Geist aber ist, wie dargelegt wurde, ein Teil der von Allah ausstrahlenden Fügung. Zu ihr hat der Mensch somit eine engere Beziehung als die übrige Kreatur, ein Gedanke, der sich in der islamischen Anthropologie, wie wir in der nächsten Vorlesung hören werden, nur unter erheblichen Behinderungen Geltung verschaffen konnte gegenüber dem Menschenbild, das der bloßen Kreatürlichkeit, dem ununterbrochenen Geschaffenwerden alles Seienden und so auch des Menschen, entspricht und seinen Inbegriff im Herrschaftsthron Allahs hat. In der altarabischen hochreligiös geprägten Dichtung taucht das Motiv des Thrones selbstverständlich auf, gleich wie in der Offenbarung des Johannes, Kapitel 4, von den Symbolen der Evangelisten umgeben, und er ist bei Umaija b. abƯ s-Salt ein wesentlicher Teil der Szenerie des Weltgerichts. Solche Darstellungen der Parusie des erhöhten Herrn mögen

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Mohammed und seine arabischen Zeitgenossen in Syrien kennengelernt haben; sie waren ein vielfach belegtes Motiv der byzantinischen Kunst. Doch auch eine andere Quelle ist denkbar. Es ist die syrische Hymnenliteratur, ausgehend von Ephraim im vierten Jahrhundert, wesentlich bereichert von Romanos im 5. Jahrhundert, dessen kontakia auch auf syrisch Verbreitung fanden. Die thematischen Überschneidungen zwischen dem Koran, der für arabische Ohren damals so verführerisch neuen „Lesung“, und jenen Literaturdenkmälern sind verblüffend; manche Suren, so die 26. und die 55., ahmen sogar den Strophenbau der kontakia nach. Doch müssen wir heute dies alles auf sich beruhen lassen. Das Bild des erhöhten Christus, so dürfen wir annehmen, diente Mohammed als Anregung, als er den Weg zum Eingottglauben beschritt. Er verwandelte das Bild freilich seinen eigenen religiösen Ideen an, die, wie gezeigt, sich aus unterschiedlichen Quellen speisten – von der heidnischen situationsbedingten Monolatrie bis zu gnostischen Vorstellungen vom Erwerb der Reinheit und des Heils, übertönt aber schließlich durch das HanƯfentum, das den Menschen als in unveränderlicher Weise von Allah auf Allah hin geschaffen betrachtet, und ganz und gar durch dessen Fügung bestimmt, wie der ganze Kosmos. Wie in einem Brennpunkt ist dieses mohammedsche Verständnis von Allah und Kosmos in Sure 2, Vers 255 zusammengefaßt, der in der islamischen Frömmigkeit nicht von ungefähr immer wieder zitiert und durchdacht wird. Diese im Deutschen als Thronvers bezeichneten, in Wirklichkeit vom Fußschemel vor Allahs Thron handelnden Zeilen lehnen sich an die nicht nur in der Ostkirche verbreitete Vorstellung von der Erde als Christi Fußschemel an (nach Apg 7, 49 unter Bezug auf Jes 66, 1 f.). Sie sollen die heutige Vorlesung schließen: „Allah! Es gibt keinen Gott außer ihm! Er ist der Lebendige, Beständige. Ihn überkommt weder Schlummer noch Schlaf. Ihm gehört, was in den Himmeln und auf der Erde ist. Wer ist es, der bei ihm Fürsprache einlegen dürfte ohne seine Erlaubnis? Er weiß, was vor ihnen und was hinter ihnen ist; sie aber erfassen von seinem Wissen nur das, von dem er es will. Sein Fußschemel umfaßt die Himmel und die Erde. Beides zu bewahren, strengt ihn nicht an. Er ist der Hohe, Gewaltige!“

Die Anthropologie des Islams TILMAN NAGEL

Allah und Kosmos sind im Koran, wie wir in der vorigen Vorlesung ausführten, unmittelbar aufeinander bezogen. Allahs Fügung, arabisch al-amr genannt, geht ununterbrochen von ihm aus und gewährleistet, daß alles, was ist, nicht einen Augenblick ohne eine unmittelbare Bindung an den Ratschluß des Schöpfers bleibt. Dieser wird von Mohammed als ein souveräner Herrscher auf dem Thron verstanden. Unklar ist freilich der Seinsstatus dieser Fügung sowie auch ihrer speziellen Erscheinungsform, der göttlichen Rede, die im Koran zu Buche geschlagen ist. Mohammed hat über dieses Problem nicht reflektiert und seiner Nachwelt den schwierig zu deutenden Begriff des „Verborgenen“ (arab.: al-ƥaib) hinterlassen. An dieses Verborgene zu glauben, ist laut Sure 2, Vers 3 Pflicht; da das, was im Verborgenen wirkt, von Allah ausgehendes Seiendes ist, muß es selbstverständlich geschaffen sein, aber eben nicht von der Art, wie das Diesseits, das wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen. Der Mensch ist ein Teil des in ständigem Geschaffenwerden befindlichen Kosmos, und damit könnte es für uns sein Bewenden haben – wenn nicht immer wieder davon die Rede wäre, daß das Diesseits von Allah auf den Menschen hingeordnet wäre, gleichsam ihm zum Nutzen; und wenn nach der Einverleibung des Ideengutes des Hanifentums nicht immer wieder darauf hingewiesen würde, daß der Mensch begreifen soll, daß er zu Allah hin geschaffen ist und daß er diese Einsicht in seine ursprüngliche Wesensart (arab.: al-fitra) durch die Riten auf Dauer zu stellen hat; wenn schließlich Allah nicht die dem Menschen verständliche Rede, eine nur den Menschen angehende Erscheinungsform der Fügung, auf die Propheten hinabgesandt hätte. Der Mensch ist ein Teil des von Allah in allen Einzelheiten gelenkten Kosmos; trotzdem hat es mit ihm etwas Besonderes auf sich, dem ich in dieser Vorlesung auf die Spur kommen möchte. Indem sich uns dieses Besondere in seinen Umrissen enthüllt, werden wir besser begreifen, von welcher Art Allah und sein Kosmos sind.

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I Wenn wir von den ganz frühen Andeutungen einer Möglichkeit der Selbsterlösung des Menschen absehen, die, wie in der letzten Vorlesung erörtert, durch den hanƯfischen Begriff des Schöpfers, veranschaulicht mit dem Bild des Thronenden, völlig überlagert werden, dann entdecken wir im Koran der mittelmekkanischen Periode die ersten Indizien für eine Neubestimmung des Menschen im Kosmos. Wir sprachen von einer eigenartigen Qualität, die uns beispielsweise in Sure 23, Vers 12 bis 14 begegnete: „Wir haben den Menschen aus einem erlesenen Stück Lehm geschaffen. Darauf machten wir ihn zu einem Samentropfen an einem festen Ruheplatz“, worauf die Umgestaltung zum Embryo, zum Fötus usw. erfolgt. Der irdenen Form haucht Allah etwas von seinem Geist ein (z.B. Sure 15, 29), der – wie die Rede Allahs – eine Erscheinungsform der Fügung ist. Die Sonderstellung des Menschen innerhalb des Schöpfungsgeschehens wird im Koran stets nur angedeutet, niemals aber klar auf den Begriff gebracht. Ich werde hier zwei Stellen genauer betrachten. In der Sure 2 teilt Allah den Engeln mit, daß er auf der Erde einen ¨alƯfa einsetzen will. Das Wort ist mehrdeutig, sofern man den Sinn im Auge hat, den es im späteren religiös-politischen Diskurs annimmt. Es bezeichnet zum einen den „Nachfolger“ des Propheten in der Herrschaft über die Muslime, den „Kalifen“, oder aber den „Stellvertreter“; gemeint ist hiermit der „Stellvertreter Allahs“ in der Welt, ein Konzept, das um die Mitte des 7. Jahrhunderts in die Kalifatsideologie eindringt. Beides wird in Sure 2 noch nicht unter ¨alƯfa verstanden. Mit diesem Wort bezeichnete man damals den Sachwalter, den Mohammed mit der Leitung der rituellen Gebete in Medina betraute, wenn er Raub- oder Kriegszüge befehligte und deswegen diese Aufgabe nicht selber wahrnehmen konnte. ÑalƯfa ist im allgemeinsten, wörtlichen Sinn der beim Troß und den Nichtkombattanten „Zurückgelassene“ eines kriegführenden Stammes. Allah also will auf der Erde einen ¨alƯfa zurücklassen, worauf die Engel ihn warnen, dieser werde womöglich Unheil anrichten, während sie, völlig Allah ergeben, wie sie seien, doch unentwegt dem Gotteslob oblägen. „Ich weiß, was ihr nicht wißt!“ Mit dieser Wendung verbittet sich Allah die Warnungen. „Und (Allah) lehrte Adam alle Namen. Hierauf legte er den Engeln (alles Geschaffene) vor und forderte: ‚Tut mir deren Namen kund!‘ ... Sie erwiderten: ‚Gepriesen seist du! Wir haben kein Wissen außer dem, das du uns (eigens) mitteiltest!‘“ Auf Geheiß Allahs trägt Adam nun den Engeln die Namen aller geschaffenen Wesen vor, die Allah ihn gerade gelehrt hat (Sure 2, 31–33). Darauf befiehlt Allah den Engeln, sich vor Adam

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niederzuwerfen; sie gehorchen bis auf IblƯs – eine Verballhornung von diabolos –, der, wie es an dieser Stelle heißt, sich einem Akt der Verehrung des Menschen verweigerte (Vers 34). In Sure 15 erhalten wir näheren Aufschluß über IblƯs‘ Weigerung und deren Beweggründe. Allah erschuf den Menschen aus feuchtem Ton, die unsichtbaren Geister und Engel hingegen aus Feuer. „Sobald ich (Adam) geformt und ihm dann etwas von meinem Geist eingehaucht habe, dann fallt vor ihm nieder!“ forderte Allah, und alle Engel außer IblƯs taten, wie von ihnen verlangt worden war. Von Allah zur Rede gestellt, rechtfertigte er sich damit, daß er aus Feuer, einem edleren Material als Ton, gebildet worden sei. Allah verfluchte ihn, vertrieb ihn aus dem Paradies, räumte ihm aber die Möglichkeit ein, die Menschen zur Abwendung von Allah zu verführen, solange das Diesseits besteht. Allein über die Allah gehorsamen Diener werde IblƯs keine Macht erringen (Sure 15, 26–43). Der Mensch ist demnach Allahs ¨alƯfa, weil dieser ihm etwas von seinem Geist einhauchte – nur etwas, das sei hier schon betont! Alles Geschaffene ist in jedem Augenblick seines Seins unmittelbar zu Allah. Alles Geschaffene außer dem Menschen verhält sich dementsprechend, kann sich gar nicht anders verhalten; es ist ihm als dem Quell seines Seins unverbrüchlich zugewandt. Allein der Mensch erhielt, indem Allah ihm etwas von seinem Geist einhauchte, die Gelegenheit – und die schwere Pflicht –, sich diese Grundwahrheit seines Seins unablässig bewußt zu machen, eine um so schwerere Pflicht, als Allah IblƯs gestattete, in dieses Ringen des Menschen um die ständige Gewißheit der Geschöpflichkeit störend einzugreifen. Deshalb mahnt Mohammed im Koran ein ums andere Mal, man möge sich die Tatsache der Geschöpflichkeit ständig vor Augen halten und Allah gegenüber Dankbarkeit bekunden. Das Verweigern der Dankbarkeit gegenüber Allah – für das in jedem Augenblick von ihm bestimmte Dasein – entspricht somit dem, was wir als Unglaube bezeichnen würden. Indem Allah Adam alle Namen des Geschaffenen lehrte, schenkte er ihm die Möglichkeit dazu, sich die Geschöpflichkeit bewußt zu machen und, indem er diesen Sachverhalt zu durchschauen lernt, seiner Dankespflicht nachzukommen. Alles Geschaffene außer dem Menschen, so wird man später sagen, spendet mit seinem Dasein s p o n t a n Allah Lob – so auch die Engel, die ganz und gar von seiner Fügung geprägt sind. Einzig der Mensch ist aufgerufen, das Lob in Erwägung des göttlichen Schöpfungswerkes zu spenden, und wird deswegen, wie wir sehen werden, zum herausgehobenen Partner Allahs. Hätte Allah Adam den Geist vollständig eingehaucht, so wäre Adam ihm gleich geworden. Das war nicht der Fall, und so ist es möglich, daß Adam

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in seinem Erkennen der Geschöpflichkeit und in der Dankbarkeit hinter dem Geforderten zurückbleibt, zumal, wie erwähnt, IblƯs ihn zu verwirren vermag. Der Mensch darf sich mithin nicht darauf verlassen, daß er in seinen diesbezüglichen Bemühungen stets Erfolg haben wird. Jeder autonome Gebrauch jener Quantität eingehauchten Geistes, die man in der islamischen Theologie mit der Ratio gleichsetzt, wäre verhängnisvoll. So wird uns zwar in Sure 6 geschildert, wie Abraham aus der Tatsache, daß Sterne, Mond und Sonne untergehen, mithin einem Wechsel unterworfen sind, den Schluß zieht, daß sie nicht der eine, ewige, beständige Schöpfergott sein können und folglich keine Anbetung verdienen. Dieser „rationale“ Schluß ist aber keineswegs die Grundlage seines Eingottglaubens, den er fortan seinem Volk predigt. Entscheidend ist vielmehr, daß Allah wollte, daß Abraham zu dieser Einsicht kam: „So zeigen wir Abraham (unser) Herrschen über Himmel und Erde und damit er einer von denen sei, die Gewißheit erlangen“ (Sure 6, 75). Und wenig später führt Abraham im Streit mit seinen Leuten als wichtigstes Argument gegen die Vielgötterei an, daß Allah ihnen dazu keine Vollmacht herabgesandt habe (Vers 81). Auch die Verfehlung des IblƯs besteht ja darin, daß er autonom aus seiner Beschaffenheit den Schluß zog, Adam müsse durch ihn nicht verehrt werden, zumal die Anbetung eines geschaffenen Wesens von Allah ohnehin mit strengsten Strafen geahndet wird. Allahs Handeln und Wollen können eben auch von der Art sein, daß die Ratio des Menschen, die ja nur „etwas von seinem Geist“ umfaßt, dieses Handeln und Wollen als widerrational wahrnimmt. Die sichere, seinem Heil in keinem Fall abträgliche Haltung, die der Mensch deshalb gegenüber Allah einnehmen kann, ist der islƗm im eigentlichen Sinn, eine Beziehung zu seinem Schöpfer, die, bildlich gesprochen, von Angesicht zu Angesicht besteht und bei der im unverwandten Blicken des Menschen auf Allah, den Schöpfer, die Schöpfung nicht störend ablenkt. „Ich richte das Gesicht auf denjenigen, der die Himmel und die Erde schuf!“ sagt Abraham, sobald ihm einsichtig geworden ist, was es mit den Gestirnen auf sich hat (Sure 6, 79). Auf diese Geste, mit der der Mensch sich in die Lebenshaltung hineinfindet, die seiner ursprünglichen Geschaffenheit zu Allah hin angemessen ist, kommt Mohammed im Koran des Öfteren zu sprechen, so etwa in Sure 3, Vers 20: „Wenn (die Andersgläubigen) gegen dich argumentieren wollen, dann sprich: ‚Ich wende das Gesicht (ausschließlich) zu Allah, und auch diejenigen, die mir folgen!‘“ In der Polemik mit den Juden und Christen sowie mit den Heiden soll sich Mohammed auf Abraham berufen, und zwar auf jenen Augenblick in dessen Leben, als dieser seine Geschöpflichkeit in ihrer ganzen Bedeutung erfaßt. Die Geste des Hinwendens des Gesichts wird an dieser Stelle mit dem transitiven Verbum aslama beschrieben; es gibt das Ausliefern, Im-

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Stich-Lassen einer Sache oder einer Person wieder und ist in unserem Zusammenhang insofern angebracht, als Abraham bzw. Mohammed das Gesicht, nämlich alles Trachten und Denken ausschließlich auf Allah konzentrieren und im Idealfall die Schöpfung gar nicht mehr als etwas Beachtenswertes empfinden sollen. In Vers 19 steht in eben diesem Sinn das Verbalnomen al-islƗm: „Die (einzige) Glaubenspraxis ist nach Allahs Auffassung der islƗm. Diejenigen, die das Buch erhielten, entzweiten sich (über den rechten Glauben) erst, als das Wissen schon zu ihnen gekommen war, wobei sie sich gegeneinander auflehnten...“ Abraham war, wie man ebenfalls in Sure 3 hört, weder Jude noch Christ gewesen, sondern hatte die von Allah ursprünglich dem Menschen zugedachte Glaubenspraxis, den islƗm, begründet. Dessen Entartung haben wir in Judentum und Christentum vor uns, weshalb Mohammed sich im Streit mit deren Bekennern auf Abraham berufen soll: „Ich wende das Gesicht ausschließlich zu Allah...“ „Und frage“, so heißt es in Vers 20 weiter, „diejenigen, die das Buch erhielten, und die Gojim: ‚Wendet auch ihr?‘ und wenn sie (es) wenden, dann haben sie den richtigen Weg gefunden...“ Der islƗm, wie eben beschrieben, entspricht nicht zuletzt der über die übrige Schöpfung hinausreichenden Fähigkeit des Menschen, dem Allah „etwas von seinem Geist“ eingehaucht hat. Dieses „Etwas“ langt aus, um mit Allahs Hilfe und mit seiner Vollmacht die Geschöpflichkeit und die aus ihr folgende Dankesschuld zu erkennen. Es ist aber viel zu wenig, um Allahs Schöpfungshandeln zu durchschauen oder gar in dieses einzugreifen und die Resultate solchen Eingreifens einem eigenen Handlungsvermögen zuzuschreiben. Der islƗm ist, recht verstanden, zugleich ein Schutz gegen derartige Allah verhaßte Verirrungen. Sich Allah ganz zuzuwenden, der vollkommene islƗm mithin, findet seine Ergänzung in der Hinwendung Allahs zum muslim – dies ist das Partizip aktiv zu aslama und islƗm. Die heilvolle Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf vollendet sich in einer gegenseitigen Zugewandtheit, deren Gelingen freilich auch nicht das Werk des Geschöpfes, sondern einzig Allahs ist. Allah als Gegenüber ist, auch das sei nicht vergessen, keineswegs der Vater, als den Jesus Gott wahrnahm. Allah als Gegenüber seines Geschöpfes bleibt stets der Weltenherrscher auf dem Thron, wie wir ihn in der ersten Vorlesung erörtert haben. Vor ihm befindet sich der Mensch im Status des Knechtes, wie Mohammed dies in Sure 51, Vers 56 klar ausdrückt: „Ich habe die Dschinnen und die Menschen so geschaffen, damit sie mir dienen“, sagt Allah und fügt hinzu, daß er von den Menschen keine Opfer begehre, da umgekehrt er es sei, der allen Menschen ihren Lebensunterhalt gewähre.

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II Diese gänzliche Abhängigkeit des Menschen von Allahs Schöpfungshandeln, die wir schon in der letzten Stunde beschrieben, kann nach Mohammeds Vorstellung nur in einem einzigen klar umrissenen Zusammenhang überwunden werden, nämlich im Kampf „auf dem Pfade Allahs“, wie es im Koran an zahlreichen Stellen heißt. Wenn man zu den Waffen greift, um den Machtinteressen des muslimischen Gemeinwesens dienstbar zu sein, dann gibt man Allah ein Darlehen, das man reichlich verzinst am Ende der Geschichte zurückgezahlt bekommen wird (z.B. Sure 57, 11 und 18). Geld gegen hohe Zinsen zu verleihen, ist verboten. Es wäre ein Eingriff in den von Allah festgelegten Lebensunterhalt; anders verhält es sich allein mit dieser Art von Darlehen, das einem anderen Zweck dient: Es ist in höchstem Maße erwünscht. Denn jemand, der Allah auf diese Weise das eigene Leben, womöglich auch den ganzen Besitz als einen Kredit überschreibt, der darf sich zu den wahrhaft Gläubigen rechnen. Diese Definition von Gläubigkeit, die sich beweist, indem man sich vorbehaltlos den politischen und militärischen Zielen Mohammeds zur Verfügung stellt, findet sich zum ersten Mal in Sure 8, die kurz nach dem Sieg bei Badr im Jahre 624 entstand. Dort heißt es: „Diejenigen, die gläubig wurden, (nach Medina) auswanderten und mit ihrem Hab und Gut und ihrem Leben auf dem Pfade Allahs den Dschihad führen, und diejenigen, die (diese) beherbergen und unterstützen, die sind einander freund ... Diejenigen, die gläubig wurden, auswanderten und auf dem Pfade Allahs den Dschihad führen, sowie diejenigen, die jene beherbergen und unterstützen, das sind die wahrhaft Gläubigen ...“ (Sure 8, 72 und 74). Glaube ist demnach deutlich vom islƗm, von der rituellen Hinwendung des Gesichts bzw. der Person auf den einen Schöpfer, zu unterscheiden. Man kann Muslim sein, d.h. die Riten vollziehen, ohne daß man gläubig ist. Bereits in Sure 8 hatte Mohammed unmißverständlich dargelegt, daß es unzureichend sei, sich zu den von ihm angeordneten Riten zu bekennen, aber nicht „auszuwandern“ und sich seinem Befehl zur Verfügung zu halten. Bei Badr waren auf mekkanischer Seite etliche Muslime gefallen, die nicht den Weg nach Medina gegangen waren; laut Sure 4, Vers 97, etwa aus derselben Zeit stammend, werden die Engel diesen Muslimen am Jüngsten Tag vorhalten, daß sie die Auswanderung zu Mohammed versäumten, und dann haben sie die Höllenstrafe zu gewärtigen. Später mußte Mohammed einsehen, daß unmöglich alle, die sich seinen Riten anschlossen, auch die Hedschra vollziehen konnten. Insbesondere die Beduinen mußten mit ihrem Vieh von Weideland zu Weideland ziehen und hätten beim besten Willen nicht nach Medina kommen können, um sich in die Truppen der

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Gläubigen einzugliedern. In Sure 49 beharrt Mohammed darauf, daß sich solche Beduinen nicht als gläubig bezeichnen dürfen. Da sie nicht „mit ihrem Vermögen und ihrem Leben auf dem Pfade Allahs fechten“, sind sie allenfalls Muslime. Wahre Gläubigkeit beweist sich im aktiven Mittun in einer Kampfgemeinschaft auf dem Pfade Allahs. Diese in den medinensischen Suren allgegenwärtige Überzeugung wirkte nach Mohammeds Tod fort und fand reichliche Betätigungsgelegenheiten in den einsetzenden Eroberungszügen, deren Geschichte hier nicht nacherzählt werden kann. Die frühesten noch ganz rohen theologischen Texte des Islams spiegeln diese Situation wider. Sie legen beispielsweise Sure 53, Vers 38 nun im Sinne der Eigenverantwortlichkeit des Menschen für sein Jenseitsschicksal aus. Wie erinnerlich, war in Sure 53 von den Schriften des Abraham und des Mose die Rede, in denen der ganze Weltenlauf niedergelegt ist, so daß am Ende der Zeiten jeder sehen kann, daß es mit ihm genau so gekommen ist, wie von Gott vorgesehen: Kein Mensch brauchte die Last eines anderen zu tragen. Jeder muß sich selber unter Einsatz aller Kräfte um ein gutes Tatenkonto kümmern, so versteht man das nun und will überhaupt jegliche Entscheidung, die im Koran auf das Endgericht verschoben wird, schon hier und heute fällen, und zwar im Sinne einer radikalen Erfüllung der kämpferischen Gläubigkeit. Wenn zum Beispiel in Sure 10, Vers 93 Allah ankündigt, er werde Streitfälle, die unter den einander bekämpfenden Richtungen der Israeliten aufgekommen seien, am Jüngsten Tag entscheiden, dann darf dergleichen unter den Muslimen nicht gelten. Die Entscheidung muß jetzt sofort gefällt werden, damit überhaupt gar nicht erst Streit ausbrechen kann, und ein sofortiges Urteil ist nur denkbar, indem man den Koran zur Richtschnur erhebt, der ja unmittelbar Allahs Wort sein soll. Mithin müssen die medinensischen Verhältnisse, wie sie unter der Herrschaft des Propheten gegeben waren, in die Gegenwart hinein fortgelten, und ist dies nicht der Fall, dann müssen sie wiederhergestellt werden. Die kämpferische Gläubigkeit, in der ein Muslim „Allah ein gutes Darlehen zu geben“ vermag, aktualisiert sich durch die ganze islamische Geschichte hindurch stets in, sagen wir: „Streßsituationen“, in der eine Restaurierung der prophetischen Urgemeinde von etlichen Muslimen für wünschenswert erachtet wird. Die Propagandarhetorik der iranischen Revolution nahm unmittelbar auf diese Vorstellungen Bezug, aber auch radikale sunnitische Gruppierungen wurzeln in diesem Gedankengut, indem sie den bestehenden Staat für ungläubig erklären und von ihren Gefolgsleuten eine Wiederholung der Hedschra fordern.

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Ausgehend von diesen Ideen hat man seit dem frühen 8. Jahrhundert versucht, die Handlungsfreiheit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen unabhängig von solchen Streßsituationen als ein islamisches Dogma zu etablieren. Löst man freilich die Forderung nach selbstbestimmter Mehrung des Jenseitsverdienstes vom „Kampf auf dem Pfade Allahs“ ab, um sie zu verallgemeinern, gerät man allzu rasch mit dem islƗm im Sinne der geschöpflichen Hingewandtheit zu Allah in Konflikt, die ja stets als das löbliche Gegenteil einer als frevelhaft empfundenen Freude an der eigenen Leistung empfohlen wurde. Der islƗm mußte in diesem Zusammenhang als das Vertrauen darauf gedeutet werden, daß Allahs Schöpfungshandeln prinzipiell das Beste, Tauglichste (arab.: al-aslah) bewirke, und der Mensch könne dies dank seinem Verstand auch erkennen; unter Zugrundelegung der in ihrem Sinn ebenfalls rational erfaßbaren göttlichen Bestimmungen könne der Mensch im klug berechneten irdischen Handeln Jenseitsverdienst aufhäufen. Diese Theologie, deren Verfechter unter dem Namen Mu‘taziliten bekannt wurden, blieb die Sache einer Minderheit, und dies vor allem aus zwei Gründen: 1. Der Inhalt des Begriffs des Tauglichsten ließ sich nicht näher bestimmen, und wenn Allah sein Schöpfungshandeln an ihm orientierte, wieso scheiterten dann so viele Menschen trotz all ihrer ernsthaften Anstrengungen, und wieso fiel anderen alles in den Schoß? Im übrigen konnte die Rationalität der rituellen Handlungen nur unter abschreckenden Haarspaltereien verfochten werden. 2. Damit wurde die Würde des islƗms, der Hingewandtheit zum Schöpfer, in Frage gestellt und letzten Endes auch die Würde Allahs, der vom unausrechenbaren Souverän zu einem berechenbaren Sachwalter menschlicher Heilsinteressen degradiert wurde. Der Mensch aber hat nur „etwas von dessen Geist“ eingehaucht bekommen, und was hiermit gesagt sein sollte, habe ich erörtert. So ist es kein Wunder, daß, noch während man sich über die Eigenverantwortlichkeit des Menschen die Köpfe heiß redete, eine vom islƗm her argumentierende Strömung Profil gewann und schon im Laufe des 3./9. Jahrhunderts auch unter den Gebildeten dem mu‘tazilitischen Rationalismus den Rang ablief, freilich nicht ohne bei ihm reiche geistige Anleihen aufzunehmen.

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III Die Mu‘taziliten hatten den Kosmos, also auch den Menschen, aus Substanzpartikeln und diesen inhärierenden Akzidentien bestehen lassen; letzteren rechneten sie auch das Erkenntnis- und das Handlungsvermögen nebst den Kräften des Willens zu. Diese, sagen wir: „geistigen“ Akzidentien machten aus der Anhäufung von Materiepartikeln, aus denen jeder Mensch bestand, einen erkennenden, wollenden, handelnden Organismus, der wiederum ein Teil des von Allah nach dem Prinzip des „Tauglichsten“ geschaffen werdenden Kosmos war, aufgerufen durch Allahs Wort, sich in diesem Kosmos durch eigenverantwortliche Einhaltung der Gesetze zu bewähren und das Anrecht auf ein glückhaftes Jenseits zu erwerben. Der Koran, die Gesetzesrede Allahs, Teil seiner Fügung, wurde zu einer Verkündigung in einer ganz bestimmten geschichtlichen Situation entsakralisiert, die letzte Verkündigung ihrer Art gewiß, aber eben darum ein von Allah der Menschheit übermittelter Fingerzeig, wie sie unter Nutzung des Verstandes fortan das Leben gestalten müsse, um beim Endgericht zu bestehen. Wir hörten in der vergangenen Vorlesung, daß Mohammed die Proskynesis beim Koranvortrag verlangte, weil in der koranischen Rede Allahs Fügung gegenwärtig ist, mithin ein Sein, das von anderer Art ist als das diesseitige durch unsere fünf Sinne erfaßte. Diese numinose Qualität der Gottesrede, der Eckstein der im rituellen Gebet immer aufs neue vollzogenen Hinwendung zu Allah, des islƗms im eigentlichen Sinne, wurde durch diese Entsakralisierung und Historisierung der Rede Allahs geschleift; desgleichen wurde die Autorität Mohammeds als des Quells des von Allah selber sanktionierten islamischen Handelns und Verhaltens untergraben: Wie man die Riten praktizierte, wie man einen Pachtvertrag abschloß, wie man den Dschihad führte, war zumindest ein erhebliches Stück weit der Verantwortlichkeit des Menschen anheimgegeben. Die Sunna des Propheten, schon damals für die Mehrheit der Muslime das übergeschichtliche und daher unter Absehung von den sich wandelnden Gegebenheiten der Menschheitsgeschichte stets zu imitierende Vorbild eines schariagemäßen Lebensvollzugs, war in den Augen des muslimischen Rationalisten des 9. und 10. Jahrhunderts nichts weiter als eine unter spezifischen historischen Umständen verwirklichte Art, sich nach Maßgabe des Gesetzes Allahs in seiner „tauglichen“ Schöpfung zu bewähren. Die unter dem Namen „Sunnitentum“ sich in der Auseinandersetzung mit dem Rationalismus formierenden Hauptrichtung des Islams, deren Grundsätze sich mutatis mutandis auch bei den meisten schiitischen Denominati-

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onen wiederfinden, stellte den alles gestaltenden Allah, den Schöpfer und Lenker des Diesseits, in den Mittelpunkt ihres Denkens und hob den numinosen Charakter seiner Rede hervor. Der Eckstein des islƗms wurde, um im Bild zu bleiben, restauriert und in einen schützenden theologischen Rahmen gefaßt. Erkauft wurde das so unentbehrliche Dogma von der Übergeschichtlichkeit der Rede Allahs und damit verbunden von der übergeschichtlichen Gültigkeit der „Sunna“ als der von Allah selber ins Werk gesetzten auf die Glaubenspraxis zielenden Auslegung seiner Gesetzesrede durch die radikale Entmächtigung des Geschaffenen, in Sonderheit des Menschen. Allah verpflichtet die Muslime zum rituellen Gebet; dies sagt er mit eigenen Worten im Koran; wie jedes der Pflichtgebete im einzelnen zu vollziehen ist, erfährt der Muslim aus den in der Sunna überlieferten Aussagen über Mohammeds Art zu beten. Diese ist genau zu imitieren, unabhängig von den sich wandelnden Umständen; sie ist ein für allemal den Erwägungen des Verstandes entzogen. Auf den Ebenen der Physik und Metaphysik erzwingt das Sunnitentum gegenüber dem islamischen Rationalismus eine radikale Vereinfachung. Der Mensch bleibt eine Anhäufung von Substanzpartikeln; aber diese sind nicht mehr in einer aus den diesseitigen Verhältnissen heraus begründbaren Weise aufeinander bezogen – der Mensch ist kein Organismus mehr. Das Wollen des Menschen hatte nach rationalistischer Deutung die Substanzpartikeln eines Menschen insgesamt affiziert, wäre also nicht in einer einzelnen Partikel oder einigen wenigen zu isolieren gewesen. Genau letzteres soll nun aber der Fall sein, zumal jede Substanzpartikel nur noch je ein Akzidens anzunehmen vermag. Ist ihr Akzidens etwa das Rot des Blutes, dann niemals zugleich auch eines des Erkennens oder Handelns. Daß eine Partikelanhäufung „Mensch“ überhaupt erkennt oder handelt, ist aus ihr selber nicht zu begreifen, sondern einzig und allein aus der Tatsache, daß Allah im Augenblick des Geschehens der Handlung bestimmten Partikeln die Fähigkeit zu eben dieser Handlung verleiht. Daß Allah alles in seiner Schöpfung bestimme, und zwar in jedem Augenblick ihres Bestehens, dieser von Mohammed im Koran immer wieder geäußerte Gedanke wird in der sunnitischen Metaphysik des 10. und 11. Jahrhunderts auf die absurde Spitze getrieben. Dem allein Seinsmacht besitzenden Allah steht eine in Substanzpartikeln aufgelöste seinsohnmächtige Schöpfung gegenüber; diese Substanzpartikeln versieht er von Augenblick zu Augenblick mit je einem Akzidens, und dies nach seinem undurchschaubaren Ratschluß. Allahs Rede als Teil seines Bestimmens bleibt auch in dieser Metaphysik ohne einen herausgehobenen Seinsstatus, aber sie ist unauslotbar wie alles, was das Diesseits ausmacht, und für den

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frommen Beter, der sich um die physischen und metaphysischen Spekulationen nicht kümmert, ist das die Hauptsache. Wer jedoch mit diesen Spekulationen konfrontiert wurde, und das waren zahllose sunnitische Gelehrte jener Jahrhunderte, konnte an ihnen irre werden. Denn wozu dient das Gesetz, wenn die Geschöpfe gar nicht die Möglichkeit haben, es aus sich heraus zu befolgen? Es ist ein Hinweis darauf, wie nah oder fern ein jeder Mensch im Augenblick einer jeden an ihm geschehenden Handlung dem Heil ist, so die Erklärung eines Gelehrten des 11. Jahrhunderts. Denn ob ein Mensch das Heil erlangen wird, unterliegt natürlich Allahs Bestimmen. Und wozu dient der dem Menschen verliehene Verstand? Allein dazu, so antwortet derselbe Gelehrte, daß der Mensch die eigene Seinsohnmacht erkenne; daß er erkenne, daß er sich des Verstandes eben nicht zu etwas anderem bedienen dürfe als zu dem, wozu Allah ihn bevollmächtigt, um auf die Ausdrucksweise des Korans zurückzugreifen.

IV Das 11. Jahrhundert ist für den sunnitischen Islam die Zeit einer tiefen krisenhaften Unsicherheit, in ihrer Tragweite derjenigen vergleichbar, die ihn im 19. Jahrhundert überkam und deren Zeugen wir immer noch sind. Der Islam versteht sich als eine Glaubenspraxis, in der der Mensch das abrahamische Innewerden der Hingeschaffenheit zu Allah, der fitra, in sich festhält, um seinen ganzen Daseinsvollzug daran auszurichten. Das Wissen vom islƗm und von dessen lebenspraktischen Konsequenzen, auf Allah zurückgehend und im Koran und in der Sunna verbürgt, soll den Muslim so beherrschen, daß es sich unentwegt in seinem Handeln manifestiert, zuerst in den Riten, die den Kern des Handelns des Geschöpfes bilden, dann von diesen ausgehend auch in allem Übrigen, was das Leben des Menschen ausmacht. Das von Allah stammende Wissen und das ebenfalls von ihm bestimmte Handeln bilden im Idealfall eine Einheit. Nahm man die sunnitische Physik und Metaphysik ernst, dann war eben diese Einheit, das Kennzeichen der Heilsbestimmtheit, nicht mehr erfahrbar. Diese erschütternde Einsicht stieß den wirkmächtigsten sunnitischen Theologen des 11. und frühen 12. Jahrhunderts, al-ƤazƗlƯ (gest. 1111), auf einen leidvollen Weg aus der Krise, an dessen Ende er das bis auf den heutigen Tag immer wieder studierte Werk „Die Belebung der Wissens(-arten) vom praktischen Glauben“ niederschrieb, das schnell in der ganzen islamischen Welt verbreitet wurde. Es erschloß dem sunnitischen Islam neue Möglichkeiten der Selbstauslegung, Möglichkeiten, die ihm bis ins 19. Jahrhundert hinein zur Verfügung blieben und erst durch den bisweilen

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kruden Literalismus des sogenannten Reformislams verschüttet wurden. Al-ƤazƗlƯ erkannte, daß weder die sunnitische Gelehrsamkeit die Einheit von Wissen und Handeln verbürge, denn das gelehrte Wort und die Lebenswirklichkeit klafften allzu oft auseinander; noch das Schiitentum, das die Unterwerfung unter die Anweisungen der Imame forderte, noch auch die Philosophie. Was als Dogma verkündet werde, werde von denen, die es verkündeten, nicht befolgt, klagte er. Allein im Sufismus kämen Wissen und Handeln zu der in der islamischen Heilsbotschaft verheißenen Deckung. Was er mit dieser in seiner Bekenntnisschrift „Der Erretter aus dem Irrtum“ aufgestellten These meinte, wollte er seinen Glaubensgenossen in der monumentalen „Belebung“ darlegen, deren 35. Buch wir uns jetzt widmen. Es ist dem Bekenntnis der „Einsheit (arab.: at-tauhƯd) Allahs“ gewidmet, und wir werden sehen, daß „Einsheit“ im Sinne des koranischen islƗm auch bei al-ƤazƗlƯ gerade nicht in einer Gottes l e h r e aufgeht. Doch zuvor einige Worte zum Sufismus, auf den al-ƤazƗlƯ sich ja beruft. Auch hier gilt es zunächst, ein im Westen allgemein verbreitetes Mißverständnis zu beheben, das den Sufismus als eine dem göttlichen Gesetz fernstehende, es womöglich mißachtende Individualfrömmigkeit ausgibt – woraus dann desweiteren ein Gegensatz zwischen einem strengen, unduldsamen Gesetzesislam und einem duldsamen mystischen Islam konstruiert wird, der sich im gottestrunkenen Besingen von Rose und Nachtigall ergeht. Wir lassen uns, wenn wir dies für wahr halten, wiederum von einer Facette des schon in der vorigen Vorlesung genannten Islamkitsches beeindrucken. Um zu verstehen was es mit dem Sufismus auf sich hat, zitiere ich Sure 29, Vers 45: „Trage vor, was dir an Schrift eingegeben wurde, und verrichte das rituelle Gebet. Das Gebet verwehrt einem, abscheuliche und verwerfliche Handlungen zu begehen. Allahs zu gedenken ist allerdings noch bedeutungsvoller.“ Die Riten, hier sind nur die Pflichtgebete genannt – stellen den Menschen vor Allah von Angesicht zu Angesicht. Ganz zu ihm hingewandt, wird der Mensch in den Zeitspannen des Ritenvollzugs nicht in frevelhafter Weise in Allahs Bestimmen einzugreifen versuchen, um sich einen ihm nicht zugedachten Vorteil zu verschaffen. In den übrigen Zeiten des Daseins fehlt ein vergleichbarer Schutz vor Übeltaten; er kann aber hergestellt werden, indem der Mensch bei allem profanen Tun unablässig Allahs gedenkt. Damit haben wir den Kerngedanken des Sufismus freigelegt: Die Ritualpflichten sind sorgfältig zu befolgen; im profanen Alltag ist nicht nur die Scharia zu beachten, alles Handeln muß im Gedenken Allahs geschehen. Der Sufismus strebt die Stabilisierung der Hingewandtheit zum Schöpfer, der fitra, über das für einen Muslim obligatorische Mindestmaß hinaus an. Dies geschieht auf vielfältige Weise: Man kann die Pflichtriten

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durch zusätzliche ritualisierte Handlungen der Gottesverehrung ergänzen oder die Pflichtriten unter erschwerenden Begleitumständen der Askese und Selbstkasteiung vollziehen und diese Begleitumstände möglichst weit in die profanen Zeitabschnitte hinein beibehalten; man kann sich der Sorge um den eigenen Lebensunterhalt so weit wie irgend erträglich entschlagen und im Vertrauen auf Allah, der jedem Menschen den Lebensunterhalt im voraus bestimmt hat, mit Gottesgedenken in den Tag hineinleben; man kann schließlich das Gottesgedenken dergestalt in Regeln fassen, daß es, vor allem wenn es in der Gemeinschaft Gleichgesinnter geübt wird, zu Zuständen der Ekstase führt, in denen die Welt nicht mehr wahrgenommen wird und das Ich des Gedenkenden in dem aufgeht, dessen es gedenkt. Der islƗm, die Hinwendung zum einen Schöpfer und Lenker, ist in den kurzen Augenblicken, in denen dies gelingt, vollkommen geworden, das Wissen und das Handeln sind zu deckungsgleicher Übereinstimmung gebracht. Diese sufische Vorstellung greift al-ƤazƗlƯ auf und legt sie seinen Erwägungen über das Bekenntnis zur Einsheit Allahs zugrunde, das, wie nochmals deutlich wird, kein dogmatisches, sondern ein existentielles sein soll. Al-ƤazƗlƯ übernimmt das sufische Lebensideal, in der sufischen Terminologie als tawakkul, „bedingungsloses Vertrauen auf Allah“, freilich nicht kritiklos. Im Gegenteil, er tadelt scharf bestimmte Erscheinungsformen dieses tawakkul, so etwa, daß man sich ohne Proviant und Geld auf eine Reise begibt und abwartet, daß Allah einem Unterhalt verschaffe. Man könnte das Vertrauen auf Allahs Zusage, er ernähre seine Geschöpfe, auch so weit treiben, daß man bewegungslos verharre und warte, daß einem die Speise in den Mund gelange. Gegen derartige Vorstellungen verwahrt sich al-ƤazƗlƯ entschieden. „Bedingungsloses Vertrauen“ dürfe nicht als Untätigkeit mißverstanden werden. – Nach der zuvor skizzierten sunnitischen Theologie seiner Zeit wäre eine solche Interpretation des tawakkul naheliegend; denn eine in der Schöpfung angelegte Fähigkeit zu zielgerichtetem Handeln gibt es ja gar nicht. – Indem al-ƤazƗlƯ den, wie er meint, mißverstandenen tawakkul mancher Sufis verwirft, setzt er sich unwillkürlich von den Prämissen jener Theologie ab, die annimmt, Allahs ununterbrochenes Schöpfungshandeln sei für den Menschen unauslotbar. Nicht ausdrücklich distanziert sich al-ƤazƗlƯ von jenen Lehren, mit denen er selber ja groß geworden war; er beachtet sie einfach nicht und wagt einen Neubeginn. Wir folgen seinem Gedankengang in thesenhafter Verkürzung: Das richtig verstandene Bekenntnis der Einsheit Gottes ist die Grundlage des „unbedingten Gottvertrauens“, in dem Wissen und Handeln zur Übereinstimmung kommen. Die unterste Stufe des Bekenntnisses ist das Aussprechen des „es gibt keinen Gott außer Allah“, wobei das Herz diesen Satz noch nicht für wahr erkennt. Dies geschieht erst auf der zweiten Stufe,

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womit bereits die Glaubensart der Mehrzahl der Muslime umschrieben ist. Auf der dritten Stufe wird einem die Einsicht zuteil, daß es nur einen einzigen Handelnden gibt, nämlich Allah, eine Wahrheit, die nicht mehr über autoritative Texte wie Koran oder hadƯŠ vermittelt werden kann, sondern geschaut werden muß. Wer sich bis zu dieser Stufe emporgearbeitet hat, wird freilich immer noch bemerken, daß sein Herz die einmal geschaute Wahrheit in einer bewußten Anstrengung festhalten und sich immer aufs neue verdeutlichen muß. Auf der höchsten, der vierten Stufe gilt nicht mehr die Erkenntnis, daß der Handelnde einer ist; aus dem Koran wissen wir, daß wir durch einen Verstandesschluß zu der Einsicht gelangen sollen, daß Allah den Regen schickt, hierdurch das Gras zum Sprießen bringt usw. Wenn aber die einzelnen Phänomene, die der Eine, der wirklich Handelnde, ins Werk setzt, gleichsam durchscheinend werden, dann nimmt man in ihnen allen trotz ihrer sich den fünf Sinnen aufdrängenden Vielheit nur noch den Einen selber wahr. Die Vielheit der Erscheinungen zeigt sich nun als das Unwahre, und damit enthüllt sich das Herr-Sein Allahs. Dieses letzte Ziel des durch Enthüllung und Schauen erlangten Wissens lasse sich nicht in einem Buch niederlegen, warnt al-ƤazƗlƯ, aber er umspielt das Thema dann doch auf vielfältige Weise. Wir brauchen ihn dabei nicht zu beobachten. Wenn hinter allen Erscheinungen der Eine erkannt wird, dann kann die Welt der Erscheinungen nicht mehr eine Wirrnis von willkürlichen Bestimmungsakten Allahs sein; sie ist nun vielmehr ein angemessener Ausdruck seines Seins, das der Mensch zwar nicht in plausibler Weise auf den Begriff bringen kann. Aber dieses Sein Allahs, das in der Fülle der Erscheinungen greifbar wird, ist wieder ein Kosmos, eben weil diese Erscheinungen ihren Bezugspunkt in ihm haben. Was das heißt, können wir nur in einzelnen Fällen verstehen, wenn wir staunend erkennen, wie Allah in seiner Weisheit dieses und jenes zueinander in Beziehung setzt, z. B. Regen und Pflanzenwachstum. Und wenn wir intuitiv das Wirken seiner schöpferischen Weisheit begreifen, dann dürfen, ja müssen wir auch mit dieser Weisheit rechnen: das eben meint „bedingungsloses Gottvertrauen“; dieses äußert sich gerade nicht im untätigen Abwarten, sondern im tätigen Umgang mit den durch Allahs Weisheit vorgegebenen Möglichkeiten des Handelns. Diese Möglichkeiten, die in Allahs Sein einen dem Menschen nicht faßbaren Grund haben, konstituieren, eben weil sie letzten Endes Allah selber sind, die beste aller nur denkbaren Welten. Indem al-ƤazƗlƯ auf diese Weise islamisches Wissen und islamisches Handeln – islamisch immer im dargelegten koranischen Sinn – zusammenfügt, führt er in das Sunnitentum aufs neue den schon in Sure 2, Vers 3 als

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Glaubenswahrheit bezeichneten Seinsbereich des Verborgenen ein. Das Diesseits ist offenkundig; es ist alles, was der Mensch mit den Fünf Sinnen erfaßt. Allah ist das absolute, in sich nicht zergliederbare Sein. Zwischen beidem liegt das verborgene, nicht sinnlich wahrnehmbare Reich göttlichen Schaffens und Waltens; dem Schauenden ist es in Augenblicken, in denen er zur vierten Stufe der Erkenntnis der Einsheit Allahs vorstößt, vergönnt, dieses Schaffens und Waltens mit geistigem Auge ansichtig zu werden – der Geist ist ein Teil der Fügung, wie wir uns erinnern, Allah hauchte dem aus Lehm gestalteten Menschen etwas von seinem Geist ein. Nicht nur das nach-ƥazƗlische Sunnitentum, auch Strömungen des Schiitentums werden sich bis ins 19. Jahrhundert an diesen Vorstellungen abarbeiten, um sie mit dem gewaltigen Korpus der kanonischen Texte – Koran und hadƯŠ –, die längst vor al-ƤazƗlƯ vollendet waren, zu versöhnen. Nicht wenige Konsequenzen, die sich aus der Einbeziehung eines verborgenen Seinsbereichs in die islamische Theologie und Rechtswissenschaft ergaben, erschienen den Kennern und Interpreten der kanonischen Texte schier unerträglich. Die erbitterten Auseinandersetzungen hierüber, die bis in die Gegenwart andauern, werden wir in der nächsten Vorlesung unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der muslimischen Gemeinschaft erörtern. Denn der Muslim, der die vierte Stufe des Einheitsbekenntnisses erklommen hat und unter Abstreifung seines den islƗm behindernden Ichs rückstandslos in Allahs Bestimmen aufgegangen ist, leistet, um es mit Ibn ‘ArabƯ (gest. 1240), einem der wirkmächtigsten Interpreten des „Verborgenen“ zu sagen, Allah erst eigentlich den ihm übertragenen Dienst. „Ich habe die Menschen und die Dschinnen nur geschaffen, damit sie mir dienen“, oder „mich verehren“, hieß es in Sure 51, Vers 56. Und dieser Dienst besteht eben darin, daß sich Allah im in die Vielheit hinaus entfalteten Sein erst eigentlich zu erkennen vermag, da ja Erkennen zumindest eine Zweiheit voraussetzt, die in seinem einförmigen Sein aber nicht gegeben ist. Daß Allah sich selber erkennt, wäre ohne sein im Verborgenen ablaufendes Bestimmen und ohne das zur Anschauung kommende Diesseits nicht möglich; das im Verborgenen ablaufende Bestimmen gewährleistet, daß das Diesseits in jedem Augenblick unmittelbar zu Allah ist; nach Ibn ‘ArabƯ ist dies der tiefste Ausdruck der islamischen Heilsbestimmtheit aller Schöpfung: „Kein Tier gibt es“, versichert Mohammed in Sure 11, Vers 56, „das (Allah) nicht beim Schopfe hielte“ – in diesen Worten ist die im Knechtsdienst des Diesseits und vor allem des Menschen begründete Botschaft vom Heil der Erschaffenheit zu Allah hin (arab.: al-fitra) in der ganzen Fülle ihres Sinnes enthalten, meint Ibn ‘ArabƯ. Der mit der vierten Stufe des Einheitsbekenntnisses begnadete Mensch befindet sich, so ‘Abd al-QƗdir al-GƯlƗnƯ (gest. 1166), auf dem Thron-

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schemel Allahs, der, wie wir uns erinnern, laut Sure 2, Vers 255 das Diesseits, die offenkundige Welt, umfaßt. Dort, im Grenzbereich zwischen Schöpfer und Schöpfung, ist er der Stellvertreter, der ¨alƯfa, Allahs „auf (Allahs) Erde und in seinen (anderen) Welten. Wenn Allah etwas durch ihn bewirken will, wandelt er ihn von Bild zu Bild, von Gestalt zu Gestalt. Dann gewährt er ihm Einblick in die Schatzkammern der Geheimnisse, denn ihm allein ist die Regentschaft zugestanden, er ist der Vertreter der Propheten Allahs, der Verweser seines Reiches zu (dieser) seiner Zeit ...“ So taucht aufs neue und dringlicher als zuvor die Frage nach Sinn, Zweck und metaphysischer Begründung des Gesetzes auf, nach Sinn, Zweck und Begründung des Daseins eines machtvollen islamischen Herrschaftsapparats – wozu dies alles, wo doch, nehmen wir diese Lehren beim Wort, selbst die Andersgläubigen auf der ihnen von Allah vorgezeichneten „geraden Straße“ wandeln?

Die muslimische Glaubensgemeinschaft als die Verwirklichung des göttlichen Willens auf Erden TILMAN NAGEL

Als al-ƤazƗlƯ seine „Belebung der Wissenschaften vom praktizierten Glauben“ niederschrieb, war der islamische Westen, der Maghreb und das maurische Spanien, unter der Herrschaft der beiden Almoraviden Jnjsuf b. TƗšufƯn (reg. 1061–1106) und ‘AlƯ b. Jnjsuf (reg. 1106–1142) vereint worden; man hatte 1086 Alfons VI. von Leon und Kastilien in der Schlacht von ZallƗqa nahe Badajoz besiegt und dadurch den christlichen Reichen eine Rückeroberung der Iberischen Halbinsel über Toledo hinaus vorerst unmöglich gemacht. Im ganzen islamischen Westen, im Gebiet vom heutigen Tunesien bis an den Atlantik, den islamischen Teil Spaniens eingeschlossen, bestimmten die malikitischen Gesetzesgelehrten das geistige Milieu. Die unter den Berbern entstandene Bewegung der Almoraviden suchte deren Funktion weiter zu festigen und überzog ihren Machtbereich mit Maßnahmen, die man als im höchsten Grade jedem freien Gedanken abträglich charakterisieren muß. ‘AlƯ b. Jnjsuf blieb es vorbehalten, während seiner Regierungszeit das Studium von al-ƤazƗlƯs „Belebung“ zu verbieten und die Exemplare des Werkes, deren seine Späher habhaft wurden, zu verbrennen. Von diesem Autodafé wissen wir zum einen aus der westislamischen Historiographie, zum anderen aus dem großen Kommentar zur „Belebung“, den der jemenitische Gelehrte al-MurtadƗ az-ZabidƯ (gest. 1790/1) mehr als sechshundert Jahre nach jenen Ereignissen erarbeitete. Er ermittelte aus den ihm zur Verfügung stehenden Quellen, was man damals al-ƤazƗlƯ vorgeworfen hatte. Die meiste Zeit seines Lebens habe sich al-ƤazƗlƯ in strenger Wissenschaftlichkeit dem Studium des in der Form des hadƯŠ von Mohammed ausstrahlenden gottgegebenen Wissens befleißigt, auf dessen autoritärer Auslegung durch die Rechtsgelehrten das muslimische Gemeinwesen fuße. Dann aber habe sich al-ƤazƗlƯ plötzlich der eigenen Intuition überlassen und Dinge geschrieben, die, da sie mit dem Gedankengut der Philosophen und eines radikalen Sufismus durchsetzt seien, sich von jenem wahren Wissen entfernt hätten. Dessen Aufgabe bestehe darin, die schariatischen Beziehungen der Muslime untereinander zu regeln, und dieses Wissen sei das einzige, das niedergeschrieben werden dürfe. Die „Be-

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lebung“ zu verbrennen, so einer der heftigsten Kritiker al-ƤazƗlƯs, sei ein Akt der Rettung des muslimischen Gemeinwesens, vergleichbar der von den Prophetengefährten vorgenommenen Verbrennung der Koranexemplare, die den Text der Eingebungen nicht in der von ‘UŠmƗn (reg. 644–656) festgelegten Reihenfolge und mit einigen meist geringfügigen Abweichungen im Wortlaut enthielten. Wenn al-ƤazƗlƯ für wahr erachtete, was er darlegte, dann sei es folgerichtig, ihn für einen Ungläubigen zu erklären. Wenn wir diese und weitere Anwürfe der Feinde al-ƤazƗlƯs analysieren, dann werden wir unversehens mit der Angst konfrontiert, die die Muslime umtreibt, die ihr Leben und dasjenige ihrer Glaubensgenossen an jenem Wissen ausrichten wollen, das nach ihrer Ansicht allein verdient, niedergeschrieben zu werden. Al-ƤazƗlƯ hatte die Angst vor dem Auseinanderfallen von Wissen und Handeln, die ich in der vorigen Vorlesung erörterte, überwunden, indem er dem Schauen in den Seinsbereich des Verborgenen gegenüber dem Aufnehmen und Weitergeben von autoritativen Texten einen eigenen, legitimen Erkenntniswert zugesprochen hatte. Und jene Erkenntnis hatte in der Entdeckung bestanden, daß dem auf der höchsten, der vierten Stufe die Einsheit Allahs Bekennenden Allah in allen Phänomenen des Diesseits aufscheint. Deren Wirrsal, mit der sich die Schariagelehrsamkeit unablässig abplagt, ist nur die Oberfläche, nur das Offenkundige, den fünf Sinnen Zugängliche. Nur wenn man dies für das Eigentliche nimmt, wird man daran irre, versperrt sich den Weg zum richtig verstandenen Gottvertrauen und bleibt in der Pein befangen, die einem das vermeintliche Auseinanderklaffen von Wissen und Handeln bereiten. Den an den Grund der koranischen Heilsbotschaft von der Hingeschaffenheit zu Allah rührenden Konflikt, der hier offen aufbrach und seither nicht zu lösen, höchstens zu kaschieren war, wollen wir in dieser Vorlesung auf den Begriff zu bringen und zu verstehen suchen. Wir müssen zu diesem Zweck noch einmal kurz in die frühe Geschichte des Islams zurückkehren.

I In den letzten Jahren vor der Hedschra hatte Mohammed seine Kräfte darangesetzt, den Kaabakult entsprechend seinen Einsichten in die Einsheit Allahs, des alles wirkenden Schöpfers, umzugestalten. Die prominenten Quraišiten jener Zeit, die von dem besonderen Verhältnis zu Allah, das die HƗšimiten seit ‘Abd al-Muttalib, Mohammeds Großvater, für sich beanspruchten, nichts wissen wollten, wiesen den Propheten in die Schranken. Dieser reizte sie heftiger denn je, indem er sie in Sure 7 als den verstock-

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ten Anhang Pharaos verunglimpfte, sich selber als Mose sehend, der den Untergang jener Feinde Allahs herbeiführt. Sobald man Mohammed aus Mekka vertrieben und dieser in Medina eine Bleibe gefunden hatte, ändert sich der Inhalt der von ihm als Offenbarung vorgetragenen Koranverse. Aus dem Empfehlen, im Interesse des eigenen Jenseitsglückes bestimmte Verhaltensweisen zu beachten, wird das Befehlen, dieses oder jenes zu tun, und zwar nicht nur im Hinblick auf das Jenseits, sondern gerade auch in Ansehung der Gegebenheiten hier und jetzt. Die Offenbarungen gewinnen eine zweite, sehr handgreifliche Bedeutungsebene, ohne daß die erste, die jenseitsbezogene, verdrängt worden wäre. Wenn die Muslime „Allah und seinem Gesandten“, wie es jetzt viele Male im Koran heißt, unbedingten Gehorsam leisten, dann dürfen sie nicht nur auf den Einlaß in das Paradies hoffen, sie zählen schon jetzt, im Diesseits, zur „besten Gemeinschaft, die je für die Menschen gestiftet wurde“, wie Mohammed in Sure 3, Vers 110 versichert. Denn sie tun, was Allah billigt, unterlassen, was er verwirft, und glauben an ihn. Und daß sie stets richtig, so, wie Allah es will, handeln, gewährleistet Mohammed, Allahs erwählter Sprecher, und zwar nicht nur im Verkünden des Korans, der durch den „Geist“ in menschliche Sprache übertragenen Fügung Allahs, sondern auch in seinen nichtkoranischen Anordnungen, die dank seiner prophetischen Autorität aller Kritik enthoben waren. Mit seinem Tod wurde diese Art durch Allah gewirkte „Rechtleitung“, von der der Koran des öfteren redet, jäh unterbrochen. Unter dem Deckmantel seiner überragenden Persönlichkeit schon lange glimmende Konflikte loderten nun auf und wurden mit faulen Kompromissen, zum Teil auch mit Gewalt erstickt, keineswegs aber im gemeinsamen Einvernehmen der Parteiungen beigelegt. Hierbei schob sich allmählich die Frage in den Vordergrund, wie denn nach dem Tod des unmittelbar von Allah angeredeten Propheten die als irdischer Heilszustand verklärten Verhältnisse der Urgemeinde bewahrt, und wenn sie schon beeinträchtigt worden sein sollten, wiederhergestellt werden könnten. Da in der Rückschau die Person Mohammeds allein als der Garant der urgemeindlichen Rechtleitung erschien, drehte sich die Erörterung um deren Fortsetzung zunächst um die Person des Herrschers über die Muslime. Konnte er glaubhaft machen, daß er der legitime Inhaber der Macht des Propheten war, dann war hierdurch zugleich die Anwartschaft der unter ihm lebenden Muslime auf das Paradies gewahrt. Bis weit in das 9. Jahrhundert hinein blieb die Frage nach dem richtigen „islamischen“ Lebensvollzug der Muslime an die Frage der „islamischen“ Legitimität des „Imams“ geknüpft, des Kalifen oder der gegen ihn agierenden Anführer unterschiedlicher muslimischer Glaubensrichtungen.

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Indessen wuchs seit dem ausgehenden 7. Jahrhundert eine spezifisch islamische Literaturgattung heran, das hadƯŠ, deren Ziel es war, die Erinnerung an die verklärten medinensischen Jahre des Wirkens Mohammeds zu bewahren und alles das, was, wie man meinte, der Prophet gesagt, getan, auch nur schweigend geduldet hatte, so lebendig zu erhalten, als werde es nach wie vor durch ihn gesagt, getan, stillschweigend geduldet und daher gutgeheißen. Mit anderen Worten: Im hadƯŠ wuchs dem legitimen Kalifen in Bezug auf die tagtägliche Machtausübung und Rechtspflege in seinem Reich eine schwer auszurechnende, geschweige denn zu kontrollierende Konkurrenzinstanz autoritären Wissens heran. Scharfe Auseinandersetzungen zwischen den Kalifen als den Erben eines Teils des Charismas Mohammeds und den Sachkennern des hadƯŠ erschütterten schon die ersten Jahrzehnte des abbasidischen Kalifats, dem es nicht gelang, jene auf seine Seite zu ziehen. Der Versuch, den Einfluß der hadƯŠ-Gelehrten auf die breiten Massen durch die Einsetzung einer Inquisition auszuschalten und an der Stelle des hadƯŠ den Kalifen als die von Allah wegen der Abstammung aus der Sippe Mohammeds berufene Autorität in allen Angelegenheiten des Islams zu etablieren, scheiterte um die Mitte des 9. Jahrhunderts. Bereits um 800 soll aš-ŠƗfi‘Ư (gest. 820), der in seinen theoretischen Abhandlungen die Funktionen des hadƯŠ bei der Rechtspflege und bei der vom Herrscher voranzutreibenden vollständigen Islamisierung des Lebens durchdachte, den Kalifen HƗrnjn ar-RašƯd (reg. 786–809) von den Vorzügen dieses Mediums zu überzeugen versucht haben. Bezeichnenderweise geschieht dies in einem Streitgespräch, das aš-ŠƗfi‘Ư in Anwesenheit des Kalifen mit einem berühmten Vertreter der damals üblichen islamischen Rechtswissenschaft geführt haben soll. Dessen Erwägungen, auch die von dessen Lehrer Abnj HanƯfa, dem Gründungsvater der Schule der Hanafiten, wischt aš-ŠƗfi‘Ư mit dem Hinweis auf die umfassenden eigenen Kenntnisse von allen Lebensumständen Mohammeds beiseite. „(Weißt du überhaupt) wie der Gesandte Allahs“ – bei der Inbesitznahme seiner Vaterstadt im Jahre 630 – „in Mekka einzog; in welche Gasse er hineinritt, wo er Quartier nahm; wie seine ersten Worte bei seinem Eintritt lauteten, welche Kleidung er damals trug, welche Kamelin oder Stute er benutzte?“ Nichts von alledem wußte sein Gegenüber. Für die Rechtsfindung waren dergleichen Kenntnisse bislang bedeutungslos gewesen; vereinzelt hatte man sich zwar auf juristisch relevante Äußerungen Mohammeds bezogen, in der erdrückenden Mehrzahl der Rechtsfälle waren dergleichen Texte aber gar nicht überliefert, und so setzte man auf den eigenen Sachverstand, und das tat man auch dann, wenn Aussagen Mohammeds oder auch Verse des Korans zu einem bestimmten Rechtsfall vorlagen, jedoch zu einem Ergebnis gelangten, das dem Sachverstand und etwaigen Billigkeitserwägungen wi-

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dersprach. Für aš-ŠƗfi‘Ư ist dergleichen unerträglich. Wie kann ein muslimisches Leben gottgefällig sein, wenn es nicht in strenger Nachahmung dessen gelebt wird, der zumindest in Medina in jedem Augenblick seines Daseins in der Rechtleitung Allahs stand? Die Erwägungen, die jene Juristen in der Nachfolge Abnj HanƯfas im Auftrage des Kalifen anstellen, sind doch nichts als ein blindes Umhertappen, sind bloßes Meinen und Vermuten – während es doch das sichere Wissen gibt, allerdings außerhalb jenes Expertentums! Das wahre Wissen ist vorhanden in der Überlieferung über Mohammeds Reden, Tun, stillschweigendes Billigen. Dieses Wissen ist in seinem Bestand unabhängig von jenen Erwägungen; es wird von diesen gar nicht berührt, wird durch sie weder verringert noch vermehrt noch irgendwie verändert. Das wahre Wissen ist übergeschichtlich, letzten Endes nicht in das diesseitige Geschehen hineingezogen. Gleichwohl birgt es in sich alle Regelungen und Bewertungen diesseitiger Vorgänge, und die Aufgabe der Rechtsgelehrsamkeit ist es, jene Regelungen und Bewertungen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, aufzudecken und der Gemeinschaft der Muslime in einer ihr verständlichen Weise mitzuteilen, damit sie sich danach richte und demzufolge wieder ein Stückchen weiter sich den Verhältnissen annähere, wie sie zur Zeit der Urgemeinde in Medina herrschten. Damals, in jenen von Heil erfüllten Tagen, war solch eine mühselige Arbeit der Deutung der sunna nicht nötig gewesen; jene glücklichen Altvorderen verstanden, so glaubte man, die Winke Mohammeds spontan; worin die Rechtleitung Allahs bei jedem nur erdenklichen Sprechen und Tun bestand, das mußte nicht eigens auf den Begriff gebracht und in Worte gefaßt werden. Für die Spätgeborenen ist dieser Weg über die Worte hingegen nicht zu vermeiden. Und so müssen sie sich zunächst das Wissen von der sunna, vom nachahmenswerten Vorbild des Propheten, in all seinen Einzelheiten, auch in den von aš-ŠƗfi‘Ư erwähnten scheinbaren Belanglosigkeiten, aneignen; sobald dies geschehen ist, setzt dann die Arbeit der Auslegung ein, mit der dieses Wissen für die immer weiter voranzutreibende Islamisierung von Herrschaft und Gesellschaft fruchtbar zu machen ist.

II Die Aufgabe, für den Fortbestand der von Mohammed gegründeten „besten Gemeinschaft“ zu sorgen, wurde mit dem im 10. Jahrhundert beginnenden Siegeszug des schafiitischen Konzepts des Wissens den Herrschern entwunden. Sie, der Kalif und dessen zahlreiche, halb oder ganz frei von seinem Einfluß agierende Machthaber, rein formal als seine Statthalter legitimiert, stellten gewissermaßen nur noch den unentbehrlichen Rahmen

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zur Verfügung, innerhalb dessen, von ihnen unbeeinflußbar, die Gelehrten, die Kenner der Überlieferung und der immer weiter verfeinerten Methoden ihrer Nutzbarmachung, der Islamisierung der Gesellschaft vorarbeiteten. Das 10. und 11. Jahrhundert, die Epoche der Regionalisierung und Zersplitterung islamischer Herrschaft und des Entstehens des Sultanats, ist die erste hohe Zeit des Einflusses der Gelehrten auf Herrscher und Glaubensgemeinschaft. Das Sultanat bezog geradezu seine Legitimität daraus, daß es die Gelehrten förderte und dafür sorgte, daß sie in möglichst vielen Lebensbereichen ihre aus dem übergeschichtlichen Wissen abgeleiteten Auffassungen zur Geltung bringen durften – wenn sie als Gegenleistung dafür nur stets die islamische Legitimität der Machthaber verkündeten, die gemäß der älteren Staatstheorie, die zu den Glanzzeiten des Kalifats entwickelt worden war, durch die Bank nichts als Usurpatoren gewesen wären. Indem sie ihre Macht aber benutzten, den Gelehrten die Gelegenheit zu ihrem Werk der Islamisierung zu verschaffen, tilgten sie nach den nun obwaltenden Vorstellungen den Makel der Illegitimität, der der Usurpation anhaftete. Al-öuwainƯ (gest. 1085), Zeitzeuge des Aufstiegs des seldschukischen Sultanats und zeit seines Lebens in der Gunst der neuen Machthaber, paßte die überkommene islamische Staatstheorie den neuen Verhältnissen an. Der Kalif hatte bislang wenigstens Quraišite, also ein Angehöriger des Stammes des Propheten zu sein, denn aus der Verwandtschaft zu Mohammed hatte man die Qualifikation abgeleitet, dessen medinensische Amtsführung im Sinne der Erhaltung der „besten Gemeinschaft“ fortzusetzen. AlöuwainƯ sprach das Unerhörte aus, nämlich daß die Zugehörigkeit des Oberhauptes der islamischen Glaubensgemeinschaft zur Verwandtschaft Mohammeds keineswegs erforderlich sei. Die Abstammung begründet keine zur Amtsführung unerläßliche Kompetenz, verleiht dem Kalifen auch keine Legitimität mehr. Vielmehr ist es so, daß das Vorhandensein des von Gelehrten immer feiner und genauer explizierten unveränderlichen Wissens, das Vorhandensein der Scharia mithin, den Muslimen die Einsicht aufzwingt, daß die Berufung eines Oberhauptes notwendig ist. Man kann aber nicht behaupten, daß dieses aus der Scharia selbst heraus seine Macht gewinnt, so daß der beste Kenner jenes Wissens die Muslime regieren müßte. Richtig ist vielmehr die Auffassung, daß es um der Scharia willen einen obersten Herrscher geben muß, dessen wichtigste Eigenschaft nicht die Gelehrsamkeit ist, sondern die Tauglichkeit für die Ausübung seiner Funktion, und die beweist er, indem er die Macht an sich reißt und seine Herrschaft mit äußerster Energie und Wirksamkeit über das gesamte Gebiet der Glaubensgemeinschaft der Muslime ausdehnt. Legitimität entspringt nun letzten Endes allein der Tatsache des Machtausübens, sofern

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irgend glaubhaft gemacht wird, daß dies um der Scharia willen geschieht. Und dies kann der Machthaber, der, wenn man genau hinsieht, grundsätzlich ein Usurpator ist, am besten belegen, indem er sich mit zahlreichen Sachkennern jenes übergeschichtlichen Wissens umgibt und sie unablässig zu Rate zieht. An vielfältigen Belegen läßt sich ablesen, daß sie es jetzt sind, von denen in Wahrheit der Fortbestand der „besten Gemeinschaft“ abhängt. Und ihre Zuständigkeit kennt – zumindest in ihrer eigenen Überzeugung – keine Grenzen mehr, so wie jenes Wissen sich auch nicht bestimmten Bereichen der conditio humana zurechnen läßt und andere davon unberührt bleiben. Es mag, so argumentierte man, Dinge und Ereignisse im Diesseits geben, die auf den ersten Blick nicht in jenem Wissen bedacht sind und daher keiner schariatischen Bewertung unterliegen, mithin gebraucht oder getan werden mögen oder auch nicht. Die Erkenntnis dieses Umstandes ist aber erst nach dem gründlichen Studium jenes Wissens zu erlangen und daher doch einzig und allein diesem abgewonnen. Noch im 8. Jahrhundert, in der Zeit vor aš-ŠƗfi‘Ư, gab man sich bescheidener. Die Scharia umfasse, so formuliert man damals, die Ritualpflichten, die koranischen Strafen sowie Gebot und Verbot. Im 12. Jahrhundert war der Inhalt der Scharia deckungsgleich mit dem, was nach Sure 3, Vers 110 die „beste Gemeinschaft“ generell ausmacht, mit dem Anbefehlen alles dessen, was Allah billigt, mit dem Verbieten alles dessen, was er verbietet. Sie war zur Quelle der Regelung aller überhaupt denkbaren Verhaltensweisen geworden. Die mit der Rechtspflege betrauten QƗdƯs vermochten diesen ungeheuren Zuwachs an Aufgaben, mit denen die Schariagelehrsamkeit nunmehr belastet wurde, nicht aufzufangen. Ein neuer Typ von Schariagelehrten trat auf den Plan: der Mufti, der Spezialist für die Anwendung des übergeschichtlichen Wissens auf alles, was die Zivilisation des Menschen zum Inhalt hat. Noch bis weit ins 9. Jahrhundert hinein scheuten sich die Kenner der Prophetenüberlieferung, anderen als sich selber aus dieser abgeleitete Ratschläge zur islamgemäßen Lebensführung zu erteilen. „Wer unter euch den größten Mut zur Auskunft hat, der hat auch den größten Mut zur Hölle!“ Diese Warnung legte man Mohammed selber in den Mund. Wer konnte schon wissen, ob er zu einer bestimmten Frage auch jede verborgene Andeutung des Korans, jede auch nur von fern einschlägige Aussage Mohammeds kenne? Eine falsche Auskunft aber würde nicht so leicht den Frager ins jenseitige Verderben reißen, sondern viel eher den Gelehrten, der sich sorglos seiner doch stets unvollkommenen Kenntnisse bediente. Spätestens im 11. Jahrhundert waren derartige Skrupel überholt. Der uns schon bekannte al-öuwainƯ verfaßte eine Abhandlung, die zu dem Ergeb-

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nis kam, ein Gelehrter, der ein Fetwa erteile, werde, sollte es nicht der Scharia entsprechen, jedenfalls dann für seinen Irrtum von Allah nicht zur Rechenschaft gezogen, wenn er selber sich danach richte. Die subjektive Ehrlichkeit würde ihn vor der Hölle retten. Der Zug zur totalen Islamisierung des Lebens verlangte solche Nachsicht. Al-öuwainƯ schlug dem seldschukischen Wesir NizƗm al-Mulk übrigens in seiner staatstheoretischen Abhandlung vor, aus der Tätigkeit des Muftis ein besoldetes Amt zu machen – ein weites Feld für den Machthaber, der um der Scharia willen herrschte, tat sich auf. Al-öuwainƯs Vater wird die älteste Sammlung von Fetwas zugeschrieben; in späteren Jahrhunderten folgten unzählige andere – reichhaltige und oft sehr lebensnahe Quellen für die Weltanschauung und die Alltagssorgen der Menschen in der „besten Gemeinschaft“. Ein einziges Beispiel mag uns verdeutlichen, worum es geht. Da erhielt ein Kairiner Gelehrter des 14. Jahrhunderts die Frage vorgelegt, ob das Schachspiel ein schariatisch zulässiger Zeitvertreib sei. Die ausführliche Antwort, die wir stark verkürzt wiedergeben, beginnt, wie üblich, mit der Zusammenfassung der Ergebnisse: Das Schachspiel ist weder ausdrücklich erlaubt noch verboten; es ist zu verabscheuen – eine schariatische Bewertung. Der Mufti beginnt nun seine Darlegungen, indem er in die islamische Kulturgeschichte zurückgreift und einige bekannte Persönlichkeiten erwähnt, die nachweislich Schach spielten; unter ihnen befindet sich ein berühmter Kenner der Prophetenüberlieferung aus dem 7. Jahrhundert, der sich auf diese Kunst sogar „hinter dem Rücken“ verstanden habe. Die Gegner führen Worte des Schwiegersohnes Mohammeds ins Feld, wonach Schach den verbotenen Glücksspielen ähnlich sei; außerdem seien die benutzten Figuren Geschöpfen Allahs nachgebildet und infolgedessen eine Beleidigung des Schöpfers. Ferner soll ein Prophetengefährte gesagt haben: „Schach ist noch übler als Tricktrack“. Und Mohammed selber habe angeordnet: „Wenn du bei diesen Leuten vorbeikommst, die Lospfeile werfen, Schach und Tricktrack spielen, dann entbiete ihnen nicht den ‚SalƗm!‘“ Freilich ist gerade die letztgenannte Überlieferung mit einer unbefriedigenden Gewährsmännerkette versehen, so daß aus diesem Grund sich aus diesem Wort Mohammeds kein Verbot des Schachspiels ableiten läßt. Befürworter wie Gegner des Schachspiels können keine wirklich eindeutigen Textzeugen für ihre Ansicht beibringen. So sei es am besten, das Schachspiel zu meiden; sollte man diesem Zeitvertreib so ausgiebig frönen, daß man darüber rituelle Pflichten vergesse, dann freilich sei es einem streng verboten. Aus der unüberschaubar vielfältigen Lebenswirklichkeit wird dank der Arbeit der Gelehrten ein dergestalt zurechtgeschnittener Daseinsvollzug,

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daß in allem ein Bezug zu dem übergeschichtlichen Wissen nachweisbar ist. Wenn dieser Zustand erreicht ist, dann vermag auch der Textgelehrte mit Genugtuung festzustellen, daß die Stellvertreterschaft des Menschen über das von Allah gelenkte Diesseits Wahrheit geworden ist. Ein wesentlicher Unterschied zu der in der vorigen Vorlesung beschriebenen Art der Stellvertreterschaft ist allerdings hervorzuheben. Das al-ƤazƗlƯs Idee der Einheit von Wissen und Handeln fortbildende sufische Konzept der Stellvertreterschaft sah vor, daß der einzelne Muslim sein Ich tilge und sich bedingungslos und ohne alles eigene Streben der von Allah ausgehenden Fügung unterwerfe. Die Stellvertreterschaft ist ein individuelles Heilserleben. Anders verhält es sich in dem Zusammenhang, den wir heute erörtern. Für den Juristen, auch den schariatischen, ist alles Handeln und Reden nur dann einer Bewertung gemäß dem übergeschichtlichen Wissen zugänglich, wenn es in bewußt gefaßter Absicht erfolgt ist. Die Wahrnehmung der Stellvertreterschaft meint demnach ein gezieltes Reden und Handeln; und das Ziel ist die Verwirklichung der „besten Gemeinschaft“. Wenn auch Allahs Ratschluß und damit der Beweggrund, um dessen willen er die eine oder andere Vorschrift jenem Wissen einverleibte, unerforschlich ist, so ist doch eines nicht zu bezweifeln: Der allgemeinste Zweck, zu dem dieses Wissen gestiftet wurde, sind das Gedeihen und schließlich der weltweite Triumph der „besten Gemeinschaft“. Wenn ein Muslim dies stets im Auge behält, ist ein Scheitern seiner Bemühungen um die Stellvertreterschaft Allahs nicht zu befürchten. Der Nutzen der „besten Gemeinschaft“ ist daher der oberste Gesichtspunkt bei aller auf den Alltag bezogenen Auslegung des übergeschichtlichen Wissens. Der andalusische Rechtsgelehrte aš-ŠƗtibƯ (gest. 1388), der in der zeitgenössischen Schariawissenschaft eine beeindruckende Renaissance erlebt, zitiert, um diesen Gedanken näher auszuführen, Sure 6, Vers 165: „(Allah) ist es, der euch zu Stellvertretern (auf der) Erde einsetzte und euch auf unterschiedlich hohe Stufen stellte, um euch in den Dingen, die er euch brachte, zu erproben.“ Die Stellvertreterschaft wird hier zu einem allgemein geltenden Wesenszug der conditio humana; der eine übt sie lediglich in seiner Familie aus, der andere, der Herrscher, über die Gesamtheit der Muslime, das Ziel ist in beiden Fällen gleich. Und so ist denn auch eine islamische Welt, in der die Usurpation und die faktische Tyrannei alltäglich sind, nicht nur dank der schariatischen Beratung des Usurpators oder Tyrannen auf dem Weg, sich in die „beste Gemeinschaft“ zu verwandeln; die Untertanen, oder um im Bild zu bleiben, das nicht nur aš-ŠƗtibƯ in diesem Zusammenhang verwendet, die Herde ihrerseits ist ebenfalls auf dem Weg dorthin, indem der einzelne in seinem Lebenskreis seine individuellen Belange in denjenigen der „besten Gemeinschaft“ aufgehen läßt.

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III In der historischen Epoche, in der sich dieses – um einen heutigen Begriff zu verwenden – totalitäre religiös-politische Gedankengebäude der Vollendung näherte, im späten 11. Jahrhundert, wuchsen auch die ersten Zweifel an seiner Wahrheit. Konnten die überlieferten Texte, die jenes Wissen in sich bargen, alles das gewährleisten, was man ihnen nun abfordern mußte? Und war der Verstand des Menschen, das Werkzeug, mit dem die Arbeit an den Texten durchzuführen war, nicht viel zu unzuverlässig, als daß er in Fragen, die das jenseitige Heil wie auch das diesseitige Wohl der Muslime betrafen, eingesetzt werden dürfte? In Sure 15 ist nachzulesen, wie der Satan sich gegenüber Allah auf eine Analogie beruft, um zu begründen, weshalb er einem Befehl des Schöpfers nicht gehorchte; Allah verfluchte ihn darum. Und wie sollte der Mensch überhaupt eigenverantwortlich das übergeschichtliche Wissen auslegen, wo doch die Welt in sich keine Kontinuität hatte, sondern von Augenblick zu Augenblick nach Allahs souveräner Entscheidung so gestaltet wurde, wie sie sich zeigte? Angesichts der Diskontinuität des Diesseits, wie sie die sunnitische Metaphysik lehrte, konnte man an der Aufgabe der Entbergung des Inhalts des Wissens verzweifeln. Und die besten unter den Schariagelehrten sind, so sie diese Aporie nicht verdrängten, an ihr verzweifelt. Al-öuwainƯ, einer der Lehrer al-ƤazƗlƯs, gelangte zu der Einsicht, der Mensch dürfe den Verstand nur gebrauchen, um sich klarzumachen, daß er ihn nicht gebrauchen dürfe, und er verwünschte den Tag, an dem er das Metier des schlichten Schariagelehrten verlassen und nach einer metaphysischen Fundierung seines Tuns geforscht hatte. Dies ist die geistige Situation, in der al-ƤazƗlƯ seine „Belebung den Wissensarten vom praktischen Glauben“ in Umlauf setzte. Er hatte die Krise seines Lehrers al-öuwainƯ ebenfalls durchlitten, ihm aber war es gelungen, einen Ausweg zu finden. In der letzten Vorlesung haben wir uns mit diesem Ausweg beschäftigt: Der Seinsbereich des Verborgenen, von Mohammed für ein wesentliches Merkmal seines Verständnisses von Schöpfer und Kosmos zum Gegenstand des Glaubens erklärt, dann aber aus der sunnitischen Metaphysik als eigenständige Größe eliminiert, wurde aufs neue entdeckt, und zwar nicht bloß als ein Thema metaphysischer Spekulation, sondern als die Grundvoraussetzung für den gelebten islƗm. Denn indem sich das wohlverstandene Bekenntnis zur Einsheit Allahs in der Daseinshaltung des unbedingten Gottvertrauens (arab: at-tawakkul) manifestiert, wird das mit den fünf Sinnen wahrgenommene Offenkundige durchscheinend, und der islƗm erfüllt sich im Einswerden mit der geschauten Fügung Allahs.

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Solches Einswerden, das in beglückenden Augenblicken als die Stellvertreterschaft Allahs erfahren werden kann, ist freilich nicht mehr über das Studium des zu Texten geronnenen Wissens zu erreichen. Al-ƤazƗlƯ wie auch die islamischen Denker, die die von ihm formulierten Vorstellungen weiterentwickelten, setzten voraus, daß die Abstreifung des Ichs erst dann versucht werden darf, wenn man sich die aus dem Wissen abgeleiteten Normen des Denkens und Handelns so unverrückbar fest angeeignet hat, daß sie einem gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen sind. Trotz allem aber ist klar, daß der Ausweg aus der Krise, die in der Unerreichbarkeit der vollkommenen Islamisierung der muslimischen Glaubensgemeinschaft mittels der Auslegung der Texte des Wissens bestand, eben nicht durch eine noch weiter vorangetriebene Textwissenschaft zu finden war, sondern in der Übersteigung der Textwissenschaft. Das aber hieß, daß die alles beherrschende Position, die die Gelehrten in der Gesellschaft und gegenüber den Machthabern errungen hatten, keineswegs endgültig war. In der Epoche, in der die gelehrten Sachwalter des Wissens ihren Triumph feierten, zeigten ihnen al-ƤazƗlƯs Schriften, daß dieser Triumph allein in ihrem Wunschdenken stattgefunden hatte. Daß sie al-ƤazƗlƯ diese ungebetene Ermahnung verübelten, kann einen nicht verwundern. Und es geschah ebenfalls im islamischen Westen, daß wenige Jahrzehnte nach seinem Tod eine auch politisch höchst erfolgreiche Bewegung auftrat, die sich ausdrücklich auf al-ƤazƗlƯ berief und von sich behauptete, seine Ideen von der Einsheit Allahs in die Tat umzusetzen und das nunmehr endgültig wahre islamische Gemeinwesen zu errichten: die Almohaden, deren Name ja die Bekenner der Einsheit Allahs bedeutet. Ihre Gründerfigur, Ibn Tnjmart, umriß in seinen Lehrgesprächen, mit denen seine Anhänger regelmäßig indoktriniert wurden, wie der Kosmos, das von Allah nach bestimmten Voraussetzungen entworfene „konditionierte“ Sein, und das diesem entsprechende Handeln der Muslime den wahren, den urgemeindlichen islƗm des Propheten wieder Wirklichkeit werden lassen, eine Wirklichkeit, die nur zum Teil in den Texten des Wissens zu finden ist, jedoch vollständig in den – ohne den Umweg über die Texte – unmittelbar von Generation zu Generation gewissermaßen wortlos weitergereichten Arten des Verhaltens des Propheten verbürgt wird.

IV Im Osten der islamischen Welt entlud sich die von al-ƤazƗlƯ angestoßene Kritik am totalen Geltungsanspruch der Textgelehrsamkeit und an ihrem Unvermögen, ihre Versprechen zu erfüllen, nicht in religiös-politischen

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Bewegungen. Vielmehr etablierten sich die Wortführer dieser Kritik innerhalb der muslimischen Gesellschaft und lagerten sich an den Machtapparat an. Als ein Beispiel wollen wir ‘Abd al-QƗdir al-öƯlƗnƯ heranziehen, einen vermutlich um 1077 in Gilan südlich des Kaspischen Meeres geborenen Mann, der in seiner Jugend nach Bagdad gelangte und dort an einer der hanbalitischen Rechtsschule zugerechneten Medresse die übliche viele Jahre währende Ausbildung in den „islamischen Wissenschaften“, also in arabischer Sprache, Koran, hadƯŠ, Scharia, durchlief. Eines Tages, die auf ihn zurückgehenden Bruderschaften datieren das Erweckungserlebnis auf den Vormittag des 25. Oktober 1127, schaute er den Gesandten Allahs. „Mein Sohn, was redest du nicht?“ fragte dieser, worauf ‘Abd al-QƗdir antwortete: „Väterchen, ich bin kein Araber! Wie sollte ich in Bagdad zu denen reden, die des reinen Arabisch mächtig sind?“ „Öffne den Mund!“ befahl Mohammed und spie ihm siebenmal hinein und fuhr dann fort: „Rede zu den Menschen und rufe auf zum Pfad deines Herrn mit Weisheit und guter Mahnung!“ (Sure 16, 125). Der Prophet verschwand, dessen Vetter und Schwiegersohn ‘AlƯ b. abƯ TƗlib war plötzlich unter der rasch anwachsenden Menschenmenge. Es entspann sich das gleiche Zwiegespräch, ‘AlƯ spie ihm sechsmal in den Mund. „Warum nicht siebenmal?“ fragte ‘Abd al-QƗdir. „Aus höflicher Scheu vor dem Gesandten Allahs“, beschied ihn ‘AlƯ, worauf ‘Abd al-QƗdir ihn aus den Augen verlor. Nun aber vermochte er zu reden, und er sprach zur Menge die folgenden Sätze: „Der Perlentaucher des Denkens taucht im Herzensmeer nach den Perlen der Erkenntnisse und bringt sie dann empor an das Gestade der Brust. (Die Zunge), der Makler des Dolmetschers Sprache, ruft sie aus um den teuren Preis guten Gehorsams in Häusern, die zu errichten Allah erlaubte.“ Merkwürdige Sätze fürwahr! Sie versuchen eben das zu veranschaulichen, was es, wenn es nach den Sachwaltern des Wissens geht, gar nicht geben darf: das unmittelbare Schöpfen heilswichtigen, von Allah selber ausgehenden Wissens im durchscheinend gewordenen Seinsbereich des Verborgenen. Im Herzen nämlich trägt der Mensch jene Grenze in sich, an der sich das schauend Erkannte in die diesseitige Sprache übersetzen läßt. Wie man sich dies im einzelnen vorzustellen habe, darüber ist in der islamischen Welt vom 12. bis 19. Jahrhundert unüberblickbar viel geschrieben worden. Wem eine Berufung wie diejenige al-öƯlƗnƯs zuteil wurde, der ist schon weit auf dem Wege zum Stellvertreter Allahs fortgeschritten und vermag für Augenblicke sein Ich abzustreifen und an der Stelle des Schöpfers die Fügung zu lenken. Was sollen ihm am Ende noch die Bücher, mit deren Stoff sich die Gelehrten abplagen? Der Weg zu diesem Erleben führt aber allein, das haben fast alle mit derartigem Erleben Begnadete betont, über das ernsthafte und mühevolle Studium eben dieser Bücher. Wenn al-

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öuwainƯ in tiefer Resignation zu erkennen glaubte, daß das äußerste Ziel der Erkenntnis, zu dem man den Verstand treiben könne, die Erkenntnis seiner Ohnmacht ist, so treffen wir hier, im Milieu der „Gottesfreunde“ oder der „Allah Nahestehenden“, wie man ihren Namen wörtlich wiedergeben kann, die Überzeugung, daß das Ziel des Studiums des Wissens in der Überwindung der Angewiesenheit auf das Wissen besteht. Nicht Resignation durchweht die zahllosen Belege dieser Religiosität der „Gottesfreunde“, sondern eine frappierende Erhöhung des Ichs, dessen Abstreifung einem die Charakterzüge Allahs eintragen soll. Kühn wie anderswo in der islamischen Kultur nirgends forderten die „Gottesfreunde“ die Sachwalter des Wissens heraus. Diese beschäftigten, wie es in einem geflügelten Wort hieß, sich mit der Rede Toter, die durch Tote verbürgt sei. ‘Abd al-QƗdirs Worte, wir hörten es, übermitteln das Lebendige, im Verborgenen Geschaute, wo der Prophet und ‘AlƯ nach wie vor für die Muslime wirken, von den Schriftgelehrten unbemerkt. Über Jahrhunderte zog sich die Polemik hin, ob die eine Seite oder die andere die wahre Hüterin der „besten Gemeinschaft“ sei, ein erbitterter Streit, der erstaunliche intellektuelle Leitungen hervorbrachte wie auch plumpste Verunglimpfungen. Die „Gottesfreunde“ stachen nicht selten die Gelehrten in der Gunst der Machthaber aus, denn der Blick in das Verborgene konnte auf vielfache Weise nützlich sein. Das Osmanische Reich schaffte es ab dem 15. Jahrhundert, beide Richtungen seinen Machtinteressen dienstbar zu machen. Die ersten Ansätze einer Überarbeitung des schariatischen Rechts, das bei zahllosen konkreten Fällen des Alltags je nach Schulrichtung ganz unterschiedliche Bewertungen nahelegte und daher für den gemeinen Mann zu einer schweren Bürde geworden war, verdanken sich „Gottesfreunden“, die im Verborgenen erkannt zu haben glaubten, wie man der von dieser Undurchschaubarkeit ausgehenden Heilsgefährdung entkommen konnte.

Schlußbemerkung Bis ins frühe 20. Jahrhundert war das Schauen der Gottesfreunde ein fester Bestandteil des islamischen Diskurses, und er wurde als vollkommen legitim aufgefaßt. Mit dem Eindringen westlicher Technik und mit der Aneignung der Methoden westlicher wissenschaftlicher Forschung wurde erneut die Frage laut, ob die auf der Interpretation der Texte des übergeschichtlichen Wissens fußende Formung der „besten Gemeinschaft“ je ihr Ziel erreichen werde. Noch schwieriger war im Lichte des westlichen Rationalismus freilich das Hineinspähen in den Seinsbereich des Verborgenen

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begreiflich zu machen. War nicht alles das, was die jenem spirituellen Erleben nachjagenden Bruderschaften betrieben, fauler Zauber? Daß dies so sei, wurde für zahllose Muslime, die mit dem Westen in Berührung gekommen waren, eine ausgemachte Sache. Und gerade die Verfechter der Textwissenschaft gaben und geben sich als begeisterte Anhänger der aus dem Westen in die islamischen Länder einströmenden in den Naturwissenschaften begründeten Weltsicht; für sie ist deren Rationalismus der „Beweis“ für die Wahrheit des eigenen im Auslegen der Texte praktizierten Rationalismus. Das Schauen geriet dementsprechend in Mißkredit und damit ein erheblicher Teil des über die Jahrhunderte angehäuften geistigen Erbes der Muslime; bis auf den heutigen Tag werden selbst Texteditionen einschlägiger Werke be- oder verhindert, und eine erstaunliche, vielleicht auch beklemmende Einschränkung der veröffentlichten geistigen Tätigkeit auf das Aufbereiten des überzeitlichen Wissens und auf das Edieren und Neuedieren der ihm seit mehr als einem Jahrtausend gewidmeten Handbücher hat um sich gegriffen. Neuerdings stehen sie auf CD-ROM zur Verfügung, und das hat ihre Handhabung nun in der Tat von allen mühsam zu erwerbenden Expertenkenntnissen unabhängig gemacht. Daß der Koran Allahs unverfälschtes, auf ewig verpflichtendes Wort sei und daß Mohammed zu allen vorstellbaren Lebenslagen eine normierende Äußerung getan habe, ist seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Stützpfeiler einer Ideologie geworden, deren Kernsatz lautet; „Der Islam ist die Lösung.“ Die Auswirkungen dieser Ideologie lassen sich in vielen Weltgegenden studieren, nicht zuletzt auch bei uns, wo sie eine fruchtbare Teilhabe der Muslime am öffentlichen Diskurs verhindert. Denn wie soll man mit jemandem ein offenes Gespräch über gemeinsam interessierende Probleme führen, der zu allem sagt: „Ich weiß schon, was richtig ist; denn Allah und sein Gesandter haben es mir mitgeteilt!“ Unsere bitteren Erfahrungen mit totalitären Gedankengebäuden, die auf alles eine vorgefertigte, von den zu verhandelnden Tatsachen gar nicht mehr berührte Antwort hatten, mußten wir im 20. Jahrhundert machen. Erst wenn die Wortführer der Muslime, die im Interesse der Islam-Ideologie in ihren Äußerungen nur auf einen schmalen Ausschnitt ihres Erbes Bezug nehmen, sich wieder dessen Mannigfaltigkeit eingestehen und damit die Geschichtlichkeit dessen, was sie für übergeschichtlich ausgeben, bejahen, werden sie geachtete – und nicht nur gefürchtete – Glieder in der Gemeinschaft der Kulturen der Welt geworden sein.

Die christliche Religion im Orient

Im Schatten von Schah und Kalif Christsein östlich der griechisch-römischen Welt MARTIN TAMCKE

1. Einleitung „Übergang zu einer sich immer mehr als christlich definierenden Gesellschaft des Imperium Romanum“, so erläutert der Hallenser Kirchenhistoriker Jörg Ulrich in seinem Klausurenkurs Kirchengeschichte in knappster Form für die Examenskandidaten der Theologie, was sich aus seiner Sicht mit einer der bedeutendsten Zäsuren der Kirchengeschichte verbindet.1 Der Weg des Christentums zur herrschenden Religion und zur Religion der Herrscher wirkt bis heute nach. Doch das Römische Reich war nicht der einzige Staat der Antike, in dem Christen zu Organisationsformen ihres Glaubens fanden. Zur selben Zeit bildeten sich auch die ersten kirchlichen Strukturen auf dem Boden des Persischen Reiches heraus.2 Hier entstand eine Kirche, die im Mittelalter ihrer geographischen Ausdehnung nach zur größten Kirche heranwuchs. Eine konstantinische Wende erlebte diese Kirche nie. Sie blieb von ihren Anfängen an bis heute stets Repräsentantin einer religiösen Minderheit in Gesellschaften und Staaten, deren Mehrheit sich zu anderen Religionen bekannte. Wo immer sie agierte, da stand sie in Konkurrenz zu anderen Weltreligionen. Früher als die übrige Christenheit hatte sich das Christentum, das vom Boden des Persischen Reiches seinen Ausgang nahm, im Miteinander und Gegeneinander der Religionen zu bewähren. Und nie konnte es sich zu seiner Durchsetzung auf den Arm eines Staates stützen, wiewohl es immer wieder einmal gelang, einen arabischen Herrscher oder einen türkischen oder mongolischen Khan zur Annahme des Christentums zu bewegen.

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ULRICH, J./HEIL, U., Klausurenkurs Kirchengeschichte, Göttingen 2002, 37. Überblick zur Geschichte der Kirche dort: B AUM, W./WINKLER, D.W., Die Apostolische Kirche des Ostens, Geschichte der sogenannten Nestorianer, Klagenfurt 2000; HAGE, W., Art. Nestorianische Kirche, TRE 24 (1994) 264 –276. 2

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2. Die Welt des Persischen Reiches ist nicht die des Imperium Romanum, und die Christen Persiens gleichen nicht denen Roms Nachdem das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion geworden war, mussten die Christen Persiens diesen Wechsel bezahlen mit Christenverfolgungen durch die sassanidischen Herrscher. Trotz der angespannten Lage etablierte sich im 4. Jahrhundert eine Kirchenleitung in der Hauptstadt Seleucia-Ctesiphon. Im Jahr 410 nahm eine Synode dort die Beschlüsse des Konzils von Nicäa an.3 Nicäa blieb das einzige Konzil, dass die Lehre dieser Kirche mit der der anderen Kirchen dieser Welt teilt. Dieses „teilt“ aber ist schon fast zu viel gesagt: Die Bischöfe stellten zwar Übereinstimmung mit den Beschlüssen von Nicäa fest, aber das Glaubensbekenntnis wurde in einer besonderen Form auf der Basis eines lokalen persischen Glaubensbekenntnisses der persischen Kultur angepasst. Damit stellte dieser Teil der Christenheit klar, dass die sogenannten „ökumenischen Synoden“ der Kirche auf dem Boden des Römischen Reiches zuletzt eben doch nur partikularen Charakter hatten und nicht den von weltumspannend die ganze Christenheit einbeziehenden Versammlungen, als welche sie gemeinhin bis heute gesehen werden.4 Ihre Gültigkeit reichte nur so weit, wie die staatliche Macht des Kaisers, die „Oikumene“ des Imperium Romanum reichte. Seither ging der in Persien und östlich davon beheimatete Teil der Christenheit seinen eigenen Weg. Schon im Jahr 424 wurde es untersagt, in Streitfragen mit dem Katholikos sich zur Vermittlung an die Kirche auf dem Boden des Römischen Reichs zu wenden.5 Ein Aspekt dieses Beschlusses war, dass die Kirche im Persischen Reich damit dem römisch-persischen Gegensatz ihren Tribut zollte. Zugleich galt der Katholikos der persischen Reichshauptstadt bereits in der Beschreibung seines Amtes auf der von ihm abgehaltenen Synode als Hohepriester, gleich Petrus dem Apostelfürsten. Dabei demonstrierten auch die Bischöfe zu Beginn in ihrer Ansprache an den Katholikos, dass ihm nicht weniger die kirchlich leitende Stellung zukam wie etwa seinem westlichsten Kollegen in Rom: „Da die Würde des Patriarchates diesem gesegneten Stuhl in der großen Kirche von Koke [d.i. die Reichshauptstadt Seleucia-Ctesiphon, M.T.] verliehen wurde durch die Zustim-

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BRAUN, O., Das Buch der Synhados oder Synodicon Orientale, Stuttgart/Wien 1900 (Neudruck Amsterdam: Philo Press 1975), 15–16. 4 B AUM, W./W INKLER, D.W., 19–22. 5 B AUM, W./W INKLER, D.W., 23–25. Andere Schlüsse als Winkler zieht HAGE, W., Die Kirche „des Ostens“: Kirchliche Selbstständigkeit und Kirchliche Gemeinschaft im fünften Jahrhundert, in: REININK, G.J./KLUGKIST, A.C. (Hg.), After Bardaisan, Studies on Continuity and Change in Syriac Christianity in Honour of H.J.W. Drijvers (Orientalia Lovanensia Analecta 89), Leuven 1999, 141–148.

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mung und Erlaubnis der Heiligen, Bekenner, der Häupter der Bischöfe [,] der Lehrer in ihren Werken, der Erprobten, der Märtyrer in ihren Leiden, der Gekrönten im Zeugnisse Christi ihres Herrn, bist du, o Herr Katholikos, in ihr aufgestellt und bestätigt worden als Vater, Haupt und Regent über die ganze Christenheit des Orients. Und von deinem Stuhl strömt die Gewalt über und teilt sich mit allen Bischofsstühlen nicht nur für dieses Reich, sondern auch für auswärtige Länder. Und siehe, sie strömt über und teilt sich ohne Unterbrechung und ihr Überströmen konnten die Befehle furchtbarer Könige nicht verhin6 dern, die Geißeln und Zerfleischungen grimmiger Machthaber blieben wirkungslos.“

Nicht nur gleich Petrus leitete also der Katholikos seine Kirche, ihn bezeugten in seiner Stellung auch alle bewährten Lehrer und Zeugen der Kirche. Die Feindschaft der nichtchristlichen Herrscher und die Verfolgungszeiten hinderten den missionarischen Expansionsdrang offenbar nicht. Der Zuständigkeitsbereich des Patriarchen umfasste die Christenheit des ganzen Orients. Noch heute heißen daher die Anhänger dieser Kirche in einigen syrischen Traditionen schlicht die „Orientalen“. Und gemeint ist damit die ganze, zu jener Zeit von Christen erreichte Welt östlich des Römischen Reichs, die schon damals weiter hinausreichte als nur bis an die Grenzen des Persischen Reichs gen Osten. So ging die Gewalt vom Sitz des Patriarchen nach dem Zeugnis der auf der Synode versammelten Bischöfe über die Grenzen des Sassanidenreiches hinaus in unbenannte „auswärtige Länder“, und wir wissen heute, dass zu diesen Ländern auch das ostsyrische Christentum auf der Arabischen Halbinsel gehörte. Monotheismus übrigens führte in dieser Kirche direkt zur Begründung der Amtsgewalt des Einen, der über die Anderen durch sein Amt erhoben war. Erst wo so die Einheit in dem Einen sich verkörperte, werde die Erfüllung vollkommen sein, „dass wie der Vater der Wahrheit einer ist, auch der Sohn einer ist, der Erlöser Christus, und sein lebendiger Geist einer ist, der Paraklet, so ist einer sein getreuer Schatzmeister Simon Bar Jona, der den Namen Kephas bekam und dem Christus versprach: ‚Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen‘ und ‚Dir werde ich die Schlüssel des Himmelreiches geben‘. Christus sagte nicht zu allen Jüngern: ‚Auf euch werde ich bauen‘ und ‚Euch werde ich geben‘. Und obwohl die Gnade des Priestertums bei allen Aposteln sich fand, so ist doch der eine Prinzipat, welcher die geistige Vaterschaft ist, nicht bei allen. Sondern wie dem einen wahren Gott, so kommt es auch dem einen getreuen Verwalter 7 zu, Haupt, Regent und Fürsorger für seine Brüder zu sein.“

Korrigiert wird diese einzigartige Stellung des Katholikos nur durch die jährlich stattfindenden Synoden, die zur Lösung der unter den Bischöfen auftretenden Schwierigkeiten einberufen werden sollten, gerade um zu verhindern, dass unzufriedene Bischöfe gegen ihren Katholikos sich zu Synoden zusammenfänden. Bis dahin müsse der einzelne Bischof sein Lei_______________ 6 7

BRAUN, Synhados, 47. BRAUN, Synhados, 52–53.

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den tragen, um dann seinen Katholikos als seinen Vater zu bitten, das Unrecht von ihm, seinem Sohn, zu nehmen. Die Bischöfe sollten sich eingedenk sein lassen, dass sie „ihre Hände nicht nach etwas ausstrecken dürfen, was ihnen von Gott und Menschen nicht gegeben“ sei.8 Die Stellung des Katholikos in Seleucia-Ctesiphon wurde von seiner Kirche also als ebenbürtig gesehen zu der seines Kollegen in Rom oder zu der des Patriarchen von Antiochia, dessen Stuhl ebenfalls als Cathedra Petri gilt. Solcher weiterer Stellvertreter Petri bedurfte es nach Ansicht der Kirche des Ostens nicht mehr. Und so sehr auch die kirchlichen Strukturen die religiösdogmatische Struktur wiederzuspiegeln bestimmt waren in ihrem auf Autorität zielenden Gehalt, so sehr blieben sie ausschließlich kirchliche Strukturen. Kein Kaiser wurde da gesehen als „Stellvertreter Christi auf Erden“, wie dies im Westen geschah, wo der Kaiser bald als der Purpurgeborene mit einem Hofzeremoniell umgeben war, das ihn eng mit der Religiosität verknüpfte, und dem man sich nur in der Haltung der Proskynese, der Anbetung, nähern durfte. Schon gar nicht gab es so etwas wie eine kaiserliche Synodalgewalt oder eine staatliche Durchsetzung des christlichen Bekenntnisses. Dem Anspruch der Kaiser der westlichen Weltmacht, Herr aller Christen zu sein, konnte kein ebensolcher eines ähnlich sich verstehenden Herrschers im Osten entgegengestellt werden. Die Unmöglichkeit, die fremdreligiösen Herrscher so für sich nutzen zu können, führte aber nicht zur Anerkennung des Anspruchs der Herrscher im Westen, sondern dazu, dass eine solche Möglichkeit in der ostsyrischen Theologie erst gar nicht entwickelt wurde. Sechzig Jahre später empfand man den die Grenze zum Westen zur Scheidung nutzenden Beschluss von 424 dann nicht mehr als ausreichend. Nun differenzierte man weitergehend. An den christologischen Streitigkeiten im griechischen Westen hatte der syrische Osten keinen Anteil genommen. Auf einer Synode im Jahr 484 beschlossen jedoch die Bischöfe dieser Kirche, eine Theologie verbindlich beizubehalten, die in den vorangegangenen Jahrzehnten im Römischen Reich verurteilt worden war. Es war die Lehre der Antiochener, die in der Person des Patriarchen Nestorios ihren herausragenden Vertreter im christologischen Streit dort gehabt hatte. Die Unterscheidung zur Kirche im Westen ging nun über die Dogmatik hinaus, und trotzig demonstrierte die Kirche des Ostens ihre Andersartigkeit: die Ehelosigkeit kirchlicher Würdenträger bis zum Patriarchen hinauf wurde verboten, das Mönchtum war nun unerwünscht. Nicht nur also in der Lehre wollte man von den Geschwistern im Westen zu unterscheiden sein, sondern auch im alltäglichen Leben und im äußeren Erscheinungs_______________ 8

BRAUN, Synhados, 53.

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bild.9 Aber der dogmatischen Festlegung der Kirche ist es zu verdanken, dass ihre Gläubigen im Westen kurzerhand als „Nestorianer“ bezeichnet wurden. Seit Jahrhunderten verwahren sich die Angehörigen der Kirche des Ostens gegen diese Bezeichnung. Bis heute betonen sie, dass sie niemals ihren dogmatischen Glauben gewechselt hätten. Nestorios sei nicht ihr Patriarch gewesen und sie verstünden nicht einmal seine Sprache. Nestorios sei ihnen, aber nicht sie Nestorios gefolgt.10 Mit ihm freilich seien dann hinsichtlich der Lehre auch sie verurteilt worden. Die Lehre selbst formulierte inhaltlich dann der über Jahrhunderte prägende Dogmatiker Babai der Große am Anfang des 7. Jahrhunderts, also kurz vor der islamischen Eroberung. Gott wohnt auf unendliche Weise unitive in seiner endlichen Menschheit wie die Sonne in der glänzenden Perle. Gottheit und Menschheit bewahren ihre Eigenschaften, doch sind sie unlösbarer eins, als die Griechen es sich mit ihrer Vorstellung von der hypostatischen Union dachten. Die den Streit im Westen bestimmenden Termini aber wurden bis ins vergangene Jahrhundert hinein von den westlichen Theologen in die syrischen Termini hineingesehen, statt die syrischen aus sich heraus zu verstehen, weil sie nicht den griechischen entsprechen. Das führte zu 1500 Jahren des Missverstehens, das bis heute nachwirkt. Manche Zuspitzungen dieser Reform vom Ende des 5. Jahrhunderts blieben nicht längerfristig erhalten. Am Ende des 6. Jahrhunderts saß dann sogar wieder ein Mönch auf dem Thron des Patriarchen in der iranischen Hauptstadt, und nicht nur das Mönchtum war vom Rand nun wieder ganz ins Zentrum der Kirche gerückt, sondern auch die Hierarchen waren in der Regel wieder unverheiratet.11 Von da an war diese Kirche über Jahrhunderte zutiefst geprägt vom Mönchtum, und besonders die Mönche Arabiens trugen zur geistigen Blüte der spirituellen Lehren in der Kirche des Ostens Entscheidendes bei. In all den Jahrhunderten der Herrschaft der Sassaniden gestaltete sich das Verhältnis der Christen zum Schah sehr verschieden. Zeiten der Verfolgung wechselten mit Zeiten ab, in denen Christen der zoroastrischen Staatsreligion gegenüber sich frei und ungestört entfalten konnten, ihre Mission auch unter den Zoroastriern erfolgreich betrieben und vom Schah gestützt wurden. Natürlich fehlte es nicht an Eingriffen des Schahs in die inneren Belange der Kirche, besonders bei den Wahlen zu den kirchenleitenden Ämtern. Wann immer ein Herrscher mit der Politik eines Kirchen_______________ 9

VÖÖBUS, A., Les messaliens et les reformes de Barcauma de Nisibe dans l’église perse (Contributions of the Baltic University 34), Pinneberg 1947; T AMCKE, M., Der Katholikos-Patriarch Sabriso‘ I. (596 –604) und das Mönchtum, Frankfurt 1988. 10 Vgl. B ADGER, G.P., The Nestorians and their Rituals, London 1852 (Nachdruck 1969), II, 400; T AMCKE, M., Art. Ebedjesus, Metzler Lexikon christlicher Denker, Stuttgart, Weimar 2000, 289–290. 11 T AMCKE, Sabriso‘ I., 24–26, 34–36, 52–55.

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oberhauptes nicht zufrieden war, konnte er sein Missfallen die Kirche spüren lassen, und mehr als einmal führte das dazu, dass der Stuhl des Patriarchen unbesetzt bleiben musste. So geschah es etwa auf Befehl Chosraus II. von 608 bis zum Tod des Schah-in-Schah im Jahr 628. Die Gefahr für die Kirche war so groß, dass die Bischöfe sich mit ihrem Wunsch nach einem neuen Kirchenoberhaupt dem Schah auslieferten: „Wir bitten eure Barmherzigkeit, dass wie eure Gnade sich gegen uns jederzeit überströmend zeigte, mehr als die aller früheren Könige und wie ihr auch, wenn es erforderlich war, ohne unser Bitten und nicht wegen unserer Würdigkeit, sondern wegen eurer Barmherzigkeit befahlt, dass wir ein Oberhaupt erhalten sollen, so auch jetzt, da wegen unserer Unwürdigkeit eure Fürsorge von uns genommen wurde, wir jetzt viele Jahre kein Oberhaupt haben und die Kirche dadurch großen Schaden leidet – wenn es euch in eurem gnädigen Willen gefällt, so möget ihr nicht auf unsere Unwürdigkeit sehen, sondern nach eurer gewohnten Barmherzigkeit uns ein Oberhaupt bestimmen. Und in jedem Fall neh12 men wir die Gnade eurer gepriesenen Majestät an.“

Das Gesuch der Bischöfe zeigt, dass das Fehlen eines christlichen Herrschers eben auch bedeutete, den Schwankungen großköniglicher Politik ausgeliefert zu sein. Es zeugt davon, wie schwer es war, im Iran die eigene kirchliche Integrität aufrecht zu erhalten, wenn der nichtchristliche Herrscher ihr sein Wohlwollen entzog. Die Eingriffe des Schah-in-Schah zogen oft auch theologische Konsequenzen nach sich. So beraumte Chosrau II. eine Religionsdisputation an zwischen einer mächtig werdenden Reformbewegung, die neuere Entwicklungen im griechischen Westen, den sogenannten Neochalcedonismus, aufnahm, und der auf ihrer ostsyrischen Sondertradition beharrenden Mehrheit.13 Natürlich verteidigten die Bischöfe ihr Bekenntnis der zwei ihre Eigenschaften bewahrenden Naturen und Hypostasen der Gottheit und Menschheit in der einen Person Christi. Der Schah-in-Schah selbst schaltete sich, glaubt man den syrischen Quellen, mit Fragen in die Diskussion ein, nachdem der leitende ostsyrische Theologe das Disputationszeugnis der Bischöfe ins Persische übersetzt hatte. Die Fragen des Schah-in-Schah nötigten die Bischöfe, noch ein patristisches Florilegium anzuhängen. Einen Meinungsumschwung des offenbar an theologischer Annäherung an die Byzantiner interessierten Herrschers aber, der im Begriff stand, sich das gesamte byzantinische Reich durch seine Eroberungszüge einzuverleiben, konnten sie nicht bewirken. Ob er wirklich ein Verständnis für die theologischen Fragen hatte, ist nicht ersichtlich. Er habe die Wahl des kirchlichen Oberhauptes schlicht mit dem Argument verweigert, dass eine Wahl solange ausgeschlossen sei, als die Kirche „den Namen des Nestori_______________ 12 13

BRAUN, Synhados, 315. BRAUN, Synhados, 307–315.

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os“ verkünde.14 Alle spätere christliche Berichterstattung zu diesen Auseinandersetzungen leidet daran, dass sie von vornherein tendenziös aus der Perspektive einer der am Streit beteiligten Parteien geschrieben wurde. Deutlich bleibt nur: Theologie konnte zum Gegenstand großköniglicher Religionspolitik werden und hatte sich dieser Herausforderung dann zu stellen. Es war in solchen Situationen unmöglich, dieser Politisierung der Theologie etwa durch Verinnerlichung zu entgehen.

3. Eine Legende charakterisiert die Geschichte mit Byzantinern und Muslimen Die Fülle dessen, was an Details zur Unterscheidung zwischen der Christenheit des Persischen Reiches und der des Römischen Reiches sich sagen ließe, fasst ein Text aus der ostsyrischen Tradition in eine schlichte narrative Form, die den inneren Nachvollzug dieses Unterschiedes auch dem einfachen Gläubigen ermöglichen sollte. Die Legende, deren früheste Gestalt aus der Mitte des 7. Jahrhundert stammt, schildert den Gegensatz zwischen den Ostsyrern und den Byzantinern.15 Das fromme Selbstbewusstsein des anonymen Verfassers der Legende, die vom Katholikos Sabrischo I. (596–604) handelt, steht repräsentativ für das seiner Kirche. Die Legende ruft zur Nachfolge. Es geht ihr nicht um Geschichte, sondern um Charakterisierung von und Umgang mit Geschichte. „Es schickte Maurikios, der König der Römer, zu Mar Sabrischo, dem Katholikos, einen Bischof“, so beginnt die Legende. Maurikios regierte im Oströmischen Reich von 582 bis 602. In seiner Zeit rückten die Erzfeinde, das Oströmische und das Persische Reich, näher zusammen. Als der Großkönig Chosrau II. (590–628) zu Beginn seiner Regierungszeit außer Landes gehen musste, floh er zu Maurikios. Der verhalf ihm zur Wiedergewinnung seines Thrones. In den Jahrhunderten des oft schwierigen Bei_______________ 14

HOFFMANN, G., Auszüge aus syrischen Akten persischer Märtyrer (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes VII, 3), Leipzig 1880 (Nachdruck 1966), 106. 15 Den Text der vatikanischen Handschrift bietet: GUIDI, I., Die Kirchengeschichte des Catholikos Sabhriso I., Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 40 (1886) 559–561. Hinzugezogen wurde zudem für den oben gebotenen Text die in Berlin befindliche Abschrift Ms. or. fol. 3120 (Berlin), Bl. 323; Ms. Berl. 60 (Sachau 132), Bl. 394 b. Zum Text insgesamt vgl. T AMCKE, M., Eine Legende zum konfessionellen Selbstverständnis der Nestorianer, Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft Suppl. VI (1985) 137–140; eine fortlaufende Übersetzung des Textes mit Interpretation bietet: DERS., „Alle Herrlichkeit der Königstochter ist innerlich“ – eine nestorianische Stimme zur christlichen Ästhetik, in: F ITTSCHEN, K./STAATS, R. (Hg.), Grundbegriffe christlicher Ästhetik (Göttinger Orientforschungen Syriaca 36), Wiesbaden 1997, 50–54.

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einanders der beiden Großmächte hatten Bischöfe beider Seiten diplomatische Dienste zu leisten. Der oströmische Bischof, der namenlos bleibt, weil er stellvertretend die Reichskirche verkörpert, wird ausdrücklich im Sinne ökumenischen Miteinanders als Christ anerkannt. Der Anonymus schildert ihn als „einen vortrefflichen Mann, der Gott fürchtete“. In dem Moment, als der Bischof zur Audienz beim Patriarchen erscheint, treffen nun die kirchlichen Wirklichkeiten der Oströmer und der Ostsyrer aufeinander. Dem Bischof, der die Abbildung himmlischer Schönheit auch in den Gewändern kirchlicher Hierarchen gewöhnt war, bot sich ein unerwarteter Anblick: „Und als er zu ihm hineinging, sah er ihn, während er auf einer Decke aus Ziegenhaar sich niedergelassen hatte und mit einem schlechten Rock und einer Kapuze auf seinem Kopf bekleidet war.“ Dieser Anblick befremdete den Oströmer. Er konnte ihn nicht mit seiner Erwartungshaltung vereinbaren. Fassungslos über das sein Empfinden für Schönheit verletzende Äußere des ihm gezeigten Mannes konnte er nicht anders, als dieses unerfreulichen Anblicks wegen die Stellung seines Gegenübers in Abrede zu stellen. „Und der Bischof sah ihn und glaubte ihn betreffend überhaupt nicht, dass er Katholikos sei.“ Für seine Vorstellungswelt ging ein solches Äußeres und ein solches Amt nicht überein. Das war nicht die Kleidung eines hohen Würdenträgers, das war die übliche Kleidung der ostsyrischen Asketen. Als ob sie den Kulturschock ihres oströmischen Kollegen bemerkt hätten, wandten sich ihm nun die versammelten kirchlichen Würdenträger hilfreich zu. „Es sprachen zu ihm die Versammelten: ‚Siehe, dieser ist der Patriarch‘.“ Der Bischof blieb befangen in seiner Vorstellungswelt. „Der Bischof aber war erstaunt und sagte: ‚Das ist der Patriarch?‘“ Der, dessen Stellung hier angezweifelt wurde, antwortete mit einer Ironisierung der byzantinischen Theologie der Schönheit im Rückgriff auf zwei Bibelverse: „Und der Katholikos stellte sich auf seine Füße und erheiterte sich und sagte zum Bischof: ‚Gesegnet sei, mein Herr, großer Bischof, der das Vorsteheramt ehrenvoll ausführt in ansehnlichen und weichen Kleidern. Nun, so ziemt es sich, dass wir zitieren, wenn ihr befehlt, dass die ganze Ehre der Königstochter äußerlich ist und jene, die Seidenstoffe anziehen, in der Kirche sind?‘“

Mit diesem rhetorischen Kunstgriff, der den westlichen Entwicklungsvorsprung in Frage stellte, war zugleich das Beieinander von Staat und Kirche in Byzanz getroffen. Im Modell der Symphonie (lat. harmonia) gingen die Byzantiner davon aus, dass sich Kaiserstaat und Kirche zum Wohle des Ganzen in Harmonie zueinander befinden müssten. So realisierte sich die Theologie der Schönheit auch im Kaiserkult. Dem Kaiser waren die Purpurfarbe und das Goldsiegel (Chrysobull) reserviert. Man näherte sich ihm in der Form der anbetenden Unterwerfung.

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Während der biblische Text zur Königstochter Psalm 45,14f keine Rückschlüsse zulässt darüber, ob deren Schönheit etwa innerlich gewesen sei – ihre Pracht voller Korallen, Edelsteinen, Gold und gestickten Gewändern ist schlicht eine Beschreibung äußerer Schönheit –, so lässt das Wort Matthäus 11,8 keinen Zweifel daran, dass anhand des ärmlichen Äußeren bei Johannes dem Täufer Jesus die Erwartungen der Menge korrigiert: die, die weiche Kleider tragen, gehören in den Palast der Könige. Zur völligen Verkehrung des Bibelwortes – die in Seidenstoffe Gekleideten befänden sich in der Kirche – bedurfte es keiner weiteren Erklärung. Mit dem biblischen Wort wurde hier ein Kernstück der byzantinischen Theologie kritisiert und die Welt der Pracht und Macht deutlich von der der Kirche geschieden. Die Ironie des Katholikos zeigte Wirkung. „Und als der Bischof jenes hörte, bereute er, und sein Gesicht wurde rot von Beschämung“. Die Offenheit des Bischofs für die Argumente des Katholikos, die sich in Beschämung und Reue offenbarte, bestätigte zugleich, was ihm bereits eingangs bescheinigt wurde: seine Vortrefflichkeit und Gottesfurcht. Er schlug nicht zurück. Er verstand und war betroffen. Nun erst war Begegnung möglich. Die Beiden begrüßten einander. „Und sie wünschten einander ‚Frieden‘“. Doch das Moment der Begegnung ging wieder verloren. Noch konnte der Bischof für sich vom Gefühl der Überlegenheit und des materiellen Vorsprungs ausgehen. Folgerichtig hoffte der Byzantiner, die Armseligkeit seines Gegenübers mit einem Akt der herablassenden Barmherzigkeit beheben zu können: „Ich will zufrieden stellen den Willen deiner Heiligkeit: Nicht ist schön, dass dieser ganz unansehnliche Rock das Schema des Patriarchen ist.“ Solche Kleidergeschenke waren im byzantinischen Kulturkreis üblich. Doch hier – in der Begegnung mit der gelebten Armut – verletzt solch ein Angebot ernsthaft den Lebensentwurf des Fremden. Armut war hier Ausdruck innerer Überzeugung. Sabrischo wies die sich am äußeren Amt festmachende Einstellung des Bischofs zurück. Wem so das Äußere vor dem Inneren geht, dem kann man nur den Boden unter den Füßen fortziehen, damit er wieder zu sich kommt. „Es antwortete der Katholikos und sprach zu ihm: ‚Lass mich, mein Herr; ich bin keineswegs Patriarch!‘“ Äußere Würden widerstanden dem erprobten Einsiedler. Seine Würde empfand er als von anderer Qualität. Und hier tritt nun – im Augenblick des unüberbrückbaren Gegensatzes zweier Lebensformen – der Legenden liebstes Kind hinzu, das geeignet sein mag, sich ausschließende kultur- und zivilisationsbedingte Gegensätze aufeinander zuzuführen: das Wunder. „Und sie brachten zu ihm einen Knaben, dem eine Versuchung widerfahren war. Und des Kindes Rede war stumm. Und der Katholikos bezeichnete es mit dem Kreuzeszeichen – mit seiner rechten Hand – und in dem Moment redete es deutlich.“ Das Wunder erweist den Glauben, der

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nicht Schein sondern Sein ist. Glaube wird erkennbar am Heil, das dem Handeln folgt. „Der Bischof aber war erschüttert und er war in Furcht und erhob seine Stimme und sprach zum Patriarchen: ‚Wahrhaftig, alle Herrlichkeit der Königstochter ist inwendig. Und jene, die Seidenstoffe anziehen, sind im Palast der Könige‘.“ Bibelwort und Lebenshaltung stehen nicht mehr im Widerspruch. Der Bischof hat sozusagen seine Lektion gelernt. Seine auf äußere Pracht gerichtete Wahrnehmung ist in der Begegnung von Mensch zu Mensch als Unrecht entlarvt, das dort entsteht, wo das Empfinden des Anderen aufgrund des eigenen Empfindens und der in der eigenen Kultur erworbenen Maßstäbe nicht wahrgenommen werden kann. Und so endet die Legende mit der Bitte des Bischofs an den Patriarchen, die ein ganz neues Verhältnis gegenseitigen Angewiesenseins offenbart als das des Gebers und Empfängers: „Vergib mir!“, bittet der Bischof der reichen Kirche den Katholikos der armen. Interessant ist die Legende nicht nur, weil sie im Rückblick das Verhältnis der Ostsyrer zu Byzanz beschreibt. Interessant ist die Legende besonders, weil sie bereits zur Zeit der muslimischen Herrschaft entstand. Mit der deutlichen Scheidung der Ostsyrer von den Byzantinern in der Legende konnte nun auch den Muslimen verdeutlicht werden, dass da ein gewichtiger Unterschied bestand zwischen Byzantinern und Ostsyrern, zwischen den Christen im Westen und den Christen im Orient. Zugleich aber konnten die Gläubigen ermutigt werden, vom gefährdeten äußeren Reichtum abzusehen. Innerlichkeit als Kompensation für unvermeidliche Verluste eignete sich, auch die neue Herrschaft der Araber zu überstehen. Vergeistigung als Mittel der Konfliktbewältigung wurde weithin von den Syrern im Gegenüber zu den Muslimen genutzt. Elija von Anbar (~870– 950) etwa lehrte, dass die Nachkommenschaft Abrahams gleichnishaft abgebildet werde durch Staub, Sand und Gestirne. Staub seien die Juden, Sand die Ismaeliten, gemeint sind die Muslime, und Gestirne seien die „Kinder der Höhe, die zu Christus gehören“.16 Die Höherbewertung christlicher Vergeistigung ist dabei unübersehbar gegenüber den irdischen Handgreiflichkeiten der Vorzüge der anderen Religionen. „Schwer sind Sand und Staub, und so sind die Völker des Fleisches; gepriesen sind die Sterne, die am Himmel sind, und so sind die Völker des Geistes.“17

_______________ 16

J UCKEL, A., Der Ktaba D-Durrasa (Ktaba d-Ma’Wata) des Elija von Anbar (Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium 559), Louvain 1996, 88. 17 JUCKEL, Elija von Anbar, 89.

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4. Die Not mit den Omajaden Konkret gestaltete sich dann das Verhältnis zu den Kalifen sehr unterschiedlich. In der Zeit der Omajaden lag das Machtzentrum, das in den Jahrhunderten des Beieinanders von Schah und Patriarch in der persischen Hauptstadt gewesen war, außerhalb des Kernbereichs der ostsyrischen Christen. Die Omajaden regierten im Westen von Damaskus aus das ihnen unterworfene Riesenreich. Doch die Kirche des Ostens blieb eine östliche Kirche und so waren die Omajaden für sie dann schlicht die „Westlichen“. In ihrem Bereich aber herrschten immer wieder Führer der Schia, und deren Kampf mit den sunnitischen Omajaden brachte auch die ostsyrische Kirche in Nöte und destabilisierte sie immer wieder von innen. Dies sei an einem Beispiel kurz gezeigt. Schon kurz nach seiner Inthronisation (685/6) sah sich so der Patriarch Henanischo einem erbitterten Widersacher aus den eigenen Reihen gegenüber. Der Metropolit von Nisibis, Johannan „der Aussätzige“ versuchte im Jahr 686, Henanischo mit Hilfe des omajadischen Statthalters im Irak vom Patriarchenstuhl zu vertreiben.18 Die Konstellation ist deutlich: auf der einen Seite steht der Metropolit der verhältnismäßig westlich und in Nähe zur omajadischen Zentralmacht gelegenen Stadt Nisibis, auf der anderen Seite steht der gewählte Patriarch Henanischo in der alten Metropole des Ostens. Der Zwist zwischen beiden rührte bereits aus der Wahl Henanischos her. Offenbar hatte sich Johannan Hoffnungen auf den Patriarchenstuhl gemacht. Die Wahl des gelehrten Widersachers erbitterte den übergangenen Metropoliten für die gesamte ihm verbleibende Lebenszeit.19 Während Johannan noch auf eine Koalition mit den Omajaden setzte, ermordete im selben Jahr 686 Mukhtar, der Führer der Schia, den omajadischen Gouverneur des Irak und erlangte die Herrschaft.20 Nun rüstete der Bruder des Ermordeten mit einer Armee zum Feldzug gegen den Mörder.21 Beim Auszug seiner Armee gegen Kufa nahm er den Metropoliten von _______________ 18

B ROCK, S.P., North Mesopotamia in the Late Seventh Century, Book XV of John Bar Penkaye’s Ris Melle (Jerusalem Studies in Arabic and Islam 9), FS M. Kister, Jerusalem 1987, 51–75, hier: 65. Vgl. YOUNG, W.G., Patriarch, Shah and Caliph, A study of the relationships of the Church of the East with the Sassaind Empire and the early Caliphates up to 820 A.D., Rawalpindi 1974, 103. Zu Johannan dem Aussätzigen vgl. F IEY, J.M., Nisibe, métropole syriaque orientale et ses suffragants des origines à nos jours (CSCO 388), Louvain 1977, 69–70 (27a. Jean de Dasen). Zum Ganzen auch: M ORONY, M.G., Iraq after the Muslim Conquest, Princeton 1984, 352–353. 19 G ISMONDI, H., Maris, Amri et Slibae de patriarchis nestorianorum, 1. Teil (Mari), Rom 1899, 63/56. Brock weist auf diese von Anfang an existierende Konkurrenz hin, BROCK, Mesopotamia, 65 Anm. j. Fiey und Young übergehen diese Nachricht. 20 YOUNG, Patriarch, 79. 21 YOUNG, Patriarch, 103.

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Nisibis, Johannan, mit sich.22 Für diese Unterstützung seines Feldzuges versprach er dem Metropoliten die Absetzung des Patriarchen Henanischo. Den würde er dann durch ihn, Johannan, ersetzen. Johannan habe aufgrund dieser Koalition sich schon im Besitz des Sieges über den Patriarchen geglaubt. Doch dann unterlagen die omajadischen, die „westlichen“ Truppen.23 Die Niederlage hatte für den Aspiranten auf den Patriarchenthron weit reichende Folgen, und er hatte Mühe, sein Leben zu retten.24 Allerdings wurde kurz darauf auch Mukhtar ermordet.25 Damit wendete sich das Blatt erneut. Nun wurde Henanischo, ein Jahr vor dem vollständigen Sieg des Kalifen Abdal-Malik (692) im Jahr 691 beim Sohn des Kalifen verklagt.26 Johannan der Aussätzige hatte einige Vornehme dazu anstiften können, dem Kalifensohn eine Anklageschrift zu überstellen.27 Inhalt der Anklage des Aspiranten war die Allianz, die Henanischo mit den antiomajadischen Kräften eingegangen sei. Johannan bot dem Kalifensohn Bestechungsgeld, um seiner Anschuldigung Nachdruck zu verleihen. Daraufhin wurde die Anklage dem Henanischo übermittelt und er seiner patriarchalen Insignien beraubt. Johannan wurde nun an seiner Stelle in SeleuciaCtesiphon installiert. Er hielt Henanischo einige Zeit im Gefängnis fest. Mit zwei Mann Begleitung wurde er schließlich auf den Weg ins Gebirge geschickt. Da er nach der Ersteigung der Bergeshöhen im Sterben zu liegen schien, wurde er von seinen Begleitern allein in einer Höhle zurückgelassen. Doch nahmen ihn Schäfer, die ihn nur noch schwach atmend fanden und denen er sich als der Katholikos offenbarte, mit in ihre Hütten und heilten ihn.28 Nach seiner Genesung zog er sich ins Jonas-Kloster bei Ninive/Mossul zurück.29 Der den Patriarchenthron usurpierende Johannan starb ohne Nachfolger 22 Monate nach seiner Einsetzung. Henanischo aber blieb nichtsdestotrotz in seinem Exil im Jonas-Kloster. Er starb in diesem Kloster im Jahr 700 an der Pest.30 _______________ 22

BROCK, Mesopotamia, 65. SUERMANN, H., Das arabische Reich in der Weltgeschichte des Johannan bar Penkaye, in: Nubia et Oriens Christianus, FS C. Detlef G. Müller, Köln 1988, 59–71, hier: 65. 24 BROCK, Mesopotamia, 66. 25 YOUNG, Patriarch, 103; SUERMANN, Reich, 66. 26 Vgl. YOUNG, Patriarch, 103. 27 Fälschlicherweise übergeht Young die Mittelsmänner des Johannan des Aussätzigen. Stattdessen sieht er Johannan direkt als den Ankläger (“John ‘the Leper’ his accuser”), Y OUNG, Patriarch, 103. 28 GISMONDI, Mari, 56. 29 F IEY, Assyrie, 500 (mit der abweichenden Angabe 701 als Todesdatum Henanischos). 30 G ISMONDI, H., Maris, Amri et Slibae de patriarchis nestorianorum, 2. Teil (Amri), Rom 1896 und 1897, 56/32; D ERS., Mari, 178b–180a/55–57. 23

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Ähnliche Vorgänge wiederholten sich in den folgenden Jahrhunderten, und sie zeigen, wie schwierig es für die Patriarchen war, sich im Kräftespiel der innermuslimischen Gegensätze zu behaupten, wenn innerkirchliche Opposition sich dadurch durchzusetzen suchte, dass sie sich den muslimischen Machthabern antrug. Henanischo verfasste einen Evangelienkommentar und setzte sich darin auch mit der Botschaft der Muslime auseinander, indem er beispielsweise vehement zurückwies, dass Jesus nur ein Prophet gewesen sei. Schon in seiner Zeit als Lehrer der Exegese, der sich intensiv auch mit Aristoteles beschäftigte, hatte er zu polemischen Ausdrücken bei der Bezeichnung der Muslime gegriffen, denen er an zentralen Punkten unterstellte, sie würden schlichtweg nur faseln. Auch die direkte Konfrontation mit dem Kalifen Abdal-Malik vermied er nach den Berichten der christlich-arabischen Chroniken nicht.31 Da wird berichtet, der Patriarch sei zur Ankunft des Kalifen im Lande Senaar erschienen zwecks der üblichen Begrüßung. Bei dieser Gelegenheit nun habe der Kalif die Frage an ihn gerichtet, was er hinsichtlich der Religion der Araber herausgefunden habe. Der Patriarch habe schlagfertig geantwortet, dass behauptet werde, das Reich des Kalifen sei durch das Schwert entstanden. Der Glaube hingegen werde durch göttliche Wunder gestärkt, meinte er. So sei das auch schon im christlichen und jüdischen Glauben der Fall. Damit unterschied Henanischo im Blick auf die muslimische Herrschaft zwischen deren weltlicher Macht und der inneren Macht des Glaubens, trennte also die Ausbreitung mit Gewalt von der Religiosität. Der Kalif reagierte mit dem Befehl, dem Patriarchen die Zunge herauszuschneiden. Aufgrund von Fürbitten wandelte er dies Urteil dahingehend um, dass er den Patriarchen für alle Zeiten aus seiner Umgebung verbannte.

5. Das neue, alte Weltbild Im Weltbild der ostsyrischen Christen begann der Westen nach wie vor dort, wo einst die Grenze des Römischen Reiches war. Syrien gehörte für sie zum Westen. Für den Historiker Johannan bar Penkaye (2. Hälfte 7. Jahrhundert) war dabei der Kampf der Schia gegen die Omajaden ein Akt der Gnade Gottes für die Christen und eine Strafe für die Gewaltätigkeiten der arabischen Eroberer. 32 Für ihn ist die Zeit der heidnischen Herrscher _______________ 31

GISMONDI, Mari, 63/56, vgl. FIEY, Assyrie, 499. M INGANA, A., Sources syriaques 1, Mosul 1908, 145–146.174–175, vgl. SUERMANN, Reich, 68–69. Zur theologischen Interpretation des Werkes vgl. REININK, G.J., Paideia: God’s Design in World History According to the East Syrian Monk John Bar Penkaye, in: K OOPER, E. (Hg.), The Medieval Chronicle II: proceedings of the 2nd Inter32

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die Blütezeit der Kirche gewesen, weil da allezeit die Gefahr der Verfolgung bestanden habe.33 Erst mit der Christianisierung des Imperium Romanum habe die Untugend Einzug in die Kirche gehalten, und die Sicherheit und der Friede hätten zu vielen Übeln geführt. Die Christen Persiens aber seien durch die sie stets bedrohenden Verfolgungen bewahrt worden. Da Gott aber keine Mittel mehr gesehen habe, die dogmatischen Zerwürfnisse und die Zerrissenheit der Kirche zu heilen, da habe er zu ihrem Heil die Araber geschickt. Der Islam stehe in der Tradition des Alten Gesetzes und respektiere das Christentum und besonders seine Mönche.34 Nichtchristliche Herrschaft sei an sich kein Übel. Nur wenn das Christentum Zeiten der Toleranz und des Wohlstandes erlebe, erliege es der Laxheit und Verweltlichung. Da verstünden dann selbst Bischöfe nur noch, dass sie Menschen seien und Menschen regierten. So beantworteten Christen das von Gott kommende Gute mit dem Bösen. Intoleranz der Herrschenden und Verfolgung aber seien in gewisser Weise notwendig, damit die Christen ihre Identität behalten könnten. Johannan bar Penkaye, der diese Gedanken entwickelte, weist in seinem Geschichtsbild Ähnlichkeiten zur späteren Literatur der Schia auf. Er war einer der großen Ideologen des Ost-WestGegensatzes aufgrund der alten Strukturen in den neuen Machtkonstellationen, und seine Geschichtsphilosophie fügt sich nahtlos ein in das Beharren der sich auf die neue Situation einstellenden Patriarchen nach dem Untergang des Sassanidenreiches, die an den mit dem untergegangenen Reich verbundenen Vorstellungen festhielten und damit ein Verbindungsstück darstellten zwischen dem untergegangenen Reich der Sassaniden und dem 749 etablierten Reich der Abbasiden, das in mancher Hinsicht die Nachfolge des alten Sassanidenreiches antrat.

6. Unter den Abbasiden Unter der Herrschaft der Abbasiden trat dann die Kirche, die sich heute offiziell die „Apostolische Assyrische Kirche des Ostens“ nennt, in die Phase ihrer Blüte ein. Schon 635 war sie offiziell in China zugelassen ______________________________________________________________________________________________

national Conference on the Medieval Chronicle, Amsterdam 2002, 191–198; BRUNS, P., Das arabische Reich in der Weltgeschichte des Johannan bar Penkaje, in: Oriens Christianus 87 (2003), 47–64. Zum Text: KAUFHOLD, H., Anmerkungen zur Textüberlieferung der Chronik des Johannes bar Penkaye, in: Oriens Christianus 87 (2003), 65–79; SCHER, A., Notice sur la vie et les oeuvres de Yohannan bar Penkaye, Journal Asiatique 10/10 (1907) 162–165; B AUMSTARK, A., Eine syrische Weltgeschichte des siebten Jahrhunderts, Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 15 (1901) 273–280. 33 MINGANA, Sources, 143–144.172, 144.173; SUERMANN, Reich, 67. 34 MINGANA, Sources, 141.147.175; SUERMANN, Reich, 69.

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worden durch ein Edikt des Kaisers Tai-Tsung, und längst schon war sie in Indien heimisch, wo ihre Nachfahren bis heute für sich in Anspruch nehmen, direkt aus der Mission des Apostels Thomas hervorgegangen zu sein.35 Lediglich auf der Arabischen Halbinsel selbst schrumpfte die Kirche mehr und mehr unter dem Druck der muslimischen Mehrheit dahin. Besonders beachtlich waren die Erfolge der systematischen Mission seit dem 8. Jahrhundert in Zentralasien, wo ganze Türkstämme und Stämme der Mongolen sich ihr anschlossen.36 Es war das besondere Kennzeichen dieser Mission der Kirche des Ostens, dass sich das Christentum hier nicht wie sonst mit politischen Absichten verbreitete, sondern eine Sache ausschließlich der Kirche selbst war. Keine Macht instrumentalisierte diese Mission für ihre Zwecke, und nirgends konnte diese Mission auf eine politische Kraft zurückgreifen, die ihr den Rücken zu stärken vermocht hätte. In die neu gegründete Hauptstadt Bagdad zog auch der KatholikosPatriarch der Kirche des Ostens, Timotheos (reg. 780–823), um.37 Damit befand er sich direkt in der Nähe zur Macht, in direktem Kontakt zum Kalifen. Dem Westen gegenüber ließ er keinen Zweifel daran, dass sich in ihm die rechtgläubige Tradition des Christentums verkörpere: „Bei uns selbst blieb das Wort der Orthodoxie richtig und unverändert, und niemals gab es einen Opponenten gegen unser Bekenntnis, der etwas hinzugefügt oder an der Perle der Wahrheit gemindert hätte, die die heiligen Apostel in diesem Teil des Ostens überliefert haben. Bei euch aber regierten christliche Herrscher; und welcher Position die Meinungen der Herrscher zuneigten, derjenigen der Häretiker oder der Orthodoxen, dahin brachten sie die Priester wie die Gläubigen. Deswegen gab es also Hinzufügungen und auch Abstriche im Bekenntnis bei euch. Das nämlich, was Konstantin der Große bekräftigt hatte, löste und entfernte Konstantius; und das, was dieser bekräftigt hatte, löste und 38 verwarf der, der nach ihm kam.“

Fraglos nutzte hier der Katholikos-Patriarch an der Wende zum 9. Jahrhundert die Harmonie von Staat und Kirche im Westen als Argument für _______________ 35

HERMES, K., „Countdown to 1999“, Die Synode von Diamper (1599) im Spiegel der verschiedenen Kirchen der südindischen Thomaschristenheit, in: T AMCKE, M./ SCHWAIGERT, W./SCHLARB, E., Syrisches Christentum weltweit. Studien zur syrischen Kirchengeschichte, FS Wolfgang Hage (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 1), Münster 1995, 325 –340. 36 HAGE, W., Der Weg nach Asien, Die ostsyrische Missionskirche, in: SCHÄFERDIEK, K., Kirchengeschichte als Missionsgeschichte II/1, München 1978, 360–393. 37 Vgl. B AUMSTARK, A., Geschichte der syrischen Literatur, mit Auschluß der christlich-palästinensischen Texte, Bonn 1922, §34b, 217–218. 38 Zitiert nach der Neuübersetzung von H AGE, W., Kalifenthron und Patriarchenstuhl. Zum Verhältnis von Staat und Kirche im Mittelalter, in: BREUL-KUNKEL, W./VOGEL, L., Rezeption und Reform. FS Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte Band 5), Darmstadt–Kassel 2001, 3–17.

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die eigene Rechtgläubigkeit und zugleich für die Zweifel an der Rechtgläubigkeit der Kirche im Römischen Reich. Doch nicht nur die Vermischung von Politik und Religion im Westen weiß Timotheos für seine Position zu nutzen. Das kirchliche Selbstverständnis des Patriarchen speiste sich aus einer biblischen Begründung. Diese Begründung führte ihn direkt dazu, den Anspruch zu erheben, noch vor Rom den ersten Rang unter den Patriarchaten zu beanspruchen. Für die westlichen Patriarchate dürfte der Anspruch des persischen Patriarchates abstrus gewirkt haben. Für sie gab es nur die Patriarchate auf dem Boden des Römischen Reiches. Seit Mitte des 5. Jahrhunderts waren das fünf, nachdem man noch Jerusalem als letzte diesen Ranges aufgenommen hatte. Die Begründung des Vorrangs von Seleucia-Ctesiphon seitens des Bagdader Patriarchen wirkt reichlich weit hergeholt, ist aber doch erfüllt von dessen kulturellen, religiösen und historischen Selbstverständnis in den persischen Traditionen und scheut auch den Rückgriff aus die mythischen Paradiesströme nicht. „Wenn es so ist, dass Christus nach dem Fleisch aus David hervorging, David aber Nachkomme Abrahams ist, Abraham aber von uns Leuten des Ostens und aus dem Osten herkommt, dann ist es also klar und offenkundig, dass Christus nach dem Fleisch aus dem Osten und von den Leuten des Ostens stammt. Damit offenbarte sich und entsprang also die Lebensquelle des Christentums von den Leuten des Ostens her, und von uns aus verteilte sie sich auf jene vier Hauptströme [damit meint Timotheos die vier alten Patriarchate Rom, Alexandria, Antiochia und Konstantinopel ohne den „Nachzügler“ Jerusalem, M.T.], die das ganze Paradies der katholischen Kirche mit dem göttlichen und geistlichen Trank des Himmelreiches tränken. Und wie Vorrang und Priorität an erster Stelle doch jener Quelle zugesprochen wird, die aus Eden zur Bewässerung des Paradieses entsprang, danach erst auch den vier Hauptströmen, die sich aus ihr heraus teilen, jenen, aus denen buchstäblich die ganze Welt trinkt – so ist auch unserem östlichen Thron, von dem zuerst die Quelle des Lebens – meine ich – und der Erlösung sichtlich entsprang, der erste und vornehmste Rang zuzuerkennen; jenen vier anderen aber, aus denen die ganze Welt den geistlichen Trank trinkt, ist der zweite und der folgende Rang zuzuweisen. Denn wenn Rom wegen des Apostels Petrus der erste und vornehmste Rang zuerkannt 39 wird, um wie viel mehr dann – wegen des Petrus Herrn – Seleucia-Ctesiphon.“

Zwar residierte der Patriarch nun in Bagdad, aber er nahm für sich weiterhin die Würde des ca. 30 Kilometer entfernten Patriarchensitzes in der sassanidischen Reichshauptstadt in Anspruch und war dort auch noch geweiht und inthronisiert worden wie alle seine weiteren Nachfolger auch.40 Auch als der Patriarch in der neuen Hauptstadt Bagdad blieb der Patriarch der von Seleucia-Ctesiphon. Der Wechsel der Residenz war nur aus praktischen Gründen notwendig, und späterhin sollte der Sitz noch des Öfteren von einem Ort zum andern wandern, nach Mossul und Kotschannes etwa oder Teheran, ehe er heute einerseits in den USA in Chicago und anderer_______________ 39 40

HAGE, Kalifenthron, 15. HAGE, Kalifenthron, 14–16.

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seits nun wieder auch in Bagdad etabliert wurde. Solche Wechsel hatten oft mit den Vorgängen in der muslimischen Mehrheitsgesellschaft zu tun. Aus dem Irak war der Patriach Simeon XXI. (reg. 1920–1975) infolge der Verfolgungen der Assyrer in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgebürgert worden und Bagdad war damit als Sitz verloren. Aus Teheran musste sein Nachfolger Dinkha IV. weichen angesichts der Revolution Chomeinis. Beide fanden eine Heimstatt in Amerika. Die Tatsache, dass diese Kirche nie Staatskirche wurde, prägte ihr Selbstbewusstsein. „Bei uns selbst aber gab es niemals einen christlichen Herrscher, sondern zunächst die Magier [damit ist die zoroastrische Religion des Sassanidenreiches gemeint, M.T.] für etwas mehr als vierhundert Jahre, danach die Muslime. Und weder die ersteren noch die anderen waren darum bemüht, etwas hinzuzufügen oder zu mindern am Bekenntnis des Christentums. Sie zeigten vielmehr großen Eifer, unser Bekenntnis gänzlich auszurotten, außer jenen gesegneten Herrschern der Muslime, die in Sachen des Glaubens niemals irgendeinen Zwang ausübten. Das also, was uns die heiligen Apostel überliefert haben, blieb bei uns unverändert bewahrt, unerschüttert von Anfang an, und ohne dass es geän41 dert wurde.“

Der Patriarch Timotheos fasste hier – politisch geschickt – die sassanidischen Herrscher sämtlich als Verfolger auf, was historisch natürlich nicht ganz korrekt ist, sondern lediglich für die größere Mehrheit dieser Herrscher gelten dürfte. Im Gegenzug unterscheidet er verfolgende und tolerante Herrscher auf der Seite der Muslime. Die Gotteslehre der Christen war zu dieser Zeit herausgefordert wie selten zuvor. Der Einfluss muslimischen Denkens machte sich überall bemerkbar und verwirrte die Gläubigen. So wies eine Gruppe die traditionelle Gotteslehre der Kirche des Ostens zugunsten eines Monotheismus zurück, der Muslimen weniger anstößig erscheinen musste und weigerte sich, in der Liturgie den trinitarischen Lobpreis nach den Psalmgebeten zu singen. „Wir brauchen dort den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes nicht auszusprechen. Es reicht, wenn wir nur den einen Gott erwähnen, weil uns die Kenntnis der Hypostasen und der Eigenschaften, das heißt der Zeugung, des Gezeugtseins und des Ausgangs fehlt. Wir bekennen nur den einzigen Gott, der unbegreiflich ist und auf den 42 die Begriffe der Zeugung und des Gezeugtseins nicht angewendet werden können.“

Der an der griechischen Philosophie geschulte Patriarch stellte sich nicht nur diesen Diskussionen in der Folge des islamischen Einflusses, er engagierte sich auch im direkten interreligiösen Dialog mit den Muslimen. Als _______________ 41

HAGE, Kalifenthron, 17. Das Zitat aus dem 3. Traktat, Kapitel 3, Seite 215 der anonymen Liturgieerklärung aus dem 9. Jahrhundert wird hier wiedergegeben nach der Übersetzung bei EMLEK, I., Mysterienfeier der Ostsyrischen Kirche im 9. Jahrhundert, Münster 2004, 38. 42

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persönlicher Freund der Kalifen al-Mahdi (reg. 775–785) und Harun arRaschid (reg. 786–809) hatte er immer wieder längere Unterhaltungen mit beiden, doch auch ein gelehrter Mutazelit gehörte zu seinen Gesprächspartnern. In einem Gesprächsprotokoll zu einer Unterredung mit dem Kalifen Harun ar-Raschid steht jene Episode, deren Schluss sich freilich wohl nur als christliche Interpretation verstehen lässt: „Eines Tages, gegen Ende einer Sitzung, sagte der Kalif zu ihm: ‚Vater der Christen, antworte mir auf das, was ich dich fragen will, in knappen Worten: Welche Religion ist vor Gott im Recht?‘ Da sagte der zu ihm kurz: ‚Diejenige, deren Gesetze und Gebote dem Handeln Gottes an seinen Geschöpfen entsprechen‘. Da ließ der Kalif von ihm ab. Als Timotheos sich aber von der Sitzung entfernt hatte, sagte Harun ar-Raschid: ‚Wie gescheit er ist! Hätte er gesagt ‚das Christentum‘, hätte ich ihn bestraft – und hätte er gesagt ‚der Islam‘, so hätte ich von ihm verlangt, zu ihm überzutreten. Aber er gab eine umfassende Antwort, gegen die nichts einzuwenden ist; er hielt seine Religion in seinem Herzen verborgen, dem entsprechend, was bei ihnen im Evangelium steht: ‚Liebet eure Feinde und segnet, die euch fluchen, und tut Gutes denen, die euch Böses tun, und werdet Nachahmer eures Vaters, der im Himmel ist, der seinen Regen schickt über die Guten 43 und die Bösen und seine Sonne aufgehen lässt über den Frommen und den Sündern.‘“

7. Ausblick Als im 13. Jahrhundert die Mongolen Bagdad eroberten (1258) und das Reich der Abbasiden beseitigten, da gehörten die Angehörigen der Kirche des Ostens noch einmal zu den Gewinnern der politischen Wende. Symbolträchtig zog der Patriarch der Kirche in den Palast der Kalifen ein, der ihm vom Mongolenherrscher als Residenz überlassen worden war. Von 1281 bis 1317 stand dann der Kirche gar ein Mongole als Patriarch vor, der vor Antritt seiner Reise gen Westen Mönch in der Nähe von Peking gewesen war. In der Mitte des 14. Jahrhunderts begann der Niedergang dieser Kirche, nachdem bereits am Ende des 13. Jahrhunderts die Mongolen nicht – wie erhofft – das Christentum, sondern – wie befürchtet – den Islam angenommen hatten. Heute ist das Kernland dieser Kirche der Irak. Dort sind sie zurzeit wieder einmal der Sündenbock für die Feindschaft zum Westen. Die Bombenattentate auf ihre Kirchen und Schulen sollen den Eindruck hervorrufen, dass hier Christentum und Islam einander bekämpfen. Die Position der assyrischen Christen des Iraks und ihr Gewicht in der irakischen Gesellschaft als Vertreter einer religiösen Gruppe, die hier schon lange vor der islamischen Herrschaft ansässig war, wird dadurch schwieriger. Sie werden quasi „ausgebürgert“ wie einst in den Zeiten der anti_______________ 43

HAGE, Kalifenthron, 11.

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assyrischen Pogrome in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Assyrer schon einmal grausam verfolgt wurden und ihr Patriarch, der sich Hilfe suchend an Völkerbund und westliche Botschaften gewandt hatte, als sichtbares Signal des Irak an die übrige Welt kurzerhand ausgebürgert wurde. Und schon diesem Geschehen war die weitgehende Vernichtung des assyrischen Volkes im Ersten Weltkrieg vorausgegangen – unter den letzten Herrschern, die den Titel eines Kalifen trugen.

Zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühl Christsein im Haus des Islam MARTIN TAMCKE

1. Einleitung In wenigen Jahrzehnten des 7. Jahrhunderts eroberten die Araber die alten Stätten der Christenheit. Hier lag die Wiege des christlichen Mönchtums in Ägypten, Syrien und Palästina, hier wuchsen die großen Schulen theologischen Denkens in Alexandria und Antiochia heran, hier, wo heute der Muezzin zum Gebet ruft, befand sich im heutigen Tunesien die Heimat Augustins. Selbst die Stätten in Jerusalem, die sich wie keine anderen mit dem Leiden und Sterben Jesu Christi verbanden, waren nun in muslimischer Hand. Die Sieger zwangen nach der Eroberung den Besiegten nicht ihre Religion auf. Es dauerte oft Jahrhunderte, ehe das Christentum dort begriff, daß die Niederlage eine endgültige war und jede Hoffnung auf eine gleichberechtigte Koexistenz oder gar auf eine Restitution der christlichen Herrschaft sich als Illusion erwies. Die Niederlage sollte sich auch über die Jahrhunderte der politischen Dominanz des Westens hinweg als endgültig erweisen. Wenn auch in Modifikationen, so mußte doch das Christentum dort lernen, den Rahmen der islamischen Welt als den für das eigene Überleben allein maßgeblichen zu akzeptieren. Der Weg, auf dem sich das Christentum auf den immer dominanter werdenden Islam einstellte und dem immer stärkeren Druck zur Konversion zum Islam zu widerstehen suchte, führte zuletzt in die Massenabwanderung der orientalischen Christen in unserer Zeit, in der Christen weniger denn je ihre Zukunft in der muslimisch-orientalischen Welt und deren politischen Systemen sehen können. Selbst Länder, in denen sie zeitweilig mit den Muslimen vor dem Gesetz gleichgestellt waren, degradieren nun wieder die Christen zu Menschen zweiter Klasse in muslimisch bestimmten Staats- und Gesellschaftsstrukturen. Die Stellung der orientalischen Christen läßt sich nur verstehen aufgrund der Rahmenbedingungen, die ihnen fortan gesetzt waren.

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2. Schutzverträge Eine Vielzahl von so genannten Schutzverträgen bildete bereits seit dem 7. Jahrhundert den rechtlichen Rahmen für die Fortexistenz des Christentums in der arabisch-islamischen Welt. Die Deutung der Schutzverträge ist bis heute strittig. Sie hätten zur Abgrenzung der Muslime von den Christen gedient, die in den eroberten Ländern – Ägypten, Syrien, Palästina – noch lange die Mehrheit stellten. Oder, so eine andere Meinung, sie beinhalteten den Aufruf zur Konversion vom Christentum zum Islam.1 Im Zusammenleben mit den Muslimen sollten die Christen von den Vorzügen des islamischen Glaubens und Gesetzes überzeugt werden. Andererseits wurde schon früh ein Widerspruch zwischen der universalen Mission des Islam und diesen Schutzverträgen empfunden. Wie auch immer: Die Verträge, die etwa mit der christlichen Bevölkerung Nadjrans – einer christlichen Herrschaft auf der Arabischen Halbinsel – oder mit dem Taglib-Stamm in Nordmesopotamien und den Mardaiten bei Antiochien, mit der lahmidischen Metropole Hira, mit den syrischen Metropolen Raqqa, Edessa, Damaskus, Baalbek und Emesa abgeschlossen wurden, aber auch mit Jerusalem, Dwin, Armenien, Ägypten und Nubien, regelten die Grundlinien des Miteinanders von Christen und Muslimen. Sie ließen viel Spielraum für die alltägliche Gestaltung. Das zentrale literarische Dokument ist das sogenannte UmarAbkommen, von dem sich mehrere, zumeist kurze Versionen erhalten haben. Der ausführlichste Text beruft sich für seine Überlieferungsvariante auf einen 687 gestorbenen Autor. Die Christen hätten da dem Kalifen Umar nach der Eroberung Syriens einen Brief geschrieben, in dem sie ihn um die Garantie ihrer Sicherheit baten. Dafür verpflichteten sie sich, keine _______________ 1

Grundlegende Literatur zu den Schutzverträgen: T RITTON, A.S., The Caliphs and their Non-Muslim Subjects, London 1930, London 21970; DERS., Non-Muslim subject of the Muslim State, Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland (1942) 36–40; KHOURY, A.T., Das Problem der religiösen Minderheiten im Islam, in: SCHWARDTLÄNDER, J., Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz 1993, 380–384; FATTAL, A., Le statut légal des nonmusulmans en pays d’Islam, Beirut 1958; NAGEL, T./P UIN, G.-R./SPULER, C.-U./ SCHMUCKER, W./NOTH, A., Studien zum Minderheitenproblem im Islam 1 (Bonner Orientalistische Studien 27/1), Bonn 1973; B INSWANGER, K., Untersuchungen zum Status der Nichtmuslime im Osmanischen Reich des 16. Jahrhunderts. Mit einer Neudefintion des Begriffs „Dimma“ (Beiträge zur Kenntnis Südosteuropas und des Nahen Orients 23), München 1977; NOTH, A., Abgrenzungsprobleme zwischen Muslimen und NichtMuslimen. Die „Bedingungen Umars“ unter einem anderen Aspekt gelesen, Journal of the Royal Society of Antiquaries of Ireland 9 (1987) 290–315; KHOURY, A.T., Christen unterm Halbmond. Religiöse Minderheiten unter der Herrschaft des Islam, Freiburg 1994.

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Kirchen, Klöster oder Einsiedeleien zu bauen, baufällige Gebäude von Christen in muslimischen Vierteln nicht zu restaurieren, Muslime jederzeit zu beherbergen, keinen Spionen Asyl zu gewähren, den Muslimen nichts zu verheimlichen, was ihnen schaden könnte, den christlichen Kindern nicht den Koran zu lehren, Kulthandlungen nicht öffentlich zu zeigen, den Übertritt zum Islam nicht zu behindern, auf Sattel und Waffen zu verzichten, besondere Kleidung zu ihrer Kennzeichnung zu tragen, keinen Alkohol zu verkaufen und kein lautes Glockengeläut ertönen zu lassen. Der Brief wirft viele Fragen auf. Ist es nicht unwahrscheinlich, daß Christen sich selbst eine solch demütigende Regelung auferlegten? Da keine konkreten Orte genannt werden, auch keine Stämme, wurde gemutmaßt, es handele sich um ein Muster für die Abkommen zwischen den Muslimen und ihren christlichen Schutzbefohlenen, das die wichtigsten Bestimmungen zusammenfaßt und für das auf die Autorität Umars zurückgegriffen wurde, um es zu einer Grundlage für die Rechtsprechung machen zu können. Allerdings weisen nur wenige Varianten dieses Textes die demütigendste Belastung für die Christen aus: die Abgaben. Keiner der anderen uns bekannten Verträge beinhaltet so viele erniedrigende Bestimmungen wie dieser. Wieder gehen die Lösungsvorschläge für die Erklärung des Charakters dieses Abkommens in der Wissenschaft weit auseinander. Es sei ein Muster, das im 9. Jahrhundert als Schulübung für Rechtsgelehrte entstanden sei, meinten die einen (Tritton). Nein, der Vertrag sei dem Kalifen Umar II. (717–720) zuzuweisen, der für seine strengen Maßnahmen gegen die Christen bekannt sei, meinten die anderen (Fattal). Sachlich hätten dessen Maßnahmen zumindest vorbildhaft dem Text vor Augen gestanden. Die christlichen Autoren berichten tatsächlich in dieser Weise vom Kalifen und seinen Maßnahmen. Arabische Autoren, die um den religiösen Dialog bemüht sind, lassen es sich angelegen sein, die Bedeutung dieser Texte herunterzuspielen. Selbst Prinz Hassan von Jordanien meint, die entehrenden Bestimmungen seien so nicht wirklich zur Ausführung gekommen.2 Doch da unterscheiden sich die kollektiven Erinnerungen der marginalisierten Christen in den islamischen Staaten deutlich von denen der muslimischen Mehrheit. Das ist an sich nicht nur im Orient so, aber für _______________ 2

EL HASSAN BIN T ALAL, Das Christentum in der arabischen Welt, Wien/Köln/Weimar 2003, 63. Der Prinz bezieht sich nur auf die juristischen Vorschriften in der späteren Überlieferung, die er auf eine Verwandlung koranischer Anweisungen zurückführt. Das Faktum, daß die frühen, möglicherweise ad hoc entstandenen Verträge hier von den späteren Rechtsgrundsätzen zu unterscheiden sind, die das Zusammenleben zwischen muslimischer Majorität und nichtislamischer Minorität regeln, war schon Noth bewusst, vgl. N OTH, A., Die literarisch überlieferten Verträge der Eroberungszeit als historische Quellen für die Behandlung der unterworfenen Nicht-Muslime durch ihre neuen muslimischen Oberherren, in: N AGEL, T. et al., Studien, 282–314, bes. 314.

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das Erfassen der Wirklichkeit kann hier die Sicht der Minderheit nicht einfach ignoriert werden, und wenn es um die Rahmenbedingungen christlicher Existenz im Haus des Islam geht, dann zeugen diese Texte nur zu genau von der sozialen Wirklichkeit der Christen im Herrschaftsbereich der Muslime.3 Solche vertraglichen Verpflichtungen wurden Ausdruck der Niederhaltung der christlichen Schutzbürger in der islamischen Welt. Demütigung als Druckmittel zur Annahme des Islam wurde zum erklärten Ziel dieser Texte. In diesen Rahmenbedingungen spielte sich ab, was den Christen an Religionsfreiheit zugestanden wurde. Klar ist allenthalben, daß ein Christ, der zum Islam übertrat und dann wieder Christ wurde, hinzurichten sei. So erging es dem heiligen Elias in Damaskus. Tragisch auch der Fall des heiligen Bachus, der Sohn einer christlichen Mutter und eines muslimischen Vaters gewesen war und sich in Jerusalem nach dem Tod des Vaters taufen ließ: Er wurde in Ägypten hingerichtet. Die Liste der als Märtyrer in den orientalischen Kirchen verehrten Bekenner ist lang und wird bis heute liturgisch wach gehalten. Stets gebührte dem Muslim der Vorrang vor dem Christen. In den Augen der muslimischen Autoren handelt es sich bei dem Schutzvertragssystem, das in Form des Milletsystems in der Türkei noch bis ins zwanzigste Jahrhundert galt, primär darum, daß die Christen als Bürger zweiter Klasse den Muslimen nicht als Beute schutzlos ausgeliefert wurden. Doch dies als islamische Toleranz zu preisen, wäre verfehlt und anachronistisch. Die Folgen für die Christen waren massiv: sie wurden zu Fremden in ihren Heimatländern, die Eroberer aber eigneten sich das Land als das ihre an. Schlimmer noch wirkte das System auf Dauer auf die Psyche der orthodoxen Christen des Orients. Wehrlosigkeit und Erniedrigung – mit dem Effekt der Verwundbarkeit einhergehend – reduzierten christlich-orientalische Existenz auf ein labiles und vom Geld abhängiges Überleben. Die Schutzbürger nahmen sich zusehends als minderwertige Menschen wahr und partiell akzeptierten sie sich als solche. _______________ 3

Das Spektrum ähnlicher Bestimmungen ist groß: das Tragen markierter Kleidung mit Gürtel, die Häuser durften prinzipiell nicht höher gebaut werden als die der Muslime, Glocken durften nicht geläutet werden, die Heiligen Schriften und Texte über Jesus durften nicht laut gelesen werden, in der Öffentlichkeit durfte kein Wein getrunken werden, durften Kreuze und Schweine nicht sichtbar sein, die Toten waren still zu begraben, Pferde waren nicht zu besteigen, sondern nur Maulesel und Esel, auch ein honiggelbes Kopftuch oder einen gelben Turban zu tragen konnte den Christen verbindlich vorgeschrieben werden oder der Umstand, daß die Sättel der Christen aus Holz zu sein hätten, mit einem gelben Schleier hatten die christlichen Frauen sich zu verdecken, an den Türen mußten Dämonenfiguren angebracht werden. Bei Bruch des Abkommens oder dieser Vorschriften drohte Hinrichtung. Durch die Jahrhunderte verfolgt dies ganz unter diesem Aspekt: B AT YE’OR, Der Niedergang des orientalischen Christentums unter dem Islam, 7–20. Jahrhundert. Zwischen Dschihad und Dhimmitude. Mit einer Einführung von Heribert Busse, Gräfelfing 2002.

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Dann schlüpften sie in die ihnen vorgegebene Rolle, erkannten von sich aus den Bereich des ihnen Erlaubten. Solche psychologische Konditionierung beeinflußte alle Aspekte des Lebens und formte Verhalten, Erscheinungsbild und Selbstwertgefühl des Schutzbürgers.4 Erst wo dieser Hintergrund ernst genommen wird, kann ein Verstehen für die großen intellektuellen Leistungen des orientalischen Christentums wachsen. Andererseits galten die Christen in der jüngeren Geschichte nicht ganz unzutreffend als Motor der Modernisierung und fünfte Kolonne des Westens. Schon früh suchten sie Lösungen für ihr Selbstverständnis abseits der gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse. Sie fanden es in der Erwartung eines kommenden Reiches Christi und konnten gar die muslimische Herrschaft als die des Antichrist verstehen.5 Sie fragten sich, wo ihre eigene politische Identität festzumachen sei und griffen auf alte Reiche zurück, deren historische Größe ihr gegenwärtiges Elend überstrahlte: Assur und Aram etwa. Aus solcher Geschichte herkommend lebten sie in der schier größenwahnsinnigen Hoffnung, daß eines Tages sich das Blatt wieder zu ihren Gunsten wenden könne. Und stets empfanden sie sich als die eigentlichen Repräsentanten der Länder, die nun muslimisch beherrscht waren. Nur sie hätten sich nicht vermischt mit anderen Völkern, während in die Schicht der Araber doch das Blut vieler anderer Völker sich gemischt habe. Ein Kopte aber ist geradezu direkt auf die Pharaonen zurückzuführen, ein Westsyrer auf Aram, ein Ostsyrer auf Assur. Doch das Bewußtsein, die einstige Majorität zu sein, stand im Laufe der Jahrhunderte immer deutlicher im Widerspruch zur Wirklichkeit.

3. Kultureller Austausch Neben dieser Geschichte der Koexistenz in einer Zweiklassengesellschaft, die zumindest untergründig immer auch eine konfrontative Note zeigte und im Aufstand der Kopten des 8. Jahrhunderts gegen ihre muslimische Herrenschicht nochmals sinnfällig wurde, gab es immer auch die Geschichte blühenden kulturellen Austausches und die Tendenz, zu einem wirklichen Miteinander zu finden. _______________ 4

T AMCKE, M., Minderheitenpsyche und kulturelle Codes. Beobachtungen zu „assyrischen“ Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Hallesche Beiträge zur Orientwissenschaft 38 (2004) 203–214. 5 HOYLAND, R.G., Seeing Islam as others saw it: a survey and evaluation of Christian, Jewish, and Zoroastrian writings on early Islam (Studies in late antiquity and early Islam 13), Princeton 1997, 257–335.

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Die ostsyrische Kulturgeschichte beispielsweise kennt bedeutende Männer, die sich etwa darum verdient machten, griechisches Gedankengut in den syrischsprachigen Kulturraum zu vermitteln.6 Hier wurde vom Griechischen ins Syrische übersetzt und so die Welt griechischer Medizin, Philosophie und Theologie präsent gemacht. Dabei kam es natürlich auch zu Anpassungen und Veränderungen des Gedankengutes. Und dieses veränderte Gedankengut aus der griechischen Antike wurde schließlich weitervermittelt durch die Übersetzungen vom Syrischen ins Arabische nach der Eroberung des syrischsprachigen Kulturraums durch die Araber. Probus übersetzte Aristoteles im 5. Jahrhundert. Er schrieb auch einen Kommentar dazu ebenso wie zur Isagoge des Porphyrius. Und von Aba von Kaschkar wissen wir nicht nur, daß er eine Erklärung der ganzen Logik des Aristoteles verfaßte, sondern auch, daß er überhaupt mit antiker Philosophie, Astronomie und Medizin vertraut war. Seine Kenntnis des Persischen, Griechischen und Hebräischen neben denen seiner ostsyrischen Muttersprache kamen ihm darüber hinaus auch zugute, wenn der über eine einflußreiche Position in der persischen Gesellschaft verfügende Mann am Hofe des Großkönigs Chosrau II. diesem als Gesandter an den oströmischen Kaiser Maurikios diente. Beide waren keine Ausnahmegestalten der vorislamischen Zeit im ostsyrischen Sprachraum. Wie die Ostsyrer, so arbeiteten auch die Westsyrer an solchen Übersetzungen und Kommentaren. Diese rege Aufnahme und Verarbeitung des philosophischen Gedankengutes der Griechen hielt auf Seiten der Ostsyrer auch nach der arabischen Eroberung an. Die Werke des Silvanus von Qardu dazu fallen noch in die politische Übergangszeit. Er verfaßte eine Schrift über die griechische Philosophie in Gestalt einer Zusammenfassung von Isagoge, Kategorien und der aus neuplatonischem Schulbetrieb hervorgegangenen Prolegomena. Doch schon für den späteren Katholikos-Patriachen Henanischo‘ kann die politische Lage als bereits zugunsten der Araber entschieden gelten. Er schrieb einen Kommentar zu den aristotelischen Analytika und ein Buch über die Ursachen des Existierenden. Henanischo‘ selbst weist sich als Schüler des Katholikos-Patriarchen Ischo’jahb III. aus, dem er auch eine Vita widmete. Der spätere Katholikos stellt unter Beweis, daß es im Umfeld des Katholikos-Patriarchen Ischo’jahb ein reges und ungebrochenes Interesse an der griechischen Philosophie gab. Ein Jahrhundert später setzte mit dem Katholikos Timotheos I., dem Kommentator Theodor bar Koni und den großen Übersetzern vom Syrischen ins Arabische, Abu Zaid Hu_______________ 6

Einen ersten Überblick geben B AUMSTARK, A., Geschichte der syrischen Literatur mit Ausschluß der christlich-palästinensischen Texte, Bonn 1922; GRAF, G., Geschichte der christlichen arabischen Literatur, 5 Bände (Studi e Testi 118, 113, 146, 147 und 172), Vatikanstadt 1944–1953 (Neudruck 1959–1960).

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nain ibn Ishaq und seinem Neffen Ishaq ibn Hunain, die konkrete Vermittlung in eine sprachlich sich neu formierende Umwelt ein. Nicht nur griechische Philosophie wurde neben den griechischen Kirchenvätern vermittelt, sondern auch die Welt der ägyptischen Wüstenväter. Als es im 6. Jahrhundert zur Reform und Wiedereingliederung des Mönchtums in die Apostolische Kirche des Ostens kam, die seit dem Ende des 5. Jahrhunderts das Mönchtum eher an den Rand der Kirche gedrängt hatte, da geschah dies nicht so sehr aus alten syrischen Wurzeln der Askese, sondern unter bewußter Aufnahme ägyptischer Vorbilder. Schon der erste große Reformator Abraham von Kaschkar griff bei der Abfassung seiner Klosterregel auf Gedankengut aus den Apophthegmata Patrum zurück.7 Und bei seinem Nachfolger ist unübersehbar, wie die Klosterregel des Pachomios auf ihn eingewirkt hat.8 Beide zeugen dafür, daß über alle dogmatischen Hindernisse der verfeindeten Konfessionen hinweg spirituelles Erfahrungswissen über den gesamten Kulturraum hin vermittelt wurde und dessen Einpassung in den neuen Kontext möglich wurde durch eine augenfällige dogmatische Säuberung der adaptierten Überlieferungen. Der Mönch Henanischo‘ erstellte schließlich die herausragende Sammlung der Apophthegma Patrum im ostsyrischen Raum. Diese Kulturvermittlerposition der ostsyrischen Schriftsteller wirkte tief auf die sich entwickelnden muslimischen Lehrsysteme ein, wie wiederum diese auf die später schreibenden christlichen Autoren.9

4. Bewußte Koexistenz Als Jerusalem 635 eingenommen wurde, da ist das ein Schock für die Welt der Christen gewesen. Die Berichte zu diesem Aufsehen erregenden Akt der Niederlage des Christentums und des Sieges des Islam sind historisch nicht miteinander zu vereinbaren.10 Theophanes Confessor behauptet Anfang des 9. Jahrhunderts, Omar habe den Tempel Salomos sehen wollen, um ihn religiös durch sein Gebet umzuwidmen und der Patriarch Sophro_______________ 7

T AMCKE, M., Abraham von Kaschkar, in: KLEIN, W. (Hg.), Syrische Kirchenväter, Stuttgart 2004, 124–132. 8 HERMANN, T., Bemerkungen zu den Regeln des Mar Abraham und Mar Dadischo vom Berge Izla, ZNW 22 (1923) 286–299. 9 GRIFFITH, S.H., Syriac Writers on Muslims and the Religious Challenge of Islam (Moran’Etho 7), Kottayam 1995. 10 FELDTKELLER, A., Die ‚Mutter der Kirchen‘ im ‚Haus des Islam‘, Gegenseitige Wahrnehmung von arabischen Christen und Muslimen im West- und Ostjordanland (Missionswissenschaftliche Forschungen N.F. 6), Erlangen 1998; HEYER, F., 2000 Jahre Kirchengeschichte des Heiligen Landes (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 11), Münster u.a. 2000.

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nios habe dies als Gräuel der Verwüstung gebrandmarkt. In dem widersprüchlichen Durcheinander der Quellen hat stets ein Text des Eutychios von Alexandria – dreihundert Jahre nach der Eroberung geschrieben – große Aufmerksamkeit geerntet, der sicher nicht historisch ist, aber doch die fiktive Utopie eines wohlwollenden Miteinanders und einer vermeintlichen islamischen Toleranz einfing, die bis heute die um religiöse Verständigung bemühten Denker in Bewegung zu setzen vermag: „Als das Tor geöffnet war, betrat Omar die Stadt mit seinen Kameraden und setzte sich in den Hof der Auferstehungskirche. Da der Zeitpunkt des Gebets für ihn gekommen war, sagte er zu dem Patriarchen Sophronios: ‚Ich will beten‘. Der Patriarch antwortete ihm: ‚Anführer der Gläubigen, bete an dem Ort, wo du dich befindest‘. ‚Ich werde nicht hier beten‘, antwortete Omar. Also führte der Patriarch ihn in die Kirche Konstantins und befahl, eine Matte in der Mitte der Kirche auszulegen. Aber Omar sagte zu ihm: ‚Auch hier werde ich nicht beten‘, und er ging hinaus auf die Treppe, die sich nach Osten zu vor dem Portal der konstantinischen Kirche befindet. Er betete ganz allein auf der Treppe. Dann, als er sich wieder gesetzt hatte, sagte er zum Patriarchen Sophronios: ‚Weißt du, Patriarch, warum ich nicht im Inneren der Kirche gebetet habe?‘ ‚Anführer der Gläubigen‘, sagte Sophronios, ‚ich weiß es nicht‘. Omar antwortete: ‚Wenn ich im Innern der Kirche gebetet hätte, wäre diese für dich verloren gewesen und aus deinen Händen genommen, denn nach meinem Tod hätten die Muslime sie in Besitz genommen und gesagt: Omar hat hier gebetet. Aber gib mir ein Blatt Papier, damit ich dir einen Vertrag schreibe‘. Und Omar verfaßte ein Dekret: ‚Die Muslime werden nicht auf der Treppe beten, es sei denn immer nur ein einziger zur selben Zeit. Sie werden sich dort nicht zum Gemeinschaftsgebet versammeln, noch werden sie auf ihr durch den Ruf des Muezzins zusammengerufen werden‘. Nachdem er diesen Vertrag verfaßt hatte, gab er ihn dem Patriar11 chen.“

Es ist deutlich: der Text zielt darauf, den Christen ihre heiligen Stätten zu erhalten. Der Text entstand just zu der Zeit, als die Unantastbarkeit der Grabeskirche nach über dreihundert Jahren muslimischer Präsenz mehrmals verletzt wurde. Obwohl er aus christlicher Feder stammt und nur zum Schutzbrief des Kalifen auch eine arabisch-muslimische Überlieferung besteht, drückt er in der Sache das tatsächliche Leitbild für die Respektierung der Christen und ihrer Stätten durch die Muslime aus, wenngleich dies in den folgenden Jahrhunderten zugunsten der Inbesitznahme der Heiligtümer und Kirchen seitens der Muslime immer weniger praktiziert wurde. Was hier nur fromme Ehrfurcht vor der Religion des Anderen und deren Ausgeliefertheit an die Regeln des Islam charakterisiert, wurde auch Gegenstand des Gesprächs zwischen den Religionen schon in frühislamischer Zeit. In vielfältigen Formen versuchten die vom Islam bedrängten Christen die Herausforderung, die er für sie darstellte, zu bewältigen. Apologetische _______________ 11

48.

Nach der von Pirone angefertigten Übersetzung bei FELDTKELLER, Wahrnehmung,

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und polemische Literatur hat sich dazu bis heute auf Seiten der orientalischen Christen herausgebildet. Oft handelt es sich gar um Lehrbücher für die christlichen Gläubigen, die ihnen das nötige Material an die Hand gaben, um sich Muslimen gegenüber theologisch korrekt verteidigen zu können. Populärer waren zunächst Apokalypsen. Die überbordende und geradezu erstickende Übermacht des Islam verstanden diese Texte zumeist als Strafe Gottes für das sündige Leben der Christen. In vielen Texten werden daher die Mißstände in Kirche und Klerus akribisch erfaßt und moralisch gebrandmarkt. Der Aggression begegneten die Betroffenen, indem sie ihre Reaktion darauf auf die vermeintlich Schuldigen in den eigenen Reihen umlenkten oder der Aggression gegen sich selbst verfielen. Fern am Ende der unwirklichen und subversiven Wirklichkeit dieser Apokalypsen stand dann ein von Gott gewirktes Ereignis der Umkehrung der Situation oder das Auftreten eines christlichen Endkaisers. Der Grundtenor dieser Schriften, die wohl eine starke kompensatorische Funktion für die gepeinigten Christen hatten, hieß: wir leben am Ende der Weltzeit. Märtyrerakten berichten von erschütternden Schicksalen christlicher Männer und Frauen, die um ihres Glaubens willen starben. Diese Texte bilden bis heute einen Grundstock für das kirchliche Selbstverständnis orientalisch-christlicher Kirchen als Märtyrerkirchen. Doch unter den geistigen Leistungen der orientalischen Christen der Frühzeit ragen die interreligiösen Dialoge, die von christlicher Seite literarisch tradiert wurden, hervor.12 Es ist heute in diesem Kontext in der Forschung unbestritten, daß es einen Parallelismus zwischen den christlichen Argumentationsweisen und den ersten theologischen Äußerungen der Muslime gibt. Lange noch prägten die Begegnungen die intellektuelle Überlegenheit der christlichen Teilnehmer, und Johannes von Damaskus stieg zu einem den arabischen Raum überschreitenden Kirchenlehrer der griechischen Orthodoxie auf.

_______________ 12

GRIFFITH, S.H., Disputes with Muslims in Syriac Christian Texts: From Patriarch John (d. 648) to Bar Hebraeus (d. 1286), in: LEWIS, B./N IEWÖHNER, F., Religionsgespräche im Mittelalter (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 4), Wiesbaden 1992, 251–273.

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5. Der Dialog des muslimischen Emirs mit dem syrisch-orthodoxen Patriarchen Johannan I. Der hier exemplarisch zu skizzierende Dialog wird dem syrischorthodoxen Patriarchen Johannan I. (635–648) zugeschrieben.13 Die Person seines Kontrahenten zu verifizieren, hat der Wissenschaft Mühe gemacht. Entweder handelt es sich um einen Gefährten Mohammeds oder um einen für den Bereich Homs zuständigen Emir aus dem Stamm der Qoraischiten. Die Christen waren sich der Bedeutung des Gesprächs bewußt. Der Patriarch erschien mit fünf Bischöfen. Auch bei anderen Bewohnern erregte das Gespräch Neugier. So waren neben den Notablen der Muslime und den Spitzen der Verwaltung der umliegenden Städte auch einige den syrischorthodoxen wohlgesinnte Araber dar, die den drei wichtigsten christlichen Stämmen Arabiens angehörten. Interessant ist, daß der Patriarch auch die Anhänger des Konzils von Chalcedon zum Gespräch bestellte, also jene Orthodoxen, die bis zur Eroberung zur griechisch-orthodoxen Staatskirche des Byzantinischen Reiches gehörten. Deren Anwesenheit unterstrich auch die erste Frage des Emirs an den Patriarchen: „Warum, wenn ja das Evangelium eines ist, ist der Glaube verschieden?“ Der Patriarch verweist dazu dann auf die unterschiedlichen Interpretationsweisen des einen Textes in den verschiedenen Traditionen. Die Frage des Emirs läßt sich verstehen vor dem Hintergrund der Vorstellung, daß das Wort Gottes direkt vom „Buch“ wiedergegeben werde, daß es direkt ins Buch geschrieben sei. Der Koran sei die Abschrift eines im Himmel aufbewahrten Urbuches, das als ursprünglicher Text aller heiligen Schriften gelten könne (Suren 56, 77–80; 85, 21–22; 43,4). Als Text bezieht er sich übrigens nur auf den Pentateuch, von dem er meint, er sei Juden, Muslimen (Hagarenern) und Samaritanern gemein und doch in unterschiedlicher Weise aufgefaßt worden. Der Patriarch antwortet erstaunlicherweise also auf der Basis des einen, allen Religionen gemeinsamen Buches. Freilich ist es für ihn nicht ein mögliches Urbuch im Himmel, sondern der Pentateuch. Das historische Argument und die konkrete historische Schrift, aus der die Botschaft von den Völkern aufgenommen werde, wird also für die Erwiderung genutzt. Der Emir läßt diese Textbasis zunächst gelten. Er beruft sich nicht, wie es eine grundlegende Argumentationslinie gegenüber anderen Religionen im Islam war, auf die Verfälschung der heiligen Schrift, die nicht der Koran ist. Vielleicht gestattet er den Pentateuch als Ausnahme, weil dieser Teil der Bibel im Koran besonders häu_______________ 13

NAU, F., Un colloque du Patriarche Jean avec l’emir des Agaréens et faits divers des années 712 à 716, Journal Asiatique 11/5 (1915) 225–279; SUERMANN, H., Orientalische Christen und der Islam. Christliche Texte aus der Zeit von 632–750, Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 67 (1983) 120–136.

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fig zitiert wird. Die Teilung der Völker entstehe übrigens nicht aus dem Buch, dem Pentateuch, hatte Johannan gemeint, sondern um des Glaubens willen, also auf Seiten der das Buch rezipierenden Menschen. So sei es auch um das Evangelium bestellt. Jeder verstehe und interpretiere es anders und damit anders als sie, die syrisch-orthodoxen Christen. Das gesamte Gespräch ist gekennzeichnet von einem deutlichen Gefälle. Es ist der Emir, der die sieben Fragen stellt, um die sich das Gespräch rankt. Der Christ hat zu antworten. Ein Dialog zweier gleichrangiger Partner ist das nicht. Andererseits ist die Fragehaltung des Emirs auch zu erklären aus einer gewissen Notlage: diskussionsfähige theologische Argumentationen waren muslimischerseits noch nicht entwickelt. Zu den weiteren Fragen des Dialogs gehören Standardfragen des christlich-muslimischen Dialogs. War Christus Gott oder nicht? Warum, wenn die Botschaft eine einzige ist, differiert der Glaube der Christen? Die letzte der sieben Fragen zielt auf die Gesetze der Christen und ob sie im Evangelium geschrieben stehen oder nicht. Manche Fragen zeigen deutlich den Hintergrund im Koran. Wenn es im Koran heißt, daß Abraham weder Jude noch Christ, sondern hanif war, so ist das der Hintergrund für die Frage danach, welchen Glauben Abraham und Mose gehabt hätten und warum, wenn sie Christen gewesen sein sollten, darüber nichts im Alten Testament steht. Das Gespräch verläuft schwierig. Ein Jude wird vom Emir hinzugezogen, um den biblischen Text zu prüfen. Er entzieht sich aber einer klaren Auskunft. Eine abschließende Frage wird schließlich die nach dem Gesetz der Christen. Nachdem der Patriarch ausgeführt hatte, daß alles dazu Notwendige im Evangelium enthalten sei, fragte der Emir direkt: „Ich bitte euch, eine der drei Sachen zu tun: Entweder mir zu zeigen, daß eure Gesetze im Evangelium geschrieben sind und euch danach zu richten oder dem muslimischen Gesetz anzuhängen.“ Darauf habe der Patriarch geantwortet, daß die christlichen Gesetze gerecht seien und mit dem Evangelium und des Gesetzen der Kirche übereinstimmten. Das Ende bleibt offen, es gibt keinen Schluß. Die Sitzung des ersten Tages sei aufgelöst worden und seither hätten sie es nicht wieder geschafft, sich vor dem Emir erneut zu versammeln. Wenigstens die praktische Ökumene erhielt übrigens durch das Gespräch einen Auftrieb. Die Chalcedonenser, also die Angehörigen der griechisch-orthodoxen Kirche, beteten die ganze Zeit für den Patriarchen der einst von ihnen als häretisch bekämpften Kirche. Der Patriarch habe das Wort im Namen der gesamten Christenheit geführt. Deutlich benennen die Protokollanten des Dialogs den Grund: sie hätten die Größe der Gefahr erkannt.

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6. Die Gottesfrage im Dialog des syrisch-orthodoxen Patriarchen Johannan I. mit dem muslimischen Emir Die Kernfrage des Gesprächs, die Frage nach Gott, ist in allen ihren Facetten nur schwer in ihrem Aussagegehalt zu klären. Auf die einleitende Kardinalfrage des Emirs – „Was sagt ihr, was Christus ist; daß er Gott ist oder nicht?“ – antwortet der Patriarch zunächst im Sinne seiner Tradition, daß er Gott sei und daß er das Wort sei, das von Gott dem Vater geboren worden wurde, daß er ewig und ohne Anfang sei, und daß er sich am Ende der Zeit um des Heils der Menschen willen inkarniert habe und durch den Heiligen Geist Mensch wurde. Doch mit dem Hinweis auf die Geburt aus Maria rief der Patriarch die nächste und durchaus folgerichtige Frage des Emirs hervor. „Als Christus im Schoß der Maria war, er, von dem ihr sagt, er sei Gott, wer trug und regierte den Himmel und die Erde?“ Die vom Emir geteilte Auffassung könnte die sich aufgrund der Suren 20, 114; 23, 19 und 116 und 6, 103 entwickelnde Vorstellung sein, daß Gott nicht mit der Welt in Berührung kommen könne, weil er absolut transzendent sei. Die Antwort des Patriarchen zeugt von seinem wie auch immer gearteten Wissen um den Koran. Als Gott auf den Sinai herabgestiegen sei, um mit Mose zu sprechen, wer habe da dann Himmel und Erde getragen und regiert? „Denn ihr sagt, daß ihr Mose und seine Schriften annehmt.“ Der Patriarch wußte also um die Akzeptanz des Mose im Islam und möglicherweise auch, daß selbst im Koran in der Sure 7 in den Versen 142 und 153 Gott nicht so transzendent ist, daß er nicht mit Mose zu sprechen in der Lage wäre. Der Emir antwortet dem Christen und bricht an solch einer Stelle einmal das Frage-Antwort-Schema auf: „Gott war es und regierte den Himmel und die Erde.“ Das wirkt so, als sei der Emir der Argumentation des Patriarchen auf den Leim gegangen. Möglich wäre aber auch, daß er einfach die theologisch korrekte Grundposition der Transzendenz und unverbrüchlichen Weltregierung Gottes wiederholte und nur die Protokollanten diesen Zusammenhang herstellten, da die Aussage an sich keinen Bezug zur Ausführung des Patriarchen enthält. In der abschließenden Reaktion des Patriarchen auf diesen Gedankengang geht es denn auch nur um die Gleichheit des muslimischen und des christlichen Gottesbildes. Es gelte das Gleiche, was der Emir über Gott ausgesagt habe, von Christus als Gott, von Gott Christus, meinte der Patriarch: „Als er im Schoß der Jungfrau war, trug und regierte er den Himmel und die Erde und alles, was in ihnen ist, als allmächtiger Gott“. Wenig später erläutert der Patriarch dem Emir, der die mangelnde Klarheit bei Abraham, Isaak, Jakob, Mose, Aaron und dem Rest der Propheten hinsichtlich deren Christuszeugnisses beklagte, und dem nur erwidert wurde, daß die aus pädagogischen Gründen den noch zum Polytheismus neigenden Menschen nur das „Höre, Israel, der

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Herr Gott ist ein einziger Herr“ (Deuteronomium 6,4) verkündet hätten, die Trinität. Die Propheten hätten darum bereits gewußt. Sie hätten geschrieben, daß Gott einer in seiner Gottheit, aber drei Hypostasen und Personen sei. Weder gebe es drei Götter, noch bekenne man drei Gottheiten. Es gebe nur eine einzige „Gottheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Dabei schließt der Patriarch gut orthodox mit der den abendländischen Kirchen der Katholiken und Protestanten und ihrer Lehre, daß der Heilige Geist auch vom Sohn ausgegangen sei – eine bis heute Konfliktstoff liefernde Aussage: „Und vom Vater geht der Sohn und der Geist aus“. (Der Ausgang des Geistes vom Sohn wird bis heute von allen orthodoxen Kirchen abgelehnt.) Die Frage der Göttlichkeit Christi wird schließlich anhand der Schrift diskutiert, wo in den Büchern des Alten Testaments alles über Christus prophezeit und geschrieben sei. Die Propheten werden seitens des Emirs als Argumentationsbasis ausdrücklich zurückgewiesen, der Pentateuch aber zugelassen. Nachdem der Emir zunächst den Vorschlag des Patriarchen, ihm dies alles an den Schriften zu zeigen, übergangen hatte, fordert er dann selbst, der Patriarch möge seine Behauptungen anhand der Schrift ausweisen. Der Patriarch tut dies mithilfe der griechischen und syrischen Bibel. Zwar sahen einige Muslime die einschlägigen Textstellen, doch läßt der Emir einen Juden hinzurufen, der wegen seiner Schriftkenntnis in hohem Ansehen stand. Auf die Frage des Emirs, ob es so wörtlich im Gesetz – hier ist also der Pentateuch gemeint, für den der Jude sozusagen der Spezialist ist – stehe, antwortete dieser: „Ich weiß es nicht mit Genauigkeit.“ Die Stelle, um die es ging, steht in Genesis 19, 24: „Der Herr ließ über Sodom und Gomorra vor dem Herrn Schwefel und Feuer regnen“. Das beweise die Doppelung und Einheit Gottes. Die Reaktion des Juden kann vielerlei bedeuten. Verweigerte er sich als religiös von der muslimischen Herrschaft Mitbetroffener der möglichen Überführung des Patriarchen? War er wirklich ratlos den ihm gezeigten Stellen gegenüber? Nutzte er selbst womöglich andere Textüberlieferungen zum Pentateuch und vermochte von daher hier den Text nicht wiederzuerkennen? Lehnte er die Antwort ab, weil es gerade um die genaue wörtliche Übereinstimmung ging, er aber angesichts des griechischen und syrischen Textes außerstande war, sich darüber zulängliche Klarheit zu verschaffen? Der Emir jedenfalls wechselte das Thema hin zu der schon erwähnten Gesetzesthematik. Das frustrierend offene Ende des Dialogs und die Tatsache, daß der Emir das Ansinnen zur Fortsetzung nicht aufnahm, ist wohl aber weniger positiv zu sehen, als es in der wissenschaftlichen Literatur bisher gewertet wurde. Statt das Gespräch fortzuführen, wünschte der Emir kurz darauf, ein Evangelium zu haben, das nicht mit dem Koran in Widerspruch stehen

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dürfe. Es dürfe nichts enthalten zur Gottheit Christi, zur Taufe und zu Kreuzigung und Kreuz. Damit bewies er zur Genüge, daß zumindest diese drei elementaren Glaubensinhalte ihm nicht hatten vermittelt werden können. Aus christlicher Sicht wäre ein solches Evangelium kaum das Evangelium, und auf Seiten der Muslime wäre es lediglich ein anschlußfähiger religiöser Stoff mehr. Immerhin beweist der Dialog, daß sich der Emir dem koranischen Grundsatz getreu verhielt, daß die Anhänger des Evangeliums aufgrund dessen zu beurteilen seien, was Gott ihnen geoffenbart habe.

Nachwort

Nicht der Eine, nicht die Vielen Zur Pragmatik religiösen Verhaltens in einer polytheistischen Gesellschaft am Beispiel Roms ANDREAS BENDLIN Iuppiter omnipotens, regum rerumque deumque/ progenitor genetrixque, deum deus, unus et omnes1 „Wir hingegen sagen, daß nicht nur all die Gottheiten existieren, deren Existenz von allen Griechen akzeptiert wird, sondern noch viel mehr.“2 Welche antike Stadt wäre für die Analyse eines komplexen polytheistischen Systems besser geeignet als Rom. Rom ist die antike Metropole (mit wohl ungefähr einer Million Einwohnern bereits in augusteischer Zeit) und das politische, soziale wie kulturelle Zentrum eines weit über die Mittelmeerwelt hinausgreifenden Reiches. Die Stadt gilt in der Literatur der Kaiserzeit – in den so genannten ‚paganen’ und in den christlichen Schriftquellen – als die ‚Essenz’ der OikoumenƝ: Sie ist die ‚gemeinsame Stadt’ und die Akropolis für die Bevölkerung des ganzen Reiches; ihr Einfluß erstrecke sich über den gesamten Erdkreis.3 Hier, in der einzig wahrhaften

_______________ 1 Q. Valerius (‚Soranus’) F 2 FPL³ = 4 FPL² = 2 COURTNEY (vgl. COURTNEY, E., [ed.], The fragmentary Latin poets, Oxford 1993, 66f.), überliefert bei Varro, Curio de cultu deorum F II CARDAUNS: „Allmächtiger Juppiter, der Könige, Dinge und Götter Vater und Mutter, Gott der Götter, Einer und Alle zugleich“ (ediert und übersetzt von CARDAUNS, B., Varros Logistoricus über die Götterverehrung, Würzburg 1960, 16–19, hier 16). – Sämtliche hier verwendeten Abkürzungen folgen dem ‚erweiterten Abkürzungsverzeichnis’ in: CANCIK, H./SCHNEIDER, H. (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike (= DNP), Stuttgart – Weimar 1997, Bd. 3, VIII–XLIV. 2 Philodemos von Gadara, De pietate col. 362f.; meine Übersetzung folgt der Textvorlage in OBBINK, D., ‚All gods are true‘ in Epicurus, in: FREDE, D./LAKS, A. (Hg.), Traditions of theology: studies in Hellenistic theology, its background and aftermath, Leiden 2002, 184–221, hier 209f. 3

.( : P. Aelius Aristides, Oratio 26,61; : Athenaios 1,20b–c. Vgl. Ov. fast. 2,684.

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‚Weltstadt’ der Antike,4 seien, gleichsam wie in einem ‚templum der ganzen Welt’, alle Gottheiten, ungeachtet ihrer Herkunft und Zahl, zusammengekommen und empfingen Kult. Verehrten die verschiedenen Ethnien und einzelnen civitates anderswo die ihnen eigenen, lokalen Götter, so werde jenen in Rom gemeinsam und unterschiedslos Verehrung zuteil.5 Dies ist der auswärtige, provinzialrömische Blick auf Rom; im Gegensatz hierzu zeichnen die stadtrömischen Autoren bisweilen ein weniger harmonisches Bild. Rom ist von Anfang an eine Stadt von Migranten, Menschen wie Gottheiten zieht es seit Gründung der Stadt hierher; die Angst vor religiöser ‚Überfremdung’ durch den ungehinderten Zuzug zahlloser fremder Götter, Kulte, ritueller Praktiken und vor dem Umsichgreifen sogenannter superstitiones wird bereits früh in der lateinischen Literatur thematisiert.6 Wie läßt sich diese vielfältige stadtrömische Götterwelt, die nicht nur dem modernen Beobachter, sondern wahrscheinlich bereits dem antiken Besucher der Stadt komplex und verwirrend erscheinen mußte, zum Zweck der religionshistorischen Analyse ordnen? Wie können die rituellen Handlungen und Glaubensvorstellungen der sozialen Akteure, die sich hinter den unzähligen stadtrömischen Weihungen und den Monumenten für die Götter verbergen, sichtbar werden? Wie läßt sich ihr religiöses Verhalten verständlich machen?

1. Zu den Grenzen der Darstellbarkeit: Polytheismus in Rom In der Römischen Religionsgeschichtsschreibung hat man bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder versucht, das verwirrend vielfältige Material mit Hilfe emischer (also dem Diskurs der zu untersuchenden sozialen _______________ 4

MORLEY, N., Metropolis and hinterland. The city of Rome and the Italian economy (200 B.C.–A.D. 200), Cambridge 1996, 13–32; EDWARDS, C./W OOLF, G.D., Cosmopolis: Rome as world city, in: DIES. (Hg.), Rome the cosmopolis, Cambridge 2003, 1–20. 5 Templum totius mundi: Amm. 17,4,13; vgl. SHA Aurelian. 20,5. Verehrung aller Gottheiten: z.B. P. Aelius Aristides, Oratio 26,105; Tert., Apol. 24,9f.; Min. Fel. 6; Arnob. 6,7; Prud., Contra Symmachum 1,189; Themistius, Oratio 13,177d–178b. Vgl. C LARKE, G.W., The Octavius of Marcus Minucius Felix, New York 1974, 190–192; FOWDEN, G., Empire to commonwealth. Consequences of monotheism in late antiquity, Princeton 1993, 45–52; BENDLIN, A., Peripheral centres – central peripheries: religious communication in the Roman Empire, in: CANCIK, H./RÜPKE, J. (Hg.), Römische Reichsreligion und Provinzialreligion, Tübingen 1997, 35–68, hier 38, 50. 6 Vgl. z.B. Cic., Pro Flacco 67–69; Liv. 39,16; Tac., Ann. 13,32,2, 15,14,4; Cass. Dio 52,36. S. hierzu N OY, D., Foreigners at Rome: citizens and strangers, London 2000, 31– 51; ISAAC, B., The invention of racism in classical antiquity, Princeton 2004, 466f., passim; SCHEID, J., Fremde Kulte in Rom: Nachbarn oder Feinde?, in: R IEMER, U./RIEMER, P. (Hg.), Xenophobie – Philoxenie. Vom Umgang mit Fremden in der Antike (PAB 7), Stuttgart 2005, 225–240, hier 225–227.

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Akteure entnommener) Kategorien zu ordnen. So unterteilt Georg Wissowa in seinem bis heute maßgeblichen Handbuch zu Religion und Kultus der Römer (1902; ²1912) die Gottheiten in autochthone ‚di indigetes’, italische und griechische ‚di novensides’, in Rom ‚neu geschaffene Gottheiten’ und die ‚fremden’ Gottheiten der sacra peregrina (unter Einschluß der so genannten ‚orientalischen Götter’). Wissowas Unterscheidung von autochthon-römischen und neu in Rom angesiedelten Gottheiten spiegelt eine Grundannahme der Religionsforschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wider: nämlich den Glauben an die angebliche Existenz einer autochthonen, ursprünglichen und von späteren religiösen Formen wie Anschauungen noch unverfälschten römischen Religion. Wissowas Verwendung lateinischer Begriffe suggeriert emische Kategorien, die der Forscher lediglich zur analytischen Anwendung bringe, um einen Kernbestand des römischen Polytheismus gegen spätere Erweiterungen abzugrenzen. Aber bereits früh wurde erkannt, daß die von Wissowa reifizierten Begriffe in der römischen Antike eine andere und weniger umfassende Bedeutung haben als die, welche sie in seinem Klassifikationsraster schließlich erlangen. Die religionshistorische Konstruktion Wissowas, zwischen altrömischen und fremden Göttern unterscheiden zu wollen, ist also weniger einer einheitlichen emischen Perspektive als vielmehr den nationalpolitischen und kulturellen Vorannahmen des 19. Jahrhunderts verhaftet.7 Aber auch Arbeiten jüngeren Datums können sich offenbar nicht völlig von bipolaren Strukturprinzipien trennen: Zwar repräsentiert die Unterscheidung von eigenen und fremden Gottheiten, von römischer religio und nicht-römischer superstitio, erneut eine emische und, wie bereits erwähnt, in der lateinischen Literatur vertretene Perspektive. Aber der Versuch, diese emische Perspektive zu einem modernen Strukturierungsprinzip römischer Religionsgeschichtsschreibung zu machen,8 verkennt, daß sie ein (wichtiger) oberschichtenspezifischer Diskurs über Religion, aber nicht für die Gesamtheit der sozialen Akteure in Rom repräsentativ ist. Zahlreiche neuere Arbeiten haben herausgearbeitet, daß selbst die so genannten ‚ori_______________ 7 W ISSOWA, G., Religion und Kultus der Römer, München 1912, 91–317. Zur Unhaltbarkeit der Wissowaschen Konstruktion vgl. die Doxographie bei BENDLIN, A., Art. Novensides, Di, DNP 8 (2000) 1028f., hier 1029. Ausführlicher hierzu B ENDLIN, A., ‚Eine wenig Sinn für Religiosität verratende Betrachtungsweise’: Emotion und Orient in der römischen Religionsgeschichtsschreibung der Moderne, ARG 8 (2006). 8 Die Unterscheidung zwischen einheimischen und fremden Gottheiten, zwischen römischer religio und unrömischer superstitio, kurz: zwischen Römischem und Fremdem strukturiert noch die in anderer Hinsicht sehr nützlichen Arbeiten von BEARD, M./ NORTH, J.A./PRICE, S.R.F., Religions of Rome, Cambridge 1998, Bd. 1, bes. 211–244, TURCAN, R., Rome et ses dieux, Paris 1998, passim und SCHEID, J., Religion et piété à Rome, Paris 22001, 155–175, passim.

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entalischen’ Kulte in Rom, die vor allen anderen durch die literarischen Texte dem Vorwurf der superstitio ausgesetzt waren, Produkte und Elemente römischer Religion sind und ihre Gottheiten als integrale Bestandteile des stadtrömischen Pantheon erfaßt werden müssen. Was in der stadtrömischen Religion zentral und ‚römisch’ und was marginalisiert und ‚fremd’ sei, darüber herrschte bereits im antiken Rom keine Einigkeit; die Bestimmung stadtrömischer religiöser Identitäten ist schwieriger, ihr Gehalt komplexer, als dies auf den ersten Blick den Anschein haben mag. 9 Denn Rom ist beständig im Umbruch: Ökonomisch wie kulturell (über-) lebt die Metropole nur durch die unzähligen Fremden, Migranten und Unfreien. Politische, soziale, wirtschaftliche und religiöse Unterschiede prägen das Leben. Alte und immer neue Götter, traditionelle und ungewohnte religiöse Vorstellungen existieren Seite an Seite.10 Was ‚römisch’ und was ‚fremd’ sei, ist unter diesen Umständen auch für den Beobachter kaum erkenntlich. Macht er dennoch den Oberschichten-Diskurs über ‚das Römische’ in der stadtrömischen Religion zu einem die Beurteilung des gesamten religiösen Systems leitenden Kriterium und erhebt er ihn zum reifizierten Untersuchungsrahmen, so affirmiert er lediglich die Aussage jenes speziellen Diskurses und verwischt damit die wissenschaftliche Grenze zwischen der Objekt- und der Analyseebene. Der alternative etische Ansatz – die systematische Verwendung von Begriffen und Kategorien, die in der wissenschaftlichen Diskussion entwickelt worden sind, aber keine Entsprechung im antiken Befund haben – ist aus anderen Gründen problematisch. Eine unüberschaubare antike ‚Götterwelt’ – auch dies ein neuzeitlicher Begriff, der mit seiner anachronistischen Trennung zweier voneinander unabhängiger Welten, derjenigen der Menschen und derjenigen der Götter, meines Wissens keine genaue Entsprechung im antiken Befund hat – wird der modernen Klassifizierung und Organisation unterworfen: Unsere Analyseinstrumente – Pantheon, Polytheismus, ja selbst Religion – sind etische Kategorien. Bezeichnen griechisch   und   sowie lateinisch Pantheum seit hellenistischer Zeit den sakralen Ort oder das Heiligtum, in dem alle Götter (die  _______________ 9 B ELAYCHE, N., L’Oronte et le Tibre: l’‚Orient’ des cultes ‚orientaux’ de l’Empire romain, in: AMIR-MOEZZI, M.A./SCHEID, J. (Hg.), L’orient dans l’histoire religieuse de l’Europe. L’invention des origines, Turnhout 2000, 1–35; GORDON, R., Art. Griechischorientalische Kulte, RGG4 3 (2000) 1292f.; VERSLUYS, M.J., Aegyptiaca Romana. Nilotic scenes and the Roman views of Egypt, Leiden – Boston 2002, bes. 385–443; V OUT, C., Embracing Egypt, in: EDWARDS/W OOLF, Rome the cosmopolis, 177–202. 10 Migration: J ONGMAN, W., Slavery and the growth of Rome. The transformation of Italy in the second and first centuries BCE, in: EDWARDS/W OOLF, Rome the cosmopolis, 100–122. Religiöse Vielfalt und Integration: B ENDLIN, A., Art. Patrii Di, DNP 9 (2000) 410–412; NOY, D., Foreigners at Rome, 183–186, 205–284; S CHEID, Fremde Kulte, 227– 236.

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  beziehungsweise die di deaeque omnes) verehrt werden, so erlangt

der Begriff erst in der modernen Religionsforschung seine weiterreichende systematisierende Bedeutung. Beschreibt das griechische Adjektiv  ursprünglich lediglich dasjenige (vom Altar bis zur Götterversammlung), was eine Mehrzahl von Göttern betrifft (im Lateinischen gibt es keine direkte Entsprechung), so werden ,  und 8 zuerst mit Philon von Alexandreia Begriffe der jüdischen und später der christlichen Polemik gegen die Idolatrie und den Atheismus der ‚Paganen’; in der lateinischen christlichen Apologetik erfüllt schon früh der Begriff der idololatria diese Funktion. Die negative Engführung der drei Begriffe  (beziehungsweise 8 ), Idol(ol)atrie und Atheismus setzt sich noch in den frühneuzeitlichen theologischen Diskursen fort: In der Mitte des 16. Jahrhunderts lautet die deutsche Entsprechung ‚Götzendienst’. Jean Bodin übersetzt in De la démonomanie des sorciers zuerst 1580 das Begriffspaar  –  aus Proklos als ‚polythéisme’ beziehungsweise ‚athéisme’, die deutsche Übersetzung des Bodintextes durch Johann Fischart, die 1591 erscheint, verwendet zuerst die Begriffe ‚Polytheismus’ und ‚Atheismus’. Sie bleiben auch danach noch mit demjenigen der Idolatrie weitgehend deckungsgleich. Erst die Religionsforscher seit dem 17. Jahrhundert operationalisieren den Polytheismus-Begriff – gemeinsam mit dem Neologismus ‚Monotheismus’ – als Eckpfeiler der religionsphilosophischen und religionshistorischen Diskussion über den Ursprung der Religion.11 Ungeachtet ihrer polemisch-religionskritischen Verwendung in den antiken Texten haben die Begriffe Pantheon und Polytheismus unter weitgehender Veränderung ihrer Bedeutung Eingang in die religionsgeschichtliche Analysesprache gefunden. Der Vorteil dieses etischen Ansatzes ist seine über die engeren Fachgrenzen hinausgehende Applikabilität: Meine religionsgeschichtliche Anfangsdefinition des Pantheon als ein „in der religiösen Praxis zahlenmäßig begrenztes Ensemble der in einem bestimmten geographischen und sozialen Raum als wirkend vorgestellten und verehrten Gottheiten“, obschon mit Blick auf die griechisch-römische Antike formuliert (wenn auch ohne eine begriffliche griechisch-römische Entspre-

_______________ 11

Zur Begriffs- und Bedeutungsgeschichte vgl. B ENDLIN, A., Art. Pantheon III. Klassische Antike, DNP 9 (2000) 265–268, hier 265f.; H ÜLSEWIESCHE, R./LORENZ, S., Art. Polytheismus I., HWdPh 7 (1989) 1087–1093, hier 1087f.; BENDLIN, A., Art. Polytheismus, DNP 10 (2001) 80–83, hier 80f., jeweils mit weiterer Literatur. Das berühmte ‚Pantheon’ in Rom war wohl gerade kein Tempel für ‚alle Götter’: GODFREY, P./HEMSOLL, D., The Pantheon: temple or rotunda?, in: HENIG, M./KING, A. (Hg.), Pagan gods and shrines of the Roman empire (OUCA Monograph 8), Oxford 1986, 195–209. S. auch Anm. 42-45.

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chung), unterscheidet sich nur in Nuancen von vergleichbaren Definitionen in den Nachbardisziplinen Altorientalistik oder Ägyptologie.12 Es ist aber nicht damit getan, die einzelnen Gottheiten in einem gegebenen geographischen und sozialen Raum gleichsam akkumulativ aufzulisten. Wenn jene ‚Götterwelt’ nicht rein zufällig sein soll, sondern das Resultat der Vorstellungen und Weltbilder der in diesen Räumen operierenden sozialen Akteure ist, dann ergibt sich hieraus die eigentlich erst interessante Folgefrage nach den Korrelationen zwischen den politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Strukturen, in denen die sozialen Akteure leben – im Sozialverband, in der Stadt, der staatlichen Organisation oder dem Reich – und der konkreten Gestalt sowie der Binnenstrukturierung ihrer Götter. Daß ein im historischen Befund gegebenes Pantheon sinnvoll13 strukturiert sei und daher als Sinnsystem erforscht werden könne, welches Grundmuster gesellschaftlicher Organisation und menschlichen Sozialverhaltens auf der Ebene interagierender Götter reflektiere, hat vor allem die ‚Pariser Schule’ gezeigt.14 Die Suche nach internen Strukturen und Hierarchien standen dort von Anfang an im Mittelpunkt des – der Tradition des französischen Strukturalismus verpflichteten – heuristischen Interesses; die Erforschung des griechischen Pantheon wurde in den Kontext der Arbeit am griechischen Mythos gestellt. Aus den Texten lassen sich uns vertraute soziomorphe Struktur- und Gliederungsprinzipien rekonstruieren, welche eine grundsätzliche Hierarchisierung und Arbeitsteiligkeit der Götter im Pantheon betonen: etwa die verwandtschaftliche Ordnung, die in Genealogien und patriarchalisch organisierten Götterfamilien ausgedrückt wird; die hierarchische Ordnung zwischen mächtigeren und weniger mächtigen, großen und kleinen, hohen und niederen Gottheiten; ihre interne Differenzierung nach Aufgabe, Funktion und Ort.15 Georges Dumézil hat aus in_______________ 12 Definition: BENDLIN, A., Pantheon, 265. Vgl. z.B. auch SCHWEMER, D., Das hethitische Reichspantheon. Überlegungen zu Struktur und Genese, in dieser Publikation (mit weiterer Literatur). 13 ‚Sinnvoll’ in der Nachfolge M AX W EBERs, insofern soziales Handeln in der Regel bedeutungs- und sinnvoll sei und religiöse Weltbilder Vorstellungen der sozialen Akteure widerspiegelten. 14 Vgl. z.B. VERNANT, J.-P., Mythe et société en Grèce ancienne, Paris 1974; DETIENNE , M., Expérimenter dans le champ des polythéismes, Kernos 10 (1997) 57–72; BRUIT ZAIDMAN, L./SCHMITT P ANTEL, P., Die Religion der Griechen, München 1994 (frz. als: La religion grecque, Paris 21991), 179–208. Vgl. auch BREMMER, J.N., Greek religion, Oxford 1994, 11–26, bes. 14f. und P ARKER, R., Polytheism and Society at Athens, Oxford 2005; beide Autoren verwenden einen kontextualisierten, moderat strukturalistischen Ansatz. 15 Vgl. hierzu GLADIGOW, B., Strukturprobleme polytheistischer Religionen, Saeculum 34 (1983) 292–304, hier 295–301; DERS., Art. Polytheismus, HrwG 4 (1998) 321– 330, hier 324f.; B ENDLIN, A., Pantheon, 266.

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doeuropäischen Ursprüngen eine trifunktionale Hierarchisierung des archaischen römischen Pantheon rekonstruieren wollen, wonach das ‚ursprüngliche’ Pantheon mit seiner arbeitsteiligen Trennung der Götter in die Funktionsbereiche ‚politische Autorität’ – ‚Krieg’ – ‚(landwirtschaftliche) Produktivität’ die arbeitsteilige Sozialstruktur des frühen Rom widerspiegele. Dumézils Modell ist (erneut) der strukturalistischen Methode verpflichtet (und kann durch die Konfrontation mit dem historischen Material falsifiziert werden).16 Das Problem einer strikten Anwendung dieser strukturalistischen Methode liegt zum einen in der Privilegierung der antiken literarischen Texte, die ihrerseits bereits theologisch spekulierend und Strukturen konstruierend Bedeutung herstellen wollen. Diese Texte stellen selbst nur einen (wenn auch wichtigen) Ausschnitt aus den religiösen Diskursen der sozialen Akteure dar; da sie aber nur partikulare Vorstellungen und Interessen repräsentieren, ist ihre Reifizierung zum Zweck der etischen Darstellung eines Pantheon unstatthaft: Sie verwischt (erneut) die Grenzen zwischen Objekt- und Analyseebene. Gerade im Fall der griechischen und der römischen Religionsgeschichte führt der Zuwachs an nichtliterarischen (und häufig nicht den Diskursen der lokalen Eliten zugehörigen) Quellen zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung unseres Kenntnisstandes: Ging die Forschung zum Beispiel lange Zeit auf der Grundlage weniger antiquarischer Textquellen davon aus, daß Frauen in Rom grundsätzlich von der Verehrung des Gottes Hercules ausgeschlossen waren, so belegt die Zusammenschau der literarischen und der epigraphischen Zeugnisse, daß die Restriktionen sich nur auf den Kult des Gottes an der Ara Maxima bezogen, aber nicht universell waren.17 Derartige Arbeiten machen deutlich, daß ein Pantheon in der religiösen Praxis gerade kein kohärent strukturiertes Bezugssystem ist, in dem einer Gottheit eine eindeutige – und vor allem nur eine einzige – Funktion oder Aufgabe zugewiesen werden kann; auch Dumézils trifunktionales Strukturmodell kann so falsifiziert werden.18 Wie die meisten rein strukturalistischen Modelle vermag es weder die Polyvalenz der Götter in konkreten Handlungssituationen noch ihre historische Entwicklung hinreichend zu beschreiben. In welchem Verhältnis die Struktur eines Pantheon zu den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der sozialen Akteure steht, _______________ 16 Ausführlich DUMÉZIL, G., Archaic Roman religion, Chicago 1970 (frz. als: La religion romaine archaïque, Paris 1966), 148–175. 17 SCHULTZ, C.E., Modern prejudice and ancient praxis: female worship of Hercules in Rome, ZPE 133 (2000) 291–297. 18 Vgl. CORNELL, T.J., The beginnings of Rome. Italy and Rome from the Bronze Age to the Punic Wars (c. 1000–264 BC), London 1995, 75–79; BEARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, Bd. 1, 14–16. S. auch unten, Anm. 37.

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ist eine bis heute nicht gelöste Fragestellung. Angelo Brelich hat bereits 1960 eher en passant angemerkt, daß eine entwickelte polytheistische Religion zumindest das kulturelle Niveau einer Ackerbaugesellschaft voraussetze; und verschiedentlich ist vor allem mit Bezug auf die altorientalischen Hochkulturen vermutet worden, daß eine ausgeprägte hierarchische Ordnung des Götterhimmels, bis hin zur Konstruktion eines Götterkönigs, mit der Existenz einer Zentralherrschaft oder zumindest mit konsolidierten Herrschaftsverhältnissen einhergehen müsse.19 Zwingend ist diese Schlußfolgerung nicht: Komplex strukturierte Panthea mit Hierarchisierung und Arbeitsteiligkeit kennen auch so genannte Stammesreligionen.20 Weitergehende Aussagen über das Verhältnis von hierarchisch oder arbeitsteilig gegliederten Panthea sind daher immer nur mit Bezug auf konkrete historische Situationen und Kontexte möglich; Aussagen über grundsätzliche Korrelationen zwischen Hierarchisierung und Binnenstrukturierung der Götterwelt auf der einen Seite und den politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Strukturen auf der anderen sind hingegen problematisch.21 Polyvalenzen auf der Ebene der Götterwelt und historische Entwicklungen können nur auf der Grundlage einer forschungspragmatischen Perspektive angemessen erfaßt werden: Diese muß die Ensembles von Gottheiten, Heiligtümern, Kulten, Mythen und Theologemen in ihren konkreten sozialen und geographischen Räumen erfassen; sie muß auch die nach Raum, Zeit und Kontext unterschiedliche Verfügbarkeit der Götter untersuchen. Einen wissenschaftlichen Horizont für diese Fragestellung hat zuerst Karl Otfried Müller 1825 eröffnet: Jede Gottheit dürfe nicht zuerst durch ihre überregionalen Mythen, sondern müsse in ihrem lokal oder regional bedingten rituellen Kontext in ihrer jeweils unterschiedlichen Ausprägung untersucht und als ein Teil einer ‚Lokalreligion’ gedeutet wer_______________ 19 B RELICH, A., Der Polytheismus, Numen 7 (1960) 123–136. Vgl. grundsätzlich GLADIGOW, B., Kraft, Macht, Herrschaft. Zur Religionsgeschichte politischer Begriffe, in: DERS. (Hg.), Staat und Religion, Düsseldorf 1981, 7–22; D ERS., Art. Gottesvorstellungen, HrwG 3 (1993) 43–49, hier 37–39. 20 SCHULZ, H., Stammesreligionen. Zur Kreativität des kulturellen Bewußtseins, Stuttgart – Berlin – Köln 1993. 21 Vgl. GLADIGOW, Polytheismus, 325f. Zahlreiche Fallbeispiel für die Untersuchung derartiger Korrelationen zwischen Götterhierarchie und politischer Ordnung bieten die Beiträge in dieser Publikation. Auch in der griechischen und römischen Religionsgeschichte läßt sich beobachten, wie die Entwicklung lokaler Monotheismen und von AllGott-Konstruktionen bisweilen mit ganz konkreten politischen oder dynastischen Ambitionen Hand in Hand geht: B ENDLIN, A., Pantheos, Pantheios, DNP 9 (2000) 270–272, hier 271. Mit vereinfachenden Typologien, wie sie M ORA, F., Verso una tipologia del politeismo, in: BIANCHI, U. (Hg.), The notion of religion in comparative research, Rom 1994, 823–830; DERS., Verso una tipologia delle religioni classiche, Kernos 13 (2000) 9– 33 appliziert, läßt sich das Problem nicht lösen.

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den.22 Müller formuliert eine inzwischen akzeptierte Forschungsperspektive, in der die religiösen Systeme der griechisch-römischen Antike als ‚lokale Religionen’ verortet – in ihrer historischen Konkretisierung ist antike Religion zuerst Lokal- und Regionalreligion23 – und das Pantheon vor dem Hintergrund der Bedingungen der sie verehrenden lokalen Gemeinschaften rekonstruiert wird. Hieraus wurde das Forschungsparadigma der ‚Stadtreligion’, ‚polis religion’ oder ‚civic religion’ entwickelt: Die Frage nach dem Verhältnis des Pantheon zu der regionalen beziehungsweise lokalen Verortung der sozialen Akteure wird nun auf das Verhältnis der Religion zu der politischen Gemeinschaft verengt. Diese Frage nach dem Verhältnis von Pantheon und Politik ist somit die Engführung der ursprünglichen Frage nach dem Verhältnis des Pantheon zur Gesellschaft. Antike Religionen sind in dieser Perspektive als Stadtreligionen an das jeweilige politische System gebunden und ohne dieses – etwa im Gegensatz zur christlichen Religion – nicht verständlich; religiöse Praxis außerhalb der Parameter der öffentlichpolitischen Religion existiert nicht. Auch die Begriffe Staats- und Reichsreligion sind unserer Deutung der antiken Religionen als öffentlichpolitischer Entitäten verpflichtet; das Pantheon wird als Stadtpantheon, Staatspantheon oder Reichspantheon in Hinblick auf das antike Diskursfeld der politischen Öffentlichkeit analysiert. Aber bei der Anwendung dieser etischen Begriffe ist Vorsicht geboten: Durch die Anwendung beschreibt der Religionsforscher nicht einfach vor Ort vorfindbare religiöse Strukturen – weder bei dem Begriff noch bei der durch ihn umfassten Göttergesamtheit handelt es sich um emische Kategorien und Konzepte –, sondern gibt möglicherweise nur temporär beobachtbaren oder lediglich für umgrenzte politische und soziale Gruppen oder in spezifischen Kontexten relevanten Göttergruppen und -konstellationen erst einen Namen und eine Struktur, dazu eine quasi-historische Legitimation, die ihnen in der Realität nicht zukam. Die Gefahr dieses etischen Ansatzes ist: Er reifiziert möglicherweise flüssige Strukturen als System, die er eigentlich nur als flüssige Strukturen beschreiben sollte. Er marginalisiert – dies ist der Vorwurf der Kritiker an das Modell der ‚civic religion’ oder _______________ 22

MÜLLER, K.O., Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie, Göttingen 1825, 239–245. Vgl. SCHLESIER, R., Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt/M. 1994, 31f. 23 MACMULLEN, R., Paganism in the Roman empire, New Haven – London 1981, 1–7; MELLOR, R., The local character of Roman imperial religion, Athenaeum 80 (1992) 385– 400. Das methodische Problem ist vor diesem Hintergrund, wie eine ursprünglich in lokalen oder regionalen Kontexten situierte Religion in übergreifenden territorialen Strukturen (etwa als ‚Reichsreligion’) funktioniert: RÜPKE, J., Römische Religion und ‚Reichsreligion’: Begriffsgeschichtliche und methodische Bemerkungen, in: C ANCIK/RÜPKE , Römische Reichsreligion, 3–23.

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‚Staatsreligion’ – religiöse Praktiken und Vorstellungen, die außerhalb des politischen Diskursfeldes liegen, und macht so einen Teilaspekt antiker religiöser Praxis zum alleinigen Bewertungsmaßstab.24

2. Pantheon oder Panthea? Stadtrömische Lokalreligion Das hieraus resultierende forschungspragmatische Dilemma erfordert eine andere Form der religionshistorischen Beschreibung der Quellen. Ich beginne mit einem Text der lateinischen Fachschriftstellerei: In seinem Augustus gewidmeten Werk über die Architektur spricht Vitruv gegen Ende des 1. Jahrhunderts v.Chr. über die Auswahl der Plätze für die Tempel in einer neu gegründeten römischen Stadt. Der zuhöchst gelegene Platz gebühre dem Heiligtum der kapitolinischen Trias (Jupiter, Juno und Minerva) als den Gottheiten, von deren Schutz das Wohlergehen der Bürgerschaft in besonderem Maße abhängig sei. Mercurius solle ebenso wie Isis und Serapis einen Tempel auf dem Markt oder am Stapelplatz am Hafen erhalten. Die Heiligtümer für Apollon und Liber Pater solle man beim Theater errichten, dasjenige für Hercules beim Circus, es sei denn, Amphitheater oder Gymnasium (der griechische Herakles wird häufig mit der Ephebie und dem Gymnasion assoziiert) seien vorhanden. Die ‚übrigen Götter’ (ceteri di) erhalten Plätze nach der Art ihrer Opfer zugewiesen. Der Ceres aber müsse man das Heiligtum an einer geschützten Stelle außerhalb der Stadtmauern errichten; gleiches gelte für Venus (ein Tempel am Hafen), Mars (ein Heiligtum ad campum) und Volcanus. Im Fall der zuletzt genannten drei Gottheiten beruft sich Vitruv auf die rituellen Anweisungen der disciplina Etrusca: Ein Tempel für die Göttin der Liebe innerhalb der Stadtmauern könne bei heranwachsenden jungen Männern wie bei Familienmüttern die veneria libido übermäßig stimulieren; durch die Entfernung der Macht des Volcanus aus der Stadt schütze man die Gebäude vor der Bedrohung durch Feuer; durch die Verortung des Heiligtums des Mars _______________ 24 Zur Kritik vgl. STEVENSON, T.R., Social and psychological interpretations of Graeco-Roman religion: some thoughts on the ideal benefactor, Antichthon 30 (1996) 1–18, hier 1–10; BENDLIN, A., Peripheral centres, 47f.; W OOLF, G.D., Polis-religion and its alternatives in the Roman provinces, in: CANCIK/RÜPKE , Römische Reichsreligion, 71– 84; T ATUM , W.J., Roman religion: fragments and further questions, in: BYRNE, S.N./ CUEVA, E.P. (Hg.), Veritatis amicitiae causa. Essays in honor of A. L. Motto and J. R. Clark, Wauconda 1999, 273–291; B ENDLIN, A., Looking beyond the civic compromise: religious pluralism in Late Republican Rome, in: BISPHAM, E./SMITH, C. (Hg.), Religion in archaic and republican Rome: evidence and experience, Edinburgh 2000, 115–135, 167–171; DERS., Rituals or beliefs? ‚Religion‘ and the religious life of Rome, Scripta Classica Israelica 20 (2001) 191–208.

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außerhalb der Stadtmauern werde bewaffnete Zwietracht zwischen den Bürgern verhindert und die Stadt gegen externe Feinde geschützt.25 Der Platzhalter der ceteri di verdeutlicht, daß es Vitruv nicht um eine vollständige Liste eines römischen Pantheon gehen kann. Seine Auswahl repräsentiert einen summarischen Querschnitt und ist bemerkenswert nicht nur hinsichtlich der Gottheiten, die eingeschlossen werden, sondern auch derjenigen, die ausgeschlossen bleiben. Die Skizze der Gottheiten des Pantheon ließe sich – die ceteri di verweisen auf diese Möglichkeit – beliebig fortführen. Vitruvs Auswahl benennt zwar einen Kern von in einer römischen Stadt verehrten ‚großen’ Gottheiten, ignoriert aber jegliche lokalen oder regionalen Besonderheiten. Seine Zuweisung von Plätzen an die Gottheiten operiert auf der Basis eines einfachen, bisweilen auch griechisch-mediterrane Vorstellungen verratenden Bezugssystems zwischen der Gottheit und ihrer primären Funktion: Mercurius steht für den Handel, Apollon und Liber Pater für das Theater, Venus repräsentiert die fleischliche Liebe, Volcanus versinnbildlicht das Feuer, Mars den Krieg. Auch die Einbeziehung der rituellen Empfehlung der etruskischen Haruspices in einen fachschriftstellerischen Text verdeutlicht, daß die Auswahl des Autors bereits auf der Grundlage griechisch-römischer Typologisierungen und theologischer Interpretation operiert. Vergleicht man Vitruvs Liste mit anderen archäologisch oder zumindest epigraphisch nachweisbaren Panthea in Rom oder in römischen civitates im lateinischen Westen des Römischen Reiches, so fallen die Unterschiede ins Auge: Weder Rom noch irgendwelche coloniae oder municipia, und schon gar nicht urbane Siedlungen mit von coloniae und municipia verschiedenem Status, entsprechen ganz oder auch nur zu großen Teilen den topographischen und rituellen Empfehlungen Vitruvs oder der Haruspices. Liegen in ihrem Fall aber zumindest Überschneidungen und Entsprechungen in Einzelheiten vor, so sind diese im griechischen Osten kaum vorhanden.26 In republikanischer Zeit sind für die angeblich bereits von dem König Ancus Marcius gegründete römische colonia in Ostia lediglich Kulte für Jupiter Optimus Maximus, Hercules, Volcanus und wahrscheinlich Liber Pater sicher belegt, daneben für drei weitere Gottheiten, die in Vitruvs Katalog nicht auftauchen: Castor und Pollux sowie Silvanus. Die bei der Etablierung der römischen colonia von Urso in der Baetica, einer Gründung C. Iulius Caesars, verfaßte Lex benennt konkret lediglich Kult und Spiele für die kapitolinische Trias sowie für Venus Genetrix, die göttliche _______________ 25

Vitr. 1,7,1–2. Vgl. hierzu T OSI, G., La città antica e la religio nel de architectura di Vitruvio, in: Religione e città nel mondo antico, Rom 1984, 425–439; BULLO, S., Le indicazioni di Vitruvio sulla localizzazione dei templi urbani (De arch. 1,7,1): il caso africano, L’Africa Romana 10 (1992) 515–558. 26

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Ahnherrin des Koloniegründers, deren Tempel im Zentrum des von Caesar errichteten Forum in Rom steht; die Göttin wird offenbar so stark mit der Person Caesars in Verbindung gebracht, daß sie im epigraphischen Befund nach seinem Tod im Jahr 44 v.Chr. nur für einen begrenzten Zeitraum und in geringem Ausmaß, etwa in Urso, dokumentiert ist. Erneut bezeichnet ein Platzhalter – genannt werden nicht weiter spezifizierte ‚Götter und Göttinnen’ (dei deaeque) – die weitgehende Offenheit des neu in der Kolonie zu etablierenden Pantheon, dessen Erweiterung für die Zukunft dem lokalen ordo decurionum überlassen blieb. Auffällig sind sowohl das geringe Maß an kultischen Vorgaben aus der Zentrale wie die Freiheit zur religiösen Eigenverantwortung der römischen Kolonisten. Stadtrömische Gottheiten dürften nichts desto trotz gerade in den ersten Jahren der Existenz einer in der Fremde neu gegründeten Kolonie für die Stadtväter erste Wahl gewesen sein; doch entwickelten die römischen Kolonien im Prozeß des provinzialen Akkulturationsprozesses schnell eine eigenständige religiöse Identität, die sich auch in der Zusammensetzung ihrer Panthea niederschlug. In Aquileia in der Gallia Cisalpina, einer colonia seit 181 v.Chr., ist in republikanischer Zeit aus Vitruvs Liste Kult für Apollon, Hercules und Minerva (ohne Jupiter und Juno), dazu möglicherweise auch Serapis archäologisch oder epigraphisch nachweisbar. Das lokale Pantheon wird durch Bona Mens, Diovis, Fortuna, die Lares compitales, Saturnus und eine anderweitig unbekannte, vielleicht einheimische Gottheit Atamens, darüber hinaus durch den indigenen Flußgott Timavus und durch Belenus, die gemeinsam mit Apollon verehrte Windgottheit Borea sowie eine Gottheit mit Namen Attis Papas ergänzt. Weitere Kulttätigkeit aus republikanischer Zeit, die das Bild des lokalen Pantheon zusätzlich diversifizieren könnte, läßt sich leider nicht eindeutig bestimmen.27 Die von Vitruv an erster Stelle genannte kapitolinische Trias ist für Urso inschriftlich bezeugt, ein entsprechendes Capitolium muß aber konjiziert werden, da archäologische Reste bisher fehlen. Ebenso sind Capitolia zwar für zahlreiche, aber durchaus nicht für alle in republikanischer Zeit gegründeten coloniae belegbar; wieder andere coloniae errichteten Capitolia erst geraume Zeit nach ihrer Gründung. In Cosa, einer latinischen colonia seit 273 v.Chr., ersetzt ein Capitolium mit Kult der kapitolinischen Trias um 160 v.Chr. einen früheren Jupitertempel. In der alten römischen colonia Ostia läßt sich der Vorgängerbau des in hadrianischer Zeit errichteten Capitolium lediglich in die augusteische Epoche datieren. In Paestum, einer ebenfalls 273 v.Chr. gegründeten latinischen colonia, be_______________ 27

Ostia: MEIGGS, R., Roman Ostia, Oxford 21973, 337–351. Urso: BENDLIN, A., Peripheral centres, 48–50; vgl. auch R IVES, J., Venus Genetrix outside Rome, Phoenix 48 (1994) 294–306. Aquileia/Gallia Cisalpina: FONTANA, F., I culti di Aquileia repubblicana. Aspetti della politica religiosa in Gallia Cisalpina tra il III e il II sec. a. c., Rom 1997.

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ginnt man zu Beginn des 2. Jahrhunderts mit dem Bau eines Capitolium, das aber nie vollendet wird; an seine Stelle tritt um 100 v.Chr. ein Tempel der Pax. Im Gegensatz dazu steht im 2. und 3. Jahrhundert n.Chr. das Beispiel mehrerer nordafrikanischer Munizipien sowie von Siedlungen, die munizipalen Status anstrebten, aber noch gar nicht besaßen: Die Konstruktion eines Capitolium und die Einrichtung des Kultes der kapitolinischen Trias in diesen Gemeinschaften – also die einen politischen Status antizipierende Verwendung eines Statussymbols, das zuvor nur coloniae zugekommen war – wirft ein bezeichnendes Licht auf ihre gesteigerten politischen wie sozialen Ambitionen in einem provinzialen Kontext.28 Läßt sich mit Blick auf das stadtrömische Pantheon in republikanischer Zeit eine vergleichbare Diversifizierung nachweisen? Oder kann zumindest ein römischer Kernbestand des stadtrömischen Pantheon identifiziert werden? Für diese Frage soll die stadtrömische Sakraltopographie für den Augenblick vernachlässigt werden: Welchen über die Sammlung von Daten hinausgehenden Nutzen hat eine mehr oder minder vollständige Auflistung der in Rom zu einem bestimmten Zeitpunkt verehrten Gottheiten, ihrer Heiligtümer und Altäre (eine solche Auflistung ergäbe eine beeindruckende Anzahl an unterschiedlichsten Gottheiten), solange die religiösen Erwartungen der sozialen Akteure und das in der Stadt Rom existierende religiöse Kommunikationssystem verschwommen bleiben? Ergeben sich aus der Kommunikation der sozialen Akteure Rückschlüsse auf die Strukturmöglichkeiten des stadtrömischen Pantheon? In der römischen Republik konnten Gesetze bisweilen um einen zusätzlichen Passus erweitert werden, durch den die ausführenden Organe per Eid auf die Befolgung des entsprechenden Gesetzes verpflichtet wurden. So wird die Umsetzung der so genannten Lex Latina tabulae Bantinae aus dem späten 2. Jahrhundert v.Chr. durch einen Eid garantiert, den die amtierenden und zukünftigen römischen Magistrate „unmittelbar vor dem Tempel des Castor [und des Pollux] öffentlich bei Tageslicht dem Forum [Romanum] zugewandt innerhalb von fünf Tagen nach Bekanntwerden des Gesetzes in Anwesenheit eines Quaestors“ abzulegen haben; gleiches gilt für Senatoren „innerhalb von zehn Tagen in Anwesenheit eines Quaestors beim Aerarium öffentlich bei Tageslicht“. Grundsätzlich hatten römische Magistrate innerhalb von fünf Tagen nach Antritt ihres Amtes zu schwören, die bestehenden Gesetze zu befolgen. Eine Weigerung hätte das Ende der politischen Karriere bedeutet; die Eidesklausel konnte daher gerade im _______________ 28 Vgl. MEIGGS, Roman Ostia, 351–353, 380f. (nur zu Ostia); TODD, M., Forum and Capitolium in the early empire, in: GREW, F./HOBLEY, B. (Hg.), Roman urban topography in Britain and the Western empire, London 1985, 56–66; RIVES, J., Religion and authority in Roman Carthage from Augustus to Constantine, Oxford 1995, 40–42, passim; B EARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, Bd. 1, 333–336.

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Falle umstrittener Gesetzesvorhaben als politisches Druckmittel verwendet werden. Umso relevanter für unsere Fragestellung sind die göttlichen Adressaten dieser Eide: Es handelt sich um Jupiter Optimus Maximus und die Di Penates.29 Auch in der bereits erwähnten spätrepublikanischen Lex Ursonensis muß der mit der Finanzverwaltung der colonia beschäftigte scriba einen Eid auf Jupiter und die Di Penates ablegen. Der Eid, welcher in der Lex Irnitana, einem in Rom für das spanische municipium von Irni erlassenen Gesetz aus domitianischer Zeit, enthalten ist, nennt dieselben Adressaten. Dieser kaiserzeitliche Gesetzestext fügt zwischen Jupiter und den Di Penates allerdings zusätzliche Eidesgötter ein: Divus Augustus, Divus Claudius, Divus Vespasianus Augustus, Divus Titus Augustus und den Genius des Imperator Caesar Domitianus Augustus – also diejenigen divinisierten Herrscher, durch die sich die flavische Herrscherdynastie allgemein und der Kaiser Domitian im besonderen legitimierte. Der Text demonstriert die Adaptierbarkeit historisch motivierter Pantheon-Bildungen unter den konkreten Bedingungen des späten 1. Jahrhunderts der römischen Kaiserzeit.30 Der Einschluß Jupiters als Schwurgott überrascht nicht. Cicero kann sich über diejenigen Redner lustig machen, die glauben, für den Auftritt vor Gericht bestens präpariert zu sein, wenn sie nur aus einer beliebigen alten Rede die Worte „Iovem ego Optimum Maximum ...“ zu rezitieren im Stande seien. Die hervorgehobene Position von Jupiter Optimus Maximus als Schwurgott korreliert mit seiner Bedeutung für die politischen Rituale der Stadt. Gepaart ist der Schwurgott Jupiter mit den Di Penates, oder: den Di Penates publici populi Romani Quiritium (so ILS 108). Sie wurden an der Via Sacra am Südende des Forum Romanum als die Beschützer der römischen res publica kultisch verehrt.31 Die Wahl Jupiters und der Di Penates Publici als der paradigmatischen Schutz- und Schwurgötter des römischen Gemeinwesens verweist auf den speziellen politisch-administrativen Kontext der Dokumente, in denen sie angerufen werden: Wie bei Vitruv erfolgt auch hier eine Auswahl – und damit ein Ausschluß anderer Kandi_______________ 29 Lex Latina tabulae Bantinae: CRAWFORD, M.H. (Hg.), Roman statutes (BICS Supplement 64), London 1996, Bd. 1, Nr. 7, Zeile 14–18, 24. Weitere Beispiele sind C RAWFORD, ebd., Bd. 1, Nr. 8, Zeile 20–23, Nr. 12, Delphiexemplar, Block C, Zeile 10–15 und Bd. 1, 23. 30 Lex Ursonensis: CRAWFORD, Roman statutes, Bd. 1, Nr. 25, Kap. 81, Zeile 17–19. Lex Irnitana: Kap. 26, IIIB, Zeile 40–43; Text und Kommentar bei LAMBERTI, F., Tabulae Irnitanae: municipalità e ius Romanorum, Neapel 1993. Vgl. B ENDLIN, A., Peripheral centres, 50f. 31 Cic., div. in Caecilium 43. Di Penates: LINDERSKI, J., Art. Penates (Di Penates), DNP 9 (2000) 514–516, hier 515. Diesen öffentlich-politischen ‚Schutzcharakter’ Jupiters beziehungsweise der Di Penates publici instrumentalisiert Cicero mehrfach in seinen Reden: vgl. z.B. Cic., har. resp. 37; Sest. 45; Sull. 86,1; Verr. 2,4,17.

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daten – auf der Grundlage einer primären Funktionszuweisung. Allerdings bedeutet die ausschließliche funktionale Kontextualisierung der Di Penates Publici im öffentlich-politischen Bereich – sie werden durch die Gesamtheit des Populus Romanus in Gestalt seiner magistratischen Vertreter verehrt –, daß diese speziellen Gottheiten in anderen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens nicht repräsentiert sind; offenbar sind sie in den religiösen Vorstellungen der stadtrömischen Bevölkerung so stark mit dem Schutz der res publica populi Romani assoziiert, daß ihre Verehrung weder im Alltagsleben der freien Bürger noch für Bewohner ohne Bürgerrecht, Unfreie und Migranten attraktiv erscheint. Der freie römische Bürger und Pater familias verehrt zudem im Hauskult seine eigenen Di Penates, seine familia von Unfreien opfert den Laren oder dem Genius des Hausherrn.32 Die Ausbildung des stadtrömischen Pantheon, die Präsenz der Götter im Stadtbild und nicht zuletzt die persönlichen Vorlieben der Einwohner bei der Verehrung einzelner Gottheiten sind durch die in der römischen Gesellschaft herrschenden ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren konditioniert. Diese unterschiedlichen Faktoren spiegeln die Diversifizierung der ‚Weltstadt’ Rom wider: Nicht die Homogenität stadtrömischer Religion, sondern eine Vielfalt von im urbanen Raum miteinander konkurrierenden religiösen Vorstellungen und Götterwelten ist die Konsequenz. Ciceros politische und Gerichtsreden dokumentieren, wie selbst in einem politischen Kommunikationskontext die Auswahl der Götter situativ bedingt war. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil nennt er vor dem stadtrömischen Priesterkollegium der Pontifices – und unter Ausschluß einer weiteren Öffentlichkeit – erneut die Gottheiten, welche für das politische Selbstverständnis der stadtrömischen Führungsschicht in der Republik zentral sind: die kapitolinische Trias mit Jupiter Capitolinus (sic!), Juno Regina und Minerva, die Di Penates Publici und Vesta. Im Gegensatz hierzu steht die Liste, die Ciceros letzte öffentliche Rede gegen Verres beschließt: Neben Jupiter Optimus Maximus, Juno Regina und Minerva nennt der Redner hier vor den Richtern – seinem Gegenstand, den sizilischen Verhältnissen, angemessen – Latona, Apollon und Diana, Mercurius, Hercules, die Mater magna, Castor und Pollux, Ceres sowie ‚alle Götter’ (omnes di) unter Einschluß derjenigen lokalen Gottheiten, deren Rechte C. Verres als römischer Statthalter auf Sizilien verletzt hatte.33 In beiden Fällen bedingt in erster Linie die Rede- und Kommunikationssituation die _______________ 32

Vgl. zu diesem Differenzierungsmuster z.B. FRÖHLICH, Th., Lararien- und Fassadenbilder in den Vesuvstädten. Untersuchungen zur ‚volkstümlichen’ pompejanischen Malerei (MDAI Rom, 32. Erg.-H.), Mainz 1991, 30f., 40, 178f., 261. 33 Cic., dom. 144–146; Verr. 2,5,184–189. Zur Analyse dieser und vergleichbarer Stellen noch immer hilfreich ist HEIBGES, U., Religion and rhetoric in Cicero’s speeches, Latomus 28 (1969) 833–849.

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Auswahl: Auch wenn Einschluß und Ausschluß von Gottheiten nicht zufällig geschehen, so dokumentiert der Befund dennoch ein hohes Maß an Variabilität – eine Variabilität, die stärker durch kontextuelle Faktoren denn durch essentialistische, unveränderliche Kategorien konditioniert ist. Ciceros letzte Rede gegen Verres ist noch in anderer Hinsicht aufschlußreich. Sie verkörpert beispielhaft ein Prinzip der religiösen Kommunikation in Rom, welche auch in zahlreichen anderen Texten die Gottheiten in ihrer Gesamtheit – als di immortales oder di deaeque – adressiert. Während die moderne Religionsforschung häufig gleichsam essentialistisch mit dem Ausschlußverfahren das ‚römische’ Pantheon exklusiv zu bestimmen gesucht hat, operiert die antike Logik offenbar inklusiv: Ein wichtiges Prinzip (nicht nur) des antiken römischen Polytheismus ist der versuchte Einschluß aller Gottheiten – sowohl der Gesamtheit der in der eigenen Stadt verehrten Götter als auch aller anderen.34 Und schließlich dokumentieren die kaiserzeitlichen commentarii der Fratres Arvales (‚Arvalbrüder’), einer stadtrömischen Priesterschaft im Hain der Göttin Dea Dia, den Grad an Variabilität, der bei der Zusammenstellung von Götterlisten in einem polytheistischen System gegeben ist. Im Jahr 183 n.Chr. opfert der Magister des Kollegiums, ehe die Entfernung eines Feigenbaumes, welcher auf dem Dach des Tempels der Gottheit gewachsen war, und die Reparatur des Daches unternommen werden kann, Suovetaurilia (einen Stier, einen Widder und einen Eber) als Sühneritual (piaculum) für den vorzunehmenden Eingriff; sodann (das Wörtchen item, ‚ebenso’, markiert jeweils einen logischen Einschnitt) opfert er beim Heiligtum der Dea Dia den folgenden Gottheiten unterschiedliche Opfertiere (die Differenzierung verweist auf die hierarchische Binnenstrukturierung der Verehrten): der Dea Dia, dem Janus Pater, dem Jupiter, dem Mars, der Juno der Dea Dia, sive deo sive deae (‚dem Gott oder der Göttin’), den göttlichen Virgines, Fons, Flora, Vesta und Vesta Mater; es folgen (item) Opfer für Adolenda Conmolenda Deferunda; abschließend (item) wird auf dem Altar vor dem Caesareum, dem Heiligtum des Kaiserkultes, den sechzehn divi geopfert. Nachdem Sklaven den Baum entfernt, zerkleinert und verbrannt (auf diese drei Tätigkeiten bezieht sich der Name der einen Gottheit Adolenda Conmolenda Deferunda) und das Dach repariert haben, werden die Suovetaurilien wiederholt; dann (item) folgen Opfer für Dea Dia, Janus Pater, Jupiter, Mars, die Juno der Dea Dia, den Gott oder die Göttin, die göttlichen Virgines, die göttlichen Gehilfen, die Laren, die Mutter der Laren, den Gott oder die Göttin, ‚unter dessen beziehungsweise _______________ 34

Vgl. zu diesem Prinzip BENDLIN, A., Peripheral centres, 53f.; Liv. 42,3,9: „... tamquam non iidem ubique di immortales sint“ (‚als ob die unsterblichen Götter nicht überall dieselben sind’ im Sinne von: ‚überall, auch außerhalb ihres unmittelbaren lokalen Einzugsbereichs, als Götter zu verehren sind’).

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deren Schutz der Hain oder Ort stehe’, Fons, Flora, Vesta und Vesta Mater; sodann (item) folgen erneut Opfer für Adolenda Conmolenda Deferunda und (item) die sechzehn divi.35 Bereits die zweite der beiden Opfersequenzen erweitert die Liste der göttlichen Adressaten um ‚geringere’ Gottheiten. In den commentarii des Jahres 224 heißt die Gottheit, deren Name mit den Tätigkeiten der Sklaven im Hain verbunden ist, plötzlich Adolenda Coinquenda: Ein Blitz war in die Bäume des Haines eingeschlagen; diese müssen nun ausgegraben, zerkleinert, verbrannt und durch neue Bäume ersetzt werden (... earum[...] arborum eruendarum ferro ferendarum adolendarum commolendarum item aliarum restituendarum causa). Erneut werden vor Beginn der Arbeit Suovetaurilia durchgeführt; ebenso (item) wird wieder der Dea Dia geopfert, sodann, und dieses Mal offenbar vom Opfer für die Göttin des Hains abgesetzt, (item) dem Janus Pater, Jupiter, Mars, dem Gott oder der Göttin, der Juno der Dea Dia, den göttlichen Virgines, göttlichen Gehilfen, Laren, der Mutter der Laren, Fons, Flora, dem Summanus Pater, der Vesta Mater und der Vesta der Götter und der Göttinnen; schließlich (item) der Adolenda Coinquenda und – ein item fehlt dieses Mal – vor dem Caesareum dem Genius des regierenden Kaisers Severus Alexander Augustus, ‚unseres Herrn’, und erst dann (item) den divi. Nach Beendigung der Arbeiten im Hain wird die Opfersequenz, beginnend mit Suovetaurilia, wiederholt: „Der Rest wie oben“ (cetera quae supra) heißt es im inschriftlichen Text lapidar. In den commentarii des Jahr 240 fehlen Mars, die Juno der Dea Dia, Fons, Summanus Pater (der erst 224 in der Liste erschienen war) und die Vesta der Götter und Göttinnen ebenso wie Adolenda Coinquenda; die Binnenstrukturierung durch item des Jahres 224 ist weitgehend aufgegeben.36 Die Liste der Adressaten von Kult in den commentarii der Fratres Arvales unterliegt der ständigen Revision; das ihr zugrunde liegende Ordnungsprinzip scheint weniger strikten logischen Regeln zu folgen als vielmehr dem Bemühen um weitestgehende Inklusivität der handelnd gedachten Gottheiten verpflichtet zu sein: Empfänger wie der Genius des Kaisers werden seit 224 ergänzt, ‚große’ wie ‚geringere’ Gottheiten hingegen entfernt oder verändern wie die im Kontext der commentarii kreierte ‚Funktionsgottheit’ Adolenda Commolenda Deferunda über die Jahre ihre Namen.37 _______________ 35

Commentarii fratrum Arvalium (= CFA) Nr. 94, Col. I, Zeile 20–Col. II, Z. 14 (SCHEID, J. [ed.], Commentarii fratrum Arvalium qui supersunt, Rom 1998, 263f.). 36 224 n.Chr.: CFA Nr. 105 b, Zeile 5–19 SCHEID; 240 n.Chr.: ebd. Nr. 114, Col. I. 37 Vgl. hierzu SCHEID, J., Hierarchy and structure in Roman polytheism: Roman methods of conceiving action, in: ANDO, C. (Hg.), Roman religion, Edinburgh 2003, 164– 189 (zuerst als: Hiérarchie et structure dans le polythéisme romain: façons romaines de penser l’action, ARG 1,2 [1999] 184–203), hier 171, 179–187. – Sowohl hier (176–180) wie auch in SCHEID, J./SVENBRO, J., Le comparatisme, point de départ ou point

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3. Vielheit und Einheit Eine Mehrzahl von als handelnd und interagierend wahrgenommenen Gottheiten generiert offenbar zwangsläufig bereits auf der Ebene der sozialen Akteure Aussagen über die Art und das Verhältnis dieser Gottheiten zueinander. Die Binnenstruktur des Pantheon wird so zum (theo-)logischen Problem und zum Gegenstand von Systematisierungsbestrebungen und religionsphilosophischen Spekulationen. Derartige Prozesse begegnen uns in Rom in so unterschiedlichen Textsorten beziehungsweise Diskursfeldern wie den commentarii einer stadtrömischen Priesterschaft oder der Fachschriftstellerei eines Architekten. Auch im Diskursfeld der öffentlichen Religion in Städten und Stadtstaaten geht die Systematisierung der Rituale und Binnenstrukturierung der göttlichen Adressaten von Kult in einer Lokalreligion schon früh, nämlich mit dem Beginn der Kontrolle von Eliten über einen urbanen Siedlungskontext, Hand in Hand mit der Entstehung religiöser Spezialisten, der Entwicklung einer religiösen Infrastruktur von Kulten, Tempeln und Festen und der Ausformulierung eines rituellen Kalenders. Dieser Prozeß ist nicht nur für die erweiterte antike Mittelmeerwelt, sondern auch für andere vormoderne Gesellschaften typisch.38 Ein komplementäres Diskursfeld ist in der griechisch-römischen Mittelmeerwelt seit Homer und Hesiod die religionsphilosophische – oder auch theologische – Spekulation über das Wesen der Götter. Die Systematisierung des Verhältnisses einer Mehrzahl von Göttern zueinander und Spekulationen über die Vielen und den Einen führen bereits früh zur philosophischen Kritik an der materiellen Gottesvorstellung der Dichter und zu Gedankenexperimenten über den einen – im Einzelfall auch transzendent vorstellbaren – Allgott.39 Die als Motto diesem Beitrag vorangestellten Zitate sollen verdeutlichen, daß diese intellektuelle Frontstellung zwischen ______________________________________________________________________________________________

d’arrivée?, in: BOESPFLUG, F./DUNANT, F. (Hg.), Le comparatisme en histoire des religions, Paris 1997, 295–312, hier 297–302 wählt der Autor Dumézils trifunktionales Modell (s. oben, Anm. 16, 18) zur Erklärung der durch die Fratres Arvales in den Opferlisten gewählten Anordnung, muß aber zugeben, daß das Dumézilsche Modell gerade nicht konsistent applizierbar ist. 38 S. hierzu ausführlicher WHITEHOUSE, R.D., Underground religion. Cult and culture in prehistoric Italy, London 1992; CORNELL, Beginnings of Rome, 92–118 und für eine komparatistische Perspektive TRIGGER, B.G., Understanding early civilizations. A comparative study, Cambridge 2003, 472–521, 564–582. 39 S. hierzu ausführlich VERSNEL, H.S., Thrice one: three Greek experiments in oneness, in: P ORTER, B.N. (Hg.), One god or many? Concepts of divinity in the ancient world (TCBAI 1), Casco Bay 2000, 79–164; B ENDLIN, A., Wer braucht ‚Heilige Schriften’? Die Textbezogenheit der Religionsgeschichte und das ‚Reden über die Götter’ in der griechisch-römischen Antike, in: B ULTMANN, CH./MÄRZ, C.-P./MAKRIDES, V.N. (Hg.), Heilige Schriften: Ursprung, Geltung und Gebrauch, Münster 2005, 205–228, 251–254, hier 217–228.

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den vielen Göttern und dem einen Gott keine altorientalische oder griechische Sonderentwicklung darstellt, sondern auch im römischen Polytheismus zuhause ist. Philodemos von Gadara verteidigt in Italien im 1. Jahrhundert v.Chr. die epikureische Version der traditionellen Gottesvorstellung gegen die stoische Philosophie; Q. Valerius aus Sora – bei dem es sich wohl um den 82 v.Chr. auf Sizilien auf Initiative des römischen Senats hingerichteten Volkstribun handelt – verfaßt im hymnischen Stil eine Anrufung Jupiters, die eben jenen von Philodem attackierten stoischen, auf orphischen Grundlagen aufbauenden Pantheismus verteidigt und den höchsten Gott als Vereinigung aller logischen Oppositionen sowie als die Überhöhung der traditionellen Göttermehrzahl feiert.40 Aber der Eine, der über alle anderen Göttern gestellt wird, steht damit auch außerhalb der Götterwelt und jenseits von Zugänglichkeit. Der philosophische Hymnus ist ein logisches Gedankenexperiment, in dem sich keine persönliche Religiosität widerspiegelt und aus dem sich keine unmittelbaren kultischen Konsequenzen ergeben.41 Der Titel dieses Beitrags variiert den Titel eines Buches von Erik Hornung: Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen von 1971. Darin legt Hornung schlüssig dar, „daß Monotheismus niemals durch eine langsame Addition von ‚monotheistischen Tendenzen’ innerhalb des Polytheismus entsteht, sondern einen völligen Umschlag des Denkens erfordert. Ordnungstendenzen im Pantheon dürfen nicht mit einem Hang zum Monotheismus gleichgesetzt werden“.42 In der Religionsforschung ist man seit dem 17. Jahrhundert häufig einem anderen Denkmodell gefolgt, das die Entwicklung der Religionsgeschichte als eine Evolution vom Polytheismus (oder von dessen noch primitiveren Vorstufen) zum Monotheismus beschreibt. Häufig genug wurde damit eine Position bezogen, die ein po_______________ 40

Zu Q. Valerius s. SUERBAUM, W., Q. Valerius aus Sora, in: DERS. (Hg.), Handbuch der lateinischen Literatur der Antike. Erster Band (HAW 8.1), München 2002, 294–296. Zu der orphischen Konzeption eines kosmischen Gottes, die sich bereits beim Autor des so genannten Derveni Papyrus findet, s. BETEGH, G., The Derveni Papyrus. Cosmology, theology and interpretation, Cambridge 2004, 182–223; zu seiner stoischen Adaption s. COURTNEY, Fragmentary Latin poets, 67f. Im Hymnus muß der Adressat einen Namen erhalten: Besonders Zeus oder Jupiter stehen im Hymnus seit Aischylos (Ag. 160–183; F 70 TrGF) und im stoischen Hymnus seit Kleanthes (SVF 1,537) häufig (aber nicht ausschließlich: BENDLIN, Pantheos, Pantheios, 271) für den ‚höchsten Gott’. 41 Vgl. VERSNEL, Thrice one, 156: „To explain the inexorable, divinity must be depersonalized: the One god is nameless and is not conceived as an approachable personal authority, hence is neither worshipped nor invoked through prayer ... Though belonging to the same polythetic class of ‚gods’, the One and the Many are separate categories. In this respect, they are incomparable, hence do not compete…“; BENDLIN, Heilige Schriften, 219. 42 HORNUNG, E., Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 1971, 239.

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lytheistisches religiöses System nur aus dem Blickwinkel einer monotheistischen Perspektive zu deuten vermag.43 Aber dem Verständnis eines polytheistischen Systems kommt man durch die Engführung auf das Gegensatzpaar Polytheismus – Monotheismus nicht näher: Denn diese Engführung macht die (monotheistische) Fragestellung nach der Gottesvorstellung – der Eine oder die Vielen? – zum Zentrum ihrer Klassifizierung von Religionstypen.44 Jene Fragestellung ist aber bis weit in die römische Kaiserzeit keine zentrale Kategorie ‚paganer’ religiöser Selbstdefinition; zu dieser wird sie erst in der Auseinandersetzung mit der frühchristlichen Apologetik.45 Um zu einem methodisch befriedigenden Verständnis des Polytheismus zu gelangen, muß – darauf versucht der Titel meines Beitrags hinzuweisen – das mißverständliche Gegensatzpaar des Einen und der Vielen aufgelöst werden: Nicht die moderne Konzentration auf die Frage der Gottesvorstellung, und deren Reduktion auf die Frage von Einzahl und Vielzahl, vermag die realen Strukturen und Strukturprobleme polytheistischer Systeme angemessen zu beschreiben. Die Debatte über die rechte Gottesvorstellung, die Philodem und Q. Valerius stellvertretend austragen, bleibt in der ‚paganen’ Antike vielmehr ein Widerstreit der Heterodoxien, welche für die Diskursteilnehmer und ihr Publikum unterschiedliche theologische und religiöse Sinnsysteme markieren und zugleich immer auch über die Existenz der jeweils anderen Sinnsysteme reflektieren. So ließe sich wohl eher formulieren, daß die Strukturbedingungen religiösen Handelns und Reflektierens in den polytheistischen Systemen insulare philosophische Eingottvorstellungen oder gar Monotheismen (im Plural) zulassen, die mit konträren Sinnangeboten konkurrieren und doch mit diesen abgeglichen werden können. Bereits Augustinus hat als scheinbares Paradoxon formuliert, daß die verschiedenen ‚paganen’ Philosophenschulen zwar entgegengesetzte Gottesvorstellungen entwerfen, aber dennoch an denselben Ritualen für dieselben Götter teilnehmen.46 Religiöse Handlung und philosophische Reflexion mögen zwar zwei unterschiedlichen Diskursräumen angehören, sie sind nach der Logik des Polytheismus dennoch nicht inkompatibel. Auch Q. Valerius aus Sora, der Autor des Hymnus auf den Gott, der über den Göttern steht, hat als römischer Volkstribun an den religiösen und po_______________ 43 Dazu kritisch GLADIGOW, Strukturprobleme, 293; G. AHN, ‚Monotheismus’ – ‚Polytheismus’: Grenzen und Möglichkeiten einer Klassifikation von Gottesvorstellungen, in: D IETRICH, M./LORETZ, O. (Hg.), Mesopotamica – Ugaritica – Biblica, NeukirchenVluyn 1993, 1–24, hier 5–12; G LADIGOW, Polytheismus, 322f. 44 AHN, Monotheismus, 15–21. 45 S. hierzu MOMIGLIANO, A., The disadvantages of monotheism for a universal state, ClPh 81 (1986) 285–297 (ND in: DERS., On pagans, Jews, and Christians, Middletown 1987, 142–158). 46 Aug., De vera religione 2.

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litischen Ritualen der res publica partizipiert. Auch in diesem Sinne ist das polytheistische System des antiken Rom ein Beispiel für den Normalfall des religiösen Pluralismus.

4. Der Blick des Ethnologen Zur adäquaten Beschreibung dieses auf Pluralität, Variabilität und Polyvalenz gegründeten religiösen Systems bedarf es einer ‚dichten Beschreibung’ der religiösen Handlungen, Vorstellungen und Weltbilder der sozialen Akteure; eine solche Beschreibung muß die religiösen Selbstdarstellungen der sozialen Akteure in den unterschiedlichsten Kontexten ebenso berücksichtigen wie ihre nach Ort, Zeit, Herkunft und Status verschiedenen Repräsentationen der Götter. Der heuristische Begriff der ‚dichten Beschreibung’ ist dem Werk des amerikanischen Kulturanthropologen Clifford Geertz entlehnt. Dort wird bekanntlich, in Weiterentwicklung früherer theoretischer Ansätze, die Aufgabe der Ethnologie – unter Einschluß der Religionsethnologie – als ‚thick description’ bezeichnet. Ziel des (Religions-)Ethnologen sei nicht bloß die Sammlung und Katalogisierung des Materials; Geertz spricht in diesem Zusammenhang despektierlich von einer ‚thin description’. ‚Dichte Beschreibung’ strebe hingegen danach, (religiöses) Verhalten in seinem kulturellen Kontext zu beobachten und zu erklären. Handlungen seien öffentlich und (im Anschluß an Max Weber) sinn- und bedeutungsvoll, Bedeutung aber werde durch Handlung auf der Grundlage eines gemeinsamen kulturellen (religiösen) Symbolsystems kommuniziert. ‚Dichte Beschreibung’ versetze den Ethnologen somit in die Lage, die von ihm beobachteten vielfältigen und komplexen, zunächst fremdartigen und widersprüchlichen Handlungen, Aussagen und Vorstellungen der sozialen Akteure als symbolische Kommunikationsformen zu verstehen und daraus das in ihnen (symbolisch) repräsentierte kulturelle (religiöse) Symbolsystem zu rekonstruieren.47 Die dem Geertzschen Modell zugrunde liegende – wissenschaftstheoretisch unzureichende48 – symbolische Kulturtheorie braucht hier ebenso wenig zu interessieren wie der Zirkelschluß, der resultiert, wenn aus den Handlungen ein kulturelles Symbolsystem erst erschlossen und jenes Symbolsystem dann zum Maßstab der Bedeutung dieser Handlungen gemacht _______________ 47

GEERTZ, C., The interpretation of cultures, New York 1973, 3–30 (dt. in: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 21991, 7–43). Auch Religion ist für Geertz ein ‚kulturelles Symbol-System’, religiöse Handlung für ihn ebenso symbolische Kommunikation: ebd., 87–125 (dt. in: ebd., 44–95). 48 Vgl. B ÜHL, W.L., Kulturwandel. Für eine dynamische Kultursoziologie, Darmstadt 1987, 59–71; SCHULZ, Stammesreligionen, 196–214.

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wird.49 Attraktiv an der ‚dichten Beschreibung’ ist das Postulat, der Prozeß des (ethnographischen) Verstehens sei kein Resultat des psychologisierenden oder phänomenologischen Sich-Einfühlens, sondern das Ergebnis von Beobachtung. Attraktiv ist auch das im emischen – und im speziellen Falle des beobachtend involvierten Ethnologen immer auch empathetischen – Ansatz der ‚dichten Beschreibung’ enthaltene heuristische Potential.50 Soll die antike Religionsgeschichte über die bloße ‚thin description’ hinauskommen, muß sie die Rolle eines beschreibend interpretierenden Ethnologen einnehmen: Neben der historisch-kritischen Analyse des religionsgeschichtlichen Materials bedarf es auch eines gehörigen Maßes an – historisch konditionierter – empathetischer Imagination. Wenn in der Religions- und Sozialgeschichte der Antike derzeit mit postmodernen Alternativen zu den traditionellen Darstellungsmodi wie etwa der fiktiven historischen Narrative oder der dokumentarischen Collage operiert wird, dann deshalb, um dem eigenen Gegenstand gleichsam ethnologisch beobachtend näher zu kommen.51 Die Unterschiede zwischen moderner Ethnologie und antiker Religionsgeschichte liegen freilich offen zu Tage: Im Gegensatz zum ethnographischen Feldforscher, der den lebenden Gegenstand bereist, beobachtet und, wenn er denn möchte, befragt, sind dem Religionshistoriker durch die Quellenlage enge Grenzen gesetzt: Selbst im Fall der vergleichsweise reichhaltig dokumentierten stadtrömischen Religion privilegiert die nur fragmentarische Überlieferung die religiösen Handlungen und Vorstellungen einer gebildeten und wohlhabenden Minderheit, während die religiösen Praktiken und Weltbilder der überwiegenden Mehrheit der in der Stadt Rom Lebenden für uns kaum oder nicht mehr direkt zugänglich sind. Und während sich ein in der westlichen Tradition sozialisierter Ethnologe wie Geertz zumindest der Illusion hingeben kann, durch die kulturelle Begegnung seinen asiatischen, arabischen oder afrikanischen Gesprächspartner _______________ 49

S. hierzu ausführlicher, mit weiterer Literatur, B ENDLIN, A., Gemeinschaft, Öffentlichkeit und Identität: Forschungsgeschichtliche Anmerkungen zu den Mustern sozialer Ordnung in Rom, in: EGELHAAF-GAISER, U./SCHÄFER, A. (Hg.), Religiöse Vereine in der römischen Antike. Untersuchungen zu Organisation, Ritual und Raumordnung, Tübingen 2002, 9–40, hier 24–27. 50 Zu dieser emischen Perspektive vgl. GEERTZ, C., Local knowledge. Further essays in interpretive anthropology, New York 1983, 58f. 51 S. z.B. das Postulat, die (religions-)historische Rekonstruktion erfordere die kritische Analyse und die empathetische Imagination, bei HOPKINS, K., A world full of gods. The strange triumph of Christianity, London 1999, 2 und M ORLEY, N., Migration and the metropolis, in: EDWARDS/WOOLF, Rome the cosmopolis, 147–157, hier 157. Das Experiment der fiktiven historischen Narrative muß im Fall von H OPKINS, ebd. gleichwohl als gescheitert gelten: BOWERSOCK, G., Early Christianity as historical fiction, JRA 13,2 (2000) 763–766; NEMO, H. (i.e., KINZIG, W.), Letter to Keith Hopkins, ZAC 4 (2000) 219–224.

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unter Rückgriff auf emische Kategorien verstehend beschreiben zu können, trennen den Altertumswissenschaftler in der Regel nicht nur die Jahrtausende, sondern darüber hinaus weitaus mehr als nur die Distanz zwischen Erster und Dritter Welt von seinem Gegenstand. Ist es trotz dieser Unterschiede möglich, gleichsam mit dem Blick des historischen Ethnologen die religiösen Handlungen, Vorstellungen und Strukturen im antiken Rom ‚dicht beschreibend’ zu erfassen? Möglich ist dies wohl immer nur dort, wo die Überlieferung mehr als nur zufällige Momentaufnahmen erlaubt oder wo jene Momentaufnahmen gebündelt werden können. Ein solcher Ort ist das Kapitol in Rom. Am 1. September des Jahres 22 v.Chr. dediziert der Kaiser Augustus einen Tempel des Jupiter Tonans, des ‚Donnerers’, am Eingang zur Area Capitolina. Das Kultbild, eine Bronzestatue des attischen Künstlers Leochares aus dem 4. Jahrhundert, zeigt einen nackten und bärtigen, leicht ausschreitenden Zeus, der in der erhobenen Rechten ein Szepter hält und mit der Linken einen Blitz umfaßt. Das Heiligtum gehört zu Augustus’ großartigsten und mit Wänden aus Marmor sowie mehreren Statuen prächtigsten Bauprojekten. Der Tempel wird sowohl in den postum vor dem Mausoleum des Princeps auf dem Marsfeld veröffentlichten Res Gestae als auch von Sueton für seine Bedeutung erwähnt.52 Gelobt hatte der Princeps dem Gott diesen Tempel im Jahr 26 in Cantabrien aus Dankbarkeit: Ein Blitz (fulgur) soll seine Sänfte eines Nachts gestreift, anstatt seiner aber einen den Weg ausleuchtenden Sklaven getroffen und getötet haben. Derartige fulgura galten in der römischen Religion häufig als schlechte Vorzeichen: Der vom Blitz getroffene Ort war von nun an ein locus religiosus; demjenigen, den ein Blitz getötet hatte, wurden die iusta, das Begräbnisritual, verweigert; der Blitzeinschlag selbst mußte rituell entsühnt werden. Augustus aber deutet den Vorfall als ein positives Zeichen und kann sich dabei ebenfalls auf die religiöse Tradition berufen: In der etruskischen Blitzlehre wurde offenbar argumentiert, daß einem politischen Führer oder König, der vom Blitz getroffen worden war, den Vorfall aber überlebt hatte, und noch seinen Nachkommen politischer Erfolg und ewiger Ruhm beschieden seien. Das Dedikationsritual auf dem Kapitol am 1. September 22 soll ein Donnergrollen begleitet haben, mit dem der Gott seine Zufriedenheit zum Ausdruck brachte.53 Tatsächlich ist Jupiter Tonans ein dynasti_______________ 52

Res Gestae 19; Suet., Aug. 29; Cass. Dio 54,4,2; Inscriptiones Italiae 13,2, p. 504; W ISSOWA, Religion und Kultus, 122; P LATNER, S.B./ASHBY, Th., A topographical dictionary of ancient Rome, London 1929, 305f.; MARTIN, H.G., Die Tempelkultbilder, in: Kaiser Augustus und die verlorene Republik, Mainz 1988, 254f. mit Kat. Nr. 253; GROS, P., Iuppiter Tonans, Aedes, LTUR 3 (1996) 159f. mit Abb. 107. 53 Suet., Aug. 29,3; Cass. Dio 54,4,2. Blitze und römische Religion: Cic., leg. 2,21; Festus p. 190 LINDSAY; Paulus p. 82 LINDSAY; LE B OURDELLÈS, H., La loi du foudroyé, REL 51 (1973) 62–76; SCHILLING, R., Iuppiter Fulgur, in: Mélanges Pierre Boyancé,

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scher, weil eng mit dem Kaiser verbundener, und geradezu ‚königlicher’ Gott: Während im Olymp der donnernde (tonans), Blitz und Donner beherrschende Jupiter als König regiert, gelte zukünftig Augustus bereits zu Lebzeiten als praesens divus, schreibt Horaz im schon 23 v.Chr. veröffentlichten dritten Buch seiner Oden.54 Nach der Dedizierung des Tempels träumt Augustus (von dem wir wissen, daß er den eigenen wie den Träumen anderer große Aufmerksamkeit schenkte)55: Als er häufig den Tempel des Jupiter Tonans aufsucht, erscheine ihm Jupiter Optimus Maximus und klage, daß der kapitolinische Kult des Jupiter Tonans ihn degradiere, indem ihm die Besucher abhanden kämen. Die Bedrohung ist real: Im Jupitertempel auf dem Forum in Pompeji wird in augusteischer Zeit das alte Kultbild des sitzenden Jupiter, das nach dem Vorbild des stadtrömischen Jupiter Optimus Maximus gearbeitet war, durch eine neue, den Statuentyp des Jupiter Tonans repräsentierende Kultstatue ersetzt.56 In Rom soll es dazu nicht kommen: Dem ‚größten und besten’ Jupiter antwortet Augustus im Traum, Jupiter Tonans sei ihm, dem Gott, als Torwächter (ianitor) der Area Capitolina zur Seite gestellt, läßt anschließend am Giebel des Tempels des Jupiter Tonans (so berichtet Sueton; Cassius Dio spricht vom Kultbild des Gottes) Glöckchen befestigen und bittet von nun an persönlich einmal im Jahr das Volk um eine Geldspende, die offenbar dem Kult des Jupiter Optimus Maximus zugute kommt. Cassius Dio erklärt die Glöckchen mit der stadtrömischen Praxis, daß Nachtwächter in Rom Glöckchen trugen, um die Bevölkerung bei Gefahr warnen zu können. Nach dieser Deutung würden die Glöckchen den dem Jupiter Optimus Maximus jetzt untergeordneten Status des Jupiter Tonans symbolisieren: Tor-, Tür- und Nachtwächter in Rom waren in der Regel Niedergestellte und Unfreie. Auch Augustus erniedrigt sich einmal im Jahr und bettelt die Bevölkerung um Geld an. Glöckchen können in dem kulturellen Symbolsystem Roms eine solche Bedeutung haben. Aber ist eine derartige Erniedrigung des Jupiter Tonans, ist eine solch drastische Binnenhierarchisierung des Pantheon durch Augustus denkbar? Müßte er dann nicht zurecht mit dem Zorn des Jupiter Tonans rechnen? Als Lösung bietet sich eine andere Interpretation an, welche auf die Funktion von Glöckchen in rituellen Kontexten rekurriert, wo ihr Klang den Zorn der Götter besänftigen soll: Ihre Installation über dem Eingang des Tempels ______________________________________________________________________________________________

Rom 1974, 681–689. Etruskische Blitzlehre: Serv. auct., Aen. 2,649; T HULIN, C., Die etruskische Disziplin, Göteborg 1905–1909 (ND Darmstadt 1968), 78, 90f. 54 Hor., carm. 3,5,1–3; MARTIN, Tempelkultbilder, 254. 55 Suet., Aug. 91,2; Cass. Dio 54,4,2–4. Zu den Träumen des Augustus s. allgemein Suet., Aug. 91,1; WEBER, G., Augustus und die Träume, in: WEBER, G./ZIMMERMANN, M. (Hg.), Propaganda – Selbstdarstellung – Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jhs. n.Chr. (Historia ES 164), Stuttgart 2003, 297–316. 56 MARTIN, Tempelkultbilder, 255.

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des Herrn über Blitz und Donner ist vor dem Hintergrund dieser symbolischen Bedeutung von Glöckchen eine durchaus sinnvolle Vorkehrung gegen zukünftiges Unheil.57 Cassius Dio scheint durch andere Quellen vermittelten Zugang zu Aufzeichnungen des Augustus aus der Zeit nach dem 1. September 22 v.Chr. besessen zu haben, denn er zitiert Augustus’ eigene Worte. Der Zorn des Jupiter Optimus Maximus sei nachvollziehbar, denn wie er, Augustus, habe auch die stadtrömische Bevölkerung den Jupiter Tonans bevorzugt: Zum einen, weil der Name und die Kultstatue des Gottes neu gewesen seien; zum anderen, weil der Kult vom Princeps eingerichtet worden sei; vor allem aber, weil ein jeder, der die Area Capitolina betrete, zuerst am Tempel des Jupiter Tonans vorbeikommen müsse. Der Traum des Augustus und die darin ausgetragenen Konflikte ließen sich weiter fortspinnen: In Rom gab es einen republikanischen Tempel des Jupiter Fulgur, dessen Gründungstag auf den 7. Oktober fiel.58 Was wohl dieser ältere Gott der Blitze dem Augustus im Traum zu der Konkurrenz durch den Jupiter Tonans zu sagen gehabt hätte? Der Kult für Jupiter Tonans und die Traumerscheinung des Jupiter Optimus Maximus konfrontieren den Princeps mit den Problemen, die sich aus den Strukturierungsmöglichkeiten, aber auch den Spielregeln des stadtrömischen Pantheon ergeben. Instrumente der weitergehenden Binnendifferenzierung dieses Pantheon, das die überschaubare Zahl weniger ‚großer Götter’ schnell übersteigt, sind die unterschiedlichen Epitheta (eine andere Möglichkeit sind Toponyme);59 der Erweiterung des stadtrömischen Pantheon sind auf diesem Wege keine Grenzen gesetzt. Nur für Jupiter möchte ich dies in aller Kürze demonstrieren. Neben Jupiter Optimus Maximus, Jupiter Tonans und Jupiter Fulgur ist in der Area Capitolina ein vielleicht ins 2. Jahrhundert v.Chr. zurückgehender Jupiter Africus bezeugt. Jupiter Pistor, den Wissowa für einen weiteren Blitzgott hält, hat ebendort in augusteischer Zeit einen Altar; der Beiname ‚Bäcker’ läßt aber eher an eine Verbindung zu diesem Berufsstand denken. Domitian läßt zuerst dem Jupiter Conservator (dem ‚Beschützer’) ein Heiligtum beim Kapitol errichten, das er später durch einen größeren Tempel für Jupiter Custos (den ‚Wächter’) ersetzt. Auf dem Kapitol selbst entsteht unter Claudius ein Altar für den Jupiter Depulsor (den ‚Vertreiber’). Der alte republikanische Tempel _______________ 57

Zu dieser Bandbreite der Bedeutungen von Glöckchen im profanen und im religiösen Kontext s. HINARD, F./DUMONT, J.CH. (Hg.), Libitina. Pompes funèbres et supplices en Campanie à l’époque d’Auguste, Paris 2003, 122. 58 SCHILLING, Iuppiter Fulgur; M ANACORDA, D., Iuppiter Fulgur, Aedificium, LTUR 3 (1996) 136–138. 59 Vgl. hierzu auch GLADIGOW, B., Art. Gottesnamen (Gottesepitheta), RAC 11 (1981), 1202–1237; P ARKER, R., The problem of the Greek cult epithet, Opuscula Atheniensia 28 (2003) 173–183.

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des Jupiter Feretrius in der Area Capitolina gehört zu den von Augustus restaurierten Heiligtümern. Der bezüglich seiner Bedeutung mysteriöse Jupiter Elicius hat seinen Altar auf dem Aventin. Die Restaurierung eines ebenfalls auf dem Aventin zu lokalisierenden Tempels des Jupiter Liber erwähnen erneut die Res Gestae des Augustus. Jupiter Viminus wird an einem Altar auf dem Viminalis verehrt; der Hügel soll seinen Namen von der Gottheit erhalten haben. Das Heiligtum des Jupiter Fagutalis, im Lucus Fagutalis gelegen, gibt den Namen dieses Gottes einem stadtrömischen Stadtviertel (vicus). Unter den von Augustus in den vici Roms gestifteten Statuen befindet sich auch ein Jupiter Tragoedus. Der Stiftungstag des Tempels des Jupiter Victor ist der 13. April. Der Tempel eines weiteren Siegesgottes, des Jupiter Invictus (des ‚Unbesiegten’) auf dem Palatin datiert bereits in das 3. vorchristliche Jahrhundert. Von diesem verschieden ist ein Jupiter Propugnator (der ‚Verteidiger’), dessen ebenfalls palatinisches Heiligtum in die hohe Kaiserzeit datiert wird. Auf der Isola Tiberina verehrt man bereits in republikanischer Zeit einen Schwurgott Jupiter Iurarius. Jupiter Stator (‚der ‚Standhafte’) besitzt gar zwei bereits republikanische Kultstätten in Rom. Dieser Vielfalt fügt der Kaiser Alexander Severus 222 n.Chr. ein Heiligtum für den Jupiter Ultor (den ‚Rächer’) hinzu.60 Wie lassen sich diese Binnendifferenzierungen des Pantheon durch Epithetonbildung oder Toponymität verstehen? Für die ‚Pariser Schule’ sind diese Götter ‚Mächte’ ohne eine weiterreichende Individualität, die nur innerhalb der Logik des strukturalistischen Bezugssystems ihres Pantheon existieren; sie sind keine Personen. Das Epitheton konkretisiert ihren Platz in jenem Bezugssystem.61 Mit Blick auf die Götterlisten in den commentarii der Fratres Arvales deutet John Scheid die ‚Epithetisierung’ der Götter als fortschreitende Aufspaltung einer Gottheit in ihre unterschiedlichen funktionalen Aspekte und eng umgrenzten Handlungsbereiche, die sich in einem – erneut strukturell verstandenen – Bezugssystem komplementärer _______________ 60

CHIOFFI, L., Iuppiter Africus, LTUR 3 (1996) 130. – Ov., fast. 6,349–394; W ISSOWA, Religion und Kultus, 122; ARONEN, J., Iuppiter Pistor, Ara, LTUR 3 (1996) 154f. – REUSSER, Ch., Iuppiter Conservator, ebd., 131f. – C HIOFFI, L., Iuppiter Depulsor, Ara, in: ebd., 132 – Res Gestae 19; COARELLI, F., Iuppiter Feretrius, Aedes, LTUR 3 (1996) 135f. – BENDLIN, A., Art. Manalis lapis, DNP 7 (1999) 789 – Res Gestae 19: „... Iovis Libertatis“; zum Namen s. ANDREUSSI, M., Iuppiter Libertas, Aedes, LTUR 3 (1996) 144. – ARONEN, J., Iuppiter Viminus, Ara, ebd., 162. – Varro, ling. 5,152; Plin., nat. 16,37; Paulus p. 77 LINDSAY – Suet., Aug. 57. – COARELLI, F., Iuppiter Victor, Templum, LTUR 3 (1996), 161 – ZIOLKOWSKI, A., The temples of mid-republican Rome, Rom 1992, 80–85 – CHIOFFI, L., Iuppiter Propugnator, Aedes, LTUR 3 (1996), 155 – DEGRASSI, D., Iuppiter Iurarius, ebd., 143f. – COARELLI, F., Iuppiter Stator, Aedes, ebd., 155–157; VISCOGLIOSI, A., Iuppiter Stator, Aedes ad Circum, ebd., 157–159. – Z IOLKOWSKI, Temples, 80–85. 61 BRUIT ZAIDMAN/SCHMITT P ANTEL, Religion der Griechen, 180.

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Handlungen ergänzen.62 Auch für Erik Hornung handelt es sich bei der Frage der Ausdifferenzierung der Götterwelt um ein logisches Problem, das im Rahmen einer mehrwertigen Logik beantwortet werden müsse: ‚Der Eine und die Vielen’ wird umformuliert zu „Gott [als] eine Einheit in seiner Verehrung und Offenbarung, [als] eine Vielheit in seinem Wesen und seiner Erscheinung“. Mit dieser Formulierung gibt Hornung lediglich einen partikularen theologischen Diskurs der Objektebene wider, der sich in dieser Form in den altägyptischen Quellen oder bei Stoikern und Platonikern des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit findet.63 Der Epikureer Philodem hätte gewiß heftig widersprochen. Konfrontiert man diese Ansichten mit dem Traum des Augustus, so muß man zu einem anderen Urteil gelangen: Dort treffen wir auf zwei personalisierte und in Konkurrenz zueinander subjektiv handelnde Götter. Obwohl beide den Namen Jupiter tragen und vordergründig ‚nur’ durch ein (im Fall des Jupiter Tonans eine primäre Funktion bezeichnendes) Epitheton unterschieden sind, handelt es sich in ihrem Fall nicht um funktionale Ergänzungen in einem logischen Sinn- und Handlungssystem, sondern um in ihrer Individualität verschiedene ‚Personen’, die als eigenständige soziale Akteure auftreten und im Fall des Jupiter Optimus Maximus auch emotional agieren. Beide sind nicht Variable in einem strukturierten Bezugssystem, sondern werden in ihrer komplexen Individualität erfahren. Der Prozeß der ‚Epithetisierung’ trägt zu dieser Individualisierung und Personalisierung bei. Beide unterscheiden sich zudem hinsichtlich ihres Aussehens; sie werden auch aus diesem Grund von der stadtrömischen Bevölkerung als unterschiedlich wahrgenommen. Zu Jupiter Tonans geht man, weil der Gott neu und anders und der Kult vom mächtigsten Mann in Rom eingerichtet worden ist; daß der Tempel auch noch schneller erreichbar ist als das Heiligtum der kapitolinischen Trias, erhöht die Attraktivität des Jupiter Tonans in einem offenen religiösen Markt von Angebot und Nachfrage zusätzlich.64 Gestehen wir diesen sozialen Akteuren ihre Persönlichkeit zu, dann löst sich auch ein – vermutlich eher logisches denn handlungspragmatisches – Problem: Im religionsphilosophischen oder theologischen Diskurs kann argumentiert werden, daß sich hinter Jupiter Optimus _______________ 62

SCHEID, Hierarchy and structure, 185–187, hier 186: „... aspects of the action of a deity to whom they are linked according to need or context. (...) [A]ll of these divine figures and all of these polytheistic structures work together to express, within a given context, one sole concept and one sole action“. 63 HORNUNG, Der Eine, 239. Für bereits antike Varianten der Hornungschen Formulierung s. ASSMANN, J., Monotheism and polytheism, in: JOHNSTON, S.I. (Hg.), Religions of the ancient world. A guide, Cambridge/Mass. – London 2004, 17–31, hier 24–28 (in einem Abschnitt mit dem mißverständlichen Titel ‚evolutionary monotheism’). 64 Zur Analyse polytheistischer Religionen als eines religiösen Marktes s. B ENDLIN, Looking beyond the civic compromise, 134f.

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Maximus und Jupiter Tonans (und hinter all den anderen Jupiter-Göttern in Rom) ein Jupiter verberge. In einer kultpragmatischen Perspektive gewährleistet die namentliche oder räumliche Ausdifferenzierung (durch Epitheta oder Toponyme) und die Kontextualisierung im lokalen Raum (mit eigenem Tempel, Feier-Tag und Kultbild) Verschiedenheit; anders wäre den sozialen Akteuren bedeutungsvolles religiöses Handeln vor Ort unmöglich. Zugleich erlaubt der erste Name des Gottes eine Rückbindung des speziellen Kultes an allgemein geteilte Theologeme oder Weltbilder. Jupiter Tonans konkurriert deshalb so erfolgreich mit Jupiter Optimus Maximus, weil er anders ist – aber auch, weil die Namensgleichheit ein Bezugssystem und damit Kompatibilität herstellt. Die hier zu beobachtende Personalisierung und Individualisierung von Gottheiten darf nicht überraschen. Sie ist verhaltenspsychologisch die Regel, ungeachtet der religiösen Systeme – seien sie monotheistisch oder polytheistisch –, in denen sie beobachtet werden kann.65 Der Umgang mit den als Personen wahrgenommenen Göttern folgt den Handlungsmustern, die soziale Akteure im Umgang miteinander an den Tag legen. Augustus erklärt sich selbst, warum Jupiter Optimus Maximus verärgert sein darf; jeder andere, Augustus eingeschlossen, wäre er in einer vergleichbaren Situation, würde ähnlich frustriert reagieren wie der Gott. Erst durch die Personalisierung und Individualisierung der Götter wird die besondere Beziehung zu ihnen möglich. Augustus wählt Jupiter Tonans in einer für ihn persönlich kritischen Situation als persönliche Schutzgottheit und entscheidet sich damit auch gegen eine besondere Privilegierung des Jupiter Optimus Maximus.66 Das polytheistische System erlaubt nicht nur, sondern generiert offenbar Selektionen und Privilegierungen – Reduktion von Angebotsvielfalt aus einem theoretisch unerschöpflichen Reservoir an Göttern: Polytheismus heißt nicht einfach, eine Vielzahl von Göttern zu verehren, sondern bein_______________ 65 Vgl. B ARRETT, J.L./KEIL, F.C., Conceptualizing a nonnatural entity: anthropomorphism in god concepts, Cognitive Psychology 31 (1996) 219–247. 66 Neben Jupiter Tonans wurden von Augustus zwei weitere ‚dynastische’ Götter privilegiert und ihre Tempel in Konkurrenz zum Heiligtum der kapitolinischen Trias zu Zentren der politischen wie religiösen Kommunikation in augusteischer Zeit: Bereits 42 v.Chr. gelobte der junge Oktavian im Bürgerkrieg dem Mars Ultor (‚dem Rächer’) einen Tempel der, zuerst auf dem Kapitol geplant, schließlich als Fokus des neuen Augustusforums 2 v.Chr. dediziert wurde (RICH, J.W., Augustus’ Parthian honours, the temple of Mars Ultor and the arch in the Forum Romanum’, PBSR 56 [1998] 71–128, bes. 79–89; SPANNAGEL, M., Exemplaria Principis. Untersuchungen zu Entstehung und Ausstattung des Augustusforums, Heidelberg 1999, hier 41–72). Der ebenfalls im Krieg im Jahr 36 gelobte Tempel des Apollo Palatinus (‚auf dem Palatin’) wurde 28 v.Chr. eingeweiht; der prächtige Baukomplex schloß unter anderem neben einem Vestaheiligtum auch das Haus des Augustus ein (P LATNER/ASHBY, Dictionary, 16–19).

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haltet zugleich eine Selektion aus dieser Vielfalt. Die Alternative zwischen dem Einen und den Vielen ist erneut irreführend. Personalisierte Beziehungen zu Gottheiten führen angesichts des pluralistischen Marktes an Angeboten in der Regel nicht zu ‚monotheistischen’ Entscheidungen;67 aber bedeutungsvolle Beziehungen zu Gottheiten lassen sich ebenso wenig wie bedeutungsvolle Beziehungen zu anderen sozialen Akteuren in unbegrenzter Zahl aufrecht erhalten. Dies erklärt, warum das Pantheon des Einzelnen in der kultpragmatischen Realität zwar eine Vielfalt von göttlichen Adressaten aufweist (der Bezug auf nur einen Adressaten ist selbst in der Praxis der monotheistischen Religionen die Ausnahme), aber auch begrenzt bleiben muß.68 Nach welchen Parametern wird hier selektiert? Welche Vorstellungen, Wünsche, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Erwartungen _______________ 67

Der Konflikt zwischen Jupiter Optimus Maximus und Jupiter Tonans fragt auch danach, wie persönliche religiöse Loyalitäten im religiösen Pluralismus eines polytheistischen Systems gelebt werden können: In der gleichnamigen Euripideischen Tragödie vernachlässigt Hippolytos Aphrodite und die anderen Götter zugunsten von Artemis und erleidet für seine Verachtung der übrigen Götter den Tod (s. dazu B. G LADIGOW, 7960#(4 #/"40. Orientierungs- und Loyalitätskonflikte in der griechischen Religion, in: ELSAS, CH./K IPPENBERG, H.G. [Hg.], Loyalitätskonflikte in der Religionsgeschichte, Würzburg 1990, 237–251). Der Konflikt und sein Ausgang dramatisieren auf der Ebene des mythologischen Gedankenexperiments die Notwendigkeit beziehungsweise die Erwartung innerhalb eines polytheistischen Systems, die vorhandenen religiösen Optionen und Alternativen gegeneinander abzugleichen und Kompromisse zu finden. Die Lösung dieses Loyalitäts-Konflikts durch Augustus zeigt auch, daß auf der kultpragmatischen Handlungsebene (anders als in der Erzählstruktur des Mythos) Konflikte beigelegt und persönliche Vorlieben berücksichtigt werden können, und daß Kompromisse auch mit den Göttern möglich sind. 68 Vgl. GLADIGOW, Polytheismus, 324; BENDLIN, Polytheismus, 81f. Indirekt bestätigt werden diese Überlegungen durch den archäologischen Befund für Hausheiligtümer in Kampanien und in den Nordwestprovinzen des Römischen Reiches: In den (so genannten) Lararien wurden nicht nur die Laren oder der Genius des Hausherrn, sondern darüber hinaus eine Mehrzahl verschiedener Gottheiten verehrt, deren Auswahl zwar lokalen, regionalen oder aktuellen Trends unterworfen war, offenbar aber keinen verbindlichen Regeln folgte, und deren Zahl zwischen einer und bis zu zehn Gottheiten bei einem Durchschnitt von vier bis sechs Gottheiten schwankte; vgl. zu den Befunden KAUFMANNHEINIMANN, A., Götter und Lararien aus Augusta Raurica (Forschungen in Augst 26), Augst 1998, bes. 184–188, 191–195, 315–318. Komplementär hierzu lassen sich die Untersuchungen von STARK, R./F INKE, R., Acts of faith. Explaining the human side of religion, Berkeley – Los Angeles – London 2000, bes. 218–228 zur Relation von religiösem Pluralismus und religiösem Commitment in den USA lesen: Eine pluralistische Situation, d.h., ein Angebot mehrerer miteinander konkurrierender (christlicher) Kirchen stimuliert religiöses Commitment, anstatt diesem zu schaden: Die Mitglieder einer ‚congregation’ werden auch in anderen Gemeinden Mitglied. An einem bestimmten Punkt ist aber eine Sättigung des Marktes erreicht: Das religiöse Commitment nimmt zwar nicht ab, aber auch nicht weiter zu.

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konditionieren die Auswahl durch die sozialen Akteure? Bleiben wir mit dem Blick des Ethnologen ‚dicht beschreibend’ noch ein letztes Mal auf dem Kapitol. Die Area Capitolina war nicht nur der Schauplatz des Konkurrenzkampfes zwischen Jupiter Optimus Maximus und Jupiter Tonans. Neben den Heiligtümern der Gottheiten der kapitolinischen Trias, des Jupiter Tonans und des Jupiter Feretrius existierten weitere Tempel für andere Gottheiten sowie zahlreiche in ihrem Organisationsgrad weniger institutionalisierte Kulte, darunter schon früh im 1. Jahrhundert v.Chr. auch ein Kult der Isis Capitolina.69 Die Area Capitolina und der Tempel mit Jupiter Optimus Maximus, Juno und Minerva war zugleich Ort der politischen Rituale der Stadt par excellence. Consuln und Praetoren opferten am Tag ihres Amtsantritts Jupiter Optimus Maximus und legten Gelübde für die Dauer ihrer Amtszeit ab. Der Tempel, in dessen Architektur sich die politischen Ambitionen der römischen Republik widerspiegelten, war mit der Cella des ‚obersten und größten’ Jupiter Ziel des Triumphzugs der römischen Feldherren. Er diente als Aufbewahrungsort für Staatsverträge und beherbergte die Sibyllinischen Bücher, ehe Augustus diese in den Tempel des Apollon auf dem Palatin überführen ließ. Aus dem 2. und 1. Jahrhundert v.Chr. haben sich auf dem Kapitol zahlreiche Weihungen von Königen und befreundeten Gemeinschaften an Jupiter Optimus Maximus (und den Populus Romanus) erhalten – Indiz der zentralen politischen Rolle, welche der Gott im Selbst- wie im Fremdverständnis der Zeit spielte.70 Die Area Capitolina war aber auch mit anderen Weihungen, mit Altären und Statuen übersät. Den Erhalt der toga virilis und die Aufnahme in den römischen Bürgerverband sollen die jungen Neubürger mit einem Opfer an Jupiter Optimus Maximus markiert haben. Selbst die Fratres Arvales verließen bisweilen den Hain der Dea Dia, um der kapitolinischen Trias zu opfern. Aus den acta diurna des Augustus, der den Vorfall propagandistisch auszuschlachten wußte, erfahren wir, daß ein C. Crispinius Hilarus aus der Plebs Faesulana in augusteischer Zeit unter Begleitung seiner acht Kinder, _______________ 69

VERSLUYS, M.J., Isis Capitolina and the Egyptian cults in late republican Rome, in: BRICAULT, L. (Hg.), Isis en Occident, Leiden – Boston 2004, 421–448. Für eine hilfreiche Zusammenstellung der Monumente der (Sakral-)Topographie in der Area Capitolina (mit Karte) s. REUSSER, CH., Der Fidestempel auf dem Kapitol in Rom und seine Ausstattung, Rom 1993, 32–51. 70 Opfer und Gelübde: E. M. O RLIN, Temples, religion and politics in the Roman republic, Leiden – New York – Köln 1997, 36–45. Architektur: P. M. M ARTIN, Architecture et politique. Le temple de Jupiter Capitolin, in: Caesarodunum 18 (1983) 9–29. Triumph: E. KÜNZL, Der römische Triumph. Siegesfeiern im antiken Rom, München 1988, 85–108. Weihungen: ILLRP 174–181 = A. D EGRASSI, Scritti vari di antichità, Venedig – Triest 1962–1967, Bd. 1, 415–444; BEARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, Bd. 1, 158. Eine Datierung dieser Weihungen in die sullanische Zeit vertritt z.B. REUSSER, Fidestempel, 138-158.

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siebenundzwanzig Enkel, achtzehn Urenkel und acht Enkelinnen Jupiter Optimus Maximus auf dem Kapitol ein Opfer darbrachte.71 Seneca bereichert das Bild vom religiösen Leben auf dem Kapitol um eine weitere Facette:72 „... Gleichwohl gibt es für diesen Wahnsinn [gemeint ist das jährliche Fest des IsisKultes] einen festgesetzten Zeitpunkt. Es ist erträglich, daß man einmal im Jahr von Sinnen ist. Gehe aber auf das Kapitol: Scham wirst Du empfinden angesichts der öffentlich zur Schau gestellten Verrücktheit, angesichts der Pflichterfüllung, die eitler Wahnsinn sich zur Aufgabe macht. Der eine nennt dem Gott die Namen , der andere verkündet Jupiter die Tageszeit, ein dritter gibt den †Lictor†, und ahmt mit der vorgegaukelten Bewegung seiner Arme einen Einölenden nach. Einige Frauen frisieren Juno und Minerva (sie stehen in einiger Entfernung nicht nur vom Kultbild, sondern sogar vom Tempel und bewegen ihre Finger nach Art der Coiffeure), andere halten den Spiegel. Eine weitere Gruppe von Leuten ruft die Götter als Bürgen für ihre Verpflichtungen als Angeklagte vor Gericht an, wieder andere präsentieren Anklageschriften und legen ihnen ihren Fall ausführlich dar. Ein gelehrter Archimimus, ein alter Mann, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte, pflegte täglich einen Mimus auf dem Kapitol aufzuführen – als ob die Götter gerne für den das Publikum abgeben wollten, dem die menschlichen Zuschauer davongelaufen waren. Dort hängen Handwerker jeglicher Art herum, um den unsterblichen Göttern zu Diensten zu stehen. Gleichwohl versprechen diese Leute dem Gott etwas, was zwar unnütz, aber zumindest nicht schändlich oder unehrenhaft ist. Daneben sitzt auf dem Kapitol aber auch noch eine bestimmte Art von Frauen herum, die glauben, Jupiter liebe sie; nicht einmal durch den Gedanken an Juno, die, wollte man den Dichtern glauben, schrecklich eifersüchtig ist, lassen sie sich schrecken.“

Adressaten dieser ‚Rituale’73 sind die drei Gottheiten der kapitolinischen Trias: Jupiter Optimus Maximus in der zentralen Tempelcella sitzend, mit dem Mantel auf dem Unterkörper und über der linken Schulter, mit der _______________ 71 Fratres Arvales: B EARD/NORTH/PRICE, Religions of Rome, Bd. 1, 195f. Crispinius Hilarus: Plin., nat. 7,60. 72 Sen., De superstitione F 36f. HAASE = 69f. VOTTERO, überliefert bei August., civ. 6,10: „... In Capitolium perveni: pudebit publicatae dementiae, quod sibi vanus furor adtribuit officii. Alius nomina deo subicit, alius horas Iovi nuntiat, alius +lictor+ est, alius unctor qui uano motu bracchiorum imitatur unguentem. Sunt quae Iunoni ac Mineruae capillos disponant (longe a templo non tantum a simulacro stantes digitos mouent ornantium modo), sunt quae speculum teneant. Sunt qui ad uadimonia sua deos aduocent, sunt qui libellos offerant et illos causam suam doceant. Doctus archimimus, senex iam decrepitus, quotidie in Capitolio mimum agebat, quasi dii libenter spectarent quem homines desierant. Omne illic artificum genus operantium diis immortalibus desidet. Hi tamen (...) etiamsi supervacuum usum, non turpem nec infamem deo promittunt. Sedent quaedam in Capitolio quae se ab Iove amari putant: ne Iunonis quidem, si credere poëtis uelis, iracundissimae respectu terrentur.“ 73 S. zum Stand der Forschung zu dieser Passage GLADIGOW, B., Zur Ikonographie und Pragmatik römischer Kultbilder, Iconologia sacra. FS K. Hauck, hg. von H. Keller/N. Staubach, Berlin 1994, 9–24; ESTIENNE, S., Les ‚dévots’ du Capitole. Le ‚culte des images’ dans la Rome impériale, entre rites et superstition, MEFRA 113 (2001) 189–210.

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Rechten den Blitz und mit der erhobenen Linken ein Szepter haltend; die Cella zur Linken des Gottes beherbergt Juno, die rechte Minerva. Die sozialen Akteure, Männer wie Frauen, unter ihnen möglicherweise Freie und Unfreie, römische Bürger und Fremde, bemühen sich um den persönlichen Kontakt zu den Göttern und können doch nicht bis in den Tempel oder gar die Tempelcellae vordringen. Von ferne verrichten manche unter ihnen Arbeiten, welche die Aufgabe von Sklaven in den Häusern der Wohlhabenden und Mächtigen sind. Aus der Ferne machen andere den Göttern ihre Aufwartung, wie ein Klient am frühen Morgen seinem Patron die Aufwartung macht, um sich dessen Unterstützung vor Gericht zu versichern.74 Schauspieler und Handwerker bieten ihre Dienste feil; Frauen glauben gar, der Gott habe sich in sie verliebt – eine a priori angesichts der mythologischen Vergangenheit des Zeus-Jupiter nicht ganz unplausible Hoffnung. Sie alle, so suggeriert uns der stoische Philosoph, erniedrigen sich vor ihren Mitmenschen und den Göttern – ein Beispiel für emotional exzessives und lächerliches religiöses Verhalten (superstitio).75 Will man die Intention der handelnden Akteure, ‚ihren’ Gottheiten näher zu kommen, ihre Gunst zu erlangen und von ihrer Macht zu profitieren, aber jenseits der religionsphilosophischen Kritik ernst nehmen, ergibt sich ein anderes Bild. Für ihre Anliegen bemühen die Akteure Handlungsmuster, soziale Rituale und Dienstleistungen, die mit dem konventionelltraditionellen religiösen Ritual nicht mehr viel zu tun haben. Ihre ‚Rituale’ sind in der Alltagswelt erprobt – und versprechen im Verkehr mit der kapitolinischen Trias deshalb Erfolg, weil auch die Gottheiten als soziale Akteure, als dominus, Patron oder Dienstleistungsempfänger, in der Alltagswelt der Verehrer konzeptualisiert werden. Die unüberbrückbare Distanz zwischen Gottheit und Mensch ist in der Gegenwart dieser sozialen Rituale bereits aufgehoben. Nötig ist deshalb nicht mehr die rituell korrekte Form der Götterverehrung – mit Gebet und Opfer am Altar vor dem Tempel –, denn die Götter sind bereits in die soziale Handlungsstruktur ihrer Verehrer eingebettet. Religiöser Pluralismus in einem polytheistischen System ist nicht nur das Ergebnis einer quantitativen Ausweitung der lokalen oder regionalen Götterwelt. Ein Mehr an Gottheiten bedeutet nicht zwangsläufig ein größeres Maß an religiösem Pluralismus. Auch bei einer begrenzten Zahl traditioneller göttlicher Adressaten – und welcher Gott könnte traditioneller sein _______________ 74

Vgl. zu der Aufteilung der handelnden Akteure in ‚Sklaven’ und ‚Klienten’ die Parallelpassage Sen., ep. 95,47. 75 Das Werk Senecas, dem diese Passage entnommen ist, trägt den Titel De superstitione. Vgl. zur philospohischen Beurteilung derartigen Verhaltens als superstitio auch Theophrast., De pietate F 584D FORTENBAUGH; Plut., De superstitione 12, 171A–B; 2,165B.

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als Jupiter Optimus Maximus? – führten die Personalisierung und Individualisierung des Verhältnisses der Menschen zu ‚ihren’ Göttern zu pluralistischen, für uns nur polyvalent wahrnehmbaren religiösen Handlungsund Deutungsmustern. Die ‚dichte Beschreibung’ ergibt somit kein einheitliches kulturelles Symbolsystem; sie strukturiert nicht, wo Strukturen heterogen und Ordnungsprinzipien ambivalent sind. Aber sie kann in Momentaufnahmen ein verstehendes Licht auf die Variabilität religiösen Verhaltens in einem antiken polytheistischen System werfen. Der religiöse Pluralismus ist nicht erst ein Phänomen der Postmoderne.

Gottesbilder – Menschenbilder: anthropologische Konsequenzen des Monotheismus JAN ASSMANN

Natura non facit saltus – „die Natur macht keine Sprünge“. Dieses Credo Charles Darwins wird Leibniz zugeschrieben; der Gedanke geht auf Aristoteles zurück, Maimonides aber, der große jüdische Philosoph des 12.Jhs. hat ihn ausgerechnet im Zusammenhang mit Monotheismus und Offenbarung entwickelt.1 Wenn wir wissen wollen, wie Gott in der Geschichte wirkt, schreibt er, müssen wir schauen, wie er in der Natur wirkt. Hier geht alles in gleitenden Übergängen auseinander hervor. Von einem Extrem kommt man nur durch eine Folge unendlich feiner Übergänge und umständlicher Umwege zum anderen. So hat man sich nach Maimonides auch die Offenbarung vorzustellen: als einen Prozeß gleitenden Wandels und natürlichen Wachstums. Evolution, nicht Revolution, ist das Prinzip der Natur und damit auch das Prinzip göttlichen Wirkens. Wie Aleida Assmann in ihrem Buch Zeit und Tradition gezeigt hat, gehorcht die Kultur jedoch anderen Gesetzen.2 Hier gilt: cultura facit saltus. Es mag ja sein, daß auch die großen kulturellen Wenden und Wandlungen sich in gleitenden Übergängen unmerklich vorbereitet haben. Wahrgenommen, inszeniert und im kulturellen Gedächtnis erinnert werden sie aber als Sprünge. So mag auch der Monotheismus sich in Wirklichkeit allmählich aus dem Polytheismus entwickelt haben. In der biblischen Darstellung aber inszeniert er sich als ein Sprung und revolutionärer Bruch, wie er radikaler gar nicht gedacht werden kann. Der 430jährige Aufenthalt Israels in Ägypten löscht jede Kontinuität zur vorhergehenden Väterzeit aus, der Auszug aus Ägypten ist ein Bruch mit allen inzwischen angenommenen ägyptischen Traditionen, die Offenbarung des Gesetzes am Sinai ist ein totaler Neubeginn, das Gegenteil jeder allmählichen Entwicklung, ein wunderbares und in jeder Hinsicht außer-ordentliches Eingreifen Gottes in die Geschichte, das quer zum langsamen Ablauf der Zeiten und zur natürlichen Entwicklung steht und, diese durchschneidend, neue Epochen setzt. _______________ 1

Moreh Nebuchim III, Kap. 32. ASSMANN, A., Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln–Weimar– Wien 1999, 47–53. 2

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So funktioniert die Kultur, was ihre Selbstwahrnehmung, Selbstinszenierung und vor allem ihre Erinnerung angeht. Cultura facit saltus. Das Thema Monotheismus konfrontiert uns mit drei verschiedenen solcher kulturellen Sprünge oder Epochenschwellen: mit unserer eigenen Zeit und Situation, in der wir die Frage nach dem Monotheismus stellen, mit dem 18. Jahrhundert, aus dem die Begriffe Monotheismus, Polytheismus, Pantheismus, Atheismus, Theismus und Deismus stammen, und schließlich mit der Antike als der Zeit, auf die sich der in diesen Begriffen geführte Diskurs bezieht. Der erste Schritt sollte bei solchen Überlegungen immer in dem Versuch bestehen, sich Klarheit zu verschaffen darüber, warum uns ein bestimmtes Thema heute beschäftigt und aus welchem Kontext heraus wir es befragen. Warum also beschäftigt uns das Thema Monotheismus? Für mich selbst war es, als ich das Buch Moses der Ägypter geschrieben hatte, eine Überraschung, zu erfahren, daß es gerade dieses Thema war, was die Leser an dem Buch interessierte bzw. skandalisierte, und zwar in einer ganz bestimmten Konstellation, die mir, als ich das Buch schrieb, völlig unfraglich schien, und die sich dann in der Rezeption des Buches als das zentrale Problem herausstellte: die Konstellation der Begriffe Monotheismus, Intoleranz und Gewalt. In dieser Begriffskonstellation muß also der Stachel liegen, der uns heute die Frage nach dem Monotheismus stellen läßt, und zwar nicht erst seit dem 11. September 2001, der das Phänomen djihad, das gewalttätige Eifern für die Sache Allahs, ins allgemeine Bewußtsein hat durchdringen lassen, sondern lange vorher, im Zusammenhang einer Wende, für die der Aufsatz von Odo Marquard mit dem Titel „Lob des Polytheismus“ symptomatisch ist und die man als Postmoderne bezeichnet. Mein Verdacht geht dahin, daß es die postmoderne Situation ist, die uns die Frage nach dem Monotheismus stellen läßt. Der Begriff Postmoderne, was immer man im einzelnen darunter verstehen mag, markiert ja auf jeden Fall einen Sprung, indem er eine Grenze zieht und eine Unterscheidung trifft zwischen jetzt und vorher, zwischen etwas, das zu Ende gegangen und etwas anderem, das „danach“ gekommen ist. Der Begriff läßt sich auch schlecht abkoppeln vom Begriff der posthistoire, der zugleich konkreter und allgemeiner die ganze Geschichte als solche zu ende gekommen sein läßt. Beide Begriffe bezeichnen das Bewußtsein einer Epoche, die ihr Selbstverständnis aus dem bezieht, was sie hinter sich hat, und nicht aus dem, was ihr als Ziel vor Augen steht. Ob es nun ganz allgemein die Geschichte oder spezieller die Moderne ist, die unsere gegenwärtige Epoche hinter sich lassen, von der sie sich durch das Präfix „post“ abgrenzen möchte, klar scheint mir, daß in beiden Bezügen die Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Das 20. Jahrhundert hat uns die Augen geöffnet für die Gewalttätigkeit der Moderne, die zugleich auch die Gewalttätigkeit

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der Geschichte war. Odo Marquards Lob des Polytheismus ist ein Plädoyer für Sanftmut, Toleranz, Relativierung, Kleinschreiben, Leben und Leben lassen. So geriet auch der Gegenbegriff des Monotheismus in das Licht des Absoluten und seiner inhärenten Gewalttätigkeit, die im Zeichen der Postmoderne zur Verabschiedung ansteht. Meist machen wir uns jedoch, wenn wir Begriffe wie Monotheismus und Polytheismus verwenden, nicht klar, daß wir uns damit in der Begriffswelt, nicht der Antike sondern des 18. Jahrhunderts bewegen, und daß diese Begriffe im Zusammenhang von Debatten entwickelt wurden, die mit unserer heutigen eine gewisse Verwandtschaft aufweisen. Diese Debatten umfassen, grob gesprochen, das Jahrhundert von 1685 bis 1785, natürlich plus/minus 10–15 Jahre, das Jahrhundert der Aufklärung und einen kulturellen Sprung allererster Größenordnung. Den Auslöser der Monotheismusdebatte möchte ich in einem enormen, erdrutschartigen Historisierungsschub der religiösen Grundlagen erblicken, der aber gleich weit entfernt ist vom Historismus des 19. wie vom Antiquarianismus des 17. Jhs. Von beiden Formen des Vergangenheitsbezugs trennt diese Debatten der geradezu leidenschaftliche Bezug auf die eigene Gegenwart. Der Antiquarianismus sammelte seine Gegenstände aus Liebe zum Altertum, ohne viel damit anzufangen, d.h. ohne daraus den Schluß zu ziehen, sein Leben, oder gar Staat und Gesellschaft ändern zu müssen; der Historismus auf der anderen Seite verfremdete die Vergangenheit durch seine Ideale der Objektivität. Für das 18. Jahrhundert jedoch hatte die Beschäftigung mit dem Altertum weitreichendste soziale, politische, kulturelle und religiöse Konsequenzen. Das bezog sich, im Rahmen der Monotheismus-Debatte, in allererster Linie darauf, daß ihm der Monotheismus, der Ein-Gott-Glaube, historisch geworden war. Der Monotheismus galt jetzt nicht mehr allgemein als unhinterfragbare Offenbarung, selbstverständliche Tatsache oder Sache einer natürlichen Evidenz, sondern als die Signatur einer menschheitsgeschichtlichen Wende, die nun nicht mehr mit dem Namen Gottes als des Schöpfers der Welt und des Stifters seiner eigenen Religion, sondern mit dem Namen Moses verbunden und damit als geschichtliches Ereignis verstanden wurde. Daher kann man den Monotheismus-Diskurs auch als Moses-Diskurs bezeichnen. Die Rekonstruktion dieses Moses-Diskurses bildet das Hauptthema meines Buchs Moses der Ägypter; ich will aber versuchen, auch hier möglichst kurz anzudeuten, worum es dabei ging. Als Anfangs- und Endpunkte dieser Debatte hatten sich mir die Namen Spencer und Schiller ergeben. John Spencers dreibändiges lateinisches Werk über die hebräischen Ritualgesetze gehört noch ganz in das Paradigma des barocken Antiquarianismus, dem es nach der treffenden Charakterisierung eines Autors des 18.

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Jhs. darum ging, „auf eine gelegentlich angenommene Rubrique hin alles zu sammeln, was mit derselben auch nur in der entferntesten Beziehung steht“3 und es dem Leser zu überlassen, damit etwas anzufangen. Außerdem steht Spencers gelehrte Abhandlung noch vollkommen auf dem Boden christlicher Rechtgläubigkeit, weil er nämlich seine Historisierung der hebräischen Gesetze und damit der Offenbarung durch die christliche Akkommodationslehre absichert. Daher ist es bei ihm ganz gleichgültig, ob wir Gott oder Moses als Instanz der Gesetzgebung und Religionsstiftung ansetzen. Nach der Akkommodationslehre hat Gott seine Offenbarung den geschichtlichen Umständen angepaßt. Der Name Moses steht für die Geschichtlichkeit der Offenbarung, die Gott mit voller Absicht dem ägyptisch assimilierten Volk durch einen ägyptisch erzogenen Führer zuteil werden ließ. Der Name Moses bezeichnet die Wende vom Ägyptischen zum Hebräischen. Spencer wird nicht müde, zu betonen, daß die ägyptische Religion viel älter als die biblische sei, und daß die Geistesgeschichte der Menschheit weit vor Moses zurückreicht. Seine revolutionärste These aber besagt, daß diese Wende, wenn man sich die ägyptischen Riten näher anschaut, keineswegs allein im Sinne der Abkehr verstanden werden darf, wie die Bibel es darstellt, sondern ebenso oder vielleicht sogar noch viel mehr im Sinne der Übernahme. Die ägyptische Religion erscheint Spencer in mancher Hinsicht nicht als das Gegenteil, sondern als die Vorschule des biblischen Monotheismus. Den gemeinsamen Nenner beider Religionen bildet das Geheimnis, das die Ägypter in den Hieroglyphen, die Hebräer in den Gesetzen verhüllten. Das Geheimnis ist die Wahrheit, für die nach der Akkommodationslehre keine Zeit wirklich reif ist und die jedem Zeitalter angepaßt, und das heißt eben auch verpackt, verhüllt, verborgen werden muß. Der Begriff des Zeitgeists, der dem 18. Jahrhundert so zentral ist, wurzelt in diesem letztendlich patristischen Diskurs. Mit der Mosaischen Wende geht der Monotheismus (dieses Wort kennt Spencer aber noch nicht) in eine andere Verpackungsform oder Verborgenheit über, aus den ägyptischen in die hebräischen Mysterien, aus den Riten, Bildern, Hieroglyphen in die Form der Gesetze. Was aber die Geheimhaltung angeht, so zitiert Spencer Clemens von Alexandrien, sind sich die ägyptische und die hebräische Religion sehr ähnlich. Das Dynamit, das in diesen Thesen steckte, zündete erst 100 Jahre später. Entscheidend für diesen Wandel der Rezeptionsbedingungen war eines der meistgelesenen, einflußreichsten Bücher des 18. Jhs., The Divine Legation of Moses von Bischof William Warburton, das 1738–41 in drei Bänden erschien. Dies Buch, nicht weniger umfangreich und gelehrt als Spen_______________ 3 DURDON, M., Über die Mysterien der Etrusker, insonderheit über die Geheimnisse des Bachus, Journal für Freymaurer 12 (1787) 5–164, 10.

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cers Werk, gehörte nicht mehr dem barocken Antiquarianismus an, sondern zog aus dem gesammelten Material die Konsequenzen für die Gegenwart und war als eine Widerlegung des Deismus angelegt. Warburton widersprach Spencer in einem entscheidenden Punkt. Die Religion, die Mose verkündete, war keine Geheimnisreligion. Dafür gab er ihm in dem anderen Punkt recht und weitete ihn noch entscheidend aus: nicht nur die ägyptische, sondern alle heidnischen Religionen waren Geheimnisreligionen, das Geheimnis war geradezu das Prinzip des Heidentums. Alle heidnischen Religionen hatten eine exoterische und eine esoterische Seite, waren gespalten in Volksreligion und Elitereligion, und zwischen beiden Seiten herrschte ein unversöhnlicher Antagonismus. Das arbeitete Warburton im zweiten seiner neun Bücher heraus, das den antiken Mysterien gewidmet war und das diese Mysterien aus der politischen Theologie des Heidentums ableitete. Die Heiden, denen keine Offenbarung zuteil geworden war, kannten nur die Religion der Vernunft oder die natürliche Theologie. Diese aber kann nicht staatstragend sein, so Warburtons These. Der Staat braucht Götter zum Schutz der Gesetze und zum Ausdruck nationaler Identität. Die heidnische Religion beruht auf Fiktionen, aber staatstragenden, unabdingbaren und daher legitimen, gerechten und lebensdienlichen Fiktionen, die nicht angetastet werden dürfen, wenn die zivile Ordnung nicht gefährdet werden soll. Die Elite schafft sich in der Form einer inneren Emigration die Mysterien, um in deren Schutz die Wahrheit über den fiktiven Charakter der politischen Götterwelt und die All-Einheit des Göttlichen zu bewahren und weiterzugeben. Immerhin werden die Herrscher in diese Mysterien eingeweiht. Sie müssen stark genug sein, die Volks- und Staatsreligion als Fiktion durchschauen und dennoch bewahren zu können. Den theologischen Inhalt der Mysterien rekonstruierte Warburton auf der Basis eines orphischen Hymnus als Monotheismus, und zwar einen Monotheismus der Vernunft und der natürlichen Theologie. Auch diese historisch aus heutiger Sicht vollkommen unhaltbare These brauchte noch einmal einige Jahrzehnte, um durchschlagend zu zünden. 1776 erschien eine Abhandlung des Göttinger Philosophen Christoph Meiners über die eleusinischen und anderen Mysterien der Antike, die sich auf Warburton berief. Sie wiederum beeinflußte Adam Weishaupt, einen Ingolstädter Philosophieprofessor, bei der Gründung des Illuminatenordens, der in den folgenden Jahren einen außerordentlichen Einfluß auf die intellektuelle Szene nicht nur in Deutschland auszuüben begann. In diesen selben Jahren erschienen plötzlich über zwei Dutzend Abhandlungen über die antiken Mysterien, die sich mit Warburtons und nun auch Spencers Thesen auseinandersetzen, fast alle aus freimaurerischer, die meisten darüber hinaus aus illuminatischer Feder. In dem Bild, das Warburton von den antiken Mysterien gezeichnet hatte, erkannte sich die Intelligenz dieser Jahre wie-

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der, die gleichfalls im Sinne einer inneren Emigration in die Logen ging, um unter den Bedingungen der herrschenden politischen Theologie des Absolutismus die Wahrheit und die mit ihr verbundenen Ideale der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Menschenliebe im Schutzraum des Geheimbundes auszubilden. Wer sich einen Eindruck von der Agenda der Illuminaten verschaffen will, der höre, wie Hans Jürgen Schings gezeigt hat, die Reden des Marquis Posa in Schillers Don Carlos4, oder höre die Zauberflöte5: Werke, die das Geheimnis in die exoterische Form der Schaubühne übersetzen, um zur ästhetischen Erziehung beizutragen. Was nun den Monotheismus betrifft, so setzte sich jetzt Spencers These vom Geheimnischarakter auch der von Moses gestifteten Religion gegen Warburtons Apologie durch. Geheimnis bzw. doppelte Religion hieß aber jetzt (woran Spencer in keiner Weise gedacht hatte) politische Theologie. Auch der biblische Gott, wie ihn Mose verkündete, war eine staatstragende Fiktion, ohne die Moses nie die Hebräer aus Ägypten befreien und als Nation hätte organisieren können. Das war die Formel, auf die Friedrich Schiller die Debatte in seinem Aufsatz Die Sendung Moses brachte. Der wahre Monotheismus hatte in Ägypten im Schutz der Mysterien geblüht, wo ihn der am ägyptischen Hof erzogene und zum Herrscher bestimmte Moses als Eingeweihter kennen lernte. Das war der All-Eine Gott der Philosophen; wenigstens den Gedanken der Einheit Gottes konnte Moses retten, als er die Mysterien seinem Volk verriet, aber dabei Einsicht durch Glauben ersetzen und durch Gewalt erzwingen, vor allem aber den Gott der Philosophen zum Nationalgott eines Volkes verkürzen mußte. Hier stoßen wir nun auf den Topos einer Verbindung von Monotheismus und Gewalt. Der Mosaische Monotheismus ist gewalttätig, weil er ein in den Mysterien nur in jahrelanger Unterweisung und auch dann nur den Fähigsten mitteilbares Geheimnis einer ungebildeten Masse als exoterische politische Theologie beibringen muß. Umstritten war in diesem Zusammenhang die Frage, was das Ältere und Ursprüngliche sei: die natürliche und monotheistische Theologie der Mysterien oder der politische Polytheismus der Volksreligion. Schiller optierte mit vielen anderen für das Letztere. Der exoterische Polytheismus hat sich zugleich mit der Staatenbildung ausgebildet; der esoterische Monotheismus brauchte die Entstehung einer nur zur Spekulation freigestellten Priesterkaste, um sich zu entwickeln, und mußte verborgen bleiben, um die längst etablierte Allianz von Volksreligion und Staat nicht zu zerstören. David Hume hatte den zeitlichen Vorrang des Polytheismus vor dem Mo_______________ 4 5

SCHINGS, H.J., Die Brüder des Marquis Posa, Tübingen 1996. ASSMANN, J., Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2005.

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notheismus klargestellt und auch bereits auf die Toleranz des einen und die Intoleranz des anderen mit schlagenden Argumenten hingewiesen. Wer hätte erwarten können, daß ich mit dieser Binsenweisheit über 200 Jahre später noch einmal so viel Staub aufwirbeln würde! Hier tun sich nun für unsere weitere Untersuchung zwei Wege auf. Entweder können wir den Pfad der Gewalt und der politischen Theologie weiter verfolgen, oder dem Motiv der sozialen Konsequenzen des Monotheismus, also jener eigentümlichen Erscheinung nachgehen, die ich oben als innere Emigration bezeichnet habe. Ich schlage vor, daß wir den zweiten Weg beschreiten, jenen Weg also, in dem sich das 18. Jahrhundert der Antike so besonders nahe fühlte. Im Jahrhundert der Aufklärung beschritten viele den Weg der inneren Emigration, weil sie die Wahrheit nur im Schutz des Geheimbundes äußern zu können glaubten und projizierten dieselbe Struktur auch in die Antike hinein. Das ist natürlich reine Phantasie, nichts entspricht weniger der historischen Wirklichkeit der antiken Mysterien als die Vorstellung, es handele sich da um eine Art Freimaurerlogen, Geheimbünde zur Pflege eines esoterischen Monotheismus. Und doch glaubt man die Erfahrung der Logen, die ich mit dem Begriff der inneren Emigration zu kennzeichnen versucht habe, auch in der Antike wiederzufinden, gewisse Formen von Aussteigertum, von der Suche nach neuen, bewußteren, wahreren Lebensformen und einem neuen Menschenbild, dem man sich in der bündischen Form von, modern gesprochen, Selbsthilfegruppen anzunähern und anzuvervollkommen trachtete. Die ganze antike Welt, in der sich nicht nur die Mysterienkulte, sondern vor allem eben auch diese bündischen Gemeinschaften entfalteten, die Orphiker, Pythagoräer, Platoniker, die sogenannten jüdischen Sekten der Sadduzäer, Pharisäer, Essener und frühen Christen und Judenchristen, die gnostischen und hermetischen Gruppierungen in Ägypten, scheint von einer Sehnsucht nach Lebensheiligung ergriffen, und die Wege, die man dabei beschritt, die einen mehr in ethischer Richtung, im Zeichen von Tugend und Gerechtigkeit, die anderen mehr in mystischer und magischer Richtung, im Zeichen von religiöser Macht und Gottesnähe, hatten in der „Arbeit“ der Maurer tatsächlich zahlreiche Parallelen. Vielleicht gibt es wirklich so etwas wie eine Wahlverwandtschaft zwischen den Zeitaltern, die vielleicht stärker hervortritt, wenn wir die Frage nach dem Monotheismus einmal nicht theologisch, sondern anthropologisch und soziologisch angehen, also nach seinen Konsequenzen für das Bild von Mensch und Gesellschaft fragen. Mit dieser Perspektive wollen wir also nun, vom 18. Jahrhundert aus, den Schritt in die Antike zurück tun und nicht nach dem Gottes-, sondern nach dem Menschenbild des Monotheismus fragen. Wann und wo stoßen wir in der Antike zuerst auf die Vorstellung der Religion als einer Grundlegung der Lebensführung? Wo zuerst nimmt die Religion diese anthropo-

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logische Wende vom Kult zur Lebensheiligung? Ich meine, daß uns diese Frage an genau denselben Punkt führt, an den wir auch mit der Frage nach dem Ursprung des Monotheismus geführt werden. Der Name Moses steht ja nicht nur für die Verkündung des einen Gottes, der keine anderen Götter neben sich duldet, der die Bilder verbietet, der den Mißbrauch seines Namens ahndet und die Heiligung des Sabbats fordert, sondern vor allem auch für den Gesetzgeber, den Begründer der halakha, das heißt einer bis ins kleinste geregelten, methodischen Lebensführung, die der individuellen Biographie wie ein Drehbuch zugrunde liegt und vom Einzelnen gewissermaßen ausagiert werden will. So gesehen erweist sich der Monotheismus als eine neue Form von Religion, die gestaltend in das ganze Leben eingreift. Ich möchte das im Folgenden an vier Punkten aufzeigen: an der Frage der Schrift, die in dem Begriff „Drehbuch“ (script) bereits anklang, der Frage der Mitgliedschaft bzw. des „Bundes“ und an zwei Motiven, in denen der Lebenseinfluß und Lebensanspruch dieser neuen Form von Religion ganz besonders dramatisch hervortritt: dem Motiv der Reue bzw. Konversion und dem Motiv des Martyriums. Dort, wo die Religion aus ihren ursprünglichen kultischen Rahmen heraustritt und zur Sache einer das gesamte sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Leben gestaltend und vor allem auch umgestaltend erfassenden Forderung oder Normativität wird, dort schlägt auch die Stunde des Einen Gottes. Ich beginne mit dem Aspekt der Schrift, weil mir dies das konkreteste, greifbarste Kennzeichen des Neuen zu sein scheint. Meine These ist, daß der Schritt in die neue, lebensfundierende Form von Religion ohne die Schrift nie hätte getan werden können.6 Dabei handelt es sich jedoch um eine ganz besondere Form von Schriftlichkeit, die man sich vielleicht an dem Unterschied von informativem und performativem Schriftgebrauch klarmachen kann. Informativ ist z.B. der Hinweis auf der Zigarettenwerbung: „Die Gesundheitsminister der EU: Rauchen kann tödlich sein“, performativ dagegen ist das Schild „Rauchen verboten“. Der Hinweis vermittelt wichtiges Wissen, das Schild dagegen spricht ein Verbot aus. Wenn ich dem Hinweis nicht folge, ist das mein Risiko, wenn ich dem Schild nicht Folge leiste, mache ich mich strafbar. Die Schriftlichkeit, derer sich die Religion bedient, um gestaltend und umgestaltend auf die gesamte Lebensführung der Menschen einzuwirken, ist von der performativen Art. Wenn ich der Schrift nicht folge, dann ist das nicht mein Risiko, sondern dann versündige ich mich. Das ist etwas völlig Neues in der Geschichte _______________ 6

Vgl. hierzu ASSMANN, J., Fünf Stufen zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im frühen Judentum und in seiner Umwelt (Münstersche Theologische Vorträge 1), Münster 1999, 11–35.

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nicht nur der Religion, sondern auch der Schriftkultur, und diese beiden Innovationen hängen, sich gegenseitig bedingend, zusammen. Nun könnte man einwenden, daß das etwas so Neues ja nicht sein kann und z.B. auf die berühmte Stele des Königs Hammurapi im Louvre mit den Gesetzen dieses Königs, dem „Codex Hammurapi“, verweisen, sowie auf zahllose ägyptische und babylonische Inschriften mit königlichen Edikten, die unbedingte Befolgung erheischen. Hier haben wir es doch eindeutig mit performativer Schriftlichkeit zu tun im Kontext polytheistischer Religionen. Dazu läßt sich zweierlei sagen. Erstens handelt es sich hier nicht um Drehbücher der gesamten Lebensführung. Die Edikte regeln immer nur Einzeldinge, und nicht einmal der Codex Hammurapi erhebt den Anspruch einer Schrift, die in der gesamten Lebensführung des Einzelnen ausagiert werden will. Zweitens ist es sehr fraglich, ob der Codex Hammurapi, ebenso wie alle anderen Werke der mesopotamischen Rechtsliteratur, im performativen oder nicht vielmehr im informativen Sinne verstanden werden muß. Der Codex Hammurapi scheint außerhalb der Regierungszeit dieses Königs nie verbindliches Recht gewesen zu sein. Darauf würde es aber ankommen, wenn diese Gesetze aufgrund ihrer Schriftlichkeit, „weil es geschrieben steht“, Geltung besessen haben sollen. Das hatten sie offenbar nicht. Das geltende Recht wurde vom jeweils lebenden König gesprochen und kein Codex konnte dessen Rechtssouveränität einschränken. Dieses Prinzip brachten die Griechen später auf die Formel vom König als nomos empsychos bzw. lex animata. Der König verkörpert das Gesetz. Das Gesetz verkörpert sich im König, um performative Geltung zu erhalten, „in Kraft zu treten“. Das verschriftete, „exkarnierte“ Recht (um mich des treffenden Ausdrucks von Aleida Assmann zu bedienen7) hat nur noch informative Relevanz. Dieses Verhältnis von Schrift und Leben wird in der performativen Schriftlichkeit der Torah umgekehrt. Das Gesetz gilt, weil es geschrieben steht. Die Schrift informiert nicht, wie Recht gesprochen werden soll, sondern sie spricht Recht, und dieser performative Anspruch macht beim Recht nicht Halt, sondern beansprucht in jedem Satz autoritative und normative Verbindlichkeit für alle Aspekte des Lebens. Diese gesteigerte Form von Schriftlichkeit nennen wir Kanon. Das Prinzip Kanon wird im 5. Buch Mose in zwei Formeln ausgedrückt. Erstens: die Schrift ist geschlossen, nichts darf hinzugefügt, nichts darf weggenommen, nichts darf verändert werden. Zweitens: die Schrift muß Tag und Nacht studiert, mit anderen diskutiert, den Kindern eingeschärft und total verinnerlicht, in der Sprache der Bibel: „ins Herz geschrieben“ werden. Der Einzelne muß sie gewissermaßen re-inkarnieren, um sie in seiner Le_______________ 7 ASSMANN, A., Exkarnation: Über die Grenze zwischen Körper und Schrift, in: MÜLLER, A.M./HUBER, J. (Hg.), Interventionen, Basel 1993, 159–181.

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bensführung ausagieren zu können. Ein Leben nach der Schrift ist gefordert, mit Thomas Mann zu reden: ein „zitathaftes Leben.“8 Für jede Lebenssituation, jede Lebensentscheidung gilt es das richtige Schriftwort zu finden. Leben ist Schrifterfüllung. Gewiß, in dieser extremen Form gilt das nur für das Judentum. Aber es gilt doch zu bedenken, daß alle monotheistischen Religionen auf einem Kanon aufruhen. Allen monotheistischen Religionen ist die performative Schriftlichkeit und der Anspruch auf Grundlegung der individuellen Lebensführung ebenso gemeinsam wie ein Kanon heiliger Schriften, in denen die Grundsätze dieser Lebensregeln als Ansprüche, die Gott an uns stellt, niedergelegt sind. Die zweite Neuerung auf anthropologisch-sozialer Ebene betrifft das Konzept des Bundes. In der Bibel handelt es sich um einen Bund, den Gott mit den Kindern Israels schließt, aber es ist zugleich völlig eindeutig, daß auch sie erst durch dieses Gottesbündnis ihrerseits zu einer Gemeinschaft verbunden werden. Das Gesetz ist nicht nur Fundament der individuellen Lebensführung, sondern vermittelt auch Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft. Es vermittelt Identität im doppelten Sinne dessen, „was“ man ist, nämlich ein shomer mitzvot, ein Diener des Herrn auf dem Weg seiner Gebote, und „wer“ man ist, nämlich ein Jude. Dieses Jude-sein, Christsein, Muslim-sein als Ausdruck einer religiös definierten Identität und Zugehörigkeit ist ebenso neuartig wie der Glaube an einen einzigen Gott.9 Man ist nicht Athener, weil man an Athene glaubt, sondern weil man aus Athen stammt oder das dortige Bürgerrecht erworben hat. Beide Aspekte, die Grundlegung der individuellen Lebensführung (was man ist) und die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft (wer man ist) hängen untrennbar zusammen. Das ist der Sinn der biblischen Formulierungen vom „heiligen Volk“ und „Königreich von Priestern“. Das Gesetz ist das Prinzip der Lebensheiligung, aber nicht in der Form individueller Heiligkeit, sondern der Zugehörigkeit zum heiligen Volk oder Gottesvolk. In der Bibel wird dieser Zusammenhang von individueller Lebensführung und kollektiver Mitgliedschaft auf der Makroebene des „Volkes“ (cam) dargestellt, aber in der geschichtlichen Wirklichkeit zeigen sich die sozialen Konsequenzen der neuen Form von Lebensheiligung auf der niedrigeren Ebene der Bildung von Gemeinschaften, die aus der Masse des Volks aussteigen und nach reine_______________ 8

S. hierzu ASSMANN, J., Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, in: H EFTRICH, E./W YSLING, H. (Hg.), Thomas Mann Jahrbuch Bd.6, 1993 [1994], 133–158, wiederabgedruckt in DERS., Religion und Kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, 185–209. 9 Vgl. hierzu SANDERS, E.P., Jewish and Christian Self-Definition, Philadephia 1980, 1981 und 1984.

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ren, radikaleren, konsequenteren Formen suchen, das Gesetz im Leben auszuagieren. Das sind die schon erwähnten jüdischen Sekten oder Gruppierungen der Sadduzäer, Pharisäer, Essener und der Qumran-Leute, zu denen dann auch die Judenchristen stoßen. Auch diese Dynamik scheint für die monotheistischen Religionen typisch. Sowohl das Christentum wie der Islam kennt jede Menge von Sekten, Orden, Bruderschaften, die nach reineren oder radikaleren Formen streben, die Ansprüche der Religion im Leben zur Geltung zu bringen. Überall spielt bei solchen Abspaltungen und Gruppenbildungen auch das Prinzip Schrift eine Rolle. Solche Gruppen sind „textual communities“, sie versammeln sich entweder um einen eigenen Kanon oder um eine eigene Auslegung des allgemeinen Kanons.10 In derselben Weise, wie diese neue Form von Religion lebensgestaltend und gemeinschaftsbildend wirkt, wirkt sie auch schismatisch oder sezessionistisch, führt unaufhörlich zur Abspaltung kleinerer Gruppen aus der Mehrheitsgesellschaft. Das hängt damit zusammen, daß sich die lebensformenden Ansprüche der Religion nie in großem Maßstab ohne Kompromisse institutionalisieren und veralltäglichen lassen. Daher kommt es immer zu Verwässerungen und Reradikalisierungen, die sich durch genaueren Schriftbezug gegenüber der lax gewordenen Mehrheit legitimieren. Diese ganze Dynamik ist den so genannten heidnischen Religionen fremd, aber wir wollen doch auf die Parallelen im griechischen Raum verweisen, die Pythagoräer und die sich an diesem Vorbild orientierenden anderen philosophischen Bewegungen, die sich von der Mehrheit absondern und nach alternativen Formen einer Lebensführung suchen. Auch diese Bewegungen lassen sich als textual communities verstehen, die sich um eine Kernbibliothek quasi-kanonischer Schriften gruppieren. Ich möchte nun zu den zwei Formen übergehen, in denen sich die lebensbestimmende Kraft der neuen Religion auf besonders dramatische Weise äußert und auswirkt: die Reue und das Martyrium. Auch hier würde ich wieder die These wagen, daß es sich um zwei neue Phänomene handelt, die in den Religionen älteren Typs undenkbar wären. Unter Reue, hebräisch teschuvah, griechisch metanoia, verstehe ich eine radikale Umgestaltung der Lebensführung. In diesen Zusammenhang würde ich auch das Phänomen der Konversion stellen, das in den älteren Religionen ebenso undenkbar ist. Natürlich gibt es überall und seit eh und je Schuld und die entsprechenden Reaktionen der Scham, Reue und Buße. Überall macht der Mensch Fehler und hat hinterher Anlaß, sie zu bereuen. Davon rede ich _______________ 10

STOCK, B., Textual Communities, in: DERS., The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983, 88–240.

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nicht. Ich rede von einer existenziellen Umkehr, auf Grund eines Innegewordenseins der Schuldbeladenheit des bisherigen Lebens. Es geht nicht um ein spezielles Vergehen, sondern um so etwas wie eine grundsätzliche, existentielle Sündhaftigkeit. Vergänglichkeit, Gottesferne des menschlichen Lebens vor Gott, wie sie etwa in Ps. 51 zum Ausdruck kommt. Dort heißt es in Vers 7: Denn ich bin in Schuld geboren; in Sünde hat mich meine Mutter empfangen. und in Vers 19: Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen.

Darin scheint sich mir ein neues Lebensgefühl zu äußern, das mit dem neuen, monotheistischen Gottesbegriff zusammenhängt. Ein monotheistischer Gott, ein monos theos, hat keine götterweltlichen Partner, sein Partner ist der Mensch, und zwar sowohl in Gestalt des Gottesvolkes, Israel, als auch in Gestalt des einzelnen Menschen, der sich in dieser Religion in einer ganz neuen Weise gefordert, ernst genommen, vor Gott hingestellt und als Gegenstand göttlicher Zuwendung und Aufmerksamkeit seinem allwissenden Blick ausgeliefert fühlt. Das ‚Ich’ der Psalmen steht einerseits für ein einzelnes leidendes oder jubelndes, flehendes oder dankendes Individuum, andererseits für jeden, der in vergleichbarer Situation sich vor Gott hingestellt sieht und ‚Ich’ sagen will, und drittens für das KollektivIch oder Wir des Volkes Israel. In der Exponiertheit dieser neuen Gottesbeziehung ist es ein überlebensgroßes Ich, in dem alle drei Bedeutungen Platz finden. Das Ich ist die wichtigste Arena der Gott-Welt-Beziehung, der Weltzuwendung Gottes, seines innerweltlichen strafenden und heilenden und letztlich erlösenden Wirkens. Was sich theologisch beschreiben ließe als ein Heraustreten Gottes aus der Götterwelt in die Einsamkeit und Einzigkeit der Transzendenz, das tritt in anthropologischer Perspektive in den Blick als eine neue, gesteigerte Form von Subjektivität. Diese neue Subjektivität findet ihren reinsten und stärksten Ausdruck im Gefühl der Reue. Dieses Gefühl scheinen die herkömmlichen Religionen nicht zu kennen. Die Konversion ist der Reue verwandt, auch sie ist eine Umkehr, wenn auch nicht eine Rückkehr wie die Reue. Der Konvertit kommt von außen, er hat sich nicht von Gott entfernt, sondern war ihm in seinem bisherigen Leben fern geblieben; nun aber „bekehrt“ er sich und kehrt um, weil er den bisherigen Weg als den falschen erkannt hat. Konversion und Reue erfordern beide diese negative Selbsterkenntnis; nur wer sein bisheriges Leben als falsch oder sein bisheriges Tun als sündhaft erkennt, ist zur Umkehr fähig. Reue und Konversion sind Dramen, die auf der inneren Bühne spielen und den inneren Menschen betreffen, und die Vermutung drängt sich auf, daß sich diese innere Bühne, die nun zum Schauplatz sol-

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cher existentieller Wandlungen wird, zugleich und in Verbindung mit der monotheistischen Wende in Israel entwickelt. Einen Meilenstein in dieser Entwicklung markiert das 18. Kapitel des Propheten Ezechiel, wo es um die Ablehnung der Kollektivschuld geht. Darin heißt es: 20 Nur wer sündigt, soll sterben. Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes. Die Gerechtigkeit kommt nur dem Gerechten zugute, und die Schuld lastet nur auf dem Schuldigen. 21 Wenn der Schuldige sich von allen Sünden, die er getan hat, abwendet, auf alle meine Gesetze achtet und nach Recht und Gerechtigkeit handelt, dann wird er bestimmt am Leben bleiben und nicht sterben.

Das bedeutet zum einen eine Neudefinition der Schuld durch strikte Individualisierung, zum anderen aber auch eine Neudefinition des Individuums durch seine Schuldfähigkeit, vor allem aber seine Fähigkeit zur Reue. Schuld ist nicht mehr ein objektiver, übertragbarer, erblicher Makel, sondern eine subjektive und auf der inneren Bühne bearbeitbare Größe. Schuld erscheint hier geradezu als ein Generator von Individualität und Subjektivität. In der Schuld erfährt sich das Ich als Protagonist eines Dramas von Gott und Mensch. Schließlich möchte ich auf das Martyrium eingehen, in dem ich die eindeutigste Signatur des neuen Menschen erblicke, der sich im Horizont der monotheistischen Wende ausgebildet hat. Martyrium heißt „sterben für das Gesetz“, es ist die äußerste Form eines Lebens im oder nach dem Gesetz, eines Auslebens der zum „Drehbuch“ der Lebensführung verinnerlichten Schrift. Der hebräische Ausdruck hierfür lautet qiddush ha-shem „Heiligung des Namens (Gottes)“, was gleich der ersten Bitte im christlichen Vaterunser entspricht. Der christliche Ausdruck martyrion kommt von martys „Zeuge“. Der Märtyrer bezeugt die überragende Wirklichkeit Gottes, gegenüber der der Tod als ein vorübergehendes Ereignis dieser vergänglichen Welt nicht ins Gewicht fällt. Jüdisch gesprochen bezeugt der Märtyrer die kommende Welt, ha-olam ha-bah, als deren Bürger er diese Welt willig verläßt. Das Martyrium entwickelt sich als eine Extremform gesetzestreuer Lebensführung zugleich mit der Ausbildung eines Jenseitsglaubens im Judentum, also spät, im 2. Jahrhundert v.Chr. Bekanntlich bildete der Glaube an das Jenseits und an ein Leben nach dem Tode einen der Streitpunkte zwischen den Sadduzäern und Pharisäern. Die Pharisäer haben sich im rabbinischen Judentum durchgesetzt. Zugleich verweist der Ausdruck olam-habah, „die kommende Welt“ auf die sich gleichzeitig im Judentum entwickelnde Apokalyptik. Die Tage dieser Welt, in der Unrecht und Unterdrückung überhand nehmen, sind gezählt, die Zeichen der Zeit stehen auf Untergang und Neubeginn, gerade in den schlimmsten Leiden erscheint schon

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die Morgenröte einer neuen Welt – in solchen Sätzen läßt sich vielleicht das apokalyptische Lebensgefühl, das in der damaligen Zeit übrigens nicht nur die Juden, sondern weiteste Kreise von Iran bis Ägypten und Rom bewegte, andeutungsweise kennzeichnen. Apokalyptik und Unterdrückung gehören zusammen, es handelt sich um eine Form religiösen Widerstands, und zum Martyrium kann es natürlich nur in Situationen extremer gewaltsamer Verfolgung kommen. Eine solche Situation entstand in den 60er Jahren des 2. Jahrhunderts v.Chr., als der Seleukide Antiochus IV. Epiphanes den Entschluß faßte, sein Reich in einen Nationalstaat zu verwandeln und „ein Gebot ausgehen ließ, daß nur noch ein einziges Volk sein sollte“, d.h. daß die in seinem Herrschaftsgebiet lebenden Ethnien nicht nach ihren eigenen Gesetzen, sondern nach einem einheitlichen Reichsgesetz leben sollten. Sein Mittel zur Herstellung nationaler Einheit bestand also nicht in „ethnic“, sondern „cultural cleansing“. Es sollte in seinem Reich eine Kultur, d.h. ein Recht und eine Religion herrschen. Zwischen Religion und Recht wurde nicht unterschieden, zum Gesetz gehörten auch die vorgeschriebenen Riten und die Unterlassung verbotener Riten. Im Rahmen dieser neuen Ideologie waren die Juden, die nach eigenen Gesetzen lebten und deren Religion in diesem Gesetz ihre Mitte hatte, untragbar geworden (1.Makk. 1,43–56). Hier stoßen wir nun zum ersten Mal in der geschichtlichen Wirklichkeit, und nicht nur in der literarischen Rekonstruktion, in der davon ständig die Rede ist, auf den Zusammenhang von Monotheismus, Intoleranz und Gewalt. Wohlgemerkt geht die Gewalt hier zunächst einmal von König Antiochus aus, der natürlich ein Polytheist ist und diese Gewalt aus ganz anderen als religiösen Gründen anwendet. Hier muß man aber genau hinschauen. Es geht dem König nicht um gewaltsame Unterdrückung, sondern um die Herstellung kultureller Einheit und zwar im hellenistischen Sinne, also um eine durchgreifende Hellenisierung der östlichen Völkerschaften, denen Antiochus dadurch vermutlich eine Wohltat zu erweisen glaubt, nicht viel anders als in unseren Tagen die USA mit der Demokratisierung des Irak. Gewalttätig wird diese Maßnahme erst durch den heldenhaften Widerstand, den Jehuda Makkabi diesen Bemühungen entgegensetzt. Dieser Widerstand ist der erste religiös motivierte Krieg der Weltgeschichte. Er führt uns die neue Religion in ihren politischen Konsequenzen vor Augen.11 Diese Leute kämpften für das Gesetz, für Gott. _______________ 11 Es gab natürlich genug religiös interpretierte Kriege, die Herrscher im Auftrag einer Gottheit führten, der sie dann für den Sieg dankten und in deren Tempel sie die erbeuteten Schätze weihten. Die Assyrer etwa waren groß darin, ihre gewalttätige Politik religiös zu interpretieren. Die Motive ihrer Kriegführung jedoch lagen auf dem Gebiet rein politischer Interessen. Religiös interpretierte Kriege sind das Gewöhnlichste der Welt, von den

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Kann man aus dieser Szene auf einen Zusammenhang von Monotheismus und Gewalt schließen? Die Anhänger Jehuda Makkabis handelten doch gewissermaßen in Notwehr. Es handelt sich doch, wenn man so will, um passive, aber nicht um aktive Intoleranz. Passive Intoleranz wäre die Weigerung, etwas zu tun, was mit dem eigenen Wertsystem für unvereinbar gehalten wird. Die Bereitschaft, für die auf dieses Wertsystem gegründete Identität zu sterben, kann man als passive oder auch reaktive Intoleranz bezeichnen. Das Martyrium ist die höchste und radikalste Form von passiver Intoleranz. Der makkabäische Widerstand geht aber weit darüber hinaus. Er kämpft nicht nur, er „eifert“ für das Gesetz. Dieser Begriff, hebräisch qin’ah, ist ein Schlüsselwort für die Beziehung von Monotheismus und Gewalt. Von Gott heißt es, daß er ein „eifernder Gott“ sei, der die Sünden der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied. Ein eifernder Gott schlägt zu. Eifern heißt mit Gewalt vorgehen, notfalls töten, vernichten, auslöschen. Es scheint mir aber vollkommen verfehlt, diese Gottesidee als spezifisch alttestamentlich darzustellen und ihr den christlichen Gott der Liebe gegenüberzustellen. Die Eifersucht Gottes entspringt ja seiner Liebe und immer ist seine Gnade tausendmal größer als sein Zorn. Es ist ein liebender, der Welt und seinem Volk leidenschaftlich zugewandter Gott, der zwischen Freund und Feind unterscheidet, auch wenn seine Gnade gegenüber seinen Freunden tausendmal größer ist als sein Zorn gegenüber seinen Feinden. So wie Gott sollen auch die Menschen für das Gesetz eifern. Daher heißt es im Deuteronomium mit Bezug auf die Kanaanäer: schließe keinen Vertrag mit ihnen und verschone sie nicht (lo techonnem – Dt. 7,2). Das Vorbild solchen Glaubenseifers ist Pinchas, der seinen Landsmann Zimri mit seiner midianitischen Geliebten im Liebesakt durchbohrt. Diese Szene hat sich Jehuda Makkabi vor Augen gestellt. Er hat sich nämlich nicht nur mit Gewalt gegen Antiochus IV gewehrt, sondern das Leben ganzer jüdischer Städte ausgelöscht, die sich dem Hellenismus assimiliert hatten – Maßnahmen, die in den Makkabäerbüchern nicht etwa mit Abscheu, sondern mit Stolz berichtet werden. Liest man die Berichte im ersten Makkabäerbuch, dann fällt die archaisierende Sprache auf, in der die Kriegshandlungen des Bandenführers Jehuda Makkabi geschildert werden. An den eroberten Städten etwa „vollstreckt er den Bann“, mit „der Schärfe des Schwertes“. Diese Terminologie stammt aus dem Deuteronomium und ______________________________________________________________________________________________

alten Ägyptern bis hin zu George W. Bushs „Kreuzzug“ für die Demokratie. Religiös motivierte Kriege dagegen, Kriege, die aus rein religiösen Gründen geführt werden sind etwas Neues. So ein Krieg, und vermutlich der erste dieser Art, war der bewaffnete Widerstand, den die Juden unter Jehuda Makkabi der seleukidischen Zwangsassimilation entgegensetzten.

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zwar den Kriegsgesetzen des 20. Kapitels. Den Bann an einer Stadt vollstrecken heißt, alles darin umbringen „was Odem hat“, eine grauenvolle Form von Vernichtungskrieg, die vielleicht in dem vollkommen fiktiven Kriegsrecht des Deuteronomiums ihren Ort hat, aber nicht in der vergleichsweise modernen Welt des Hellenismus. Jehuda Makkabi benutzt dieses archaische und fiktive Kriegsrecht als Drehbuch für seinen Guerillakrieg: damit die Schrift erfüllet werde – lo techonnem, „du sollst sie nicht verschonen“. In dieser buchstäblichen Schrifterfüllung äußert sich bereits eine fundamentalistische Haltung. Hier haben wir es mit religiösem Eifer reinster Form zu tun, mit Zelotismus, wie es griechisch heißt, in Übersetzung des hebräischen Begriffs qana im Sinne eines religiös motivierten Totaleinsatzes des eigenen Lebens; das arabische Äquivalent ist natürlich dhihad. 12 Solche Feststellungen werden heute als Vorwurf, ja antisemitische Äußerung verstanden, wie ich das im Anschluß an die Veröffentlichung meiner Bücher Moses der Ägypter und Die Mosaische Unterscheidung erfahren mußte. Nichts liegt mir jedoch ferner, als dem Monotheismus den Vorwurf zu machen, er habe die Gewalt in die Welt gebracht. Im Gegenteil, der Monotheismus hat mit seinem Tötungsverbot, seiner Abscheu gegen Menschenopfer und Unterdrückung, seinem Plädoyer für die Gleichheit aller Menschen vor dem Einen Gott, alles getan, die Gewalttätigkeit dieser Welt zu verringern. Wir fragen hier nach den anthropologischen, sozialen und politischen Konsequenzen des Monotheismus; da scheint es mir historisch unredlich, vor bestimmten Konsequenzen aus Gründen politischer Korrektheit die Augen zu verschließen. Ich will dem Monotheismus keinen Vorwurf machen, sondern nur das Neue, das mit ihm in die Welt kam, den kulturellen Sprung, der mit diesem Begriff inszeniert und erinnert wird, genauer verstehen. In diesem Beitrag suche ich dieses Neue nun auf der Ebene des Menschen auf und wage die These, daß bestimmte Formen religiös motivierter Gewalt im Bereich des so genannten Heidentums nicht denkbar sind. Töten für Gott – natürlich; was sind die „blutigen Opfer“ anderes und nun gar die Menschenopfer, auf die in der Bibel ständig als den Inbegriff heidnischer Kulte hingewiesen wird. Ich rede hier aber nicht von Kult, sondern von alltäglicher, profaner Lebensführung, die durch das Ausagieren des Gesetzes geheiligt wird. Das ist ein Unterschied, der etwa in René Girards Überlegungen über „das Heilige und die Gewalt“ nicht berücksichtigt wird. Die heidnischen Grenzen zwischen dem Heiligen und dem Profanen sind hier eingerissen oder vollkommen umdefiniert. Das Heilige steckt nicht mehr in ausgegrenzten Orten und Zeiten, sondern _______________ 12

HENGEL, M., Die Zeloten, Leiden 1961.

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allein in der Schrift, die den Anspruch erhebt, das gesamte persönliche, gesellschaftliche und politische Leben der Menschen, und nicht etwa nur das priesterlich-kultische Handeln zu bestimmen und zu heiligen. Der Monotheismus fundiert ein neues Menschentum, das zu neuen Handlungen fähig ist. Zu diesen Handlungen gehört, das möchte ich abschließend betonen, weniger das Töten, als vielmehr das Sterben für Gott als die höchste Form der Lebensheiligung. Auch hier muß man sich wieder klar machen, daß es auch außerhalb der monotheistischen Religionen Fälle und Formen eines heroischen Sterbens gibt: für das Vaterland, für die Ehre, für Andere. Besonders die römische Geschichte kennt ja einige berühmte Beispiele. Nicht nur der monotheistische Mensch ist zur totalen Hingabe fähig. Überhaupt wäre auf viele interessante Parallelen zu anderen Erscheinungen zu verweisen, die wir hier als Kernpunkte des neuen anthropologischen Paradigmas herausgestellt haben: auf die ägyptische Idee des Totengerichts für die Individualisierung der Schuld und die persönliche Verantwortung für die eigene Lebensführung, auf die fernöstlichen Formen eines Aussteigertums aus dem mainstream konventioneller Lebensformen auf der Suche nach alternativen, reineren und radikaleren Formen religiöser Selbstverwirklichung, auf die vielerorts zu beobachtenden Transformationen vormals priesterlicher, professioneller Formen von Askese in allgemeine Lebensformen. Der Aufstieg des Monotheismus gehört in jene umfassendere Wende hinein, die Karl Jaspers als Achsenzeit bezeichnete, und als die Periode definierte, in der der Mensch entstand, mit dem wir bis heute leben, homo axialis. Damit kehre ich zu meinem Ausgangspunkt zurück, dem Dreiklang von Postmoderne, 18. Jahrhundert und Antike. Denn auch Jaspers, dessen 1948 erschienenes Buch vom Ursprung und Ziel der Geschichte in den Kontext des posthistorischen, auf die Geschichte als eine abgeschlossene Größe zurückblickende Paradigma gehört, griff ohne es zu wissen einen Gedanken des 18. Jahrhunderts auf. Schon der Iranist Anquetil Duperron sprach im Blick auf diese Zusammenhänge von einer grande revolution du genre humain, einer großen Revolution des Menschengeschlechts. Er ist daher der Entdecker der Achsenzeit, und diese Entdeckung ist die Frucht des Historisierungsschubs, den die geistige und natürliche Welt im späten 18. Jahrhundert erlebte. Cultura facit saltus: drei dieser kulturellen Sprünge, die Achsenzeit, die Aufklärung und die Postmoderne treten in den Blick, wenn wir heute die Monotheismus-Debatte wiederaufgreifen. Der Monotheismus ist ein Phänomen der Achsenzeit, der Begriff wiederum wird in der Aufklärung formuliert und wir, die wir heute über den Monotheismus nachdenken, stehen inmitten einer Wende, die sich in der kulturellen Selbstwahrnehmung und Erinnerung vielleicht einmal als ein Sprung vergleichbarer Größenordnung konstituieren wird.

Autorenverzeichnis ASSMANN, JAN Emeritierter Professor für Ägyptologie, Universität Heidelberg BECKER, HANS-JÜRGEN Professor für Neues Testament und antikes Judentum, Universität Göttingen BENDLIN, ANDREAS Professor für Römische Geschichte, seit 2005 Universität Toronto BURKERT, WALTER Emeritierter Professor für Klassische Philologie, besonders Griechisch und Religionswissenschaft, 1966–1969 TU Berlin, 1969–1996 Universität Zürich FELDMEIER, REINHARD Professor für Neues Testament, 1992–1995 Universität Koblenz-Landau, 1995–2002 Universität Bayreuth, seit 2002 Universität Göttingen GALL, DOROTHEE Professorin für Klassische Philologie, Universität Bonn NAGEL, TILMAN Professor für Arabistik, Universität Göttingen NESSELRATH, HEINZ-GÜNTHER Professor für Klassische Philologie (mit besonderer Berücksichtigung des Griechischen), 1992–2001 Universität Bern, seit 2001 Universität Göttingen SCHMITZER, ULRICH Professor für Klassische Philologie/Latinistik, Humboldt-Universität Berlin TAMCKE, MARTIN Professor für Orientalische Kirchengeschichte, Universität Göttingen

Sachregister Ahnenkult 89 Allah — Hingeschaffenheit zu s. FitLra — Stellvertreter von s. ÑalƯfa — Vertrauen zu 218, 223f., 228, 237 Allmacht 116, 119, 120, 121, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 133, 138, 145 Altar 46, 49 Antagonismus 317 Anthropomorphismus 21–26 Antichrist 267 Apokalypsen 271 Auferstehung 124, 131, 137, 138, 147, 148f. Auferweckung s. Auferstehung Augustus 93–95, 97–111, 310–306 Bekenntnis 244, 246, 248, 257, 259 Bündnis 322 Caesar 94, 96–97, 100, 109 Chalcedonenser 273 Christianisierung 88 Dialog 265, 271, 273, 275, 276 ‚Dichte Beschreibung’ 299–301, 310 Dichtung, altarabische s. Umaija Diesseits 192, 193f., 200–203, 206 Doinysos 33 Einheit 296–299, 304–306 Eklektizismus 76 Elohim 167, 175–177 Epitheta/Epitheton 303–206 Epoche 314 Feste 56–63 FitLra 211, 221, 222, 225, 228 Frieden 93–95, 97–110 Fügung, göttliche 205–209 Fundamentalismus 327 Furcht s. Liebe

Gebet 54 Geduld Gottes 161 Gewalt 314, 318, 319, 326–328 Gezeugtsein s. Zeugung Gnade und Recht 176–178 Gnosis 164–171 Goldene Zeit 97, 101 Göttereigennutz 27 Götterfamilie 28–30 Götterfrieden 75 Götterglaube 71, 73, 78 Götterhumor 25f. Götterzorn 24f. Gottesbegriff s. Götterglaube Gottesfreunde 239, 240 Gottesliebe 118, 129, 130, 131, 142, 143, 145f. Gottessohn 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 123, 129, 131, 141 Götzendienst 159–162 Hanif 273 Häresie/Häretiker 257 heilig — heilige Stätten s. Stätten, heilige — der Heilige, er sei gepriesen 180–181, 183–185 — Heiligtum 45–48 hellenistisch 71, 92 Heroenverehrung 35–39 Homer 6–11 Horaz 95, 99, 108f. Höre, Israel 155–159, 179 Hundsstern 194–198, 200f., 201, 202 Hypostasen 248, 259 hadƯŠ 224, 225, 227, 230f. 238 ÑalƯfa 212f., 226, 235f. Inkarnation/inkarniert 274 Interpretatio Graeca 40f. Intoleranz 314, 318, 326, 327

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Sachregister

IslƗm 214f., 216, 218, 219, 220, 221, 223, 225, 236–237 Islamisierung 230, 231, 232, 234, 237 Iuno 81f. Judentum 122, 128 Jupiter 279, 288, 289f., 290f. 292f., 297, 301–303, 303–306, 307–310 Kaaba 196–199 Kaiserkult 250 Kalif/Kalifat 212, 229–231, 231–232 Kapitol (in Rom) 301–306, 307–310 Koiné, nahöstlich-mediterrane 3–5 Konstantinische Wende 243 Kosmos 211, 212, 219, 224 Kreuzestheologie 135, 136, 141, 142, 147, 148 Kreuzigung 275 Kultbild/Kultbilder 11–13, 46f., 50 Lares 88 Legitimation/Legitimität 229, 230, 232, 240 Leugnung Gottes 162–164 Libri Sybillini 83–85 Liebe und Furcht 179f. Literatur, altarabische 203f., 204f., 208f. Lokalreligion 286–288, 303–306, 307f. Macht s. Allmacht Magie 74, 86, 92 Maria 274 Minerva 81f. Monolatrie 194–195, 197, 199, 202, 209 Monotheismus 145, 296–299 Moses 314, 315f., 318, 320, 328 Mu’taziliten 218, 219 Mufti 233 Mysterien/Mysterium 316, 317, 318f. Neuschöpfung s. Schöpfung Numen 77–79, 83 Olympia 12f., 14, 15, 20 Opfer 46, 51–53 Orthodoxie 257 Ovid 103–109

Pantheon 280f., 282f. 294f., 305–307 — Binnenstrukturierung des 284–286, 296f., 303–306 — Personalisierung des 305f., 308–310 — Variabilität/Polyvalenz des 286, 288– 295, 298f., 303f., 310 Pax Deum 75 Penates 88f. Personalisierung s. Pantheon Pheidias 12f., 20 Pluralismus, religiöser 298f., 305, 310 Polytheismus 4–14; 16–18, 280–282, 283, 297f., 306f., 310 Priester 55f. Prinzipat 93, 100–101, 107, 109 Quraišiten/quraišitisch 195–200, 204, 228, 232 ratio/Rationalismus 214, 218, 219–220, 240 Recht s. Gnade Regionalreligion s. Lokalreligion Religio 73–75 Riten 50ff. Scharia/schariatisch 219, 222, 227, 228, 232–234, 235f., 238, 239 Schia 253, 255, 256 Schöpfer s. Schöpfung Schöpfung 139, 142f., 148f. Schriftlichkeit 320–322 Schutzverträge 264 Stätten, heilige 270 Sterblich/Unsterblich 10f. Sufismus, sufisch 222–224, 227, 235 Sultan/Sultanat 231–232 Sunna 219, 220, 221, 231 Sunnitentum, sunnitisch 217, 219–225 Tacitus 97, 111 tawakkul s. Allah, Vertrauen zu Tempel 11–13, 45–50 Tetragramm 166, 172–177 Teufel 118, 119, 130 Theologia crucis s. Kreuzestheologie Tibull 97, 109 Toponyme s. Epitheta/Epitheton Totengeister 34

Sachregister Umaija 204f., 208 Union, hypostatische 247 Unsterblich s. Sterblich/Unsterblich Vergil 94, 95, 96, 105, 109–111 Vielheit 296–299, 304–306 Volksfrömmigkeit 90

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Xenophanes (von Kolophon) 17–19, 23f. Zeugung 259 Zukunftsdeutung 64f. Zuwendung 324 Zwei Naturen [Christi] 248