Grundzüge der Rechtsphilosophie 9783110886917, 9783110138108


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Einleitung
Kapitel I: Hauptlehren der Rechtsphilosophie
I. Antike
1. Die Sophisten
2. Piatons Lehre von der Gerechtigkeit der Idee
3. Aristoteles' Phänomenologie des Gerechten
4. Das Naturrecht der Stoa
II. Christliche Rechtslehren
1. Grundsätzliches
2. Thomas von Aquin
3. Augustin
4. Luthers Lehre von den zwei Reichen
III. Souveränität und Staatsraison
1. Allgemeines zur Renaissancephilosophie
2. Machiavelli
3. Jean Bodin
IV. Das Naturrecht der Aufklärung
1. Einleitung
2. Die Theorie des aufgeklärten Absolutismus
3. Die Theorie der Menschen- und Bürgerrechte
4. Kant: Philosophie der Freiheit
V. Die Moderne: Die Entdeckung der Geschichtlichkeit
1. Rechtsphilosophie und politische Bewegungen
2. Wendung zur Geschichte
3. Historisches Recht gegen Revolution: Burke
4. Die historische Rechtsschule: Savigny
5. Geschichte als Entfaltung der Vernunft: Hegel
VI. Die Moderne: Die ökonomisch-soziologische Rechtsanschauung
1. Interessenjurisprudenz: Bentham
2. Marx
3. Die Ideologielehre
VII. Die Moderne: Das neue biologisch-psychologische Menschenbild
1. Die Rassenlehre
2. Die psychologischen Reduktionstheorien
3. Wirkungen auf die Rechtsanschauung
VIII. Die Moderne: Positivismus und Formalismus
1. Der philosophische Positivismus
2. Anwendungen im Recht: Realismus
3. Anwendungen im Recht: Die formalen Rechtslehren
a) Allgemeine Rechtslehre
b) Reine Rechtslehre Kelsens
c) Der Neukantianismus: Stammler
4. Der allgemeine juristische Positivismus
5. Der Relativismus
IX. Zur gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion
1. Fortwirken der Ansätze der Moderne: Marxismus und Utilitarismus
2. Wissenschaftstheorie und Rechtstheorie
3. Der systemtheoretische Ansatz
4. Theorie der Gerechtigkeit
Kapitel II: Grundlagen des eigenen Ansatzes
I. Der Erkenntniswert der Geisteswissenschaften
II. Die Rationalität der Ethik
III. Die Reduktionstheorien
IV. Zur Kritik Luhmanns
V. Zusammenfassung
Kapitel III: Das Recht als Kulturerscheinung
I. Allgemeine Fragen
1. Recht als universale, aber nicht einheitliche Erscheinung
2. Allgemeine Entwicklungsgesetze?
3. Rechtsübernahmen
4. Verschiedene Bedeutung in den einzelnen Kulturen
5. Typen des Rechts
6. Erscheinungsformen des modernen Rechts
II. Ziele der Rechtsbildung und ihre Verwirklichung
1. Grundthemen der rechtlichen Ordnung
2. Ziele der Rechtsbildung: Friede
3. Ziele der Rechtsbildung: Sicherheit
4. Gerechtigkeit und Freiheit
5. Verwirklichung des Rechts
III. Das Recht im Rahmen der Gesamtkultur
1. Recht und Wirtschaft
2. Recht, Religion und Sittlichkeit
3. Recht und intellektuelle Entwicklung
4. Das Recht und die Grundformen sozialer Beziehungen
IV. Zusammenfassung
Kapitel IV: Die Grundlagen des Rechts
I. Natur der Sache
II. Sittliche Grundlagen
1. Gerechtigkeit
2. Menschenwürde, Freiheit und Treue
3. Bedeutung dieser Werte in den verschiedenen Teilen des Rechts
4. Pluralismus als Eigenschaft des Rechts?
III. Naturrecht
1. Einleitung
2. Bindung an überhistorische Situationen
3. Naturrechtliche Grundsätze für solche Situationen
4. Bedeutung der Erfahrung
5. Verbindung von Naturrecht und positivem Recht
6. Naturrecht als Summe von Sätzen der Gerechtigkeit
IV. Wirtschaft und Recht
1. Verhältnis von Recht und Wirtschaft
2. Neue wirtschaftliche Beziehungen fordern neues Recht
3. Das Recht ordnet die Wirtschaftsverfassung
Kapitel V: Das positive Recht und seine Geltung
I. Wesenszüge des positiven Rechts
1. Definition
2. Recht als Abgrenzung von Lebenssphären und Regelung der Kooperation
3. Die rechtliche Regel
4. Die Bewertung als Grundlage der rechtlichen Regel
5. Das Nebeneinander verschiedener Rechtsgemeinschaften
6. Autorität des positiven Rechts; Zwangstheorie des Rechts
7. Positives Recht und soziale Macht
8. Grenzen der Bindung des Richters an das positive Recht
II. Das Problem der Rechtsgeltung
1. Ausgangspunkte
2. Befehlstheorie
3. Anerkennungstheorie
4. Einwände
5. Stellungnahme: Positives Recht als ideales Sein
Kapitel VI: Das juristische Denken
I. Grundsätzliches
II. Historische Typen juristischen Denkens
1. Römische Juristen
2. Scholastische Rechtswissenschaft
3. Deutsche Pandektistik
4. Ecole de Pexégèse in Frankreich
5. Zum Denken des anglo-amerikanischen Juristen
III. Die Auslegung einer Kodifikation
1. Grundsätze der allgemeinen Hermeneutik
2. Grundsätze der juristischen Auslegung
IV. Die Anwendung des Gesetzes
1. Verhältnis von Auslegung und Anwendung
2. Gesetzesanwendung als Subsumtion
3. Kritik dieser Auffassung
4. Richter und Gesetz
V. Rechtsfortbildung durch den Richter
1. Historisches
2. Dreifache Aufgabe des Richters
3. Lückenproblem und juristische Logik
4. Schließung der Lücke durch den Richter
5. Zusammenfassung
VI. Die Rechtswissenschaft
1. System der aporetischen Denkweise
2. Zum juristischen System
3. Methoden der Rechtswissenschaft
4. Wissenschaftlicher Charakter der Rechtswissenschaft
Schlußbemerkung
Namensverzeichnis
Sachverzeichnis
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Grundzüge der Rechtsphilosophie
 9783110886917, 9783110138108

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de Gruyter Lehrbuch

Grundzüge der Rechtsphilosophie Von

Helmut Going Fünfte Auflage

W DE

G 1993

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Prof. Dr. iur. Dr. b. c. mult. Helmut Coing Frankfurt am Main

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Coing, Helmut: Grundzüge der Rechtsphilosophie / von Helmut Coing. 5. Aufl. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1993. (De-Gruyter-Lehrbuch) ISBN 3-11-013810-7

© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Buchbinderei: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin 10

MEINER HEBEN FRAU

VORWORT ZUR FÜNFTEN AUFLAGE An dem Text des Buches habe ich diesmal nur wenig geändert. Eine knappere Darstellung der Probleme ist im Kap. IV. vorgenommen worden. Mai 1992

Prof. Dr. H. Going

VORWORT ZUR VIERTEN AUFLAGE In der neuen Auflage ist der historischen Einleitung ein Abschnitt angefügt worden, in dem einige Hinweise zur gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion gegeben, insbesondere einige Verbindungslinien zu den Ansätzen des 19. Jahrhunderts gezogen werden. Die Forschungen im Bereich der Logik haben in den letzten Jahrzehnten einen großen Aufschwung genommen. Die Konsequenzen für die Rechtswissenschaft sind im einzelnen nicht dargestellt, wohl aber wird auf die Bedeutung dieser Entwicklung für die Rechtstheorie in allgemeiner Form hingewiesen. Da die rechtstheoretischen Bemühungen noch nicht zu der erstrebten Gesamttheorie geführt haben, ist näher nur auf die Lehren von Luhmann eingegangen worden. Im übrigen ist das zweite Kapitel erneut gestrafft worden. Frankfurt am Main, am 4. September 1984

Helmut Coing

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE Die zweite Auflage dieses Buches ist in der Art der Darstellung weitgehend umgestaltet. Erfahrungen in der Vorlesung über Rechtsphilosophie haben mich veranlaßt, eine knappe Darstellung einiger Hauptlehren der Rechtsphilosophie aufzunehmen. Daraus ist das neue Kapitel I entstanden. Dabei habe ich mich bemüht herauszuarbeiten, auf welchen allgemein philosophischen Voraussetzungen diese Lehren beruhen. Daraus ergab sich in natürlicher Weise die Aufgabe zu zeigen, daß die Entscheidung für die eine oder die andere Theorie von der Stellungnahme zu jenen grundsätzlichen Fragen abhängt, und die Gründe darzulegen, die den Autor veranlaßt haben, zu der von ihm entwickelten Ansicht zu kommen. Diesem Zweck dienen das neue Kapitel II und das (umgestaltete und jetzt das dritte Kapitel bildende) frühere Kapitel I. Aus den so begründeten Anschauungen entwickeln die weiteren Kapitel die Folgerungen. Dabei ist insbesondere das Kapitel VI, das die Grundlagen einer juristischen Methologie enthält, neu gestaltet worden. Ich hoffe, daß das Buch seinen Zweck, zum Nachdenken über die Probleme des Rechts anzuregen, in dieser neuen Form besser erfüllt. Bei der Ausarbeitung sind mir vor allem zwei Denkrichtungen wichtig gewesen, teils weil sie mich dazu gezwungen haben, die eigene Position neu zu durchdenken, teils weil sie mir neue Wege des Verständnisses eröffnet haben. Es sind einmal die Arbeiten von K. Popper zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis; es sind zum anderen diejenigen der „neuen Topik oder Rhetorik", also vor allem die Werke von Ch. Perelman, Th. Viehweg und Toulmin, welche mir neue Wege gezeigt haben. Frankfurt, den 4. 2.1969

Helmut Coing

INHALT Einleitung

l

Kapitel I: Hauptlehren der Rechtsphilosophie I. Antike 1. Die Sophisten 2. Platons Lehre von der Gerechtigkeit der Idee 3. Aristoteles' Phänomenologie des Gerechten 4. Das Naturrecht der Stoa II. Christliche Rechtslehren 1. Grundsätzliches 2. Thomas von Aquin 3. Augustin 4. Luthers Lehre von den zwei Reichen III. Souveränität und Staatsraison 1. Allgemeines zur Renaissancephilosophie 2. Machiavelli 3. Jean Bodin IV. Das Naturrecht der Aufklärung 1. Einleitung 2. Die Theorie des aufgeklärten Absolutismus 3. Die Theorie der Menschen- und Bürgerrechte 4. Kant: Philosophie der Freiheit V. Die Moderne: Die Entdeckung der Geschichtlichkeit 1. Rechtsphilosophie und politische Bewegungen 2. Wendung zur Geschichte 3. Historisches Recht gegen Revolution: Burke 4. Die historische Rechtsschule: Savigny 5. Geschichte als Entfaltung der Vernunft: Hegel VI. Die Moderne: Die ökonomisch-soziologische Rechtsanschauung 1. Interessenjurisprudenz: Bentham 2. Marx 3. Die Ideologielehre

5 5 10 14 18 22 22 24 25 26 28 28 29 30 31 31 33 34 35 36 36 37 39 42 44 48 49 51 55

X

Inhalt

VII. Die Moderne: Das neue biologisch-psychologische Menschenbild 1. Die Rassenlehre 2. Die psychologischen Reduktionstheorien 3. Wirkungen auf die Rechtsanschauung VIII. Die Moderne: Positivismus und Formalismus 1. Der philosophische Positivismus 2. Anwendungen im Recht: Realismus 3. Anwendungen im Recht: Die formalen Rechtslehren a) Allgemeine Rechtslehre b) Reine Rechtslehre Kelsens c) Der Neukantianismus: Stammler 4. Der allgemeine juristische Positivismus 5. Der Relativismus IX. Zur gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion 1. Fortwirken der Ansätze der Moderne: Marxismus und Utilitarismus 2. Wissenschaftstheorie und Rechtstheorie 3. Der systemtheoretische Ansatz 4. Theorie der Gerechtigkeit

55 55 56 57 59 59 63 64 64 65 71 76 78 85 85 86 87 91

Kapitel II: Grundlagen des eigenen Ansatzes I. Der Erkenntniswert der Geisteswissenschaften II. Die Rationalität der Ethik

95 108

III. Die Reduktionstheorien

122

IV. Zur Kritik Luhmanns

127

V. Zusammenfassung

129

Kapitel III: Das Recht als Kulturerscheinung I. Allgemeine Fragen 131 1. Recht als universale, aber nicht einheitliche Erscheinung .. 131 2. Allgemeine Entwicklungsgesetze? 133 3. Rechtsübernahmen 135 4. Verschiedene Bedeutung in den einzelnen Kulturen 136 5. Typen des Rechts 136 6. Erscheinungsformen des modernen Rechts 138 II. Ziele der Rechtsbildung und ihre Verwirklichung 1. Grundthemen der rechtlichen Ordnung

142 142

Inhalt 2. Ziele der Rechtsbildung: Friede 3. Ziele der Rechtsbildung: Sicherheit 4. Gerechtigkeit und Freiheit 5. Verwirklichung des Rechts III. Das Recht im Rahmen der Gesamtkultur 1. Recht und Wirtschaft 2. Recht, Religion und Sittlichkeit 3. Recht und intellektuelle Entwicklung 4. Das Recht und die Grundformen sozialer Beziehungen . . . IV. Zusammenfassung

XI 143 145 150 156 159 159 164 169 171 178

Kapitel IV: Die Grundlagen des Rechts I. Natur der Sache II. Sittliche Grundlagen 1. Gerechtigkeit 2. Menschenwürde, Freiheit und Treue 3. Bedeutung dieser Werte in den verschiedenen Teilen des Rechts 4. Pluralismus als Eigenschaft des Rechts? III. Naturrecht 1. Einleitung 2. Bindung an überhistorische Situationen 3. Naturrechtliche Grundsätze für solche Situationen . . . . . . 4. Bedeutung der Erfahrung 5. Verbindung von Naturrecht und positivem Recht 6. Naturrecht als Summe von Sätzen der Gerechtigkeit IV. Wirtschaft und Recht 1. Verhältnis von Recht und Wirtschaft 2. Neue wirtschaftliche Beziehungen fordern neues Recht . . . 3. Das Recht ordnet die Wirtschaftsverfassung Kapitel V: Das positive Recht und seine Geltung I. Wesenszüge des positiven Rechts 1. Definition 2. Recht als Abgrenzung von Lebenssphären und Regelung der Kooperation 3. Die rechtliche Regel 4. Die Bewertung als Grundlage der rechtlichen Regel . . . . . . 5. Das Nebeneinander verschiedener Rechtsgemeinschaften .. 6. Autorität des positiven Rechts; Zwangstheorie des Rechts .

181 192 193 194 195 197 198 199 202 203 204 205 207 209 209 209 210

213 213 216 219 222 224 226

XII

Inhalt

7. Positives Recht und soziale Macht 228 8. Grenzen der Bindung des Richters an das positive Recht . . 2 3 1 II. Das Problem der Rechtsgeltung 234 1. Ausgangspunkte 234 2. Befehlstheorie 235 3. Anerkennungstheorie 237 4. Einwände 238 5. Stellungnahme: Positives Recht als ideales Sein 240 Kapitel VI: Das juristische Denken I. Grundsätzliches II. Historische Typen juristischen Denkens 1. Römische Juristen 2. Scholastische Rechtswissenschaft 3. Deutsche Pandektistik 4. Ecole de Pexegese in Frankreich 5. Zum Denken des anglo-amerikanischen Juristen III. Die Auslegung einer Kodifikation 1. Grundsätze der allgemeinen Hermeneutik 2. Grundsätze der juristischen Auslegung IV. Die Anwendung des Gesetzes 1. Verhältnis von Auslegung und Anwendung 2. Gesetzesanwendung als Subsumtion 3. Kritik dieser Auffassung 4. Richter und Gesetz V. Rechtsfortbildung durch den Richter 1. Historisches 2. Dreifache Aufgabe des Richters 3. Lückenproblem und juristische Logik 4. Schließung der Lücke durch den Richter 5. Zusammenfassung VI. Die Rechtswissenschaft 1. System der aporetischen Denkweise 2. Zum juristischen System 3. Methoden der Rechtswissenschaft 4. Wissenschaftlicher Charakter der Rechtswissenschaft . . . .

243 246 247 249 250 254 256 261 261 264 273 273 274 275 278 281 281 282 282 286 288 290 290 292 296 297

Schlußbemerkung

299

Namensverzeichnis

303

Sachverzeichnis

309

ABKÜRZUNGEN aaO. AcP Art. BGH BGHZ

BGHSt

C CCS D Gott. Gel. Anz. JZ KG NJW

Q RE RG RGZ Rn. SJZ Sp. Suppl. SVF SZ (Germ.Abt.)

SZ (Rom.Abt.) ZHR

Am angegebenen Ort Archiv für civilistische Praxis Artikel Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Codex Code Civil Suisse Digesten Göttingische Gelehrte Anzeigen Juristenzeitung Kammergericht Neue Juristische Wochenschrift Quaestio Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Randnummer Süddeutsche Juristenzeitung Spalte Supplement Stoicorum Veterum Fragmema Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Germanistische Abteilung) Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Romanistische Abteilung) Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht

EINLEITUNG „Was ist Recht? Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologie verfallen, oder statt einer allgemeinen Auflösung auf das, was in irgendeinem Lande die Gesetze zu irgendeiner Zeit wollen, verweisen will, ebenso in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit? den Logiker. Was Rechtens sei (quid sit inris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er noch wohl angeben: aber ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen .. ,"1 In diesen Sätzen stellt Kant die Frageweise der Rechtsphilosophie derjenigen der Jurisprudenz gegenüber. Diese interessiert, was hie et nunc rechtens ist; jene fragt danach, was das Recht sei und was es sein solle. Die Frage, was Recht eigentlich sei, führt schnell zu einer Reihe von weiteren Problemen. Denn man kann die Antwort in sehr verschiedenen Richtungen suchen. Man kann etwa das Recht als Inbegriff von Normen mit Normen anderer Art, etwa denen der Sittlichkeit, vergleichen und nach dem unterscheidenden Merkmal fragen, das das Recht auszeichnet. Vielleicht ist es der Umstand, daß das Recht mit Zwang verbunden ist. Man kann in die Praxis des Rechtslebens sehen und sich dann vielleicht fragen, ob das Recht gar nicht in Normen, sondern im Verhalten einer bestimmten Gruppe von Menschen innerhalb der Gesellschaft oder in Aussagen über ihr Verhalten besteht. „The prophecies of what the courts will do in fact ... are what I mean by the law" hat ein berühmter amerikanischer Richter gesagt. Man kann sich zur Geschichte wenden und sich fragen, ob das Recht nicht das — vielleicht notwendige — Ergebnis ihrer Entwicklung sei, einer Entwicklung, die sich nach bestimmten Gesetzen, in der Abfolge bestimmter Epochen, bestimmter Wirtschaftssysteme vollzieht. Man kann versuchen, die Stellung des Rechts in der Gesamtheit der Kultur zu untersuchen, und sieht sich dann vor Fragen gestellt, wie 1

Kant, Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Reditslehre (Inselausgabe von Weisdiedel Band 4), S. 336.

2

Einleitung

die, ob das Recht etwa als Ausdruck der Gestaltung der Produktionsverhältnisse, als deren „Überbau" verstanden werden kann. Man kann die Ziele untersuchen, die der Mensch mit den rechtlichen Ordnungen verfolgt; in diesem Zusammenhang werden Begriffe wie Freiheit und Gerechtigkeit auftauchen. „We hold these truths to be self evident: that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. — That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed."2 Mit solchen Sätzen werden wir zu der Frage geführt, was Recht sein solle. Was ist Gereditigkeit? Läßt sich ihr Inhalt bestimmen, oder bleibt es auch für die Gerechtigkeit bei der skeptischen Frage des Pilatus? In engem Zusammenhang mit den beiden Grundfragen stehen auch diejenigen nach der Eigenart der juristischen Methode in Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft. Was heißt eigentlich, ein Gesetz anwenden? Was bedeutet es, wenn wir von einem System des Rechts sprechen? Was ist die Eigenart juristischer Argumentation? Alle diese Fragen haben gemeinsam, daß sie für das Recht als allgemeines Kulturphänomen, nicht für eine bestimmte Rechtsordnung gestellt werden. Folglich muß der Blick, wenn man eine Antwort sucht, über das eigene Rechtssystem hinausgehen. Und sie lassen sich auch nicht beantworten, ohne daß man Bezirke betritt, die außerhalb der Untersuchungen der Jurisprudenz als Fachwissenschaft liegen. Der deutsche Jurist findet in § 157 BGB die Anweisung, Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben es erfordern. Er tut es; aber er kümmert sich nicht um die Theorie der Werte. Der Richter legt das Gesetz nach einigen herkömmlichen Gesichtspunkten und Maximen aus; deren Grundlagen in einer Theorie der Hermeneutik kümmern ihn in der Regel nicht. Wir sprechen davon, daß bestimmte Änderungen in der Technik neue Regelungen „hervorgerufen" haben: aber wie ist der Vorgang der Rechtsschöpfung in Wahrheit abgelaufen? Solche Fragen gehen auf Probleme, die die positive Rechtswissenschaft sich nicht zu stellen braucht; ihr genügt, daß Gesetze da sind, daß Auslegungsregeln vorhanden sind. Sie bewegt sich — wie alle Fachdisziplinen — im Rahmen von Ausgangspositionen, die für sie feststehen, die sie nicht zum Problem zu machen braucht. Demgegenüber führt die Rechtsphilosophie, indem sie gerade jene Ausgangspositionen zum Problem macht, notwendig in allgemeine * Declaration of Independence.

Einleitung

3

Fragestellungen, mit denen sich die Philosophie beschäftigt und die Kant in die Sätze zusammengefaßt hat: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Die Rechtsphilosophie muß also, ohne auf die Erkenntnisse zu verzichten, welche die Rechtswissenschaft in ihrem Bereich erarbeitet hat, notwendig über deren Grenzen hinausgehen; sie verknüpft die besonderen Probleme, welche die Kulturerscheinung des Rechts bietet, mit den allgemeinen und grundsätzlichen Fragen der Philosophie. Auf die Fragen, die die Rechtsphilosophie stellt, sind im Laufe der Entwicklung unserer Kultur Antworten entwickelt worden. Und genau, wie die Fragen, um die es sich handelt, in solche von allgemein philosophischer Natur einmünden, sind auch die Antworten auf der Grundlage der allgemein philosophischen Lehren ausgearbeitet worden, welche als Antwort auf jene allgemeinen Fragen entworfen waren. Dort, nicht in der eigentlich rechtlichen Erfahrung, haben sie meistens ihre Basis. Die Rechtsphilosophie ist daher eng mit der Entwicklung der allgemeinen Philosophie verknüpft. Mit der Entwicklung solcher „Antworten" in Form von Theorien und Systemen hat sich Tradition — oder wir sollten lieber sagen: Traditionen — gebildet, genau wie in der allgemeinen Philosophie. Das Vorhandensein einer derartigen Tradition verändert aber stets den Charakter einer "Disziplin und ihrer Probleme. Theorien und Systeme können gelehrt und tradiert werden; sie können dann zwischen den Forscher mit seiner Frage und das eigentliche Ausgangsproblem treten: der Forscher sieht das Problem von vornherein in der Weise, wie das System, das er „gelernt" hat, es angesehen hat; seine Theorie kann ihm seine Arbeit erleichtern, kann ihm aber auch den Weg zu ursprünglicher, unmittelbarer Fragestellung verstellen. Dann treten Theorienkämpfe an Stelle ursprünglicher Problemerörterung. Der Enkel hat es oft schwerer, an die eigentlichen Fragen heranzukommen; er sieht sich zunächst vor fertige Theorien gestellt. Diese Theorien bestimmen bereits die Sprache, in der er denkt, in deren Rahmen er sich mit den Problemen auseinandersetzt; er kann ihnen also nie gänzlich entrinnen; er muß sich mit ihnen auseinandersetzen. Für diese Auseinandersetzung muß er vor allem versuchen, sich immer gegenwärtig zu halten, welche Fragen eine bestimmte Lehre ursprünglich beantworten sollte — das Bewußtsein davon kann bei deren Tradierung über lange Zeiten oft verloren gehen — und auf welchen Grundanschauungen sie beruht. Bei dieser letzten Frage wird er sich einer Eigentümlichkeit des menschlichen Denkens erinnern müssen, die immer wieder im Erkenntnisprozeß auftritt und uns in die Irre führen kann; es ist die Tendenz, neue Einsichten absolut zu setzen.

4

Einleitung

Das 18. und das 19. Jahrhundert haben, um ein Beispiel zu geben, die Geschichtlichkeit der menschlichen Kultur entdeckt: und sogleich hat die historische Rechtsschule in der Geschichte (von der sie eine ganz bestimmte Vorstellung hat) den entscheidenden Faktor der Rechtsbildung gesehen. Das folgende Buch beginnt daher mit der Darstellung einiger wichtiger rechtsphilosophischer Theorien in ihren Grundzügen (Kap. I). Die beiden folgenden Kapitel versuchen, die Gesichtspunkte zu entwickeln, in denen der Verfasser die Gründe für seine Stellungnahme sieht. Auf dieser Grundlage werden sodann drei Grundfragen der Rechtsphilosophie behandelt: die Fragen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, nach dem Wesen des positiven Rechts und nach der Eigenart juristischen Denkens.

KAPITEL I HAUPTLEHREN DER RECHTSPHILOSOPHIE Die Rechtsphilosophie der Gegenwart ist das Resultat einer langen Entwicklung. Wie alle Philosophie1, so ist auch die Rechtsphilosophie in einer Folge von Fragen und Antworten geworden. Im Ergebnis liegt ein umschreibbarer Kreis von zusammenhängenden Problemen und Lösungsversuchen vor; durch sie wird das Feld der Rechtsphilosophie heute abgesteckt. In diesem Felde bewegt sie sich, und wer ihr Anliegen, ja ihre Sprache begreifen will, muß eine Vorstellung davon haben, wie die wichtigsten Fragen und die darauf gegebenen Antworten aussehen. In den folgenden Ausführungen wird der Versuch gemacht, einen Überblick über diesen Problemkreis zu geben. Es erschien zweckmäßig, ihn historisch anzulegen, d. h. zu zeigen, wie die rechtsphilosophischen Probleme geschichtlich nacheinander hervorgetreten sind: Es leuchtet ein, daß es kein Zufall ist, in welchem Zeitpunkt eine bestimmte Frage hervortritt; die gegebene Situation bestimmt die Frage wie die Antwort, und ein Hinweis auf sie ist für die zu suchende eigene Stellungnahme von Wichtigkeit. Andererseits wäre es ein Mißverständnis, das Folgende als eine Geschichte der Rechtsphilosophie anzusehen": das kann es nach Umfang und Anlage nicht sein; es ist nur eine geschichtliche Hinleitung zu den Problemen111.

I. 1. Die Rechtsphilosophie ist in unserer Kultur im antiken Griechenland entstanden. Von den Griechen ist zuerst die Frage nach dem Wesen des Rechts gestellt worden; die Griechen haben Antworten gegeben, die noch die heutige Diskussion mitbestimmen. Das Recht wurde in Griechenland zum Problem, als im 5. Jahrhundert v. Chr. die ursprünglich auch dort herrschende, gemeinarchaische 1 le

Dazu Collingwood, An Autobiography (Deutsche Ausgabe 1955) Kap. V. Zur Geschichte der Rechtsphilosophie bis zum 17. Jahrhundert

vgl. M. Villey, La formation de la pense*e juridique moderne (1960/1966). Eine sehr gut aufgebaute problemorientierte Übersicht gibt Zippelius in seiner Schrift „Das Wesen des Rechts". lb

6

Kapitel I

Auffassung in Frage gezogen wurde, wonach das Recht bindende, gute alte Überlieferung ist, die, dem einzelnen Staatswesen von Göttern und Heroen gegeben und von ihnen geschützt, hoch über der Willkür menschlichen Willens und Planens steht. Dieses „In-FrageStellen" des Rechtes hängt mit mancherlei Faktoren zusammen: mit der größeren Kenntnis von der nichtgriechischen „barbarischen" Umwelt und von deren andersartigen Gesetzen und Bräuchen; mit der politischen Krise der Adelsherrsdiaft, dem Heraufkommen von Tyrannis und Demokratie in den griechischen Städten und den damit verbundenen Rechtsumwälzungen; aber bewußt gestellt worden ist die Frage von den Sophisten. Die Sophisten traten als Lehrer des lebensnotwendigen Wissens auf; ihr Ziel war der Bürger von umfassendem Wissen. Sie lehrten insbesondere auch die Redekunst, die Rhetorik2. Sie entwickelten keine einheitliche philosophische Lehre. Aber viele Sophisten verbanden mit der Übermittlung des von ihnen gebotenen Wissens die Kritik an der Überlieferung, an den Anschauungen, in denen das griechische Volk bis dahin gelebt hatte. Insofern haben sie manche Züge mit der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts gemeinsam3. Schon die Beschäftigung mit der Rhetorik mußte die Sophisten zu der Erkenntnis führen, die Protagoras (etwa 485—415) ausgesprochen hat, daß sich zu jeder Frage zwei Standpunkte entwickeln lassen und daß es mit rhetorischen Mitteln möglich ist, die schwächere Sache zur stärkeren zu machen4. Aber ihre Kritik ging weiter. Der gleiche Sophist Protagoras bezweifelte die Existenz der Götter — er könne nicht sagen, ob sie existierten oder nicht existierten5, — und stellte den berühmten Satz auf, der (einzelne) Mensch sei das Maß aller Dinge6. 8

vgl. Kroll, Rhetorik, RE Suppl. VII (1940), Sp. 1043 ff. Die Schriften der Sophisten sind uns nur in Fragmenten erhalten; z.T. sind uns ihre Ansichten aus den Schriften Späterer, z. B. des Platon, bekannt. Wichtigste Ausgabe Diels-Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. II (6. Aufl. 1952) Nr. 79 ff. (S. 252 ff.); Auswahl in Übersetzung bei Capelle, Die Vorsokratiker (3. Aufl. 1940), S. 317 ff.; geschichtliche Darstellung (auch im übrigen für die antike Rechtsphilosophie zu vergleichen) bei UberwegPraechter, Die Philosophie des Altertums (12. Aufl. 1926), S. 112 ff.; E. Wolf, Griechisches Rechtsdenken II (1952), S. 9 ff.; Verdroß-Droßberg, Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie (2. Aufl. 1948), S. 40 ff. 4 vgl. zu dieser Ansicht des Protagoras Aristoteles, Rhetorik 1402 a. 5 vgl. Diels-Kranz II Nr. 80 (S. 265) Fragm. 4. 6 Überliefert bei Platon Theaetet 151e/152a und 166d. Zur Interpretation 3

Hauptlehren der Rechtsphilosophie

7

In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage gestellt, was gerecht sei und was es mit dem Rechte auf sich habe. Die Antworten lauten bei den einzelnen Sophisten verschieden. H ufig wird gelehrt, so z. B. von den Sophisten Hippias (geb. nicht vor 460) und Antiphon (5. Jahrhundert)7, gerecht sein bedeute das gesetzte Recht (τα νόμιμα) nicht bertreten. Aber dieses gesetzte Recht hat nichts wesenhaft Gutes oder Bleibendes an sich; es beruht auf (mehr oder weniger willk rlicher) Satzung oder bereinkunft; die Gesetze werden ge ndert; es gibt demnach wechselnde Anschauungen ber das, was gerecht ist8. Die Gesetze sind also keine heilige Satzung, sondern dienen bestimmten Zwecken und Interessen: etwa dem Nutzen der M chtigen9, oder auch dem Sch tze der Masse der Schwachen10. Andererseits kennen manche Sophisten auch den Begriff der ungeschriebenen Gesetze, der άγραφοι νόμοι, die unabh ngig von allem positiven Recht gelten11. Aus dieser neuen „realistischen" Einsch tzung des Rechts werden z. T. zynische Folgerungen gezogen: Antiphon12 lehrt, nur wo man Zeugen habe, m sse man das Recht halten, denn die unentdeckte Tat bliebe straflos. Kritias (einer der sogen. 30 Tyrannen des Jahres 404 in Athen, gest. 403) meinte, deshalb habe man den G tterglauben erfunden, damit auch der Unbeobachtete sich unter Aufsicht wisse13. Bei ihrer Diskussion ber das Recht bedienen sich die Sophisten einer Antithese, die im griechischen Denken des 5. Jh. auch sonst, des Satzes vgl. E. Wolf aaO., S. 21 ff.; nach der berlieferung bei Sextus Empiricus adv. math. VII 60 (Text auch bei Diels-Kranz II Nr. 80, S. 262/ 263, Fragm. 1) und Platon aaO. m chte ich an der allgemeinen Bedeutung „aller Dinge" festhalten. 7 hnlich u ert sich Protagoras bei Platon Theaetet 166 d; zu Hippias vgl. E. Wolf II, S. 76 ff.; zu Antiphon vgl. Stenzel RE Suppl. IV (1924), Sp. 33-43; E. Wolf U, S. 87 ff. 8 vgl. Protagoras bei Platon Theaetet 172 b; Hippias bei Xenophon Memorabilien IV 4, 14. • So Thrasymachos (lebt 431 in Athen — zu ihm E. Wolf II, S. 103 ff.) bei Platon Politeia 338 c: το δίκαιον ουκ άλλο τι ή τδτοο κρείττονος συμφέρον 10 So Kallikles bei Platon, Gorgias 483 b/c. 11 So z.B. Hippias, freilich in einem Dialog mit Sokrates: Xenophon Memorabilien, IV 4, 19. 12 In seiner Schrift Περί αληθείας ( ber die Wahrheit), von der uns Fragmente auf Papyrus erhalten sind; Text bei Diels-Kranz II Nr. 87, S. 346 ff. (Fragm. 44 A). 13 vgl. Dieb-Kranz II Nr. 88, S. 386/387 (Fragm. 25).

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Kapitel I

etwa in der Sprach- und Kulturtheorie, verwendet wurde14, die aber im rechtsphilosophischen Denken besonders bedeutsam werden sollte: der Gegenüberstellung von „Satzung" oder „Konvention" ( , & ) und „Natur" ( ) und folglich dessen, was von Natur und Wesen ist, und dessen, was menschliche Satzung festgesetzt hat. Diese Unterscheidung ist die letzte Wurzel des Begriffs des Naturrechts. Dabei wird Natur von ihnen z. T. durchaus im biologischen Sinne verstanden. Die Folgerungen, die an Hand dieses Gegensatzes entwickelt werden, sind sehr verschieden. Der soeben erwähnte Antiphon entwickelt daraus den Gedanken der natürlichen (weil körperlichen) Gleichheit gegenüber dem Gedanken der Ehrfurcht vor dem Adel15. Platon läßt dagegen den Kallikles die natürliche Überlegenheit des Starken über die von den Gesetzen beschützten Schwachen hervorheben16. Eindrucksvoll ist die Schilderung der Macht und Freiheit des Natürlichen, der , gegenüber der Fessel des Rechts bei Antiphon; sie lautet in der Übersetzung von v. Arnim17: „Gerechtigkeit besteht darin, die Satzungen des Staates, in dem man Bürger ist, nicht zu übertreten. Am meisten Nutzen für sich wird ein Mensch dann aus der Anwendung der Gerechtigkeit ziehen, wenn er vor Zeugen den Satzungen die Ehre gibt, wo er dagegen allein und ohne Zeugen ist, den Geboten der Natur. Denn die gesetzlichen Gebote beruhen auf Willkür, die der Natur auf Notwendigkeit; die gesetzlichen sind vereinbart, nicht gewachsen, die der Natur gewachsen, nicht vereinbart; wer daher die gesetzlichen Gebote übertritt, bleibt, wenn nur ihre Vereinbarer es nicht bemerken, von Schande und Strafe frei, wenn sie es bemerken, nicht; wer dagegen eines der mit ihm geborenen Gesetze der Natur über seine Kraft zu vergewaltigen sucht, erleidet, wenn es auch allen Menschen verborgen bleibt, dadurch keinen geringeren Schaden, und wenn es auch alle Menschen merken, dadurch keinen größeren Schaden. Denn nicht durch bloße Meinung wird er geschädigt, sondern durch die Wahrheit. Man muß diese ganze Frage aus dem Grunde untersuchen, weil die meisten gesetzlichen Rechtsforderungen in einem der Natur feindseligen Sinne aufgestellt sind. Es ist gesetzlich verordnet für unsere Augen, was sie sehen sollen und was nicht, 14

vgl. Heinimann, Nomos und Physis (1945). vgl. Dieh-Kranz II Nr. 87, S. 352/353 (Fragm. 44 B). 18 vgl. Platon Gorgias 483d/484a. 17 v. Arnim, Gereditigkeit und Nutzen in der Griediischen Aufklärungsphilosophie, Frankfurter Universitätsreden 1916 V, S. 5 f.; der Text bei Diels-Kranz II Nr. 87, S. 346 ff. (Fragm. 44 A). 15

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und für unsere Ohren, was sie hören sollen und was nicht, und für unsere Zunge, was sie reden soll und was nicht, und für unsere Hände, was sie tun sollen und was nicht, und für unsere Füße, wohin sie schreiten sollen und wohin nicht, und für unsere Seele, was sie begehren soll und was nicht. Nicht naturfreundlicher und nicht naturgemäßer sind die Warnungen als die Mahnungen der Gesetze an die Menschen. Über ihr Leben aber und über ihr Sterben waltet die Natur. Das Leben kommt ihnen von den nützlichen Dingen, das Sterben von den schädlichen. Was die Gesetze für nützlich erklären, ist Fesselung der Natur, was die Natur selbst für nützlich erklärt, vollzieht sich in Freiheit." Diese Auffassungen der Sophisten wirken z. T. erstaunlich modern. Erinnern die Bemerkungen mancher politisch reaktionärer Sophisten wie des Kritias oder des platonischen Kallikles an Nietzsche, so diese des Antiphon an S. Freuds „Unbehagen in der Kultur"! So umstürzend wie ihre allgemeinen Theorien vom Recht waren die Einzellehren mancher Sophisten. Wir sahen schon, wie Antiphon die Berechtigung der ständischen Unterschiede, in der die griechische Gesellschaft sich entwickelt hatte, in Zweifel zog; andere leugneten den für den Griechen des 5. Jh. noch viel elementareren Unterschied zwischen Griechen und Barbaren oder zwischen Herren und Sklaven18. Protagoras lehrte, die Strafe habe den rationalen Zweck, künftige Straftaten zu verhindern19. Im ganzen bringt die „griechische Aufklärung" des 5. Jh. zugleich mit neuen Fragen eine Fülle von rationalen Erklärungen, aber auch von vielfach widerspruchsvollen, manchmal willkürlich und eben im schlechten Sinne „sophistisch" anmutenden Aufstellungen20. 18

vgl. Protagoras bei Platon, Protagoras 337 c; zur natürlichen Freiheit aller: Alkidamas in der sogen. „Messenischen Rede" (nach 362), vgl. Scholion zu Aristoteles Rhetorik 1373 b. — Freilich sprach Alkidamas hier im Hinblick auf die unterjochten Messenier. 19 vgl. Platon, Protagoras 324. 20 Als Beispiel diene die folgende These Antiphons in seinem Buch über die Wahrheit (Diels-Kranz II Nr. 87, S. 353 ff. Fragm. 44 I-II): „Wenn das Recht ernst genommen wird, so gilt das Bezeugen der Wahrheit untereinander als gerecht und ebensosehr als nützlich für die Geschäfte der Menschen. Und doch kann, wer das tut, nicht gerecht sein, da ja gerecht heißt: keinem Unrecht und Schaden zufügen, wenn man nicht Unrecht und Schaden erleidet. Notwendigerweise muß ja der Zeuge, auch wenn er die Wahrheit bezeugt, einem ändern irgendwie Schaden zufügen und selbst später wieder Schaden erleiden für das, was er aussagte, dadurch nämlich, daß wegen seiner Zeugenaussagen der durch das Zeugnis Belastete verurteilt wird und Geld oder

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2. Eine Gegenbewegung gegenüber der Sophistik hat Sokrates (470 bis 399) eingeleitet. Wir wissen wenig von ihm als historischer Gestalt21. Aber gesichert ist wohl zweierlei. Sokrates hat, nach dem Ausdruck Ciceros (Tusculum V. 4), die Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückgeholt; sein Interesse hat der Ethik, nicht der Naturphilosophie gegolten. Und in der Ethik hat er gegenüber der Vielfalt subjektiver Ansichten, wie sie die Sophistik entwickelt hatte, nach festen Bestimmungen gesucht, hinter den Worten und Meinungen über das Gerechte und Gute nach einer festen inhaltlichen Anschauung22. Für die Rechtsphilosophie ist damit die Frage nach dem Wesen des Gerechten und nach seiner richtigen Bestimmung durch Definition entstanden. Eine Antwort auf diese Frage hat Platon (427—347) mit seiner Ideenlehre gegeben. Die platonische Ideenlehre hat in der Forsdiung der letzten Jahrzehnte eine neue Interpretation erfahren. Am Anfang unseres Jahrhunderts herrsdite unter dem Einfluß der neukantischen Philosophie29 eine Lehre vor, welche die Idee im Sinne höchster Begriffe verstand. Demgegenüber hat eine neuere, die Entwicklung der Logik und ihre allmähliche Abspaltung von der Spradie verfolgende Theorie24 zwei Phasen in der Entwicklung der Ideenlehre zu unterscheiden versucht: Eine frühere, in der der Gedanke der unmittelbaren Anschauung des als einheitlich gedachten Guten vorherrscht, und in der die Leben verliert wegen dessen, dem er gar kein Unrecht zufügt. Also dadurch fügt er dem Belasteten Unrecht zu, daß er diesen, der ihm selbst gar kein Unrecht tut, solches zufügt, und er selbst erfährt wieder solches durch den Belasteten, weil er von ihm gehaßt wird, auch wenn er die Wahrheit bezeugt hat. Und nicht nur durch den Haß, sondern auch weil er sein ganzes Leben hindurch vor dem auf der Hut sein muß, den er durch das Zeugnis belastete. So steht denn für ihn ein Feind bereit, der ihm durch Wort und Tat, wenn er kann, Schlimmes antun möchte. Wahrlich, das erscheint nicht als geringes Unrecht, was er da selbst erleiden und was er zufügen kann." 81 Dazu vgl. Gigon, Sokrates (1947). 22 Dafür haben wir das Zeugnis des Aristoteles, Metaphysik 1078 b, 987 b, und des Xenophon, Memorabilien 1.1. 16. — Zur Ansicht der neueren Logikgeschichte über die Stellung des Sokrates vgl. Stenzel, „Logik" RE XXV (1926) Sp. 991 ff. 23 vgl. dazu Natorp, Platons Ideenlehre, eine Einführung in den Idealismus (1903). 84 vgl. vor allem Stenzel, Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles (2. Aufl. 1931); W. Jaeger, Besprechung von /. Stenzel, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, Deutsche Lit. Zeitung, 1924, Sp. 2046—2055.

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Idee zugleich Wertträger ist, und eine spätere, in welcher in der Idee vor allem das begrifflich Allgemeine gegenüber der Vielheit der Dinge gesucht wird, und die Bemühung vor allem seiner definitorischen Erfassung sowie der Unterscheidung der unter einen allgemeinen Begriff fallenden Unterarten gilt. In dieser späteren Phase Platons und seiner Akademie steht das Ringen um die rechte Definition der Allgemeinbegriffe und der ihnen unterfallenden Arten im Mittelpunkt. Die Topik des Aristoteles hat uns von den Übungen in dieser Hinsicht noch ein Bild bewahrt 25 . In dieser Zeit wird die Methode der begrifflichen Unterscheidung von Arten, die unter einen gemeinsamen Oberbegriff fallen, der sogen, '. entwickelt29, die für die Entwicklung der systematischen Wissenschaft so bedeutsam geworden ist27. Freilich bleibt auch in dieser Phase der Gedanke erhalten, daß uns in den „Ideen" Seinsstrukturen entgegentreten. — Mit allem Vorbehalt, der hier angebracht ist, könnte man von einer mehr metaphysisch-intuitiven und einer mehr logisch gerichteten Phase der Ideenlehre sprechen. In der ursprünglichen Fassung der Ideenlehre, wie sie uns im „Staat" entgegentritt, steht im Mittelpunkt die Idee des „Guten", des höchsten Wertes, dem zugleich höchste Schönheit zukommt. Gegenüber der fließenden Vielfalt der Wirklichkeit steht sie festgestaltet, ewig und gleichbleibend; die wahre Erkenntnis besteht darin, ihren Gehalt zu begreifen. Diese Idee ist zugleich der Kern des Seins, das wahre Sein. Die Dinge der Wirklichkeit sind demgegenüber minderen Ranges. Ihr Verhältnis zu den Ideen ist das von Abbild und Urbild, von Schatten und Gestalt. Sie werden und vergehen: die Ideen bleiben. Sie sind der wahre Grund für die Existenz der Einzeldinge. Unsere Erkenntnis muß mühsam von dem schattenhaften Sein der Einzeldinge zur wahren Erkenntnis der Ideen aufsteigen. Das wird in dem berühmten Höhlengleichnis geschildert28. Daß die Erkenntnis der Ideen und damit ein Wissen des Guten für den Menschen überhaupt möglich ist, erklärt Platon durch eine tiefsinnige Erzählung, durch einen Mythos. Platon vertritt die Lehre von der Unsterblichkeit und der Wanderung der Seelen. Bevor nun olie menschliche Seele in eine neue irdische Existenz eingegangen !5

Zur historischen Einordnung der Topik vgl. jetzt Solmsen, Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik (1929); Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen (1965); /. During, Aristoteles, Darstellung und Interpretation seines Denkens (1966), S. 69. 26 Etwa Menschen — Freie — Sklaven. 27 Zum Einfluß dieser Methode auf die spätere römische Rechtswissenschaft vgl. Fritz Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (1961), S. 73 ff. 28 Politeia VII 514—517.

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ist, hat sie die ewigen Gestalten der Ideen sdiauen d rfende"nimmt sie in das Leben eine Erinnerung, wenn auch eine dunkle, an die Ideen mit: sie wei von daher (von einer fr heren unmittelbaren Anschauung — a priori hat man sp ter gesagt), was sch n, gerecht und gut ist. Ihr Wissen darum ist unmittelbar und vorgegeben, ist Erinnerung (άνάμνησις), die im Nachdenken ber den Begriff wieder entfaltet und neu erfa t wird29. Insofern kann Platon auch lehren, da nur, wer selbst gerecht ist, das Gerechte erkennen kann30. Im Rahmen dieser Anschauung hat Platon seine Ansicht vom Gerechten entwickelt; sie ist zugleich die Lehre vom wahren Staat. Denn am Staat, meint Platon, als dem gr eren Wesen k nnen wir besser sehen, was das Gerechte ist, als am Einzelmenschen. Der Inhalt der Gerechtigkeit wird definiert als „jedem das ihm Zukommende geben"31. Was das bedeutet, schildert Platon in seinem Buch ber den Staat, dem ersten geschlossenen Entwurf eines 'Idealstaates. Platon geht von der Einsicht aus, da die Menschen nach Anlagen und F higkeiten verschieden sind. Gerechtigkeit herrscht daher, wenn im Staat jeder die T tigkeit aus bt, die Stellung einnimmt, die ihm nach seinen F higkeiten zukommt. Die B rgerschaft seines Idealstaates wird daher in drei Gruppen gegliedert: Den Handwerker- und Bauernstand, den W chter- oder Kriegerstand und den Herrscherstand. Nur im Stande der Handwerker und Bauern, der „Lohngeber und Helfer", gibt es Privateigentum, ja berhaupt ein privates Dasein. Die beiden anderen Gruppen geh ren ganz dem Staat; es gibt f r sie kein Privateigentum, ja nicht einmal Familien; die Frauen sind gemeinsam. Die Kinder werden gleich nach der Geburt dem Staat bergeben. Die Erziehung ist sorgf ltig geregelt: Aus dem W chterstand, als einer Elite, werden die Besten, die, welche f hig sind, die Ideen zu schauen, in den Herrscherstand aufgenommen, in die Reihe der Philosophen, die K nige sind. Denn so gro , so unmittelbar ist der Glaube an die Macht des Allgemeinen, der Ideen und ihrer Anschauung, da Platon im Wissen um sie, nicht im Wissen um tats chliche politische und konomische Umst nde, nicht in der Begabung zur Macht und im Wissen um ihre Gesetze, nicht in irgendeiner Art 29

Die Άνάμνησις -Lehre ist namentlidi entwickelt in dem platonisdien Dialog Phaidon. 30 Epistula VII 344 a, 341 c—e. 81 το προσήκον έκάστφ άποβιδόνοα, Politeia I, 332 c in Fortentwiddung der Definition des Simonides: jedem des Geschuldete (n mlidi vertraglich Geschuldete: τα οφειλόμενα) geben.

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von Staatsraison oder politischer Wissenschaft das R stzeug des Herrschers sieht. Die Lehre von der Politik wird f r ihn notwendig zur Lehre vom Idealstaat. Dem Aufbau des Staates entspricht der wohlgeordnete32 Zustand des Menschen, in dem "Wille und Tatkraft (θυμοειδές) ber die sinnlichen Triebe (έποθυμητικόν), die das Gute erkennende Vernunft (λογιστικόν) aber ber den "Willen herrscht33. Die Hierarchie des Staates hat also ein anthropologisches Vorbild. Platons Staat ist die konsequenteste Durchf hrung des Gerechtigkeitsgedankens, in dem Sinne, da jeder nach Anlage und Leistung seine Stellung in der sozialen Gemeinschaft erh lt, und insofern in der Tat eine Explizierung seines Inhalts. Aber es fehlt g nzlich ein Element, das uns von der Gerechtigkeit untrennbar erscheint: die Freiheit hat in seinem Staat keinen Raum34. In seinem „Staat" hat Platon die erste geschlossene Philosophie des Rechts geschaffen, eine Lehre, an der sich die Rechtsphilosophie immer wieder, bis in unsere Tage, orientiert hat35, weil sie eine m gliche Auffassung der Gerechtigkeit bis zu Ende gedacht hat. Die Definition des Gerechten: „Jedem das Seine" bildet bis heute den Ausgangspunkt jeden Nachdenkens ber das "Wesen der Gerechtigkeit. Die Staatslehre bleibt eine der gro en M glichkeiten, Staat und Gesellschaft zu denken: eine M glichkeit, mit der sich jeder wieder auseinandersetzen mu , der ber den Staat nachdenkt. Das erste System der Rechtsphilosophie ist zugleich eines der gr ten, das gedacht worden ist. Dar ber hinaus bildet die Zuordnung der Vernunft zu den Ideen, der Gedanke, da Vernunft hei t, vom Guten zu wissen, an das Gute sich erinnern lassen zu k nnen, und die ihr zugeh rige philosophische Anthropologie die Grundlage aller klassischen ethischen Lehren unserer Philosophie. Das gro artige Bild von der Rechtsidee als der endg ltigen und ewigen Gestalt der wahren Gerechtigkeit, die der Mensch in dieser Welt weder zur G nze erkennt noch jemals verwirklicht und an der doch all5 sein rechtssch pferisches Tun 32

vgl. den Ausdruck κοαμεΐν in Politeia IV 443 d. vgl. Politeia IV 435 b, 441 c. 34 Eingehende Kritik der platonischen Gedanken unter diesem Aspekt bei Popper, Der Zauber Platons (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I 1957). 35 Es liegt au erhalb des Zweckes dieser Skizze, die Entwicklung dieser Gedanken im platonischen Denken selbst etwa zu den „Gesetzen" zu verfolgen. 33

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ausgerichtet ist, hat die Menschen nie losgelassen; noch im blassesten Festreden ton von der verpflichtenden „Rechtsidee" klingt es nach36. 3. Mit Aristoteles (387—322) setzt eine neue Betrachtungsweise auch der Ph nomene des Rechts- und Staatslebens ein. Werner Jaeger verdanken wir die Einsicht, da und wie sich Aristoteles allm hlich von den Lehren der platonischen Akademie, in der er 20 Jahre gelebt hat, gel st hat37. Die Kritik des Aristoteles galt vor allem der Ideenlehre38. An die Stelle des Gedankens von dem Reiche der ewigen, von der Wirklichkeit abgeschiedenen Ideen, von denen die Wirklichkeit nur ein unvollkommenes Abbild sei, trat bei ihm der Gedanke, da in der Wirklichkeit selbst, in der Materie, in ihren zahllosen Formen Formgedanken wirksam seien; Materie und Form oder Struktur (ύλη und είδος) durchdringen sich innerlich; wie das im pflanzlichen und tierischen Leben deutlich hervortritt, entwickelt sich das einzelne Wesen auf eine ihm vorgeordnete Gestalt (είδος) hin39. Alles ist also auf eine Gestalt hin geordnet. Damit erhielt die Wirklichkeit und das Wissen von ihr, die empirische Wissenschaft eine andere, neue Dignit t. Auf dem Gebiete der biologischen Wissenschaften haben Aristoteles und seine Schule, der Peripatos, eine breite Forschungst tigkeit entfaltet. Die gleiche Fragestellung leitet Aristoteles auch im Bereich seiner ethischen wie seiner rechts- und staatstheoretischen Untersuchungen40. In der Ethik geht Aristoteles nicht von der einen Idee des Guten aus41, sondern fragt nach dem h chsten Zweck, der f r den Menschen als Vernunftswesen gilt. Er findet ihn in einer T tigkeit der Seele, die der T chtigkeit entspricht (ενέργεια ψυχής κατ' άρε88

Stellungnahme zur Staatslehre Platons in Kapitel IV Abschnitt V (insbes. unter Ziffer 3). 37 vgl. sein Budi: Aristoteles (1923, Neudruck 1955). 38 vgl. Metaphysik M 1078—1080. — Zur modernen Auffassung vgl. die Darstellung in /. Stenzel's Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles (2. Aufl. 1931). " vgl. Ross, Aristoteles (University-Paperback Edition), S. 78 ff. 40 Sie sind uns vor allem in drei seiner sogen. „Lehrsdiriften" erhalten, die als Ausarbeitungen f r Vorlesungen angesehen werden, dabei aber erst lange nach dem Tod des Aristoteles, im 1. vordiristlidien Jahrhundert, herausgegeben sind, und Teilst cke aus verschiedenen Lebensepochen enthalten: den beiden Sdiriften ber Ethik, der lteren sogen. Eudemischen und der sp teren Nikomachisdien, und der Politik. 41 vgl. die Kritik dieses platonischen Ansatzes, Nikomachische Ethik I. 6.

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την)42. Sie ist wertvoll um ihrer selbst willen, nicht als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke. Was nun aber T chtigkeit im einzelnen ist, das entwickelt Aristoteles im Blickpunkt auf den griechischen Staat seiner Zeit, die Polis43, und die Anschauungen seiner Zeit. So kommt er, statt die Anschauung der einen Idee des Guten wiederzugeben, zu einer eher deskriptiven Darstellung derjenigen Verhaltensweisen, die in seiner Zeit als ethisch ausgezeichnet galten; er gibt, mit anderen Worten, eine Beschreibung der ethischen Werte oder Tugenden (άρεταί)» wie seine Zeit sie sah. Aristoteles unterscheidet die theoretische (erkennende) und die praktische (das menschliche Handeln bestimmende) Vernunft44. Zu dieser geh rt das Wissen um die Tugenden. In der Darstellung der praktischen Tugenden, wie Tapferkeit (ανδρεία), Selbstbeherrschung (σωφροσύνη)» Gro gesinntheit findet sich nun auch eine klassische Beschreibung der Gerechtigkeit45. Die Gerechtigkeit ist nach Aristoteles eine soziale Tugend; sie bezieht sich auf unsere Stellung zu unseren Mitmenschen. Ebenso kann man aber auch den Zustand eines Gemeinwesens als gerecht oder ungerecht bezeichnen; dabei wird sie im Hauswesen anders sein als im Staate. Charakteristisch f r den Gerechten ist, da er nicht mehr haben will, als ihm zukommt: das Mehr-haben-wollen, die πλεονεξία, ist ihm fremd. Im Gemeinwesen zeigt sich die Gerechtigkeit in der Gleichheit; niemand hat ohne Grund mehr als ihm zukommt. Die Analyse der Ordnung des Gemeinwesens f hrt Aristoteles zu einer grundlegenden Unterscheidung zwischen zwei Erscheinungsformen der Gerechtigkeit. Es gibt einmal die Gerechtigkeit in den Rechtsbeziehungen der einzelnen untereinander. Sie besteht darin, da wir Vertr ge, die wir eingegangen sind, erf llen, in ihnen ein angemessenes quivalent zahlen, und f r Rechtsverletzungen, die wir begangen haben, Ersatz leisten: dies ist die Vertrags- oder Austauschgerechtigkeit, das δίκαιον διορθωτικών» sp ter lateinisch „iustitia commutativa" genannt. Ihr steht die zuteilende Gerechtigkeit (δίκαιον διανεμητικόν5 sp ter sogen, iustitia distributiva) gegen ber, welche 42

Nikomachische Ethik I. 7.15; I. 8.13. Dazu vgl. vor allem /. Ritter, Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles, Archiv f r Rechts- und Sozialphilosophie, 46. Band (1960), S. 179 ff. — Zum Naturrecht bei Aristoteles vgl. Michelakis, Das Naturrecht bei Aristoteles (urspr nglich 1959, jetzt abgedruckt bei Berneker, Zur griechischen Rechtsgeschichte 1968, S. 146 ff.). 44 Aristoteles, Nikomachische Ethik I. 13.20. 45 Buch V der Nikomachischen Ethik. 43

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Ehren, Reichtum oder andere Güter innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, z. B. des Staates verteilt. Das Prinzip der ersten Gerechtigkeitsform ist der Ausgleich — durch die adäquate Gegenleistung im Vertrag, den angemessenen Ersatz bei Rechtsverletzungen; diesen Ausgleich schafft der Richter im Zivilprozeß. Für die zweite dagegen ist der Maßstab in den einzelnen Staatwesen nach ihrer Verfassung verschieden. In der Aristokratie ist es Abstammung und Reichtum; danach wurden Adel und Bürger verschieden behandelt. In der Demokratie aber ist es die Gleichheit der Bürger. Der Phänomenologie der Gerechtigkeit, die Aristoteles damit gibt, verdanken wir auch die erste eingehende Darstellung des Wesens 46 der Billigkeit, der . Sie ist eine Form der Gerechtigkeit und besteht darin, daß man den Einzelfall nach seiner Eigenart unter Abweichung vom — zu weiten — Wortlaut des Gesetzes entscheidet; sie ist eine notwendige Ergänzung des Gesetzesrechtes, weil die Gesetze allgemein gefaßt sind und immer Lücken aufweisen werden. In all diesen Lehren zeigt sich Aristoteles als genauer Beobachter des wirklichen Rechtslebens, dessen Erscheinung er theoretisch durchleuchtet. So ist er sich denn auch über die Verschiedenheit der positiven Rechtsordnungen klar. Trotzdem lehnt er es ab, im Recht nur positive Satzung zu sehen. Vielmehr greift er die Lehre vom natürlich Gerechten auf und unterscheidet: In jedem Recht gibt es Bestimmungen, welche » von Natur her gerecht sind, und die der Gesetzgeber nicht anders hätte ordnen können, während andere nur auf positiver Bestimmung beruhen47. Das natürlich Gerechte lebt also in der positiven Ordnung. Es beruht auf vernünftiger Einsicht und findet sich gleichmäßig überall. Ähnlich wie die Ethik ist auch die Politik des Aristoteles auf empirischer Grundlage aufgebaut. Aristoteles hat eine Sammlung von 158 Verfassungen angelegt; erhalten ist uns davon auf einem Papyrus die Darstellung der Athenischen Verfassung. So gibt er statt einer Idealstaatslehre im Sinne Platons eine empirisch begründete Staatslehre, ein System der politischen Wissenschaft, könnte man sagen. Eingehend erörtert er die ökonomischen, wirtschaftlichen und geopolitischen Gesichtspunkte, die für das Bestehen eines Staatswesens wichtig sind; er untersucht die Bedingungen seines Gedeihens ebenso wie die auslösenden Momente eines Verfassungsumsturzes. 48

Aristoteles, Nikomadiische Ethik V. 10; Rhetorik 1364 a/b. Er führt als Beispiel die Verehrung des Heros Brasidas an; vgl. Nikomachische Ethik V. 7.1 ff. 47

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Gleichmäßige Vermögensbildung, Vorherrschaft der Mittelklasse scheinen ihm für ein gutes Staatswesen wichtig. Die politischen Bewegungen seiner Zeit, des 4. vorchristlichen Jahrhunderts, hatte er genau registriert. Scharf analysiert er die Eigenart, die Prinzipien der Staatsformen: Monarchie, Aristokratie und beschränkte Demokratie ( ) sind die guten ( :) Verfassungen; Tyrannis (Diktatur), Oligarchie und unbeschränkte Demokratie ihre Verfallsformen. In der Demokratie herrschen alle Freien, ohne Rücksicht auf ihr Vermögen. Ihre Prinzipien sind Gleichheit und Freiheit; Grundlage des Gleichheitsgedankens ist, daß, wenn die Menschen in manchen Eigenschaften gleich sind, sie es in allem sein müßten48. Der Gedanke führt daher zur Herrschaft der Majorität. Demokratische Freiheit heißt, zugleich herrschen und gehorchen und sein privates Leben gestalten, wie man will49. In der Oligarchie dagegen herrschen nicht die Eliten (wie in der Aristokratie), sondern die Reichen; ihr Prinzip ist, daß die Menschen, da sie nun einmal nicht gleich seien, es auch in politischer Hinsicht nicht sein dürften. Eine große Rolle spielen in den Soziallehren des Aristoteles anthropologische Gesichtspunkte. Biologe, der er als Forscher in erster Linie war, geht er von der grundlegenden Verschiedenheit der Menschen nach körperlichen und geistigen Anlagen aus. Es gibt Menschen, die von Natur dazu bestimmt sind, zu dienen und geleitet zu werden, wenngleich auch sie Vernunftwesen sind; sie sind „Sklaven von Natur", während andere zum Befehlen geboren sind50. Er sieht freilich, daß diese Sklaven von Natur mit denen, die nach dem positiven Recht seiner Zeit Sklaven waren, nicht notwendig identisch sind51, aber für die Lösung des damit gegebenen Problems gibt er keinen Hinweis. Ähnlich sieht er das Verhältnis von Mann und Frau anthropologisch bestimmt: dem Manne kommt nach seiner natürlichen Anlage die Herrschaft zu52. Endlich sind die Griechen — interessanterweise aufgrund klimatischer Bedingungen — sowohl den anderen Europäern wie den Asiaten überlegen53. Diese Anschauungen haben typische Bedeutung: wo immer in der Geschichte des Rechtsdenkens die rechtliche Fixierung ständischer oder kastenmäßiger Gliederung theoretisch gerechtfertigt werden soll, 48

Politika 1318 a; 1317 b. « Politika 1317 b. 51 Politika 1254 a. Politika 1255 a. 52 Politika 1259b. Aristoteles lehrt, daß der männliche Same Form und Wesen des Kindes bestimmt, während von der Frau nur die Materie ( ) stamme. 53 Politika 1327b. 50

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spielen solche anthropologische Erwägungen bei der gedanklichen Begründung eine Rolle. Wie die gesamte Philosophie des Aristoteles, so hat auch seine Theorie der Gerechtigkeit eine ungeheure Wirkung entfaltet. Diese beginnt schon im Altertum; aber der Höhepunkt liegt im Mittelalter. Vom 13. bis zum 17. Jahrhundert beherrscht der Aristotelismus die Universitäten Europas54, und darin kommt seiner Ethik keine untergeordnete Rolle zu. Auf Aristoteles bauen die philosophischen Systeme der Hoch- und Spätscholastik auf, und damit auch der Thomismus, der für das katholische Denken im 19. Jahrhundert so entscheidende Bedeutung gewonnen hat. Aber auch unabhängig von dieser Tradition ist immer wieder gerade an Aristoteles Lehre von Gerechtigkeit und Billigkeit angeknüpft worden: so hat z. B. im 19. Jahrhundert der „Kathedersozialist" Schmoller seine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit auf Aristoteles Lehre von der distributiven Gerechtigkeit gestützt55. 4. Noch eine dritte Antwort, die die Antike auf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit des Rechts gegeben hat, hat welthistorische Bedeutung erlangt: die Philosophie der Stoiker. Ähnlich wie Aristoteles nimmt auch die stoische Philosophie eine enge Verbindung zwischen- Materie ( ) und geistigem Prinzip ( ) an. Zwar ist die Welt Materie, aber überall verleiht der Logos dem Stoff sein „qualitativ bestimmtes Sosein"56. Er ist das gestaltende, die Materie bestimmende Prinzip. Er hat der Welt ihre harmonische Ordnung gegeben57. Man kann sich die Bedeutung dieser Lehre in ihrem Grundgedanken klarmachen, wenn man sich daran erinnert, daß nach der Auffassung der klassischen Vertreter der modernen Naturwissenschaften die Materie durch die Naturgesetze bestimmt wird58. 64

Audi die protestantischen: dazu Petersen, Gesdiidite der aristotelisdien Philosophie im protestantischen Deutschland (1921). 55 Dazu unten Kapitel IV Abschn. VI und eigene Stellungnahme in Kapitel IV Abschn. IV. 59 Pohlenz, Die Stoa I (1948), S. 67. — Die Werke der älteren stoischen Philosophen kennen wir nur in Fragmenten und aus Berichten anderer; sie sind gesammelt durch v. Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF) I—IlJ (1903—1905), IV (Index 1924). 57 Zur Entwicklung der Logos-Lehre, auch schon vor der Stoa, vgl. M. Heinze, Die Lehre vom Logos (1872, Neudruck 1961). 58 Diese Auffassung hat z. B. Max Planck verfochten; vgl. seinen Vortrag: Die Einheit des physikalischen Weltbildes (Leipzig 1909).

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Dieser naturbeherrschende, g ttliche Logos erscheint aber nun zugleich in der Vernunft des Menschen. Seneca (0—65) sagt: „Quid est in homine proprium? ratio: haec recta et consummata felicitatem hominis implevit. ergo si omnis res, cum bonum suum perfecit, laudabilis est et ad finem naturae suae pervenit, homini autem suum bonum ratio est: si hanc perfecit, laudabilis est et finem naturae suae tetigit. haec ratio perfecta virtus vocatur eademque honestum ests9." Der Mensch hat also an der Weltvernunft teil. Damit ergibt sich f r die Stoa eine gro artige Einheit des nat rlichen und des moralischen Gesetzes: in beiden erscheint die Vernunft: sie beherrscht die Natur; sie leitet unser Handeln. Naturgesetz und Moralgesetz sind ebenso eins, wie das Gesetz der Geschichte. Darum kann die Stoa die Ethik in dem Satz zusammenfassen: man mu in bereinstimmung mit der Natur (n mlich der vernunftgelenkten Natur) leben60. Dieses einheitliche Gesetz umschlie t das Einzel- wie das Sozialleben; denn der Mensch ist auf Gemeinschaft angelegt61. Auch das Recht wird damit von der Stoa in ihre Logos-Lehre einbezogen; auch das Recht ist Ausdruck der einen, die Welt und den Menschen beherrschenden Vernunft. Damit konnte die stoische Philosophie einer Lehre eine neue Grundlage und umfassende Bedeutung geben, die sich seit der Sophistik in der griechischen Philosophie immer wieder geltend gemacht hatte, dabei aber sehr unterschiedlich interpretiert worden war: der Lehre von dem, was von Natur gerecht sei (φύσει δίκαιον). Was bedeutete in dieser Wortzusammenstellung das Wort φύσει, „von Natur"? Wir haben gesehen: es sollte damit von Anfang an ein Gegensatz zu dem bezeichnet werden, was k nstlich geschaffen, was im Bereich des Rechts, insbes. durch blo e Konvention oder willk rliche Setzung (θέσει), festgelegt war62. Der Sinn dessen, was damit positiv bezeichnet werden sollte, ist aber, wie gezeigt, nicht immer gleich geblieben. Einzelne Sophisten hatten an die physische Natur, insbes. die leiblich-seelischen Eigenschaften des Menschen gedacht — wir haben oben eine entsprechende Stelle aus Antiphon kennengelernt. Aber schon innerhalb der Sophistik hatte sich der Begriffsinhalt verschoben. 59

Seneca, Epistulae ad Lucilium, 76.10. vgl. Chrysipp SVF III Nr. 126 (Diogenes Laertius); III Nr. 12 (Galen). 81 Er ist ein κοινωνικόν ζψον; vgl. dazu Pohlenz, aaO. I, S. 115. II S. 66, der auf Chrysipp (SVF III Nr. 686, 346) verweist. 62 vgl. oben, S. 7/8, 16. 80

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In einem sophistischen Traktat, der uns auszugsweise und anonym in einer Schrift des sp tantiken Philosophen Jamblichos (etwa 250 bis 330) erhalten ist63, wird ausgef hrt, da die Menschen nicht ohne Gesetze leben k nnen; da sie daher durch die Natur dazu gef hrt werden, sich an Gesetze zu binden. Hier ist offenbar schon etwas anderes gemeint als die physische Natur. In der platonischen Philosophie bekommt dann der Ausdruck φύσις (neben anderem) die Bedeutung: Wesen einer Sache64. Der junge Aristoteles spricht von den Normen, die der Staatsmann aus der Natur und der Wahrheit gewinne, und meint damit diejenigen, die sich aus dem Wesen der Idee des Gerechten ergeben65. hnlich wird in der eudemisdien Ethik von der φύσις der Tugend und der Einsicht gesprochen66. „Es ist das Seiende und zugleich Seinsollende der platonischen Metaphysik, das er (der Ausdruck φύσις) bezeichnet67." In den Lehrschriften des Aristoteles taucht die Lehre vom Naturrecht dann in einer Form auf, die sie wohl vor allem in der Rhetorik, in der Lehre von der Kunst der Gerichtsrede und damit in der praktischen Jurisprudenz erhalten hatte. Danach gibt es, wie dargelegt, zwei Arten von Recht: die eine besteht aus den Normen, die jeder Staat sich selber gibt (νώμος ϊδιος); die andere ist ungeschrieben, aber von universaler Geltung (νόμος άγραφος,νόμος κοινός); es ist das φύσει δίκαιον) das Naturrecht68. Im Rahmen der stoischen Philosophie konnte nun der schillernde Ausdruck einen neuen Sinn gewinnen. Sie konnte alle bisherigen Bedeutungen vereinigen. Denn die Natur ist vernunftbeherrscht; also ist, was ihrem Gesetz entspricht, das Nat rliche, auch vern nftig. Aber die gleiche Vernunft regiert die Natur des Menschen. Also ist, was der praktischen Vernunft und damit ethischen Einsichten entM

Der sogen. Anonymus Jamblidii, erhalten in dessen „Protreptikos"; Text bei Diels-Kranz II Nr. 89, S. 400 ff.; bersetzung bei Capelle, Vorsokratiker, S. 380 ff.; vgl. dazu E. Wolf II, S. 140. 64 vgl. die Feststellung von Popper, Der Zauber Platons (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, 1957), S. 111. 65 In seinem noch im Geist der platonisdien Akademie geschriebenen „Protreptikos". Dazu Jaeger, Aristoteles (1923 Neudrudc 1955), S. 91. 96 Eudemische Ethik 1216 a. 87 Jaeger, aaO., S. 274. 88 vgl. Rhetorik 1368 b, 1373 b. Diese Gedanken sind in die allgemeine Rechtslehre der r misdien Juristen eingegangen, vgl. Gains, Institutiones (etwa 160 nach Chr.) 1.1 und Ulpian Digesten 1.1.6.1.

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spricht, zugleich natürlich. Das Recht der Natur und das Recht der Vernunft fallen zusammen. Sie entsprechen dem Logos und damit dem Wesen des Gerechten, welches die ethische Einsicht ausspricht. Der Gegensatz von „Natur" und Vernunft ist für die Stoa aufgehoben. So kann Cicero (106—43) in Wiedergabe stoischer Gedanken sagen: „Lex est ratio summa insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria, eadem ratio cum est in hominis mente confirmata et confecta, lex est. itaque arbitrantur prudentiam esse legem, cuius ea vis sit, ut recte facere iubeat, vetet delinquere .. .69. A lege ducendum est iuris exordium; ea est enim naturae vis, ea mens ratioque prudentis, ea iuris atque iniuriae regula."70 „Est quidem vera lex recta ratio naturae congruens, diffusa in omnes, constans, sempiterna, quae vocet ad officium iubendo, vetando a fraude deterreat; quae tamen neque probos frustra iubet aut vetat nee improbos iubendo aut vetando movet, huic legi nee obrogari fas est neque derogari ex hac aliquid licet neque tota abrogari potest, nee vero aut per senatum aut per populum solvi hac lege possumus, neque est quaerendus explanator aut interpres eius alius, nee erit alia lex Romae, alia Athenis, alia nunc, alia posthac, sed et omnes gentes et omni tempore una lex et sempiterna et immutabilis continebit, unusque erit communis quasi magister et imperator omnium deus, ille legis huius inventor, disceptator, lator; cui qui non parebit, ipse se fugiet ac naturam hominis aspernatus hoc ipso luet maximas poenas, etiamsi cetera supplicia, quae putantur, effugerit."71 Dieses natürliche Gesetz, das die menschliche Vernunft in der Weltvernunft, dem Logos, erkennt, ist unabhängig von der Satzung der einzelnen Staaten; es gilt, wie das Weltgesetz selbst, für alle Völker und Zeiten. Es ist, wie Cicero72 sagt, älter als jedes geschriebene Gesetz, älter als jede staatliche Gemeinschaft. Das positive Gesetz, das ihm widerspricht, ist kein wahres Gesetz; es ist nicht verbindlich73. M

70 De legibus I 6.18/19. De legibus I 6.19. 71 7i De re publica III 22.33. De legibus I 6.19. 78 vgl. Pohlenz, Die Stoa (1948) I, S. 133. Dazu bemerkt Cicero, De legibus I 15.42: „lam vero illud stultissimum, existimare omnia iusta esse, quae sita sint in populorum institutis aut legibus, etiamne si quae leges sint tyrannorum? ... est enim unum ius, quo devincta est hominum societas, et quod lex constituit una; quae lex est recta ratio imperandi atque prohibendi; quam qui ignorat, is est iniustus, sive est illa scripta uspiam sive nusquam.

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Für die Stoa war die altgriechische Polis, von der Aristoteles noch ausgegangen war, überwunden; inzwischen hatte Alexander sein Weltreich geschaffen. Die Stoa glaubte an eine Gemeinschaft aller Menschen; ihr Ideal war der Weltstaat. Dem entsprach der Inhalt des Naturrechts, das sie vertrat. Von Natur sind alle Menschen frei und gleich; niemand ist, lehrte sie im Gegensatz zu Aristoteles, als Sklave geboren74. Von Natur sind vielmehr alle Menschen verbunden; und sie sind auf brüderliche Gemeinschaft hin geschaffen. Diese Philosophie hat eine ungeheure Nachwirkung gehabt; in der Antike75, im Mittelalter76, aber vor allem in der Emanzipationsbewegung der Neuzeit. Wenn die französische Revolution ihren Weg unter den Worten „Liberte*, Egalite*, Fraternite"" antrat, so haben diese Ideen ihre Wurzeln im Naturrecht der Stoa77. II. 1. Mit der christlichen Religion tritt eine neue Macht in das Geistesleben des Abendlandes. Seine weitere Geschichte ist dadurch bestimmt, daß diese neue Macht die antike Kultur zwar verändert, aber nicht vernichtet, sich vielmehr mit ihr in einer über Jahrhunderte währenden Diskussion auseinandersetzt. Das gilt, wie für die Philosophie im allgemeinen, auch für die Philosophie des Rechts. Das Christentum stellt seine religiöse Heilslehre in den Mittelpunkt. Es entnimmt aus der Schöpfungsgeschichte der Bibel eine bestimmte Auffassung vom Menschen; der Mensch ist von Gott als dessen Ebenbild geschaffen; er ist durch eigene Schuld gestürzt, mit Erbsünde beladen; er ist durch Christus mit Gott versöhnt und in den Stand der Gnade erhoben. Ebenso bringt das Christentum eine bestimmte Ansicht von der menschlichen Geschichte: Sie ist kein Kreislauf, keine ewige Wiederkehr des Gleichen, wie griechische Philosophen, insbesondere die Stoiker angenommen hatten; sie ist vielmehr eine einmalige dramatische Ent74

vgl. Pohlenz, aaO. I, S. 135/136 unter Hinweis auf SVF III. Nr. 352 und Cicero, De legibus I 10.29—11.32 (nach Pohlenz II, S. 75 „sicher altstoisch"); vgl. audi Justinians Institutiones 1.2.2. 75 z. B. in der röm. Sklavenschutzgesetzgebung des 2. Jh. und in der „Humanität" vieler Einzelregelungen des späten Römischen Rechts. 78 Der Satz von der natürlichen Freiheit der Menschen steht auch im Corpus Juris Canonici (Decretum Gratiani, c. 7 D. l = Isidor von Sevilla, Etymologiae V 4): „lus naturale est commune omnium nationum, eo quod ubique instinctu naturae, non constitutione aliqua habetur, ut viri et feminae coniunctio, ... communis omnium possessio et omnium una libertas, ...". 77 Stellungnahme zum Naturrecht in Kapitel IV. Abschn. III und I.

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wicklung mit eindeutigem Ziel; sie führt von der Schöpfung in der Abfolge der irdischen Reiche zum jüngsten Gerichte, zur Wiederkunft des Herrn1. Die Frage, was bedeuten Recht und Staat, was bedeuten die Lehren, welche die Lateiner und die Griechen dazu entwickelt haben, im Rahmen dieses christlichen Lebens- und Weltverständnisses, was bedeuten sie neben der alles überragenden Beziehung des Menschen zu Gott, wird für Mittelalter und Reformationszeit, für ein Jahrtausend, das entscheidende Problem der Rechtsphilosophie. Dabei ist von vornherein zu betonen, daß die Theologie die christliche Botschaft nie als rechtspolitisches Reformprogramm verstanden hat. Die Botschaft Christi betrifft das Verhältnis des Menschen zu Gott: als solche kann sie grundsätzlich in jeder Ordnung wirken; im tiefsten ist die Rechtsorganisation des Staates daher für den Glauben indifferent — wenn auch der rechte Staat der sein wird, der die christliche Predigt nicht behindert. Daher hat das Christentum auch die bestehenden sozialen Verhältnisse grundsätzlich hingenommen2, freilich wollte es alle sozialen Beziehungen mit einem anderen Geist erfüllt sehen: „Imperant enim, qui consulunt; sicut vir uxori, parentes filiis, domini servis. Oboediunt autem quibus consulitur; sicut mulieres maritis, filii parentibus, servi dominis: Sed in domo iusti viventis ex fide et adhuc ab illa caelesti civitate peregrinantis etiam qui imperant serviunt eis, quibus videntur imperare. Neque enim dominandi cupiditate imperant, sed officio consulendi; nee principandi superbia, sed providendi misericordia."3 In der christlichen Rechtsphilosophie werden zwei Grundansätze erkennbar und kehren in der riesigen Literatur immer wieder. Das unterscheidende Moment liegt in der Bedeutung, die der menschlichen Vernunft und der aus menschlicher Einsicht entspringenden Ordnung im Rahmen des Heilsgeschehens zugemessen wird. Die eine Auffassung geht von dem Gedanken einer grundsätzlichen Harmonie der Einsicht und Richtung der natürlichen Vernunft einerseits, des göttlichen Heilswillens andererseits aus. Der natürliche Mensch kann Gott entgegengehen. „Gratia naturam non tollit, sed perficit" (Thomas von Aquin). Für die andere ist die Vernunft und die sittliche Kraft des Menschen mit dem Sündenfall gebrochen. Sein Wissen ist eitel; „Tnfelix ... homo qui seit illa omnia, te autem nescit" (Augustinus). Sein Denken ist schwankend: „Tout notre raisonnement se re"duit 1

Dazu Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen (3. Aufl. 1958), insbes., S. 148 ff. 8 So schon die Apostel vgl. Paulus, Römer 13. l—7. * Augustinns, De Civitate Dei, XIX. 14.

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a ceder au sentiment" (Pascal). Aus eigener Kraft kann er den Weg nicht finden. Allein die Teilnahme Gottes, die Offenbarung seines Willens in der Bibel und die Gnade, die ihm zuteil wird, kann ihm den Weg weisen. Die erste Auffassung hat ihren klassischen Ausdruck in den Lehren des Thomas von Aquin gefunden; die zweite begegnet uns bei Augustinus und bestimmt die Lehren von Luther und Calvin; man kann sagen, es gibt in der christlichen Sozialphilosophie eine thomistische und eine augustmische Tradition. 2. Thomas von Aquin (1226—1274) entwickelt auf der Grundlage der Lehren des Aristoteles eine umfassende christliche Philosophie und fügt in dieses System, sie weiter entwickelnd, auch die Grundlehren der stoischen Rechtsphilosophie ein4. Thomas greift zunächst den Gedanken der Lex aeterna auf. Wie die Ideen überhaupt Gedanken Gottes sind, so existiert auch die Lex aeterna in der Vernunft der göttlichen Weisheit (Ratio divinae sapientiae).* Soweit die menschliche Vernunft diese Lex aeterna erfassen kann, wird sie dem Menschen als Lex naturalis bewußt5. Aus seiner Einsicht in die Lex naturalis und in Anwendung ihrer Prinzipien auf die jeweiligen Gegebenheiten schafft der Mensch dann die positive Rechtsordnung, die Lex humana. Neben dieser Einsicht der natürlichen Vernunft stehen die göttlichen Gebote, die Lex divina, wie sie im Alten und Neuen Testament offenbart sind; sie bekräftigen die Lex naturalis wie der Dekalog, und sie führen den Menschen zu seinem letzten übernatürlichen Ziel6. Vernunftordnung und Offenbarung stehen also nebeneinander, wenn auch diese jene überhöht. Aber Thomas hat nicht nur antike Gedanken in die christliche Philosophie eingeordnet; er hat sie auch weitergeführt. Dazu sei zweierlei hervorgehoben. Thomas ist sich des Problems der geschichtlichen Variabilität des positiven Rechtes bewußt. Er unterscheidet zwischen den unveränderlichen Prinzipien des Naturrechts und deren Anwendungen (con4

vgl. zu Thomas von Aquin zur Einführung Überweg-Geyer, Die patristische und scholastische Philosophie (11. Aufl. 1928), S. 419 ff. Die wichtigsten Texte für die Reditslehre des Thomas v. Aquin sind: Summa Theologica II. l (Prima Pars Secundae) Quaestio 90—105; II. 2 (Secunda Pars Secundae) Quaestio 57—79. 5 Summa Theologica II. l Quaestio 91 Art. 4: Lex naturalis nihil aliud est quam ratio divinae sapientiae, secundum quod est directiva omnium actum et motionum. 6 Summa Theologica II, 1. Quaestio 91 Art. 4.

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clusiones) auf konkrete Situationen. Nur die ersten sind unwandelbar7. Ferner: nicht jede Regel im positiven Recht ist Naturrecht; die Lex humana kann Regeln hinzufügen; sie kann nähere Bestimmungen treffen. Freilich: ein positives Gesetz, das dem Naturrecht widerspricht, wäre nicht „lex, sed legis corruptio"8. Nur das gerechte Gesetz verpflichtet ein Gewissen; das ungerechte nicht; es kann jedoch befolgt werden, um soziale Unordnung zu vermeiden — es sei denn, daß es dem bonum divinum zuwiderläuft9. Thomas systematisiert den Inhalt des Naturrechts; er entwickelt ihn in Übereinstimmung mit seiner Gesamtanschauung vom Menschen. Die Grundregel des Naturrechts lautet: bonum est faciendum et prosequendum et malum vitandum10. Was aber als „bonum" anzusehen ist, ergibt sich aus der Natur des Menschen, aus den Strebungen, die in ihm angelegt sind11. Daher gehört zu den Gütern, die das Naturrecht schützen, die Erhaltung des Menschen, die Ehe, die Erzeugung und Erziehung der Kinder, aber, der geistigen Natur des Menschen entsprechend, auch die Erkenntnis des Wahren — die Schau Gottes — und die Erhaltung des Lebens in der Gemeinschaft, der Communicatio. In diesem Sinne soll jedes Gesetz am Gemeinwohl, am bonum commune orientiert sein12. Die Lehre des Thomas von Aquin ist nicht nur das eindrucksvollste System der Hochscholastik gewesen; auf ihrer Grundlage ruht auch, vor allem wieder seit dem 19. Jahrhundert, die Soziallehre der katholischen Kirche der Gegenwart. 3. Augustin (354—430) hat seine Gedanken über den Staat hauptsächlich in seiner „Civitas Dei" niedergelegt13. 7

vgl. aaO. Quaestio 94 Art. 4; Quaestio 91 Art. 3. vgl. aaO. Quaestio 95 Art. 2. 9 vgl. aaO. Quaestio 96 Art. 4. 10 vgl. aaO. Quaestio 94 Art. 2. 11 Omnia illa ad quae homo habet naturalem inclinationem, ratio naturaliter apprehendit ut bona . . . Secundum igitur ordinem inclinationum naturalium est ordo praeceptorum legis naturae (Summa Theologica II. l Quaestio 94 Art. 2). 12 vgl. aaO. Quaestio 90 Art. 2. 13 vgl. zu Augustin zur Einführung Überweg-Geyer, Die patristische und scholastische Philosophie (11. Aufl. 1928), S. 99 ff. Zu den theologischen und philosophischen Grundlagen der Lehre von der Civitas Dei vgl. Hans Leisegang, Der Ursprung der Lehre Augustins von der Civitas Dei, Archiv für Kulturgeschichte XVI (1925), S. 127—158. 8

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Schon der Anlaß des Buches ist wichtig. 410 hatten die Goten Rom, die Hauptstadt der antiken Welt, erobert und geplündert; ein Ereignis, das eine ungeheure Erschütterung hervorgerufen haben muß. Viele gaben den Christen die Schuld: weil sie den Kult der alten römischen Götter zerstört hätten, sei die Stadt gefallen. Dem tritt Augustin entgegen, nicht mit einzelnen Argumenten, sondern indem er in einer großen geschichtsphilosophischen Schau dem Staat, dem römischen Imperium seinen wahren Platz anweist, indem er zeigt, daß sein Sturz kein entscheidendes Ereignis in der Geschichte ist, das wahre Reich vielmehr an anderer Stelle liegt. Rom, das nun in Gewalt untergeht, ist durch Gewalt und Eroberung geworden: In diesem Zusammenhang fällt das berühmte Wort: „Remota itaque justitia quid sunt regna nisi magna latrocinia?"14 — Der wahre Staat aber ist der Staat Gottes, die Civitas Dei. Sie ist die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen, der von Gottes Gnade Erwählten, in vollem Glanz im Jenseits, als civitas coelestis, als himmlisches Jerusalem; auf der Pilgerschaft noch, als civitas dei terrena, in diesem Leben. Ihr stehen die Verdammten gegenüber: die civitas diaboli. Solange das Leben dauert, müssen beide Gemeinschaften zusammen leben; diese „civitas permixta" ist der Staat15. Auch er ist von Gott, als dem Herrn der Geschichte eingesetzt; denn es gilt: per me reges regnant. Aber sein Recht und sein Friede sind irdisch, kein Abglanz des wahren Friedens in Gott, der göttlichen Gerechtigkeit, die in der civitas coelestis herrscht. Der Staat und sein Recht können der Verkündigung nützlich sein: eine letzte Dignität haben sie nicht. 4. Die Lehre Augustins hat einen tiefen Einfluß auf die Reformatoren ausgeübt. Schon die Spätscholastik, der sogen. Nominalismus des Ockham (1285—1349) und seiner Schule16 hatte das Vertrauen des Thomismus auf die Vernunft nicht mehr geteilt. Nur auf Gottes Wille beruht die Ethik, und nur die Offenbarung kann uns diesen zeigen. Melanchthon hat in einer Jugendschrift jegliche natürliche moralische Einsicht des Menschen geleugnet17. 14

De Civitate Dei IV. 4. vgl. hierzu die Hauptstelle De Civitate Dei XIX. 17. 16 vgl. dazu Überweg-Geyer, aaO., S. 572 ff. 17 In der ersten Fassung der Loci communes rerum theologicarum von -1521. Vgl. dazu Bauer, Die Naturrechtsvorstellungen des jüngeren Melanchthon, Festschrift für G. Ritter (1950), S. 244. 15

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Luther (1483—1546) hat seine Grundauffassung von Staat und Recht in der Lehre von den „Zwei Reichen" zusammengefaßt; sie ist vor allem in der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit" (1523)18 entwickelt. Die Schrift geht von der Frage aus, wieweit die Obrigkeit bei staatlichem Handeln an die Vorschriften der Bergpredigt19 gebunden ist. Er wendet sich gegen die Lösung, diese Vorschriften nur als Ratschläge für die Vollkommenen aufzufassen; die Lösung des Problems liege darin, daß es zwei Gruppen von Menschen, zwei Reiche, gäbe. Das eine (das Reich zur Rechten Gottes) werde von den wahrhaft Gläubigen gebildet — wie die Civitas Dei des Augustin. Sie befolgten die Regeln der Bergpredigt; für sie sei weder Herrscher noch Gesetz notwendig. Aber davon gäbe es einen auf Tausend. Die Masse der Menschen (auch der Christen) gehöre zum anderen Reich; diese müßten durch staatliche Ordnung, Gewalt und Gesetz im Zaum gehalten werden; wollte man davon absehen, so wäre das, als ob man wilde Tiere freisetze. Daher habe Gott für dieses Reich die staatliche Obrigkeit vorgesehen20. Ihre Gesetze sind an die Lex naturalis und Billigkeit gebunden. Freilich erstreckt sich die Herrschaft des Staates nur auf die äußeren Güter Leib und Gut, nicht auf Glauben und Gewissen; überschreitet er diese Grenze — z. B. durch Aufstellung der Pflicht, das Neue Testament wieder abzuliefern — so ist passiver Widerstand berechtigt. Das Ausgangsproblem wird von Luther dann dahin gelöst, daß der Christ an der staatlichen Herrschaft und Gewalt teilnehmen dürfe, wenn er seine Tätigkeit als Dienst am Nächsten — dem der Schutz ja zugute komme — auffasse21. Für sich persönlich müsse der Christ stets an dem Verbot des Widerstandes gegen Gewalt festhalten; aber „im Dienst" darf und soll er ihr um des Nächsten willen widerstehen22. 18

Weimarer Ausgabe der Werke Luthers XI (1900), S. 229—281. Matth. 5.39; auch Römer 12.19. 10 Luther, aaO.» S. 250—252. 21 aaO., S. 255. Dazu verweist er auf Lukas 3.14; die Apostelgeschichte 10.48; 8.39; 13.12; Rom. 13.1 und l.Timotheus 4.4, z. T. Stellen, in denen von bekehrten römischen Amtsträgern und Soldaten nio)t verlangt wird, daß sie aus dem Dienst scheiden. 22 Zur Zwei-Reiche-Lehre vgl. Lau, Zwei-Reiche-Lehre, Religion in Geschichte und Gegenwart VI (3. Aufl. 1962) mit weiteren Literaturnachweisen. Zur Entwicklung der Naturrechtslehre im älteren Protestantismus vgl. Liermann, Geschichte des Naturrechts in der evangelischen Kirche, Festschrift für Bertholet (1950), S. 294—324. Für Calvin ist vor allem sein Christianae 19

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Im Protestantismus der Gegenwart ist die Zwei-Reiche-Lehre umstritten, vor allem weil sie zu politischer Passivität führe. Eine neue „christologische" Auffassung des Rechts ist von Karl Barth und in seinem Gefolge von J. Ellul begründet worden. Grundgedanke ist, daß das Recht seine letzte Rechtfertigung und Würde darin, aber auch nur darin finde, daß es Gottes Gerechtigkeit gibt, die in der Rechtfertigung des Menschen in Erscheinung tritt. Jede Naturrechtslehre, die auf natürlicher Vernunft beruht, wird radikal abgelehnt28.

III. 1. Die Bewegung der „Renaissance" hat für die Rechtsphilosophie wie für die allgemeine Philosophie Bedeutung vor allem dadurch, daß sie neue und weite Zugänge zur antiken Philosophie geschaffen hat. Neben die Lehren des Aristoteles traten wieder Platon und die Stoa, traten auch die großen Historiker des Altertums: und alle, auch Aristoteles selbst, wurden neu durchdacht und interpretiert. Von diesen Entdeckungen ist für die Rechtsphilosophie vor allem die Wiederentdeckung der Stoa von Bedeutung geworden; sie ist eine der Grundlagen des Naturrechts der Aufklärung1. Das Werk eines so bedeutenden Juristen und Rechtsphilosophen wie Grotius beruht auf den Ergebnissen des Humanismus der Renaissance. Aber die großen denkerischen Leistungen dieser Epoche im Bereich der Rechts- und Sozialphilosophie liegen nicht so sehr im Bereich der Rechtstheorie, als in der Entdeckung des Staates und seiner Entwicklungsgesetze, im Bereich der Wissenschaft von der Politik2. Die Anfänge des modernen Staates bilden sich in den späteren Jahrhunderten des Mittelalters, vor allem in Westeuropa, in England, Frankreich und Burgund, in Spanien und Italien. Aber die mittelalterliche Theorie nimmt von diesem neuen Phänomen zunächst keine Notiz. Ihr Interesse gilt weiter in erster Linie den Universalmächten: der Kirche und dem Reich, dem Papsttum und dem Kaisertum, der Kirche und ihrer Reformation vor allem. Die spätmittelalterliche Philosophie hatte für ihre Lehren zwei Grundlagen: das Staatsrecht des Corpus Juris Justinians einerseits, die seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wieder bekannte Politik des Aristoteles andererseits. Religionis Institutio IV. 20 zu vergleichen. Dazu Bohatec, Calvin und das Recht (1934). 23 vgl. K. Barth, Rechtfertigung und Recht (1938); K. Barth, Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946); Jaques Ellul, Theologische Begründung des Rechts (1948). 1 vgl. unten Abschn. IV. 1. 2 Auf die Wirkungen der Renaissance auf die eigentliche Rechtswissenschaft ist hier nicht einzugehen. Gesamtdarstellung: P. Mesnard, L'Essor de la Philosophie Politique au XVIe siecle (2. Aufl. 1952).

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Auf dieser Grundlage behandelte sie eine Reihe von wichtigen Problemen: Die Vielheit der Gemeinwesen entgegen der Existenz des einen Reiches im Corpus Juris; die Stellung des Herrschers zum Recht; die Rechte des weltlichen Herrschers im Verhältnis zur Kirche8. Aber der sich entwickelnde Fürstenstaat fand darin noch keinen Raum; erst die Renaissance erfaßt das Wesen des Machtstaates.

2. Diese Erkenntnis ist vor allem das Werk eines Mannes: des Niccolo Machiavelli (1469—1527). Macfaiavelli löst die Probleme des Staates von denen der Rechtslehre; er betrachtet nur die Herrschermacht als solche und untersucht, mit welchen Mitteln Macht gewonnen und behauptet wird. Die Grundlage seiner Überlegungen ist neben der Analyse antiker Historiker die Beobachtung der politischen Vorgänge seiner eigenen Zeit4. Er sieht sie ohne Illusionen und verzichtet auf eine moralische Wertung. „Eroberungssucht ist eine ganz natürliche und weitverbreitete Eigenschaft. Immer, wenn die Menschen nach besten Kräften Eroberungen machen, so werden sie gelobt, oder wenigstens nicht getadelt. Doch wenn ihre Kräfte nicht ausreichen und sie versuchen, trotzdem um jeden Preis Eroberungen zu machen, so ist dies ein tadelnswerter Fehler. Wenn demnach Frankreich imstande war, mit eigenen Kräften Neapel anzugreifen, so hätte es dies tun sollen; war es aber nicht dazu imstande, so durfte es die Herrschaft doch nie teilen. Wenn Frankreich die Lombardei mit den Venezianern teilte, so verdient es Entschuldigung, weil es hierdurch in Italien Fuß faßte; die Teilung Neapels aber verdient Tadel, da sie nicht mit dem Zwang der Verhältnisse zu entschuldigen ist. Ludwig beging also fünf Fehler: Er richtete die Schwächeren zugrunde, er verstärkte in Italien die Macht eines besonders Mächtigen, er zog einen außerordentlich mächtigen Fremden ins Land, er schlug in Italien nicht seine Residenz auf und gründete dort auch keine Kolonien."5 Die Regeln, die er entwickelt, sind dementsprechend keine moralischen oder naturrechtlichen Gesetze. Sie sind vielmehr politische Maximen, die um den einen Gedanken kreisen, wie nach vernünftiger Einsicht in die Verhältnisse die Interessen des staatlichen Herrschers, * vgl. dazu etwa v. d. Heydte, Die Geburtsstunde des souveränen Staates (1952) und dazu die Kritik von Heimpel, Gott. Gel. Anz. 1954, S. 197— 221; E. Kantorowicz, The King's two Bodies (1957); zum Problem Kirche und Herrscher: Marsilius von Padua, Defensor pacis (1324). 4 Hierzu vgl. insbesondere F. Gilben, Machiavelli and Guicciardini (Princeton 1965). — Zu Machiavelli vgl. F. Chabod, Machiavelli and the Renaissance (1958) mit großer Bibliographie. 5 Machiavelli, 11 Principe III, Deutsche Übersetzung von R. Zorn (3. Aufl. 1963), S. 12/13.

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die auf Behauptung und Mehrung der politischen Macht gerichtet sind, gewahrt werden können. Damit entwickelt er die Lehre von der Staatsräson, der Vernunft des Staates, die darin besteht, „sich selbst und seine Umwelt zu erkennen und aus dieser Erkenntnis die Maximen des Handelns zu schöpfen."6 Machiavelli glaubte und sprach es ohne Scheu aus, daß das Handeln des Herrschers nicht immer auch moralisch gut sein könne. „Es bleibt noch zu untersuchen, wie sich ein Herrscher gegen seine Untertanen und seine Freunde zu verhalten hat. Da es mir bewußt ist, daß schon viel darüber geschrieben wurde, fürchte ich, daß man mich für anmaßend hält, wenn auch ich darüber schreibe, zumal ich gerade bei der Erörterung dieses Stoffes von der üblichen Behandlungsweise abgehe. Da es aber meine Absicht ist, etwas Brauchbares für den zu schreiben, der Interesse dafür hat, schien es mir zweckmäßiger, dem wirklichen Wesen der Dinge nachzugehen als deren Phantasiebild. Viele haben sich Vorstellungen von Freistaaten und Alleinherrschaften gemacht, von denen man in Wirklichkeit weder etwas gesehen noch gehört hat; denn zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, ist ein so gewaltiger Unterschied, daß derjenige, der nur darauf sieht, was geschehen sollte, und nicht darauf, was in Wirklichkeit geschieht, seine Existenz viel eher ruiniert als erhält. Ein Mensch, der immer nur das Gute möchte, wird zwangsläufig zugrunde gehen inmitten von so vielen Menschen, die nicht gut sind. Daher muß sich ein Herrscher, wenn er sich behaupten will, zu der Fähigkeit erziehen, nicht allein nach moralischen Gesetzen zu handeln sowie von diesen Gebrauch oder nicht Gebrauch zu machen, je nachdem es die Notwendigkeit erfordert."7 3. In der Folgezeit entstand eine ganze Literatur zum Problem der Staatsraison; eine neue wissenschaftliche Disziplin war entstanden8. In Frankreich entwickelte Jean Bodin (1530—1596) am Ende des 16. Jahrhunderts in seinen „Six Livres de la R£publique" (1576) die Theorie von der neuen Souveränität, der summa potestas des Fürsten, dessen Macht er als einzigen rettenden Ordnungsfaktor in den Wirren der Zeit ansah. Sein Werk hat sehr viel mehr juristischen 6

Meinecke, Die Idee der Staatsraison in der neueren Gesdiichte (1957), S. 1. vgl. Mackiavelli, II Principe XV. Deutsdie Übersetzung, aaO., S. 62 f. — Stellungnahme zu Macchiavelli unten Kapitel IV Abschn. V. 2. 8 Meinecke, Die Idee der Staatsraison in der neueren Gesdiidite (1957) insbes. S. 57 ff. 7

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Charakter als die Schriften Machiavellis; es geht ihm um die einzelnen Befugnisse des Fürsten, ihre Zusammenfassung und ihre Bindung an den Staatszweck. Es ist die theoretische Grundlage für die Regierungsgewalt des Fürsten9. Es ist hier nicht der Ort, die Lehren Machiavellis und Bodins sowie ihrer Nachfolger im einzelnen zu erörtern10. In unserem Zusammenhang ist nur wichtig festzuhalten, daß mit Machiavellis Schriften im 16. Jahrhundert eine selbständige Lehre vom Staat und vom staatlichen Handeln entstanden war, die außerhalb der traditionellen Rechtsphilosophie stand und die auch ihre neuen Erkenntnisse nicht in Beziehung zu ihren Lehren setzte, insbesondere das Problem der Bindung an das Naturrecht nicht erörterte oder doch jedenfalls nicht als zentrales Problem empfand. Diese politisch, aber auch ökonomisch orientierte Staatstheorie steht seitdem neben der Philosopie des Rechts, wenn sich auch immer wieder Verbindungen ergeben, z. B. in der Rechtsphilosophie Hegels.

IV. 1. Dem Zeitalter des Glaubens folgt das Jahrhundert der Vernunft. Im 17. Jahrhundert gewinnt das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken allmählich an Einfluß. Das heliozentrische System und die mathematisch-mechanische Weltauffassung setzen sich gegen das Weltbild der antiken Wissenschaft durch1; die moderne Kultur gewinnt überhaupt gegenüber der Antike an Gewicht; in der berühmten „Querelle des Anciens et des Modernes" in Frankreich2 wird sie zum ersten Mal als überlegen hingestellt. Entscheidend sind vor allem die geistigen Bewegungen der letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts geworden3. 9

Zu Bodin vgl. Mesnard, L'Essor de la Philosophie Politique au XVI ieme Siecle (2. Aufl. 1952). 10 vgl. dazu Meinecke, aaO. 1 vgl. dazu Butterfield, The Origin of Modern Science (Revised Edition 1965), vor allem Kapitel 4—8. Gesamtdarstellung bei E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung (1932). * vgl. dazu Du Granges-Boudont, Histoire de la literature franchise (51. Aufl.), S. 577 ff. 3 vgl. allgemein Hazard, La crise de la conscience Europeenne 1680—1715 (1935, deutsch 1939); hinsichtlich der Wissenschaftsgeschichte: Butterfield, aaO., S. 192; vgl. auch die geistesgeschichtlichen Analysen Diltbeys: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (Gesammelte Schriften II, 5. Aufl., 1957).

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Die Philosophie wird von neuen Ansätzen aus entwickelt. Sie wird kritisch; Descartes (1596—1650) erhebt den systematischen Zweifel an allen überlieferten Sätzen zum Prinzip; dies führt notwendig zur Prüfung der Erkenntnismöglichkeiten des menschlichen Denkens und damit zu einem subjektiven Vernunftbegriff. Nur klaren, sicheren und evidenten Einsichten, lehrt Descartes, soll man trauen. Arithmetik und Geometrie sind daher die vorbildlichen deduktiven Disziplinen. Einsichten von geringerem Evidenzgrad soll man lieber -für falsch halten. Die Erfahrung ist der Spekulation vorzuziehen4. Andererseits bieten klare Definitionen und logische Folgerungen auch ohne empirische Beweise Sicherheit des Ergebnisses. In der Rechtsphilosophie führt diese Bewegung zu einer Neuformulierung der Naturrechtslehre: dem sogen, „rationalistischen Naturrecht der Aufklärung". Wie die Philosophie der Zeit versucht diese Lehre, empirische Beobachtungen und deduktives Verfahren zu vereinigen. Sie versteht Vernunft — anders als Antike und Mittelalter — nicht als Teilhabe an der Weltvernunft, sondern als Logik, angewendet auf Tatsachen. Auch ihr ist die Klarheit des Raisonnements aber bereits Bürgschaft für seine Wahrheit. Geschichtlich knüpft die neue Naturrechtslehre allerdings zunächst an die Stoische Naturreditslehre an, die wie die Stoische Ethik überhaupt im 16. Jahrhundert eine weitreichende Renaissance erlebt hatte5. Das zeigt sich noch sehr deutlich bei Grotius (1583—1645), den die Aufklärung als den Begründer des „neuen" Naturrechts betrachtet hat; er war Humanist und die Autorität der Antike für ihn unbestritten. Aber schon Thomasius (1655—1728) hält diese „Testimonia aliorum scriptorum" bei Grotius für überflüssig*.

Das Naturrecht beruht für die Aufklärung auf zwei Gegebenheiten: der Natur des Menschen und der der menschlichen Gesellschaft. Die Autoren der Aufklärung beginnen daher mit einer deskriptiven Anthropologie und fragen sich dann: wie müssen die Regeln beschaffen sein, unter denen Wesen dieser Art zusammenleben können7? 4

Descartes hat seine leitenden Ideen vor allem in den Regulae ad Directionem Ingenii (1628) und im Discours de la methode (1637) niedergelegt. 5 vgl. dazu den Überblick bei Zanta, La Renaissance du Stoicisme au XVI ieme siecle (1914). — Zum Einfluß verfassungsrechtlicher Ideen des Altertums (Isonomia) in England vgl. Hayek, Entstehung und Verfall des Rechtsstaatsideals. 8 vgl. seine Einleitung zu Fundamenta luris Naturae ac Gentium (1705), §3. 7 So verfahren Hobbes, Elementa philosophica de cive (1647) I und II, Leviathan (1651) I, l—6, 14; Pufendorf, De officiis hominis et civis (1731) I 3 § 7/8; ähnlich 12 § 16; Thomasius, Fundamenta iuris naturae ac gentium (1705) I I ff.

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Schon Grotius hatte das Unrecht definiert als das, was der Gemeinschaft von Vernunftwesen zuwider ist8. Diese Überlegung führt dann regelmäßig zur Aufstellung breiter Prinzipien. So postuliert etwa Hobbes den Satz, daß man niemandem das zufügen solle, was man selbst nicht wolle, daß niemand einen anderen verletze9; und Pufendorf (1632—1694) stellt die Forderung auf, daß jeder den anderen Menschen als sich von Natur aus gleich oder als „gleichermaßen Mensch" einschätze und behandele; daß jeder das Interesse (utilitas) des anderen, soweit er es mit Bequemlichkeit (commodo) kann, befördere10. Hieraus werden dann speziellere Grundsätze abgeleitet: etwa, daß man Verträge halten müsse11. Das Verhältnis dieses Naturrechts zum positiven Recht machen die Sozialphilosophen der Aufklärung am Denkmodell des Gesellschaftsvertrages deutlich. An sich sind die Menschen nur als Individuen gegeben — die Parallele zur Atomtheorie der zeitgenössischen Mechanik liegt nahe! Staat und Gesellschaft sind nichts Ursprüngliches. Im „Naturzustände" galt allein das Naturrecht; alle Menschen waren von Herrschaft frei und dem Recht nach — gleich. Aber da es dem Naturrecht an Sanktionen fehlte, und daher Unsicherheit herrschte, sind Menschen zusammengekommen und haben durch Vertrag, eben den Gesellschaftsvertrag, den Staat begründet und organisiert. Durch diesen Vertrag ist aus dem Naturzustand der „bürgerliche" Zustand geschaffen worden; aus dem „Menschen" ist der „Bürger" geworden; an die Stelle des „natürlichen" tritt nun das „bürgerliche" Recht12. Der Sinn dieses (meist nicht als geschichtliche Hypothese gemeinten) Denkmodells ist, zu zeigen, daß der Staat für ganz bestimmte Zwecke gegründet und daher an diese Zwecke auch gebunden ist. Dieser Zweck aber war die Sicherung des Naturrechts, nach der radikalen These: des natürlichen Rechts des Menschen. 2. Freilich wird diese Konsequenz keineswegs von allen in der gleichen Weise gezogen. Über die Bedeutung des Gesellschaftsvertrages bestehen verschiedene Auffassungen. Eine konservativere und eine 8

Grotius, De iure belli ac pacis (1625) I 1,3; vgl. Prolegomena 8. • Hobbes, De Give (1647) III. 26. 10

Pufendorf, De officiis hominis et civis I 8. So Hobbes, De Give III. 1. 12 Der Ausdruck „Bürgerliches Recht" hat einen Bedeutungswandel durchgemacht; im 18. Jahrhundert wird er weitgehend noch in dem im Text entwickelten Sinne, der der antiken Bedeutung vom „lus civile" in seinem Gegensatz zum Naturrecht in etwa entspricht, verwendet. 11

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radikalere Lehre sind zu unterscheiden. Die konservative Richtung meint, der Gesellschaftsvertrag sei vor allem abgeschlossen, dem Menschen Sicherheit zu geben. Da das nur durch Herstellung einer absoluten Herrschaftsgewalt geschehen könnte, sei durch ihn eine absolute Herrschaft organisiert worden. Der Gesellschaftsvertrag wird damit eigentlich ein Unterwerfungsvertrag. Die Gewalt des Herrschers ist grundsätzlich unbeschränkt. Nur intern, in seinem Gewissen, ist der Regierende gebunden, nur dem Gemeinwohl, der salus publica, zu dienen und nur Gesetze zu erlassen, die dem natürlichen Recht entsprechen. Diese Lehre ist in schroffer Form vor allem von Hobbes (1588—1679) entwickelt, dessen Werke unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges geschrieben sind. Nach ihm hat der Gesellschaftsvertrag vor allem die soziale Autorität geschaffen; auf ihr allein beruht die verpflichtende Kraft des Redits, nicht auf seinem vernunftgemäßen Inhalt; auctoritas, non veritas facit legem. Aber auch die deutsche Naturrechtslehre, etwa Pufendorf und Thomasius, hat diese Auffassung vertreten, wenn sie auch die Bindung an die salus publica stärker betont hat. Sie hat damit das theoretische Fundament für den aufgeklärten Absolutismus geschaffen, wie ihn dann Friedrich II. in Preußen und Kaiser Joseph II. in Österreich verwirklicht haben.

3. Eine andere Richtung betont dagegen, daß der Gesellschaftsvertrag den Zweck gehabt habe, die natürlichen Rechte des Menschen, seine Freiheit, sein Eigentum und die Gleichheit aller zu sichern, und daß daher auch der durch ihn errichtete Staat an diese gebunden sei: diese Lehre ist vor allem von Locke (1632—1704) im zweiten seiner „Two Treatises on Government" (1690) entwickelt worden. Nach ihm sind die Regierenden kraft des Gesellschaftsvertrages nur die Treuhänder der Bürger für die Wahrung der ursprünglichen Menschenrechte: Freiheit, Gleichheit und Eigentum13. Daher kann die Regierungsgewalt nicht unbeschränkt sein; sie darf nicht in einer Hand liegen; Gesetzgebungsgewalt und Exekutive sollten von verschiedenen Personen ausgeübt und die Richter unabhängig sein14. Vor allem aber muß nach festen, für alle gleichmäßig geltenden Gesetzen regiert werden, die allen bekannt gemacht sind und an die die Exekutive gebunden ist15. Denn es gilt der Satz: „freedom of men16 under government is to have a standing rule to live by, 13 14 15 16

Locke, Two Treatises on Government, 2. Abhandlung Nr. 123. Locke, aaO. Nr. 159. Locke, aaO. Nr. 142, 160, 162. d. h. „bürgerliche" Freiheit im Gegensatz zur natürlichen.

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common to every one of that society, and made by the legislative power erected in it."17 Was Locke als Folge des Gesellschaftsvertrages entwickelt, ist also die Theorie des Rechtsstaates, der auf der Anerkennung der Menschenrechte als Bürgerrechte beruht. Es ist diese Lehre, auf die sich dann die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 beruft: „We hold these truths to be seifevident: that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness: That to secure these rights, Governments are instituted..." Ebenso folgt ihr die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. 4. Eine scharfe Kritik hat die Methode der Naturrechtslehre der Aufklärung in England durch Hume170, in Deutschland durch Kant (1724—1804) erfahren. Letzterer wendet sich dagegen, daß sie sittliche Normen aus empirischen Daten, insbesondere aus anthropologischen Erkenntnissen ableitet. Die Sittlichkeit sei unableitbar und wurzele in der Vernunft. „Da meine Absicht... auf die sittliche Weltweisheit gerichtet ist, so schränke ich die vorgelegte Frage nur darauf ein: ob man nicht meine, daß es von äußerster Notwendigkeit sei, einmal eine reine Moralphilosophie zu bearbeiten, die von allem, was nur empirisch sein mag und zur Anthropologie gehört, völlig gesäubert wäre; denn daß es eine solche geben müsse, leuchtet von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze ein. Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch d. i. als Grund einer Verbindlichkeit gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: Du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber nicht daran zu kehren hatten; und so alle übrigen eigentlichen Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Prinzipien der bloßen Erfahrung gründet, und sogar eine in gewissem Betracht allgemeine Vorschrift, sofern sie sich dem mindesten Teile, vielleicht nur einem Beweggrunde nach, auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann"18. Kant greift damit gegenüber dem eingeschränkten Vernunftbegriff der Aufklärung 19 auf den klassischen Vernunftbegriff zurück. 17

Locke, aaO. Nr. 22. Hume A Treatise of Human Nature. Deutsche Übersetzung von Th. Lipps Meiner Verlag Hamburg (1973) S. 210/11. 18 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Vorrede (Inselausgabe von Weischedel) IV, S. 1. 19 Vgl. oben Abschn. IV. 1. 170

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Kant hat dann in seiner Sdirift „Die Metaphysik der Sitten" von 1797 eine eigene, a priorische Rechtslehre geschaffen, d. h. ein „Naturrecht", das auf Prinzipien der praktischen Vernunft beruht. Er stellt das Recht der Ethik in der Weise gegenüber, daß die Ethik uns verpflichtet, bestimmte Handlungen aus einer bestimmten Gesinnung, nämlich aus „Pflicht", vorzunehmen, während das Recht sich begnügt, die Handlung selbst vorzuschreiben, gleichgültig, aus welchen Motiven sie erfolgt; Kant trennt also — in Anküpfung an Thomasius — „Moralität" und „Legalität". Dafür kann das Recht das von ihm Gebotene aber erzwingen. Als allgemeines Prinzip des Rechts als der „äußeren Gesetzgebung" postuliert Kant die Freiheit: „Freiheit ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit, zustehende Recht." Aus ihm folgen alle anderen natürlichen Rechte. Demgemäß kann er das Recht definieren als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür20 des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann21." V.

Im 19. Jahrhundert tritt mit der Entwicklung der Presse und des politischen Parteiwesens die Bildung politischer Programme neben die eigentliche Rechts- und Staatsphilosophie. Die beiden Ideenkreise sind natürlich nicht vollkommen voneinander getrennt. Es besteht z. B. ein enger Zusammenhang der historischen Rechtsschule und der Bildung eines konservativen politischen Programms. Bei Marx sind Rechtsphilosophie und Entwerfen eines politischen Programms sogar in einer Person vereint. Trotzdem steht bei der politischen Zielsetzung das unmittelbare Handeln in eine gegebene Situation hinein — um die Gesellschaftsordnung zu ändern oder um sie zu verteidigen — im Vordergrund. In unserer Darstellung kann auf die politische Ideengeschichte nur hingewiesen werden. 1. Die liberalen Parteien kämpfen für die Durchsetzung der Gedanken der Naturrechtslehre der Aufklärung und der französischen Revolution. Sie erstreben eine Beteiligung der Bürger an der Macht durch die Parlamente; hierbei setzt sich freilich der Gedanke des allgemeinen Wahlrechts erst sehr langsam durch. Der Liberalismus kämpft ferner für den Rechtsstaat, die Begrenzung der Staatsgewalt durch Gesetze und den Schutz der Grundrechte. Im Wirtschaftsbereich glaubt er an die Möglichkeit einer natürlichen Harmonie der Interessen, wenn nur der Staat sich von Eingriffen in den wirtschaftlichen Prozeß fernhält. Diese Auffassung, die an die Lehren der klassischen Nationalökonomie anknüpft, wird insbesondere um die Jahrhundertmitte ausgebildet. 20

D. h. die Handlungsfreiheit. vgl. Metaphysik der Sitten (1797) Einleitung III und Einleitung in die Rechtslehre § 3 (Inselausgabe IV), S. 322/323, 337, 345. 21

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Demgegenüber tritt die im Laufe des 19. Jahrhunderts neu sich bildende Bewegung des Sozialismus für eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Güter und für die Befreiung der Arbeiterschaft ein. Sie entwickelt sich in drei Phasen. Der Ursprung liegt in Frankreich; in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts werden hier Theorien entwickelt, die zum Teil utopischen Charakter tragen. Hervorzuheben ist vor allem die Bewegung der St. Simonisten, die für die Ordnung der Gesellschaft die Forderung aufstellt: Jedem entsprechend seinen Fähigkeiten und seinem Verdienst. Um die Mitte des Jahrhunderts entwickelt Karl Marx (1818—1883) auf der Grundlage einer Geschichts- und Rechtsphilosophie sowie einer ökonomischen Theorie das Programm des Kommunismus. Er sieht den Weg zu einer gerechten Ordnung in der proletarischen Revolution und der Übernahme des Eigentums an allen „Produktionsmitteln" durch den vom Proletariat beherrschten Staat. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelt sich schließlich insbesondere in England und Deutschland ein Reformsozialismus, der die „soziale Frage", d. h. für das 19. Jahrhundert die gesellschaftliche und wirtschaftliche Einordnung der Arbeiterschaft, durch eine Reihe von Reformen, aber grundsätzlich im Rahmen der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung lösen will. Charakteristisch sind in Deutschland die sogen. Katheder-Sozialisten, in England die Fabian Society1. Diese verschiedenen politischen Bewegungen nehmen auch zu den Hauptfragen der Rechtsphilosophie Stellung, etwa zum Problem der Grundrechte oder der Rechtfertigung der Strafen. 2. Was die eigentliche Theorie des Rechts angeht, so bringt das 19. Jahrhundert in neuen oder neugestalteten Wissenschaften eine Fülle neuer Gesichtspunkte für die Auffassung des Menschen und seiner Kultur: die Bedeutung der Geschichte wird neu erfaßt, die Gesetzmäßigkeit des wirtschaftlichen Lebens entdeckt, in Biologie und Psychologie — es seien nur die Namen von Darwin (1809—1882) und Freud (1856—1939) genannt — neue Erkenntnisse über den Menschen gewonnen und neue Thesen über ihn aufgestellt. Gleichzeitig führt der philosophische Positivismus zu einer erneuten kritischen Prüfung des wissenschaftlichen Erkenntnisvermögens. Alle diese neuen Ansatzpunkte wirken sich auch auf die Rechtstheorie aus: ja, sie werden — wie oft in der Geistesgeschichte neue Gesichtspunkte — oft als die allein möglichen und richtigen hingestellt. Aus der großen Zahl der so entwickelten neuen Antworten auf die Frage nach Wesen und Sinn des Rechts als Kulturerscheinung heben wir die wichtigsten in ihren Hauptgesichtspunkten hervor. Um die Wende zum 19. Jahrhundert wird im wissenschaftlichen und philosophischen Denken ein neues Verhältnis zur Geschichte spürbar. Natürlich hatte es stets ein Interesse für die Vergangenheit ge1

vgl. dazu McBriar, Fabian Socialism and English Politics (Cambridge 1962).

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geben; was sich jetzt aber herausbildet, ist ein neues Empfinden für die geschichtliche Bedingtheit der menschlichen Kultur und die Einzigartigkeit jeder geschichtlichen Epoche. Für die Aufklärung war der Mensch, der uns im geschichtlichen Prozeß entgegentritt, im Grunde immer der gleiche gewesen; die einzelnen Epochen unterschieden sich vor allem durch den Grad der Aufklärung, den sie erreicht hatten, und die Bewegung der Geschichte wurde angesichts dessen, was das eigene, das philosophische Jahrhundert erreicht hatte, als Fortschritt der Menschheit zu immer größerer Mündigkeit, Freiheit und Wohlstand verstanden. Der Historismus begriff, daß die Menschen der einzelnen Zeitalter und Nationen zutiefst verschieden sind; und zwar, weil sie in ihrem Denken und in ihren Wertvorstellungen von der Tradition, also der Geschichte, geprägt sind. Er fand die Einheit der Menschheit nur noch in der Gesamtheit der in sich individuell ausgeprägten Epochen und Kulturen; er fand keinen gradlinigen Fortschritt, sondern entdeckte höchst komplizierte, mechanisch nicht zu begreifende „organische" Entwicklungen. Diese neue Betrachtungsweise machte es notwendig, neue Kategorien für die Auffassung der Kultur zu rinden. Es handelte sich vor allem darum, die Individualität, verstanden als besondere eigene geistige Gestalt, als „inward form", von Personen ebenso wie von Völkern und Zeitaltern, damit den Gesamtzusammcnhang der verschiedenen Äußerungen der Kultur eines Zeitalters, ihre Totalität, die Eigengesetzlichkeit von allem geschichtlich Gewordenen und die Eigenart des historischen Prozesses selbst — im Gegensatz zu mechanisch gesteuerten Ablaufen — zu erfassen. Die hierfür notwendigen Kategorien sind zum großen Teil schon während des 18. Jahrhunderts, also während der Vorherrschaft des Rationalismus entwickelt worden. Die Werke von Shaftesbury (1671—1713), von Giovanni Battista Vico (1668—1744), Montesquieu (1689—1755; Esprit des Lois 1748), Voltaire (1694—1778; Siecle de Louis XIV), schließlich Herders (1744—1803) waren entscheidende Schritte2. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts und am Beginn des 19. Jahrhunderts entstand dann die neue kritische, d. h. die vorhandene Überlieferung kritisch prüfende Geschichtswissenschaft; Niebuhrs Römische Geschichte (1811, 1832) war eines ihrer ersten bedeutenden Ergebnisse 3 . Im 19. Jahrhundert schlössen sich die übrigen geschichtlich orientierten Wissenschaften an: die Sprach- und Literaturwissenschaften, die Kunstgeschichte, die Kirchen- und Dogmengeschichte, kurz jene Wissenschaften, die wir unter dem Namen „Geistes2

vgl. dazu die Übersicht bei Meinecke, Die Entstehung des Historismus (2. Aufl. 1946). 3 vgl. hierzu Btttterfield, Man on his past (1955) und zum Begriff der kritischen Historic Collingwood, The Idea of History (Deutsche Übersetzung 1955) V, § 3.

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Wissenschaften" zusammenfassen 4 . Als die Einzelwissenschaften geschaffen waren, folgte die theoretische Klärung ihrer Aufgaben, Methoden und Erkenntnismöglichkeiten, die „Kritik der historischen Vernunft". Hier sind vor allem die Schriften von Dilthey und Cassirer, von Collingwood, Betti und Gadamer sowie die Schriften über die Methode der Geschichtswissenschaft, etwa Droysen's „Historik" (1937) oder Marrou's „De la Connaissance historique" (1958) zu nennen 5 . 3. Die geschichtliche Auffassung des Rechts wird in der Auseinandersetzung mit der französischen Revolution von 1789 entwickelt; sie ist in gewisser Hinsicht die Antwort des konservativen Denkens auf den bürgerlich-radikalen Umsturz6. Die wichtigste Schrift sind die „Reflections on the French Revolution" des englischen Parlamentariers und Publizisten Edmund Burke (1729—1797). Burke hatte sich schon früher, in einer 1775 kurz vor Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gehaltenen Rede über die Aussöhnung mit den damaligen englischen Kolonien in Amerika gegen das Denken in abstrakten Menschenrechten gewendet. „Abstract liberty, like other mere abstractions is not to be famed. Liberty inheres in some sensible object; and every nation has formed to itself some favorite point, which by way of eminence becomes the criterion of their happiness."7. In einer Frühschrift8 hatte er den

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Zur Entstehung der Bezeichnung vgl. Rothacker, Logik u. Systematik der Geisteswissenschaften (1948), S. 9—12. s Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften I, 4. Aufl. 1959), Die geistige Welt (Gesammelte Schriften V, 2. Aufl. 1957); Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (4. Aufl. 1964), Zur Logik der Kulturwissenschaften (2. Aufl. 1961); Collingwood, The Idea of History (Deutsche Übersetzung 1955); Betti, Teoria Generale dell* Interpretazione (1955); Gadamer, Wahrheit und Methoden (1960). 6 Das geschichtliche Rechtsverständnis kann nicht einfach der Romantik zugeordnet werden; es ist politisch konservativ. Dies hat vor allem Carl Schmitt in seinem Werk „Politische Romantik" (2. Aufl. 1923) im Anschluß an Rexius, Studien zur Staatslehre der historischen Schule, Historische Zeitschr. 107 (1911), S. 496—539 herausgearbeitet. 7 Speech on Conciliation with America, Works (1803) III, S. 49/50. 8 A Vindication of Natural Society (1756).

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Gedanken entwickelt, daß Staat und Recht nicht auf Vertrag, sondern auf Zeitablauf beruhten9. Jetzt wendet er sich scharf gegen die Zerstörung der überkommenen französischen Monarchie und den Versuch, nach abstrakten Prinzipien, nach den geschichtslosen Grundsätzen des Naturrechts der Aufklärung eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen. Recht und Verfassung sind nichts Mechanisches, Abstraktes, sie sind der Niederschlag der Erfolge von Generationen und leben in einer bestimmten nationalen Tradition. Man muß sie achten und darf sie nicht jedem neuen Bedürfnis opfern. Burke geißelt „the total contempt ... of all ancient institutions, when set in opposition to a present sense of convenience" und den „spirit of innovation". Er setzt die geschichtlich gewordenen Freiheiten des Engländers gegen die abstrakten Menschenrechte. Auf den Ideen der abstrakten Freiheit und Gleichheit läßt sich kein Staat errichten: Die Freiheit muß aus den vorhandenen geschichtlichen Institutionen entwickelt werden. Die menschliche Vernunft ist zu schwach, eine neue Gesellschaftsordnung zu erfinden. Allmähliche Reform in Ehrfurcht vor dem Gewordenen, nicht Revolution und Umsturz sind der richtige, der natürliche Weg. Darin sieht er das Wesen englischer Verfassungsentwicklung: „By a constitutional policy, working after the pattern of nature, we receive, we hold, we transmit our government and our privileges, in the same manner in which we enjoy and transmit our property and our lives. The institutions of policy, the goods of fortune, the gifts of providence, are handed down to us, and from us, in the same course and order. Our political system is placed in a just correspondence and symmetry with the order of the world, and with the mode of existence decreed to a permanent body composed of transitory parts; wherein, by the disposition of a stupendous wisdom, moulding together the great mysterious incorporation of the human race, the whole, at one time, is never old, or middle-aged, or young, but, in a condition of unchangeable constancy, moves on through the varied tenor of perpetual decay, fall, renovation, and progression. Thus, by preserving the method of nature in the conduct of the state, in what we improve, we are never wholly new; in what we retain, we are never wholly obsolete. By adhering in this manner and on those principles to our forefathers, we are guided not by the superstition of antiquarians, but by the spirit of philosophic analogy. 9

S.9.

vgl. dazu Meusel, Burke's Sdiriften gegen die französische Revolution,

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In this choice of inheritance we have given to our frame of polity the image of a relation in blood; binding up the constitution of our country with our dearest domestic ties; adopting our fundamental laws into the bosom of our family affections; keeping inseparable, and cherishing with the warmth of all their combined and mutually reflected charities, our state, our hearths, our sepulchres, and our altars."10 Burke verabscheut den Radikalismus der Revolutionäre: „Plots, massacres, assassinations, seem to some people a trivial price for obtaining a revolution. A cheap, bloodless reformation, a guiltless liberty, appear flat and vapid to their taste. There must be a great change of scene; there must be a magnificent stage effect; there must be a grand spectacle to rouse the imagination, grown torpid with the lazy enjoyment of sixty years' security, and the still unanimating repose of public prosperity."11 Er beklagt die Zerstörung der alten Loyalität: „But the age of chivalry is gone. That of sophisters, economists, and calculators, has succeeded; and the glory of Europe is extinguished for ever. Never, never more shall we behold that generous loyalty to rank and sex, that proud submission, that dignified obedience, that subordination of the heart, which kept alive, even in servitude itself, the spirit of an exalted freedom. The unbought grace of life, the cheap defence of nations, the nurse of manly sentiment and heroic enterprise, is gone! It is gone, that sensibility of principle, that chastity of honour, which felt a stain like a wound, which inspired courage whilst it mitigated ferocity, which ennobled whatever it touched, and under which vice itself lost half its evil, by losing all its grossness."12 Hier klingen die Leitsätze des geschichtlichen Rechtsverständnisses an: Mißtrauen gegen alles Umgestaltende und gegen abstrakte Programme, Ehrfurcht vor der gewordenen Rechtsverfassung als Ausdruck der Erfahrung, Reform statt Revolution, nationale Rechtskultur statt abstrakten Naturrechts. Burke's Schrift gewann schnell Einfluß. Erschienen 1790, wurde sie schon 1793 von Gentz ins Deutsche übersetzt. Der hannoversche Beamte und Publizist Rehberg nahm Burke's Gedanken auf; auch das Denken des Freiherrn 10

Burke, Reflections on the French Revolution (1790, zit. nach der Ausg. der Everyman's Library 1950), S. 31, 32. 11 Bttrke, aaO., S. 62. 12 Burke, aaO., S. 73.

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vom Stein ist von ihnen beeinflußt13. Später nahm der Romantiker Adam Müller (1779—1829) in seinen „Elementen der Staatskunst" (1809) Burke's Gedanken auf. Andere Hauptschriften der konservativen Staatstheorie der Zeit sind De Maistre (1753—1821; Considerations ^sur la France, 1796 — deutsch von v. Oppeln-Bronikowski, Berlin 1924) — und de Bonald (1754—1840; TheOrie du Pouvoir, 1796). Für die Mitte des 19. Jahrhunderts kommen die Schriften des spanischen Politikers Donoso Cort£s (1809—1856) und die des Deutsdien Fr. Julius Stahl (1802—1861) in Betracht. — Dagegen stellt sich die politische Theorie des Werkes, welches der Restaurationsepoche den Namen gegeben hat: K. L. v. Hallers (1768—1854) Restauration der Staatswissenschaft, 6 Bände (Bern 1816—1834), als eine Neufassung der Naturrechtslehre dar, welche die patriarchalische Abhängigkeit des Menschen zum Ausgangspunkt nimmt.

4. Burke war in erster Linie Politiker. Die wissenschaftliche Theorie der geschichtlichen Rechtswissenschaft hat, wenn auch keineswegs ohne politisches Engagement gegen die Aufklärung und die französische Revolution, Savigny formuliert. Savigny (1779—1861) ordnet das Recht zunächst in die Gesamtkultur ein. Das Recht ist Teil der Nationalkultur und damit Ausdruck des „Volksgeistes". Es gibt nicht, wie die Aufklärung meinte, ein Vernunftrecht für alle Völker und Zeiten; es gibt nur die individuellen Rechtsordnungen der einzelnen Völker mit ihrer Besonderheit. Dieses gewordene Recht gilt es zu erfassen und zu respektieren. Denn alles Recht ist das Ergebnis eines langen geschichtlichen Prozesses; es ist anders in der Jugendzeit der Völker, anders in differenziert entwickelten Kulturverhältnissen. Es entwickelt sich nicht sprunghaft, durch die Entscheidung einzelner Neuerer, sondern kontinuierlich, „organisch", wie er mit einem Lieblingswort der Zeit sagte — so wie die Sprache es tut. „Die Summe dieser Ansicht also ist, daß alles Recht auf die Weise entsteht, welche der herrschende, nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, d. h. daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch die Jurisprudenz erzeugt wird, überall also durch innere, still wirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers."14 Gutes Recht erwartet Savigny daher

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vgl. RextHS, Studien zur Staatslehre der historischen Schule. Histor. Zeitschr. 107 (1911), S. 496—539. 14 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814); Jubiläumsausgabe 1914 durch /. Stern, Thibaut und Savigny, S. 79.

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nicht von reformierender Gesetzgebung, sondern von der Tätigkeit eines wissenschaftlich gebildeten und arbeitenden Juristenstandes15. Der Rechtswissenschaft stellte Savigny zwei Aufgaben. Sie muß das Recht systematisch (philosophisch) und historisch verstehen. Die vielen Einzelformen des Rechts schließen sich jeweils zu bestimmten Instituten, wie Ehe, Eigentum, Erbgang zusammen, deren Regelung auf einfachen, im Volke lebendigen Grundanschauungen beruht. Aus diesen Ideen heraus muß die Wissenschaft die Einzelnorm interpretieren. Die Institute herauszuarbeiten, zu definieren, und in ihrem inneren Zusammenhang ein System zu erfassen, macht nun die philosophische Seite der juristischen Arbeit aus. Die Grundanschauungen, welche die Institute beherrschen, haben sich aber geschichtlich entwickelt. Ihre leitenden Ideen erschließen sich daher nur der geschichtlichen Betrachtung. Die Rechtswissenschaft wird sie in ihrer historischen Entfaltung verfolgen und damit zugleich ihr Wesen erkennen; denn die Betrachtung der Entwicklung wird deutlich machen, was an einem Institut abgestorben, was andererseits noch lebendig und wirksam ist16. Die historische Betrachtung liefert die Grundlage für die systematische. Es ist also eine besondere Art der Geschichtsforschung, die Savigny im Auge hat: es ist Ideengeschichte, nicht die Geschichte von Kämpfen um Ideen und Interessen. Das hat die Kritik der soziologischen Schule später mit Recht herausgearbeitet. Trotz dieser Einseitigkeiten ist die historische Rechtsschule nicht nur der entwicklungsmäßige Ausgangspunkt, sondern auch heute noch die Grundlage der kulturwissenschaftlichen Auffassung vom Recht und einer als Geisteswissenschaft verstandenen Rechtswissenschaft17. Dieser Ansatz ist in der Rechtsphilosophie des späteren 19. Jahrhunderts weiter entwickelt worden18 und wird in wesentlich vertiefter Form als Theorie des Rechts im Rahmen der Gesamtkultur auch in der Rechtsphilosophie der Gegenwart vertreten. Hier sind vor 15

Dazu jetzt die neue Savigny-Auffassung bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967), S. 381 ff.; audi Going, Savignys rechtspolitische und methodische Anschauung in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige deutsche Rechtswissenschaft; Ztschr. des Bernischen Juristen Vereins, 91. Jahrg. (1955), S. 329 ff. 16 Savigny, a.a.O., S. 78 f., System des heutigen Römischen Rechts I (1840), S. 90 ff., 94. 17 Stellungnahme zur historischen Rechtsschule unten Kap. III Abschn. II. 5. 18 Ich nenne hier etwa die rechtsphilosophischen Bemühungen Joseph Kohlers.

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allem zwei große Reditsphilosophen Lateinamerikas zu nennen: Miguel Reale und Luis Recasens Sidies, welche historisch-soziologische und wertphilosophische Betrachtungsweise verbinden19. 5. Zur selben Zeit, in der sich in Deutschland das historische Denken entwickelt, entsteht im Anschluß an die Philosophie Kants die spekulative Philosophie des deutschen Idealismus. Aus ihrem Bereich soll hier kurz auf die Rechtslehre Hegels (1770—1831) eingegangen werden. Hegel lehrt eine Philosophie des Geistes. Es ist der Geist, der die Wirklichkeit der natürlichen, gesellschaftlichen und geistigen Welt bestimmt. Aber diesen die Welt bestimmenden Geist sieht Hegel nicht in einem ruhenden Kosmos der Ideen, wie Platon; vielmehr wird die Welt als Bewegung und der Geist im Prozeß der Selbstentfaltung begriffen. Die Einheit des Geistes bleibt trotz dieser Annahme seiner Bewegung, seines Werdens, dadurch gewahrt, daß jede einzelne Phase der Entwicklung als das Erscheinen eines Momentes des einheitlichen Geistes aufgefaßt wird. Die in ihm liegenden Gehalte verwirklichen sich in der Zeit; darum ist alles Bewegung, und doch alles zugleich aufeinander bezogen und in einer letzten Einheit zusammengehalten. Denn eben da alles Wirkliche in dieser Form Manifestation des Geistes ist, sind alle Phänomene miteinander verbunden und, als Manifestation des Weltgeistes, letztlich identisch. Ein solches Aufeinanderbezogensein besteht insbesondere auch zwischen erkennendem Subjekt und Objekt; ihre Einheit erscheint in dem gewonnenen „Begriff". Da der Weltprozeß die sich entfaltende Vernunft ist, bezeichnet Hegel die Wissenschaft, in welcher dieser Prozeß erkennend erfaist wird, als Logik. „Die Logik fällt daher mit der Metaphysik zusammen, der Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt, welche dafür galten, die Wesenheiten der Dinge auszudrücken."20 .. . „Die Logik bestimmte sich danach als die Wissenschaft des reinen Denkens, die zu ihrem Princip das reine Wissen habe, die nicht abstrakte, 19

Hauptwerke: M. Reale, Filosofia do direito (Sao Paulo 1953, 2. Aufl. 1962; italienische Übersetzung von Bagolino-Ricci, Filosofia del diritto, Turin); L. Recasens Siebes, Vida Humana, Sociedad y Derecho (Mexiko 1939, 3. Aufl. 1952; engl. Übersetzung von G. Ireland, Human Life, Society and Law in: Fundamentals of the Philosophy of the Law, 1948); Kurze Ubersiditen in Recasens Siches, Panorama del Pensamiento juridico en el Siglo XX (Mexiko 1963) Kapitel 26 und 28. 20 Hegel, System der Philosophie (Ausgabe Glockner 4. Aufl. 1964 Band 8), S. 83.

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sondern dadurch konkrete lebendige Einheit, daß in ihr der Gegensatz des Bewußtseyns von einem subjektiv-für sich Seyenden und einem zweiten solchen Seyenden, einem Objektiven, als überwunden, und das Seyn als reiner Begriff an sich selbst, und der reine Begriff als das wahrhafte Seyn gewußt wird. Dies sind sonach die beiden Momente, welche im Logischen enthalten sind. Aber sie werden nun als untrennbar seyend gewußt, nicht wie im Bewußtsein jedes auch als für sich seyend; dadurch, allein, daß sie zugleich als unterschiedene (jedoch nicht für sich seyende) gewußt werden, ist ihre Einheit nicht abstrakt, todt, unbewegend, sondern konkret."21 .. . „Die Logik zerfällt in drei Theile: L In die Lehre von dem Seyn. II. Die Lehre von dem Wesen. III. Die Lehre von dem Begriffe und der Idee. Nämlich in die Lehre von dem Gedanken: I. In seiner Unmittelbarkeit, — dem Begriffe an sich. II. In seiner Reflexion und Vermittlung, — dem Fürsichseyn und Schein des Begriffes. III. In seinem Zurückgekehrtseyn in sich selbst und seinem entwickelten Bei-sich-seyn, dem Begriffe an und für sich."22 Logik bedeutet also für Hegel mehr als die traditionelle Lehre vom Begriff, Urteil und Schluß (sogen, formale Logik); sie ist Metaphysik und Erkenntnistheorie in eins23. Hegel hat die traditionelle Logik scharf kritisiert, weil sie dem inneren Zusammenhang der Dinge nicht gerecht werde, vielmehr bei der Bildung von Urteilen und Begriffen, indem sie auf das Vorhandensein einer einzigen isolierten Eigenschaft abstelle, diesen Zusammenhang zerreiße. Es sei z.B. falsch, die Sätze „Alle Menschen sind lebendig" und „Alle Menschen sind sterblich" als isolierte aufzustellen: da doch das Wesen des Lebendigen gerade in der Sterblichkeit alles Lebendigen beschlossen sei. Dem Allzusammenhang der Erscheinungen wie der Erkenntnisse sucht Hegel demgegenüber mit dem Verfahren der „Dialektik" gerecht zu werden. Danach vollzieht sich die Entfaltung der sich verwirklichenden Vernunft wie diejenige des Denkens, die ihr folgt, in jeweils drei Schritten: Einer These tritt eine Gegenthese gegenüber; diese ist die Negation der ersten These — aber eben als solche bleibt sie 21

Hegel, Wissenschaft der Logik (Ausgabe Glockner, 3. Aufl. 1958 Band 4), S. 60. 22 Hegel, System der Philosophie, aaO., S. 198, 199. 23 Zum Verhältnis zur formalen Logik vgl. etwa Scholz, Geschichte der Logik (1931), S. 14 ff. und die (zu summarische) Bemerkung bei Kneale, Development of Logic (2. Aufl. 1964), S. 355.

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auf jene bezogen. Aus dem Widerstreit dieser beiden Thesen entsteht dann die Synthese, welche die beiden Thesen vereinigt und deren Elemente in sich aufnimmt („aufhebt"). Die Synthese kann auch als „Negation der Negation" bezeichnet werden, insofern sie die Kritik der Antithese überwindet. Die drei Schritte dieser „dialektischen Triade" stehen nicht unvermittelt nebeneinander, sondern rufen einander hervor: jeder Begriff setzt sein Gegenteil (Antithese) bereits voraus, so das Sein das Nichts; die These schlägt in die Antithese um. Und die Synthese vereinigt in sich die Momente von These und Antithese: sie hebt sie in sich auf. So das „Werden" das „Sein" und das „Nichts". „Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet, und zugleich so viel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Daseyn entnommen wird, um es zu erhalten. — So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist. —"24 Gerade darin, daß die These die Antithese hervorruft und die Synthese beide „aufhebt", kommt der Allzusammenhang der Erscheinungen zum Ausdruck, die ja alle eben nur Momente des einen Geistes sind — jener Zusammenhang, den die traditionelle Logik zerreißt. „Das dialektische Moment ist das eigene Sich-Aufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzte."25 Entsprechend seiner metaphysischen Grundansicht ist die Dialektik nicht nur ein Prinzip der Erkenntnis, sondern auch dasjenige der natürlichen und geistigen Entwicklung. „Weiter macht sich nun auch die Dialektik in allen besonderen Gebieten und Gestaltungen der natürlichen und der geistigen Welt geltend. So z. B. in der Bewegung der Himmelskörper. Ein Planet steht jetzt an diesem Ort, ist aber an sich, dieß auch an einem ändern Ort zu seyn, und bringt dieß sein Andersseyn zur Existenz dadurch, daß er sich bewegt. Eben so erweisen sich die physikalischen Elemente als dialektisch und der meteorologische Proceß ist die Erscheinung ihrer Dialektik. Dasselbe Princip ist es, welches die Grundlage aller übrigen Naturprocesse bildet und wodurch zugleich die Natur über sich selbst hinausgetrieben wird. Was das Vorkommen der Dialektik in der geistigen Welt, und näher auf dem Gebiet des Rechtlichen und 24 25

Hegel, Wissenschaft der Logik, aaO., S. 120. Hegel, System der Philosophie, aaO., S. 189.

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Sittlichen anbetrifft, so braucht hier nur daran erinnert zu werden, wie, allgemeiner Erfahrung zufolge, das Äußerste eines Zustandes oder eines Thuns in sein Entgegengesetztes umzuschlagen pflegt, welche Dialektik dann auch vielfältig in Sprüchwörtern ihre Anerkennung findet. So heißt es z. B. summum jus summa injuria, womit ausgesprochen ist, daß das abstrakte Recht auf seine Spitze getrieben in Unrecht umschlägt. Eben so ist es bekannt, wie im Politischen die Extreme der Anarchie und des Despotismus einander gegenseitig herbeizuführen pflegen. Das Bewußtseyn der Dialektik im Gebiet des Sittlichen in seiner individuellen Gestalt finden wir in jenen allbekannten Sprichwörtern: Hochmuth kommt vor dem Fall. Allzuscharf macht schartig usw."26 In den Rahmen dieser Gesamtanschauung wird nun auch die Betrachtung des Rechtes gestellt. Das Recht ist objektiver Geist, d. h. ein Bestand an überindividuellen, einer Gruppe gemeinsamen Gedanken, der Gemeingeist eines Volkes. Sein Kern ist die Idee der Freiheit. Im Recht und seiner Geschichte verwirklicht sich die Idee der Freiheit; das Rechtssystem ist das „Reich der verwirklichten Freiheit".27 Die Freiheitsidee entfaltet sich in den drei Stufen der Legalität, Moralität und der Sittlichkeit. Die Stufe der Legalität bezeichnet Hegel als diejenige des „abstrakten oder formellen Rechts".28 Der Einzelne weiß sich hier als frei, als Person. Das Recht erkennt ihm Rechtspersönlidikeit und Rechtsfähigkeit zu; es gilt der Grundsatz: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen."29 Indem der freie Mensch seinen Willen in Gegenstände der Natur legt (Okkupation und Gebrauch), entsteht Eigentum, welches das Recht schützt; indem er mit ändern tauscht, entstehen Verträge. Die Stufe der Moralität wird bestimmt durch die Anerkennung der moralischen Persönlichkeit des einzelnen, der Motive und Gesinnungen, aus denen er handelt. „Der Begriff des Mora2e

Hegel, System der Philosophie, aaO., S. 193, 194. Zur gegenwärtigen Auseinandersetzung um das dialektische Denken vgl. etwa einerseits Popper, Was ist Dialektik? in: Logik der Sozialwissenschaften (4. Aufl. 1967), S. 262ff., andererseits Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, ebenda, S. 291 ff., bei der Habermas vor allem hervorhebt, daß die dialektische Methode es gestatte, das Aufeinanderbezogensein der einzelnen Positionen wie auch des Forschers und seines Objektes in den Sozialwissenschaften adäquat zum Ausdruck zu bringen. 27 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Ausg. Glockner 4. Aufl. 1964, Band 7), S. 50. — Zum Begriff der Wirklichkeit als Einheit von „Wesen" und Existenz vgl. Hegel, System der Philosophie, aaO., S. 319. 28 Zum Begriff des „Abstrakten", des „An-sich-Seins" bei Hegel vgl. System der Philosophie, aaO., S. 218; des „Für-sich-Seins" ebenda, S. 227. 29 Hegel, aaO., S. 91.

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lisdien ist das innerliche Verhalten des Willens zu sich selbst."30 Rechtlich folgt aus dieser Anerkennung z.B.: der Schutz der Gewissensfreiheit; das Recht des einzelnen, seine Glückseligkeit zu suchen; die Anerkennung des Schuldprinzips dahin, daß dem einzelnen nur seine vorsätzlichen Handlungen zugerechnet werden; die Forderung der Fähigkeit, das Rechtswidrige eines Tuns einzusehen, als Voraussetzung der Strafe. — Die Stufe der „Sittlichkeit" ist dadurch bezeichnet, daß der einzelne als Person über die Verfolgung seiner persönlichen Ziele hinaus allgemeine sittliche Mächte in seiner Tätigkeit verwirklicht: Dies geschieht wiederum in drei Stufen dadurch, daß der einzelne in und für soziale Gemeinschaften lebt und tätig ist: in der Familie, in seiner Berufsarbeit, in der bürgerlichen Gesellschaft und ihren einzelnen Berufsständen, und schließlich und vor allem als Bürger und Diener des Staates. Denn der Staat, d. h. der Kulturstaat seiner Zeit, ist Hegel die „Wirklichkeit der sittlichen Idee" in ihrer Totalität.31 „Der Staat an und für sich ist das sittliche Ganze, die Verwirklichung der Freiheit."82 Als Mitglied des Staates wächst der einzelne über sich hinaus und erhebt sich zum Allgemeinen. Unter den einzelnen Staaten gibt es in jeder Epoche einen führenden Staat; in ihm kommt der sich entwickelnde Weltgeist zur Existenz. Daher sind auch die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Staaten, die Hegel bejaht, Ausdruck der Entwicklung des Weltgeistes, und seiner Grundthese von der Vernünftigkeit der Geschichte entsprechend gibt Hegel dem Satz, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei, eine letzte philosophische Bedeutung38.

VI. Im 18. und 19. Jahrhundert gelingt es in der damals neuen Wissenschaft der Nationalökonomie zum ersten Mal, Gesetzmäßigkeiten im wirtschaftlichen Geschehen festzustellen und das Verhalten des Menschen im Wirtschaftsprozeß zu analysieren1. Mit dieser Entdeckung mußte für die Rechtsphilosophie die Frage entstehen, in welcher Beziehung die ökonomischen Verhältnisse und Bestrebungen zur Rechtsordnung standen. Diese Frage fand ihre Antwort in zwei Gruppen von Theorien: in der soziologischen oder InteressenJurisprudenz und in der Philosophie von Karl Marx. 1. Die Interessenjurisprudenz hat ihren letzten Ursprung in Eng30

Hegel, aaO., S. 170. 32 Hegel, aaO., S. 328. Hegel, aaO., S. 333. 33 Hegel, aaO., S. 446, Stellungnahme zu Hegels Auffassung vom Staate unten Kap. IV Absdm. V Ziffer 2. 1 Die „klassisdie" Schule der Nationalökonomie entsteht um 1800. A. Smith's „Wealth of Nations" erschien 1776, Ricardos „Principles of Political Economy and Taxation" 1817. 81

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land, in den ethischen Lehren von Jeremy Bentham (1748—1832) und seinen Schülern, den sogen. »Utilitarians"2. Bentham's Ethik beruht auf dem sogen. Lustprinzip; sie gründet sich auf den Gedanken, daß der Mensch Lustgefühle erstrebt und Unlust zu vermeiden trachtet und dadurch in seinen Handlungen bestimmt ist. „Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. It is for them alone to point out what we ought to do, as well as to determine what we shall do3." Als ethisch wertvoll betrachtet Bentham Handlungen, die in vernünftiger Weise und im größten Maß Lust (pleasure) fördern und Unlust vermeiden. „Ethics at large may be defined the art of directing man's action to the production of the greatest possible quantity of happiness, on the part of those whose interest is in view."4 Nach diesem Prinzip wird es für die Beurteilung menschlicher Handlungen häufig notwendig sein, abzuwägen, ob sie im Endergebnis mehr Lust oder mehr Unlust hervorrufen. Das ethische Urteil erfordert also eine „Interessenabwägung"5. Um sie zu ermöglichen, arbeitet Bentham eine Reihe von Kategorien heraus. Bei Beurteilung von Lust und Unlust ist z.B. in Betracht zu ziehen: die Intensität der Lust- bzw. Unlustgefühle, ihre Dauer, die Gewißheit ihres Eintretens, ihre „Reinheit" (purity), d. h. die Sicherheit, daß ursprünglich gegebene Lust nicht später von Unlustgefühlen gefolgt wird, — aber auch 2

Hauptschrift: The Principles of Morals and Legislation, deren erster und zunächst einzig veröffentlichter Teil 1789 erschien. Der zweite Teil ist erst viel später aufgefunden und 1945 von Everett unter dem Titel „The limits of jurisprudence defined" veröffentlicht worden. Inzwischen wurden Bentham's Gedanken durch einen Schweizer Anhänger, den Genfer Dumont, verbreitet, der Bentham's Aufzeichnungen bearbeitete und übersetzte: Traites de legislation civile et penale (1802), Theorie des peines et des recompenses (1812). Zum Verhältnis von Dumonts Text zu Bentbams eigenem vgl. Baumgardt, „Bentham and the Ethics of to-day" (1952), S. 321 ff. mit weiteren Nachweisen. 3 Bentham, Principles of Morals and Legislation, nach der Gesamtausgabe von Bowring (ursprüngl. 1838/1843; Reprint 1962), S. 1. 4 Das Interesse einer Person wird nach Bentham gefördert, wenn etwas die Gesamtsumme ihrer Lust, „the sum total of his pleasure", erhöht, aaO., S. 2 Note. 5 Dieses Wort stammt in der Tat von Benthams deutschem Übersetzer Beneke.

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ihre Ausdehnung (extent), d. h. die Zahl der Personen, bei denen Lustgefühle hervorgerufen werden6. Auf dieser Grundlage entwickelt Bentham nun ein Grundprinzip, das sowohl für die Individualethik wie für die Gesetzgebung, also für das Recht, gültig ist. Eine Handlung ist dann richtig, ein Gesetz dann gerecht, wenn es das größte Glück der größten Zahl von Personen befördert (sogen. Utility-principle). „By the principle of utility is meant that principle which approves or disapproves of every action whatsoever, according to the tendency which it appears to have to augment or diminish the happiness of the party whose interest is in question."7 Handelt es sich um ein Gesetz, so müssen die Interessen aller einzelnen Mitglieder der Gesellschaft in Rechnung gestellt werden. Weder Bentham noch seine Nachfolger haben das „Utility-principle" auf die Beförderung materieller Interessen beschränken wollen. Aber gerade in seiner Anwendung auf Recht und Gesetzgebung mußte die damit entwickelte Fragestellung dahin führen, nach den Machtund Wirtschaftsinteressen zu fragen, die hinter den einzelnen Rechtsnormen standen, die einzelnen Rechtsregeln als Ausdruck solcher Interessen oder als Kompromiß zwischen widerstreitenden Interessen zu sehen, und als Prinzip der Gesetzgebung und Rechtsprechung den Grundsatz aufzustellen, daß möglichst vielen Interessen Raum zu gewähren sei — jedenfalls dann, wenn nach dem Prinzip der Interessenabwägung keine überwiegenden „Gegeninteressen" erkennbar seien. Das aber sind die wesentlichen Grundsätze der soziologischen oder Interessen Jurisprudenz8. Bentham ist damit der Urheber einer der einflußreichsten reditsphilosophisdien Sdiulen der Neuzeit geworden. Über seine unmittelbaren Sdiüler, die britischen „Utilitarians", vor allem J. St. Mill (1806—1873) hinaus, haben seine Gedanken einen großen Einfluß auf die moderne amerikanische Rechtswissenschaft gewonnen, z. B. auf Roscoe Pound 8 und den amerikanischen Realismus10; aber auch die deutsche Interessenjurisprudenz, die ihrerseits eine

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7 vgl. aaO., S. 16 Bentham, aaO., S. 1. 8 Stellungnahme zu Bentham unten Kap. II Absdm. III, S. 110. 9 vgl. dazu etwa dessen Buch „Social Control through Law" (1942). 10 Dazu vgl. Going, Neue Strömungen in der nordamerikanischen Rechtsphilosophie, Archiv f. Rechts- u. Sozialphilosophie, 38. Bd. (1949/1950), S. 536 ff., insbes. S. 546 ff.; ders., Benthams Bedeutung für die Entwicklung der Interessenjurisprudenz und der allgemeinen Rechtslehre, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 54. Bd. (1968), S. 69 ff.

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weite Wirkung entfaltet hat, geht über Ihering (1818—1892), der auf Bentham in seinem „Zweck im Recht" zurückgriff, auf ihn zurück11. Dazu kommt noch, daß Bentham außerdem auch die Grundgedanken der sogenannten „Allgemeinen Rechtslehre" entwickelt hat, die sein Schüler Austin zuerst ausgeführt hat12.

2. Während die Utilitaristen die Bedeutung ökonomischer Interessen für das Recht im Einzelfall und im Rahmen einer allgemeinen Interessenprüfung würdigten, formuliert Marx (1818—1883)13 die Beziehungen in einer umfassenden Kultur- und Gesdiichtsphilosophie. Darin schließt er sich an Hegel an. Aber während Hegel die Geschichte als Selbstbewegung des Geistes konstruiert, sieht Marx den entscheidenden Faktor in der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse. Denn die ökonomische Position des Menschen bestimmt — das ist seine Hauptthese — sein Bewußtsein, sein Denken, seinen Geist. Das Verhältnis zwischen Geist und Ökonomie, zwischen Wirklichkeit und Vernunft ist genau umgekehrt als Hegel es gesehen hatte. Das ist die kopernikanische Wendung, die Marx vollzieht. Marx hat seine Lehre selbst in unnachahmlicher Kürze und Plastik im Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie" (1859) zusammengefaßt: „Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab, und einmal, gewonnen, meinem Studium zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die 11

Über „Zweck im Recht" urteilt Jodel, es sei „Deutscher Benthamismus", Geschichte der Ethik (1965) II, S. 922. 12 Dazu vgl. unten Abschn. VIII. 3 a. Über Austins Mitgliedschaft in einem Kreis jüngerer Leute um Bentham vgl. die Schilderung dieses Kreises bei /. St. Mill, Autobiography (1873, dt. Übersetzung 1874). 18 Biographie: v, Mehring, Karl Marx, Geschichte seines Lebens (Band 3 Gesammelte Schriften 1960).

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materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, oder was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewußt werden und ihn ausfechten. So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann ... In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses... Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab."13a Für die Auffassung des Rechts werden damit die folgenden Thesen aufgestellt: a) Das gesellschaftliche Sein des Menschen bestimmt sein Bewußtsein. Damit ist die idealistische Auffassung des Rechts nicht nur Hegels, sondern auch etwa der stoischen Naturrechtslehre abgelehnt. b) Das gesellschaftliche Sein wird bestimmt durch die Produktionsverhältnisse, d. h. die Verhältnisse, die aus der Organisation der Produktion entstehen. Unter ihrem Einfluß bildet sich das menschliche lsa

Hervorhebung von mir.

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Bewußtsein: die Ideen über Religion und Recht, Sittlichkeit und Kunst. Sie sind, bildlich gesprochen, ein „Überbau", der sich auf dem Fundament der ökonomischen Verhältnisse erhebt. c) In der „Vorgeschichte der Menschheit", d. h. vor Herstellung des Sozialismus, entsteht aus den Produktionsverhältnissen, jedenfalls in den höheren Kulturformen, eine Klassenherrschaft, weil ein Teil der Gesellschaft das Monopol an den notwendigen Produktionsmitteln erwirbt und behält. Im Feudalismus herrscht die Klasse der Grundeigentümer, im bürgerlichen Kapitalismus Grundbesitzer und Kapitalisten. Diese Klassenherrschaft ermöglicht die Ausbeutung der Arbeiter. „Überall, wo ein Teil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muß der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung notwendigen Arbeitszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen, um die Lebensmittel für den Eigner der Produktionsmittel zu produzieren, sei dieser Eigentümer nun atheniensischer , etruskischer Theokrat, civis romanus, normannischer Baron, amerikanischer Sklavenhalter, walachischer Bojar, moderner Landlord oder Kapitalist."14 Für das kapitalistische Zeitalter vollzieht sich die Ausbeutung insbesondere in der Form, daß der Unternehmer den „Mehrwert", d. h. den Wert, den der einzelne Arbeiter dadurch schafft, daß er länger arbeiten muß, als es — grob gesprochen — für seinen und seiner Familie Lebensunterhalt nach der gegebenen Produktionsweise notwendig wäre (= gesellschaftlich notwendige Arbeit)15, sich aneignet. Die Rechtsordnung ist Ausdruck der jeweiligen Klassensituation; sie ist von den Interessen der jeweils herrschenden Klasse geprägt und unterdrückt die Ausgebeuteten. Wie die Geschichte selbst durch den Antagonismus der Klassen, den Klassenkampf, bestimmt ist, ist auch die Rechtsordnung ein Instrument in diesem Kampf. d) Marx nimmt an, daß sich die Geschichte notwendig in bestimmten strukturierten Epochen auf ein letztes Ziel hin entwickelt. Jede Einzelepoche empfängt ihre Grundstruktur von einer Produktionsweise (Art und Weise, wie der Mensch die für ihn notwendigen Güter hervorbringt), und zwar von derjenigen, welche in ihr vorherrscht, mögen sich daneben auch einzelne andere finden. „In allen Gesell14

Marx, Das Kapital I (Ausgabe Lieber 1962 Band 4), S. 247. vgl. Marx, aaO. insbes. Kapitel 6—8. Zu den nationalökonomischen Lehren von Marx vgl. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Deutsche Ausgabe 1950) 3. Kapitel. 15

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Schaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch· allen übrigen, Rang und Einfluß anweist."16 So herrscht z. B. in der Feudalzeit die mit der Grundherrschaft verknüpfte Naturalwirtschaft und die Handwerkerproduktion vor, obwohl in ihr auch schon der Kapitalist als Geldverleiher und Kaufmann vorkommt. Die Produktionsverhältnisse — und damit der Überbau — entwickeln sich gesetzmäßig. Für die Entwicklung nimmt Marx an, sie erfolge „dialektisch", d. h. jede Produktionsweise entfaltet sich bis zu einem Punkt, in dem sie in ihr Gegenteil umschlägt. So wird der auf dem Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgebaute Kapitalismus eines Tages notwendig in den Sozialismus umschlagen; Eigentumsverhältnisse und Produktionsweise werden dann in Harmonie sein: der gemeinschaftlichen Produktionsweise, die im kapitalistischen Großunternehmen ausgebildet worden ist, wird gemeinschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln entsprechen: die Trennung des arbeitenden Menschen von den Produktionsmitteln wird aufgehoben sein. Freilich' sieht Marx den Gang der Geschichte nicht in dem Sinne als notwendig an, daß jede Einwirkung durch menschliches Handeln ausgeschlossen wäre17. Die Entwicklung kann beschleunigt oder retardiert werden. Auch die Uberbaulehre darf nicht vollkommen schematisch verstanden werden. Es gibt Stellen, in denen rechtlichen Institutionen eine steuernde Wirkung für die Produktionsweise zuerkannt wird. So verhindern die Zunftordnungen, daß die an sich vorhandenen Kapitalisten sich der Produktion bemächtigen18, und die englischen Arbeiterschutzgesetze erscheinen als „bewußte und planmäßige Rückwirkung auf die naturwüchsige Gestalt" des Produktionsprozes-

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Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (vor 1859; Ausgabe Lieber Band 6), S. 713—833 (826). 17 Dies tritt besonders in der Schilderung der Epoche, in der in England die Voraussetzungen für den Kapitalismus geschaffen wurden, die sogen, ursprüngl. Accumulation, am Ende des I.Bandes des Kapitals hervor, macht aber vor allem die Rolle, die Marx dem revolutionären Handeln zuweist, das Ineinandergreifen von theoretischer Analyse u. Aktion, erst verständlich. Zu letzteren vgl. die Schilderung der „Realdialektik" bei K. Mannheim, Ideologie und Utopie (3. Aufl. 1952), S. 110. 18 vgl. Marx, Kapital I (Ausg. Lieber Bd. 4), S. 911.

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ses19. Freilich können sie gegen den notwendigen Entwicklungsgang der Produktionsweisen keine dauernde Wirkung erzielen20. 3. Mit der Gesdiichtstheorie des Marxismus hängt die Lehre von der „Ideologie" zusammen. Das Wort bedeutet ursprünglich einfach „science des idees", Wissenschaft von den Gedanken oder Vorstellungen und bezeichnet um 1800 eine philosophische Schule in Frankreich. Napoleon, der diese Schule ablehnte, gab dem Wort „Ideologue" zuerst einen abwertenden Sinn21. Bei Marx bezeichnet Ideologie diejenigen religiösen oder sozialphilosophischen Lehren, mit denen die herrschende Klasse die bestehenden Rechts- und Herrschaftsverhältnisse rechtfertigt, insbesondere wenn sich neue Produktionsverhältnisse entwickelt haben, so daß ein Umschwung bevorsteht. Die Ideologie ist also eine Lehre, die dem Stand der ökonomischen Entwicklung bereits nicht mehr entspricht; sie entspringt daher einem „falschen" Bewußtsein von der geschichtlichen Situation. Der moderne Gebrauch des Wortes geht von dem allgemeinen Grundgedanken aus, den Marx formuliert hat, nämlich daß das Denken des Menschen von seiner gesellschaftlich-ökonomischen Situation, seinem gesellschaftlichen „Sein" — auch gegen seinen Willen — beeinflußt wird; ideologisch ist daher jede Lehre, die, dem Urheber unbewußt, aufgestellt oder festgehalten wird, obwohl sie der Wirklichkeit der Verhältnisse nicht entspricht, weil —objektiv gesehen — diese Lehre den Interessen des Urhebers oder seiner gesellschaftlichen Gruppe zu dienen geeignet ist. Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge ist die sogen. „Ideologiekritik"22.

VII. 1. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende tritt eine entscheidende Änderung in der Vorstellung vom Menschen ein. Die neuen Vorstellungen kommen zunächst aus der Biologie. Zwei Jahrtausende hatten den Menschen in Philosophie und Religion als Geistwesen und Ebenbild Gottes den Tieren gegenübergestellt. Nun ordnete Darwin's Theorie über die Entstehung der Arten — erschienen 1859 — ihn konsequent in das Tierreich ein; zugleich erklärte er die Verschiedenheit der Arten durch die Theorie, daß im Daseinskampf nur die jeweils am besten angepaßten Individuen überlebten (sogen, „survival of the fittest"), eine Theorie, die nicht ohne Auswirkung auf die Moral bleiben konnte. Ferner fallen

» Marx, aaO., S. 564. vgl. dazu etwa die Bemerkungen über die Wirkung der Bodcngesetzgebung in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (Ausgabe L/e&er, Band 6), S. 815/816. 21 vgl. zur Bedeutungsgeschichte des Wortes H. Bartb, Wahrheit und Ideologie (1961) Kap. I. 22 vgl. K. Mannheim, Ideologie und Utopie (3. Aufl. 1952). 20

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die ersten Entdeckungen auf dem Gebiete der Vererbungslehre in diese Zeit1. In den Jahren 1853 bis 1855 veröffentlichte Graf Gobineau (1816 bis 1881) seinen „Essai sur l'in£galit£ des races humaines". Gobineau stellt sich die Frage nach der Ursache des Kulturzerfalls. Seine Antwort ist: die Degeneration der Rasse, welche die betreffende Kultur begründet hat. Die Rassen sind Menschengruppen, die auf der Grundlage der Vererbung gleiche körperliche und geistige Merkmale aufweisen. Die Rassen sind — wahrscheinlich vom Ursprung her — verschieden2. Die liberalen Dogmen von Gleichheit und Brüderlichkeit sind falsch3. Die weiße Rasse ist die eigentlich „überlegene": „Toute civilisation decoule de la race blanche"4. Damit waren die entscheidenden Ideen der Rechtsauffassung der Aufklärung in Frage gestellt. 2. Aber auch· in der philosophischen und empirischen Psychologie setzen sich umstürzend neue Anschauungen durch. Sie führen zu einem tiefen Zweifel an der Herrschaft des Verstandes — oder gar des Geistes — im Menschen und zu der Tendenz, diejenigen Eigenschaften des Menschen, die man bisher als die höheren und Kultur begründenden, die eigentlich menschlichen betrachtet hatte, seine Fähigkeit zur Güte, zur Selbstbescheidung, zur Sympathie, zur Einordnung in die Gesellschaft im Wege einer Art Reduktion auf primitive Triebstrukturen zurückzuführen. Schon Schopenhauers (1788—1860) Philosophie hatte den blinden Lebenswillen zum eigentlichen Kern des Menschen wie der Welt erklärt5. Nietzsche (1844—1900) erklärt die christliche Ethik, die Demut, die Nächstenliebe, die Ablehnung von Rache und Gewalt aus dem Ressentiment der wehrlosen Unterdrückten, die damit die Werte der herrschenden Schicht — Tapferkeit, Vornehmheit — abwerten, um so das eigene Sein als das wahrhaft Wertvolle zu erweisen; die christlichen Lehren sind für ihn nur das Ergebnis eines „SklavenaufStandes in der Moral"6. Er selbst sieht im Willen zur Macht den eigentlich bestimmenden Faktor der menschlichen Seele. „Die gesamte Psychologie" — sagt 1

Gregor Mendel veröffentlicht seine Ergebnisse 1865—1869. vgl. Gobineau, Essai sur l'inegalite des races humaines (2. Aufl. 1884) I Kap. X, S. 106 ff. 3 4 Gobineau, aaO., S. 36 f. Gobineau, aaO., S. 220. 5 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, erschienen 1818, aber wirksam werdend erst seit etwa 1860. 6 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887). 2

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Nietzsche in „Jenseits von Gut und Böse" (1885) — „ist bisher an moralischen Vorurteilen und Befürchtungen hängengeblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zu fassen, wie ich sie fasse — daran hat noch niemand in seinen Gedanken selbst gestreift .. ."7 Und was das Denken angeht, so fällt im gleichen Werk die Bemerkung: „Das Denken ist nur ein Verhalten dieser (sei. „unserer") Triebe zueinander."8 Etwas später entwickelt Freud (1856—1939) die Psychoanalyse. Er sieht diese bestimmende Kraft zunächst im Sexualtrieb9. Damit war ein völlig neues Bild vom Menschen entwickelt. Diese Veränderung betraf vor allem die Grundlagen der Moral und der Ästhetik, die Werte. Für die klassische Philosophie des Altertums wie des Mittelalters gründeten sie in der Vernunft; diese Lehre hatte Kant und ihm folgend die deutsche idealistische Philosophie in neuer Gestalt vorgetragen. Für die Aufklärungsphilosophie war die Moral jedenfalls ein Ergebnis verständiger Schlußfolgerung aus der Analyse des Menschen und seiner Lebenssituation. Jetzt schienen die Wertungen des Menschen dagegen ihre Quelle in dunklen, schwer zu durchleuchtenden Trieben und Willensrichtungen des menschlichen Wesens zu haben; sie schienen auf dunklen, irrationalen Gefühlen zu beruhen und damit der rationalen Begründung und Durchdringung, der wissenschaftlichen Behandlung unzugänglich zu sein10. 3. Diese neuen Lehren haben nicht zu umfassenden rechtsphilosophischen Systemen geführt, die sich denen von Marx oder Savigny vergleichen ließen, aber sie haben das rechtsphilosophische und juristische wie das politische Denken vielfältig beeinflußt. Die Auswirkungen auf das politische Denken waren am nachhaltigsten. Eine sehr vergröberte und unwissenschaftliche Rassentheorie, die der sogen, „nordischen" Rasse alle guten Eigenschaften zuschrieb11, der sogen, jüdischen alle schlechten, ist ebenso wie der Gedanke des 7

Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1885) Nr. 23. Nietzsche, aaO. Nr. 36. 9 In seinen späteren Schriften ist Freud davon ausgegangen, daß außer und neben dem Sexualtrieb ein „Todestrieb" als psychologischer Faktor anzunehmen sei. 10 Stellungnahme unten Kap. II Absdin. III, S. 106 ff. 11 vgl. H. St. Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts (1899); L. F. Clauss, Rasse und Seele (17. Auflage 1941); Günther, Der 8

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Lebenskampfes und des „survival of the fittest" eine der Grundlagen des deutschen Nationalsozialismus gewesen; der Rassengedanke bestimmte seine Gesetzgebung; ihm entsprang der entsetzliche Entschluß, die angeblich minderwertige jüdische Rasse auszurotten und damit Millionen unschuldiger Menschen zu töten. Im Bereich der Rechtstheorie hat sich der Voluntarismus und der Zweifel an der Kraft der Vernunft, vor allem bei der theoretischen Auffassung der richterlichen Entscheidung und ihres Verhältnisses zum Gesetz ausgewirkt. Wenn die Entscheidungen des Menschen nicht von der Vernunft, sondern von irrationalen Gefühls- und Willenskräften gesteuert sind, wie kann dann die richterliche Entscheidung als einfache Anwendung des Gesetzes aufgefaßt werden? Es ist sicher kein Zufall, daß am Ende des 19. und am Beginn unseres Jahrhunderts Theorien entstehen, die eine effektive Bindung des Richters an die rechtliche Norm leugnen und die richterliche Entscheidung als intuitiven, letztlich irrationalen Akt auffassen. Das haben in Amerika Oliver W. Holmes (1841—1935) und die sogen. „Realisten"12 getan, in Deutschland die radikalen Vertreter der Freirechtsschule13. Die Rechtsnorm ist dann nur noch der Niederschlag der Entscheidungen oder — noch radikaler — nur eine Vermutung darüber, wie Richter künftig entscheiden werden. „Das Recht wird nicht durch die Gesamtheit der Normen, sondern durch die Gesamtheit der Entscheidungen dargestellt" sagt Isay, ein später, aber radikaler deutscher Freirechtler14. „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law" definiert Holmes15. Rassegedanke in der weltanschaulichen Auseinandersetzung unserer Zeit (1940); Kritik schon bei Baur-Fischer-Lenz, Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene (4. Aufl. 1936), S. 715, vgl. dazu auch die Untersuchung von K. Salier, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda (1961). 12 Zu Holmes vgl. etwa M. Lerner, The Mind and Faith of Justice Holmes (1943, Auswahl der Werke und Einleitung); zu den Realisten Coing, Neue Strömungen in der nordamerikanischen Rechtsphilosophie, Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, 38. Band (1949/50), S. 536 ff. — Typisch für die im Text erwähnte Auffassung etwa /. Frank, Law and the Modern Mind (1930); ders. Courts on trial (1949). Nach Frank beruht die richterliche Entscheidung auf dem „hunch" des Richters. 18 Zu dieser vgl. Wieacker, Privatreditsgeschidite der Neuzeit (2. Aufl. 1967), S. 579 ff.; Reichet, Gesetz und Richterspruch (1915), S. 19 ff., 28 ff. 14 In „Rechtsnorm und Entscheidung" (1929), S. 29. 15 The Path of the Law (1897), bei Lerner, aaO., S. 75.

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Der Gedanke, daß das Gesetz mit seinen Normen die richterliche Entscheidung steuere, daß der Richter das Gesetz im Wege logischer Subsumtion des Sachverhalts anwende, ist hier völlig aufgegeben; im Gegenteil, es ist die sogen. Norm, die der — irrational gefundenen — Entscheidung des Richters folgt. Es liegt nahe, von dieser Anschauung zu einer „soziologischen" Auffassung fortzuschreiten, welche die Anschauung (und unter Umständen die Vorurteile oder die „Ideologie") der Richterschaft zur wahren Norm erklärt. Damit verschwindet dann die Norm überhaupt und wird durch ein soziales Faktum ersetzt. Den ersten Schritt in dieser Richtung hat in Deutschland meines Wissens C. Schmitt getan; er stellt sich in seiner Frühschrift „Gesetz und Urteil" (1912) die Frage, wann eine Entscheidung „richtig" sei und antwortet: „Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. ,Ein anderer Richter' bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen."16 Das Kriterium der „Gesetzmäßigkeit" der Entscheidung für die Frage ihrer Richtigkeit erklärt er dagegen ausdrücklich für wertlos17. Führt der Irrationalismus der „neuen" Anschauung vom Menschen also zu umstürzend neuen Ansichten über das Wesen der Rechtsnorm und des richterlichen Urteils, so ist der durch ihn begründete Zweifel an der Rationalität ethischer Normen eine der Grundlagen des juristischen Positivismus, dem wir uns jetzt zuzuwenden haben.

VIII. l. Im allgemein-philosophischen Sinn versteht man unter Positivismus die Lehre, daß wissenschaftliche Erkenntnis nur aufgrund der Beobachtung von „Tatsachen" (also aufgrund von Sinneswahrnehmungen, insbesondere im Experiment) sowie im Bereich der Mathematik und Logik gewonnen werden kann1. Alle Fragen, die auf dieser Grundlage nicht gelöst werden können, alle Lehren, die sich nicht auf Ergebnisse dieser Methode stützen können, sind als „metaphysisch" oder „ideologisch" 18

aaO., S. 71. Zu der Problematik des Verhältnisses von Gesetz und Urteil vgl. unten Kap. VI. 1 „Die Grundforderung des Empirismus ist die, daß alle synthetischen Sätze und deskriptiven Prädikate in einem bestimmten Zusammenhang mit Beobachtbarem stehen müssen", V. Kraft, Der Wiener Kreis (1950), S. 134/ 135. 17

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anzusehen und abzuweisen; sie sind als bloße subjektive Meinung zu betrachten und daher wissenschaftlich irrelevant. Der Positivismus stützt sich auf die Methode der Naturwissensdiaften und der Mathematik und hält sie für die einzig zulässigen. Historisch ist er in gewissem Sinn das Ergebnis des Aufschwungs der Naturwissensdiaften seit dem 17. Jahrhundert und Zeuge des ungeheuren Eindruckes, den diese Entwicklung gemacht hat. Viele Vertreter des Positivismus befinden sich in einem scharfen Gegensatz zu jeder Art von Metaphysik und religiösem Glauben. Der Ausdruck Positivismus geht auf Comte's Werk: Cours de Philosophie Positive (1830—1842) zurück. Comte (1798—1857) lehrte, daß die kulturelle Entwicklung sich in drei Stadien vollziehe: dem religiösen Zeitalter und dem Zeitalter der philosophischen Metaphysik folge in der Moderne die Epoche des Positivismus (sogen. Dreistadiengesetz). Diesen letzten charakterisiert er in seinem „Discours zur l'Esprit Positif " folgendermaßen: „Cette longue succession de preambules necessaires conduit enfin notre intelligence, graduellement e'mancipee, a son etat d finitif de positivite rationnelle, qui, doit ici etre cara^ris£ d'une maniere plus speciale que les deux etats preliminaires. De tels exercices priparatoires ayant spontanement constate Pinanit£ radicale des explications vagues et arbitraires propres a la philosophic initiale, soit thiologique, soit metaphysique, l'esprit humain renonce desormais aux recherches absolues qui ne convenaient qu'ä son enfance, et circonscrit ses efforts dans le domaine, des lors rapidement progressif, de la veritable observation, seule base possible des connaissances vraiment accessibles, sagement adaptees a nos besoins reels. La logique speculative avait jusqu'alors consiste a raisonner, d'une maniere plus ou moins subtile, d'apres des principes confus, qui, ne comportant aucune preuve süffisante, suscitaient toujours des debats sans issue. Elle reconnait desormais, comme regle fundamentale, que toute proposition qui n'est pas strictement reductible a la simple enunciation d'un fait, ou particulier ou general, ne peut offrir aucun sens reel et intelligible. Les principes qu'elle emploie ne sont plus eux-memes que de veritables faits, seulement plus generaux et plus abstraits que ceux dont ils doivent former le lien. Quel que soit d'ailleurs le mode, rationnel ou experimental, de proceder a leur decouverte, c'est toujours de leur conformite, directe ou indirecte, avec les phenomenes observes que risulte exclusivement leur efficacite scientifique. La pure imagination perd alors irrevocablement son antique Suprematie mentale, et se subordonne necessairement a l'observation, de maniere ä constituer un etat logique pleinement normal, sans cesser neanmoins d'exercer, dans les speculations positives, un office aussi capital qu'inepuisable, pour creer ou perfectionner les moyens de liaison, soit definitive, soit provisoire. En un mot, la revolution fundamentale qui caracterise la virilite de notre intelligence consiste essentiellement a substituer partout, a l'inaccessible determination des causes proprement dites, la simple recherche des lois, c'est-ä-dire des relations constantes qui existent entre les phenomenes observes."2 * Comte, Discours sur l'Esprit Positif, zitiert nach der französisch-deutschen Ausgabe von hing Fetscher (1956), S. 24—28.

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Die Lehren der positivistischen Philosophie sind im einzelnen Entwicklungen und Veränderungen unterworfen gewesen. In unserem Jahrhundert ist sie besonders in dem sog. Wiener Kreis3, einer lose verbundenen Gruppe von Philosophen, wie Carnap, Schlick, Neurath, im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre konsequent ausgebildet worden. Das Gnindanliegen war, die wissenschaftlichen Methoden der Erkenntnis zu größter Exaktheit zu entwickeln. Der empirische Ansatz ist hier insbesondere mit den Ergebnissen der Forschung im Bereich der mathematischen Logik und mit einer logischen Analyse der Sprache verbunden worden. Insbesondere Carnap hat sich mit der Entwicklung einer exakten künstlichen Sprache beschäftigt (Reine Semiotik, Semantik und Syntax)31. Auch die vor allem in den angelsächsischen Ländern vertretene, sog. analytische Philosophie beruht auf dem positivistischen Ansatz.

Für die Rechtsphilosophie sind vor allem drei Konsequenzen bedeutsam, die sich aus dem Positivismus ergeben. (1) Mit Ausnahme der Gesetze der Logik und Mathematik liegt alles geistige oder ideale Sein außerhalb der vom strengen Positivismus anerkannten Erkenntnismethoden. Nehmen wir ein literarisches Kunstwerk, etwa ein Drama des Euripides. Das Wesen eines solchen Werkes liegt offenbar weder in den beobachtbaren Texten, in denen es niedergeschrieben oder gedruckt ist, noch in den ebenfalls beobachtbaren psychologischen Vorgängen in den Menschen, die es lesen, noch auch in den Bewegungen der Schauspieler, die es etwa aufführen. Es liegt vielmehr in einer besonderen geistigen Form; es in ein Werk, das damit einer besonderen Seinsgestaltung, der des geistigen Seins, angehört4. Der Jurist kann sich diese Zusammenhänge leicht klarmachen, wenn er an das Urheberrecht und sein Schutzobjekt denkt. Diese Feststellung gilt aber von allen geistigen Werken: so im Bereich des Rechtlichen von Gesetzen, Urteilen, Rechtsbüchern. Diese Seinsweise ist aber der unmittelbaren Beobachtung entzogen. Ich kann es mit den Methoden der Naturwissenschaft nicht erfassen. Der Positivismus muß daher diese Phänomene, wenn er sie nicht ganz außer Betracht lassen will, mit ihren materialen Verkörperungen oder mit den psychischen Vorgängen und Verhaltensweisen, in denen der einzelne Mensch sie aktualisiert, zu identifizieren suchen;

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Vgl. Viktor Kraft, Der Wiener Kreis (1950). Vgl. dazu einführend Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 4. Aufl. Kap. IX und X. 4 vgl. dazu Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins (1933), insbes. 3. Teil, S. 406 ff. 31

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z. B. die Rechtsnorm mit den Urteilen des Richters, dem Verhalten der sie befolgenden Beamten usw. (2) Nimmt man die Forderungen des Positivismus in voller Strenge, so ergibt sich ferner, daß der gesamte von den sogen. Geisteswissenschaften erforschte Bereich außerhalb wissenschaftlicher Erkenntnis liegt und diese selbst daher nicht als Wissenschaften anzusehen sind. Zwar können auch die Geisteswissenschaften sich häufig auf sinnliche Wahrnehmungen stützen, z. B. auf solche von Dokumenten, Statuen oder Bildern: aber dabei handelt es sich niemals um beobachtete Fakten im Sinne der naturwissenschaftlichen-positivistischen Erkenntnistheorie, da diese Daten der Geisteswissenschaften der Interpretation bedürfen und nicht einfach als Fakten konstatiert werden können. Die Geistes- und Sozialwissenschaften müssen vom Bewußtsein des Menschen ausgehen5. Die seit dem 19. Jahrhundert in der Geschichte, in der Sprachwissenschaft, auch in der Jurisprudenz und Sozialwissenschaft immer wieder gemachten Versuche, diese Wissenschaften nach dem Muster der Naturwissenschaften zu organisieren6, sind dann auch vergeblich gewesen, weil sie dem Gegenstand inadäquat sind. (3) Eine weitere vom Positivismus aus seinem Grundansatz gezogene Konsequenz ist, daß Werturteile ethischer oder ästhetischer Art irrationaler Natur sind und außerhalb wissenschaftlicher Erkenntnis liegen. Solche Werturteile sind etwa: „Beide Parteien in einem Prozeß zu hören, ist gerecht", „Die Tötung der Juden in Auschwitz war ungerecht" oder einfach „A ist gut", »B ist feige". Solche Urteile sind im Rahmen der positivistischen Erkenntnistheorie niemals zu verifizieren; nur formal sind sie Urteile, in Wahrheit Äußerung gefühlsmäßiger Einstellung; sie sind daher nur als Ausdruck subjektiver Ansichten zu werten. „Werturteile aller Art beruhen darauf, daß persönliche oder kollektiv gleichartige Primärbewertungen, d. h. Gefühlsverhältnisse von Personen zu einem Gegenstande in Ei5

Grundsätzliche Behandlung dieses Problems bei Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942, 2. Aufl. 1961), S. 39 ff.; für die Sozialwissenschaften eingehend bei V. Hayek, Scientism and the study of Society (Economica New Series IX (1942) und X (1943), jetzt auch deutsch in: Mißbrauch und Verfall der Vernunft (1959) Abschn. I und II). * vgl. für Sprachwissenschaften und Geschichte die kritische Darstellung der Versuche Schleichers und Taines bei Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I (1932, 4. Aufl. 1964), S. 108—110 und Zur Logik der Kulturwissenschaften (2. Aufl. 1961), S. 78 ff.; für die Sozialwissenschaften die eindringliche Studie von Hayek, aaO.

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genschaften des Gegenstandes umgedeutet, d. h. objektiviert werden. Dinge sind nicht schön oder häßlich, Handlungen sind nicht gut oder böse, usw., sondern Personen oder Personenkreise finden Gefallen oder Mißfallen an ihnen, billigen oder mißbilligen sie. Man beachte wohl: wenn hier gesagt wird, es sei nicht wahr, daß Vernichtung von Menschenleben verwerflich sei, so heißt das nicht, Vernichtung von Menschenleben sei also erlaubt oder gar löblich. Die Umkehrung eines Werturteils wäre ebenfalls ein (entgegengesetztes) Werturteil, und also ebenso erkenntnis-illegitim."7 Der Positivismus führt also zur Lehre von der Irrationalität aller Werturteile8. 2. Aus den Prinzipien des philosophischen Positivismus sind im Hinblick auf das Recht sehr verschiedene Konsequenzen gezogen worden. Die sogen. Uppsala-Schule, die in Skandinavien eine beherrschende Stellung einnimmt9, hat vom Standpunkt des philosophischen Positivismus aus vor allem die Lehre vom Werturteil10 und die sogen, „metaphysischen", moralbestimmten Grundbegriffe des Rechts, wie subjektives Recht, Rechtspflicht, Vertrag, Rechtsordnung, Rechtswidrigkeit, Schuld, einer Kritik unterzogen. Alle diese Begriffe gehen nach ihr ins Leere; was in Wahrheit im Rechtsleben vorhanden ist, sind psychologische und soziale Fakten, wie bestimmte Verhaltensweisen. Es gibt z. B. keine Rechts- oder Vertragspflichten: es gibt nur angedrohte und gegebenenfalls faktisch verwirklichte (und daher

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vgl. Geiger, Ideologie und Wahrheit (1953), S. 62/63. Eindringlichste und vorsichtigste Behandlung des Wertproblems vom positiven Standpunkte aus bei V. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre (1937). 8 Stellungnahme zum philosophischen Positivismus unten Kap. II, Abschn. II. 9 Sie ist begründet von Axel Hägerström (1868—1939). Ubersidit über seinen Werdegang und seine Hauptthesen in der Selbstdarstellung „Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen" VII (1929). Weitere wichtige Werke der Schule sind: A. V. Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft (I 1932; II 1936); Olivecrona, Is a sociological explanation of Law possible? Theoria XIII (1947), S. 167—207; A. Ross, Towards a realistic jurisprudence (Kopenhagen 1946). — Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts (1964). 10 Für die Kritik am Werturteil haben wir soeben Geiger, einen Autor, der der Uppsala-Schule nahe steht, zu Wort kommen lassen.

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wirksame) Sanktionen11. Darin, daß die Rechtswissenschaft sich in Begriffen verfängt, statt sich mit diesen Fakten zu beschäftigen, liegt ihre „Unwissenschaftlichkeit". „Wir stehen hier vor dem verhängnisvollen grundlegenden Fehler der üblichen wissenschaftlichen Methoden ...: Statt bei ihren Untersuchungen den wirklichen Zusammenhang der sozialen Erscheinungen zu suchen und jene nach wirklich vernünftigen Vorstellungen (z. B. die der Rechtspflicht) von wissenschaftlichen Erörterungen möglichst auszuschließen, ist die Rechtswissenschaft deren getreuer Sklave geworden."12 Ähnliche Denkweisen finden sich, wie schon dargelegt, auch bei manchen Vertretern des amerikanischen Realismus13. 3. Sucht diese Richtung das Recht mit der positivistischen Erkenntnislehre in Übereinstimmung zu bringen, indem sie den Versuch macht, es als beobachtbare „Fakten" der Psychologie und des Verhaltens zu erfassen, so haben andere das gleiche Ziel dadurch zu erreichen versucht, daß sie die Rechtsphilosophie auf Feststellungen formallogischer Beziehungen oder auf solche terminologischer Art beschränkten. a) Hier sind zunächst die Bestrebungen der sogen. „Allgemeinen Rechtslehre" zu erwähnen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Rechtsphilosophie in Lehre und Forschung zu verdrängen begann. Die Anfänge scheinen auch hier bei Bentham und seinem Kreis14 zu liegen. Bentham erörtert in den „Principles"15 die Aufgaben der Rechtslehre (jurisprudence). Er sieht sie darin, festzustellen, was geltendes Recht ist und was Recht sein sollte. Das Letztere ist die „Kunst der Gesetzgebung". In beiderlei Hinsicht ist sie an ein gegebenes, positives Rechtssystem gebunden und kann daher keine allgemeinen Aussagen machen. Eine allgemeine Rechtslehre (universal jurisprudence) ist daher nur insoweit möglich, als Fragen der allgemeinen Terminologie in Angriff genommen werden können. „To be susceptible of an universal application all that a book of the expository kind 11

vgl. Lundstedt, Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft (1932) I, S. 57, 74. 12 Lundstedt, aaO., S. 25/26. 13 Dazu Going, Neue Strömungen in der nordamerikanischen Rechtsphilosophie, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 38. Band (1949/1950), S. 536 ff. — Im einzelnen Bingham, What is the Law? Michigan Law Review 11 (1912), S. l if.; 109 ff. — Eindringliche Kritik dieses Standpunktes bei H. L. A. Hart, The Concept of Law (1961), S. 133 ff. 14 vgl. oben Abschn. VI. 1. 15 vgl. in der Gesamtausgabe von Bowring (1962), S. 148 ff.

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(d. h. im Gegensatz zur Rechtspolitik) can have to treat of, is the impact of words: to be strictly speaking universal, it must confine itself to terminology." Worte, die in dieser Weise auf ihre Bedeutung hin untersucht werden können, sind z. B. Macht, Recht, Pflicht, Freiheit. Diese Aufgabe ist zunächst von Benthams Schüler Austin (1790 bis 1859) in Angriff genommen worden16. Im Unterricht ist eine 1 Vorlesung „Allgemeine Rechtslehre" dann vielfach an die Stelle der Vorlesung über Rechtsphilosophie oder Naturrecht getreten17. Die allgemeine Rechtslehre behandelt allgemeine Grundbegriffe, die in verschiedenen positiven Rechtssystemen verwendet werden: wie etwa subjektives Recht, Obligation, Handlung, Delikt, Vertrag, entwickelt aber auch Definitionen des objektiven Rechts sowie eine Theorie der Rechtsquellen. Dabei wird überall ein Eingehen auf inhaltliche Fragen oder auf Bewertungen vermieden; es herrscht vielmehr eine formale Betrachtungsweise vor. So wird etwa objektives „Recht" durch den Befehlscharakter und durch den Urheber definiert, der es setzt. Austin gibt folgende Definition: „A rule laid down for the guidance of an intelligent being by an intelligent being having power over him."18 Somlo definiert: „Rechtsnormen sind Normen einer gewöhnlich befolgten, umfassenden und beständigen höchsten Macht."19 b) Die bedeutendste aus dieser Richtung hervorgewachsene Theorie ist die sogen. „Reine Rechtslehre" von Kelsen (geb. 188l)20. Das Ziel der Reinen Rechtslehre ist die Gewinnung einer Rechtswissenschaft, die frei von naturwissenschaftlichen, ethischen und politischen Elementen ist, die sich also scharf gegen die Naturwissenschaften und eine naturwissenschaftlich verstandene Soziologie einerseits, gegen die Moral und das mit ihr zusammenhängende Naturrecht andererseits abgrenzt. Auch Kelsen geht von dem Gedanken aus, daß der Inhalt der Rechtsordnungen beliebig sei21, so daß sich über ihn allgemeine 16

Lectures on Jurisprudence (1861 Posthum veröffentlicht). vgl. aus neuerer Zeit etwa F. Somlo, Juristische Grundlehre (1917). 18 Lectures on Jurisprudence I (4. Aufl. 1879), S. 88. 19 aaO., S. 105. — Eine kritische Fortführung der Austinschen Jurisprudenz bietet H. L. A. Hart, The Concept of Law (1961). 20 Reine Rechtslehre (1934, 2. neubearbeitete und erweiterte Auflage 1960). Grundsätzliche Kritik des Kelsenschen Ansatzes bei E. Kaufmann, Kritik der neukantisdien Rechtsphilosophie (1921), S. 20 ff. 21 vgl. Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 201. 17

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Aussagen spezifisch juristischer Natur nicht machen ließen. Sein Anliegen ist daher, unter Absehen von jeder inhaltlichen Analyse, die Eigenart des Rechtlichen herauszuarbeiten. Kelsen hat dieses Ziel selbst folgendermaßen formuliert: „Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts; des positiven Rechts schlechthin, nicht einer speziellen Rechtsordnung. Sie ist allgemeine Rechtslehre, nicht Interpretation besonderer nationaler oder internationaler Rechtsnormen. Aber sie gibt eine Theorie der Interpretation. Als Theorie will sie ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik. Wenn sie sich als eine „reine" Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört. Das heißt: sie will die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien. Das ist ihr methodisches Grundprinzip. Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein. Aber ein Blick auf die traditionelle Rechtswissenschaft, so wie sie sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt hat, zeigt deutlich, wie weit diese davon entfernt ist, der Forderung der Reinheit zu entsprechen. In völlig kritikloser Weise hat sich Jurisprudenz mit Psychologie und Soziologie, mit Ethik und politischer Theorie vermengt. Diese Vermengung mag sich daraus erklären, daß diese Wissenschaften sich auf Gegenstände beziehen, die zweifellos mit dem Recht in engem Zusammenhang stehen. Wenn die Reine Rechtslehre die Erkenntnis des Rechts gegen diese Disziplinen abzugrenzen unternimmt, so nicht etwa darum, weil sie den Zusammenhang ignoriert oder gar leugnet, sondern darum, weil sie einen Methodensynkretismus zu vermeiden sucht, der das Wesen der Rechtswissenschaft verdunkelt und die Schranken verwischt, die ihr durch die Natur ihres Gegenstandes gezogen sind."22 Grundlegend für die weitere Gedankenentwicklung ist die strenge Unterscheidung der Sphären des „Seins" und des „Sollens". Jene wird im Sinne des positivistischen Erkenntnisbegriffes auf die Wirklichkeit eingeschränkt, welche mit den Mitteln der kausal-wissenschaftlich verfahrenden Disziplinen erforscht und erklärt werden kann; diese aber setzt ein Normensystem voraus, das aus dem (so definierten) Sein nicht abgeleitet werden kann. « Reine Reditslehre (2. Aufl. 1960), S. 1.

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Prüft man, was einem beliebigen rechtlich erheblichen Akt oder Vorgang rechtliche Bedeutung gibt, so zeigt sich, daß dies nicht in dem Seinszusammenhang gefunden werden kann, in dem dieser Akt steht, sondern in seiner Beziehung auf ein rechtliches Normensystem. Erst wenn ich diese Beziehung vornehme, kann ich jene Bedeutung erfassen; das betreffende rechtliche Normensystem wird damit zum „Deutungsschema'' für rechtlich relevante Akte. „Analysiert man nämlich irgendeinen der als Recht gedeuteten oder mit dem Recht in irgendeinem Zusammenhang stehenden Tatbestände, wie etwa einen Parlamentsbeschluß, einen Verwaltungsakt, ein richterliches Urteil, ein Rechtsgeschäft, ein Delikt, so kann man zwei Elemente unterscheiden: das eine ist ein in Zeit und Raum vor sich gehender, sinnlich wahrnehmbarer Akt, oder eine Reihe solcher Akte, ein äußerer Vorgang menschlichen Verhaltens; das andere seine rechtliche Bedeutung, das heißt die Bedeutung, die der Akt von Rechts wegen hat."23 „. . . Der äußere Tatbestand, der seiner objektiven Bedeutung nach ein Rechts- (oder Unrechts-) Akt ist, ist nun in allen Fällen, weil ein in Zeit und Raum ablaufendes, sinnlich wahrnehmbares Geschehen, ein Stück Natur und als solches kausal-gesetzlich bestimmt. Allein dieses Geschehen als solches, als Element des Systems Natur, ist nicht Gegenstand spezifisch juristischer Erkenntnis und sohin überhaupt nichts Rechtliches. Was diesen Tatbestand zu einem Rechts- (oder Unrechts-) Akt macht, das ist nicht seine Tatsächlichkeit, nicht sein natürliches, das heißt kausal-gesetzlich bestimmtes, im System der Natur beschlossenes Sein, sondern der objektive Sinn, der mit diesem Akt verbunden ist, die Bedeutung, die er hat. Den spezifisch juristischen Sinn, seine eigentümliche rechtliche Bedeutung, erhält der fragliche Tatbestand durch eine Norm, die sich mit ihrem Inhalt auf ihn bezieht, die ihm die rechtliche Bedeutung verleiht, so daß der Akt nach dieser Norm gedeutet werden kann. Die Norm fungiert als Deutungsschema. Mit anderen Worten: das Urteil, daß ein in Raum und Zeit gesetzter Akt menschlichen Verhaltens ein Rechts(oder Unrechts-) Akt ist, ist das Ergebnis einer spezifischen, nämlich normativen, Deutung."24 Es ergibt sich nun die weitere Aufgabe, die Eigenart gerade rechtlicher Sollenssysteme festzustellen und den Begründungszusammenhang der rechtlich bedeutsamen Akte und Normen festzustellen. Die Eigenart rechtlicher Normen findet Kelsen darin, daß in ihnen für den Fall des Eintretens bestimmter Tatbestände Sanktionen fest23

aaO., S. 2.

24

aaO., S. 3.

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gesetzt werden. Der Zwang ist dem Recht wesentlich. Solche Sanktionen können Strafen oder Vollstreckungsakte sein. Die Rechtsnormen sind also hypothetische Gebote, und zwar Zwangsgebote; sie sind keine theoretischen Aussagen25. Für die Frage, gegen wen die Sanktionen zu richten sind, gilt nicht das Prinzip der Kausalität, sondern das der „Zurechnung". „Ein Rechtssatz ist z. B. der Satz: Wenn ein Mensch ein Verbrechen begeht, soll eine Strafe über ihn verhängt werden; oder: wenn ein Mensch seine Schuld nicht bezahlt, soll eine Zwangsvollstreckung in sein Vermögen gerichtet werden; oder: wenn ein Mensch von einer ansteckenden Krankheit befallen wird, soll er in einer hierzu bestimmten Anstalt interniert werden. Allgemein formuliert: unter bestimmten, und zwar von der Rechtsordnung bestimmten, Bedingungen soll ein bestimmter, und zwar von der Rechtsordnung bestimmter, Zwangsakt erfolgen. Das ist die schon im Vorhergehenden aufgezeigte Grundform des Rechtssatzes. Ganz so wie ein Naturgesetz, verknüpft auch ein Rechtssatz zwei Elemente miteinander. Aber die Verknüpfung, die im Rechtssatz zum Ausdruck kommt, hat eine völlig andere Bedeutung als jene, die das Naturgesetz beschreibt: die Kausalität. Ganz offenbar ist das Verbrechen mit der Strafe, das Zivildelikt mit der Zwangsvollstreckung, die ansteckende Krankheit mit der Internierung des Kranken, nicht als eine Ursache mit ihrer Wirkung verknüpft. Im Rechtssatz wird nicht, wie im Naturgesetz, ausgesagt, daß, wenn A ist, B ist, sondern, daß, wenn A ist, B sein soll, auch wenn B vielleicht tatsächlich nicht ist. Daß die Bedeutung der Verknüpfung der Elemente im Rechtssatz verschieden ist von der der Verknüpfung der Elemente im Naturgesetz, geht darauf zurück, daß die Verknüpfung im Rechtssatz durch eine von der Rechtsautorität, also durch einen Willensakt gesetzte Norm hergestellt ist, während die Verknüpfung von Ursache und Wirkung, die im Naturgesetz ausgesagt wird, unabhängig von jedem solchen Eingriff ist."26 Rechtsakte und Normen stehen in einem Ableitungs- und Begründungszusammenhang. Dieser gründet sich darauf, daß Rechtssätze, um Geltung zu erlangen, in einem bestimmten Verfahren erzeugt sein müssen. Die Untersuchung dieser Grundlagen der Geltung einer Rechtsnorm nennt Kelsen „Rechtsdynamik"27. Er stellt das Verfahren bei der Ableitung eines speziellen ethischen Satzes aus einem allgemeineren 25

2e

vgl. Reine Reditslehre, S. 73 ff. aaO., S. 80.

" aaO., S. 72.

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(z. B. die Ableitung des Satzes „Du sollst Mängel der Kaufsache nicht verschweigen" aus dem Grundsatz „Du sollst wahrhaftig sein") demjenigen gegenüber, bei dem angegeben wird, daß eine Norm befolgt werden soll, wenn sie in einer bestimmten Weise erlassen worden ist. Normen, die entsprechende Festsetzungen treffen, nennt Kelsen „ Grundnormen ". „Der dynamische Typus ist dadurch gekennzeichnet, daß die vorausgesetzte Grundnorm nichts anderes beinhaltet als die Einsetzung eines normerzeugenden Tatbestandes, die Ermächtigung einer normsetzenden Autorität oder — was dasselbe bedeutet — eine Regel, die bestimmt, wie die generellen und individuellen Normen der auf dieser Grundnorm beruhenden Ordnung erzeugt werden sollen. Ein Beispiel möge dies erläutern. Ein Vater befiehlt seinem Kind, zur Schule zu gehen. Auf die Frage des Kindes: warum soll ich zur Schule gehen, mag die Antwort lauten: weil der Vater es befohlen hat und das Kind den Befehlen der Vaters gehorchen soll. Fragt das Kind weiter: warum soll ich den Befehlen des Vaters gehorchen, mag die Antwort lauten: weil Gott befohlen hat, den Eltern zu gehorchen und man den Befehlen Gottes gehorchen soll. Fragt das Kind, warum man den Befehlen Gottes gehorchen soll, das heißt: stellt es die Geltung dieser Norm in Frage, ist die Antwort: daß man diese Norm eben nicht in Frage stellen, das heißt nicht nach dem Grund ihrer Geltung suchen, daß man diese Norm nur voraussetzen könne. Der Inhalt der den Ausgangspunkt bildenden Norm: das Kind soll zur Schule gehen, kann aus dieser Grundnorm nicht abgeleitet werden. Denn die Grundnorm beschränkt sich darauf, eine normsetzende Autorität zu delegieren, das heißt eine Regel aufzustellen, nach der die Normen dieses Systems zu erzeugen sind. Die den Ausgangspunkt der Frage bildende Norm gilt nicht kraft ihres Inhaltes, sie kann nicht durch eine logische Operation aus der vorausgesetzten Grundnorm reduziert werden. Sie muß durch einen Akt des Vaters gesetzt werden und gilt — in der üblichen Weise formuliert —, weil sie so gesetzt wurde, richtiger formuliert: weil eine Grundnorm als gültig vorausgesetzt wird, die in letzter Linie diese Weise der Normsetzung statuiert. Eine Norm gehört zu einer auf einer solchen Grundnorm beruhenden Ordnung, weil sie auf die durch die Grundnorm bestimmte Weise erzeugt ist — und nicht, weil sie einen bestimmten Inhalt hat. Die Grundnorm liefert nur den Geltungsgrund, nicht aber auch den Inhalt der dieses System bildenden Normen."28 28

aaO., S. 199 f.

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Auch die Rechtsordnung beruht in ihrer Geltung auf einer solchen Grundnorm. Dazu führt Kelsen aus: „Die Grundnorm einer Rechtsordnung ist nicht eine materielle Norm, die, weil ihr Inhalt als unmittelbar einleuchtend angesehen, als höchste Norm vorausgesetzt wird und aus der durch logische Operation Normen menschlichen Verhaltens — als das Besondere aus dem Allgemeinen — abgeleitet werden können. Die Normen einer Rechtsordnung müssen durch einen besondern Setzungsakt erzeugt werden. Es sind gesetzte, das heißt positive Normen, Elemente einer positiven Ordnung. Versteht man unter der Verfassung einer Rechtsgemeinschaft die Norm oder die Normen, die bestimmen, wie, das heißt von welchen Organen und in welchen Verfahren — durch bewußte Rechtssatzung, insbes. Gesetzgebung, oder Gewohnheit — die generellen Normen der die Gemeinschaft konstituierenden Rechtsordnung zu erzeugen sind, ist die Grundnorm jene Norm, die vorausgesetzt wird, wenn die Gewohnheit, durch die die Verfassung zustande gekommen ist, oder wenn der von bestimmten Menschen bewußt gesetzte, verfassunggebende Akt objektiv als ein normerzeugender Tatbestand gedeutet wird; wenn — im letzteren Falle — das Individuum oder die Versammlung von Individuen, die die Verfassung errichtet haben, auf der die Rechtsordnung beruht, als normsetzende Autorität angesehen werden. In diesem Sinne ist die Grundnorm die Einsetzung des Grundtatbestandes der Rechtserzeugung und kann in diesem Sinne als Verfassung im rechtslogischen Sinne zum Unterschied von der Verfassung im positiv-rechtlichen Sinne bezeichnet werden. Sie ist der Ausgangspunkt eines Verfahrens: des Verfahrens der positiven Redhtserzeugung. Sie ist selbst keine gesetzte, durch Gewohnheit oder durch den Akt eines Rechtsorgans gesetzte, keine positive, sondern eine vorausgesetzte Norm, sofern die verfassunggebende Instanz als eine höchste Autorität angesehen wird und daher durch keine von einer höheren Autorität gesetzte Norm als zur Verfassunggebung ermächtigt angesehen werden kann."29 Die Grundnorm kann zunächst in positiven Rechtssätzen gefunden werden, insbes. in den entsprechenden Verfassungsnormen. Sieht man im Völkerrecht ein allen positiven staatlichen Rechtsordnungen übergeordnetes Normensystem, so kann man noch einen Schritt weiter zurückgehen und in den völkerrechtlichen Sätzen über die Frage, wann eine Regierungsorganisation auf einem bestimmten Territorium als Staat anzuerkennen ist, eine positive Grundnorm finden (sogen. Weltrechtssystem)30. Immer aber ist es rechtslogisch notwendig, eine letzte 29

aaO., S. 201 f.

30

Kelsen, aaO., S. 221.

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„Grundnorm" anzunehmen, welche festlegt, daß etwa die Anordnungen oder Beschlüsse derjenigen, welche die gesicherte Macht in einem bestimmten Territorium errungen haben, als Rechtsnormen gelten sollen, denen zu gehorchen ist, oder daß den Normen der Regierung, die entsprechend dem Völkerrecht gebildet ist, zu gehorchen sei. Die Grundnorm gehört nicht der Geschichte an; sie ist vielmehr eine rechtslogisch notwendige Hypothese, die man aufstellen muß, um den Begründungszusammenhang der Rechtsnormen herzustellen. Sie ist also eine hypothetische Grundnorm. Es ist das große Verdienst vor allem der lateinamerikanischen Rechtsphilosophie, die strenge logische Analyse des Rechts mit einer Philosophie der Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit verbunden und beide Bereiche streng methodisch bearbeitet zu haben. Ich verweise besonders auf das Werk von Eduarde Garcia Maynez (geb. 190S)31. c) Gegenüber dem philosophischen Positivismus, wie er in der Mitte des 19. Jahrhunderts führend wurde, versuchten Gruppen von Philosophen in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die kantische Philosophie zurückzugreifen. Dabei stand im Vordergrund das Bemühen, gegenüber dem reinen Empirismus das Vorhandensein apriorischer Vernunftstrukturen formaler Natur nachzuweisen32. „Nur das Formale ist sachlich; je formaler eine Methodik ist, desto sachlicher kann sie werden. Und je sachlicher in der ganzen Tiefe der Sache ein Problem formuliert wird, desto formaler muß es fundamentiert sein."33. Aus einer dieser Richtungen, der sogen. „Marburger Schule", ist Stammlers Lehre vom richtigen Recht hervorgegangen; sie bedeutete, obwohl im Ansatz auch als formale Rechtslehre gedacht, im Ergebnis eine Wiedereinführung absoluter Wertbegriffe und hat damit in ihrer Zeit eine große Wirkung ausgeübt. Die Marburger Schule geht, wie der gesamte Neukantianismus, nicht von den Seinsphänomenen (etwa dem Recht) selbst, sondern vom menschlichen Denken über die Phänomene aus. Sie prüft den Inhalt des menschlichen Bewußtseins und fragt nach den letzten, logischen Voraussetzungen des menschlichen Denkens. Philosophie ist ihr, um einen Ausdruck des ebenfalls vom Neukantianismus ausgehenden Rechtsphilosophen Emge zu verwenden, der Rückgang auf die rein apriorischen oder Vernunftbegriffe, wobei unter a priori das31

Garcia Maynez, Introduction al Estudio del Deredio. Grundsätzliche Kritik dieses Ansatzes bei Nicolai Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie (3. Aufl. 1948), S. 48 f., 231 ff. 88 Cohen, Logik der reinen Erkenntnis (1902) I, S. 587. 82

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jenige verstanden wird, das seine logische Rechtfertigung nur in der Sphäre des Logischen finden kann34. Die Untersuchungen bleiben also (ihrem Gegenstande nach) auf den Bereich des menschlichen Bewußtseins beschränkt; die Wahrheit ist den Neukantianern nach der kritischen Bemerkung Nicolai Hartmanns eine „bloß immanente Übereinstimmung der Begriffe und Urteile"35. Das gilt auch für Stammler (1856—1938). Für ihn ist das „Wesen eines Dinges die Einheit der Bedingungen, unter denen wir es übereinstimmend begreifen."36 Dementsprechend geht er bei der Untersuchung der sozialen Phänomene von den Begriffen aus, die wir uns von diesen Phänomenen machen37. In jedem Inhalt unseres Bewußtseins können wir, sagt er, stetige und wechselnde Elemente unterscheiden. Die stetigen bilden die Allgemeinbegriffe, die wechselnden der jeweilige konkrete Inhalt. Die ersteren nennt Stammler die (logische) Form, Sie ist „die Einheit der bleibenden und bestimmenden Gedankenelemente"38. Wenn ich z. B. an den § 105 I BGB denke, so kann in meiner Vorstellung unterschieden werden: 1. der Inhalt des § 105: die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig; 2. die mitgedachte Vorstellung, daß es sich hier um eine Rechtsvorschrift handelt39. Die zweite — allgemeine — Vorstellung ist die logische Voraussetzung (Bedingung) der ersten; ich kann keine „konkrete Rechtsvorschrift" denken, ohne den allgemeineren Begriff „Rechtsvorschrift0 vorauszusetzen. Ich kann nun, wenn ich von einem bestimmten konkreten Bewußtseinsinhalt ausgehe, immer weiter nach den Allgemeinbegriffen fragen, welche für meine konkrete Vorstellung die logische Voraussetzung sind, z. B. die Vorschrift: „Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig" ist Bestandteil des BGB. Das BGB ist Bestand des deutschen Rechtes. Das deutsche Recht ist positives Recht 84

vgl. Emge, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie XVII, S. 531, 528. Charakteristisch auch Nelson, System der philosophischen Rechtslehre (1930), S. 10. 85 Zur Grundlegung der Ontologie (3. Aufl. 1948), S. 232. 39 Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft (1911), S. 40; Hervorhebung von mir. 87 vgl. Stammler, Wirtschaft und Recht (4. Aufl. 1921), 112 ff. 38 3 aaO., S. 119. » aaO., S. 112.

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des Deutschen Reiches. Es ist Recht. Ich gelange so zu einer Reihe von Allgemeinbegriffen, von denen jeder die logische Bedingung des vorhergehenden ist. „Wenn die Form eines Begriffes die Einheit seiner bleibenden und bestimmenden Gedankenelemente ist, so kann sich die Frage nach solchen allgemeinen Bedingungen auch innerhalb eines Begriffes wiederholen, der sich gerade als formale Bedingung von besonderen Inhalten des Bewußtseins darstellt. Dann sind in diesem übergeordneten Begriffe wiederum die allgemeinen und steten Elemente von denen zu scheiden, die sich als wechselnd und mannigfaltig erweisen und somit durch jene logisch bedingt sind. Und das ist zu wiederholen, bis man zu den Gedanken gelangt, welche in ihrer begrifflichen Fassung sich nicht weiter zerlegen lassen."40 Man endet dann bei gewissen höchsten, nicht weiter ableitbaren „Grundbegriffen". Die Grundbegriffe sind formale Ordnungsbegriffe. Sie gestatten die Ordnung unseres Bewußtseinsinhaltes. Stammler nennt sie geradezu ein „Verfahren". „Ein derartiger Grundbegriff ist in sich nichts weiter als ein grundlegendes Verfahren, mannigfachen Stoff (sei. von konkreten Bewußtseinsinhalten) gleichmäßig zu bestimmen. Er erschöpft sich darin, eine allgemeingültige, formale Art und Weise des Ordnens und Richtens zu sein." Sie sind „reine Formen"41. Erst mit ihrer Hilfe ist ein geordneter Bewußtseinsinhalt, insbes. eine wissenschaftliche Anschauung, möglich. Mit dieser Methode tritt Stammler an das soziale Leben heran und fragt zunächst nach den Allgemeinbegriffen, mit denen wir die Erscheinung des sozialen Lebens überhaupt erfassen. Wir müssen „diejenigen Begriffe und Sätze, in denen wir unsere soziale Erkenntnis vollziehen, in ihrem Inhalt zergliedern und objektiv-logisch (d. h. in der unter 2. beschriebenen Methode) analysieren."42 Auch hier ist der Ausgangspunkt also unsere Vorstellung vom Sozialleben. Die formale Kategorie, mit deren Hilfe wir soziales Leben auffassen können, ist nun nach Stammler der Begriff der „äußeren Regelung". Er versteht darunter Recht einerseits, Konventionalnormen andererseits. Nur mit Hilfe dieses Begriffes können wir soziales Leben überhaupt als solches erfassen. Stammler fragt: „Wodurch wird gesellschaftliches Zusammenleben gegenüber dem bloß physischen Beisammensein begrifflich bestimmt?" und antwortet: „Dieses Moment ist die von Menschen herrührende Regelung ihres Verkehrs und Mit40

aaO., S. 119.

41

aaO., 119/120. Hervorhebung und ( ) von mir. aaO., S. 13.

42

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einanderlebens."43 Die Konventionalregel unterscheidet sich vom Recht dadurch, daß sie nur gilt, soweit der Betroffene sich ihr unterwerfen will44. Hierher gehört etwa ein gesellschaftlicher Ehrenkodex. Nach der gleichen Methode wird sodann der Begriff des Rechts als des formalen Elementes gesucht, welches logische Bedingung aller besonderen Rechtsvorstellungen45 und daher allgemein gültig ist46. Der Rechtsbegriff wird danach dahin bestimmt, das Recht sei das „unverletzbar, selbstherrlich verbindende Wollen"47. „Verbindendes Wollen" ist ein Wollen, „das ein mehreres Wollen als Mittel füreinander bestimmt"48, d. h. eine äußere Regelung49, die mehrere verbindet und über ihnen steht50. Das Prädikat „selbstherrlich" bezeichnet die Eigenschaft des Rechtes, daß seine Geltung dem Wollen der ihm Unterworfenen entzogen ist51, das Prädikat „unverletzbar" die andere, daß es „ein für alle Mal" bleibend und unverbrüchlich gilt (Gegensatz: willkürliche Satzung im Einzelfall)52. Da das Recht als Teil des Wollens bestimmt ist, ist es möglich, über den Rechtsbegriff hinaus noch einen Schritt weiter in anderer Richtung logisch zurückzugehen, nämlich auf den des Wollens und seiner möglichen Zwecke überhaupt. Hier sind wir dann bei den obersten Ordnungsbegriffen des Bewußtseins, Wahrnehmen und Wollen, angelangt, denen die kausale Methode (Ursache und Wirkung) einerseits, die finale Betrachtung (Zweck und Mittel) andererseits zugeordnet sind53. Damit erreichen wir die Rechtsidee. Sie stellt die Verbindung zwischen dem Rechts&egri// und dem Begriff eines reinen Reiches der Zwecke her. Die Idee des Rechtes begreift also nicht ein besonderes Wollen in seinem Unterschiede von anderen Arten des Wollens, sondern bedeutet den unbedingt gleichmäßigen Grundgedanken für alle besonderen Bestrebungen, die nach dem Begriffe des Rechtes übereinstimmend erfaßt sind, indem es diese wieder in das Reich des Wollens überhaupt in gesetzmäßiger Weise zurück43

aaO., S. 83. Scharfe Kritik dieser Theorie in M. Wehers Aufsatz „Rudolf Stammlers .Überwindung' der materialistischen Geschichtsauffassung" (1907), jetzt wieder abgedruckt in Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1951), S. 291—359; vgl. insbes. S. 322 ff. 44 aaO., S. 124/125. 45 Theorie der Rechtswissenschaft, S. 6; vgl. dort auch Einleitung Nr. 4. « aaO., S. 4. 47 48 aaO.,S. 113. aaO., S. 75. 49 50 aaO., S. 79. aaO., S. 77. 31 52 aaO., S. 96. aaO., S. 107. 53 aaO., S. 49/50.

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führt54. Es handelt sich dabei also nicht um einen weiteren Schritt in der Richtung, in der der Rechts^egn// gesucht wurde, sondern um einen Schritt in anderer Richtung. Waren wir vorher sozusagen in die Horizontale gegangen, so jetzt in die Vertikale. Anknüpfend an die Tatsache, daß das Recht dem Wollen unterfällt, wird jetzt nach den möglichen Zwecken rechtlichen Wollens gefragt. „Den Gedanken eines unbedingt gültigen Verfahrens, den Inhalt aller jemals möglichen Zwecke und Mittel einheitlich zu bestimmen, nennen wir ... die Idee des Rechts." Auch sie soll also nicht ein zu verwirklichender Idealzustand, ein verpflichtender ideeller Gehalt, sondern ein Verfahren sein, das es ermöglicht, alles rechtliche Wollen als auf bestimmte höchste Zwecke gerichtet, also unter der Einheit seiner praktischen Ziele zu begreifen. Die Übereinstimmung eines konkreten Rechtssatzes mit der Rechtsidee in diesem Sinne nennt Stammler die „Richtigkeit" des Rechtes; solches Recht ist „richtiges Recht". Er betont immer wieder, daß es sich bei der Frage nach der Richtigkeit ebenfalls nur um ein formales Verfahren handele, nicht um Prüfung an bestimmten sittlichen Inhalten. Es soll sich auch hier nur um den Rückgang auf eine logische Form handeln. „In diesem Sinne ist in der hier durchzuführenden Betrachtung der Gedanke der Richtigkeit, nach Idee und Grundsätzen, die Form der sachlichen Würdigung eines Rechtsinhaltes."55 Der Gedanke des richtigen Rechtes hat nur formale Bedeutung und gibt überall nur an, ob bestimmtes Recht in seinem Inhalt mit den eigenen Grundgedanken in Einklang steht56. Der Inhalt der Rechtsidee, ihre „Formel"57, ist nun die „Gemeinschaft frei wollender Menschen", die „reine Gemeinschaft"; sie ist zugleich das „soziale Ideal"58. Unter „freiem Wollen" versteht Stammler einmal ein Wollen, „dem nichts von den Besonderheiten eines bedingten Strebens wesentlich innewohnt. Es soll von allen bloßen Einzelheiten frei sein . . ,"59 Es ist die Idee des (noch nicht auf bestimmte Zwecke gerichteten) Wollens überhaupt. Das entspricht seinem formalen Ansatzpunkt. Er versteht darunter aber zugleich ein sittlich reines Wollen. „So bleibt für den einzelnen als letzte Aufgabe das reine Wollen im Sinne innerer Lauterkeit, 54

55 58

57 58 59

aaO., S. 440. Die Lehre von dem richtigen Rechte (1. Aufl. 1902), S. 217, 218. aaO., S. 45. Theorie der Rechtswissenschaft, S. 471. aaO., S. 471, 488, 474. aaO., S. 443.

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während für die Gemeinschaft das Problem besteht, denselben gesetzmässigen Gedanken der Willensreinheit im Sinne des sozialen Ideals aufzunehmen."60 Damit erhält das soziale Ideal einen materiellen Inhalt. Es entspricht dem Kantischen Gedanken, daß das Recht die „äußere Freiheit" des Menschen ist, d. h. eine Freiheit, die seine autonome sittliche Entschließung ermöglichen solle61. Das zeigt sich noch deutlicher in den Grundsätzen des richtigen Rechtes, die Stammler entwickelt, um die Feststellung der Richtigkeit eines konkreten Rechtssatzes zu ermöglichen. Sie lauten: „Es darf nicht der Inhalt eines Wollens der Willkür eines anderen anheimfallen." (Daher ist z. B. die Sklaverei kein richtiges Recht.) „Jede rechtliche Anforderung darf nur in dem Sinne bestehen, daß der Verpflichtete sich noch der Nächste sein kann." (Daher z. B. keine Verpflichtung bis zur Selbstaufgabe.) Dies sind die „Grundsätze des Achtens"62. „Es darf nicht ein rechtlich Verbundener nach Willkür von der Gemeinschaft ausgeschlossen sein." „Jede rechtlich verliehene Verfügungsmacht darf nur in dem Sinne ausschließend sein, daß der Ausgeschlossene sich noch der Nächste sein kann ..." Dies sind die sogen. Grundsätze des Teilnehmens63. Bei der Anwendung dieser Grundsätze hat man die an einem konkreten Rechtsverhältnis Beteiligten als eine Sondergemeinschaft anzusehen und dann zu prüfen, ob in der positiven Regelung ihrer Beziehungen die Grundsätze beachtet sind. In diesem Fall ist das betreffende Recht im Einzelfall richtig64. 4. Verfolgt man die Grundsätze des philosophischen Positivismus in seinen letzten Konsequenzen, so ist klar, daß auch die Rechtswissenschaft, wie sie sich geschichtlich entwickelt hat, nicht als Wissenschaft angesehen werden kann, da sie jenseits des positivistischen Wissenschaftsbegriffs liegt. Trotzdem hat die Rechtstheorie seit dem 19. Jahrhundert den Versuch gemacht, die allgemeine Rechtstheorie, jedenfalls soweit wie möglich, den Forderungen der positivistischen Wissenschaftstheorie anzupassen, indem sie auf alle „metaphysischen" Lehren, insbes. die eo

61

aaO., S. 494; Hervorhebung von mir.

vgl. die ausdrückliche Bezugnahme auf die kantische Unterscheidung äußerer und innerer Freiheit: aaO., S. 494. 62 Die Lehre von dem richtigen Rechte, S. 208. 83 aaO., S.211. «* aaO., S.281.

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Theorie des Naturrechts verzichtete und Wertfragen, soweit möglich, ausschloß. Dabei spielten, außer dem Einfluß des allgemeinen Positivismus, auch die Auffassungen der historischen Rechtsschule und die Ansicht, alle Werturteile beruhten letztlich auf subjektiven und irrationalen Gefühlen, eine Rolle. Daraus entstand der juristische Poshivismus des 19. Jahrhunderts. Er stellt drei Hauptthesen auf: a) Nur positives Recht ist Recht65. Diese These ist am eindrucksvollsten von dem deutschen Rechtsphilosophen Bergbohm (1849—1927) formuliert worden66: „Damit eine praktische, Handlungen oder Verhältnisse der Menschen und ihrer Vereine bestimmende Norm oder Regel positives Recht im Sinne der Jurisprudenz und Rechtswissenschaft ... sein könne, ist eine unerläßliche Bedingung die, daß sie zu dem wesentlichen normativen Inhalt die ebenso wesentliche Rechtsform erworben habe, was nur auf die Weise geschehen konnte, daß ihr keine kompetente rechtbildende Macht durch einen geeigneten, äußerlich erkennbaren Vorgang, der als solcher der Geschichte angehört und die formelle Rechtsquelle der betr. Norm bildet, die Rechtsqualität verlieh." Danach muß sich also für jede als Rechtsnorm anzuerkennende Norm ein äußerer historischer Akt nachweisen lassen, durch den sie als solche anerkannt oder in Kraft gesetzt worden ist. Die Parallele zu der Forderung des allgemeinen Positivismus, jede Erkenntnis müsse sich letztlich aus Sinneswahrnehmungen ableiten lassen, ist deutlich. Die These schließt jede Anerkennung eines überpositiven Naturrechts aus. b) Das positive Recht beansprucht unbedingten Gehorsam. Nichtanwendung des Gesetzes aus Bedenken gegen seinen (vielleicht als unsittlich empfundenen) Inhalt ist ausgeschlossen. Auch dies hat Bergbohm scharf formuliert 67 : „Und gerade dem um seiner Schädlichkeit oder Inhumanität mißfälligen Recht gegenüber bewährt sich erst des reinen Juristen vornehmste Tugend: Die Fähigkeit, seinen Verstand jeder Beeinflussung selbst durch die tiefsten persönlichen Überzeugungen und heißesten Herzenswünsche zu entziehen, die (Befriedigung) derselben nur auf dem Wege der Rechtsumbildung erwartend." 64

Der Ausdruck positives Recht — jus positivum — entstammt der mittelalterlichen Rechtstheorie — vgl. unten Kap. IV. Abschn. I. 1. 86 Jurisprudenz und Rechtsphilosophie (1892), S. 549. 97 aaO., S. 398.

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Die Formulierung zeigt, daß sittliche Wertungen allein als subjektive Überzeugungen, als „heiße Herzenswünsche" angesehen werden. Es gibt keine objektiven Sätze der Gerechtigkeit. c) Die Auslegung des Gesetzes hat sich grundsätzlich auf die grammatisch-logische Auslegung zu beschränken. Teleologische und Werterwägungen sind ausgeschlossen. Sie gehören in den Bereich der Rechtspolitik, der von dem der Rechtswissenschaft scharf zu trennen ist. In dieser Form ist der juristische Positivismus allerdings eine spezifische Theorie des 19. Jahrhunderts. Es gibt daneben andere Ausprägungen; z. B. sind auch viele Vertreter der sogen, soziologischen oder Interessenjurisprudenz Positivisten, obwohl sie die dritte These ablehnen, sogar scharf bekämpfen. Gemeinsam sind allen positivistischen Auffassungen aber die erste und zweite These. 5. Für den strengen Positivisten liegen Werte außerhalb des Bereichs wissenschaftlicher Erkenntnis; Werturteile sind gefühlsmäßig bedingt und rational nicht zu begründen. Von diesen beiden Sätzen akzeptiert die philosophische Richtung, die wir jetzt zu betrachten haben, der philosophische Relativismus, nur den zweiten. Sie hält die Geisteswissenschaften als Wissenschaften des Verstehens für möglich und sieht es daher auch für möglich an, wissenschaftliche Aussagen über Werte und Werturteile, die im geschichtlichen oder gegenwärtigen Kulturleben auftauchen, zu machen, ihren Inhalt festzustellen, ihre Wirkungen zu erkennen usw. Sie akzeptiert die Werte auch· — anders als der Positivismus — als besondere im Kulturleben wirksame Phänomene. Aber sie stimmt mit dem Positivismus in einem Punkt überein: Sie sieht den Geltungsgrad bestimmter Werte m letztlich irrationalen Akten des Glaubens und der Willensentscheidung. Hier endet auch für den Relativismus das rationale Argument: Daher gilt ein Wert stets nur relativ: für den Menschen, die Nation, das Zeitalter, das sich für ihn entschieden hat. Diese Lehre ist in Deutschland am eindrucksvollsten von Max Weber (1864—1920) vertreten worden68. Auch Weber geht von dem Satz aus, daß wissenschaftliche Erkenntnis nur im Bereich der Erfahrungen möglich ist — wobei er freilich diesen Begriff weiter faßt 68

Hauptschriften in diesem Zusammenhang: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904); Der Sinn der „Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917); Wissenschaft als Beruf (1919). — Jetzt vereinigt in „Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre", herausgegeben von /. Winckelmann (2. Auflage 1951). Danach wird hier zitiert.

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als der strenge Positivismus, indem er insbesondere die historischen und ökonomischen Disziplinen einbezieht. Werte können daher nicht wissenschaftlich deduziert werden. „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur was er kann und — unter Umständen — was er will. Richtig ist, daß die persönlichen Weltanschauungen auf dem Gebiet unserer Wissenschaften unausgesetzt hineinzuspielen pflegen auch in die wissenschaftliche Argumentation, sie immer wieder trüben, das Gewicht wissenschaftlicher Argumente auch auf dem Gebiet der Ermittlung einfacher kausaler Zusammenhänge von Tatsachen verschieden einschätzen lassen, je nachdem das Resultat die Chancen der persönlichen Ideale: die Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu wollen, mindert oder steigert. Auch die Herausgeber und Mitarbeiter unserer Zeitschrift werden in dieser Hinsicht sicherlich „nichts Menschliches von sich fern glauben". Aber von diesem Bekenntnis menschlicher Schwäche ist es ein weiter Weg bis zu dem Glauben an eine „ethische" Wissenschaft der Nationalökonomie, welche aus ihrem Stoff Ideale oder durch Anwendung allgemeiner ethischer Imperative auf ihren Stoff konkrete Normen zu produzieren hätte. — Richtig ist noch etwas weiteres: gerade jene innersten Elemente der „Persönlichkeit", die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, werden von uns als etwas „objektiv" Wertvolles empfunden. Wir können sie ja nur vertreten, wenn sie uns als geltend, als aus unseren höchsten Lebenswerten fließend, sich darstellen und so, im Kampfe gegen die Widerstände des Lebens, entwickelt werden. Und sicherlich liegt die Würde der „Persönlichkeit" darin beschlossen, daß es für sie Werte gibt, auf die sie ihr eigenes Leben bezieht, — und lägen diese Werte auch im einzelnen Falle ausschließlich innerhalb der Sphäre der eigenen Individualität: dann gilt ihr eben das „Sichausleben" in denjenigen ihrer Interessen, für welche sie die Geltung als Werte beansprucht, als die Idee, auf welche sie sich bezieht. Nur unter der Voraussetzung des Glaubens an Werte jedenfalls hat der Versuch Sinn, Werturteile nach außen zur vertreten. Aber: die Gehung solcher Werte zu beurteilen, ist Sache des Glaubens, daneben vielleicht eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer ErfahrungsWissenschaft in dem Sinne, in welchem sie an dieser Stelle gepflegt werden soll. Für diese Scheidung fällt nicht — wie oft geglaubt wird — entscheidend ins Gewicht die empirisch erweisliche Tatsache, daß jene letzten Ziele historisch wandelbar und streitig sind. Denn auch die Erkenntnis der sichersten Sätze unseres theoretischen — etwa des

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exakt naturwissenschaftlichen oder mathematischen — Wissens ist, ebenso wie die Schärfe und Verfeinerung des Gewissens, erst Produkt der Kultur."69 Die Anerkennung von Werten beruht auf letzten Glaubensentscheidungen im Kampf der Werte. In „Wissenschaft als Beruf" hat er ihn geschildert: „Die Unmöglichkeit wissenschaftlicher* Vertretung von praktischen Stellungnahmen — außer im Falle der Erörterung der Mittel für einen als fest gegeben vorausgesetzten Zweck — folgt aus weit tiefer liegenden Gründen. Sie ist prinzipiell deshalb sinnlos, weil die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen. Der alte Mill, dessen Philosophie ich sonst nicht loben will, aber in diesem Punkt hat er recht, sagt einmal: wenn man von der reinen Erfahrung ausgehe, komme man zum Polytheismus. Das ist flach formuliert und klingt paradox, und doch steckt Wahrheit darin. Wenn irgend etwas, so wissen wir es heute wieder: daß etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, sondern: weil und insofern es nicht schön ist, — in dem 53. Kapitel des Jesaiasbuches und im 21. Psalm können Sie die Belege dafür finden, — und daß etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist, das wissen wir seit Nietzsche wieder, und vorher finden Sie es gestaltet in den „fleurs du mal", wie Baudelaire seinen Gedichtband nannte, — und eine Alltagsweisheit ist es, daß etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist. Aber das sind nur die elementarsten Fälle dieses Kampfes der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte. Wie man es machen will, „wissenschaftlich" zu entscheiden zwischen dem Wert der französischen und deutschen Kultur, weiß ich nicht. Hier streiten eben auch verschiedene Götter miteinander, und zwar für alle Zeit. Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte, und dann dem Apollon, und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute. Und über diesen Göttern und in ihrem Kampf waltet das Schicksal, aber ganz gewiß keine „Wissenschaft". Es läßt sich nur verstehen, was das Göttliche für die eine und für die andere oder: in der einen und der anderen Ordnung ist. Damit ist aber " Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitisdier Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze, S. 151, 152.

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die Sache für jede Erörterung in einem Hörsaal und durch einen Professor schlechterdings zu Ende, so wenig natürlich das darin steckende gewaltige Lebensproblem selbst damit zu Ende ist. Aber andere Mächte als die Katheder der Universitäten haben da das Wort. Welcher Mensch wird sich vermessen, die Ethik der Bergpredigt, etwa den Satz: „Widerstehe nicht dem Übel" "oder das Bild von der einen oder der anderen Backe, „wissenschaftlich widerlegen" zu wollen? Und doch ist klar: es ist, innerweltlich angesehen, eine Ethik der Würdelosigkeit, die hier gepredigt wird: man hat zu wählen zwischen der religiösen Würde, die diese Ethik bringt, und der Manneswürde, die etwas ganz anderes predigt: „Widerstehe dem Übel, — sonst bist du für seine Obergewalt mitverantwortlich." Je nach der letzten Stellungnahme ist für den Einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist. Und so geht es durch alle Ordnungen des Lebens hindurch. Der großartige Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung, der aus jeder religiösen Prophetic quillt, hatte diese Vielgötterei entthront zugunsten des „Einen, das not tut" — und hat dann, angesichts der Realitäten des äußeren und inneren Lebens, sich zu jenen Kompromissen und Relativierungen genötigt gesehen, die wir alle aus der Geschichte des Christentums kennen. Heute aber ist es religiöser „Alltag". Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. Das aber, was gerade dem modernen Menschen so schwer wird, und der jungen Generation am schwersten, ist: einem solchen Alltag gewachsen zu sein. Alles Jagen nach dem „Erlebnis" stammt aus dieser Schwäche. Denn Schwäche ist es: dem Schicksal der Zeit nicht in sein ernstes Antlitz blicken zu können."70 Weber hat also die Grundlage der Wertgeltung in bewußten individuellen Entscheidungen gesehen. Andere haben den Akzent mehr auf die Stellungnahme von Gruppen und Generationen gelegt. Dann gelangt man entweder zur soziologisch begründeten Ideologie71 oder zum Historismus, für den den Wertungen jeweils nur zeitbedingte Geltung zukommt 72 . 70

Gesammelte Aufsätze, S. 587—589. vgl. dazu oben Absdin. VI. 3. 72 vgl. dazu insbes. Troeltscb, Der Historismus und seine Probleme (1922, Neudruck 1961). 71

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Kann die Wissenschaft also im Kampf der Weltanschauungen nicht Stellung nehmen, so kann sie doch etwas anderes: Sie kann aufzeigen, welche Mittel verwendet werden müssen, um einen bestimmten, als wertvoll empfundenen Zustand zu erreichen, und welche Opfer, etwa unter dem Gesichtspunkt anderer Werte, dabei gebracht werden müssen. Sie kann die in der Logik der Dinge liegenden Folgen einer Wertentscheidung aufzeigen und diese damit zu einer bewußten machen73. Es liegt auf der Hand, daß diese Erkenntnis gerade für die Rechtsphilosophie von großer Bedeutung sein muß. In der Rechtsphilosophie hat vor allem Gustav Radbruch (1878 bis 1949) auf dieser Grundlage eine systematische Anschauung entwickelt74. Radbruch ist von den Lehren einer Richtung in der neukantischen Philosophie, der sogen, südwestdeutschen Schule, ausgegangen. Für ihn ist alle Rechtsphilosophie „Rechtswertbetrachtung", d. h. Rechtsphilosophie hat nach den Werten zu fragen, auf Grund deren sich eine positive Rechtsordnung als gerecht oder ungerecht, richtiges oder unrichtiges Recht ausweist. Aber die Rechtsphilosophie stößt hier auf die Schwierigkeit, daß sich über Werte, etwa über das, was gerecht ist, keine allgemein gültigen Aussagen machen lassen; solche Allgemeingültigkeit kommt nur formalen Aussagen zu. Werturteile — hier teilt Radbruch einen der Grundsätze des Positivismus — sind „nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig."75 Diese Schwierigkeit überwindet Radbruch, indem er die Aufgabe der Rechtsphilosophie begrenzt. Sie hat einmal zu untersuchen, welche Mittel möglich und tauglich sind, einen bestimmten Wert zu verwirklichen; sie hat zum anderen zu prüfen, welche Höchstwerte denkbar sind, und ihr systematisches Verhältnis festzustellen. Damit gelangt er zu einem „systematischen Relativismus". „Aber die Rechtswertbetrachtung wird sich auf die Untersuchung der richtigen Mittel nicht beschränken, sie wird zur Rechtsphilosophie erst, wenn sie die Rechtszwecke zu ihrem Gegenstande macht, wie sie in mannigfach verschiedener Auffassung nicht nur in den Systemen der Rechtsphilosophie, sondern auch in den Institutionen der Rechtswirklichkeit, nicht nur in den Programmen der politischen Parteien, sondern auch in den Intuitionen staatsbewußter Einzel75

vgl. etwa M. Weber, die „Objektivität" sozialwissensdiaftlidier und sozialpolitischer Erkenntnis, Gesammelte Aufsätze, S. 149 ff. 74 Grundzüge der Reditsphilosophie (1. Aufl. 1914), jetzt die seit seinem Tode von Erik Wolf besorgte „Reditsphilosophie" in der 6. Aufl. 1963. 75 Radbrud), Grundzüge der Reditsphilosophie (l.Aufl. 1914),S. 2.

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Persönlichkeiten zum Ausdruck kommen. Vermag auch die Rechtsphilosophie in diesem Kampfe der Meinungen nicht wissenschaftlich für eine unter ihnen zu entscheiden, so kann sie doch die persönliche Entscheidung wissenschaftlich vorbereiten: indem sie die allgemeine Maxime vergegenwärtigt, welche durch eine jede jener politischen Aussagen, Handlungen oder Institutionen betätigt und so stillschweigend bestätigt wird, indem sie also ihre politischen Konsequenzen, ihre weltanschaulichen Voraussetzungen und endlich ihr systematisches Verhältnis zu anderweiten politischen Überzeugungen klarlegt. Sie wird zunächst den vorliegenden Rechtszweck im Sinne immanenter Widerspruchslosigkeit zu Ende denken, und zwar in zweifacher Richtung: sie wird sich einerseits den ganzen zur Erreichung dieses Rechtszwecks notwendigen Apparat, die Mittel mit allen Nebenwirkungen ihrer Anwendung vor Augen führen, aber zum Unterschied von der Politik nicht, um diese Mittel selbst, sondern um in ihnen in konkreter Plastik den Rechtszweck kennenzulernen, den Rechtszweck in seiner ganzen politischen Tragweite zu erfassen; und sie wird sich andererseits die kantisch formulierte Frage vorlegen: wie ist der vorliegende Rechtszweck möglich? welche Voraussetzungen muß man anerkennen, um konsequenterweise diesen Rechtszweck anerkennen zu dürfen? und sich so auf seinen weltanschaulichen Hintergrund besinnen. Nachdem so alle zur Untersuchung stehenden politischen Standpunkte ihren Konsequenzen und Voraussetzungen und damit auch erst ihrem Inhalte nach zur Gegebenheit gebracht worden sind, gilt es endlich, sie in ihrem gegenseitigen Verhältnis, in ihrer Gegensätzlichkeit oder Gemeinsamkeit, systematisch zu begreifen und in diesem Systeme zugleich die Möglichkeit zu gewinnen, alle überhaupt denkbaren Ausgangspunkte verschiedenen politischen Denkens erschöpfend zu ermitteln."76 Radbruch .entwickelt zunächst den Rechtsbegriff als „Gemeinschaftsregelung"77. Für diese Gemeinschaftsregelung ergeben sich ihm drei mögliche Höchstwerte, an denen jene sich ausrichten kann: der Persönlichkeitswert, der Gemeinschafts wert, der Werkwert; anders formuliert: „Freiheit, Macht, Kultur." „Da jede dieser Wertarten die Führung übernehmen und sich die beiden ändern dienstbar machen kann, ergeben sich drei mögliche Konfigurationen: 1. die Werkwerte und die Gemeinschaftswerte im Dienste der Persönlichkeitswerte — Kunst und Wissenschaft, Staat und Recht im Dienste der individuellen Sittlichkeit; 78

Radbruch, aaO., S. 26 f.

" aaO., S. 42.

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2. die Persönlichkeitswerte und die Werkwerte im Dienste der Gemeinschaftswerte — Sittlichkeit, Wissenschaft und Kunst im Dienste von Recht und Staat; 3. die Persönlichkeitswerte und die Gemeinschaftswerte im Dienste der Werkwerte — Sittlichkeit, Recht und Staat im Dienste von Wissenschaft und Kunst, im Dienste der (objektiven) Kultur."78 Mit diesen systematisch als möglich ermittelten Höchstwerten vergleicht Radbruch nun die Zielsetzung der damals in Deutschland existierenden politischen Parteien: Für die Liberalen ist die Freiheit, für die Konservativen die Macht des Staates, für die katholische Partei des Zentrums die Kirche, also ein „Werkwert" im Sinne seines Systems höchster Wert. Zu der Einordnung des Sozialismus sagt er: „Große Schwierigkeiten bereitet die Einordnung des Sozialismus in das rechtsphilosophische Parteienschema — Schwierigkeiten, die in dem Gegensatze zwischen Revisionismus und Radikalismus ihren praktischen Ausdruck finden. Will der Sozialismus unter den gegebenen Verhältnissen praktisch wirken, so muß er sich selbst einem Parteienschema eingliedern, das als in dem Grundprinzip seiner Einteilung verfehlt anzusehen doch gerade in seinem Wesen liegt — der Revisionismus betont mehr die erste, der Radikalismus mehr die zweite Seite dieser Antinomie. Nach revisionistischer Auffassung ist die Sozial „demokratie" eine Art der Demokratie, mit der bürgerlichen Demokratie in der Frage nach dem Ziele des Staates einig, gerade wie sie, trotz des Namens „Sozialismus", im Ausgangspunkte individualistisch, aber mit der eingestifteten Neigung, ins Transpersonalistische umzuschlagen, mit ihr uneinig nur über die Art oder sogar nur das Maß der zur Erreichung jenes Zieles gebotenen wirtschaftspolitischen Mittel und deshalb nicht abgeneigt, sich einer bürgerliche und sozialistische Elemente gleichermaßen umfassenden Demokratie und vielleicht auch einem noch umfassenderen „Großblock" einzufügen. Nach radikaler Auffassung ist der Sozialismus dagegen der bürgerlichen Demokratie genau so fremd und feind wie allen anderen bürgerlichen Parteien, der einen großen reaktionären Masse. Nach ihr kann und darf ebensowenig dem Sozialismus in dem überlieferten Parteienschema ein Ort bestimmt werden, wie etwa einer Farben- oder Geruchsnuance in der Tonleiter, weil er nämlich auf einem ganz anderen Grundprinzip beruht. Das überlieferte Parteienschema beruht auf rechtsphilosophischen Kriterien, der Sozialismus aber leugnet den wissenschaftlichen Wert und die parteibildende Kraft der Rechtsphilo78

Radbrtid}, aaO., S. 95.

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sophie: es gibt für ihn keine Rechts-, sondern nur eine Wirtschaftsphilosophie."79 Radbruch hat später, nach den Erfahrungen der Hitler-Diktatur, sein System insofern modifiziert, als er jetzt den Grundrechten einen allgemeineren Wert beilegt80. Darauf ist hier aber nicht näher einzugehen; in unserem Zusammenhang kommt es nur darauf an, Radbruchs ursprüngliche Position zu kennzeichnen. Für sie ist charakteristisch, daß zwar eine inhaltliche Bestimmung des Gehalts von Werten für möglich gehalten wird, eine Entscheidung zwischen verschiedenen Werten aber nicht rational, sondern nur aufgrund eines Gefühls- und Willensaktes, als „Bekenntnis" möglich ist.

IX. Zur gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion Es würde den Rahmen dieser Skizze überschreiten, ein vollständiges Bild der gegenwärtigen Strömungen in der Rechtsphilosophie bieten zu wollen, wie dies für seine Generation Recasens in seiner großangelegten Darstellung des Pensamiento Juridico getan hat. Es sollen nur Hinweise auf einige Tendenzen gegeben werden, die dem Verfasser wichtig erscheinen. 1. Die neuen Ansätze, welche vor allem im 19. Jahrhundert entwickelt und hier unter dem Stichwort „Moderne" dargestellt worden sind, üben auch in der aktuellen Diskussion noch einen bedeutenden Einfluß aus. Die Lehre von Marx war nicht nur die offizielle Philosophie in den sozialistischen Staaten; sie bildet auch die Basis für einflußreiche sozialphilosophische Theorien in anderen Ländern. Beispiele in Deutschland bieten die von der sog. Frankfurter Schule entwickelte „Kritische Theorie"81 und die Philosophie Ernst Blochs82. In den angelsächsischen Ländern übt der von Bentham begründete Utilitarismus nach wie vor einen bedeutenden Einfluß aus. Dies zeigt sich

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Radbruch, aaO., S. 154 f. vgl. Radbrttch, Vorschule der Rechtsphilosophie (1947; zitiert nach der 2. Aufl. 1959), S. 97 ff. 81 Eine Auseinandersetzung mit der analytischen Philosophie in der Form, wie sie von Popper vertreten wird, hat im sog. „Positivismusstreit" stattgefunden. Vgl. Adorno u.a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1972). 80

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vgl. Das Prinzip Hoffnung. Scharfe Kritik bei Jonas, Das Prinzip Verantwortung (1979), Kap. VI; zur jetzigen Lage, Joachim Fest, „Utopie".

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z.B. in den Einzelerörterungen in John Rawls „Theory of Justice", obwohl dieses Werk auf anderen Grundlagen beruht. Auch der Ansatz der von Austin geschaffenen und in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts vor allem von Kelsen konsequent ausgebauten allgemeinen Rechtslehre83 ist fortentwickelt worden. H. L. A. Hart hat in seinem Buch „The Concept of Law" (I.Auflage 1961) die von Austin verfolgten Fragen nach der Eigenart der rechtlichen Normen wieder aufgegriffen und für sie neue Lösungen erarbeitet. 2. Große Bedeutung haben auch die Anstöße der neopositivistischen Richtung des Wiener Kreises behalten84. In dem Bestreben, eine allgemeine Wissenschaftstheorie zu entwickeln, sind nicht nur die Zielsetzungen dieser Philosophie wirksam; ihre Wirkung zeigt sich auch in den Wegen, auf denen dieses Ziel erreicht werden soll. Untersuchungen der logischen Struktur der wissenschaftlichen Systeme, insbesondere Analysen der Aussagensysteme der Einzelwissenschaften, nehmen einen breiten Raum ein, auch wenn die Wissenschaftstheorie im Ansatz nicht darauf beschränkt sein soll85. Die gleiche Feststellung läßt sich auch für den Teil der Wissenschaftstheorie treffen, welcher dem Recht gewidmet ist, der Rechtstheorie. Das Programm der rechtstheoretischen Forschung ist darauf gerichtet, neben der Rechtssoziologie eine neue umfassende Grundlagenwissenschaft für den Bereich des Rechts zu entwickeln. Sie soll nicht nur Auslegung und Anwendung, sondern auch die Setzung des Rechts umfassen und über die bisherigen Grundlagen der Rechtswissenschaft, Rechtsphilosophie und damit Rechtsgeschichte hinausführen86. Wie in der allgemeinen Wissenschaftstheorie spielen aber auch in der rechtstheoretischen Forschung logische und sprachanalytische Untersuchungen eine besondere Rolle87. 83 84

Dazu oben S. 65 ff.

Vgl. oben S. 61 ff. 85 Vgl. die Betonung der formalen Logik und der Theorie der Wissenschaftssprache im Rahmen der Wissenschaftstheorie bei Mittelstraß im Vorwon zu der von ihm herausgegebenen Encyklopaedie „Philosophie und Wissenschaftstheorie", auch die Bemerkung von Ströker in „Nonnfragen der Wissenschaftstheorie" in dem Sammelband „Ethik der Wissenschaften" (S. 44). 86 Vgl. etwa Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie II: Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, hrsg. von Hans Albert, N. Ltihmann, W. Maihofer u. Ota Weinberger (Bielefeld 1972); insbesondere dort den Programmaufsatz von Maihofer, (S. 51—78). Guter Überblick über die verschiedenen Ansätze ferner in dem Werk von Krawietz, „Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis" (1978), der selber von einer fortentwickelten Interessen- und Wertungsjurisprudenz ausgeht. 87 Vgl. Krawietz, aaO., S. 147.

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3. Hervorzuheben ist vor allem der bedeutende Beitrag, den Niklas Luhmann zur Begründung einer Rechtstheorie geleistet hat. Luhmann hat in seiner Rechtssoziologie88 über die bisherigen Ansätze hinaus die Rechtssoziologie systemtheoretisch und evolutionstheoretisch aufgebaut. Die Systemtheorie betrifft allgemein gesehen die Beziehungen (Interdependenzen) zwischen den Elementen einer Ganzheit (System), und zwar sowohl diejenigen innerhalb dieser Ganzheit, wie diejenigen zu ihrer Umwelt. Systeme finden sich zunächst in der Natur, z.B. Gase oder Atome, aber auch in der sozialen Welt des Menschen da, wo Menschen über längere Zeit zusammen leben und aufeinander einwirken (Interaktion), als soziale Systeme, so etwa Familie, Betrieb, Nation. Luhmann selbst hat das soziale System definiert als „Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen..., die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen".89 Die Systemtheorie untersucht die im System auftretenden Strukturen und Prozesse sowie die Funktion des Systems selbst wie diejenige seiner Elemente. Luhmann hat der funktionalen Analyse eine besondere Bedeutung zugewiesen. Er geht dabei von einer bestimmten Grundsituation des Menschen in seinem Verhalten zur Welt aus. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen ist der Mensch nicht in eine bestimmte Umwelt eingepaßt und auf sie fixiert. Er steht vor einer Fülle von Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, einer Fülle, die größer ist, als er wirklich vollziehen kann (sog. „Komplexität")90. Diese Komplexität zwingt ihn zur Beschränkung, zur Auswahl zwischen Möglichkeiten (Selektion, Reduktion). Für das Verständnis eines sozialen Systems kommt den Erwartungen, von denen die in ihm handelnden Menschen ausgehen, besondere Bedeutung zu. „Handlungssysteme strukturieren sich nicht durch Seinsgesetze, sondern durch Erwartungszusammenhänge".91 Erwartungen können freilich im Einzelfall enttäuscht werden (sog. Kontingenz)92. Hinsichtlich der Wirkung solcher Enttäuschungen sind cognitive und normative Erwartungen zu unterschreiten. Cognitive Erwartungen betreffen Annahmen über die Beschaffenheit der Realität. Stellen sie sich 88

2 Bände 1972; ferner in dem Werk „Ausdifferenzierung des Rechts, Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorien" (1981), insbesondere Kap. 10: Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, S. 241 ff. 89 „Soziologie als Theorie sozialer Systeme" in: Kölner Zeitschrift für Soziologie (1967), S. 617. 90 Rechtssoziologie I, S. 31. 91 Rechtssoziologie I, S. 116. 92 AaO., S.31.

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als falsch heraus, so korrigieren wir unsere Annahmen nach der gemachten Erfahrung: wir lernen. Normative Erwartungen gehen auf das Verhalten von anderen, die sich aus normativen Vorstellungen ergeben. Werden sie enttäuscht, so ändern wir deshalb unsere Normvorstellungen und die ihnen entsprechenden Erwartungen nicht. Sie werden vielmehr aufrechterhalten und das abweichende Verhalten des anderen verurteilt (sog. „kontrafaktische Dauergeltung").93 Die Enttäuschung muß aber verarbeitet werden94. Soziale Systeme haben die Funktion, die Erfassung und Reduktion von Komplexität sowie die Verarbeitung von Enttäuschungserlebnissen zu ermöglichen'5. Besondere Bedeutung kommt dabei der Generalisierung von Verhaltenserwartungen zu. Generalisierung bedeutet im Kern unschädliche Indifferenz gegen Unterschiede, Vereinfachung, und insofern Reduktion von Komplexität. Durch Generalisierung der Verhaltenserwartungen wird die konkrete Abstimmung des sozialen Verhaltens mehrerer erleichtert, indem schon vorher typisch festliegt, was etwa erwartet werden kann und welches Verhalten die Grenzen des Systems sprengen würde. Diese Vorauswahl des im System Möglichen kommt auf der Ebene des Erwartens, nicht des unmittelbaren Handelns zustande, weil nur so die Situation im Vorgriff auf die Zukunft transzendiert werden kann. Solche Generalisierungen können in verschiedenen Richtungen (Dimensionen) stattfinden. Luhmann unterscheidet hier die zeitliche, sachliche und soziale Dimension. Zeitlich werden Erwartungen dadurch generalisiert, daß ihnen enttäuschungsfeste, notfalls kontrafaktische Dauergeltung verliehen wird. In solchen Erwartungen kommt ein Verhaltensanspruch zum Ausdruck, der auch angesichts von abweichendem Verhalten festgehalten und im sozialen Verkehr vertreten werden kann. Dazu muß der Erwartende lernen, eine Enttäuschung mitzuerwarten, sich aber dadurch in seiner Verhaltenserwartung nicht beirren zu lassen. Die psychologische Forschung hat gezeigt, daß das möglich ist und daß enttäuschungsgefaßte Erwartungen durchweg stabiler sind als rein faktische Erwartungen. Jede Norm ist in diesem Sinne ambivalentes Erwarten — und gerade dadurch stabil. Aber diese Stabilisierung setzt Regeln für den Umgang mit Enttäuschungen voraus: Der Erwartende darf sich im Enttäuschungsfalle nicht als blamiert erweisen, er muß sein Erwarten fortsetzen und auf dieser Basis sinnvoll weiterhandeln können, muß sich die Enttäuschungen erklären und notSoziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 626. Rechtssoziologie I, S. 42. Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 619.

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falls seinen Gefühlen Ausdruck geben können. Dazu ist ein ziemlich fest institutionalisiertes Repertoire von Symbolen, Zurechnungsweisen, sozialen Hilfen und Aktionschancen erforderlich, das z.B. mit den Bedürfnissen nach sachlicher Generalisierung des Erwartens in Konflikt geraten kann. Sachlich werden Erwartungen durch situationsunabhängige Identifikation ihres Sinnes und Grundes generalisiert. Dafür gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die je nach der Komplexität des Sozialsystems in unterschiedlichem Maße strukturtragend werden. Vor allem ist an die Identifikation von konkret bekannten Personen, von Rollen, von Entscheidungsprogrammen (Zwecken oder konditionalen Normen) und von abstrakten Werten zu denken, die in sehr unterschiedlicher Weise als Kriterien dessen dienen, was man erwarten kann. Soziale Generalisierung von Erwartungen erfolgt durch Institutionalisierung. Soweit eine Erwartung institutionalisiert ist, kann der Erwartende von Zustimmung ausgehen, ohne individuelle Meinungen und Motive geprüft zu haben. Das erspart es in der Regel, die Konsensfrage zu stellen und zu diskutieren, und ermöglicht so rasche Verständigung über ausgewählte Themen der Situation. Wer in den Prämissen dieser Verständigung anderer Meinung ist, muß widersprechen, Initiative ergreifen, sich Motive und Gründe beschaffen, gegen die mutmaßliche Meinung der Umstehenden agieren, sich exponieren und das Risiko persönlicher Darstellung und Zurechnung auf sich nehmen. Das ist als Regelverhalten so schwierig, daß ein solches Provozieren der Institution zumeist unterbleibt und Institutionen auch das Schwinden faktischen Konsens lange überdauern können96. Kongruente Generalisierungen sind vor allem durch „erinnerte Geschichte" und rechtliche Organisation möglich97. Luhmann definiert das Recht als „Struktur eines sozialen Systems, die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht"." Das Recht unserer Zeit ist das Produkt einer Evolution, die sich von archaischen Gesellschaftssystemen zu den antiken Hochkulturen und schließlich zu der neuzeitlichen Hochkultur unserer Gesellschaftsformen vollzogen hat. Diese Evolution besteht in erster Linie in der Bewältigung einer immer größeren Komplexität. Das Recht muß zwar einerseits Sicherheit für bestehende normative Erwartungen bieten, andererseits aber auch Raum für die Entwicklung neuerer Erwartungsstrukturen und %

Vgl. Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 626, 627, auch Rechtssoziologie I, S. 53—94, S. 94 insbesondere seine Zusammenfassung. 97 AaO., S.628. 98 Rechtssoziologie I, S. 105.

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damit neuerer normativer Systeme lassen", wie sie sich unter Umständen in dem abweichenden Verhalten von Minoritäten bilden können. Den entscheidenden Schritt dieser Evolution sieht Luhmann in der Positivierung des Rechts. Dieser Schritt hat sich mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft vollzogen. Unter positivem Recht versteht Luhmann dabei in erster Linie die Gesetze des modernen Staates in einer Gesellschaft, die unter dem Primat der Wirtschaft gegenüber dem früheren Primat der Politik steht. Das Charakteristische dieses positiven Rechts ist, daß es durch Entscheidung gesetzt ist und kraft dieser gilt, nicht aber durch die Vorstellung einer ewig gültigen und daher statischen Weltordnung legitimiert wird, wie sie das klassische Naturrecht der europäischen Tradition vertreten hat. Das positive Recht muß insbesondere durch das Verfahren, in dem es gesetzt wird, legitimiert werden, also durch den politischen Prozeß, in dem die Auswahlentscheidungen getroffen werden100. Diese Positivierung des Rechts bringt Vorteile und Risiken mit sich. Vorteile sieht Luhmann zunächst in der Ausdifferenzierung des Rechts von der Moral und von kognitiven Prozessen, in der Möglichkeit konditionale Entscheidungsprogramme zu entwerfen, an die diejenigen, die im Einzelfall zu entscheiden haben, gebunden sind, in der Differenzierung des Verfahrens zur Rechtssetzung und zur Rechtsanwendung und schließlich vor allem in der Ermöglichung einer leichten und häufigen Rechtsänderung und damit der Anpassung des Rechts an veränderte Verhältnisse, ohne starre Bindung an Naturrecht oder Werte101. Andererseits bringt eine solche erhöhte Möglichkeit der Rechtsänderung auch spezifische Risiken mit sich102. Naturrecht und Gerechtigkeitsideale genügen nach Luhmann nicht mehr, um ein modernes Nonnensystem zu beherrschen und zu steuern. Das klassische Naturrecht war ein Abbild der ewigen Ordnung der Welt. Die klassische Gerechtigkeitsidee impliziert eine umfassende perfekte Ordnung. Diese Vorstellungen konnten lange Zeit das Recht legitimieren und als Kriterien für Recht und Unrecht bei der Setzung von Recht oder von Rechtsentscheidungen dienen. Diese Funktion können sie aber unter den Bedingungen der komplexen modernen Gesellschaft nicht mehr ausüben. Sie sind nicht komplex genug. „Wie sollen Vorstellungen von 99

Rechtssoziologie I, S. 130. Vgl. Rechtssoziologie I, S. 210 sowie die Abhandlung: Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: Ausdifferenzierung des Rechts, S. 374 ff. 101 Vgl. Rechtssoziologie I, S. 218 ff., 227 ff., 234 ff., 260 sowie 239 u. 242. 102 Rechtssoziologie I, S. 251 ff. 100

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sehr unbestimmter Komplexität solche von bestimmter Komplexität kontrollieren können?"103 Es ist daher notwendig, mit dieser Tradition zu brechen und sie durch eine systemtheoretische Interpretation zu ersetzen104. Zu erwägen ist eine Neuformulierung des Gerechtigkeitsbegriffs im Sinne einer „adäquaten Komplexität des Rechtssystems".105 Hervorzuheben ist, daß die systemtheoretische Auffassung des Rechts bedeutet, daß rechtliche Normen und Institutionen nur im Hinblick auf ihre Funktion im System (Systemerhaltung) gesehen werden. Weder eine kausale Erklärung noch ein inhaltliches Verstehen kommen in den Blick106. 4. Andererseits haben die Denkrichtungen der Moderne im Laufe der letzten Jahrzehnte aber auch Kritik erfahren. Es sind z. T. unter Rückgriff auf ältere Lehren Rechtstheorien entwickelt worden, in deren Mittelpunkt der Versuch steht, den Inhalt der Gerechtigkeit näher zu bestimmen. a) Gegen die Tendenz des Neopositivismus, Philosophie allein auf den Methoden aufzubauen, welche die Naturwissenschaften, die Mathematik und die Logik benutzen, und sie als wissenschaftliche Philosophie auf eine Überprüfung und exaktere Gestaltung dieser Methoden zu beschränken, hat sich Hans Jonas in seinen ethischen Schriften gewandt. Mit dieser Betrachtungsweise verliere man das Höchste in der Entwicklung des Lebens, den menschlichen Geist, aus dem Blickfeld; sie impliziere eine Beschränkung auf die Welt der Materie. Dies sei als Maxime für die naturwissenschaftliche Forschung berechtigt, nicht aber für eine philosophische Interpretation: „Das Sein oder die Natur ist eins und legt Zeugnis von sich ab in dem, was es aus sich hervorgehen läßt. Was das Sein ist, muß daher seinem Zeugnis entnommen werden, und natürlich dem, das am meisten sagt..., dem entwickeltsten und nicht dem ärmsten — also dem uns zugänglichen Höchsten".107 Jonas hat aus einer Gesamtbetrachtung des Lebens und seiner Entwick1 lung dann seine Ethik der Verantwortung entworfen,10g 103

Rechtssoziologie I, S. 216. Vgl. Rechtssoziologie I, S. 186 sowie die genannte Abhandlung über Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft. 105 Vgl. die erwähnte Abhandlung, S. 388. 106 So Luhmann ausdrücklich in: Funktionale Methode und Systemtheorie, Soziale Welt 15 (1964), S. 2. Vgl. auch „Funktionale Methode und juristische Entscheidung", in: Archiv des öffentlichen Rechts, 94 (1969), S. 1—31, insbes. S. 7. 107 Das Prinzip Verantwortung (1979), S. 136. 108 Vgl. außer dem genannten Werk noch: Organismus und Freiheit (1973), 104

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b) Für das Problem der möglichen oder nicht möglichen rationalen Begründung von Werturteilen ist die Wiederentdeckung der Topik, die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, von großer Bedeutung. Die „Topik" ist eine Schrift des Aristoteles, in der dargestellt wird, wie man mit Argumenten, welche ein denkender Diskussionspartner akzeptieren muß, wahrscheinliche Sätze aufstellen kann. In der Topik des Aristoteles sollen diese dann zur Grundlage eines philosophischen Streitgespräches gemacht werden109. Die Topik hatte in der antiken Logik und Rhetorik, und ebenso in der gelehrten Jurisprudenz Europas seit dem 12. Jahrhundert eine große Rolle gespielt, war aber mit dem allgemeinen Zurückgehen des Interesses an logischen Studien im 19. Jahrhundert aus dem Blickfeld geraten. In der philosophischen Diskussion der Nachkriegszeit hat vor allem der belgische Philosoph Perelman die Bedeutung der Topik für unser Verständnis von Rationalität und für die rationale Begründung ethischer Urteile herausgearbeitet110. Perelman weist darauf hin, daß dadurch, daß man die Topik und Rhetorik aus dem Blick verloren habe, sich ein falsches Bild von Rationalität überhaupt gebildet habe. Es sei die Vorstellung entstanden, daß als rational begründet nur Sätze anzusehen seien, die sich deduktiv aus evidenten (oder axiomatisch gesetzten) Prinzipien ableiten ließen. In Wahrheit gäbe es aber einen weiten Bereich des Denkens und des Handelns, in dem wir durch das Prüfen und Abwägen einzelner rationaler Argumente bestimmt würden. Diese Gebiete dürften nicht aus dem Bereich des Rationalen verwiesen werden. Topik und Rhetorik gehörten vielmehr dem Gebiet des Rationalen an. Es liegt auf der Hand, daß dieser Lehre gerade für den Bereich der Ethik und des Rechts besondere Bedeutung zukommt. Gerade hier tritt uns Rationalität häufig in der Form der Argumentation entgegen. Es ist kein Zufall, daß Perelman sie gerade auf der Grundlage von Analysen des insbesondere zur Kritik der positivistischen Philosophie, S. 19 ff., 22, 72, 81 ff., 116. 109 Vgl. Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen (1965), Kap. I; Somsen, Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik (1929), S. 156, 164; Flashar, Aristoteles, in: Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 3 (1983), S. 238. 110 Vgl. Traite de l'Argumentation, 2 Bde., Paris 1958; Le Champs de Argumentation, Brüssel 1970; Justice et Raison (1965); Über die Gerechtigkeit (1967). In Deutschland hat Viehweg auf die Topik insbesondere als Form des juristischen Denkens hingewiesen: Topik und Jurisprudenz, 3. Aufl. 1965. Ein hervorragendes Beispiel einer auf rationaler Argumentation aufgebauten Ethik bietet Patzig, Ethik ohne Metaphysik (1971).

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juristischen Denkens entwickelt hat. Der Hinweis auf die Topik macht deutlich, daß es unzulässig ist, Ethik und Recht einfach als Bereiche anzusehen, in denen allein aufgrund von irrationalen — gefühlsmäßigen oder glaubensmäßigen — Überzeugungen entschieden wird, d.h. als Gebiete, die der „Metaphysik" in dem pejorativen Sinne der Positivisten zuzurechnen sind. Die Existenz der Topik als eines rationalen Verfahrens zeigt, daß eine rationale Ethik jedenfalls möglich ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang noch eine einzelne Lehre, die Perelmann formuliert hat. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Argumentationsweise und dem Partner, an den der Argumentierende sich wendet1". Daraus laßt sich nun der Gedanke einer Argumentation gewinnen, die sich an die Gesamtheit vernünftiger Menschen richtet (auditoire universel). Die Annahme eines solchen auditoire universel ließe sich dann zu einem Kriterium für die Rationalität der Argumentation entwickeln. Die Grundlage einer solchen Argumentation wäre dann, „was jeder klar denkende und sachlich urteilende Mensch als wahr annehmen kann".112 Unter Benutzung dieser Methode hat Perelman eine Theorie der Prinzipien der Gerechtigkeit entwickelt, c) Eine Kritik des Utilitarismus Benthamscher Prägung findet sich bei dem amerikanischen Philosophen John Rawls113. Gegen Bentham's utility-principle wird eingewandt, hier werde eine Interessenabwägung, wie sie ein einzelner Mensch bei individuellen Lebensentscheidungen vornehmen könne, auf das soziale Ganze übertragen. Dies sei aber unzulässig, weil diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, deren Interessen geopfert werden, dem vernünftigerweise nie zustimmen könnten114. Rawls wählt infolgedessen einen anderen Ansatz, der in vieler Hinsicht an Perelmans Lehre vom auditoire universel erinnert, obwohl er selbständig entwickelt und von Rawls — m. E. nicht zu Unrecht — als „kantisch" bezeichnet wird. Er greift auf den Gedanken des Sozialvertrages zurück, um die „Principles of Justice" zu finden, die geeignet sind, „social justice" in einer „well ordered society" zu garantieren. Rawls benutzt den Sozial-

111

Besonders ausgeführt in „Cadres sociaux de l'argumentation", in: Le Champs de Pargumemation. 112 So die Formulierung von Patzig, Ethik ohne Metaphysik, S. 66. 113 A Theory of Justice (1972). 114 Vgl. S. 14, 22 ff.

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vertrag — wie viele Autoren des 18. Jahrhunderts — als Kriterium, an dem sich rational ermitteln läßt, was gerecht ist115. Er fragt, auf welche Regeln sich rationale Menschen für die Regelung ihres Zusammenlebens einigen würden (in „rational choice")116. Dabei wird aber eine bestimmte Situation angenommen („original situation"), insbesondere, daß die Abstimmenden bestimmte Dinge nicht wissen, z. B. ihre eigene Situation in der künftigen Gesellschaft117. Unter diesen Bedingungen würden nach Rawls autonome Menschen zwei Prinzipien annehmen: (1) "equality in the assignment of basic rights and duties". (2) "social and economic inequalities, for example, inequalities of wealth and authority, are just only, if they result in compensating benefits for everyone, and in particular for the least advantaged members of society."118 Das zweite Prinzip ist das der „fraternite".119 i: Das erste Prinzip geht dabei dem dem zweiten vor,.120 "Justice" nach diesen Prinzipien nennt Rawls "justice as fairness".

115

S. 11/12. S. 17. 117 Z.B. ob sie reich, Mitglied der Oberschicht etc. werden, sog. "veil of ignorance", S. 117 ff. 118 Vgl. S. 14/15; genauer S. 302. 116

119 120

S. 105. S. 60.

KAPITEL II GRUNDLAGEN DES EIGENEN ANSATZES I. Versucht man angesichts der Fülle rechtsphilosophischer Ansätze einen eigenen Standpunkt zu gewinnen, so stellt sich zunächst die Frage, auf welchen Grundlagen dies geschehen kann. Unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Recht beruhen vor allem auf der Ethnographie, der Rechtsgeschichte, die ein Teil der Kulturgeschichte ist, und auf der Rechtswissenschaft, deren Gegenstand die geltenden Rechtsordnungen der gegenwärtigen Staaten bilden. Diese Wissenschaften gehören zu dem Bereich der Geisteswissenschaften oder Kulturwissenschaften. Der Erkenntniswert gerade dieses Wissenschaftszweiges muß aber, folgt man den Thesen der radikalen Richtung des philosophischen Positivismus, zweifelhaft erscheinen. Unsere Überlegungen müssen daher mit einer Erörterung des Erkenntniswertes dieses Zweiges der Wissenschaft beginnen1"8. 1. Die Existenz der Geisteswissenschaft neben den Naturwissenschaften beruht auf einer Grundgegebenheit des menschlichen Daseins, nämlich der Tatsache, daß wir uns auf der einen Seite Dingen, auf der anderen Seite Personen gegenüber sehen9. Für die Geisteswissen1—8

Vgl. dazu Dilthey, Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften (Ges. Schriften VII), Einleitung in die Geisteswissenschaften (Ges. Schriften I), Die geistige Welt (Ges. Schriften V); Bollnow, Das Verstehen (1949); Cadamer, Wahrheit und Methode (1960). * Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften (Nachdruck 1961) führt dazu S. 39 aus: „Wenn wir die Wahrnehmung in ihrem einfachen phänomenalen Bestand zu beschreiben suchen, so zeigt sie uns gewissermaßen ein doppeltes Antlitz. Sie enthält zwei Momente, die in ihr innig verschmolzen sind, deren keines sich aber auf das andere reduzieren läßt. Sie bleiben in ihrer Bedeutung voneinander geschieden, wenngleich es nicht gelingt, sie faktisch zu sondern. Es gibt keine Wahrnehmung, die nicht einen bestimmten „Gegenstand" meint und auf ihn gerichtet ist. Aber dieser notwendige objektive Bezug stellt sich uns in einer zweifachen Richtung dar, die wir, kurz und schematisch, als die Richtung auf das „Es" und als die Richtung auf das „Du" bezeichnen können. Immer besteht in der Wahrnehmung eine Auseinanderhaltung des Ich-Poles vom Gegenstands-Pol. Aber die Welt, die dem Ich

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sdiaft besteht die Aufgabe darin, Handeln und Äußerungen von Menschen, menschliche Schöpfungen in Werken der Kunst, der Philosophie, der Religion ebenso wie im Bereich der politischen und wirtschaftlichen Organisation zu verstehen und in ihrem Gehalt zu entfalten. Die Geisteswissenschaft kann nicht beobachtete Fakten registrieren und messen; sie muß Lebensäußerungen begreifen. Die eigentlich historischen Geisteswissenschaften verfolgen das Ziel, das Handeln und Leben sowie die Werke von Menschen der Vergangenheit aus den Bedingungen ihrer Zeit zu verstehen; die politische Geschichte ist ihnen ebenso zuzurechnen wie die Kunstgeschichte, Wirtschaftsgeschichte oder Religionsgeschichte; Gegenstand der Untersuchung kann dabei ebensowohl das Leben eines einzelnen Menschen, ja eine einzelne Handlung oder ein einzelnes Werk, wie ein größerer Zusammenhang, ein ganzer Zeitabschnitt sein. In den systematischen Geisteswissenschaften steht der Gedanke im Vordergrund, den Inhalt eines gegebenen geistigen Ganzen — eines Glaubensbekenntnisses oder einer Rechtsordnung — im einzelnen zu entfalten; in den normativen Disziplinen wie Ethik oder Ästhetik werden dabei die Folgerungen aus bestimmten Grundwerten oder Grundsätzen für menschliches Handeln oder Urteilen gezogen. Stets aber werden dabei menschliche Handlungen, Äußerungen oder Schöpfungen, geistige Gehalte interpretiert. Eine menschliche Handlung oder ein menschliches Werk, etwa eine Urkunde, zu verstehen, heißt aber sie in ihrem Sinn erfassen, in dem, was damit gewollt und gemeint ist. Nicht die einfache Beobachtung, sondern die Deutung des Beobachteten als sinnvolle menschliche Lebensäußerung ist hier das Entscheidende. Ich kann, wie bereits bemerkt, einen Text in einer unbekannten Schrift noch so sorgfältig gegenübertritt, ist in dem einen Falle eine Ding-Welt, in dem anderen Falle eine Welt von Personen. Wir betraditen sie das eine Mal als ein Ganzes räumlidier Objekte und als den Inbegriff zeitlicher Veränderungen, die sich an diesen Objekten vollziehen, während wir sie das andere Mal als etwas „Unseresgleichen" betrachten. Die Andersheit bleibt in beiden Fällen bestehen; aber in ihr selbst zeigt sich ein charakteristischer Unterschied. Das „Es" ist ein anderes schlechthin, ein aliud; das „Du" ist ein alter ego. Es ist unverkennbar, daß je nachdem wir uns in der einen oder der anderen Richtung bewegen, die Wahrnehmung für uns einen anderen Sinn und gewissermaßen eine besondere Färbung und Tönung gewinnt. Daß der Mensdi die Wirklichkeit in dieser doppelten Weise erlebt, ist unverkennbar und unbestritten. Hier handelt es sich um ein einfaches Faktum, an dem keine Theorie rütteln und das sie nicht aus der Welt schaffen kann."

Grundlagen des eigenen Ansatzes

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in seiner Erscheinungsform beobachten: verstehen kann ich ihn erst, wenn ich den Sinn der Zeichen erfasse. Sinnvoll aber ist eine Handlung, eine menschliche Äußerung dann, wenn sie sich in den Rahmen menschlicher Zielsetzungen, menschlicher Gefühle, menschlichen Erlebens einordnen laßt: als politische Handlung, als Gebet, als Äußerung der Sehnsucht, der Suche nach Erkenntnis, als Ausdruck ökonomischen Strebens. Damit müssen die Geisteswissenschaften, um ihre Aufgabe lösen zu können, notwendig auf die subjektive Erfahrung jedes einzelnen Forschers, auf sein Erleben zurückgreifen: wie Gadamer es formuliert hat, der Horizont des Forschers und der des interpretierten Textes müssen verschmelzen. Denn nur in dieser Erfahrung finde ich jene menschlichen Grunderfahrungen wieder, die es mir erlauben, mich in andere Menschen hineinzuversetzen. Wer nie an einer politischen oder militärischen Aktion teilgenommen hat, dem wird es schwerfallen, einen bestimmten politischen Akt, das Verhalten eines Truppenführers in einer bestimmten Situation, die er als Historiker verstehen und darstellen soll, zu begreifen. Die Geisteswissenschaften müssen ferner voraussetzen, daß es gewisse Grunderlebnisse, gewisse grundlegende allgemeine Zielsetzungen gibt, die in gewissem Umfange bei allen Menschen vorkommen: etwa das Streben nach Macht und Ansehen, nach wirtschaftlicher Daseinsvorsorge usw. „Verstehen" ist letztlich nur dadurch möglich, daß die Ziele, die der Mensch verfolgt, die Richtungen seines Strebens, seiner Interessen bis zu einem gewissen Grade gleichmäßig sind. Wäre jeder einzelne Mensch eine Monade, die völlig ihre eigenen Zielsetzungen verfolgte, so könnte keine Verständigung zwischen verschiedenen Menschen stattfinden — so wenig, wie wir die Handlungen der Geisteskranken voll „verstehen". Interpretation ist also nur unter der Annahme möglich, daß die Menschen in ihrer Grundstruktur sich so gleichen, daß sie sich auch in den Menschen einer anderen Zeit und Kultur hineinversetzen, seine Gedanken, Erlebnisse und Absichten nachvollziehen können. Das Verfahren setzt also einen Rückgriff auf die eigene innere und äußere Erfahrung voraus; es verlangt außerdem auf höherer Stufe eine gewisse Sympathie mit dem anderen, ein Angerührtsein von seiner Äußerung10.

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Vgl. dazu einerseits Marrou, De la Connaissance historique (1958), S. 98, andererseits Staiger, Kunst der Interpretation (1955), S. 12, 14.

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2. In der Unvermeidlichkeit des Rückgriffs auf die eigene Erfahrung liegt nun die große Gefahr des Subjektivismus und damit auch der Zeitbedingtheit in den Geisteswissenschaften. Denn in die eigene Erfahrung gehen naturgemäß das persönliche Lebensschicksal, die soziale Stellung des einzelnen Forschers ebenso wie etwa seine politische Stellung mit ein. Gerade die Rechts-, Staats- und Wirtschaftsgeschichte bieten berühmte Beispiele. Es wird uns z. B. gerade durch neueste Forschungen immer deutlicher bewußt, wie stark ein großer Gelehrter wie Mommsen nicht nur durch die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit in seiner Interpretation der römischen Geschichte mitbestimmt wurde, sondern auch durch die Systemvorstellungen der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts in seiner Auffassung des römischen Staatsrechts bestimmt worden ist11. Und wer würde bei der Lektüre von Rostovtzeffs monumentalem Werk über Wirtschaft und Gesellschaft im Römischen Kaiserreich, insbes. seiner Darstellung des 3. nachchristlichen Jahrhunderts übersehen können, was die Erfahrung der russischen Oktoberrevolution für diese Darstellung bedeutet? Unter Hinweis auf solche Tatbestände ist immer wieder der Zweifel an der Möglichkeit wissenschaftlicher Geschichtsschreibung begründet worden. Und in der Tat ist nicht zu leugnen, daß nicht nur in der Problemstellung, sondern auch in der Interpretation der einzelnen Dokumente und vor allem bei dem In-BeziehungSetzen und damit der Gesamtauffassung der ermittelten Tatsachen die Persönlichkeit des Forschers und ihre Bedingtheit eine Rolle spielen. Es ist ferner unleugbar, daß in den Geisteswissenschaften, vor allem für die Erfassung und Darstellung größerer Zusammenhänge, bestimmte weltanschauliche Grundansichten als Interpretationsschemata eine bedeutende Rolle gespielt haben und noch spielen — in der Rechtsgeschichte etwa der Gedanke der organischen Entfaltung der Rechtsinstitute oder die Uberbaulehre von Karl Marx12. Aber gegenüber diesen Momenten und den darin liegenden Gefahren fehlt es ihnen nicht an Kontrollen. Hier ist folgendes hervorzuheben. Zunächst spielen in den Geisteswissenschaften neben dem persön-

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Kunkel, Untersuchungen zur Entwidtlung des römisdien Kriminalverfahrens in vorsullanisdier Zeit (1962); Alfred Heuss, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert (1956). 12 Eine Übersidn über diese Zusammenhänge bei Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissensdiaften (1948).

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liehen Erfahrungshorizont des einzelnen Forschers allgemeine Erfahrungen — Erfahrungen über menschliches Verhalten ebenso wie Werterfahrungen — eine Rolle, die in sich übersubjektiv, und jedenfalls teilweise wissenschaftlich analysiert sind. Kollektive Werterfahrungen haben sich zum Beispiel in der Sprache niedergeschlagen und können von daher erfaßt werden. Über massenpsychologische Phänomene, die etwa für das Verständnis von revolutionären oder militärischen Ereignissen von Bedeutung sein können, gibt es Erkenntnisse der Sozialpsychologie usw. Für die systematisch-normativen Disziplinen können die Ergebnisse phänomenologischer Methodik bedeutsam sein. Sodann: Die Geisteswissenschaften verfügen zwar nicht über das Instrument des Experiments, aber es gibt, was zunächst die historischen Wissenschaften angeht, Daten, methodisch gewonnene Ergebnisse, an denen sich jede Interpretation messen lassen, die sie berücksichtigen muß. Bei der Interpretation eines Textes könnten als solche Daten etwa in Betracht kommen: der objektive Wortsinn nach dem Sprachgebrauch der Zeit, der festgestellte Sprachgebrauch des Autors — hierfür könnte es zum Beispiel Speziallexika geben —, die Tatsachen, die von der Lebenssituation des Autors bekannt sind, unsere Kenntnisse von den Zeitverhältnissen, in denen der Autor gelebt hat, die Existenz anderer vergleichbarer Werke der gleichen Zeit, ihrer Themen und Themengestaltung usw. Solche Daten schränken die Interpretationsfreiheit des Geisteswissenschaftlers ein; er darf sich mit ihnen nicht in Widerspruch setzen. Und mit fortschreitender Forschung steigt die Zahl solcher Daten. Man denke, was etwa in der modernen Kunstgeschichte die Durchforschung der Archive für die Entstehungsgeschichte der einzelnen Kunstwerke oder was die Entwicklung der Ikonographie für die Ermittlung ihres Gehalts bedeuten. Damit wird aber die Möglichkeit der Kontrolle ständig genauer. Eine Theorie, die bei dem Kenntnisstand des Jahres 1850 diskutabel sein konnte, ist es heute möglicherweise nicht mehr. Zum anderen entwickelt jede Einzeldisziplin im Umgang mit ihrem Gegenstand bestimmte methodische Gesichtspunkte, die ebenfalls Beachtung verlangen; als Beispiel seien die Lehren der Urkundenkritik oder überhaupt der Quellenkritik genannt. Infolgedessen gilt heute auch für die Geisteswissenschaften: Erst wenn nach einer solchen Prüfung die erste vielleicht intuitiv gefundene These sich als gerechtfertigt erweist oder zum mindesten haltbar erscheint, ist sie

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zu einer Hypothese geworden, der ein mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeitswert zukommt13. Denn auch die Geisteswissenschaft verfährt wie die Naturwissenschaft so, daß eine Hypothese verifiziert oder falsifiziert wird; nur sind die Mittel, mit denen dies geschieht, andere; es dienen dazu neben dem konkreten Material gewisse auf Erfahrung beruhende Standardgesichtspunkte, die von Disziplin zu Disziplin verschieden sind, aber jeweils zur Methode der betreffenden Disziplin gehören14. Auch das „Verstehen" ist mithin nichts Irrationales, sondern „ein Verfahren der verstandesklaren Durchdringung eines vorliegenden Zusammenhanges"15. Es ist die Prüfung anhand von solchen objektiven Standardgesichtspunkten und bereits bekannten Daten, die auch eine rationale, intersubjektive Diskussion solcher Hypothesen, etwa einer bestimmten Textinterpretation, in der Geisteswissenschaft ermöglicht. Dies gilt in gewissem Umfange selbst von den Werturteilen, die in der Geschichtswissenschaft eine so große und oft unerfreuliche Rolle spielen. Auch sie können in fortschreitender Forschung berichtigt werden. Man nehme etwa die globalen Urteile, die über die Bedeutung der Rezeption des römischen Rechts für das deutsche Rechtsleben gefällt worden sind. Geht man dazu über, diese Urteile im einzelnen durch Angabe von Kriterien oder Argumenten zu rechtfertigen: etwa Dauer, Kosten, Effektivität der Prozesse vor den gelehrten Gerichten, so stößt man auf Thesen, die nun anhand der bekannten oder zu ermittelnden historischen Tatsachen nachgeprüft werden können. Daraus wird sich je nachdem eine Bestätigung oder eine Berichtigung des Urteils ergeben. Gewiß sind also die Fragestellungen und die Hypothesen eines Forschers im Bereiche der Geisteswissenschaften nicht unabhängig von seiner gesamten Persönlichkeit, und damit auch von seiner Lebenssituation, seiner Stellung in der Gesellschaft. Denn das Erkennen ist in das Ganze des Seelenlebens eingebettet16. Dies ist gerade eine der Erkenntnisse der Philosophie Diltheys gewesen, der damit gegenüber der Ideologiekritik der marxistischen Theorie meines Erachtens einen umfassenden Stand13

Über den Wahrsdieinlidikeitsdiarakter der Ergebnisse der Geschiditsforsdiung vgl. Marrou, aaO., S. 136 ff. 14 Riditig V. Kraft, Geschichtsforsdiung als strenge Wissensdiaft, in: Logik der Sozialwissensdiaften (4. Aufl. 1967), S. 72—84. 15 Bollnow, Das Verstehen (1949), S. 37. " Vgl. Bollnow, Das Verstehen (1949), S. 71.

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punkt gewonnen hat. Aber diese Feststellung bedeutet nicht, daß alle geisteswissenschaftlichen Theorien nur Ausdruck einer Persönlichkeit oder einer Klassenzugehörigkeit seien. Denn die Richtigkeit der inhaltlichen Feststellungen bleibt anhand jener Standardgesichtspunkte und daran überprüfbar, ob sie ein besseres, fruchtbareres Verständnis der gegebenen Daten ermöglicht17. Damit sind auch der Anwendung weltanschaulich bedingter Interpretationsrahmen klare Grenzen gesetzt. Prüft man das in den Geisteswissenschaften angewendete Verfahren auf seine Struktur hin, so zeigt sich, daß es darin besteht, daß eine Hypothese mit einer Reihe von Sachargumenten abgestützt wird, die aus bekannten Daten oder gesicherten methodischen Gesichtspunkten gewonnen sind; dabei werden auch Gegenargumente erörtert und in ihrem Gewicht gegen die schützenden Gesichtspunkte abgewogen. Diese Methode ist gerade in den letzten beiden Jahrzehnten Gegenstand genauerer Untersuchungen gewesen; man spricht von „Topik"18 oder „neuer Rhetorik"19. Das Verfahren läßt sich als „rechtfertigende Argumentation" charakterisieren. Die einzelnen Argumente sind einsehbar; häufig bestehen sie in Hinweisen auf nachprüfbare Fakten; ihre Grundlage ist also, „was jeder klar denkende und sachlich urteilende Mensch als wahr annehmen kann"20. Perelman hat diesen Sachverhalt dahin formuliert, die Argumentation wende sich an ein „auditoire universel" aller, die Vernunftgründen zugänglich seien. Die Vertreter der neuen Rethorik haben darauf hingewiesen, daß hier ein Verfahren rationaler Erkenntnis vorliegt, das neben dem Verfahren deduktiver Ableitung aus Axiomen und neben dem Falsifikationsverfahren der Naturwissenschaften seinen

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Vgl. dazu die Sdirift von Maurice Mandelbaum, The Problem of Historical Knowledge, New York 1938; Neudruck als Torchbook-Ed. 1967. 18 Topik ist eine Sdirift des Aristoteles; sie ist nach h. A. als eine Art Einführung in die dialektischen Übungen, wie sie in der platonischen Akademie üblich waren, in die Technik nämlich, Thesen und Definitionen zu bilden, entstanden und liegt vor der Entdeckung der Syllogistik. Vgl. dazu E. Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen (1965), Kap. I; Solmsen, Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rethorik (1929), S. 156, 165. 18 Perelman hat vielfache Zustimmung gefunden; vgl. etwa Stone, Legal System and Lawyer's Reasonings (1964), S. 333. 20 So die Formulierung von Patzig, Ethik ohne Metaphysik, S. 66. Diese Schrift stellt ein Modell einer solchen systematischen Darstellung dar.

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Platz hat21. Mag es auch nicht den gleichen Grad von Gewißheit erreichen, den jene Verfahren bieten, so handelt es sich doch um ein Verfahren wissenschaftlicher Erkenntnis, das geeignet ist, Annahmen rational zu begründen und ihnen übersubjektive Geltung zu verleihen. Es wäre danach falsch, anzunehmen, daß außerhalb der deduktiven Erkenntnis und des experimentellen Verfahrens keine Erkenntnis möglich sei und jenseits ihrer Grenzen das Feld unwillkürlich-subjektiver Meinungen begänne. Dazwischen liegt eben noch der weite Bereich der auf rechtfertigende Argumentation gegründeten Erkenntnisse. Wie gerade die weitere Diskussion über die neue Rhetorik gezeigt hat, hat diese Methode nun nicht nur in den historischen Geisteswissenschaften Bedeutung; sie ist vielmehr in gleichem Maße für die systematisch-normativen Disziplinen wie Recht und Ethik bedeutsam. Von einer Analyse der juristischen Argumentationsweisen ist die neue Rhetorik ausgegangen; aber sie ist ebenso wichtig für die rationale Gestaltung ethischer Argumentation, also für die Möglichkeit einer rationalen Ethik, um die es in unserem Zusammenhang geht22. 3. Einer besonderen Erörterung bedarf im Rahmen dieser Prüfung des möglichen Wahrheitsgehaltes geisteswissenschaftlicher Forschungen das Problem der sogenannten ideologischen Bindung der geisteswissenschaftlichen, insbesondere der historischen Forschung. Die Lehre von der ideologischen Natur von Aussagen, die sich als reine Erkenntnisaussagen geben, beruht auf der allgemeinen These, das Denken des Menschen sei „seinsgebunden". Die Seinslage, die existentielle Situation des Menschen, bestimme sein Denken. Die These geht im einzelnen dahin, daß die existentiellen Interessen den Inhalt der theoretischen Aussagen bestimmen und verfälschen könnten oder sogar müßten, ohne daß dabei eine bewußt falsche Darstellung vorliegen müsse. Die Lehre ist zuerst von Marx entwickelt worden, hat bei ihm aber ganz bestimmte Grenzen und auch eine ganz bestimmte Richtung. Einmal ist es bei Marx das gesellschaftliche Sein, welches das Bewußtsein bestimmt, insbesondere also die Klassensituation, in welcher der Mensch sich befindet. Sodann ist seine Ideologielehre eng 21

Vgl. Perelman, Über die Gerechtigkeit (1967), S. 137, sowie die in „Justice et raison" (1963) vereinigten Aufsätze, insbesondere „Raison nelle, raison historique", S. 95 ff.; „Logik formelle, logique juridique", S. 221, 222; „Jugement de valeur, justification et argumentation", S. 234—243; vgl. ferner Tottlmin, The Uses of Argument, Cambridge (1958). 22 Vgl. dazu Patzig, Ethik ohne Metaphysik.

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mit der von ihm vertretenen Entwicklungslehre verknüpft. Falsch, ideologisch, sind theoretische Aussagen nämlich insbes. dann, wenn sie in Widerspruch zu der eingetretenen oder sich anbahnenden Entwicklung der Produktionsverhältnisse treten; ideologisch sind daher insbes. die Lehren der „bürgerlichen" Theoretiker in einem Moment, in dem die Produktionsverhältnisse den Sozialismus bereits herbeiführen und notwendig machen. Die Ideologielehre ist hier also auch ein Instrument im Kampf gegen den Kapitalismus. Aber die Lehre läßt sich erweitern und ist in der Tat erweitert worden23. Dies ist insbes. durch Karl Mannheim geschehen24. Mannheim unterscheidet einmal partikulare und totale Ideologie, je nachdem ob „nur ein Teil der Behauptungen des Gegners — und auch diese nur auf ihre Inhaltlichkeit hin —" als Ideologie angesprochen wird, oder dessen „gesamte Weltanschauung (einschließlich der kategorialen Apparatur)" 25 . Ferner stellt er allgemeine und spezielle Ideologietheorie gegenüber; jene liegt vor, „wenn man den Mut hat, nicht nur die gegnerischen, sondern prinzipiell alle, also auch den eigenen Standort als ideologisch zu sehen"26. In anderer Richtung läßt sich der Ideologiebegriff dahin weiter entwickeln, daß man die der Form nach theoretische Aussage nicht nur auf die gesellschaftlich-ökonomische Stellung und die damit gegebenen Interessen, sondern auf die allgemeinen Lebensinteressen desjenigen, der sie macht, zurückbezieht. In diesem Sinne hat Nietzsche schließlich das Denken als Ausdruck des Willens zur Macht gefaßt27. Mit dieser allgemeinen Lehre verwandt ist dann die Auffassung des Historismus, daß jede Theorie durch die geschichtliche Stellung des einzelnen bedingt sei28, daß sie an „den geistigen Gehalt und die geistige Gestalt der besonderen historischen Zeitlage" gebunden sei20.

23

Vgl. dazu insbes. das Buch von Hans Barth, Wahrheit und Ideologie (1961) sowie Th. Geiger, Ideologie und Wahrheit (1953) Kap. I—III. 24 Mannheim, Ideologie und Utopie (3. Aufl. 1952). 25 Vgl. Mannheim, aaO., S. 54 28 Mannheim, aaO., S. 70. 27 Vgl. dazu insbesondere Barth, aaO., Kap. V. 28 Dazu Maurice Mandelbaum, The Problem of Historical Knowledge (New York 1938; Neudruck als Torchbook-Edition 1967). 20 So die Formulierung von Spranger, Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den Geisteswissenschaften (Neuausgabe 1963), S. 15 f.

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Daß die existentielle, insbes. die gesellschaftliche Situation eines Menschen sein Denken beeinflußt, ist sicher unbestreitbar. Schon die Auffassungen, in die ein Mensch als Kind hineinwächst, in denen er erzogen wird, beeinflussen die Entwicklung seiner eigenen Ansichten, auch wenn er sie später anhand seiner eigenen Erfahrungen mehr oder weniger korrigiert. Ebenso ist sicher, daß — insbes. in den Geistes- und Sozialwissenschaften — auch theoretische Arbeiten von solchen Ansichten nicht unbeeinflußt bleiben. Das gilt zunächst für die Problemstellung; die Geschichte der Rechts- und Staatstheorien zeigt deutlich, wie oft eine bestimmte politische Situation — zwischen Kaiser und Papst, zwischen Revolution und Monarch — den Ausgangspunkt theoretischer Schriften gebildet hat. Es zeigt sich aber auch bei den Lehren, welche als Antwort auf die gestellten Fragen entwickelt worden sind. Kann man etwa bei den Staatstheorien Bodins oder Hobbes übersehen, in welcher existentiellen Situation sie entwickelt worden sind? Der Hinweis auf diese existentiellen Grundlagen einer Theorie ist daher ein wichtiges Element, wenn es darum geht, sie zu verstehen; er kann ebenso ein Instrument der Kritik sein. Ferner: Das Bewußtsein der Gefahren, die der Objektivität des Forschers von hier drohen, ist bedeutsam innerhalb der Selbstkritik, die der Forscher im Kampf um die eigene Sachlichkeit üben muß. Mit Recht sagt Mannheim: „Objektivität. .. erlangt der Mensch nicht dadurch, daß er seinen Willen zum Handeln aufgibt und seine Wertungen suspendiert, sondern dadurch, daß er sich sich selbst gegenüberstellt und prüft"30. Aber es fragt sich, wie weit der fälschende Einfluß solcher existentiellen Elemente reicht. Mit Recht ist gesagt worden, daß auch eine Theorie, an der der Autor ein (ökonomisches oder politisches) Interesse hat, trotzdem richtig sein kann. Für die Historic hat Mandelbaum gezeigt, daß — mag die Fragestellung eines Historikers noch so sehr von seiner eigenen historischen Situation bedingt sein — trotzdem die Feststellung der historischen Tatsachen selbst anhand der überlieferten Nachrichten davon letzten Ende unabhängig ist31 — und an diesen Tatsachen muß sich jede Deutung immer wieder prüfen lassen. Hierfür gibt die Geschichte der Geschichtsschreibung in der Tat immer wieder 30

Mannheim, Ideologie und Utopie (3. Aufl. 1952), S. 43. Vgl. Maurice Mandelbaum, The Problem of Historical Knowledge (New York 1938; Torchbook-Edition 1967). 31

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Beispiele; man denke etwa an die Prüfung bestimmter Theorien der Wirtschaftsstufen durch die stadtgeschichtliche Forschung32. Solange man daher zugibt, daß es überhaupt, auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Wahrheitskriterien gibt (wie z. B. in der Historie die Übereinstimmung mit den überlieferten Nachrichten) — und dafür spricht die Entwicklung dieser Wissenschaften selbst —, ist der Einfluß der existentiellen Faktoren auf den Forscher zwar ein Element, das die Forschung gefährdet — wie andere, etwa die Faszination durch eine „neue" Erklärung, auch; aber es stellt die Gewinnung richtiger, nämlich wahrer Ergebnisse nicht völlig in Frage, weil es kritisch hervorgehoben und berichtigt werden kann. Anders lägen die Dinge, wenn die Ideologietheorie in ihrer radikalen Form richtig wäre, also in Mannheims Formulierung die „totale" und „allgemeine" Ideologielehre. Dann sind alle theoretischen Aussagen überhaupt nur noch Ausdruck einer historischen, politischen oder ökonomischen Situation ohne irgendeinen Wahrheitsgehalt. Dann fehlt es aber, wie Hans Barth mit Recht hervorgehoben hat33, auch an jeder Möglichkeit, den ideologischen Charakter einer Aussage festzustellen, weil gar keine Möglichkeit mehr besteht, dies anhand einer Konfrontierung mit der objektiven Wahrheit zu tun: die Theorie des Kritikers wäre ja ihrerseits wieder ideologisch bestimmt. Von „ideologischer Verfälschung" kann nur sprechen, wer die Möglichkeit objektiver Feststellung der Wahrheit zugibt: die radikale Ideologielehre hebt sich selbst auf. Für die beschränkte (in Mannheims Worten „partikulare") Ideologielehre aber bleibt die Möglichkeit einer Verifizierung an objektiven Sacheinsichten bestehen; mit der Frage der „existentialen" Beeinflussung ist über die Richtigkeit noch nicht entschieden: was immer die existentiale, ökonomische oder historische Grundlage einer Theorie gewesen sein mag: die Frage nach ihrer Richtigkeit muß gesondert gestellt und nach objektiver Sacheinsicht entschieden werden. Sie unterliegt dem Prozeß der „Verständigung durch Gründe, durch ". Es bleibt die besondere Wendung der Ideologielehre bei Marx, bei der das Wahrheitskriterium die Übereinstimmung der Theorie, insbes. der Rechtstheorie, mit der erreichten Entwicklungsstufe der Produktionsverhältnisse ist. Es ist deutlich, daß die Möglichkeit dieser Lehre davon abhängt, ob man die Marx'sche Theorie von der Entwicklung der Produktionsverhältnisse und der damit verknüpften

32 33

Vgl. dazu unten S. 152. H. Barth, Wahrheit und Ideologie (1961), S. 287.

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Veränderung des Überbaus annimmt, und davon, ob es gelingt, den jeweils erreichten Stand der Entwicklung eindeutig zu bestimmen. 4. Ich kehre nun zu der These des strengen Positivismus' zurück. Sie lautet: von wissenschaftlicher Erkenntnis kann man nur da sprechen, wo Sätze allein mit Hilfe der Regeln der Logik und Tatsachen-Beobachtungen begründet werden. Dabei nahm der traditionelle Positivismus an, daß Sätze, z. B. Naturgesetze, aus Einzelbeobachtungen mit Hilfe eines Induktionsschlusses positiv begründet werden könnten; demgegenüber hat Popper nachgewiesen, daß das auszeichnende Merkmal einer empirisch begründeten Theorie darin besteht, daß sie durch Beobachtungen falsifiziert werden kann*. Nimmt man hierbei den Begriff Beobachtung im strengen Sinne, so liegen alle Geisteswissenschaften außerhalb solcher Erkenntnis. Denn die Dokumente, Werke und unmittelbaren Äußerungen von Menschen, deren Studium die Grundlage der Geisteswissenschaften ausmachen, erschließen sich noch nicht der bloßen sinnlichen Wahrnehmung; sie bedürfen der Interpretation. Ich kann eine Inschrift noch so genau als körperliches Phänomen beobachten: solange ich den Sinn der Zeichen nicht erfassen kann, bleibt sie als menschliche Äußerung für mich unerschlossen und ohne Wert! An diesem Umstand scheitert auch der sogenannte Behaviorismus, der die Wissenschaft vom Menschen auf die äußerliche Beobachtung menschlichen Verhaltens beschränken will. Was das Recht angeht, so würden mit der These des radikalen Positivismus eventuell noch Untersuchungen über die logische Struktur der in einer Rechtsordnung auftretenden Sätze zulässig sein, obwohl auch hier das Bedenken bestünde, daß auch solche Untersuchungen ohne eine hermeneutische Analyse des Inhalts der betreffenden Sätze kaum möglich sein dürften. Für die These des strengen Positivismus spricht, daß die naturwissenschaftliche Methode, die er — in seiner strengen Fassung — zum alleinigen Erkenntnisverfahren erhebt, in der Tat eine Falsifizierung erlaubt, der sich alle beugen müssen. Die historischen, interpretierenden Geisteswissenschaften erlauben eine solche Nachprüfung in geringerem Maße; auch ist der Einfluß der Subjektivität des Forschers hier größer.

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Vgl. Popper, Logik der Forschung, Kap. I und IV. — Auf die grundsätzliche Kritik an den Ausgangspunkten von Positivismus und Rationalismus bei Albert, Traktat über kritische Vernunft, und Bollnow, Philosophie der Erkenntnis, kann hier nur hingewiesen werden.

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Aber es gibt auch bedeutsame Gesichtspunkte, die gegen die These des Positivismus sprechen35. Der gewichtigste ist vielleicht von Aristoteles formuliert: Er sagt in der nikomachischen Ethik: „Unsere Darlegung wird angemessen sein, wenn sie soviel Klarheit hat, als die Materie zuläßt; denn man kann nicht in allen Darlegungen den gleichen Grad der Genauigkeit anstreben34." In der Tat scheint es willkürlich, gegenüber der Vielfalt des Seins eine einzige Methode für maßgebend zu erklären. Es bedeutet, daß man auf die Erforschung zahlreicher Gebiete verzichten muß, die sich der Methode der Beobachtung entziehen. Diese bleiben dann der Willkür der Meinungen überlassen. Man verzichtet auch auf den Grad rationaler Vergewisserung, der auch mit nicht-naturwissenschaftlichen Methoden erreichbar bleibt. So hat etwa Theodor Lessing, der an der Möglichkeit rationaler Geschichtsschreibung verzweifelte, die Geschichtsschreibung als Dichten von modernen politischen Mythen verstanden37. So schließt die Auffassung der Ethik als Gebiet des reinen Gefühls oder der willensmäßigen Entscheidung jede rationale Diskussion um ethische Positionen aus und überläßt ihre Entscheidung dem reinen Machtkampf. Es fragt sich, ob ein solcher Verzicht nötig ist; ob es nicht richtiger ist, auf allen Gebieten mit sachentsprechenden Methoden zu versuchen, die Erkenntnis soweit wie möglich voranzutreiben, um zu dem Grad von Sicherheit zu gelangen, der eben erreichbar ist. Meines Erachtens ist die Frage zu bejahen. Der streng empiristische Erkenntnisbegriff des Positivismus ist abzulehnen; sich im Wege der Konvention auf ihn zu einigen — wie etwa Theodor Geiger vorschlägt38 — wäre unzweckmäßig. Nun setzt solche Ablehnung freilich voraus, daß es auch außerhalb der naturwissenschaftlichen Methode und außerhalb von Mathematik und Logik überhaupt rationale Erkenntnisverfahren gibt. Aber das ist, wie eben dargelegt, der Fall. Die philosophischen und historischen Disziplinen sind hierfür ein deutlicher Beweis. Die Diskussion um die Echtheit einer historischen Urkunde, oder um die mögliche Reihenfolge der Schriften eines Autors anhand sprachlicher Kriterien — wie etwa diejenige über die Reihenfolge 35

Auch für den naturwissenschaftlichen Bereich sind Einwendungen gegen die Lehre von der reinen Beobachtung als Basis wissenschaftlicher Erkenntnis erhoben worden; vgl. z.B. V.Kraft, Grundlagen der Erkenntnis und der Moral (1968), S. 50 f. 36 Aristoteles, Nikomachische Ethik I. 3. 37 Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (3. Aufl. 1921), S. 191, 195. 38 Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit (1953), S. 46.

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der platonischen Dialoge39 — spielt sich durchaus im Räume rationaler Argumentationen und Methoden ab; es ist der gleiche menschliche Verstand am Werke wie bei einer chemischen oder biologischen Untersuchung. Hypothese und Verifikation folgen einander wie bei der Naturwissenschaft. „La raison humaine est une si diverses que soient ses applications."40 Es ist also gerechtfertigt, die Methoden der Geisteswissenschaften als rationale Erkenntnisverfahren in den Kreis der wissenschaftlichen Verfahren einzuordnen. Die These des strengen Positivismus ist abzulehnen. Man muß den positiven, empirischen Erkenntnisbegriff dann in zwei Punkten umformen. Der Begriff der „Beobachtung" muß so erweitert werden, daß er auch die — interpretationsbedürftigen — menschlichen Äußerungen umfaßt, deren Untersuchung Gegenstand und Grundlage der Geisteswissenschaften sind, der Begriff der logischen Bearbeitung so, daß unter ihm auch die Rechtfertigung in Sachargumentation im Sinne der „Topik" verstanden wird. Man müßte dann etwa sagen: Wissenschaftliche Erkenntnis beruht auf Erfahrungsdaten und deren rationaler Bearbeitung. Dabei schließt der Ausdruck „Erfahrungsdaten" auch interpretationsbedürftige Äußerungen des Menschen, der Ausdruck „rationale Bearbeitung" die Rechtfertigung durch Argumentation von der Sache her ein, wie sie insbesondere die „Topik" als Methode dargestellt hat41. Diese Feststellung bedeutet im Zuge unserer Untersuchung, daß wir berechtigt und verpflichtet sind, die Ergebnisse der verschiedenen Geisteswissenschaften als Grundlage unserer Stellungnahme zu akzeptieren.

II. Nach dem formalen Ansatz der allgemeinen Rechtslehre sollen bei der Definition des Rechtsbegriffes die mit der Rechtsordnung verfolgten Ziele ebenso ausgeschaltet werden, wie die Faktoren, welche den Inhalt des Rechts näher bestimmen. Kelsen hat jene der Rechtspolitik, diese der Rechtssoziologie zugewiesen42. Nun ist unbestreitbar, daß die allgemeine Rechtslehre trotzdem bestimmte Elemente des positiven Rechts aufnimmt — seinen Regelcha39

Dazu Wilamowitz-Moellendorff, Platon, Beilagen und Textkritik (3. Aufl. 1962), S. 8 ff. 40 Marrou, De la Connaissance historique (1958), S. 223. 41 Eine solche Umformung muß dann zulässig erscheinen, wenn man die Frage, welche Methoden als wissenschaftlich anzuerkennen sind, konventionalistisch löst, wie dies etwa bei Popper, Logik der Forschung (3. Aufl. 1969), S. 12, und Albert, Traktat über kritische Vernunft, Kap. II, geschieht. 41 Vgl. oben S. 65 ff.

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rakter etwa, die Möglichkeit von Sanktionen — und damit zur Klärung der Eigenart des positiven Rechts beigetragen hat43. Trotzdem widerspricht die damit vorgenommene Beschränkung einem Grundprinzip der geisteswissenschaftlichen Forschung. Diese ist, wie dargelegt, ja darauf gerichtet, menschliche Handlungen und Werke als sinnvoll zu verstehen; ein solcher Ansatz macht es aber erforderlich, gerade die Ziele mit einzubeziehen, die mit einem Geisteswerk wie einer Rechtsordnung verfolgt werden. Tut man dies aber, bezieht man Inhalt und Zielsetzung des Rechtes in die Betrachtung mit ein, so stößt man neben dem Gedanken der Friedensordnung auf Wertvorstellungen, wie Gerechtigkeit oder Freiheit, und wird dadurch gezwungen, zu den Problemen Stellung zu nehmen, welche der ethische Intuitionismus und Relationismus aufgeworfen haben, und die man unter der Frage nach der „Rationalität der Ethik" zusammenfassen kann. Wie gewinnen wir ethische Erkenntnisse? Lassen sich ethische Urteile, Werturteile also, rational begründen? Gibt es rationale Kriterien, um ethische Wertsysteme zu vergleichen und zu beurteilen? Diesen Fragen müssen wir uns jetzt zuwenden. 1. Die philosophische Ethik hat das Phänomen des Sittlichen von zwei Gesichtspunkten aus zu kennzeichnen versucht. Nach der einen Auffassung tritt uns die Sittlichkeit als ein System von inneren Geboten, als Gesetz, entgegen; sie enthält die Regeln darüber, was wir tun sollen und was wir nicht tun sollen. Diese Auffassung kann man Gesetzesethik nennen. Hierher gehört etwa der Dekalog der Bibel. Philosophisch hat sie ihren höchsten Ausdruck in Kants kategorischem Imperativ gefunden: „Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne." Dabei bedeutet „Maxime" des Handelns die Regel, die den Menschen bei seiner Handlung motiviert. Die andere Auffassung geht von der Frage aus, wonach der Mensch streben soll, anders ausgedrückt, was das wahre Glück sei, und kommt so zu dem Begriff des Guten als des höchsten Zweckes: Der Mensch soll das Gute erstreben, das Schlechte meiden. Sie fragt also, welchen „Zwecken" und „Zielen" der Mensch nachstreben soll, und sucht diese als „Güter" oder „Werte" zu definieren, z.B. Tapferkeit, Fleiß usw. Dieser Ansatz führt zur Tugend- oder Wertethik44. Auf diesem Gedanken ist z. B. die aristotelische Ethik aufgebaut. Er findet den höchsten Zweck des menschlichen Lebens in der

43

Dies gilt insbesondere von der luziden Darstellung von Hart, The concept of law. Dazu oben S. 65. 44 Man hat sie auch „materiale" Ethik genannt.

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vernunftgemäßen Tätigkeit der Seele ( )45 und sucht diese weiter durch die von ihm im einzelnen nach den Anschauungen seiner Zeit46 umschriebenen Tugenden, wie Gerechtigkeit, Mut, große Gesinnung, zu bestimmen. Während die erste Anschauung also zu einem Katalog von Grundnormen gelangt, aus der sich dann weitere Normen ableiten lassen, gelangt die andere zu einem Katalog von Tugenden oder Werten, d. h. vorbildlichen Verhaltens- und Seinsweisen, die nun freilich ihrerseits wieder normativ wirken, also zu Regeln führen. Beide Anschauungen meinen aber denselben Gegenstand und konvergieren insofern, als die Werte normativ wirken, weil uns ihre Verwirklichung aufgegeben ist. Ihr Gehalt läßt sich in — positiven und vor allem negativen — Grundsätzen darstellen. In dieser Darstellung wird von der Wert- oder Tugendauffassung ausgegangen. Sie bietet das vollständigere Bild der ethischen Phänomene. Innerhalb der Werte, in denen Sittlichkeit sich darstellt, lassen sich verschiedene Gruppierungen unterscheiden. So hat man etwa die Vitalwerte, wie Kraft, Mut usw., den geistigen, wie z.B. Gerechtigkeit oder Beherrschtheit, gegenübergestellt. Für unsere Untersuchung ist jedoch eine andere Unterscheidung von großer Wichtigkeit. Es gibt Werte, deren Verwirklichung die Voraussetzung für jede Gesittung des Menschen in seinem Zusammenleben mit anderen ist47. Es sind zunächst diejenigen, auf denen der elementare Aufbau der individuellen Persönlichkeiten beruht: Fleiß, Arbeit an sich selbst, Selbstbeherrschung, Ehrlichkeit gegen sich selbst, „Erkenne dich selbst". Es sind ferner jene Verhaltensweisen, die das Zusammenleben der Menschen ermöglichen: Achtung vor der Person des anderen, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit. Wir wollen sie die Elementar- oder Basiswerte nennen. Ihnen stellen wir Werte gegenüber, die sich auf die Erfüllung des individuellen Lebens beziehen, die also die Individualität in ihrer Besonderheit zu einer hohen Form ihrer selbst führen: Der Wert des Forschens, des praktischen Wirkens, des künstlerischen Gestaltens. Ich möchte sie Lehensideale** nennen. Zwischen diesen beiden Gruppen besteht in einer Hinsicht ein wesentlicher Unterschied. Die Elementarwerte wenden sich an alle und verpflichten alle; für die Lebensideale aber entscheidet man sich aufgrund seiner Individualität, seiner „Berufung"4'. 45

Nikomachische Ethik I. 7. Vgl. Nikomachische Ethik I. 8. 47 Im Anschluß an Sprangers Lebensformen (8. Aufl. 1950). 48 Vgl. Hans Bank, Verantwortung im gesellschaftlichen Gebilde, in: Schuld, Verantwortung, Strafe, hrsg. v. Frey (1964), S. 184. 44

49

Vgl. dazu Nohl, Die sittlichen Grunderfahrungen (2. Aufl. 1947), S. 51.

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Den eigentlich sittlichen Werten, die auf vorbildliche Verhaltensweisen gehen, lassen sich die objektiven Kulturwerte gegenüberstellen, die, ohne ein spezifisches Verhalten zu verlangen, unsere Achtung, unter Umständen unsere Hingabe, fordern und dadurch stärksten Einfluß auf unsere Lebensführung gewinnen können. Hierher zählen sowohl Werke: etwa das musikalische Werk Mozarts, wie organisatorische Schöpfungen: der Staat Preußen, die Universität Paris. Sie gehören in einem weiteren Sinne dem Gebiet der Sittlichkeit an, weil sie den Dienst des Menschen fordern und finden und dadurch sinngebend werden, sind aber doch deutlich von den eigentlichen Werten der persönlichen Sittlichkeit unterschieden. 2. Die Erkenntnis des Gehalts ethischer Werte vollzieht sich so, daß wir von der häufig eher unbestimmten Bedeutung der Worte, welche die einzelnen Werte in der gewachsenen Sprache bezeichnen, ausgehen, und diese im Wege der Analyse präzisieren. Man kann dies die sokratische Methode nennen50. Die einzelnen Werte erschließen sich also in der Sprache; eine Umschreibung des ethischen Sprachgebrauchs kann uns die ethischen Ideale eines Volkes und deren Wandlungen eröffnen51. Wir alle sprechen von Gerechtigkeit, Tapferkeit, Wahrhaftigkeit usw. und verbinden damit zunächst nicht allzu scharfe Vorstellungen eines bestimmten menschlichen Verhaltens oder bestimmt gearteter Persönlichkeiten; wir denken vielleicht sogar an bestimmte Personen. Suchen wir aber deutlicher zu bestimmen, was wir mit solchen Ausdrücken meinen, so zeigt sich regelmäßig, daß wir nicht nur an Personen, sondern auch an Lebenssituationen bestimmter Art denken, in denen Menschen in bestimmter Weise gehandelt haben. Wir denken bei der Gerechtigkeit etwa an einen Lehrer in seinem Verhältnis zu seiner Klasse, einen Vorgesetzten bei der Frage der Beförderung, einen Richter in einem Prozeß. Damit erhalten wir einen wichtigen Hinweis: Viele ethische „Werte" oder „Tugenden" sind, vor allem im Ursprung, auf bestimmte typische Lebenssituationen bezogen. Das Gleiche ließe sich natürlich auch für ethische Normen zeigen. Wenn sie später eine weitere Bedeutung annehmen, so ist diese oft erst im Wege der Analogie oder der Erweiterung entwickelt worden. So ist Tapferkeit zunächst das mutige Verhalten im Kampf, und erst im analogen, übertragenen Sinne etwa Tapferkeit in der Vertretung seiner Auffassungen, sogen. Zivilcourage. Unter „gerecht" verstand man im Griechischen zunächst einen Mann, der seinen Vertragspflichten nachkam, das Geschuldete leistete ( 50

Dies tut z. B. Rawls in seiner Theory of Justice, S. 48/49, 578. Eine solche Untersuchung hat z.B. Snell für die Griechen geliefen. Die Entdeckung des Geistes, Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen (3. Aufl. 1955). 51

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); erst durch die Verallgemeinerung wurde daraus die Bedeutung des „suum cuique tribuere" ( ). Eine Analyse der Gerechtigkeit des Richters führt uns z. B. zu den Grundsätzen, daß er keine Partei bevorzugen, jede Partei zu allen wichtigen Sachfragen hören und alle eventuellen Vorurteile soweit wie möglich bekämpfen muß. Allgemeine ethische Sätze bleiben oft unanschaulich. Will man ihr Wesen deutlich machen, wird man immer wieder auf konkretere Situationen zurückgreifen, z. B. bei der Gerechtigkeit auf diejenige des Richters im Prozeß, des Pädagogen gegenüber seinen Zöglingen usw. Natürlich gilt für die allgemeinen Formeln sittlicher Gebote Entsprechendes. Kants kategorischer Imperativ wird von ihm selbst durch Anwendung in typischen Situationen (Rückgabe einer verwahrten Sache usw.) erläutert. Und selbst das Liebesgebot des Neuen Testaments bedarf der Konkretisierung, wie sie in den Gleichnissen, etwa in dem vom barmherzigen Samariter, gegeben werden. Sittliche Gebote wie sittliche Werte bleiben situationsbezogen. Daraus folgt eine weitere wichtige Einsicht. Weder der einzelne Wert noch die einzelne Norm machen das Ganze des Sittlichen aus; dieses stellt sich vielmehr als ein Kosmos von Werten, einer Fülle vorbildlicher Verhaltens- und Seinsformen dar. Sittliches Leben fordert mehr als die Verwirklichung eines Wertes, die Erfüllung einer Norm; jeder einzelne Wert fordert seine Ergänzung durch andere. Die Wirklichkeit des sittlichen Lebens ist stets eine Wertsynthese, im Leben des einzelnen wie in der Gestaltung der Rechtsordnung. 3. Werturteile, also insbesondere moralische Urteile, sind nach der These des radikalen Positivismus keine Sachaussagen, sondern nur Aussagen über eine positive oder ablehnende Stellungnahme des Urteilenden selbst52 oder über die entsprechende Stellungnahme der Gruppe, welcher der Urteilende angehört. Sie sind also keine echten Urteile. Nach der Lehre des Relativismus ist jedenfalls die Wahl zwischen verschiedenen Werten oder Wertsystemen eine irrationale Entscheidung53. Beide Thesen sollen nacheinander erörtert werden. Gegenüber der ersten These ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß wir — wäre sie richtig — entgegengesetzte moralische Urteile verschiedener Personen über den gleichen Sachverhalt nicht als Widersprüche empfinden könnten: denn es ist nicht einzusehen, warum verschiedene Personen angesichts des gleichen Sachverhalts nicht verschiedene Gefühle haben sollten. In Wahrheit sehen wir solche Urteile aber als widersprüchlich an. Würden wir mit solchen Urteilen aber Aussagen über 52 53

Vgl. oben S. 62 f. Vgl. oben S. 80 ff.

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die Stellungnahme der Gruppe zum Ausdruck bringen, so müßten wir widerspruchslos sagen können: Leonidas handelte bei Thermopylae tapfer und gut; aber ich denke, er handelte feige und schlecht — aber das scheint unmöglich54. Im übrigen läßt sich beobachten, daß Menschen, die an sich jenen skeptischen, positivistischen Standpunkt vertreten, keineswegs zurückhaltend in moralischen Werturteilen sind — etwa hinsichtlich der Handlungen ihrer politischen Gegner — und diese Urteile dann durchaus nicht als bloße Aussagen über subjektive Empfindungen verstanden haben wollen. In der Tat zeigt sich bei näherer Analyse, daß jene These unbegründet ist. Setzen wir zunächst voraus, daß ein bestimmtes Wertsystem (oder Normensystem) vorhanden sei, und erinnern wir uns, daß sittliche Werte umschreibbar sind, daß sie ein als vorbildlich gedachtes Handeln in bestimmten Lebenssituationen bedeuten55. Dann kann ein Werturteil über eine bestimmte Handlung zunächst so zustande kommen, daß wir sie an jenem vorbildlichen Verhalten messen, mit ihm vergleichen, sie unter das ideale Verhalten, wie es in dem Wert umschrieben ist, subsumieren. Dies wird dann möglich sein, wenn die zu beurteilende Handlung in allem Wesentlichen mit derjenigen übereinstimmt, die in der Wertvorstellung gemeint ist, anders ausgedrückt, wenn sie dessen „Kernbereich" entspricht. Dies wäre etwa in dem Satz der Fall „Das Verhalten des Leonidas bei Thermopylae war tapfer", da der Wert der Tapferkeit in seinem Kernbereich auf den physischen Mut bis zur Todesbereitschaft geht. Handelt es sich um eine Situation, auf die das nicht zutrifft, wird die Beziehung zu einem bestimmten Wert eventuell durch Analogieschluß hergestellt werden können. So etwa in Fällen, in denen „Zivilcourage" gezeigt wird. Wir werden die Lebenssituationen vergleichen und gegebenenfalls feststellen, daß hier die gleiche Anforderung gestellt werden muß wie in der soeben erwähnten des Leonidas'. Das ethische Denken schreitet, insofern wie das juristische, von Fall zu Fall vor. Wir übertragen dann die Bewertung von einem Fall auf den anderen. Es zeigt sich hier übrigens, daß bei der ethischen Beurteilung in starkem Maße auch die genaue Ermittlung und Analyse der Sachgestaltung, des Faktischen, eine Rolle spielt56. Indessen wird ein ethisches Urteil häufig nicht so zustande kommen, daß wir eine Beziehung zu einem Wert herstellen; wir werden häufig 54

Vgl. Patzig aaO., S. 70—74. Vgl. oben S. 110. 56 Hierauf hat sehr mit Recht Krisle hingewiesen, vgl. Kriterien der Gerechtigkeit (1963), z.B. S. 79. 55

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Beziehungen zu mehreren Werten erwägen und dabei u. U. fragen müssen, welchem Wert im konkreten Fall die entscheidende Rolle zukommen, anders ausgedrückt, welcher Wert die Grundlage unserer Beurteilung abgeben soll. Dies sind die Fälle des (im konkreten Falle sich ereignenden) Wertkonflikts und der Wertabwägung. Es ist häufig so, daß in concrete von zwei an sich gleichrangigen Werten nur der eine verwirklicht werden kann. Ein berühmter Schulfall ist derjenige des Mannes, bei dem ein Freund eine Waffe hinterlegt hat: Soll er sie ihm auf Anfordern zurückgeben, auch wenn er erfahren hat, daß dieser damit ein Verbrechen oder Selbstmord begehen will? Hier stehen Vertragstreue und Freundespflicht in Konflikt. Gesetzgeber und Richter stehen häufig vor solchen Fragen. Man denke etwa an den Konflikt zwischen Pressefreiheit einerseits und dem Right of Privacy andererseits. Die Entscheidung eines solchen Falles heißt nicht, daß der Urteilende grundsätzlich und allgemein den einen Wert dem anderen vorzieht; vielmehr wird dem einen in dieser Fallgestaltung der Vorrang eingeräumt, d. h. die Herrschaftsbereiche der betreffenden Werte werden im Hinblick auf diese Situation voneinander abgegrenzt. Hierbei zeigt sich wieder, daß bestimmte Werte bzw. Regeln in ihrer Geltung an das Vorhandensein bestimmter tatsächlicher Voraussetzungen gebunden sind. Perelman stellt in seinem tiefdringenden Buch über die Gerechtigkeit am Anfang eine Reihe von Definitionen oder Aspekten der Gerechtigkeit zusammen. Darunter erscheinen die Maximen „Jedem nach seinem Verdienst" und „Jedem nach seinen Bedürfnissen", die, abstrakt gesehen, unausgleichbar zu sein scheinen. Berücksichtigt man aber die tatsächlichen Voraussetzungen ihrer Verwirklichung, so sieht man, daß die Forderung „Jedem nach seinen Bedürfnissen" nur unter einer Reihe von tatsächlichen Voraussetzungen sinnvoll ist. Es müssen z.B. genügend Güter vorhanden sein, um jedermanns Bedürfnisse befriedigen zu können. Andernfalls wird sich u.U. jeder einige Abstriche gefallen lassen müssen, und es taucht ein Verteilungsproblem auf, für das andere Maßstäbe als das Bedürfnis gebraucht werden. Es wird ferner eine Rolle spielen, ob die vorhandenen Güter ohne Arbeit hergestellt werden können oder produziert werden müssen: Denn wenn Arbeit nötig ist und die Güter knapp sind, wird in irgendeiner Form die Frage der Entlohnung gelöst werden müssen; das Prinzip muß also durch das andere „Jedermann nach seinem Verdienst" eingeschränkt werden. Man wird sich schließlich fragen, ob die Bedürfnisse eines jeden so befriedigt werden können, daß sie nicht mit den Bedürfnissen eines anderen kollidieren, z. B. dadurch, daß sie sich auf das gleiche Objekt richten: denn dann wäre wieder ein Prinzip nötig, nach dem sich eine Mitbeteiligung oder eine Bevorzugung rechtfertigen ließe, und hier käme wieder u.U. das Prinzip „Jedem nach seinem Verdienst" in Betracht.

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Man sieht, die abstrakte Gegenüberstellung und der ausschließende Gegensatz der Prinzipien wird, wenn man sie zu einer bestimmten Situation in Bezug setzt, in eine gegenseitige Abgrenzung und Ergänzung verwandelt, die im einzelnen durch einen rationalen Prozeß ermittelt werden kann. Auch hier darf vielleicht wieder auf die juristische Erfahrung verwiesen werden, die Perelman in so aufschlußreicher Weise in die allgemeine Diskussion eingeführt hat. Es gibt wohl kein, auch kein ethisch begründetes, Handlungsprinzip, das ohne Ausnahme und Begrenzungen durchgeführt werden kann. Diese Begrenzungen, d. h. aber das rechte Verhältnis von ethischen Werten, die sich in abstracto gesehen zu widersprechen scheinen, werden erst in der Erfahrung, und zwar in einer rational analysierten Erfahrung gewonnen. Auf dieses Erfahrungsmoment hat Morris Ginsberg mit Recht hingewiesen". Die Verarbeitung der Erfahrung aber geschieht wiederum in einem Prozeß rationaler Argumentation. Solche Analyse und Abwägung der Argumente werden nicht immer zu ganz eindeutigen Lösungen führen: Sie werden aber in der Regel die Zahl der möglichen, d. h. hier der ethisch vertretbaren, Lösungen einengen. Außerdem wird es in einem gegebenen System auch eine Werthierarchie geben, etwa zwischen Vermögenswerten und geistigen Werten, die bei der Wertabwägung eine Rolle spielen kann. In unserem Zusammenhang der Frage nach dem Charakter des Werturteils ist es nun von Bedeutung, daß alle hier geschilderten Überlegungen, auch wenn sie nicht in Form der Subsumtion erfolgen, in der Form der rechtfertigenden Argumentation dargetan und nachgeprüft werden können, also der Ratio zugänglich sind. Das gilt für die tatsächliche Seite der Dinge („Fallanalyse") ebenso wie für die in Betracht gezogenen Wertgesichtspunkte. Es mag sein, daß ein ethisches Urteil zunächst rein intuitiv zustandekommt, unser Gefühl zunächst unsere Stellungnahme bestimmt; entscheidend ist in unserem Zusammenhang, daß diese gefühlsmäßige Stellungnahme anhand rational darlegbarer Momente kontrolliert und gerechtfertigt werden kann. Dadurch wird auch das ethische Urteil in die Sphäre der Rationalität einbezogen, wird praktische Vernunft. Die ethischen Werturteile sind also echte Urteile; sie stellen fest, daß einem bestimmten Verhalten gemäß bestimmten Werten eine ideelle Wertqualität zukomme oder nicht zukomme. 57

M. Ginsberg, Essays in Sociology and Social Philosophy I, On the Diversity of Morals (1956, Reprint 1961), S. 103.

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4. Wie steht es aber mit der Entscheidung zwischen verschiedenen Werten oder Wertsystemen (Normensystemen)? Es ist zunächst kein Zweifel darüber, daß es unterschiedliche Wertungen gibt. Nicht nur in den verschiedenen Kulturen, sondern auch in den verschiedenen Epochen innerhalb der einzelnen Kulturen finden wir unterschiedliche WertaufTassungen. Ich erwähne etwa die verschiedene, relative Bewertung von Mann und Frau im klassischen ethischen System des Islam einerseits, und in unserer von der Emanzipation geprägten Gesellschaft andererseits. In der westlichen Kultur haben sich in der Sexualmoral vom 18. zum 19. Jahrhundert und wiederum von der viktorianischen Ära zu unserer Zeit erhebliche Änderungen vollzogen. Unsere eigene Epoche hat das weitgehende Erlöschen des Ideals der aristokratischen, ritterlichen Lebensauffassung gesehen, das so lange eine bedeutende Rolle in unserer Kultur gespielt hat. Andererseits gehen die Unterschiede in den moralischen Auffassungen nicht so weit, ist die Übereinstimmung größer, als man erwarten sollte, wenn moralische Wertungen allein Sache des individuellen Gefühls oder der Klasseneinstellung wären. Darauf ist von Forschern sehr verschiedener philosophischer Grundeinstellung hingewiesen worden58. Dies gilt um so mehr, wenn man beachtet, daß unterschiedliche moralische Regeln oft nicht auf unterschiedlichen moralischen, sondern auf unterschiedlichen TVdtaranschauungen beruhen, etwa über die Zeugung, über Möglichkeiten magischer Einwirkungen usw.5'. Respekt vor Leben und Freiheit etwa des anderen finden sich überall als moralische Forderung in der einen oder anderen Form. Daß diese Forderung oft nur für die Angehörigen der eigenen Gruppe aufgestellt wird, ist ein typisches Zeichen der „morale close", wird in der geistigen, der „morale ouverte" überwunden60, und hängt wie viele Bewertungen von Personenklassen mit nachweislich falschen Vorstellungen über andere Menschengruppen zusammen. Auch die Lebensbedingungen einer Gesellschaft spielen eine Rolle: Daß in einer Gesellschaft, in der Selbsthilfe und Fehde herrschen, in der sogar Rechtsstreitigkeiten im Zweikampf ausgetragen werden, die relative Stellung der Frau im Recht eine andere ist als in der unseren, ist verständlich. Korrigiert man die Unterschiede, die sich aus solchen 58

Vgl. etwa Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (4. Aufl. 1954), S. 323 ff.; M. Ginsberg, On the Diversity of Morals (1956, Reprint 1961), S. 101 ff.; Patzig aaO., S. 76ff. 59 Vgl. oben S. 17, unten S. 166 ff. 60 Dazu vgl. H. Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion (l8.Aufl. 1937), I.Kapitel.

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außerethischen Gesichtspunkten ergeben, so erhöht sich der Consensus zwischen den verschiedenen Kulturen erheblich61. Auch darf man nicht übersehen, daß bei manchen Fragen durchaus ein weiter Consensus im grundsätzlichen besteht, während die Unterschiede der Auffassungen im Grunde erst bei Randfragen beginnen — so quälend diese auch sein mögen. Das scheint mir z.B. bei einem Problem zu gelten, das auch innerhalb unserer Kultur heute zu den umstrittensten gehört: der rechtlichen Ausgestaltung der Ehe. Daß eine Ehe im Prinzip Einehe und im Prinzip auf Lebenszeit geschlossen sein soll: darüber besteht im Grund ein weiter Consens; es entspricht dem Wollen der Liebenden selbst. Aber freilich ist es nun eine Erfahrung — und zwar eine Erfahrung aller Zeiten —, daß die damit aufgestellte Forderung, mit Goethe zu sprechen, die Synthese des Unmöglichen ist, — und die Frage ist, was geschehen soll, wenn das Unmögliche nicht gelingt. Erst hier setzen die Unterschiede der Meinungen an. Auch sind Unterschiede in den ethischen Auffassungen bei den verschiedenen Gruppen ethischer Werte, die wir unterschieden haben62, nicht in gleichem Umfange vorhanden. Die Übereinstimmung ist bei den Basiswerten des menschlichen Zusammenlebens und im Hinblick auf gewisse Grundsituationen — etwa das Verhalten des Richters zu den Streitparteien im Prozeß — größer als hinsichtlich der Beurteilung von Lebensidealen oder objektiven Kulturwerten. Dieser Unterschied ist in der Debatte um die Möglichkeit rationaler Argumentation im Bereich der Werturteile häufig nicht genügend beachtet worden. Max Weber hat in seiner Schrift „Wissenschaft als Beruf", in der die Irrationalität der Wertentscheidung geradezu leidenschaftlich betont ist, von Berufsidealen einerseits, von den Entscheidungen zwischen Kultursynthesen, wie der französischen und der deutschen Kultur, andererseits gesprochen. Die einfachen Elementarwerte, wie Gerechtigkeit, Treue, etc. hat er nicht erwähnt. Nun ist aber klar, daß die Entscheidung, welchen Beruf ich ergreife, ob ich z. B. den des Gelehrten wähle, zwar auch nicht völlig irrational getroffen werden muß — denn sie setzt Selbsterkenntnis voraus — aber doch eine höchst persönliche Entscheidung bleibt, die andere weder nachvollziehen können noch müssen. / Und ähnlich liegt es mit der Entscheidung, ob man seine Loyalität der französischen oder der deutschen Kultur geben will. Auch hierbei handelt es sich um globale Stellungnahmen, auch um den Einsatz der eigenen individuellen Kräfte, die etwa mit der Frage, ob es für 61 62

Dazu insbesondere Scheler, aaO., S. 309 ff. Vgl. oben Abschn. III. 5. b.

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einen Richter gerecht ist, beide Parteien zu hören, nicht einfach gleichgestellt werden kann. Trotz alledem bleiben, auch im Bereich der für das Recht maßgebenden Basiswerte, die Unterschiede in der Wertauffassung beunruhigend genug, und es bleibt die Frage, ob es Kriterien der Richtigkeit der einen oder der anderen Auffassung gibt. Brentano hat dieses Problem als Frage nach den Regeln des richtigen Vorziehens formuliert63. Hier ist nun zunächst darauf aufmerksam zu machen, daß es Wertungen sittlicher wie rechtlicher Art gibt, die von bestimmten Auffassungen über tatsächliche Gegebenheiten oder tatsächliche Zusammenhänge abhängen. Dies läßt sich z. B. bei der unterschiedlichen Wertung der Geschlechter feststellen. Aristoteles etwa nahm an, daß bei der Zeugung dem Manne die entscheidende Rolle zukomme, weil er die „Form" des neuen Lebewesens bestimme. In der christlichen Auffassung hat der Glaube, daß die Frau aus der Rippe des Mannes geschaffen sei, eine Rolle gespielt. Die Rassenlehre, die in der deutschen Rechtsentwicklung unter dem Nationalsozialismus eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, behauptet, daß den einzelnen von ihr unterschiedenen Menschengruppen ganz bestimmte und sehr unterschiedliche seelisch-geistige Eigenschaften erblich zukämen. In solchen Fällen sind diese tatsächlichen Annahmen empirisch, z.T. sogar durch naturwissenschaftliche Forschung nachprüfbar; werden sie berichtigt, so wird damit auch dem Werturteil die Grundlage entzogen, das an sie geknüpft ist. In anderer Weise hängen Werturteile in ihrer Richtigkeit von tatsächlichen Feststellungen dann ab, wenn die ethische Qualifizierung einer Handlung oder eines Gesetzes mit Rücksicht auf deren Folgen getroffen wird. Solche Fälle tauchen insbesondere im Bereich rechtlicher Wertung häufig auf64. Ein bestimmtes medizinisches Präparat in den Handel zu bringen, kann z. B. unerlaubt sein, weil es möglicherweise unter bestimmten Umständen auch schädigende Wirkungen hat. Eine finanztechnische Maßnahme, etwa die Kriegsfinanzierung durch Anleihen statt durch Steuern, wie sie in Deutschland im ersten Weltkrieg erfolgt ist, wird ungerecht, wenn sie bei längerer Dauer des Krieges zu einer sachlich unbegründeten Vermögensumschichtung führt. In diesen Fällen hängt zwar nicht die Wertauffassung selbst, wohl aber die Bewertung des Einzelfalles davon ab, ob bestimmte Folgen eintreten oder nicht. Da aber der zu bewertende Tatbestand 63 M

Franz Brentano, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1899), S. 24 f. Darauf hat Krisle, Kriterien der Gerechtigkeit (1963), aufmerksam gemacht.

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ein soziales System in seiner Gesamtheit, z. B. eine bestimmte Wirtschaftsordnung „Marktwirtschaft" oder „geplante Staatswirtschaft", sein kann, kommt dieser empirischen Verifizierung von angenommenen Folgeerscheinungen erhebliche Bedeutung gerade bei ethisch-politischen Werturteilen zu; es gilt hier Ähnliches, wie es für die historischen Werturteile ausgeführt worden ist. Schaltet man Unterschiede der Wertung aus, die in dieser Weise im Grunde auf Tatsachen-Urteilen beruhen, so bleiben die eigentlichen Widersprüche der Wertung. Ist die selbst vollzogene Rache, die Wahrung der eigenen Ehre durch Zweikampf, ein leitender Wert oder der friedliche Ausgleich durch Ehrenerklärung? Soll ein Rechtssystem um der gerechten Verteilung der Güter willen die Produktionsmittel auf den Staat überführen und damit alle Wirtschaftsmacht beim Staat konzentrieren oder soll es, im Interesse der Freiheit, eine privatrechtlich geregelte marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung anstreben? Ist der Staat, seine Macht und Stärke, oder das Individuum der Höchstwert? Ist Erkenntnis oder praktisches Wirken das Ideal, dem wir in unserem Leben nachstreben sollen? Ist es überhaupt die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit oder der Dienst an der Gemeinschaft oder am Nächsten? Erst hier stellt sich die Frage nach den Kriterien der Richtigkeit einer bestimmten Moral. Angesichts dieser Frage ist nun die Feststellung interessant, daß auch die Wissenschaft sich nicht scheut, unbefangen primitivere und höhere Systeme der sittlichen Kultur zu unterscheiden. Welches sind die Kriterien, nach denen sich solche Unterscheidung treffen läßt? Mir scheinen die folgenden in Betracht zu kommen65. 65

Die folgende Äußerung von Morris Ginsberg, On the Diversity of Morals (1956, Reprint 1961), S. 120f. zum gleichen Problem scheint mir wichtig genug, um sie hierher zu setzen: „It points to a number of characteristics which probably have in mind obscurely in estimating differences of level. To begin with, moral systems differ in the range or area of personals who come within the scope of the common good. As far as doctrine is concerned, the decisive step is taken by the higher religions which at their best are all universalist in outlook. The injunction to love all men, however, rarely means all men; and in any case, the general goodwill does not pervade the specific rules of behaviour, which are always limited in range of application. The rise of what may be called an international conscience as distinguished from a vogue philanthropy, it has been well said, is a new thing on the earth. The extent to which universalism has entered into the working codes of morality is therefore a good indication of the level of moral development.

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(1) Wir haben gesehen, daß Wertungen häufig eng mit der Beurteilung von tatsächlichen Zusammenhängen verknüpft sind. Mehr oder weniger richtige Beurteilung solcher tatsächlichen Zusammenhänge ist daher ein erstes Kriterium für die Bewertung moralischer Systeme. (2) Ein weiteres Kriterium liegt in der inneren Konsequenz einer moralischen Lehre; sie darf keine inneren Widersprüche auf weisen. Ein solcher Widerspruch ist z. B. gegeben, wenn eine Moral einerseits — als christliche — den inneren Wert des Menschen für maßgebend erklärt, andererseits aber die Wahrung der äußeren Ehre durch Duell fordert. (3) Ein drittes Kriterium ist in der — mehr oder weniger vorhandenen — Universalität der Moral zu sehen. Höhere Moral ist universell, sie schließt alle Menschen ein und gibt damit jedem Einzelmenschen einen eigenen Wert; niedere Moral ist an die Gruppe gebunden, sieht moralische Bindungen nur oder in erster Linie innerhalb der Gruppe. Diesen Unterschied zwischen der „Morale close" und der „Morale ouverte" hat Bergson eindrucksvoll dargestellt. Es ist übrigens deutlich, daß dieses Kriterium mit den beiden ersten innerlich zusammenhängt. In the second place, moral systems differ widely in the range or comprehensiveness of the experience which they embody. Morality changes with growing knowledge of human needs and capacities and experience of conflicts and their adjustment. Especially varied is the history of the way in which men learn to balance control and spontaneity, self-denial and selffulfilment, personal good and social good, and in the adventurousness they show in the search for new values. In this connexion it is difficult, as we have seen, to isolate knowledge of fact from moral insight. But I do not see how anyone can deny that in both fields there has been advance both in range and depth of experience. In the third place, moral codes differ in the extent to which the principles underlying them are brought to light, and in the degree of coherence and systematic connectedness between the parts. The study of any system of morals always reveals inconsistencies and contradictions, as is shown for example by Sidgwick's (1907,pp. 337 ff.) analysis of the „commonsense morality" of his day. Philosophers, of course, have given a good deal of attention to the general principles of morals. But the disrepute into which "casuistry" has fallen has brought it about that little attention is given to the "middle principles" and to the ways in which these are applied to the detail of life. The result is that the systematization of morals compares very unfavourably with that achieved in the sphere of law. In this respect, too, there must be differences between different systems of morals.

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(4) Ein letzter Gesichtspunkt ergibt sich aus der Überlegung, daß alle Ethik bewußte Formung des Menschen nach einem höheren Bilde ist, Stilisierung des Naturwesens durch den Geist. Freiheit im Sinne eines grundsätzlichen „Sich-Gehen-Lassens" kann kein sittliches Prinzip sein. Das scheint schon in der biologischen Struktur des Menschen angelegt zu sein. „Mensch sein heißt, von Normen gehemmt, Verdränger sein. Jede Konvention, jede Sitte, jedes Recht artikuliert, kanalisiert und unterdrückt die entsprechenden Triebregungen "**. Zwei Gesichtspunkte sind damit gegeben: die Ethik darf nicht vergessen, daß sie ein Naturwesen zu formen hat; sie darf nicht vergessen, daß sie es zum geistigen Wesen zu bilden hat. Nach diesem Kriterium unterscheiden wir im Grunde auch einfache und höhere ethische Kultur. Es ist daher auch nicht jede Veränderung der tatsächlich angenommenen Werte schon „richtig" im Sinne einer Hierarchie der Werte und des Wesens der Ethik. Für das Recht würde das z. B. auf der einen Seite die Forderung nach Sachgerechtigkeit begründen. Eine Rechtsordnung, die vergißt, was der Mensch seiner natürlichen Konstitution nach, als leibliches Wesen mit bestimmten Trieben, Bedürfnissen und Instinkten, ist, wird unmenschlich. Auf der anderen Seite heißt es, daß eine Ordnung, die nach geistig-sittlichen Werten geformt ist, nach Gerechtigkeit und Freiheit, höher steht als eine solche, die nur einfache Ordnung oder einen mit Gewalt erhaltenen Frieden garantiert, obwohl auch diese schon eine große Wohltat sein kann. Es würde sich daraus auch A fourth point in defining level of development is the differentiation of morals from religion and law. The way in which the sphere of law is demarcated from the sphere of morals is of special importance, since it involves an answer to the question, what can be left to the individual and what requires enforcement by the machinery of the law. The extent to which societies resort to coercion seems to me to be perhaps the best general index of the level of moral development. Finally, moral systems may be judged by the extent to which they permit or encourage self-criticism and self-direction. In the more complex societies social forces are deliberately manipulated and change is consciously directed. Hence, from the ethical point of view, the part that is played by objective and disinterested thought in the shaping of public policy is of the greatest importance. Could we but find a way of estimating the influence of changes in moral outlook upon legislation in different societies, we should have an important index of the level of development." 66 Plessner, Conditio humana (1964), S. 51; vgl. auch die Aufstellungen von A. Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt (8. Aufl. 1966), insbesondere S. 361. Gehlen spricht geradezu vom „Formierungszwang", S. 51.

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ergeben, daß eine Staatsordnung, die den Eigenwert des einzelnen Menschen völlig mißachtet, ethisch minderwertig ist. Es lassen sich mithin auch hier rationale Kriterien angeben, die das Vorziehen, die höhere Bewertung bestimmter Wertungen oder Weltsysteme, begründen; die Entscheidung zwischen ihnen muß nicht dem irrationalen Gefühl überlassen bleiben. Eine rationale Ethik erweist sich als möglich. 5. Die Kulturgeschichte zeigt uns, daß die Wertauffassungen, die eine bestimmte Gesellschaft bestimmen, sich im Laufe von deren Entwicklung ändern können.67 a) Dies bedeutet aber nicht, daß es der Forschung unmöglich wäre, den Inhalt von Werten, die einmal akzeptiert waren, dann aber ihre Bedeutung verloren haben, aber mit anderem Inhalt erfüllt worden sind, zu erkennen. Sie kann deren Inhalt durchaus feststellen und die unterschiedlichen Überzeugungen vergleichen. Die rationale Analyse von „vergangenen" Werten bleibt möglich, und sie bleiben insofern als Gegenstand der Forschung und Darstellung bestehen. b) Es stellt sich dann aber die Frage, wie solche Veränderungen vom Standpunkt der Ethik selbst zu beurteilen sind. Diese Frage ergibt sich vor allem für Menschen, die in ihrer Lebenszeit derartige Veränderungen erleben. Hierfür gelten die gleichen Erwägungen, wie sie für das Problem der Entscheidung zwischen unterschiedlichen Wertsystemen im vorigen Abschnitt (4) entwickelt sind. Die dort dargestellten Kriterien sind maßgebend. Es kann dabei sein, daß man nach diesen Kriterien auf rationaler Weise zu einer negativen Beurteilung neuerer Entwicklungen kommen muß.

III. Es bleibt noch in diesem Zusammenhang auf die sogenannten Reduktionstheorien einzugehen, die unsere moralischen Vorstellungen auf andere Elemente zurückführen und damit ihres Eigenwertes berauben68. Die Analyse der Ethik als Kulturerscheinung zeigt sie uns als ein eigenständiges Phänomen mit bestimmten Zügen. Es ist aber immer wieder versucht worden, die ethischen Phänomene auf andere Strebungen und Triebe genetisch zurückzuführen und daraus zu verstehen — so in 67

Vgl. dazu etwa die Darstellung von Snell in seinem Werk „Die Entwicklung des Geistes" und allgemein Howald u.a., „Geschichte der Ethik", 1978. 68 Auf die Überbautheorie von Marx soll später im Zusammenhang mit der Erörterung der geschichtlichen Entwicklung des Rechts eingegangen werden (Kapitel III, III).

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der Psychoanalyse auf „sublimierte Libido", auf Streben nach Lustgewinn seitens der englischen Utilitaristen, neuerdings, durch den Verhaltensforscher Lorenz, auf die im Tierreich beobachtbare Aggressivität und Aggressionshemmung, die im Dienste der Erhaltung der Art stehen. Speziell die christliche Moral hat Nietzsche auf das Ressentiment der Unterdrückten zurückgeführt. Man kann diese Theorien als „Reduktionstheorien" bezeichnen69. Auf Nietzsches Ressentimenttheorie sei hier näher eingegangen. Nietzsche70 geht von der sprachgeschichtlichen Tatsache aus, daß in den indogermanischen Sprachen die Worte, welche auf entwickelter Kulturstufe sittliche Werte bezeichnen, sich ursprünglich auf körperlichseelische Vorzüge wie Kraft, Mut, edle Abkunft usw. bezogen haben. Er folgert daraus, daß die heute sogen, moralischen Werte ursprünglich eine Wertsetzung der adeligen Herrenschicht, der Eroberer, gewesen seien, welche darin ihrem vitalen Kraft- und Uberlegenheitsgefühl Ausdruck verliehen. Mut, Kraft, Macht und Ehre waren ihre Leitwerte. Die heutige „moralische" Bedeutung sei erst durch eine Umwertung zustande gekommen, welche die Unterworfenen aus Ressentiment, aus unterdrücktem Machtwillen, vorgenommen hätten. Sie hätten in einem „Sklavenaufstand in der Moral" ihr eigenes Verhalten, nämlich die niedrige Demut, das Mitleid usw. als das eigentlich Wertvolle hingestellt und die bisherigen Werte „abgewertet". Insbesondere das Christentum habe zu dieser Wertfälschung beigetragen. Die entscheidenden Passagen lauten: „Man wird bereits erraten haben, wie leicht sich die priesterliche Wertungs-Weise von der ritterlich-aristokratischen abzweigen und dann zu deren Gegensatz fortentwickeln kann; wozu es insonderheit jedesmal einen Anstoß gibt, wenn die Priesterkaste und die Kriegerkaste einander eifersüchtig entgegentreten und über den Preis miteinander nicht einig werden wollen. Die ritterlich-aristokratischen Werturteile haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, samt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemutes Handeln in sich schließt. Die priesterlich-vornehme Wertungs-Weise hat — wir sahen es — andere Voraussetzungen: schlimm genug für sie, wenn es sich um Krieg handelt! Die Priester sind, wie bekannt, die bösesten 69

Scheler hat von „vitalistischen" Theorien gesprochen: Die Stellung des Menschen im Kosmos (6. Aufl. 1962), S. 82; vgl. auch seine Bemerkungen zur Theorie der Sublimierung, S. 56 ff 70 Zur Genealogie der Moral. Ausgabe von Schlechta (1956), Bd. II, S. 761 ff.

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Feinde — weshalb doch? Weil sie die ohnmächtigsten sind. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Haß ins Ungeheure und Unheimliche, ins Geistigste und Giftigste. Die ganz großen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser — gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht. Die menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist — nehmen wir sofort das größte Beispiel. Alles, was auf Erden gegen „die Vornehmen", „die Gewaltigen", „die Herren", „die Machthaber" getan worden ist, ist nicht der Rede wert im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie getan haben; die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch einen Akt der geistigsten Rache Genugtuung zu schaffen wußte. So allein war es eben einem priesterlichen Volke gemäß, dem Volke der zurückgetretensten priesterlichen Rachsucht. Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich „die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit — dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!" ... Man weiß, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwertung gemacht h a t . . . Ich erinnere in betreff der ungeheuren und über alle Maßen verhängnisvollen Initiative, welche die Juden mit dieser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen gegeben haben, an den Satz, auf den ich bei einer anderen Gelegenheit gekommen bin („Jenseits von Gut und Böse": II 653) — daß nämlich mit den Juden der Sklavenauf stand in der Moral beginnt: Jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er — siegreich gewesen ist .. .71" „Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, 7

> Nietzsche, aaO., S. 778-780.

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versagt ist, die sich nur durdi eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Jasagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Außerhalb", zu einem „Anders", zu einem „Nichtselbst": und dies Nein ist ihre schöpferische Tat. Diese Umkehrung des werte-setzenden Blicks — diese notwendige Richtung nach außen statt zurück auf sich selber — gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehen, immer zuerst einer Gegenund Außenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äußerer Reize, um überhaupt zu agieren — ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungs-Weise der Fall: sie agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender ja zu sagen — ihr negativer Begriff „niedrig", „gemein", „schlecht" ist nur ein nachgeborenes blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff „wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen""! In dieser Auffassung erscheint also die Moral entweder als Ausdruck des Selbstgefühls, der Selbstbejahung (beim Vornehmen) oder als umgeformter Haß, Ressentiment (beim Unterdrückten): in jedem Falle nichts Eigenständiges, sondern nur Ausdruck von anderem. Gegenüber solchen Versuchen ist zunächst hervorzuheben, daß die Kenntnis einer eventuellen, entwicklungsgeschichtlichen Genese uns noch nichts Abschließendes über das Wesen eines entwickelten Organs, eines Gefühls oder einer geistigen Eigenart sagen muß. Rudolf Otto hat uns in seinem klassischen Buch über das Heilige geschildert, wie das Gefühl für das Heilige sich geschichtlich aus der Verbindung mit anderen, ihm benachbarten Gefühlen, der Scheu vor den Toten, der Furcht vor dem Unheimlichen, löst und dann in seiner überwältigenden Größe rein erscheint. „Wie alle anderen seelischen Urelemente taucht es zu seiner Zeit in der Entwicklung menschlichen Geisteslebens auf und ist dann einfach da. Auftauchen kann es zweifellos erst, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind: Bedingungen der körperlichen Organentwicklung, der Fähigkeiten der Reizbarkeit und Spontaneität, der übrigen seelischen Kräfte, des allgemeinen Gefühlslebens . .. Aber solche Bedingungen sind Bedingungen, nicht Ursachen oder Elemente. Und diese Tatsache anerkennen .. . heißt vom sensus numinis nur dasselbe behaupten, was von allen anderen Urelementen unseres Seelischen auch gilt..., alle höheren Erkenntnisvermögen und 72

Nietzsche, aaO., S. 782, 783.

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Kräfte der Seelen treten ... entwicklungsmäßig zu ihrer Zeit auf, sind aber jedes für sich ein Neues, Unableitbares ..."73 Soweit die Reduktionstheorien aber über die Ableitung des Sittlichen hinausgehen und mit der Genese sein Wesen erklären wollen, haben sie den gegebenen Befund gegen sich. Die sittlichen Gefühle sind da und wirksam. Statt schlicht von diesem Befund auszugehen, müssen die Reduktionstheorien ihn durch komplizierte Hypothesen erklären, die im einzelnen nicht beweisbar sind. Das gilt vor allem von den Theorien Freuds. Aber auch Nietzsches Theorie von der Umwertung aus Ressentiment ist unzulänglich. Nietzsche übersieht, daß auch hinter solchen Werten, wie die Demut es ist, echtes eigenartiges Erleben, nicht nur Ressentiment, stehen kann. Gewiß, es mag Fälle geben, in denen in demütigem Verhalten zugleich Ressentiment und Haß stehen; aber es gibt eben auch das einfache Phänomen der Demut schlechthin — ohne jeden „Nebengeschmack". Das Sittliche bleibt, wie immer wir uns seine phylogenetische oder kulturgeschichtliche Entstehung zu denken haben, ein unableitbares Element des menschlichen Geistes, ein Urphänomen74. Ebensowenig vermag der Utilitarismus Benthams75 eine befriedigende Erklärung der ethischen Phänomene zu geben. Bentham geht davon aus, daß der Mensch in seinen Handlungen von den Gefühlen der Lust bzw. Unlust geleitet wird, und will daher in der Ethik darauf abstellen, ob eine Handlung „Lust" fördere oder nicht. Aber der dabei verwendete Begriff der „Lust" erweist sich bei näherem Zusehen als viel zu undifferenziert. Die Lust oder Freude, die uns ein guter Braten bereitet, ist von denjenigen, die wir beim Hören eines Klavierkonzertes von Beethoven, angesichts der großen Architektur von Sto Spirito in Florenz oder dann empfinden, wenn wir glauben, uns in einer schwierigen Situation bewährt zu haben, durchaus verschieden. Ganz verschiedene Seiten unseres Wesens werden angesprochen; ganz verschiedene Wertqualitäten — physisch-geschmackliche, ästhetische und ethische — sprechen uns an. Außerdem ist die Grundhypothese, daß alle Menschen nach Lust strebten, durchaus problematisch. Darauf ist in der philosophischen Ethik immer wieder hingewiesen worden76. 73 74

R. Otto, Das Heilige (23.-25. Auflage), S. 151.

Anthropologische Erkenntnisse legen nahe, anzunehmen, daß die Situation des Menschen als eines „nicht festgestellten" Wesens — im Gegensatz zum Tier — die Ethik, die Selbstgestaltung des Menschen, zu einem seiner Wesenszüge macht. 75 Vgl. oben S. 49 ff. 76 Vgl. z.B. B.Nohl, aaO., S.23ff.; Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (4. Aufl. 1954), S. 57 ff., S. 254 ff.

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IV. Die hier gegebene Darstellung beruht in erster Linie auf einer Analyse der dem Recht zugrunde liegenden Werte und Sachgegebenheiten. Gegen diesen Ansatzpunkt ist über die bereits erörterten erkenntnistheoretischen Einwände hinaus, insbesondere von Niklas Luhmann Widerspruch erhoben worden77. Luhmann vertritt die Auffassung, daß der naturrechtliche Ansatz durch die moderne Entwicklung überholt sei und daß die Idee der Gerechtigkeit es nicht erlaube, in unserer komplex gewordenen Welt als Kriterium bei rechtlichen Entscheidungen, insbesondere bei der Setzung von Recht, zu dienen78. Es scheint mir zunächst zweifelhaft zu sein, ob bei dieser Auffassung der Gegensatz zwischen Naturrecht und positivem Recht, wie er sich in der Rechtsgeschichte Europas ausgewirkt hat, so erfaßt ist, daß man den tatsächlichen Entwicklungen gerecht wird. Luhmann setzt den eigentlichen Beginn der Positivierung des Rechts auf den Zeitpunkt, in dem sich die bürgerliche Gesellschaft gebildet hat, also insbesondere in das 19. Jahrhundert. Natürlich ist eine solche Begriffsbildung möglich und die Beobachtung richtig, daß der Industrialisierungsprozeß im ^.Jahrhundert zahlreiche Rechtsänderungen hervorgerufen hat. Aber man kann doch nicht übersehen, daß gesetzliches Recht — also positives Recht auch im Sinne von Luhmann — schon in älteren Rechtsepochen eine sehr bedeutende Rolle gespielt hat. Das gilt für die griechische Polis der Antike ebenso, wie für das römische Recht, jedenfalls in der Zeit des späten Kaiserreiches. In der justinianischen Gesetzgebung ist z. B. die Differenzierung zwischen Rechtssetzung und Rechtsanwendung oder Entscheidung und Fallentscheidung auf das schärfste herausgearbeitet und jede Durchsicht der Novellen Justinians zeigt, wie stark variabel das positive Recht damals gewesen ist. Im Mittelalter beginnt dann seit dem 13. Jahrhundert wieder eine rege Gesetzgebungstätigkeit; das Rechtssystem, das dann bis zur französischen Revolution gegolten hat, setzt sich aus dem von der Wissenschaft getragenen römisch-kanonischen Recht, alten lokalen Gewohnheitsrechten und der staatlichen Gesetzgebung zusammen. Das römisch-kanonische Recht ist infolge seiner wissenschaftlichen Geltung erstaunlich anpassungsfähig gewesen. Man denke nur an die Aufnahme des Handelsrechts in dieses Recht. Die staatliche Gesetzgebung war ebenfalls außerordentlich aktiv und zu Änderungen bereit. Das 77

Vgl. Rechtssoziologie I (1972), S. 133-134, 186/216; ferner der Aufsatz: Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft in: Ausdifferenzierung des Rechts (1981), S. 374 ff. 7 « Vgl. oben S. 87ff.

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eigentliche Problem dieser Epoche scheint mir nicht so sehr die Starrheit des Rechtes, als vielmehr dasjenige seiner praktischen Durchsetzung gewesen zu sein. Demgegenüber weist das Recht der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert eigentlich eine erstaunliche Konstanz aus. Diese ist einerseits durch die großen napoleonischen Kodifikationen und ihre Ausbreitung in Europa, andererseits durch das deutsche Pandektensystem, das ebenfalls in Europa großen Einfluß ausgeübt hat, bedingt gewesen. Wichtiger scheint mir, daß Luhmann von einem Begriff des Naturrechts ausgeht, der den modernen naturrechtlichen oder wertphilosophischen Fassungen nicht entspricht. Wenn ich recht sehe, ist für Luhmann das Naturrecht ein Abbild der natürlichen Weltordnung. Damit ist es Grundlage der Regelung und gleichzeitig Legitimation des geltenden Rechts. Wie weit dieser Gedanke vor der französischen Revolution wirklich das geltende Recht legitimiert hat, ist mir zweifelhaft. Bedeutsamer scheint mir aber, daß die moderne Naturrechts- oder Gerechtigkeitstheorie, wie sie von Nikolai Hartmann, von Perelman oder von Rawls entwickelt worden ist und wie auch ich sie darzustellen versucht habe, nicht mehr von dieser umfassenden Konzeption des Naturrechts ausgeht, sondern versucht, bestimmte Prinzipien der Gerechtigkeit zu entwickeln. Legt man diesen Ansatz zugrunde, so scheint mir die Annahme durchaus berechtigt zu sein, daß solche Prinzipien auch als Kriterien für gerechtes und ungerechtes Recht verwendet werden und auch bei der Ausarbeitung neuen Rechts eine bedeutende Rolle spielen können, auch wenn solche Gesetze im einzelnen natürlich von Gesichtspunkten bestimmt sein müssen, die sich aus der geregelten Materie ergeben. Was das erste angeht, so läßt sich z.B. aufgrund dieser Prinzipien der Wertunterschied zwischen totalitären und freiheitlichen Rechtssystemen klären. Was die ändernde Einzelgesetzgebung betrifft, so scheinen sie mir auch hier eine bedeutende Rolle zu spielen. Wenn etwa durch technologische Entwicklungen ein gesetzlicher Datenschutz notwendig wird, so ist die Rücksicht auf die menschliche Persönlichkeit oder die Menschenwürde doch ein entscheidendes Moment, das bei der Regelung berücksichtigt werden muß. Wenn der Gesetzgeber die Zulässigkeit von allgemeinen Geschäftsbedingungen beschränkt, so geschieht das in dem Bestreben, die Bedingungen der Anwendbarkeit der Prinzipien der justitia commutativa wieder herzustellen. Aber auch so grundsätzliche Entscheidungen, wie diejenige über die Gestaltung der Wirtschaftsordnung, d. h. die Wahl zwischen Zentralverwaltungswirtschaft mit Planung oder einer marktwirtschaftlichen Ordnung, wird letzten Endes durch einen Gerechtigkeitsgesichtspunkt, nämlich die Sicherung der menschlichen Freiheit, zum mindesten mitbestimmt.

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Daher erscheint es mir nach wie vor gerechtfertigt, auch in der Situation, in der sich das positive Recht unserer Zeit unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft befindet, an dem naturrechtlichen oder wertanalytischen Ansatz festzuhalten.

V. Die vorangehenden Ausführungen haben zu zeigen versucht, daß eine Stellungnahme zu den Fragen, welche die Rechtsphilosophie beschäftigen, in weitem Umfange rational begründbar ist, daß sie noch vor der Linie erfolgen kann, welche das Feld wissenschaftlich-rationaler Erörterung von dem der Weltanschauung, der Metaphysik, trennt. Gerade deshalb aber scheint es mir geboten, am Ende dieser Erörterung noch einmal zu betonen, wo nach meiner Auffassung die Grenzen wissenschaftlicher Einsichten liegen, und kurz darzulegen, von welchen weltanschaulichen Grundauffassungen her dieses Buch geschrieben ist. a) In den bisherigen Erörterungen ist vorausgesetzt, daß ethische Werte als solche verpflichten, daß wir gehalten sind, sie zu verwirklichen. Daß derartige Überzeugungen existieren, kann die Kulturwissenschaft konstatieren; daß ethische Normen aber wirklich als solche verpflichtend sind, vermag sie nicht darzutun; es bleibt vom Standpunkt empirischrationaler Erörterung aus ein Axiom und kann nur metaphysisch begründet werden. b) Das gleiche gilt, wenn wir die Frage nach dem letzten Sinn der Verwirklichung ethischer, ja geistiger Werte stellen. Auch sie kann vom Boden empirisch-rationaler Betrachtung her nicht beantwortet werden. Es wird immer ein Zeichen der Redlichkeit seines Denkens bleiben, daß Kant an dieser Stelle die Postulate der praktischen Vernunft, die Postulate der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit entgegen den Konsequenzen der theoretischen Vernunft in sein System eingeführt hat. c) Die vorliegende Arbeit ist vom Standpunkt einer philosophischen Anthropologie aus geschrieben; sie ist vor allem Dilthey, Simmel, Plessner, Hartmann und Scheler verpflichtet79. Sie geht damit von der Anschauung aus, daß der Mensch, wie durch die Fähigkeit zu sachlicher Aufnahme und Erforschung der Welt, so auch durch die Befähigung, geistige Werte zu erfassen und zu verwirklichen, ausgezeichnet ist; daß er seine vitalen Energien auf solche Wertverwirklichung zu richten80 und 79

Ich verweise vor allem auf Simmel, Vier metaphysische Kapitel; Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos; Plessner, Conditio humana, Hanmann, Ethik. 80 Vgl. dazu Schelers Bemerkungen zum Problem der Sublimierung: Stellung des Menschen (6. Aufl.), S. 56 ff.

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hierin subjektiv wie objektiv den Sinn seines Lebens zu finden vermag. Insoweit nimmt diese Anschauung die klassische Theorie vom Menschen als Vernunftwesen auf; sie teilt freilich nicht die Überzeugung der klassischen Theorie von Vernunft als bestimmender Macht des menschlichen Lebens, sondern bleibt sich gerade der Bedrohtheit, der Fragilität, des Geistes in der menschlichen Welt bewußt81. Aus diesem Grunde vermag sie auch die These des Idealismus nicht zu akzeptieren, daß die Weltgeschichte als Entfaltung von Ideen zu begreifen sei.

81

Dazu Scheler, Stellung des Menschen, S. 64 ff.; grundsätzlich herausgearbeitet von Nicolai Hartmann, in dessen Schichtentheorie, vgl. etwa „Das Problem des geistigen Seins" (3. Aufl.), S. 17 ff.

KAPITEL III DAS RECHT ALS KULTURERSCHEINUNG Der moderne Jurist kennt im allgemeinen ein einziges Rechtssystem, „sein" Recht. Dieses Wissen ist für die Klärung rechtsphiloso.phischer Fragen von großer Bedeutung: aber es reicht nicht aus. Die Rechtsphilosophie fordert einen umfassenderen Standpunkt; sie verlangt, daß wir das Recht im allgemeinen, als Phänomen der menschlichen Kultur ins Auge fassen. Um ein solches Bild zu gewinnen, muß man neben der eigenen Erfahrung, die unersetzlich bleibt, die Ergebnisse der Ethnologie und der Rechtsgeschichte heranziehen. Es ist klar, daß ein solcher Versuch angesichts der Fülle des Materials mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist; der einzelne stößt hier schnell an die Grenzen seines Wissens. Trotzdem ist es notwendig, den Versuch zu machen, eine möglichst breite Anschauung zu gewinnen, um die Richtigkeit rechtsphilosophischer Lehren zu überprüfen. Um die entscheidenden Phänomene aufzufinden, bedarf man — wie häufig in den Geisteswissenschaften — einer vorläufigen Festlegung dessen, was Recht ist. Im Sinne einer solchen vorläufigen Festlegung können wir sagen: Das Recht ordnet das Zusammenleben von Menschen, die einer bestimmten Gruppe angehören. Es legt die relative Stellung der Mitglieder dieser Gruppe fest: Es grenzt die Bereiche ihrer Tätigkeit voneinander ab, und es schafft die Formen, in denen eine Zusammenarbeit möglich ist; es sieht die Formen vor, in denen die Gruppe zu einheitlichem Handeln kommt und die Rechtsordnung selbst durchgesetzt werden kann. Diese Aufgaben löst das Recht nicht durch konkrete Regelung bis ins Einzelne — das würde die menschliche Vernunft überfordern —, sondern durch Grundsätze und Regeln, die allgemein nur für eine Vielzahl von Fällen gelten sollen. Gegenüber der Fülle des Lebens ist die Rechtsordnung abstrakt und gewissermaßen unpersönlich. I.

1. Solche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens ist eine universale Kulturerscheinung. Ubi societas, ibi ius. Zum mindesten in

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Ansätzen findet es sich nach den Feststellungen der Anthropologen1 auch in allen primitiven Kulturen, wenn auch diese Ansätze in Primitivkulturen, deren soziale Organisation noch wenig differenziert ist, oft nur geringfügig sind. Auch ist die Rolle, die das Recht in verschiedenen Kulturen spielt, durchaus unterschiedlich. Im Rom der Antike hatte es viel größere Bedeutung als im klassischen Griechenland. Die Gruppe der Berufsjuristen gab es in Rom, aber nicht in Athen. Für die moderne Kultur in Europa und in den Vereinigten Staaten gilt dasselbe wie für das antike Rom. In der klassischen chinesischen Kultur hat es nie die gleiche Bedeutung besessen. Es ist charakteristisch, daß auf dem europäischen Kontinent seit dem Spätmittelalter, seit der sogenannten Rezeption des römischen Rechts, die Gerichte und die Verwaltungsbehörden weitgehend mit Juristen besetzt sind. In China hatten die Mandarine dagegen keine juristische Ausbildung; sie waren an Kunst und Philosophie ausgebildet worden. Die Rechtswissenschaft hat in dieser Kultur eine sehr viel geringere Rolle gespielt. Auch zur islamischen Kultur bestehen in dieser Hinsicht erhebliche Unterschiede. Hier ist das Recht aus dem Koran abgeleitet. Es gab dabei 4 verschiedene Schulen, aber die Ergebnisse lagen schon im Hochmittelalter fest. Es gibt daher keine „freie" Rechtswissenschaft; diese ist mit der Theologie verbunden. In Europa ist dies schon im Mittelalter anders gewesen. Die Vertreter des kanonischen Rechts gehörten nicht zur theologischen Fakultät, sondern zur juristischen. Sie haben sich z. T. gerade deswegen als den Theologen überlegen betrachtet.1 a Das Recht ist also in den einzelnen Kulturen von sehr unterschiedlicher Bedeutung und nicht in der gleichen Weise ausgebildet. Erst recht ist es in den einzelnen Kulturen nicht einheitlich universell gleichmäßig ausgebildet. Nicht nur sind die Rechte der Hochkulturen von denen der sog. Naturvölker verschieden: auch das Recht dieser letzten weist wohl im einzelnen mancherlei verwandte Züge auf — man denke etwa an die Bedeutung der Gruppe oder des Gedankens der Rache —, bildet aber keineswegs ein einheitliches System. Die Hypothese, es gäbe gleichförmige Frühstufen des Rechts, „Ancient Law" im Sinne Maines, hat sich nicht bewährt. Vielmehr ist das frühe Recht von Stamm zu Stamm, von Rasse zu Rasse verschieden, selbst da wo sehr ähnliche Lebensbedingungen gegeben sind. Amerikanische Forscher haben die Ordnungen von drei Indianerstämmen untersucht, die alle als Jäger in den Ebenen des amerika1 1a

vgl. Hoebel, The Law of Primitive Man (1964). vgl. dazu Coing, Historische Zeitschrift 238, S. l f.

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nischen Westens gelebt haben, der Cheyenne, Kiowa und Comanchen, und es zeigte sich, daß die sozialen Regeln und Einrichtungen z. T. sogar sehr erheblich voneinander abwichen2. Daß das Recht der modernen Industriestaaten trotz gleicher sozialer Bedingungen in vielem verschieden ist, ist allgemein bekannt. Von einen einheitlichen Weltrecht sind wir, mag es auch viele Zeichen des Zusammenwachsens geben, noch weit entfernt. 2. Auch eine einheitliche Entwicklung „des" Rechts scheint es nicht zu geben; es liegt mit dem Recht nicht anders als mit der Sprache3, Kunst und Religion. Die Rechtsordnungen der einzelnen Stämme, Staaten und Kulturen haben sich jeweils in individuellen Abläufen herausgebildet, mögen auch Einflüsse hin- und hergelaufen sein. Aber auch ein festes allgemein zu beobachtendes Entwicklungsgesetz hat sich nicht feststellen lassen. Man hat insbes. nicht feststellen können, daß bestimmte Epochen oder Stile in notwendiger Folge einander ablösten. Allerdings ist der Gedanke einer „Epocnen"-Lehre in der Rechtsgeschichte nicht mit der gleichen Energie verfolgt worden wie etwa in der Wirtschaftsgeschichte4 oder Kunstgeschichte. Aber die von manchen Forschern in der Frühzeit der Erforschung der Frühstufen rechtlicher Entwicklung vertretene These, daß die Rechtsordnungen in allen Kulturen, zum mindesten in ihrer Frühzeit, bestimmte Stufen durchlaufen haben, hat sich nicht bestätigt5. Das gilt z. B. für die von Bachofen aufgestellte These des „Mutterrechts", wonach den später (insbes. bei den Griechen und Römern) festzustellenden vaterrechtlichen Ordnungen eine religiös begründete mutterrechtliche Ordnung vorangegangen sei, „das gynaikokratische Weltalter" des „Mutterrechts"6. Wohl finden wir „mutterrechtlich" aufgebaute Familienordnungen, aber als allgemeine Entwicklungsstufe sind sie nicht festzustellen. Ähnliches gilt aber für die umgekehrte These Sumner Maine's von dem ursprünglich patriarchalischen Aufbau der Fa2

vgl. Hoebel, aaO., S. 142. Zur Sprache vgl. Snell, Der Aufbau der Sprache (1952), S. 11. 4 vgl. dazu G. Kalveram, Die Theorien von den Wirtschaftsstufen (1933). Hervorragendes Beispiel einer „Epochen"-Lehre ist Sombarts Werk: Der moderne Kapitalismus (3 Bände 5. Aufl. 1922—1928). Kritische Auseinandersetzungen bei W. Eucken, Grundlagen der Nationalökonomie (7. Aufl. 1959) 2. Teil, 2. Kap. 5 Diese These z. B. noch bei /. Kohler, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte, in Holtzendorff-Kohler, Encyklopädie der Rechtswissenschaft I (6. Aufl. 1904), S. 22 ff. 6 vgl. Bachojens Hauptwerk: Das Mutterrecht (zuerst erschienen Stuttgart 1861). 8

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milie: »The patriarchal authority of a chieftain is as necessary an ingredient in the nation of a family group as the fact (or assumed fact) of its having sprung from his loins."7 Auch Maine's berühmte These, daß die Entwicklung des Rechts „from status to contract" gehe, d. h. daß die Rechtsstellung des Menschen in archaischen Kulturen in erster Linie von ihrem durch Geburt erworbenen Stand in Gruppe und Familie, dagegen in der modernen Kultur vor allem von Verträgen bestimmt werde, wird heute angefochten, allerdings mehr wegen der stärkeren Beschränkung der Vertragsfreiheit durch den modernen Staat. Nicht einmal eine speziellere These, wie die, daß die Entwicklung des Strafrechts von ungehemmter Rache über Sühneverträge zur staatlichen Strafe gegangen sei8, hat sich als generelles Gesetz halten lassen; denn man findet schon bei manchen, an sich sehr primitiven Rechtskulturen die Einrichtung der Racheablösung oder Vermittlung neben der Anerkennung der Rache9. Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen erweist sich als viel größer als früher angenommen, und alle Einheitsthesen scheinen daran zu scheitern. So hat man z. B. gelehrt, daß alle Staatenbildung sich auf dem Wege gewaltsamer Unterwerfung vollzogen habe10. Allein die Ergebnisse der Anthropologie zeigen, daß gemeinsame Institutionen auch durch Übereinkunft geschaffen werden können11. Ebenso wäre es falsch, primitive Rechtsordnungen nur in früheren Zeiten zu suchen. Die obenerwähnten indianischen Ordnungen sind erst nach 1600 entstanden und das vor allem von dem Engländer R. S. Rattray12 erforschte Ashanti-Recht erst nach 1500. Demgegenüber treten uns in Ägypten und Mesopotamien schon im 3. Jahrtausend vor Chr. hochentwickelte, schriftlich fixierte Rechtsordnungen entgegen. „Das Recht" im Sinne einer einheitlichen Ordnung gibt es also nicht: Was die Kulturgeschichte uns zeigt, ist vielmehr eine Vielzahl von einzelnen Ordnungen, die sich nebeneinander und nacheinander entwickelt haben und in den einzelnen Entwicklungen ganz verschie7

vgl. Ancient Law (Everyman's Libary-Edition Reprint 1936), S. 78/79. Maine's Budi ist in erster Auflage ebenfalls 1861 ersdiienen. 8 vgl. das von Mommsen herausgegebene Werk, Zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker (1905). • vgl. Hoebel, aaO., S. 329/330. 10 Insbes. Oppenheimer, System der Soziologie II (1926), S. 170 ff. 11 Dazu Hoebel, aaO., S. 258 ff., 261; 294, 302, 328/330. 12 Rattray, Ashanti Law and Constitution (1929).

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dene Stufen erreicht haben. So wie heute noch oder jedenfalls noch vor wenigen Jahrzehnten hochentwickelte Rechtssysteme neben höchst archaischen existieren bzw. existiert haben, ist es durch die ganze für uns überblickbare Geschichte der menschlichen Kultur gewesen: Heute erst öffnet sich die Perspektive einer relativ einheitlichen Weltkultur des Rechts13. 3. Entspricht dieses Bild durchaus demjenigen, das uns die menschliche Kulturentwicklung auch sonst zeigt, so gilt dies auch von einem anderen Zug, den uns die Rechtsgeschichte zeigt, nämlich dem Phänomen der Übernahme von rechtlichen Systemen, Institutionen oder einzelnen Sätzen. Gegenseitige Beeinflussung von Kulturen, die sich nebeneinander oder nacheinander entfalten, gibt es in allen Bereichen, es sei nur an das Wandern religiöser Lehren oder die Ausbreitung architektonischer Formen erinnert. Toynbee hat dieses Phänomen in seiner „Study of History" geradezu zur Grundlage der Abgrenzung der einzelnen Kulturen gemacht, die er unterscheidet14. Diese Beeinflussung des einen Systems durch ein anderes ist nun auch für das Recht typisch. Im einzelnen lassen sich verschiedene Formen unterscheiden. Es gibt zunächst das Phänomen der abgeleiteten Rechtskultur; hier übernimmt eine spätere Kulturepoche das Recht einer früheren, die als vorbildlich angesehen wird. So haben viele Länder des europäischen Kontinents im hohen und späten Mittelalter durch Vermittlung der mittelalterlichen Universität das antike römische Recht in seiner Gesamtheit zur Grundlage ihrer eigenen Rechtsentwicklung gemacht. Ähnlich liegt es in den Fällen, in denen in der Neuzeit asiatische oder afrikanische Länder im Zuge einer Neugestaltung des inneren Aufbaus ihres Staatswesens das Recht europäischer Länder übernommen haben oder doch ihr eigenes Recht nach solchem Vorbild gestaltet haben. Beispiele bieten die Türkei unter Atatürk oder Japan in der Meiji-Epoche. Auch durch frühere Herrschaft — etwa kolonialer Art — können solche Übernahmen verursacht sein. Daneben gibt es die Übernahme einzelner Institutionen oder auch nur einzelner Rechtssätze; sie begegnet vor allem zwischen Völkern, die auch sonst in engem Austausche leben. So sind z. B. Institutionen des See- und Handelsrechts aus Italien in der neueren Zeit in West- und Mitteleuropa, z. T. auch in England, übernommen worden, 13

Zum Problem einer einheitlich aufgefaßten Weltgeschichte vgl. jetzt A. Heuss, Theorie der Weltgeschichte (1968). 14 vgl. Toynbee, A Study of History I (1956).

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und die zuerst in Deutschland entworfene Organisationsform der GmbH ist das Vorbild für entsprechende Regelungen etwa in Frankreich, der Schweiz und Italien geworden. In der Geschichte ist dabei die Verbreitung von Formularen ein wichtiger Faktor gewesen15. Die moderne Gesetzgebung arbeitet wohl in allen Kulturstaaten so, daß einem bedeutenderen Gesetzgebungswerk regelmäßig sorgfältige rechtsvergleichende Studien über die ausländische Regelung des fraglichen Problems und deren Bewährung in der Praxis vorausgehen. Das Bild von der Vielfalt in sich geschlossener Rechtskulturen erfährt durch diese Erscheinung eine erhebliche Korrektur. Es war ein Fehler der historischen Rechtsschule, in ihrer „Volksgeistlehre" gerade diesen wichtigen Faktor der Rechtsentwicklung übersehen zu haben. Denn in der Vielfalt der gegenseitigen Beeinflussung zeigt sich doch wohl mehr als nur die Tatsache, daß alle geistige Entwicklung sich in Austausch und Berührung mit anderen vollzieht: Es zeigt sich hier, daß rechtliche Lösungen sachgebunden sind, d, h. Antworten auf ganz bestimmte Fragen der sozialen Ordnung, die inhaltlich von den Gegebenheiten weitgehend vorbestimmt und daher nicht beliebig gestaltbar sind, gegeben werden. 4. Als Element der Kultur kommt dem Recht nicht in allen Zivilisationen die gleiche Bedeutung zu. Es gibt sicher Völker mit besonderer juristischer Begabung, oder besser Völker, denen die rechtliche Ordnung Besonderes und mehr bedeutet als anderen. In unserem Kulturkreis waren in der Antike sicher die Römer — etwa im Vergleich mit den Griechen16 — ein solches Volk, und in der Neuzeit gilt Ähnliches wohl für die Engländer und Amerikaner. Vielleicht kann man auch sagen, daß die europäische Kultur als Ganzes in besonderem Maße vom Recht geprägt ist; aber das bedürfte genauerer Untersuchungen, die m. W. leider bisher fehlen. 5. Kann man nun nicht von einem Recht schlechthin sprechen, so muß man versuchen, die Fülle der Erscheinungen nach gewissen Typen zu ordnen17. 15

Zu dessen Bedeutung für das antike griechische Redit vgl. Pringsheim, Ausbreitung und Einfluß des Griechischen Rechts (ursprünglich 1952, jetzt abgedruckt bei Berneker, Zur griechischen Rechtsgeschichte 1968, S. 58 ff., insbes. S. 66 ff.). 18 Zum Fehlen einer Rechtswissenschaft im antiken Griechenland vgl. Jones, The Law and Legal Theory of the Greeks (1956), S. 223. 17 Den bedeutendsten Versuch dazu hat Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft (1966) VII. Kap. gemacht; seine Typenbildung wird im folgenden z. T. benutzt.

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a) Zunächst wird man die Rechtsordnungen der Primitiven von denen der weiter fortgeschrittenen Kulturen unterscheiden müssen; wenn es auch keine „primitive" Rechtskultur, kein „ancient Law" mit inhaltlich gleichen Regeln gibt, so lassen sich doch gewisse allgemeine Eigenarten als charakteristisch hervorheben. Die Rechte der Primitiven sind gegenüber denen der fortgeschritteneren Kulturen einfacher, weniger komplex — gelegentlich bis an die Grenze des fast gänzlichen Fehlens von Regeln, der Anarchie, wie sich Hoebel ausdrückt. Für eine organisierte Regierung oder Leitung gibt es nur Ansätze; oft nur für den Krieg, und dementsprechend fehlt eine organisierte Rechtspflege; statt dessen gibt es persönliche Vermittlung von Streitigkeiten. Die vorhandenen Regeln — es müssen nicht notwendig nur gewohnheitsmäßig festgelegte sein — sind wenig zahlreich und nicht schriftlich fixiert. Mit der schriftlichen Niederlegung des Rechts beginnt schon eine höhere Stufe. Die intellektuelle Durchbildung der Normen, soweit sie überhaupt klar erfaßt sind — im allgemeinen kennen wir sie nur in der Formulierung der ethnologischen Forscher — ist gering; das gilt für die Erfassung des Sachverhalts wie für die Grundsätze der Bewertung. Schließlich entsprechen die leitenden Ideen einem primitiven Kulturzustand: Ausprägtes Gruppengefühl, Prestigebedürfnis und damit zusammenhängend große Bedeutung des Rachegedankens charakterisieren sie neben dem Einfluß animistischer und magischer Vorstellungen. b) Innerhalb der hoher entwickelten Rechtskulturen wird man zweckmäßigerweise — zum mindesten für den europäischen Kulturkreis — zwischen archaischem und rationalem Recht unterscheiden. Das archaische Recht haben wir etwa im älteren römischen Recht — auf der Stufe des XII-Tafel-Gesetzes — vor uns. Wir finden hier die staatliche Organisation schon kräftig entwickelt — wenn man auch natürlich nicht an den modernen Staat zum Vergleich denken darf — und dementsprechend ein geordnetes Rechtsverfahren. Aber die unter der staatlichen Gemeinschaft stehenden Gruppen haben ihre Selbständigkeit und Bedeutung noch nicht verloren; ob Unrecht z. B. verfolgt wird, hängt von dem Verletzten bzw. seiner Familie ab. Die Selbsthilfe spielt noch eine bedeutende Rolle; das Verfahren dient z. T. nur dazu, ihre Zulässigkeit festzustellen. Die Rechtsregeln, innerhalb deren die Verfahrensregeln einen besonderen Platz einnehmen, sind, soweit sie überhaupt fixiert sind, in schwerfälliger, am konkreten Vorgang haftender Weise formuliert und mehr oder weniger assoziativ geordnet. Das Denken in Symbolen, Formen und Gesten spielt eine große Rolle; der Formalismus herrscht, er bestimmt die

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Rechtswirkung, nicht die Parteiabsicht oder das sinnvoll ausgelegte Wort18. c) Demgegenüber ruht das moderne Recht auf der vollen Suprematie des Staates über Gruppen und einzelne, seinem „Zwangsmonopol". Die Normen sind, sei es in Gesetzen, sei es in Entscheidungen oder Lehrbüchern der Wissenschaft, fixiert; das Recht entwickelt sich in wissenschaftlicher Diskussion, ist selbst auf rein rationalen, von ethischen oder Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten bestimmten Überlegungen aufgebaut und wird aus den gleichen Gesichtspunkten interpretiert und angewandt. Es ist mithin — dem Ideal nach — vollständig „rationalisiert" und dient einer — ebenfalls der Idee nach — von rationalen Motiven bestimmten Gesellschaft. Die Beschränkung auf die Gruppe oder Rechtsgemeinschaft ist, wenn nicht verschwunden, so doch erheblich eingeschränkt. Bei der Unterscheidung dieser Typen haben wir nicht nur deskriptive, sondern auch wertende Merkmale verwendet. Sie lassen sich wohl in der Kulturgeschichte nirgends vermeiden. In unserem Falle können wir als Maßstab auf die größere rationale Durchdringung der Probleme, die mehr oder weniger genaue Erfassung der leitenden Gesichtspunkte, sowie deren qualitative Eigenart (etwa Rachebefriedigung oder Ausgleich), auf den Reichtum der Lösungen, die Sicherheit der Rechtsverwirklichung abstellen. d) Eine weitere Unterscheidung innerhalb der entwickelteren Rechte läßt sich danach bilden, in welchem Verhältnis die Rechtsordnung zu den Lehren der herrschenden Religion steht. Daß von der Religion stets Einflüsse auf das Recht ausgegangen sind, wird noch zu zeigen sein; hier handelt es sich darum, inwieweit die weltliche Rechtsordnung vollkommen aus religiösen Lehren abgeleitet ist. Es gibt in der Tat Kulturen, in denen auch die weltliche Rechtsordnung völlig als logische Konsequenz der religiösen Offenbarung entwickelt ist. Dies gilt z. B. für den Islam und für das ältere jüdische Recht. Diese Auffassungen haben im europäischen Recht kein Gegenstück; das in Europa so einflußreich gewordene römische Recht hat schon auf einer sehr frühen Stufe (5. Jh. v. Chr.) zwischen dem Jus sacrum und dem Jus civile geschieden. 6. Was nun das moderne Recht, dessen entscheidende inhaltliche Züge angeht, so unterscheidet die sogen. Rechtsquellenlehre traditionel18

vgl. hierzu etwa Latte's Sdiilderung des frühen altgriechischen Strafrechts: Beiträge zum griechischen Strafrecht (ursprünglich 1931, jetzt abgedruckt bei Berneker, Zur griechischen Rechtsgeschichte 1968, S. 263 ff.).

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lerweise Gewohnheitsrecht und Gesetzesrecht. Unter Gewohnheitsrecht versteht sie Normen, die als solche im Bewußtsein des Volkes leben und unmittelbar in seinem Verhalten eben als Gewohnheit zum Ausdruck kommen. Demgegenüber ist Gesetzesrecht die Summe der von den verfassungsmäßig dazu berufenen Organen ausdrücklich gesetzten und verkündeten Normen. Allein diese Unterscheidung ist für die Erfassung des modernen Rechts in bestimmten Erscheinungstypen nicht ausreichend. Gewohnheitsrecht im strengen Sinne gibt es — das hat schon die historische Schule richtig gesehen — im modernen Rechtsleben überhaupt nur noch ausnahmsweise. Es ist recht eigentlich ein Rechtstypus früher Entwicklungsstufen, in denen das Recht noch wenig kompliziert und wirklich allen Gliedern der Gruppe bekannt ist. Ein Beispiel bieten etwa die "Weistümer des deutschen Mittelalters, die die lokalen Rechtsgewohnheiten und die Rechte der Grundherrschaft und der Bauern festhalten. Schon für das spätere Schöffenrecht, wie es etwa in den mittelalterlichen Städten so reich entwickelt war, treffen die Merkmale des Gewohnheitsrechts im Grunde nicht mehr zu; denn hier gibt es schon eine sozial hervorgehobene Gruppe, in der allein das vollständige Rechts wissen überliefert wird: es ist, mit Max Weber zu sprechen, Honoratioren-Recht. Die moderne Rechtswissenschaft faßt denn auch unter den Begriff des Gewohnheitsrechts im Grunde zwei ganz andere Erscheinungen: das Juristenrecht und den Gerichtsgebrauch, das Recht, das in richterlichen Entscheidungen lebt. Hier handelt es sich aber um etwas grundsätzlich anderes. Was Juristenrecht als Typ ist, läßt sich am besten an der Entwicklung des klassischen römischen Rechts demonstrieren. Rechtskenntnis war im Rom des 2. und 1. vorchristl. Jh. das Vorrecht von Persönlichkeiten der beiden oberen Stände, der Senatoren und (später) der Richter; sie gaben sowohl Privatleuten wie Magistraten Rechtsauskünfte über bestimmte Fälle. Diese „Gutachten", Responsa berühmter Juristen, wurden aufgezeichnet und gesammelt. Ihre „Geltung" beruhte auf dem Ansehen des Autors. So entstand eine Fülle von Rechtsbelehrungen über bestimmte Fälle. Sie wuchsen bis in das 3. Jh. n. Chr. hinein und wurden schließlich als Bestandteil des geltenden Rechts betrachtet. Hier haben wir die typischen Züge des „Juristenrechts": Das Recht bildet sich nicht durch Gesetze oder sonstige Akte der Staatsgewalt, sondern auf der Grundlage einzelner Normen durch die juristischen Meinungen einer Gruppe von Rechtskennern, die einer sozial ausgezeichneten Gruppe angehören und deren Ansichten daher Autorität besitzen.

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Ähnliche Erscheinungen lassen sich auch in anderen Epochen beobachten. So hat sich z. B. das auf den Universitäten des Mittelalters gelehrte „Gemeine Recht" ebenfalls durch die Ansichten der Gelehrten, der Doctores, wie sie in Gutachten (Consilia) und wissenschaftlichen Werken niedergelegt waren, weiterentwickelt. Die „communis opinio doctorum" galt gesetzesgleich. In der Gegenwart spielen in vielen Ländern, z. B. in USA und in den westlichen Ländern des europäischen Kontinents, die Meinungen der Rechtswissenschaft eine ähnliche, wenn auch bescheidenere Rolle. Demgegenüber versteht man unter Richterrecht ein Recht, das in den Entscheidungen der Gerichte niedergelegt ist und sich dort weiterentwickelt. Das klassische Beispiel ist das anglo-amerikanische Common Law. Hier herrscht die Auffassung, daß das „Common Law" eine Summe von Rechtssätzen sei, die in den Entscheidungen der englischen bzw. amerikanischen Gerichte in Erscheinung treten. Es gelten die Grundsätze, die das Gericht einer Fallentscheidung unmittelbar zugrundelegt. (Im Gegensatz zu Nebenbemerkungen: sogen, obiter dicta.) Auch diese Entwicklung war naturgemäß nur möglich, weil die englischen Juristen als geschlossene Gruppe sich ein großes Maß von sozialem Ansehen und Einfluß über Jahrhunderte zu erhalten gewußt haben. Richterrecht ist in der modernen Welt typisch für die Länder des Common Law: England als das Ursprungsland, USA und frühere englische Besitzungen wie Kanada oder Indien. Diese Länder bilden einen großen Rechtskreis der modernen Welt. Obwohl das Common Law in seiner Geschlossenheit einzigartig ist, haben die Gerichtsentscheidungen doch auch in den kontinentalen Rechtssystemen neben dem gesetzten Recht und den Lehrmeinungen der Wissenschaft erhebliches Gewicht, so daß man nun auch hier vom „Richterrecht" zu reden beginnt. Was das Gesetzesrecht angeht, so bedeutet es, daß dort, wo es ausschließlich gilt, die Konzentration der Rechtsbildungen bei den politisch führenden Staatsorganen liegt und es damit ein Kennzeichen einer ausgebildeten Suprematie der politischen Führung ist. Das gilt, gleichgültig, ob es sich dabei um einen absoluten Monarchen oder um eine parlamentarische Majorität und die sie führende Regierung handelt. Der Anspruch, das Rechtsleben ausschließlich zu beherrschen, ist denn von großen Gesetzgebern auch immer wieder zum Ausdruck gebracht worden, indem sie durch strenge Anweisungen jede freie wissenschaftliche Interpretation untersagen und damit die Entwicklung von Juristenrecht verhindern wollten.

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Solche Gesetzgebung gehört dem historischen Typus nach zu einem Staatswesen, in dem eine starke Zentralgewalt über eine straff organisierte Bürokratie verfügt, der auch die Rechtspflege aufgetragen ist. Sie paßt daher zu dem spätröm. Kaiserstaat, dem Dominat, und es ist nicht zufällig, daß der erste Herrscher, der im Mittelalter wieder eine Staatsorganisation zu schaffen versuchte, die jener ähnlich und die zugleich sozusagen ein „Vorgriff" auf den modernen Staat war, nämlich Friedrich II. von Hohenstaufen, eine Gesetzgebung nach justinianischem Vorbild geschaffen hat, den „Liber Augustalis" von 1231. In diesen Zusammenhang gehört auch die moderne Kodifikation, wie sie für das kontinentale Europa charakteristisch ist. Trotzdem stellt sie, aus besonderen historischen Bedingungen hervorgegangen, einen Typ eigener Art mit unverwechselbaren Zügen dar, der nicht einfach mit dem Typ der gesetzesbeherrschten Rechtsordnung schlechthin in eins gesetzt werden darf. Die Idee der modernen Kodifikation ist aus der Aufklärung hervorgegangen, aus deren Kritik am überlieferten Recht und ihren eigenen positiven Forderungen. Der überlieferte Typ des Juristen- und Richterrechts — sowohl auf dem Kontinent wie in England — wurde von der Aufklärung wegen seiner historischen Zufälligkeit und irrationalen Besonderheiten und deswegen kritisiert, weil es den Bürger der Willkür der Richter auslieferte. Bentham hat das Common Law seiner Zeit „Dog-Law", Hunderecht genannt, weil man aus ihm erst durch die Strafe wie ein Hund bei der Abrichtung erführe, daß ein Verhalten verboten und strafbar sei. Demgegenüber forderte die Aufklärung Gesetze, die jede richterliche Willkür ausschließen und daher allumfassend sein sollten. Sie sollten Gleichheit und Freiheit der Bürger herstellen, gewissermaßen die Ausführungsgesetze des Gesellschaftsvertrages sein, welcher die bürgerliche Gesellschaft begründet hatte. Die Kodifikation ist also mit der Reform verbunden. Der Bürger sollte die Rechtsregeln kennen können, daher sollten sie klar und systematisch aufgebaut und in faßlicher, durchsichtiger Sprache geschrieben sein; die Rechtsregeln sollten, unter Verzicht auf Kasuistik, in Prinzipien niedergelegt sein. Einem Gesetz, das die Verhältnisse regelte, die alle Bürger betrafen, dem eigentlichen Bürgerlichen Gesetzbuch, sollten Spezialgesetze für einzelne Berufsstände oder Materien, wie das Handelsgesetzbuch für die Kaufleute, angefügt werden. Nach diesen Grundsätzen, die am vollständigsten und klarsten der Engländer Bentham ausgesprochen hat, sind die ersten großen Kodifikationen, der Code civil und das österreichische ABGB gearbeitet.

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Möglich war das nur, weil die Rechtswissenschaft sich seit zwei Jahrhunderten um eine systematische Darstellung des Rechts nach Prinzipien bemüht hatte. Trotzdem bedurfte es noch der Arbeit zweier Generationen, bis diese Form der Gesetzgebung geschaffen war. Heute ist die Idee der Kodifikation typisch für die Gesetzgebung der Länder des europäisdien Kontinents; aber auch Lateinamerika, die Türkei und Ägypten und im fernen Osten Japan haben sie akzeptiert. Diese Länder bilden den Rechtskreis des „Civil Law". Auch die kommunistischen Länder Europas haben an der Kodifikationsidee festgehalten.

II. Die Vielfalt der rechtlichen Erscheinungen, die uns die Kulturgeschichte zeigt, ist nicht so gestaltet, daß sich nicht gewisse übergreifende, allgemeine Gesichtspunkte ergeben. 1. Es gibt zunächst gewisse Grundthemen, die in der einen oder anderen Form in jeder Rechtsordnung wiederkehren, weil sie mit den Aufgaben des Rechts und den Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens zusammenhängen. Ein erstes Grundthema ist die Organisation der Gruppe selbst und ihrer Führung. Jede größere menschliche Gruppe bedarf einer Organisation, in der sie handeln kann: Mag der Abstand von der Autorität des erfahrenen Jägers, der unter den Eskimos sozialen Einfluß ausübt, und der verfassungsmäßig begründeten Regierungsgewalt einer modernen Demokratie noch so weit sein: hier ist das gleiche Thema angeschlagen. Unter den Aufgaben, die Recht und „Regierung" gestellt sind, steht die Wahrung von Frieden und Ordnung, die Unterdrückung von Gewalt und Rechtsbruch an erster Stelle. Goethes Wort „ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung ertragen"1 steht mit dem Zeugnis der Rechtsgeschichte durchaus in Einklang. Mit dieser Aufgabe steht die Entwicklung der Strafe als Sanktion der Rechtsordnung in engem Zusammenhang. Entgegen einer These, die vor allem dem 18. Jh. teuer war, hat es das Recht niemals nur mit Individuen, sondern stets auch mit Gruppen zu tun; ja, wie wir noch sehen werden, in frühen Entwicklungsstadien vor allem mit Gruppen. Daher bilden Regeln über die Organisation der Familie und Familienverbände, von ständischen oder beruflichen Gruppierungen oder freiwillig gebildeten Vereinigungen einen weiteren Bestandteil der Rechtsordnung. 1

Belagerung von Mainz (Artemis-Ausg. Bd. 12), S. 456.

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Schließlich fehlt in keiner Rechtskultur eine Eigentums- oder weiter gefaßt eine Wirtschaftsordnung und im Zusammenhang damit eine Austausch- oder Vertragsordnung gänzlich — mag diese Ordnung auch, verglichen mit der gewaltigen Entfaltung dieser Ordnungen in der modernen Industriegesellschaft westlicher Prägung, noch so rudimentär sein. Ob das Land der Gruppe (dem Dorf, der Groß- oder KleinFamilie) oder dem einzelnen gehört, wer seine Bewirtschaftung bestimmt, wer es veräußern darf, ob und wie es sich vererbt: das sind Rechtsfragen, die eine Regelung verlangen, sobald ein Volk seßhaft geworden ist und den Boden bebaut. Und der Vertrag erscheint, sobald der Austausch von Gütern stattfindet: und sei es auch nur in jener Form des Hinlegens der Tauschware in Abwesenheit des Tauschpartners, wie es Malinowski für die Trobriander beschrieben hat2. 2. Das Recht dient ferner klar umreißbaren Zielsetzungen, die wir immer wieder auftauchen sehen: Sicherheit und Friede, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit. Die Rechtsordnung ist Friedensordnung. Das zeigen uns vor allem ihre Anfange. Der Friede und das Recht kommen gemeinsam; das Recht bringt den Frieden, und Herstellung des Friedens ist Voraussetzung für die Entfaltung des Rechtes. Überall, wo Recht sich entwickelt, löst es den gewaltsamen Kampf ab und setzt eine friedliche Lösung an seine Stelle. Rechtsverfahren tritt an Stelle von Selbsthilfe. In diesem Sinn kann man sagen, daß das Verbot der Eigenmacht der Beginn und die dauernde Grundlage der Rechtsordnung ist. Der Beginn der Rechtsentwicklung bei den Germanen, Römern und Griechen, aber auch bei den Arabern, ist die allmähliche Überwindung der Blutrache und Blutfehde. Sie wird zunächst an gewisse Formen gebunden3 und dann durch Sühneverträge ersetzt, deren Abschluß schließlich erzwungen wird. Selbst das moderne Privatrecht, bei dem uns heute der Gedanke an gewaltsame Auseinandersetzungen so fern liegt, geht in seinen geschichtlichen Grundlagen zum Teil auf solche Sühneverträge zurück. Der geschichtliche Vorläufer des modernen Schadensersatzanspruches ist die Bußzahlung. Die Buße aber wiederum ist ursprünglich Ablösung der Rache. Ein Hauptproblem der mittelalterlichen Rechtsentwicklung ist die Überwindung der Fehde4; ihr dient die Landfriedensgesetzgebung 2

Dazu Malinowski, Crime and Custom in Savage Society (1926), S. 22, 30, 31. 3 Hierin sieht auch Horvath, Rechtssoziologie (1934), S. 149 Anm. 2, den „Keim des Rechtsgedankens". 4 vgl. etwa Thieme, Friede und Recht im mittelalterlichen Reich (1945).

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und die Ausbildung des Besitzprozesses im kanonischen Recht. Es ist typisch, wenn das letztere erklärt, daß zurückgegeben werden muß, was durch Eigenmacht erlangt ist — ehe überhaupt die Rechtslage verhandelt wird. Mit dem „Ewigen Landfrieden" von 1495 setzt die Entwicklung des gemeinen Reichsrechts in Deutschland ein. Die staatsrechtliche Ordnung des politischen Lebens setzt an die Stelle des gewaltsamen Kampfes um die Macht eine Friedensordnung, die die politische Auseinandersetzung an bestimmte friedliche Formen bindet. Oft ist sie das Ergebnis schließlicher Verständigung nach vorangegangener kriegerischer Auseinandersetzung gewesen. Die Ordnung der römischen Republik war das Ergebnis der Kämpfe zwischen Patriziat und Plebs. Das moderne demokratische Verfassungsrecht hat seine Wurzel in den englischen Bürgerkriegen, in denen sich Krone und Bürgertum, Hochkirche und Freikirchen auseinandergesetzt hatten. Es ersetzt den Bürgerkrieg durch den rechtlich geordneten Wahlkampf. Die Geschichte der totalitären Staaten der Gegenwart lehrt, daß umgekehrt da, wo diese Verfassung verlassen wird, Verfolgung, Verschwörung und Revolution, also gewaltsamer Kampf um die Macht, nicht fern sind. Sie zeigt uns also die Entwicklung im umgekehrten Sinn. Die gleiche Tatsache zeigt die Geschichte des römischen Reiches; mit dem Ende der republikanischen Verfassung begann ein bewaffneter Kampf um die Macht, und da Augustus keine Staatsverfassung schuf, welche die Nachfolge regelte, begann dieser Kampf nach dem Tode des jeweiligen Princeps häufig neu. Dem modernen Beobachter wird die Verbindung von Frieden und Recht vor allem am Völkerrecht deutlich. Den Frieden zu schaffen und zu sichern, ist sein Kernproblem. Was das Völkerrecht zunächst erreicht hatte — auch das ist durch die moderne politische Entwicklung bedroht — war eine gewisse Formalisierung des Krieges: die Bindung an bestimmte Formen bei der Kriegserklärung, die Einhaltung gewisser Grenzen bei den kriegerischen Handlungen selbst, sowie gegenüber der Zivilbevölkerung. Worum immer wieder gerungen wurde, war die Bindung des Rechtes zum Kriege an bestimmte Gründe. Seit dem Ersten Weltkrieg hat nun eine Phase begonnen, für welche der Kellog-Pakt charakteristisch ist. Der Krieg soll überhaupt überwunden und durch Rechtsverfahren ersetzt werden. Das erst wäre die Vollendung des Völkerrechts. Der Kampf um den Frieden und der Kampf um die Aufrichtung des Rechtes sind hier untrennbar verbunden. Aber auch das moderne Arbeitsrecht zeigt uns ein ähnliches Bild. Es versucht, die Kämpfe zwischen Arbeiterschaft und Unternehmertum an gewisse Regeln zu binden (z. B. dadurch, daß nur bestimmte

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Streiks für rechtmäßig erklärt werden) und sie einzuschränken, indem es Tarifverträge begünstigt und evtl. Ausgleichsstellen für die streitenden Parteien zur Verfügung stellt. Der wirtschaftliche Kampf durch Streik und Aussperrung soll nach Möglichkeit durch rechtliche Verfahren ersetzt werden. Rechtshilfe soll an die Stelle von Selbsthilfe treten. Das Ergebnis der geschichtlichen Betrachtung wird durch einen Blick auf den inneren Aufbau der Rechtsordnung bestätigt. Das Ziel des Rechts ist die friedliche Schlichtung von Interessenkonflikten. Dies scharf gesehen zu haben, ist eines der Vorzüge des antiken römischen Rechts. Mit Recht ist von diesem Gesichtspunkt aus die Rechtstheorie der sogen. Interessenjurisprudenz entwickelt worden5. Streit zu schlichten ist die Grundaufgabe des Richters, das erste Ziel sowohl der allgemeinen Rechtsordnung wie häufig der Verträge. Hierdurch bestimmt sich der Gegenstand des Rechts, der Umkreis der sozialen Vorgänge, die vom Recht geordnet werden. Die Rechtsordnung greift da ein, v/o ein Interessenkonflikt vorliegt, an dem die Gemeinschaft (Gruppe) Anteil nehmen muß, weil er zu einer Gefahr für den Frieden innerhalb der Gruppe werden kann, mag dieser Konflikt zwischen einzelnen oder Gruppen bestehen. Wenn die UN-Satzung ein völkerrechtliches Verfahren für alle Streitfälle vorsieht, „the continuance of which is likely to endanger the maintenance of international peace and security", so findet darin ein charakteristisches Prinzip der Rechtsbildung seinen Ausdruck. Auf die gleiche Weise hat auch die Entwicklung der anderen Rechtsgebiete begonnen. Hierdurch grenzt sich das Gebiet des Rechts von dem des gesellschaftlichen Brauches und der gesellschaftlichen Sitte ab. Auch die Tatsache, daß der Rechtsforderung grundsätzlich genügt ist, wenn ihr durch äußeres Verhalten gehorcht wird — im Gegensatz zur Moral —, hängt mit dieser Tatsache zusammen. Den öffentlichen Frieden bricht die Gewalttat, nicht die Gesinnung allein. 3. Das zweite Ziel der Rechtsordnung ist Sicherheit. Die Sicherheit, die das Recht gewährt, ist in seiner Unverbrüchlichkeit begründet. Was rechtlich festgelegt ist, soll der Willkür entzogen sein; weder der, der das Recht setzt, noch der, an den es sich wendet, darf es verletzen. Es soll dauern; man kann sich darauf verlassen. Man kann damit als einer festen Größe rechnen, die der Veränderung entzogen ist. Der Mensch kann sich darauf einrichten; 5

vgl. etwa Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Ardi. f. d. ziv. Praxis 112, S. 17.

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er kann sein Leben im Schütze dieser Ordnung aufbauen 6 . Die Tendenz des Rechtes zur Dauer hat in Rechtsurkunden und Gesetzen selbst immer wieder ihren Ausdruck gefunden. Besonders deutlich ist die Sprache der mittelalterlichen Privilegien; immer wieder wird hier betont, daß die Verleihung fest und sicher sein soll und von jedem zu beachten sei. So heißt es etwa in einer Privilegienbestätigung für Frankfurt: „... und haben darumb mit wolbedachtem Mute, gutem Rate und rechter Wissen in und yren Nachkommen die vorgeschriebenen Brieve, Gnade und Friheite ... und alle andere yre Gnade, Rechte, Fryheite und Gewonheite, aide und nuwe, ... gnadicleich vernewet, bestetigt und bevestet und in die auch von neves in Kraft diess Brieffs und Romischer kungleicher Machtvollkommenheyt und meynen Sätzen und wollen dass es fürbasz mehre daby bliben, und der auch gebruchen und geniesen sollen und mögen, von aller meyncleich ungehindert. Und gebieten darumb allen und iglichen Fürsten, geistlichen und werhtlichen, Graven, Fryen, Rittern, Knechten, Landrichtern, Amptleuten, Bürgermeistern, Raten und Gemeynden und allen unsern und des Reiches Untertanen und Getruwen ernstlich und vesticleich mit diesem Brieff, das sy die vorgenanten Schöffen, Rate und Bürgers... zu Frankenfurt by den vorgenanten Gnaden und Fryheiten getrulich handhaben, schirmen und getrulich belieben lassen, by unseren und des Reiches Hulden."7 Aber auch im Vertragsrecht tritt dieser Zug hervor. Deutlich unterscheidet sich das Stadium unverbindlicher Vorverhandlungen und Besprediungen vom rechtlich bindenden Vertrag. Erst mit seinem Abschluß tritt die Bindung ein; nun liegen die Dinge fest; man weiß, was man zu tun und zu lassen hat, was man sicher vom anderen erwarten kann. Nun gibt es kein Zurück mehr; der Vertrag ist der Willkür der Parteien entzogen; man kann mit ihm rechnen. Das gleiche gilt vom verkündeten Rechtssatz; er bindet auch den rechtsetzenden Herrscher selbst. Mit Recht hat die moderne allgemeine Rechtslehre dieses Problem der Selbstbindung des Gesetzgebers immer wieder behandelt8.

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Eine tiefgehende Untersuchung über das Vertrauen auf das Bestehende, auf die Kontinuität, als durchgehende Erscheinung im menschlichen Dasein, z. B. im Verhältnis zur Natur bei C. A. Emge, Sicherheit und Gerechtigkeit (1940), S. 8 ff. 7 Aus der Frankfurter Privilegienbestätigung durch Sigismund 1414: Pacta et Privilegia 1729, S. 256—258. 8 vgl. etwa Somlo, Juristische Grundlehre (1917), S. 308.

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Im alten Recht ist diese Wirkung an die feierliche Form, an Gebärde und gesprochene Wortformel geknüpft; das formelle Wort bindet den Mann, wie es im Gebet die Gottheit bindet und im Zauberspruch übermenschliche Kräfte verpflichtet. Anrufung der Gottheit und Eidschwur können hinzutreten. Mitteis hat den altrömischen Formelvertrag der Sponsio damit in Verbindung gebracht, und nach dem mittelalterlichen Recht war die beschworene Schuld von besonderer Wirkung. All das hängt mit der Unverbrüchlichkeit der eingegangenen Rechtsverpflichtung zusammen. Das gewöhnliche Wort kann die gewaltige Bannwirkung nicht hervorrufen, wie sie die rechtliche Verpflichtung in sich trägt. Besonderer, sinnfälliger und erprobter Formen bedarf es, und die Götter selber wachen über die Sicherheit des gegebenen Wortes. Aber auch ausdrücklich heben Vertragsurkunden die unverbrüchliche Dauer des geschlossenen Vertrages hervor. In alten ägyptischen (demotischen) Kaufverträgen heißt es: „Du hast gegeben; mein Herz ist mit dem Gelde zufrieden. Ich habe es Dir gegeben, Dir gehört es. Ich habe ihren (der Kaufsache) Preis in Silber von Dir empfangen, vollzählig ohne irgendeinen Rest. Mein Herz ist damit zufrieden. Ich habe dieserhalb kein Wort der Welt an Dich zu richten, noch soll es irgendein Mensch der Welt können. Dein ist es von dem heutigen Tage auf immerwährende Zeiten, und es steht weder mir noch jemandem ändern außer Dir zu, von dem heutigen Tage fürderhin über die Sache zu schalten. Wer ihretwegen (der Kaufsache wegen) gegen Dich auftreten wird in meinem Namen oder in dem Namen irgend jemandes in der Welt, den entferne ich von Dir."9 Wenn auch die Formeln sich präzisieren und abschleifen, so finden sich doch in den Kaufurkunden der Römer und Griechen ebenso wie des Mittelalters die Grundgedanken dieses Formulars immer wieder. Der Käufer soll die Kaufsache für immer haben; niemand soll sie ihm streitig machen; weder der Verkäufer noch seine Erben werden ihn in seinem Besitz stören; auf ewig verzichten sie auf die Sache10. Deutlich kommt in all diesen Klauseln zum Ausdruck, daß der Vertrag ewige und unverbrüchliche Wirkungen haben soll. Im modernen Geschäftsverkehr sind diese feierlichen Formeln verschwunden; übrigens nicht durchaus zum Vorteil des Rechts. Das moderne Recht entbehrt der Würde; es ist allzu billig geworden und spricht die 9

vgl. Rabel, Die Haftung des Verkäufers wegen Mangels im Recht (1902), S. 38, 39. 10 vgl. Rabel, aaO., S. 39 ff.

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Phantasie der Menschen nicht mehr an. Es entspricht nun einmal der menschlichen Natur — auch beim modernen Menschen — daß feierliche Akte ihm größeren Eindruck machen, fester in seinem Gedächtnis haften als formloses alltägliches Geschäftsgebahren oder formlose Unterhaltungen. Form und Würde sind geeignet, ihm die endgültige, bindende Wirkung des Rechtsaktes vor Augen zu führen und einzuprägen. Das Militär wußte, warum es an der Förmlichkeit des Fahneneides festhielt, obwohl die Rechtstheorie ihn für bedeutungslos für die Existenz des Soldatenverhältnisses erklärte. Darum sollte auch die Rechtsordnung nicht leichthin auf Äußerlichkeiten verzichten, auf denen ein großer Teil seiner faktischen Wirkung und Geltung beruht. Im Stil der völkerrechtlichen Urkunden hat sich denn auch diese Feierlichkeit zum Teil noch erhalten. „S. M. der König von Preußen, . . . S. M. der König von Bayern usw. . .. schließen einen ewigen Bund zum Schütze des Bundesgebietes" lautete die Präambel zur Verfassung des Deutschen Kaiserreiches, die auf einem völkerrechtlichen Vertrag beruhte. Auch in den Verfassungsurkunden, in denen sich ein Volk sein Grundgesetz gibt, wird häufig die Unverbrüchlichkeit und ewige Dauer des Rechtes betont. Der hervorstechendste Zug des sogen. Naturrechts als des Rechtes ' ist seine ewige Dauer im Wechsel der Zeiten. Unverjährbar und unveräußerlich nennt die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte die Grundrechte des Menschen. In der modernen Rechtstheorie tritt dieser Wesenszug als Prinzip der Rechtssicherheit hervor. Es wird von der Interessenjurisprudenz mit Recht auf die menschlichen „Kontinuitäts-" und „Stabilitätsinteressen'' zurückgeführt, die sich jeder unkonsentierten Änderung bestehender Rechtspositionen entgegensetzen. Rechtssicherheit bedeutet, daß einmal begründete Rechte, Macht- und Besitzpositionen11 unangefochten und unbeeinträchtigt bestehen bleiben, daß einmal gefällte Rechtsentscheidungen aufrechterhalten werden. Der Rechtssicherheit dienen alle Veranstaltungen, die der Klarstellung und Erhaltung bestehender Rechte dienen, wie etwa die Einrichtung der Grundbücher und der öffentlichen Register, das Erfordernis urkundlicher Festlegung und ähnliches, prozessuale Institutionen wie die Rechtskraft, privatrechtliche wie das Festhalten am Wortlaut einer einmal abgegebenen Rechtserklärung oder an einem im Rechtsverkehr getätigten Verhalten. 11

vgl. dazu M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1966), S. 413.

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Auf der Sicherheit des Rechtes beruht zu großen Teilen seine wohltätige Wirkung. Immer strebt der Mensch danach, dauernde Verhältnisse und Einrichtungen zu schaffen, in deren Schutz er leben kann; er will seine Existenz dem dauernden Wechsel entreißen, sie in feste und geordnete Bahnen lenken und sich dem Ansturm des immer Neuen entziehen. Diese Gewißheit und Berechenbarkeit soll das Recht ihm bieten. Damit hängt die große Bedeutung von Zeitablauf und Tradition für die Festigkeit des Rechtes zusammen. Was lange besteht, hat für den Menschen den Charakter des Vertrauten und Sicheren, also gerade dessen, was er im Rechte sucht12. Je länger ein Recht besteht, desto mehr wird es seiner Aufgabe, Rechtssicherheit zu geben, gerecht werden können, um so sicherer werden sich die Menschen in seinem Schütze fühlen. Junges Recht, das eben erst entstanden ist, ist sozusagen gar kein Recht; erst was Generationen besteht, wird wirklich als dauernde Ordnung empfunden13. Das hatte die historische Rechtsschule richtig erkannt. Ein Ausspruch von Thomas, einem Freunde Jacob Grimms, bringt insofern eine typische Juristenhaltung zum Ausdruck: „Ich neige jederzeit zum Erhalten und halte das Zerstören jedenfalls für eine Impietät, die durch Not entschuldigt, aber nie gerechtfertigt werden kann." Die Geschichte der großen Rechtsvölker zeigt einen traditionellen konservativen Zug. Die Römer haben ihr Recht aus den unscheinbaren Anfängen der Zwölftafelgesetzgebung entwickelt; die römischen Juristen legten ängstlichen Wert darauf, die Tradition nicht abreißen zu lassen; wenn irgend möglich, wurde das Neue mit alten Formen und Gedanken verknüpft. Es war im Grunde keine Täuschung, wenn der Spätzeit das alte lus civile der Volksgesetze, das lus honorarium der Prätoren und das Werk der klassischen Rechtswissenschaft als Einheit, als das lus erschien. Es hing alles in sich traditionsmäßig zusammen. Nirgends war eine grundsätzliche Reform, die mit dem Alten aufräumte und völlig Neues an die Stelle setzte. Im Bereich des Staatsrechts bietet die Politik des Augustus mit ihrer fast ängstlichen Anknüpfung an das Hergebrachte eine Parallele. Erst die hellenisch beeinflußte Spätzeit beginnt mit dem rechtlichen Experimentieren. Das gleiche Bild bietet die englische Geschichte. Der moderne Parlamentarismus Englands wuchs aus dem mittelalterlichen Ständestaat hervor; das englische Common Law geht 12

Georg Jellinek hat aus dieser Tatsache in seiner Theorie von der normativen Kraft des Faktischen das Recht überhaupt ableiten wollen. Vgl. Allgemeine Staatslehre (3. Aufl., 7. Neudruck 1960), S. 337—339. 13 vgl. Riezler, Das Rechtsgefühl (2. Aufl. 1946), S. 127.

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in ununterbrochener Rechtsbildung auf das Mittelalter zurück. Eine Rezeption des römischen Rechts fand nicht statt. Auch hier hat man am Gebäude des Rechts wohl an- und neugebaut. Aber nie wurde ein völliger Neubau aufgeführt. Das scheint sich auf die amerikanischen Juristen übertragen zu haben. Sie haben das Common Law rezipiert; selbst in den früher spanischen und französischen Staaten, mit Ausnahme des Privatrechts in Louisiana, ist es angenommen worden, und auch die amerikanische Verfassung steht schon über fünf Generationen in Kraft. Andererseits liegt in dem Traditionalismus naturgemäß auch die Gefahr der Erstarrung. Weil das Recht darauf gerichtet ist, im Wechsel zu beharren und das Bestehende zu konservieren, ist es stets in Gefahr, dem sich wandelnden Leben gegenüber schnell zu veralten und ungerecht zu werden. Wenn nur die Länge der Tradition entscheidet, muß auch erhalten werden, was als ungerecht oder unzweckmäßig erkannt wird. Es wird dann die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, wie Karl Marx der historischen Rechtsschule entgegengehalten hat14. Dagegen erhebt sich dann die Revolution, der bewußte Rechtsbruch, um eine bessere Gerechtigkeit herbeizuführen. 4. Es ist daher begreiflich, daß die Rechtstheorie immer wieder — und besonders die scharfsichtige moderne Rechtstheorie15 — das Recht einfach' als Ausdruck von Machtverhältnissen, als Niederschlag von Machtentscheidungen aufgefaßt hat und sich damit begnügt hat, diese hinzunehmen. Aber gerade in dem Widerspruch, den diese Auffassungen immer wieder gefunden haben, ebenso wie in dem Widerspruch, welchem die Erstarrung und Machtverfestigung im Recht immer begegnet ist, zeigt sich, daß der Mensch vom Recht noch etwas anderes, noch mehr erwartet als nur Ordnung und Sicherheit — mögen sie inhaltlich beschaffen sein, wie immer sie wollen16. Mag dem Staate, wie Goethe es klassisch formuliert hat, nur daran liegen, daß der Besitz gewiß und sicher sei, die Menschen haben stets danach gefragt, ob mit Recht besessen werde. 14

Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie (Ausgabe Lieber Band 1), S. 490. 15 So der Positivismus in seinen verschiedenen Formen, auch die Interessenjurisprudenz, auch die reine Rechtslehre. 18 Es gibt freilich in jedem Recht Materien, in denen nur der Ordnungsgedanke eine Rolle spielt: z. B. Verkehrsregelung, aber auch Altersgrenzen usw. Vgl. dazu C. Schmitt, Gesetz und Urteil (1912), S. 49. Hier hat das »bloße Entschiedensein" Bedeutung, das „wie" ist gleichgültig.

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Darin zeigen sich nun die weiteren Tendenzen, von denen wir zu Anfang gesprochen haben: die Tendenz zur Verwirklichung sittlicher Werte. Obenan steht hier die Gerechtigkeit17. Daß Recht und Gerechtigkeit verbunden sind, zeigen schon die oben erörterten sehr alten Vorstellungen, die das Recht mit der Gottheit in Verbindung bringen. Wenn die Griechen die Göttinnen Themis und Dike verehren, so zeigt sich darin nicht nur der geweihte, sondern auch der sittliche Charakter des Rechts. Auch das Ethos des Richters, der das Recht handhabt und verwirklicht, erscheint von jeher mit der Gerechtigkeit verbunden. Die Beispiele wären zahllos. „Equal Justice under Law" steht am Gebäude des amerikanischen Supreme Court; der Richter im Athen der klassischen Zeit leistete seinen Eid dahin, daß er richten wolle nach den Gesetzen des Volkes von Athen und gerechtester Überzeugung18. Feuerbach sagt in seiner Ansbacher Ansprache: „Der Ungehorsam ist dem Richter eine heilige Pflicht, wo der Gehorsam Treubruch sein würde, gegen die Gerechtigkeit, in deren Dienst er allein gegeben ist." Auch in der Rechtsentwicklung sehen wir sittliche Motive mit am Werk. Wenn die Prätoren eine Reihe von sorgfältig ausgearbeiteten neuen Klagetypen zur Verfügung stellen, wenn die römischen Juristen der klassischen Zeit die Konsequenzen der bona fides oder des dolusVerbotes im einzelnen entwickelten, so stand dahinter der Wunsch nach einer sachgerechten Entscheidung des Einzelfalles. Wenn man der Entwicklung des modernen Zivilrechts in einem beliebigen Kulturlande in Einzelfragen nachgeht, was findet man anderes als den immer erneuten Versuch, für immer neue und immer etwas anders gelagerte Fälle eine billige Entscheidung zu finden? Man nehme etwa die Entwicklung der deutschen Rechtsprechung, die sich an den Gedanken des Rechtsscheins anlehnt, z. B. hinsichtlich des Ausschlusses der Anfechtung bei der Gesellschaftsgriindung, und man wird als Motiv kaum etwas anderes finden als eben das Interesse an einer sachgemäßen, billigen Lösung des Einzelfalles. Es wäre eine lohnende 17

Übrigens sollte man den Gegensatz von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit nicht überspannen. In der Gereditigkeit selbst liegt ein Zug des Berechenbaren, daher Sicheren. Vgl. unten, S. 188 f., 211 ff. Emge, Sicherheit u. Gerechtigkeit (1940), will beide auf eine Wurzel zurückführen: die Forderung des gesetzmäßigen Verhaltens. Das gelingt aber nur, weil er einen formalen Begriff der Gerechtigkeit zu Grunde legt. 18 vgl. Lipsius, Das Attische Recht und Rechtsverfahren, I (1905), S. 152.

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Aufgabe zu studieren, in welcher Hinsicht die moderne Rechtsprechung in den Ländern des Kontinents Rechtssätze in Abweichung von oder in Ergänzung zu den Gesetzen gebildet hat: ich glaube, man würde überall eben dieses Motiv feststellen können. In der Entwicklung des Rechts spielen also nicht nur Machtbegründung und Machtumwälzung eine Rolle. Hier urteilen viele nur zu sehr aus der Betrachtung des eigentlich politischen Rechts. In der Fortbildung des Rechts sind mindestens ebenso sehr sittliche Motive wirksam gewesen. In der Entwicklung des römischen Vertragsrechts hat sich nach dem treffenden Ausdruck eines führenden deutschen Romanisten der Gedanke der bona fides als schöpferische Kraft erwiesen19. Von diesen Gedanken aus und von dem dolus-(Arglist-) Verbot her ist das römische Vertragsrecht im Laufe der Zeit auf völlig neue Grundlagen gestellt worden. Die mittelalterliche und neuzeitliche Jurisprudenz hat diese Gedanken weitergeführt; überall im modernen Privatrecht finden wir ihre Spuren. Neben Gerechtigkeit und Billigkeit treten hier also weitere sittliche Vorstellungen auf den Plan: Treue und Redlichkeit. Ein großer Teil der Arbeit der modernen zivilistischen Wissenschaft besteht gerade darin, festzulegen, welche Pflichten sich im Rahmen der Gesetze im Einzelfall aus diesen Grundwerten des Privatrechts ergeben. Betritt man den Bezirk des öffentlichen Rechts, so zeigen sich auch hier sittliche Kräfte am Aufbau der Rechtsordnung beteiligt. Das Prozeßrecht ist, je mehr es sich entwickelt hat, unter dem Einfluß sittlicher Motive ausgestaltet. Unabhängigkeit und Gerechtigkeit des Richters sind seine Grundlagen. Ebenso steht es mit dem Strafund Verwaltungsrecht. Hier tritt uns vor allem der sittliche Gedanke der Achtung vor der Persönlichkeit entgegen. Er ist dem Rechte auch sonst nicht fremd. Schon im altnordischen Recht begegnet im Zusammenhang mit dem Rechtsfrieden die „Mannheiligkeit", die Unantastbarkeit des im Rechtsfrieden Stehenden20. Ist damit noch die einfache Achtung des Lebens des Rechtsgenossen gemeint, so ist die Geschichte des öffentlichen Rechts durchzogen vom Kampfe um die Freiheit. Wo zum erstenmal der Gedanke einer rechtlichen Beschränkung der Staatsgewalt auftaucht, in den Stadtstaaten Griechenlands, da geschieht das, weil man der Willkür entgegentreten und das ge19

vgl. Kunkel, Fides als sdiöpferisdies Element im römisdien Sdiuldredit, in Festschrift f. Paul Koschaker II (1939), S. l ff. 20 vgl. dazu etwa /. Grimm, Vorrede zu Thomas, Der Oberhof zu Frankfurt a. M. (1841); Schröder, Lehrbudi der Deutschen Rechtsgeschichte (3. Aufl. 1898), S. 76.

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rechte Gesetz, den , an die Stelle setzen will. Der Gedanke der Gerechtigkeit — als "Widerspiel der Willkür — ist hier von Anfang an mit dem sittlichen Gedanken der persönlichen und politischen Freiheit verbunden. In der Verfassung der römischen Republik sind die gleichen Motive wirksam, und die römische Oberschicht hat den Verlust der libertas niemals ganz verwunden. Das gleiche Bild zeigt die Entwicklung des modernen Verfassungsrechtes. Am Anfange dieser Entwicklung steht die Erklärung der Menschenrechte. Freiheit und Gleichheit werden für alle Menschen gefordert. „We hold these truths to be seifevident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness."21 Auf der Grundlage dieser Ideen hat sich die gesamte rechtliche Entwicklung des modernen Staates in Verfassungs- und Verwaltungsrecht vollzogen. Auf ihnen beruht die Demokratie; auf ihnen beruht der Rechtsstaat. Das gesamte Verwaltungsrecht steht im Zeichen der Freiheitsidee und des Gedankens der Achtung vor der Person des Bürgers. Die großartige Rechtsprechung des französischen Conseil d'Etat ist von dem Bestreben beherrscht, die Grenzlinie zwischen den Interessen einer wirksamen, zweckmäßigen Verwaltung und Freiheit und Eigentum des einzelnen immer wieder und immer genauer zu ziehen. Im angloamerikanischen Rechtskreis hat das gleiche Streben an mittelalterliche Institutionen angeknüpft; tatsächlich lebt in vielen Privilegien und Freiheiten des Mittelalters der gleiche Freiheitsgedanke. Heinrich Mitteis hat gezeigt, wie im Lehnrecht der Treuegedanke willkürbegrenzend und rechtsschöpferisch gewirkt hat22. — Endlich ist auch das moderne Arbeitsrecht nicht nur klassenkämpferisch erstritten, obwohl diese Komponente gewiß nicht übersehen werden darf, sondern auch unter dem Zwang der inneren Gerechtigkeit der Sache der Arbeiterschaft geschaffen worden. Im Strafrecht spielt von altersher der Gedanke der gerechten Sühne, des Einstandes von Schuld und Strafe, eine entscheidende Rolle. Gewiß haben sich alle diese Entwicklungen nicht in einem luftleeren Raum und nicht ohne Beteiligung gesellschaftlich-politischer Kräfte vollzogen. Sicher waren es häufig bestimmte Schichten, die diese sittlichen Ideen, etwa die der Freiheit, durchsetzten, und gewiß haben 21 22

Declaration of Independence. vgl. Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt (1933), S. 14, 43 ff.

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sie, indem sie dafür kämpften, zugleich auch ihre materiellen Interessen verteidigt. Trotzdem kann man nicht übersehen, daß man sich in der Rechtsgeschichte in Tausenden von Rechtsentscheidungen ebenso wie bei Reformen im großen auf sittliche Prinzipien berufen hat, und ihre Bedeutung für die Rechtsgestaltung zu klären, ist daher eine unausweichbare Aufgabe. Sucht man das Verhältnis der verschiedenen Zielsetzungen im Recht zu bestimmen, so liegt es nahe, den von Nicolai Hartmann eingeführten Begriff der „Schichtung" zu verwenden. Das Recht ist zunächst Friedensordnung, die der Sicherheit dient. Das Streben danach bestimmt zunächst Umfang und Inhalt dessen, was rechtlich geordnet wird. Die Rechtsnorm entsteht dort, wo Streit herrscht und Gewalt droht. Aber diese Friedensordnung kann dann unter dem Einfluß sittlicher Anschauungen überformt werden. — Die Idee der Gerechtigkeit wirkt hier aber nicht frei wie in einer sittlichen Persönlichkeit, sondern eingebunden in den Körper einer Friedensordnung, die mit zahllosen materiellen Interessen verknüpft ist und die ihr eigenes Wesen und Schwergewicht besitzt. Vergleicht man verschiedene geschichtliche Rechtsordnungen, so kann man feststellen, daß bestimmte Wesenszüge des Rechts in einzelnen Rechten besonders hervortreten. Man könnte danach eine Reihe von Typen aufstellen, an deren einem Ende Rechtsordnungen stehen würden, die sich im wesentlichen darauf beschränken, gewisse iformale Spielregeln für den Austrag sozialer Konflikte festzulegen, während am anderen Ende ein am materiellen Gerechtigkeitsgedanken orientiertes Recht stehen würde. Ein Beispiel für das erste würden etwa die rechtlichen Zustände bilden, wie sie uns die Isländersagas schildern23, ein Beispiel für das letztere das Zivilrecht der westeuropäischen Staaten. Dazwischen würden Friedens_ordnungen, wie die mittelalterlichen Landfrieden, ja das mittelalterliche Recht überhaupt24, stehen, die in erster Linie an Friede und Sicherheit orientiert sind25. 23

vgl. dazu A. Heusler, Das Strafredit der Isländersagas (1911). vgl. Fehr, Deutsche Rechtsgeschichte (5. Aufl. 1952), S. 143 f. 25 Diese Aufreihung nadi Typen, die nadi der jeweils vorherrsdienden inneren Tendenz einer Rechtsordnung gebildet sind, ist zu untersdieiden von einer anderen, die sidi nadi dem Grade der praktischen Wirksamkeit bilden läßt. Hierbei würde eine durdi Zwang gesicherte Rechtsordnung (wie etwa das moderne private Vertragsrecht, soweit Sachleistungen in Frage stehen) am einen, eine Rechtsordnung, die ohne gesicherten Rechtsschutz dasteht und deshalb mehr als ideale Ordnung wirkt (wie das Völkerrecht), am anderen Ende der Reihe stehen. 24

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Aber auch' wenn man einen Querschnitt durch ein bestimmtes Recht legt, kann man feststellen, daß die einzelnen Rechtsgebiete sehr verschiedenen Typen zuzuordnen wären. So ist etwa im modernen Recht das bürgerliche Recht in erster Linie an Sicherheit und Gerechtigkeit (Billigkeit) orientiert, während der organisatorische Teil des Staatsrechts einer modernen Demokratie eher eine politische Friedensordnung ist, die bestimmte Spielregeln für einen friedlichen Kampf um die Macht im Staate festlegt. Auch das derzeitige deutsche Arbeitsrecht (nach Beseitigung der verbindlichen Schiedssprüche), soweit es nicht Einzelvertragsrecht ist, beschränkt sich auf die Festlegung gewisser Regeln für den Austrag der Arbeitskämpfe (Regelung des Streikrechts u. ä.). Im Strafrecht tritt der Gegensatz von Ordnungs- und Gerechtigkeitsgedanke in der Unterscheidung von Ordnungs- (Verwaltungs-) und Justizstrafrecht hervor26. Auch das Völkerrecht hat Regeln von materiellem Gerechtigkeitsgehalt zur Lösung von Interessengegensätzen erst in geringem Umfang entwickelt27; eine solche könnte man etwa in dem Nationalitätenprinzip oder in der Atlantik-Charter sehen, insofern hier ein Maßstab dafür geschaffen ist, was den einzelnen Völkern zukommt28. Die einzelnen an der Rechtsbildung beteiligten Tendenzen können auch in Gegensatz zueinander treten. So geht etwa im Besitzprozeß das Friedensinteresse dem an der materiellen Gerechtigkeit vor; das gleiche gilt bei der prozessualen Rechtskraft im Verhältnis von Sicherheit und Gerechtigkeit. Dramatisch tritt die Spannung zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit in den großen sozialen Revolutionen hervor, welche die Rechtsgeschichte mit geschrieben haben. Alles Recht der Sicherheit, des Schutzes wohlerworbener Rechte, steht auf seiten derjenigen, die erhalten wollen, was ist; aber ihnen stellt sich die bedingungslose Forderung höherer Gerechtigkeit entgegen. Die Rechtsordnung scheint in ihren Grundtendenzen mit sich selbst im Kampf zu liegen: sie zerbricht, und aus dem Rechtsbruch geht ein neues Recht hervor. 88

vgl. zur gleichen Erscheinung im Wirtsdiaftsredit, E. Schmidt, SJZ 1948, 225 ff. 27 vgl. Wengler, Das völkerrechtlidie Gewaltverbot (1957), S. 57. 28 Daher ist es bei Diskussionen über das Recht nidit unwesentlich zu wissen, welches Rechtsgebiet — Privatredit oder Staatsrecht z. B. — jeder vor Augen hat; häufig erklären sich daraus die sehr verschiedenen Positionen.

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Im Zusammenhang mit solchen Spannungen entsteht die Frage nach einer Hierarchie zwischen den verschiedenen im Recht wirksamen Tendenzen. Eine solche Rangfolge ließe sich, wenn man die einzelnen verfolgten Ziele isoliert nebeneinander stellt, vielleicht ohne allzu große Schwierigkeiten leicht bilden. Es scheint in abstracto evident, daß eine Friedensordnung höher zu werten ist als bloße Spielregeln für den Kampf, Sicherheit wiederum höher als bloßer Nicht-Kampf, Gerechtigkeit schließlich höher als sie alle. Trotzdem zeigt die Betrachtung der Rechtswirklichkeit, daß sich alle jene Tendenzen im lebendigen Recht nebeneinander behaupten. 5. Die Verwirklichung der Zwecke des Rechts geht nicht ohne Widerstände und Kämpfe vor sich. Da ist zunächst das Phänomen der Revolution. Auch sie ist ein Element der Rechtsgeschichte. Bedeutende Grundlagen unserer heutigen Rechtsordnungen sind erst im Aufstand gewonnen worden. Aber der Gedanke trägt weiter. Das Recht steht nicht im luftleeren Raum; es bildet sich auch nicht in der stillen Stube des Gelehrten. Die Rechtsnorm muß nicht nur in Widerstreit der sozialen Interessen erkämpft werden, sie muß auch gegen widerstrebende Mächte durchgesetzt und angewendet werden. Die deutsche Geschichte des Mittelalters ist voll von Berichten über Feldzüge deutscher Könige gegen Rechtsbrecher. Damit genügten sie ihrer Aufgabe als Wahrer des Friedens und des Rechtes. Seit Aufhören der Fehde geht der Kampf um das Recht nicht mehr in so offenen Formen vor sich: Aber mit anderen Waffen wird er oft auch noch in der heutigen Gesellschaft ausgefochten. Der Weg von dem richtigen, d. h. sachgemäßen Projekt einer guten Regelung zur festgestellten Norm ist weit, und wer seine Rechte nicht wahrt, dem können sie leicht verloren gehen. Insofern hat Rudolf von Ihering recht gesehen, wenn er in seiner Schrift „Der Kampf ums Recht*29 das Eintreten für das eigene Recht als wesentlichen Faktor der Rechtsentwicklung festgestellt hat, und ebenso die soziologische Schule, wenn sie auf den Kampf der Interessen- und Machtgruppen aufmerksam gemacht hat, aus dem eine Norm hervorgeht. Es wäre auch falsch zu glauben, daß dieser Kampf nur in der parlamentarischen Demokratie existiert. Er wird dort nur offen ausgekämpft und steht infolgedessen jedermann vor Augen. Aber wer die Geschichte bedeutender gesetzgeberischer Regelungen in absoluten Monarchien näher verfolgt, der wird bemerken, daß auch unter einer solchen Regierungsform die Auseinandersetzungen 28

Zuerst erschienen 1872.

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um neue Gesetze nicht weniger scharf gewesen sind. Nur die Formen des Kampfes waren anders, und dieser selbst weniger sichtbar. Wenn die historische Rechtsschule demgegenüber mit ihrer Lehre zu einer so anderen Auffassung kommen konnte, wenn sie die Entwicklung des Rechts mit derjenigen der Sprache verglich, wenn sie die stillen inneren Kräfte als die eigentlich rechtsbildenden Faktoren ansah, so konnte das nur geschehen, weil sie die Dinge aus einer ganz anderen Perspektive gesehen hat. In der Tat, wer die Entwicklung eines juristischen Problems in Wissenschaft und Rechtsprechung über längere Zeit verfolgt, etwa die Frage der Bedeutung des Handelns auf eigene Gefahr im Zivilrecht, der kann allerdings rückblickend den Eindruck gewinnen, als habe sich die Lösung, die sich schließlich ergibt, allmählich in unmerklichen Schritten in der wissenschaftlichen Diskussion, im „reasoning from case to case" seitens der Gerichte entwickelt, und insofern behält die Beschreibung der historischen Rechtsschule für die Einzelentwicklung des Rechts in einem gegebenen System ihre Berechtigung. Wenn man gar einen noch größeren Abstand nimmt und die Entwicklung über die Jahrhunderte hinweg überschaut, so mag die Entfaltung der rechtlichen Ideen und Institutionen sich — wenn man von den revolutionären Brüchen in der Rechtsgeschichte absieht — als ruhige Entfaltung von Ideen darstellen, wie es die historische Rechtsschule ebenfalls beschrieben hat. Aber aus solchem Abstand läßt sich eben kein volles Bild der Vorgänge gewinnen. In Wahrheit muß nicht nur bei der Setzung eines neuen Rechts die richtige Regel in genauer Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt gefunden werden: Sie muß dann auch gegen Widerstände durchgekämpft werden. Auch die richterliche Entscheidung, bei deren Erlaß der Richter mit neuen Problemen zu ringen hat, stellt sich nicht von selbst ein, sondern geht aus innerem Kampf um die richtige Einordnung, um die volle Erfassung des Sachverhalts und aus schrittweiser Klärung der anstehenden Fragen in solcher Auseinandersetzung hervor. Insofern ist das Bild, das die historische Rechtsschule von der Rechtsentwicklung zeichnete, nicht nur (im philosophischen Sinne) zu idealistisch gesehen, es ist auch verzeichnet, insofern es Kampf, Ringen und Entscheidung, Ablenkungen durch Macht- und Gruppeninteressen aus der rechtsgeschichtlichen Betrachtung ausschaltet. Die historische Rechtsschule teilt damit freilich den Fehler der „entwicklungsgeschichtlich" orientierten Wissenschaft des 19. Jahrhunderts im allgemeinen, welche die Tendenz hatte, auch bedeutende und große Änderungen aus einer kontinuierlichen Reihe kleinster Veränderungen zu erklären. Erst die moderne Historic hat diese Art

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von entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung überwunden30. Erst sie hat wieder Blick für die Umbrüche in der Geschichte und für das schöpferische Element großer Persönlichkeiten gewonnen, die der Geschichte einen anderen Lauf gegeben haben. Als Beispiel sollen hier die Bemerkungen von je einem Vertreter der Kunstgeschichte und der Literaturgeschichte stehen. Der Kunsthistoriker Jantzen bemerkt zur „Entwicklung" der Hochgotik: „Das ist nicht so zu verstehen, als ob die Gotik sich aus der romanischen Baukunst heraus jenwickelt'. Gerade in denjenigen Gebieten, in denen die romanische Baukunst ihre charaktervollen Bildungen hervorbringt, ... entsteht keine Gotik. Mit .entwicklungsgeschichtlicher* Betrachtung lassen sich solche Tatsachen nicht vereinbaren. Vielmehr sind die großen Stilbildungen der abendländischen Kunst Schöpfungen des Geistes .. .."31 Und der klassische Philologe Lesky sagt in seiner „Griechischen Tragödie"32: „Entwicklung, wie wir sie verstehen, wird weit mehr durch den Schöpfungsakt der großen einzelnen als durch ungreifbare, in der Physis gelegene Triebkräfte bestimmt, die verschiedene Kulturschichten geradeswegs durchwachsen." In diesem Sinn ist auch das Recht nicht das Ergebnis anonymer „Entwicklung", sondern schöpferischer Gestaltung. Aus ähnlichen Gründen erweist sich die Theorie einer „dialektisch" verlaufenden Entwicklung für die Rechtsgeschichte als wenig fruchtbar33. Gewiß kann man sagen, daß etwa die Epoche einer Bildung der rechtlichen Regeln durch Wissenschaft und Praxis, des Juristenrechts, also etwa die Zeit des gemeinen Rechts vom 13. bis zum 18. Jahrhundert in diejenige der Kodifikationsidee „umschlug": aber damit ist über die Kräfte, welche jene Änderung bewirkt haben, noch gar nichts gesagt; eine wirkliche Klärung der Phänomene also nicht erreicht34. 80

Man muß wohl mindestens drei Vorstellungen von Entwiddungen unterscheiden: 1. Die Annahme einer allgemeinen Zielrichtung für einen historisdien Prozeß. 2. Die Annahme einer notwendigen Abfolge von qualitativ versdiiedenen Epochen — in der Art der organisdien Entwiddung. 3. Die Annahme, daß die feststellbaren Veränderungen sich allmählich, durch kontinuierliche kleine Änderungen herausbilden. 81 Jantzen, Kunst der Gotik (Rowohlts Deutsche Encyclopädie), S. 10. 32 Erschienen bei Kröner (4. Aufl. 1968), S. 47. 33 Zum Begriff der Dialektik bei Hegel, vgl. oben Kap. I Abschn. V. 5. 34 vgl. zur Kritik der Verwendung der „Dialektik" in diesem Zusammenhang: Popper, Was ist Dialektik? in „Logik der Sozialwissenschaften" (4. Aufl. 1967), S. 265 ff., 283 ff.

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III. Jede konkrete Rechtsordnung steht im Zusammenhang der materiellen und geistigen Gesamtkultur, zu der sie gehört. 1. Von besonderer Bedeutung für die Gestaltung des Rechts sind dabei die gegebenen ökonomischen Verhältnisse, denn sie stellen zu einem guten Teil die Probleme dar, die diese Rechtsordnung zu lösen hat. Bei einem Volk von Jägern und Sammlern wird die Frage des Eigentums sich anders stellen als bei Ackerbauern. Für jene wird ein Eigentum an Grundstücken kaum in Betracht kommen; das Eigentum wird sich auf Waffen, evtl. Beutestücke beschränken. Dagegen ist für ein seßhaft gewordenes Volk die Ordnung des Grundeigentums ein zentrales Thema der Rechtssetzung. Freilich spielt dabei auch wiederum eine Rolle, ob Land in unbeschränktem Maße zur Verfügung steht oder nicht1. Es ist bekannt, daß die Tatsache, daß Grundbesitz das einzige vorhandene wirtschaftliche Gut von dauerndem Wert war, auf die Entwicklung des Lehnswesens des mittelalterlichen Europas einen großen Einfluß ausgeübt hat. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang bei der Entwicklung der modernen Industriewirtschaft. Große Rechtsgebiete, wie das Patentrecht, die Gefährdungshaftung, die Einrichtung der verschiedenen Unfall- und Haftpflichtversicherungen, sind durch die Technisierung der Produktionsweise bedingt. In all diesen Fällen stellen also die Produktionsverhältnisse dem Recht die Aufgaben, die es zu lösen hat; aber der Einfluß der Wirtschaftsweise reicht noch weiter; er kann auch bei der Analyse der für die Probleme gefundenen Lösungen nicht außer acht gelassen werden; insbesondere spielen die mit einer Produktionsweise verbundenen Machtverhältnisse hier eine wichtige Rolle. Ja, der Einfluß der wirtschaftlichen Gegebenheiten geht sogar noch über die Lösung von Fragen hinaus, die unmittelbar wirtschaftliche Probleme und Interessen berühren. Betrachtet man etwa die Entwicklung der Frauen-Emanzipation in West- und Mitteleuropa seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so kann niemand übersehen, daß die Tatsache, daß die moderne Wirtschaft der Frau die Möglichkeit zu 1

vgl. dazu H. Krauss, Die moderne Bodengesetzgebung in Kamerun (1966), S. 9, bei den Duala. Hier wies das Familienoberhaupt bei Bedarf einfach jeder neuen Familie Land zu. Daher traf die französische Regelung, daß alles unbebaute Land der Verfügung der Regierung unterliege, auf heftigen Widerspruch.

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eigener beruflicher Tätigkeit eröffnete, andererseits die Frauenarbeit zunächst durch die besonderen Verhältnisse der Kriegswirtschaft, später durch die Intensivierung des industriellen Prozesses zur Notwendigkeit machte, für den Erfolg der gesamten Bewegung von entscheidender Wichtigkeit gewesen ist. Insofern hat sich der Hinweis auf die Bedeutung der Produktionsverhältnisse für das Recht, den Karl Marx mit seiner Theorie gegeben hat, als äußerst fruchtbar erwiesen. Problematisch ist nur, wie bei vielen grundlegend neuen Einsichten, die Ausschließlichkeit, die absolute Bedeutung, die Karl Marx den Produktionsverhältnissen in ihrer Beziehung zum Überbau der Ideen vindiziert2. Die marxistische Theorie macht in der Tat folgende Annahmen notwendig: a) eine Reihe von wirtschaftsgeschichtlichen Epochen zu unterscheiden, die nach dem Kriterium der vorherrschenden Produktionsweise definiert sind und in „dialektischer" Entwicklung aufeinander folgen. b) Diesen müßten dann entsprechende Epochen in der Entwicklung von Religion, Recht und Moral sowie der Kunst zugeordnet sein. c) Diese könnten zwar mit einer gewissen Verzögerung der Entwicklung der Produktionsweise folgen, müßten aber doch im gleichen Rhythmus aufeinander folgen wie die Epochen der Produktionsverhältnisse. Im großen und ganzen müßten also die großen Wendepunkte des geistigen Lebens in seinen verschiedenen Bereichen jeweils sich eindeutig mit Änderungen in den Produktionsverhältnissen in Verbindung bringen lassen. Die Einwirkung anderer Faktoren müßte auszuschliessen sein. Andererseits müßte die Wirkung der kulturellen Vorstellungen sich- jeweils auf eine bestimmte, eben durch eine bestimmte Form der Produktionsverhältnisse bedingte Epoche beschränken. Mit diesen Folgerungen stimmen nun die Ergebnisse der allgemeinen Kulturgeschichte ebenso wie der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte nicht überein. Die Schwierigkeiten beginnen mit der Frage der Unterscheidung ganz bestimmter Wirtschaftsepochen und des von Marx für die Ab8

Zum Problem monokausaler Gesdiiditserklärungen im allgemeinen die hervorragende Analyse bei N. Hartmann, Problem des geistigen Seins (1933), S. 12 ff., 15 ff., 200—205.

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grenzung solcher Epochen verwendeten Kriteriums der Produktionsweise. Es muß hier zunächst etwas Grundsätzliches zu der Bildung historischer Epochenbegriffe gesagt werden. Solche Begriffe, wie etwa „Renaissance", „Zeitalter des Absolutismus" usw. sollen die vorherrschenden allgemeinen Züge eines historischen Zeitabschnittes charakterisieren. Sie fassen damit die Ergebnisse der Einzelforschung zusammen. Insofern sind sie legitim und sogar unentbehrlich; sie sind aber natürlich stets an den Ergebnissen der Einzelforschung nachzuprüfen und gegebenenfalls zu berichtigen3. Die Gefahr bei der Bildung und Verwendung solcher Begriffe liegt aber nun darin, daß sie verabsolutiert und wie vorgegebene Wesen behandelt werden. Was „Renaissance" oder „Kapitalismus" ist, wird vorher definiert. In der Einzelforschung kann dann nur gefragt werden, wann etwa diese (vorweg definierte) Epoche begonnen habe usw. Damit wird das Verhältnis zur Einzelforschung umgekehrt: Statt daß der Epochenbegriff an den Ergebnissen der Einzelforschung gemessen wird, wird er als etwas Vorgegebenes behandelt; damit kann er zum Hemmnis der Forschung werden. Insbesondere entsteht die Gefahr, daß gegenläufige Bewegungen übersehen werden: die allgemeine Erfahrung der historischen Einzelforschung ist, daß auch vergangene Zeiten nie so „einheitlich" gewesen sind, wie systematisierende Epochenbildung es annehmen muß. In der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung wurden — zu Zeiten von Marx und später — noch andere Kriterien vorgeschlagen: Geld- oder Kreditwirtschaft, der geographische Bereich des wirtschaftlichen Güteraustausches (mit der Unterscheidung Stadtwirtschaft, Volkswirtschaft, Weltwirtschaft), die herrschende Wirtschaftsgesinnung. Aber die Einzelforschung hat immer wieder gezeigt, daß die Dinge viel komplexer liegen und sich nicht auf einfache Schemata bringen lassen. Es hat sich z. B. gezeigt, daß die Wirtschaft der mittelalterlichen Städte keineswegs auf lokalem Güteraustausch, sondern auf der weitgespannten Handelstätigkeit der „Fernhändler" basierte, die ihrer Gesinnung nach durchaus dem „Erwerbsprinzip" folgten, daß das Altertum zwar überall Sklavenarbeit verwendet, aber im einzelnen in seinem Wirtschaftsleben ganz verschiedene Systeme zeigt4. Vom Standpunkt der rechtshistorischen Forschung aus scheint mir das von Eucken entwickelte Kriterium der „Wirtschaftsordnung" am 3

vgl. Popper, Poverty of Historicism (Reprint 1961), S. 78 u. 80. Gomhrich, In search of a cultural history, Oxford 1965. 4 Für die Rechtsgeschichte vgl. oben S. 124 ff.

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fruchtbarsten zu sein; danach ist darauf abzustellen, welche Ordnung die Planung der wirtschaftlichen Produktion beherrscht, und sind als Idealtypen zentralgeleitete Wirtschaft und Verkehrswirtschaft zu unterscheiden5. Dieses Kriterium ermöglicht ein „Verstehen" von rechtlichen "Wirtschaftsregelungen, ja rechtlicher Einrichtungen überhaupt. Aber bei Anwendung dieses Kriteriums zeigt sich, daß die vorgeschlagenen Periodisierungen viel zu grob sind, daß sich jene großen Einteilungen, wie sie auch in dem oben zitierten Text aus dem Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie" von 18596 erscheinen, nicht halten lassen. Wie oben schon hervorgehoben, weist etwa die klassische Antike in ihrer Geschichte sehr verschiedene Wirtschaftsordnungen auf7. Die Epochenbegriffe, welche oft in begriffsrealistischer Weise verwendet werden, als handele es sich um lebendige Wesen: etwa „Kapitalismus", erweisen sich als Hemmnis der Forschung. Ebenso problematisch ist die grundsätzliche Zuordnung bestimmter Epochen der Ideengeschichte und der in ihr sich vollziehenden Wandlungen zu den Abläufen der Wirtschaftsgeschichte. Mit welcher Änderung in der Produktionsweise hängt die Ausbreitung und der schließliche Sieg des Christentums in der antiken Welt zusammen? Inwiefern ist die Entfaltung des gotischen Stils in der Isle de France an der Wende zum 13. Jahrhundert ökonomisch zu erklären? Wieso entstand, vom Standpunkt einer Erklärung durch' Produktionsverhältnisse, im Florenz des Quattrocento die Renaissancekunst, während in Brügge die gotische Tradition fortbestand? Andererseits: wie ist mit der Manischen Überbautheorie zu vereinbaren, daß bestimmte künstlerische, aber auch rechtliche Lösungen über die Epoche, in der sie entstanden sind, hinaus in ökonomisch ganz anders gestalteten Epochen wirken konnten! Marx selbst hat sich diese Frage für die Wirkung der klassischen Kunst der Antike und des römischen Rechts in seiner Zeit gestellt8. Geht man ihr nach, so zeigt sich, daß es — auch im Bereich des Rechts — Lösungen von

5

Eucken, aaO., S. 50 if., 78 ff., 87 ff. vgl. oben Kap. I Absdin. VI. 2. 7 vgl. die grundsätzliche Kritik der Epochen- und Stilbegriffe in der Wirtschaftsgeschichte bei Eucken, aaO., S. 58—64; dort insbes. auch eine Kritik des Begriffs „Kapitalismus". Eucken konstatiert hier mit Recht einen Rückfall in „magisches Denken". 8 Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie (Ausgabe Lieber Bd. 4), S. 830—833. 6

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überhistorischer Richtigkeit gibt, z. B. bestimmte Vertragsregeln, Regeln über einen Interessenausgleich bei irrtümlichen Leistungen u. ä. Die Rechts- wie die Wirtschaftsgeschichte zeigt ferner, daß neben den wirtschaftlichen auch noch anderen Realfaktoren eine erhebliche Rolle bei der Entwicklung rechtlicher Institutionen zukommt. So spielte z. B. bei der Entwicklung des Lehnwesens nicht nur die oben hervorgehobene besondere ökonomische Bedeutung des Grundbesitzes eine Rolle, sondern auch der Umstand, daß die europäischen Staaten gezwungen waren, schwer bewaffnete Reiterheere aufzustellen, also ein rein kriegstechnischer Umstand9. Ebenso hat in der Entwicklung der antiken Demokratie die Tatsache, daß die Stadtstaaten, wie Athen, Sparta oder Rom, gezwungen waren, schwer bewaffnete Infanterie aufzustellen, das Hopliten-Heer in Griechenland, bekanntlich entscheidenden Einfluß auf die Ausbildung der antiken Demokratie gehabt10. Schließlich legt die Kulturgeschichte die Frage nahe, ob es nicht doch auch einen unmittelbaren Einfluß der Ideen auf die Gestaltung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gibt. War nicht die Idee einer freien emanzipierten Gesellschaft, eines Rechtsstaates eher da als ökonomisch die freie Unternehmerwirtschaft? Locke's „Two Treatises of Government", die die Grundsätze des Rechtsstaates entwickeln, datieren von 1690. Auch hier hat Marx selbst das Problem gesehen; er konstatiert, daß Rousseau im „Contrat social" die bürgerliche Gesellschaft vorwegnimmt11. Aber es stellt sich die Frage, ob nicht hier als geistige Vorwegnahme einer künftigen Epoche interpretiert ist, was in Wahrheit eine ihrer Ursachen war12. Und gilt dies nicht auch für rechtliche Ordnungen? Marx selbst war ein zu scharfer Beobachter, um dies nicht zu sehen. Er hat es z. B. im Hinblick auf die Wirkung der englischen Fabrikgesetzgebung seiner Zeit festgestellt und ausgesprochen13. Wenn die Bedeutung der Rechtsordnung für die Gestaltung des Wirtschaftslebens trotzdem bei ihm nicht zum Ausdruck kommt, 9

vgl. dazu auch Scbumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Deutsche Ausgabe 1950), S. 29 f. 10 vgl. etwa Kunkel, Römische Rechtsgeschichte (5. Aufl. 1967), S. 17 ff. 11 Einleitung zu einer Kritik der politischen Ökonomie (Ausgabe Lieber Band 4), S. 795. 12 vgl. zum Verhältnis Französische Revolution — Kapitalismus auch Eucken, aaO., S. 63. 13 vgl. Das Kapital I (Ausgabe Lieber Band 4), S. 564.

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so hängt dies mit seiner Annahme zusammen, daß in der geschichtlichen Entwicklung sich bestimmte Epochen (mit jeweils einer charakteristischen „Leit"-Produktion) ablösen. Dadurch erscheinen in seiner Darstellung die in Wahrheit die Produktion steuernden Rechtsnormen als bloßer Ausdruck einer bestimmten Epoche. So wird z. B. im „Kapital" mehrfach betont, daß im Mittelalter der — an sich in Form des Geldverleihers und Kaufmanns vorhandene — Kapitalist sich der eigentlichen Güterproduktion nicht bemächtigen konnte, weil die Zunftverfassung dies nicht zuließ14. Das wäre also ein klares Beispiel einer die Produktionsweise bestimmenden Rechtsnorm. Aber bei Marx kann das nicht hervortreten, weil die Zunftverfassung selbst eben nur als Ausdruck der Epoche Feudal- und Handwerkswirtschaft erscheint. Man wird nach alledem die grundsätzliche Einsicht von Marx über die Bedeutung der ökonomischen Gegebenheiten auf die Rechtsgeschichte festhalten müssen: ein Verhältnis einseitiger Determination läßt sich ebenso wenig feststellen wie eine nach einheitlichem Gesetz erfolgende Entwicklung. 2. Steht das Recht einer Zeit also mit den tatsächlichen Gegebenheiten der Epoche in engstem Zusammenhang, so gilt dasselbe natürlich für die geistigen Faktoren der Kultur. Vor allem tritt hier die Religion hervor. Die Überzeugung, daß die Gottheit das Recht schützt, ist wohl allen höher entwickelten Kulturen gemeinsam. „Der Herr ist gerecht und hat Gerechtigkeit lieb", heißt es in den Psalmen. Im Namen der Götter verkündet Hammurabi (um 1700 v. Chr. Geb.) seinen Codex 15: „Auf Befehl des Shamash, des großen Richters von Himmel und Erde, soll die Gerechtigkeit im Lande aufgehen." Nach griechischer Auffassung schützt Zeus das Recht, unter seinem Schutz stehen die Fremden. Daran erinnert Odysseus den gesetzlosen Polyphem16. Latte17 hat für die griechische Frühzeit den Begriff des „Heiligen Rechts" geprägt; es sind die rechtlichen Bindungen, welche in der Herrschaft der Götter ihre Sicherheit und Sanktion finden. Man sichert z. B. rechtliche Auflagen durch Fluchformeln: sie sollen den göttlichen Zorn auf denjenigen herabbeschwören, der die auferlegte Verpflichtung bricht. 14 15 18 17

vgl. z. B. Das Kapital aaO., S. 911. vgl. Gaudemet, Institutions de l'Antiquite (1967), S. 17 ff. Odyssee, 9. 270. Latte, Heiliges Recht (1920).

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Der Eid beruht auf der gleichen Grundansicht; und seine Bedeutung für die Entwicklung des — privaten und völkerrechtlichen — Vertragsrechts wie des Prozeßrechts kann kaum überschätzt werden. Weit verbreitet ist auch die Vorstellung, daß schwere Verbrechen das Verhältnis der Gruppe, der Stadt, des Stammes zur Gottheit zerstören. Mißernte, Krankheit und Hungersnot treten ein, bis die Gemeinde sich entsühnt und das Verbrechen bestraft. In der griechischen Sage ist Oedipus die Gestalt, in dessen Schicksal sich dieser Glaube am eindrucksvollsten zeigt; aber ähnliche Überzeugungen sind z. B. bei den Ashantis der Goldküste festgestellt worden18. Hier liegt einer der Ausgangspunkte des öffentlichen Strafrechts: die Notwendigkeit, sich zu entsühnen, zwingt die Rechtsgemeinschaft, Verbrechen zu verfolgen und zu bestrafen, deren Sühne herbeizuführen, die sie sonst wohl dem Verletzten oder seiner Sippe überläßt. Ebenso universal ist die Erscheinung des Gottesurteils, d. h. der Gedanke, daß die Wahrheit in einem Rechtsstreit durch unmittelbares Handeln der Gottheit ans Licht gebracht werden kann19. Im europäischen Recht des Mittelalters ist damit der Gedanke des gerichtlichen Zweikampfes verknüpft: der Angeklagte hat das Recht, sich dem Ankläger zum Zweikampf zu stellen; siegt er, so hat Gott für ihn entschieden und seine Unschuld ans Licht gebracht. Hinter den Ordalien steht jedoch noch eine andere Vorstellung, die weniger der Religion als einer urtümlichen „Weltansicht" angehört: der Magie, dem Glauben an unpersönliche, übernatürliche Kräfte, die Welt und Natur durchwalten, so daß alles mit allem durch geheime Kräfte verbunden ist, und die der Mensch durch entsprechende rituelle Handlungen seinen Wünschen dienstbar machen kann20. Bei dem Ordal liegt nun die Vorstellung zugrunde, daß die Elemente, richtig befragt, Schuld oder Unschuld anzeigen. Der Angeklagte wird gebunden ins Wasser geworfen: stößt ihn das reine Element zurück, so daß er schwimmt, so ist er schuldig. Der Beschuldigte geht über glühend gemachte eiserne Pflugscharen; die Brandwunden werden verbunden und nach bestimmter Frist untersucht. Hat der Heilungsprozeß begonnen, so ist die Unschuld erwiesen; hat Eiterung eingesetzt, so liegt die Schuld am Tage21.

18 19 20 21

Hoebel, The Law of Primitive Man (1964), S. 231. Dazu Nottarp, Gottesurteilsstudien (1956). vgl. Frazer, The golden Bough (1920). vgl. dazu Nottarp, Gottesurteilsstudien (1956), S. 252 ff.

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Es ist wichtig, diese Vorstellungen ernst zu nehmen. Die Menschen, die solche Ordnungen schaffen und praktizieren, wissen, daß es im Rechtsverfahren darauf ankommt, die Wahrheit über bestimmte Geschehnisse zu ermitteln; darin stimmen sie mit den modernen Juristen überein. Aber sie suchen diese Frage mit Mitteln zu lösen, die ihrer Ansicht von den Naturzusammenhängen entspricht, eben der Magie. Deutlicher noch ist der Einfluß magischen Denkens bei der Zauberei. Zauberei ist in vielen Rechten ein strafwürdiges Verbrechen. Sie war es in Westeuropa bekanntlich noch bis in das 18. Jahrhundert. Heute erscheint uns das absurd. Aber wiederum liegt in der Haltung archaischer Rechtsordnungen eine gewisse Konsequenz. Daß niemand einen anderen in seiner Gesundheit oder an seinem Eigentum vorsätzlich schädigen darf, ist ein rechtlicher Grundgedanke, den auch die modernen Rechtsordnungen teilen: woran wir nicht glauben, ist die Möglichkeit, solche Schädigungen durch magische Praktiken zu vollbringen; aber für eine Zeit, die daran glaubt, ist die Folgerung, die Zauberei als Delikt anzusehen, naheliegend. Sie ist Ausfluß nicht so sehr rechtlicher als naturdeutender Überzeugung. Der Zusammenhang zwischen archaischem Recht und früher Religion tritt weiter in dem Formalismus hervor, der beide auszeichnen kann. Freilich kann auch der Formalismus nicht als schlechthin primitiv bezeichnet werden. Gerade sehr primitive Ordnungen weisen oft so gut wie keinen Formalismus auf. „Formalism and ritualism in law are by-products of legal specialism in the archaic and early modern legal systems. Such specialism does not exist among primitives", vermerkt Hoebel22. Aber in vielen Kulturen ist der Formalismus von großer Bedeutung für die Rechtsentwicklung gewesen. Im Römischen Recht ist es zunächst die Woriformel gewesen, nicht der moralische Wert der Treue, der den Vertragspartner band; und der Zauber der rituellen Formel rief beim Testament die juristische Wirkung hervor. Die Bedeutung, die diese Stilisierung, die das feierliche wie das technische Wort für die Erfassung der „rechtlich relevanten Tatbestände" — wie wir heute sagen würden — gehabt hat, kann kaum überschätzt werden. Es bedeutet eine ungeheure Veränderung für das Recht, wenn sich gegenüber diesen älteren Vorstellungen reinere religiöse Anschauungen oder nüchterne Denkmethoden durchsetzen. Als das IV. LateranKonzil 1215 aus theologischen Gründen die Mitwirkung der Geist22

Hoebel, The Law of Primitive Man (1964), S. 257.

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liehen bei den Ordalien verbot, bedeutete dies für die Justiz der Zeit eine Quelle der Schwierigkeiten. Wie sollte man nun beschuldigte Verbrecher überführen? Verschiedene Wege sind beschritten worden: in England griff man auf die Jury zurück und stützte den Schuldbeweis auf ihren Wahrspruch; auf dem Kontinent entwickelte man die Verfahrensregeln des Römischen Rechts, die auf rationale Weise den Beweis der belastenden Tatsachen zu regeln versuchten, insbesondere durch kritische Ausarbeitung des Zeugen- und Urkundenbeweises. Beide Wege stellten rationale Wege der Tatsachenermittlung dar. — Das Delikt der Zauberei und Hexerei dagegen verschwand erst mit der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Weltauffassung im 18. Jahrhundert. Auch die Auffassung des Rechts selbst hängt naturgemäß auf das engste mit der Entwicklung religiöser Anschauungen zusammen. Es macht einen großen Unterschied, ob ich im Recht eine göttliche Satzung oder eine menschliche Ordnung sehe, die auf einsehbaren, daher aber auch auf kritisch zu würdigenden Zweckmäßigkeitsgründen beruht. Aus einem Wandel der Anschauungen in dieser Hinsicht an einer bestimmten Stelle der griechischen Kulturentwicklung ist die Grundfrage der Rechtsphilosophie erwachsen23. Ebenso unmittelbar wirken sich die moralischen Anschauungen auf die Gestaltung des Rechts aus. Bei den Primitiven finden wir häufig eine „morale close"; ihre Gebote gelten grundsätzlich nur innerhalb der Gruppe, nicht gegenüber dem Fremden. Genau die gleiche Auffassung gilt für das Recht. Der Fremde ist rechtlos; er steht weder unter dem Schütze der Rechtsordnung, noch kann er ihre Einrichtungen benutzen, etwa einen bindenden Vertrag schließen. Nur besondere Institutionen können ihn sichern: etwa die Aufnahme als „Gastfreund" bei einem Mitglied der Gruppe. Kulturgeschichtlich ist der Satz, daß alle Menschen rechtsfähig sind, den unser BGB in seinem § l als selbstverständlich voraussetzt, keine Selbstverständlichkeit. Noch ein so bedeutender Geist wie Aristoteles vertrat die Ansicht, daß die Nichtgriechen, die Barbaren, wegen ihrer Eigenschaften von Natur aus zu niederen Diensten und damit zur Stellung von Sklaven geboren seien24. Es hat für die Entwicklung der Rechtskultur einen entscheidenden Durchbruch bedeutet, als in der Philosophie wie in der jüdischen und christlichen Religion die Überzeugung sich bildete, daß die mora23 24

vgl. oben Kap. I. Abschn. 1.1. Aristoteles, Politeia 1254 a.

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lisdien Gesetze und damit auch das Recht für alle Menschen gleichmäßig gelten. Welchen Anfechtungen diese Einsicht ausgesetzt ist, hat freilich gerade die deutsche Rechtsentwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus bewiesen, als ganze Gruppen außerhalb des Rechts gestellt wurden. Verschiedene Bewertungen der Menschen finden sich aber auch innerhalb der einzelnen Gruppen. Viele Rechtsordnungen sind von dem Gedanken bestimmt, daß es von Geburt her verschiedene Klassen von Menschen gäbe, zwischen denen die Rechtsordnung entsprechende Schranken, z. B. Heirats- und Berufsverbote aufrichten müsse; das extremste Beispiel ist wohl das (von religiösen Überzeugungen mitbestimmte) indische Kastenwesen gewesen; aber auch in der europäischen Kultur hat der Gedanke des ständischen Aufbaus der Gesellschaft und damit des Rechts über lange Jahrhunderte eine entscheidende Rolle gespielt. Gerade die frühen Stufen höherer Kultur scheinen mit einem solchen ständischen Aufbau der Gesellschaft in Verbindung zu stehen; ganz primitive Kulturen zeigen keine derartige Gliederung25. In der Vergangenheit des europäischen Rechts ist der Gedanke der Gleichheit der Bürger eher eine Ausnahme gewesen: er tritt in den griechischen Stadtstaaten im 5. Jh. als „Isonomie" hervor26 und auch in der römischen Republik, um dann aber erst wieder in den Stadtstaaten des Mittelalters inmitten einer feudalen Gesellschaft Bedeutung zu erlangen und sich seit dem 18. Jh. als leitendes Prinzip durchzusetzen. Eine weitere für das Recht sehr bedeutsame moralische Unterscheidung ist die unterschiedliche Bewertung der Geschlechter. Der Gedanke der Emanzipation der Frauen ist jung. In vielen Kulturen — zu ihnen gehört die indoeuropäische — gilt der Mann als moralisch überlegen, und das Recht räumt ihm dementsprechend in der Familie wie im Gemeinwesen die leitende Stellung zu; ja, die Verwandtschaft wird sogar auf dem Gedanken der durch Männer vermittelten Blutsbeziehung, der Agnation, aufgebaut. Freilich ist das kein durchgehender Gedanke: wie schon erwähnt, gibt es auch Rechtssysteme, bei denen allein die weibliche Linie die Verwandtschaft vermittelt; so gelten z. B. bei den von Malinowski untersuchten Trobriandern die Söhne einer Frau als Nächstverwandte und damit Erben des Bruders der Mutter, und in gewissem Umfang gibt es auch Beispiele für die von Bachofen vermutete Gynaikokratie; z. B. spielte bei den Ashan25 Hoebel, aaO., S. 294. *· vgl. dazu Jones, The Law and Legal Theory of the Greeks (1956), S. 84 ff.

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tis, einem Volk, bei dem ebenfalls die Familie nach mutterrechtlichen Prinzipien aufgebaut ist, die Mutter bzw. die Schwestern des Königs bei der Auswahl seines Nachfolgers im Falle der Erledigung des Thrones eine entscheidende Rolle27. Solchen Regelungen liegen z. T. Vorstellungen über die Rolle des weiblichen oder männlichen Geschlechtes bei der Zeugung zugrunde; bei den Ashantis findet sich die Vorstellung, daß das lebenstragende Blut allein von der Mutter komme. Eine moralische Idee, der im frühen Recht im Gegensatz zum modernen eine überragende Stellung zukommt, ist die Rache. Das Recht bzw. die Pflicht zur Rache ist ein Leitmotiv der meisten primitiven und archaischen Rechtsordnungen. Jede Rechtsverletzung löst den Willen zur Rache aus28. Dem Rachebedürfnis Genüge zu tun, es zu respektieren, aber andererseits die Gruppe nicht in ihrer Existenz zu gefährden, ist eines ihrer Grundanliegen. Nur schrittweise kann sich der zweite Gesichtspunkt Raum schaffen; und es kommt dabei zu den merkwürdigsten Distinktionen; so darf etwa nach römischem Recht der bei Nacht ertappte Dieb vom Verletzten totgeschlagen werden. Wird er aber erst nach Tagen entdeckt, kommt er mit einer Buße davon. Das Rachebedürfnis ist abgekühlt29. Dem steht im modernen Recht der Schadensersatzanspruch des Verletzten gegenüber, der nur noch auf Ausgleich des Vermögensschadens nach dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit gerichtet ist — freilich auch die öffentliche Strafe, die von vielen noch als notwendige und gerechte Sühne aufgefaßt wird. 3. Daß neben der religiösen und moralischen Vorstellungswelt der erreichte intellektuelle Entwicklungsstand, die erreichten Denkweisen für die Gestaltung des Rechts von entscheidender Bedeutung sind, ist im Laufe unserer Darstellung schon an verschiedenen Stellen deutlich geworden; ich erinnere an das, was über die Bedeutung des magischen Weltbildes für die Gestaltung des Verfahrens- und des Strafrechts oder über diejenige der Vorstellungen von der Zeugung für den vateroder mutterrechtlichen Aufbau der Familie gesagt worden ist30. Aber natürlich gilt dies noch in einem viel allgemeineren Sinne. Jede höhere Rechtsentwicklung setzt schon die Fähigkeit voraus, die entscheidenden Elemente des Sachverhaltes — also der zu regelnden Situation — " Hoebel, aaO., S. 221. 28 Am stärksten tritt dies bei Mord und Ehebrudi hervor. 28 Käser, Das Römische Privatrecht I (1955) § 41 III. 30 vgl. oben S. 156ft7., 159 ff.

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klar zu erfassen, herauszuheben und sprachlich festzuhalten; wie schwierig die damit gestellte Aufgabe ist, mag eine Bestimmung des römischen XII-Tafelrechts (Mitte 5. Jahrhundert vor Chr.) zeigen, die den Versuch macht, die vorsätzliche von der nicht vorsätzlichen Tötung durch Speerwurf abzugrenzen. Der Satz lautet: „Si telum manu fugit magis quam iecit." Das ist mehr als ein schwerfälliger Ausdruck; darin zeigt sich nach allem, war wir heute über den Zusammenhang von Sprechen und Denken wissen, vielmehr die Unbeholfenheit des Denkens selbst. Das gleiche gilt natürlich für die Formulierung der rechtlichen Bewertung. Es ist für den modernen Juristen, der gewohnt ist, mit den hochabstrakten, oft sogar elegant formulierten modernen Kodifikationen umzugehen, oft nicht leicht, sich klar zu machen, welche hohe und schwer errungene intellektuelle Leistung allein in dieser Formulierung der Rechtssätze liegt. Erst recht spiegelt sich die intellektuelle Kultur natürlich in der Aufzeichnung und Darstellung des Rechts wider. Der systematische Aufbau ist eine große Kulturleistung; auch noch in relativ fortgeschrittenen Kulturen finden wir eine mehr oder weniger assoziative Folge. Beispiele bieten das Gesetz von Gortyn (etwa 7. Jahrh. v. Chr.) oder das Rechtsbuch des Sachsenspiegels. Erst die Wissenschaft bringt Ordnung des Rechtsstoffes nach seinem inneren Zusammenhang, nach Lebensgebieten, leitenden Ideen und Institutionen: aber sie hat sich keineswegs in allen Kulturen ausgebildet. Von entscheidender Bedeutung nicht nur für die Überlieferung, sondern auch für die Gestaltung des Rechts ist das Vorhandensein der Schrift. Erst wenn die rechtlichen Normen — seien es Gesetze, seien es Gewohnheiten oder Urteile — schriftlich fixiert werden können, wird im Grunde höhere Rechtskultur möglich, und das Recht eines Volkes, in dem die Kenntnis der Schrift verbreitet ist, sieht auch inhaltlich anders aus als das eines Zeitalters mangelnder oder sogen, beschränkter Schriftlichkeit. Mit der Schriftlichkeit tritt die Urkunde auf den Plan, der schriftlich geführte Prozeß, die schriftlich niedergelegte Entscheidung wird möglich; Register können eingerichtet werden, die rechtlich wichtige Tatsachen festhalten. Es liegt auf der Hand, was das nicht nur für die staatliche Verwaltung, sondern auch für die Sicherung der Rechte des einzelnen bedeutet. Vorher steht für alle diese Aufgaben im Grund nur das menschliche Gedächtnis zur Verfügung — das freilich in solchen Epochen auch für unsere Begriffe Erstaunliches leistet. Die zugezogenen Zeugen müssen den Inhalt getroffener Abmachungen bekunden; die Überlieferungen des Rechts selbst steht auf dem Wissen der Alten.

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4. Es ist schließlich wichtig hervorzuheben, daß im Gesamtzusammenhang der Kultur keineswegs alle Formen menschlicher Beziehungen und Gemeinschaften primär vom Recht bestimmt sind. Die Formen menschlicher Beziehungen werden von der soziologischen Wissenschaft, soweit sie überhaupt mit solchen Strukturmodellen arbeitet, verschieden abgegrenzt31. Für unsere Frage scheint mir besonders fruchtbar eine Gruppierung, die Vierkandt in seiner Gesellschaftslehre entwickelt hat32. Er unterscheidet Gemeinschaft, Anerkennungsverhältnis (Gesellschaft), Machtverhältnis, Kampfverhältnis. Die Gemeinschaft ist „die engste Form der sozialen Verbundenheit"33. Ihr Urtyp ist die Familie. In ihr erlebt jeder Genösse die Gruppe und ihre Angelegenheiten als Teil seines Ichs. Diese Gemeinschaftsgesinnung ist kein Phänomen eines Augenblicks, sondern sie ist dauernd und beständig. Unter den Gliedern der Gemeinschaft herrschen gemeinsames Wollen und gemeinsame Interessen, die Gesinnung der Zuneigung, Hilfsbereitschaft und Liebe gegenüber Genossen, der Hingabe an die Gemeinschaft selbst34. Bei dem Urtyp der Gemeinschaft (der von Vierkandt sogen, „vollen Gruppengemeinschaft") kennen die Glieder einander persönlich und leben miteinander; daneben stehen andere (sogen, abstrakte) Formen der Gemeinschaft, bei denen diese persönliche Lebensgemeinschaft fehlt, die Gemeinschaft vielmehr gegenständlich begrenzt ist und die gefühlsmäßige Verbundenheit sich nur in bestimmten Anlässen und Beziehungen aktualisiert, bei denen sich dann die Glieder „wie eine große Familie" fühlen. Solche Gemeinschaften stellen die modernen Nationen und Klassen, die antike Polis, die mittelalterliche Stadt, die Kirchen usw. dar. Im Anerkennungsverhältnis stehen die beteiligten Menschen (oder Gruppen) sich ohne die gefühlsmäßige Verbundenheit der Gemeinschaft gegenüber; sie sind frei und unabhängig voneinander und schließen sich nur vertragsmäßig zur Erreichung gemeinsamer Zwecke zusammen. Hier herrschen grundsätzlich die Individualinteressen vor. Die Partner erkennen sich gegenseitig an; aber ihre Beziehungen bleiben zweckgebunden und kühl. Redlichkeit und Gerechtigkeit sind die vorherrschenden Tugenden. Die Beziehungen der wirtschaftenden Subjekte in der freien Marktwirtschaft sind der Prototyp dieser Form des Zusammenlebens35. 31

Eine Übersicht bietet Sorokin, Society, Culture and Personality (New York 1947), S. 110—118. 82 Vierkandt, Gesellschaftslehre (2. Aufl. 1928). 93 34 Vierkandt, aaO., S. 209. Vierkandt, aaO., S. 255—258. 33 vgl. Vierkandt, aaO., S. 255—258; V. folgt hier weitgehend Toennies.

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Das Machtverhältnis36 beruht auf der Herrschaft des einen über den anderen oder eine Gruppe von anderen. Zwischen den Beteiligten herrscht Ungleichheit; der Herrschende wird höher bewertet. Sofern überhaupt ein sittliches Verhältnis sich herstellt, entwickein sich beim Herrschenden Sicherheit, Bestimmtheit und Stärke, beim Beherrschten Gefühle der Treue und Anhänglichkeit. Die feudale Gesellschaft, das absolute Herrschertum, die militärische Organisation bieten Beispiele. Es umfaßt sowohl legitime Herrschaft37 wie Gewaltherrschaft, sofern sie nur stabilisiert ist. Das Kampfverhältnis endlich beruht auf dem Willen zur gegenseitigen Schädigung. Die Interessen der Beteiligten sind auch hier entgegengesetzt; Ablehnung, ja Haß, herrschen gesinnungsmäßig vor; höchstens die Tugend der Tapferkeit und des Heroismus können sich entwickeln und gegenseitig Anerkennung finden. Gedacht ist hier z. B. an das Verhältnis kriegführender Nationen, sofern sie sich als solche noch anerkennen (im Gegensatz zum Vernichtungskrieg)38. Zu betonen ist, daß es sich um ideale Typen handelt, die im geschichtlichen Leben nebeneinander stehen und sich gegenseitig durchdringen. So entsteht Gesellschaft regelmäßig im Rahmen einer unpersönlich gewordenen Gemeinschaft, etwa einer Nation39. Auch kann eine konkrete Verbindung sich von der einen Form in eine andere entwickeln: etwa eine Ehe, die als vertragliche Beziehung begründet war, in eine echte Gemeinschaft40. Andererseits kann ein Zusammenleben äußerlich als etwas andereres erscheinen, als es in Wahrheit ist; eine Familie, die auf den ersten Blick sich als Gemeinschaft darstellt, ist in Wahrheit ein Machtverhältnis, in dem die Familienangehörigen dem Vater ausgeliefert sind und dies auch empfinden41. Von diesen Formen weist das Anerkennungsverhältnis die größte Affinität zum Recht auf. Sorokin bezeichnet seinen der Gesellschaft etwa entsprechenden „mixed (contractual) type" als „the lawyer's 89

Dazu De Jouvenel, Du Pouvoir. Zu diesem Begriff vgl. das Buch von Ferrero, Madit (Dt. Ausgabe 1944), S. 45 ff. 38 Vierkandt, aaO., S. 317/318. — Sorokin gliedert in familistic type, mixed (contractual) type und compulsory type. Der erste entspridit in etwa der Gemeinschaft, der zweite der Gesellschaft, der dritte umfaßt sowohl das Herrsdiafts- wie das Kampfverhältnis, vgl. Sorokin, Society, Culture and Personality (1947), S. 100—110. 38 40 Vierkandt, aaO., S. 317/318. vgl. Sorokin, aaO., S. 110. 41 Sorokin, aaO., S. 107, spricht hier mitRedit von „pseudofamilistic type". 37

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paradise"42, und es ist gewiß kein Zufall, daß die geistige Bewegung, deren Ideal die Herstellung der reinen Vertrags-Gesellschaft war, die Aufklärung, mit ihrer Naturrechtslehre am meisten zur Verrechtlichung des gesamten sozialen Lebens getan hat. Weniger einfach ist dagegen das Verhältnis des Rechtes zum Machtverhältnis. Eine Affinität besteht insofern, als die Rechtsordnung selbst geschichtlich weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, im Rahmen von Machtverhältnissen ausgebildet und durchgesetzt worden ist und zu ihrer Aufrechterhaltung einer gewissen Machtentfaltung bedarf. Auf der anderen Seite hat die Macht selber ein Interesse an der Ausbildung einer Rechtsordnung; denn diese stabilisiert erst den geschaffenen Zustand. Friede und Sicherheit unter den Untertanen liegen im Interesse der Macht; der Herrscher kann Unordnung und Selbsthilfe im sozialen Leben schon aus dem Interesse der eigenen Sicherheit nicht dulden43. Die Macht ist daher in der Regel bereit, Ordnung und Sicherheit zu gewähren, soweit die Beziehungen der Untertanen untereinander in Betracht kommen. Sie gewähren also den elementaren Tendenzen im Recht Befriedigung. Die Verfechter des Absolutismus in der Reditstheorie haben daher stets den Ordnungs- und Sicherheitsgedanken im Recht besonders betont, so z. B. Hobbes44. Die gleichen Gesichtspunkte können aber auch für die höchste Tendenz der Rechtsbildung, die Gerechtigkeit gelten. Das Verhältnis der Macht zu ihr kommt am deutlichsten in dem bekannten Wort zum Ausdruck: lustitia fundamentum regnorum. Es besagt, daß Gerechtigkeit gegenüber den Untertanen die Grundlage der Machterhaltung ist; die Gerechtigkeit wird dann letzten Endes nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch zwecks Erhaltung der Herrschaft ausgeübt. Charakteristisch ist allerdings, daß die Geltung des Rechts in solchen Verhältnissen sich auf die Verhältnisse der Untertanen zueinander beschränkt: Ihr Verhältnis zum Herrscher bleibt dagegen im allgemeinen das der ungeregelten, unbeschränkten Herrschaft und steht außerhalb des rechtlich geordneten Raumes. Das eigentliche Machtverhältnis bleibt also ungeregelt. Es ist das Bild, das uns schon die Monarchien der altorientalischen Geschichte bieten und das im römischen Prinzipat und im Absolutismus der Neuzeit wiederkehrte. 42

Sorokin, aaO., S. 104. Audi die modernen revolutionären Diktaturen dulden „revolutionäre" Aktionen nur in der Form angeordneter und geleiteter Exzesse! 44 Grundgesetz des Naturredits: „ut quisque vitam et membra sua, quantum potest, tueatur", Hobbes, De Give I, 7; vgl. audi VI, 10 u. 13. 48

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Die Problematik des Machtverhältnisses im Hinblick auf die Rechtsbildung liegt aber noch in zwei weiteren Umständen. Einmal: die Macht ist jeder Beschränkung abgeneigt; sie hat eine Tendenz zu ungemessener Ausdehnung. Goethe hat ihr in den berühmten Versen aus dem Faust klassischen Ausdruck verliehen: „Die wenig Bäume, nicht mein eigen, verderben mir den Weltbesitz." Und dann: Die Macht widerstrebt jeder endgültigen Bindung. Solche Bindung muß sie aber in Kauf nehmen, sobald sie eine Rechtsordnung einführt; jedes Recht als fixierte Ordnung muß die Macht notwendig in ihrer Handlungsfreiheit begrenzen und beschränken. Insoweit stehen Macht und Recht in einem unversöhnlichen Gegensatz und Spannungsverhältnis. Das Machtverhältnis kann seinem eigentlichen Wesen nach nicht zum Rechtsverhältnis werden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Machtverhältnis seinem Wesen nach in einem gewissen Gegensatz zur Rechtsordnung steht. Wo es rein auftritt, muß das Recht weichen. Nur in abgeschwächten Formen ist es dem Recht zugänglich. Dann verliert es aber seine Fülle und tritt unter die Beschränkung des Rechts. Das ist der Zustand, den man im politischen Bereich charakteristischerweise die „Rule of Law" genannt hat, wo die Herrschaft gewissermaßen beim Recht selbst liegt. Die typischen Machtverhältnisse sind das aber eben nicht. Soweit es sich um soziale Machtverhältnisse außerhalb der politischen Sphäre handelt, wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Familiengewalt usw., tritt die Unterwerfung unter das Recht ein, sobald sie dem allgemeinen staatlichen Recht unterstellt und durch dieses begrenzt werden. Das ist für die patria potestas in Rom z. B. erst außerordentlich spät geschehen. Freilich gewinnt diese Beschränkung erst Bedeutung, wenn die Rechtsgemeinschaft sich auch um die Einhaltung der so gezogenen Grenzen kümmert. Am wirkungsvollsten geschieht das, wenn der Unterworfene selbst die allgemeinen Gerichte anrufen kann. Darum hat die Abdrängung der untertänigen Bauern vom Landrecht und von den allgemeinen Gerichten im Spätmittelalter die Rechtsstellung der Bauern in Deutschland so entscheidend verschlechtert. Daraus ergibt sich, wie gefährlich jede echte Machtkonzentration, jede wirkliche Machtbildung für die Existenz des Rechtes ist, mag sie politisch, militärisch oder wirtschaftlich begründet sein45. Sie gefährdet in jedem Falle jenen für das Recht förderlichen Zustand des 45

Man denke an die modernen Kartelle oder an den Großgrundbesitz der sogen. Potentiores in der ausgehenden Antike.

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Gleichgewichts, den Macaulay für das mittelalterliche England so klassisch beschrieben hat: „No man was altogether above the restraints of law; and no man was altogether below its protection."46 Nicht ohne Spannungen ist auch das Verhältnis zwischen dem Rechi und der soziologischen Form der Gemeinschaft. Das wird vor allerr, deutlich, wenn man die Urform der Gemeinschaft, die volle oder persönliche Gemeinschaft ins Auge faßt. Zunächst ist das Recht seinem Wesen nach der Gemeinschaft genauso wenig adäquat wie dem Machtverhältnis. Die Gemeinschaft beruht in ihrem Prototyp, der Familie, auf engem persönlichem Zusammenleben. Die Ordnung, die sich in ihr herstellt, ist persönlich; sie formt sich aus dem Schwergewicht der einzelnen Persönlichkeiten, die die Gemeinschaft bilden; sie ist nicht notwendig festgelegt. Die Gesinnungen, die sie beherrschen, sind gegenseitige Achtung, Zuneigung und Liebe. Diese, nicht gesetzliche Schranken, bewahren vor Ausnutzung von Überlegenheit, wie sie andererseits Ungleichheiten und Unterordnung willig ertragen, ja gar nicht als solche ins Bewußtsein treten lassen. Das Recht dagegen ist eine schematische Ordnung, abstrakt und unpersönlich, auf typische Fallgestaltungen, nicht auf Individualitäten zugeschnitten. Sein oberstes Prinzip ist die kühle Tugend der Gerechtigkeit, über welche die Wärme der Liebe und Zuneigung weit hinweggeht; sein Hauptanliegen ist Sicherheit; aber dafür ist in der echten Gemeinschaft gar kein Raum. Schließlich: Das Recht zwingt; Gemeinschaft ist freiwillig. Daher ist die Gemeinschaft für das Recht im Grunde unfaßbar. Was ihr Wesen ausmacht, läßt sich weder in abstrakten Regeln erfassen noch erzwingen. Wo das Recht auf Gemeinschaftsverhältnisse stößt, da kann es daher im wesentlichen nichts tun, als dem Leben der Gemeinschaft unter Verzicht auf Normierung im einzelnen freien Raum lassen. Das zeigt sich besonders deutlich im Eherecht47. Mag auch die Zurückhaltung des staatlichen Rechts in frühen Zeiten, wie wir sie etwa im römischen Recht finden, eher auf dem Gesamtcharakter des Staates beruhen, der eben erst wenige Aufgaben übernommen hat und übernehmen kann, so ist es doch bezeichnend, wenn die gleiche Zurückhaltung im modernen Recht wiederkehrt. So wenn wir etwa im BGB lesen, daß die 49

Thomas B. Macaulay, The History of England I (1849), S. 25. vgl. die heute noch lesenswerte Darstellung bei Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I (1840), S. 344, wonach die Familienbeziehungen „nur teilweise dem Rechtsgebiet" angehören. 47

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Ehegatten einander zur „ehelichen Lebensgemeinschaft" verpflichtet sind. Damit verzichtet das Gesetz bewußt auf eine Normierung im einzelnen und verweist statt dessen einfach auf das Wesen der Gemeinschaft selbst. Ähnliches kehrt häufig dort wieder, wo das Recht es mit einer echten Gemeinschaft zu tun hat. So muß sidi z. B. im Kirchenrecht die Rechtsordnung darauf beschränken, die historisch zufällige Gemeinde abzugrenzen, und ihr das Ziel zuweisen, echte Gemeinde Christi zu werden. Jene echte Gemeinschaft aber, die den Leib Christi bildet, entzieht sich rechtlicher Fixierung und kann rechtlich-organisatorisch nicht geschaffen werden. Möglich ist dem Recht bestenfalls, die enge Verbundenheit der Glieder der Gemeinschaft in ihren Beziehungen zu Dritten, die außerhalb der Gemeinschaft stehen, zu berücksichtigen. Ja, das Recht kann Gemeinschaft zerstören. Sein Vordringen ist ein Zeichen für den Verfall der Gemeinschaft. Da wo das Recht in die Gemeinschaft eindringt, wo es die Befugnisse des einzelnen genau abzugrenzen und festzulegen beginnt, da wird die Gemeinschaft entweder zum Vertrage oder zu einem rechtlich beschränkten (unechten) Machtverhältnis denaturiert. Die Auflösung der feudalen Gutsherrschaft seit der französischen Revolution hat man mit dem Argument bekämpft, sie löse nicht ein Machtverhältnis, sondern zerstöre in vielen Fällen ein echtes patriarchalisches Gemeinschaftsverhältnis. Der gleiche Gedanke bestimmte Friedrich Wilhelm IV., die Einführung einer Verfassung abzulehnen; er wollte das persönliche Verhältnis zu seinem Volk nicht durch Rechtsbeziehungen ersetzen. Auch dem modernen Arbeitsrecht hat man ähnliche Vorwürfe gemacht. Dem ist man seitens der Reformer mit dem Vorwurf falscher Romantik an die Adresse der Konservativen begegnet. Die Berechtigung dieser Kritiken hängt davon ab, wieweit vorher wirklich eine Gemeinschaft bestanden hat. Damit wird nun auch deutlich, wo die Existenzberechtigung des Rechts auch innerhalb der Gemeinschaft liegt und inwiefern das Recht auch ihr dienen kann. Es gibt keine irdische Gemeinschaft, in welcher die Person ihrer Mitglieder völlig und ohne jede Ausnahme aufgeht; es bleiben regelmäßig gewisse persönliche Interessen bestehen, die nicht vergemeinschaftet werden, in denen sich vielmehr der einzelne in seiner Besonderheit, als Individuum fühlt48. Hierin liegt nun die Möglichkeit eines Eingreifens für das Recht; es kann diese — persönlich bleibenden — Interessen beschützen. 48

vgl. Vierkandt, Gesellsdiaftslehre (2. Aufl. 1928), S. 209.

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Je beschränkter also die Sphäre ist, in der die Gemeinschaft sich auswirkt, je mehr individuelle Interessen bestehen bleiben, um so bedeutsamer wird daher die Aufgabe des Rechts im Rahmen der Gemeinschaft. In den großen und daher notwendig „abstrakten" Gemeinschaften der Nation oder der Kirche ist daher der Raum der Rechtsordnung weit und bedeutend. Je mehr sich im Rahmen solcher Gemeinschaften eine Gesellschaft entwickelt, um so mehr bedarf sie des Rechts. Der einzelne führt hier eine Doppelexistenz: als privates Glied der Gesellschaft und als Glied der Gemeinschaft. Das Kampf Verhältnis steht im klaren Gegensatz zum Wesen des Rechts, soweit es auf gewaltsame Schädigung und Vernichtung des Gegners gerichtet ist49. Das ist mit der Friedenstendenz des Rechtes unvereinbar. Gewaltsamer Kampf ist dem Recht nur in seiner primitivsten Form, „als Spielregel-Recht", zugänglich und droht außerdem ständig, auch diese Ansätze einer rechtlichen Regelung zu vernichten. Das gilt besonders von den nationalen Massenkriegen der Gegenwart. Für sie gilt nicht nur der Satz: inter arma silent leges; sie erschüttern vielmehr auf lange Sicht die Rechtsgesinnung und stellen die Möglichkeit des Rechts in Frage. Das liegt nicht nur daran, daß der einzelne im Krieg an Gewalt und Rechtlosigkeit gewöhnt wird; es ist vor allem darin begründet, daß der Krieg den kollektiven Selbsterhaltungswillen und die kollektiven Haß- und Rachegefühle ungeheuer stärkt und damit die Bereitschaft zum Gelten-lassen anderer Nationen, zu Gerechtigkeit und zur Bindung an Rechtsprinzipien in den Völkern vernichtet. Aber ein Kampf kann auch mit friedlichen Mitteln geführt werden: Man denke an den innerpolitischen Kampf in demokratischen Staaten und an die modernen Arbeitskämpfe. Eine eigenartige Form des „friedlichen" Kampfes bietet ferner der wirtschaftliche Wettbewerb. In all diesen Fällen ist der Friedensforderung des Rechtes Genüge getan. Trotzdem ist das Recht auch in diesen Fällen, abgesehen von dem Gewaltverbot, darauf beschränkt, Spielregeln aufzustellen und deren Erhaltung zu garantieren. Es kann weder die Sicherheit eines Besitzstandes garantieren50 noch kann es für ein materiell gerechtes Ergebnis sorgen. Das erste zeigt sich, um ein praktisches Beispiel zu geben, z. B. darin, daß es gegen Schädigung durch Wettbewerb in der " Ebenso Horvath, Rechtssoziologie (1934), S. 162. Dort in Teil II, 2. Abschnitt eine eingehendere Untersuchung über Kampfbeziehung und Recht. 50 Diese erhebliche Einschränkung der Eigentumsgarantie durch den Wettbewerb wird in der Kritik des liberalkapitalistischen Wirtschaftsrechtes meist übersehen.

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freien Marktwirtschaft keine Unterlassungsklage gibt. Das Recht muß sich auf Einhaltung der Spielregeln, auf Verhinderung unlauterer Mittel beschränken. Das gleiche gilt für den Wahlkampf in einer Demokratie. Der Verzicht auf eine materiell gerechte Lösung zeigt sich hier z. B. darin, daß in einer Demokratie nicht nach bestimmten persönlichen Kriterien festgelegt ist, wer Präsident oder Abgeordneter wird. Die demokratische Rechtsordnung macht gar nicht den Versuch, den Würdigsten von sich aus zu bestimmen. Der Fürst in der monarchischen Staatsordnung ist dagegen der von Gott Ausgewählte und als solcher an äußeren Kriterien erkennbar. Auch die Rechtsordnung einer Wettbewerbswirtschaft legt nicht — etwa nach Prüfung der Eignung — fest, wer was produzieren soll und darf (wie das jede Planwirtschaft tut); sie gibt nur Chancen und überwacht die Kampfesweise. Ebensowenig kann und will sie das Ergebnis, die Reichstumsverteilung, selbst bestimmen. Überall wo das Recht den friedlichen Kampf zuläßt, muß es also in gewissem Sinn darauf verzichten, seine höchsten Ziele zu verwirklichen: Gerechtigkeit und Sicherheit. Wo es diese Ziele erreichen will, muß es den Kampf ausschalten und selbst bestimmen, was sonst Ergebnis des Kampfes war. Wenn wir trotzdem, gerade in der abendländischen Kultur, verhältnismäßig häufig ein Kampfverhältnis in die Rechtsordnung übernommen sehen, so kann das geschehen sein, weil damit unter Umständen ein anderes hohes Gut gewonnen wird: die Freiheit. Denn nur um dieses Preises willen, nur wenn man das Risiko von Wettbewerb und friedlichem Kampf in Kauf nimmt, kann man Freiheit haben. Wer Sicherheit und auch wer eine von Menschen verwirklichte umfassende Gerechtigkeit will, der muß auf die Freiheit verzichten. Man kann unter Menschen nicht Platos Republik und persönliche Freiheit zugleich haben51. IV.

Unsere Analyse führt zu folgenden Ergebnissen: 1. Das Recht gehört der Welt der Geschichte an. Es lebt, wie alles geschichtlich Gewordene, in vielfachen individuellen Gestaltungen. Der Gedanke des 18. Jahrhunderts, ein einziges überall „richtiges" vollständiges Rechtssystem in Axiomen zu deduzieren, scheint gegenüber dieser Mannigfaltigkeit undurchführbar — darin hat die historische Rechtsschule sicher richtig gesehen. Auch zeigt das Recht — selbst wenn seine Grundlagen in einem bestimmten System festliegen 51

vgl. oben Kap. I Abschn. I. 2.

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— sich stets leichteren Veränderungen im einzelnen unterworfen; es ist nichts Starres, sondern in einem steten Prozeß der Entwicklung, der Anpassung an die Forderungen des Lebens begriffen. Ein einheitliches, über den ganzen Raum der Geschichte sich erstreckendes Entwicklungsgesetz — wie es Philosophie und Wissenschaft des 19. Jahrhunderts vielfach annahmen — ist allerdings nicht feststellbar. Weder im Sinne einer allmählichen Umformung durch kleinste, unwillkürlich erfolgende Veränderungen, noch in demjenigen einer notwendigen (etwa im Sinne der „dialektischen Triade" erfolgenden) Abfolge von „Epochen" läßt sich die Rechtsgeschichte schematisieren. Weder 'das Bild des organischen Wachstums, das der historischen Rechtsschule so teuer war, noch die Dialektik der Hegel'schen oder der marxistischen Philosophie bieten eine Denkform, mit der sich die uns bekannten Fakten ohne Zwang einordnen ließen. 2. Andererseits sind die vielfältigen Gestalten, in denen uns Recht entgegentritt, nun aber nicht chaotisch und dem ordnenden wissenschaftlichen Denken unzugänglich. Sie lassen sich als Typen unter verschiedenen Gesichtspunkten ordnen; dabei lassen sich diese Typen auch nach bestimmten Kriterien bewerten, ein höheres von einem primitiven Rechtssystem unterscheiden. Auch lassen sich bleibende Grundtendenzen, die mit der Rechtsbildung verfolgt werden, ebenso feststellen, wie immer wiederkehrende (und in diesem Sinne überhistorische) Grundprobleme und Ansätze für Lösungen; man denke an Institutionen wie Gericht, Vertrag oder Eigentum. 3. Das Recht steht im Ganzen der Kultur, aber es hat auch — durch die eigentümlichen Grundtendenzen, denen es dient: Friede, Sicherheit und Gerechtigkeit durch Ordnung — seine eigene Stellung. Wer, wie die allgemeine Rechtslehre des juristischen Positivismus, darauf verzichtet, diesen inhaltlichen Zielen nachzugehen, denen das Recht dient, verzichtet darauf, es als Kulturphänomen zu verstehen; er kann über formale Bestimmungen, wie sie etwa Austin und Kelsen bieten, nicht hinauskommen. Aber ebensowenig kann das Recht nur als „Ausdruck einer Epoche" eines Volksgeistes, einer Rassenseele oder ähnlicher — übrigens schwer zu definierender Potenzen — verstanden werden. Gewiß weist das Recht eines Staates als Teil einer kulturellen Gesamtüberlieferung jeweils besondere Züge auf: Niemand wird im modernen deutschen Recht z. B. Züge einer Neigung zur hartnäckigen Verfolgung der letzten Detailprobleme und einen gewissen Mangel an Großzügigkeit übersehen, die gut zu manchen anderen Zügen der deutschen Kultur passen. Noch mehr wird dies für die Rechtsanwendung gelten. Aber das Recht ist zunächst die

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Lösung bestimmter Probleme der sozialen Ordnung und daher in seiner Gestaltung in hohem Maße sachgebunden: daher sind auch Übertragungen von einer Rechtskultur in die andere in großem Umfange möglich. Im Ganzen der Kultur ist das Recht zwar vielfältig von anderen Kulturmächten beeinflußt. Aber es kann nicht in kausaler Erklärung auf einen einzigen Faktor — etwa die Produktionsverhältnisse — zurückgeführt werden, so wenig die Rolle wirtschaftlicher Macht, wie der Macht überhaupt, bei der Rechtsbildung geleugnet werden soll. Vielmehr laufen die Fäden zwischen den verschiedenen Kulturbereichen hin und her; es besteht eine Interdependenz, die sich einer einseitigen Zuordnung nicht fügt. Sucht man nach einer Formel für die Bildung des Rechts, so scheint das BegrifFspaar von Challenge und Response, das Toynbee für die Bildung der Kultur überhaupt geschaffen hat, auch hier am angemessensten zu sein. Die Menschen sehen sich durch die Verhältnisse jeweils vor Ordnungsprobleme gestellt, die sie zu lösen haben. Die soziale Ordnung ist nicht ein für alle Mal gegeben und festgelegt: sie muß in der jeweiligen Situation, vor Problemen der Zeit neu gefunden werden. So entwickelt auch sie sich als die „Antwort" auf eine „Herausforderung", die der Mensch schöpferisch aus seinen geistigen Kräften, aus — richtiger oder falscher — Beurteilung der Sachlage, aus — richtiger oder falscher — Einsicht in das, was praktisch und ideal notwendig ist, gestaltet. Die Antwort kann gelingen: sie kann der Herausforderung adäquat sein; sie kann aber auch mißlingen und dann die Lebenskraft einer Gesellschaft auf das schwerste beeinträchtigen. Einmal gefundene gute Lösungen können sich als dauernd praktikabel erweisen; sie können auch zur hemmenden Fessel werden. Wie überall in der Kulturentwicklung stehen geglückte und verfehlte Lösungen nebeneinander.

KAPITEL IV DIE GRUNDLAGEN DES RECHTS Die klassische Rechtsphilosophie, wie sie in der Antike entwickelt worden ist, hat feste Grundlagen für das Recht in zwei Richtungen gesucht: in sittlichen Gesetzen und in Gegebenheiten der Natur. Hier suchte man Zusammenhänge, die für den Gesetzgeber wie für den Richter vorgegeben und zugleich normativ angesehen wurden. Diesem Ansatz soll auch unsere Untersuchung folgen. Sie soll sich zunächst der Natur der Sache, dann den sittlichen Grundwerten des Rechtes zuwenden.

I. Wenn der Jurist von der „Natur der Sache" spricht, so kann darunter zunächst nichts anderes als das, was der Ausdruck seinem wörtlichen Sinn nach zu besagen scheint, verstanden werden. Man denkt an die Beschaffenheit der Gegenstände, welche im sozialen Leben, etwa im Wirtschaftsverkehr, eine Rolle spielen. So spricht er etwa von beweglichen und unbeweglichen Sachen und begründet aus ihrer Natur etwa verschiedene Formen der Besitzübergabe. Wenn der altrömische Eigentumsprozeß regelmäßig Gegenwart der umstrittenen Sache in iure forderte, so waren Grundstücke „ihrer Natur nach" davon ausgeschlossen. Oder wir sprechen von Sachen, die ihrer Natur nach sich nicht für eine Hinterlegung eignen (vgl. § 383 BGB), ihrer Natur nach zum Verbrauch bestimmt sind usw. Aber der Sinn des Ausdrucks geht über diese Wortbedeutung hinaus. Nehmen wir einen Vertrag, an dem ein Jugendlicher beteiligt ist. Auch hier fordert die „Natur der Sache" eine andere Behandlung, als wenn nur Erwachsene beteiligt sind. Aber damit ist hier etwas anderes gemeint. Genauer gesehen sind es zwei Dinge, deren Natur hier eine Rolle spielt. Einmal die Eigenart des Geschäftsverkehrs, an Intelligenz, Vorsicht und Erfahrung gewisse Anforderungen zu stellen; zum anderen die Natur des Kindes, dem es an dieser intelligenten Übersicht und Erfahrung eben gebricht. Damit erhält der Begriff der „Natur der Sache" eine erheblich weitere Bedeutung. Er umschließt einmal die Natur des Menschen, seine natürlichen Fähigkeiten, Triebe, Willensziele usw., so wie sie bei den verschiedenen

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Altersstufen in Erscheinung treten. Er begreift darüber hinaus aber auch die eigenartige Sachgesetzlichkeit in sich, die den einzelnen Tätigkeitsbereichen und Gemeinschaften des Menschen eigen ist. Beides bedarf genauerer Erläuterung1. Der Mensch ist der Mittelpunkt der Rechtsbildung. Seine leibseelische Beschaffenheit spielt auf allen Rechtsgebieten eine entscheidende Rolle. Seine Geburt, seine Entwicklung, die Schutzbedürftigkeit des Kindes, die Trennung der Geschlechter, seine Triebe und Leidenschaften, die Organisation und Inhalte seines Geisteslebens: das alles ist für das Recht von höchster Bedeutung. Ohne Fähigkeit und Willen des Menschen zum Besitz, zur selbständigen Daseinsvorsorge und zur eigenen Lebensgestaltung wäre eine Institution wie das Eigentum nicht denkbar, ohne Ehrgefühl gäbe es keinen Ehrenschutz, ohne persönliche geistige Schöpfungen kein Urheberrecht und kein Patentrecht. — Aber auch die Eigenart des seelischen Geschehens im einzelnen kann von Bedeutung sein; man denke nur an den psychologischen Tatbestand des Irrtums. Mit Recht stellt Flumc fest, daß dieser „psychologische Tatbestand" eine „entscheidende juristische Relevanz" hat2. Auch Schuld und Vorsatz sind dem Rechte vorgegebene Sachverhalte3. Von entscheidender Bedeutung ist endlich das Streben des Menschen nach Gemeinschaft und Zusammenarbeit. Ebenso bedeutsam ist die Beschaffenheit der Umwelt des Menschen. Wir haben den Unterschied zwischen beweglichen und unbeweglichen Sachen erwähnt. Dazu kommt aber vieles andere bis hin zu der Tatsache des Wechsels von Tag und Nacht, im Grunde alles, was das Dasein des Menschen beeinflußt: die Knappheit der Lebensgüter, die Notwendigkeit, sie in Arbeitsteilung zu gewinnen usw. Von besonderer Bedeutung ist die Technik mit ihren eigenartigen Sachgesetzen. Richtig hat M. E. Mayer hervorgehoben, daß aus dem Umgang des Menschen mit den Dingen, insbes. mit Maschinen u. ä. auch besondere 1

Eine etwas eingehendere Darstellung findet sidi bei Eugen Haber, Redit und Rechtsverwirklichung, (2. Aufl. 1925), S. 281—319. Huber spricht hier von „Realien der Gesetzgebung". — vgl. ferner Regelsberger, Pandekten I (1893), S. 68 ff.; Dernburg, Pandekten I (7. Aufl. 1902), S. 84. Ablehnend: Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929), S. 78 ff. — vgl. auch Radbrttch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschrift f. Laun (1948), S. 157 ff. 2 Flume, Eigenschaftsirrtum und Kauf (1948), S. 32. 3 vgl. dazu Welzel, Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Handelns, SJZ 1948, S. 368 ff., 371.

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Verhaltensregeln hervorwadisen, deren Beachtung im Zusammenleben verlangt werden muß und die daher zu Rechtspflichten werden4. In wievielen Fällen der Fahrlässigkeit ist die verletzte Norm im Grunde eine solche Regel des technischen Verhaltens; man denke an Verkehrsunglücke, Betriebsunfälle u. ä. Hier besteht die Schuld des Täters in der Regel darin, daß er solche aus der Natur der Sache sich ergebenden Klugheitsregeln unbeachtet gelassen hat, etwa in der Garage geraucht hat u. ä. Mit dem bisher Betrachteten hängt ein Weiteres eng zusammen: die Sachgesetzlichkeit der einzelnen Tätigkeitsbereiche. Es ist uns bereits eine Eigenart des Geschäftsverkehrs entgegengetreten; aber das ist durchaus nicht die einzige, die im Rechtsleben eine Rolle spielt. Wenn wir z. B. im § 354 des Handelsgesetzbuches lesen: „Wer in Ausübung seines Handelsgewerbes einem anderen Geschäfte besorgt oder Dienste leistet, kann dafür auch ohne Verabredung Provision... fordern", so ist das aus der „Natur der Sache", nämlich der Natur des kaufmännischen Geschäftsverkehrs abgeleitet. Der Kaufmann ist homo oeconomicus; es kann nicht erwartet werden, daß er ohne Entgelt tätig wird; damit muß man rechnen; es liegt in der Natur der Sache, entspricht der Natur des kaufmännischen Verkehrs. Der geschäftliche Verkehr ist eben ein Austausch wirtschaftlicher Werte; Schenkungen sind ihm fremd. Ebenso spielt aber die Eigengesetzlichkeit anderer Lebensbereiche eine Rolle. So ist z. B. für das Familienrecht das Wesen der Ehe von Bedeutung, für das Beamtenrecht das Wesen des Staatsdienstes, für das Militärrecht das Wesen des Heeres mit seiner eigentümlichen Hierarchie und der strengen Unterordnung des einzelnen unter das Ganze. Das Kirchenrecht kann ohne das Wesen religiösen Erlebens und religiöser Gemeinschaft nicht verstanden werden. Überall tritt uns die „Natur der Sache" entgegen. Soziologie, Sozialpsychologie und Nationalökonomie erforschen sie. Aber nicht nur die Lebensbereiche im ganzen, wie der wirtschaftliche Geschäftsverkehr, die Ehe oder das religiöse Leben, weisen ihre eigene Gesetzlichkeit auf, sondern auch bestimmte einzelne Vorgänge, ein bestimmter Typ von Geschäften etwa. Das Pfandgeschäft hat, abgesehen von der rechtlichen Konstruktion im einzelnen, eine ganz bestimmte wirtschaftliche Struktur. Geldkredit wird gegen Sachsicherheit gegeben; typische Interessen treten auf: der Gläubiger will Sicherung und möglichst leichte Verwertung des Pfandes; der Schuldner dessen schonsame Verwendung und eventuelle Begrenzung seines 4

vgl. M. E. Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen (1903), S. 79.

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Verlustes5. Entsprechendes gilt von der Miete, dem Kauf usw. Die Sachmängelhaftung etwa erwächst aus der Rücksicht auf gewisse typische Erwartungen des Käufers. Ähnliches findet sich in allen Rechtsgebieten. Betrachten wir etwa die Organisation der Justiz. Die Stellung des Richters fordert gesicherte Unabhängigkeit. Denn der Richter muß unparteiisch sein. Ein Richter, der mit einer Partei verwandt ist, darf in der Sache nicht entscheiden. Das liegt in der Natur der Dinge. Dasselbe können wir aber auch von der Organisation der wissenschaftlichen Forschung sagen. Die Wahrheit kann man nur selbst suchen und finden; befehlen läßt sie sich nicht. Das ist die „Natur" des wissenschaftlichen Erkenntnis Vorganges, welche das Recht berücksichtigen muß. Auch hier, bei typischen Einzelvorgängen finden wir also die „Natur der Sache". Letzten Endes beruht diese „Natur der Sache" im sozialen Leben auf der Natur des Menschen6 und der Welt, in der er lebt. Ich habe an anderer Stelle skizziert, wie sich daraus das soziale Leben entwickelt7; ich will mich hier auf Andeutungen beschränken. Der Mensch verwirklicht im sozialen Leben die verschiedenen Tendenzen, die in ihm lebendig sind; seine einfachen Triebe und Instinkte, wie die nach Nahrung und Wohnung, seine vitalen Bestrebungen nach Macht und Einfluß, Ehre und Freiheit, seine geistigen Zielsetzungen: er sucht die Wahrheit, das Schöne, das Heilige. Er sucht Gesellung und Gemeinschaft. Alle diese Tendenzen haben ihr besonderes Gepräge; sie formen den Menschen, wie Spranger das in seinen „Lebensformen" geschildert hat, und sie formen die Eigengesetzlichkeit der einzelnen sozialen Bereiche. Bei der charakteristischen Gesetzlichkeit, die so entsteht, spielt die Welt, in der der Mensch lebt, und ihre Bedingungen eine entscheidende Rolle. Die Gesetzlichkeit des Wirtschaftslebens z. B., welche die Nationalökonomie untersucht, wird erst dadurch möglich, daß der homo oeconomicus seine Bedürfnisse aus einem Gütervorrat befriedigen muß, der im Verhältnis zum Bedarf knapp ist und dessen Gewinnung und Verwertung Arbeitsteilung erfordert. Überblickt man diesen Tatbestand, so sieht man, daß sich der so bescheiden klingende Ausdruck „Natur der Sache" zu der Vorstellung einer durchgehenden Ordnung der sozialen Dinge zu erweitern scheint. Den Dingen selbst scheint eine Ordnung innezuwohnen, die die Gerechtigkeit nur zu erkennen und zu berücksichtigen braucht, um 5

vgl. darüber Heck, Grundriß des Sadienredits (1930), § 76 Nr. 9 und 10. Gustav Hugo gab daher in seinem „Lehrbuch des Naturrechts" eine ganze »Juristisdie Anthropologie"! 7 vgl. Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts (1947) 1. Kapitel. 6

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sicherzugehen. „Die Lebensverhältnisse tragen, wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung in sich."8 Die Natur der Sache scheint der Gerechtigkeit die Maßstäbe zu geben, so daß sie sich zu einer geschlossenen Ordnung erweitern würde, indem sie uns auf die in den Dingen liegende Ordnung selbst verweist. Die Gerechtigkeit bestünde dann darin, die Menschen und die sozialen Vorgänge in der Rechtsordnung so zu ordnen, ihnen den Platz zuzuweisen, der ihnen nach der Seinsordnung selbst zukommt. Die Aufgabe des gerechten Gesetzgebers würde sich aus der der Entscheidung in eine solche der Erkenntnis verwandeln: das Naturrecht, zu dem sich die Rechtsidee erweitern würde, wäre eine Spiegelung der Ordnung, die in den Menschen und Dingen selber liegt. Die Erkenntnis des wahren Seins würde den Gesetzgeber instand setzen, jedem das Seine zu geben. Diese Verbindung des Gerechtigkeitsgedankens mit dem einer ewigen Seinsordnung ist in der Tat geschichtlich früh vollzogen worden. Wir finden ihn bei den Stoikern in der Lehre von der lex aeterna, dem durchgehenden göttlichen Weltgesetz, das, von der menschlichen Vernunft erkannt, den Inhalt der lex naturalis ausmacht. „Lex est ratio summa insita in natura quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria: eadem ratio cum est in hominis mente confirmata et confecta, lex est. Itaque arbitrantur prudentiam esse legem, cuius ea vis sit, ut recte facere iubeat, vetet delinquere ... A lege ducendum est iuris exordium; ea est enim naturae vis, ea mens ratioque prudentis, ea iuris atque iniuriae regula."9. Diese lex aeterna begründet das moralische Gesetz, aber auch das, was dem Menschen entspricht und zukommt. Daher kann denn auch der Gedanke aufkommen, das Recht aus der Natur des Menschen, seiner Bestimmung zur Gemeinschaft10 zu erklären: „Natura enim iuris ... ab hominis repetenda natura."11 Seine vollkommene Ausbildung findet dieser Gedanke in der Naturrechtslehre des hl. Thomas. Für ihn ist das „suum", was die Gerechtigkeit jedem zu geben hat, dasjenige, was nach der Seinsordnung ihm zugeordnet, auf ihn hingeordnet ist. Jedes Wesen und jede Institution, etwa Staat und Ehe, haben ihren

8

Dernburg, Pandekten I (7. Aufl. 1902), S. 84. • Cicero, De Legibus I. 6. 18 u. 19. 10

vgl. Cicero, De Legibus I, 12, 33. Cicero, De Legibus I, 5, 17; ferner über die stoischen Lehren: BarthGoedeckemeyer, Die Stoa (5. Aufl. 1941), S. 101. 11

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natürlichen Sinn, ihr , das ihnen von Gott gegeben ist12. Das Recht muß jedem geben, was ihm seiner Wesensnatur nach gemäß der Schöpfungsordnung Gottes zukommt. Diese Ordnung ist der Maßstab des Guten und Gerechten. In der protestantischen Sozialphilosophie hat vor allem Friedrich Julius Stahl, der philosophische Begründer des preußischen Konservatismus im 19. Jahrhundert, diese Auffassung entwickelt. Für Stahl steht neben der Individualethik, welche das Handeln des einzelnen betrifft, das „Ethos der Gemeinexistenz"13. Es ist die Ordnung der gemeinsamen Lebensverhältnisse der Menschen. Sie entsteht dadurch, daß den Einrichtungen des menschlichen Soziallebens, der Ehe, dem Staat, den Ständen, ein sittlicher Zweck ( ) immanent ist, der ihnen von Gott in der Schöpfung gesetzt ist. Diese Ordnung ist das „objektive Ethos" oder die „sittliche Welt"14. Diese Ordnung, nicht die Gerechtigkeit (welche sich vielmehr nur an der gegebenen ethischen Ordnung zu orientieren hat) ist die Grundlage des Rechts15. Das Recht ist ein Abbild des göttlichen Weltplanes, der „freien, göttlichen Weltökonomie"16. Freilich haben weder Thomas noch Stahl gelehrt, daß die Erkennbarkeit dieses Seins-Ordo so vollkommen sei, daß sie uns jeder Entscheidung überhöbe. Zum mindesten bleibt es notwendig, die konkrete Situation jeweils durch konkrete Entscheidungen zu ordnen, die zwar auf den grundsätzlichen Einsichten beruhen, aber den Besonderheiten der Situation angepaßt sind17. Darüber hinaus ist aber gerade aus dem Bereich christlichen Denkens heraus die durchgehende Erkennbarkeit einer solchen Seinsordnung überhaupt immer wieder in Frage gestellt und die Fragwürdigkeit der irdischen sozialen Institutionen betont worden. Das gilt besonders von der Staatslehre des hl. Augustinus. Die protestantische Soziallehre hat immer den vor12

vgl. Kommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (2. Aufl. 1947), S. 49/50. 13 vgl. /. F. Stahl, Die Philosophie des Rechts (2. Aufl. 1845/1846), S. 77. 14 vgl. Stahl, aaO., S. 79/80. 15 vgl. Stahl, aaO., S. 165, 244, 247 16 vgl. Stahl, aaO., S. 93. In stark abgeschwächter Form finden sich derartige Gedankengänge auch in der Sozialphilosophie E. Brunners, vgl. dessen „Gerechtigkeit" (1943). Auch die von Emge in: Sicherheit und Gerechtigkeit (1940), S. 28 vertretene Auffassung, daß Gerechtigkeit herrsche, wenn jeder seinem Wesen gemäß handele, setzt einen solchen „ordo rerum" im Grunde voraus. 17 Bei Thomas handelt es sich dabei um die conclusiones und determinationes zu den Naturgrundsätzen vgl. Summe, 2.1. Q. 94.4; 95.4.

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läufigen und den Not-Charakter der sozialen Einrichtungen betont. Staat und Recht erscheinen hier nicht als Ausdruck einer ewigen Seinsordnung, sondern als Noteinrichtung im Aon des Sündenfalls. Die Lehre von dem erkennbaren Oräo des Seins wird abgelehnt, weil sie dem Irdischen eine eigene Dignität als Abbild des Göttlichen verleiht18. Dieser Gegensatz, der von grundlegender Bedeutung für die Gesamteinstellung zum Menschen ist, kann hier nicht verfolgt werden. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß die Bedeutung der Seinsordnung als Maßstab für die Gerechtigkeit auch m der christlichen Sozialphilosophie immer wieder eingegrenzt und in Zweifel gezogen ist. Die Problemgeschichte gibt hier einen Hinweis, der zur Vorsicht mahnt. Diese Vorsicht wird nun in der Tat auch von der Erfahrung bestätigt. Zwar ist die Erkenntnis der Seinszusammenhänge, der menschlichen Natur, der Gesetzlichkeit der sozialen Prozesse für die Schaffung eines gerechten Rechts unentbehrlich. Der Gesetzgeber braucht nicht nur Sachkenntnis (im Sinne der Kenntnis der vorliegenden konkreten Probleme und Interessen); er bedarf auch des allgemeinen Wissens um menschliches Verhalten, etwa auf dem Gebiet der Wirtschaft. Wo typische Einzelinteressen übersehen werden, besteht die Gefahr, daß sie sich praeter legem doch durchsetzen, das Recht also wirkungslos wird. Ein klassisches Beispiel bietet die Behandlung der Sicherungsübereignung im geltenden deutschen Recht. Das BGB kannte keine Pfandbestellung ohne Besitzübertragung. Tatsächlich wird eine solche Pfandbestellung aber immer wieder notwendig, wie u. a. auch die Rechtsgeschichte beweist19. Im modernen Geschäftsverkehr tritt vor allem ein Bedürfnis zur Benutzung von Warenbeständen als Kreditgrundlage hervor. Bei ihnen ist aber eine Übertragung des unmittelbaren Besitzes an den Pfandgläubiger ausgeschlossen, wenn der Pfandschuldner seinen Betrieb fortsetzen soll. Das Ergebnis war, daß die Sicherungsübereignung, die an und für sich eine Gesetzesumgehung darstellt, aufkam und von der Rechtssprechung akzeptiert wurde. Die Absicht des Gesetzgebers war nicht erreicht worden, weil er die Natur der Dinge unzureichend beachtet hatte. Ähnliche Beispiele ließen sich vermehren; im großen ist die rechtsbildende Tätig18

vgl. dazu etwa Tbielicke, Kirche und Öffentlichkeit (1947), S. 50 ff., insbes. S. 55. 19 vgl. etwa die Ausbildung des interdictum Salvianum im römisdien Recht.

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keit der römischen Prätoren Ausdruck dieses Gewichtes der vorhandenen Lebensinteressen gegenüber einem veralteten Gesetz. Handelt es sich hier um typische Einzelinteressen, so kann die Nichtbeachtung der Wesensgesetze von sozialen Institutionen durch das positive Recht die Gefahr sozialer Unordnung oder sozialer Fehlentwicklungen auf bestimmten Gebieten mit sich bringen. So bedarf z. B. der Staat als soziale Machtorganisation eines Behördenapparates, der fest in der Hand der Regierung ist. Andernfalls kann er die Funktionen, die ihm im sozialen Leben zufallen, nicht erfüllen. Im Beamtenkörper des Staates muß daher das Prinzip des durchgehenden Gehorsams herrschen. Dieses Prinzip kann aus Rechtsgesichtspunkten Einschränkungen erleiden; aber es darf nicht aufgehoben werden. Daher ist ein allgemeines Streikrecht der Beamten ein Unding; es muß im Ergebnis zu einer Lahmlegung des Staatsapparates durch Unverantwortliche, die neben und außerhalb der Regierung stehen, und damit zu Unordnung führen. Ebenso ist etwa die Verbindung von kirchlicher Leitung und staatlicher Regierungsgewalt in einem Lande, aber auch die völlige Verbindung des Erziehungswesens mit der staatlichen Macht bedenklich, weil das Leben des Staates als einer Machtorganisation völlig anderen Gesetzen folgt als das einer Kirche oder einer Erziehungsorganisation und die organisatorische Verbindung stets die Gefahr in sich birgt, daß der Staat die Kirche oder die Erziehung von ihren eigentlichen Aufgaben im Interesse seiner Machtorganisation ablenkt. Die Beachtung des inneren Wesens der verschiedenen Organisationen hat vor allen Dingen im öffentlichen Recht Bedeutung gewonnen und in der Lehre von den Institutionen, wie sie Hauriou entwickelt hat, Ausdruck gefunden. Wenn er sagt, daß jede institutionell gebundene öffentliche Gewalt an eine „ide'e m£re de rentreprise" gebunden und damit von selbst begrenzt sei20, so ist damit eben der in der Natur der Sache liegende Organisationszweck, ihr inneres Wesensgesetz, gemeint, dem sich die rechtliche Ausgestaltung anpassen muß. Die Lehre von der Institution in diesem Sinn gehört in den Bereich der Gesamtlehre von der Natur der Sache. Noch deutlicher — und in ihren Auswirkungen für das soziale Leben noch bedrohlicher — zeigt sich die Gefahr, die in der Nichtbeachtung der „Natur der Sache" durch das Recht liegt, dann, wenn die Rechtsordnung den Versuch macht, an und für sich legitime Ten-

20

vgl. Droic administratif (11. Aufl. 1927), S. 4l.

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denzen des Menschen dauernd zu unterdrücken21. Sie stellt den einzelnen dann dauernd vor die Wahl, entweder sehr starke und normalerweise auch vom Recht geschützte Interessen aufzugeben oder ungesetzlich zu handeln. Praktisch treibt sie ihn damit regelmäßig in die Illegalität. Ein solcher Zustand bestand z. B. in Deutschland gegen Ende des letzten Krieges, als der kommende Zusammenbruch vor aller Augen lag, trotzdem aber nicht nur die Feststellung dieser Tatsache, sondern auch jede Sicherungsmaßnahme, z. B. Vorbereitung der Flucht aus bedrohten Gebieten seitens der zivilen Bevölkerung oder sichlich notwendiger Rückzugsoperationen der militärischen Führung, unter Strafe verboten waren. Ähnlich wirkte nach dem Kriege während der sogen, „aufgestauten Inflation" die vom Recht erzwungene Aufrechterhaltung der Fiktion des Geldwertes und das Verbot des Warentausches. Das an und für sich legitime Bestreben, für die veräußerte Ware einen wirklichen Gegenwert zu erhalten, war nun plötzlich unter Strafe gestellt. In solchen Fällen zwingt das Recht den Menschen zu einem dauernden Widerspruch mit sich selbst22. Auf die Dauer läßt sich das regelmäßig nicht aufrechterhalten: die illegalen Handlungen werden immer zahlreicher, nehmen schließlich derartig überhand, daß die gesetzliche Strafe, wenn sie einmal ausgesprochen wird, als Willkür wirkt, die Richter (unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit vor dem Gesetz) in schwere innere Konflikte geraten und die Autorität des Rechts schweren Schaden nimmt23. — Nichts wäre also falscher, als die Bedeutung der „Natur der Sache" übersehen zu wollen. Ohne sie zu beachten, kann eine gerechte Ordnung nie geschaffen werden. Wir müssen, nach einem treffenden Ausdruck Franz Böhms, in die Dinge hineinhorchen, ehe wir daran gehen, sie zu ordnen. Was wir aber aus der Betrachtung der „Natur der Sache" selbst nicht gewinnen können, ist die Einsicht in eine geschlossene Ordnung. Selbst bei Einzelproblemen ist dies nicht möglich. Zitelmann hat versucht, eine rechtliche Regelung des Irrtums im wesentlichen aus den psychologischen Sachverhalten abzuleiten: aber der Versuch ist gescheitert. Die Natur der Sache bietet uns also Ordnungselemente, *: vgl. auch die Bemerkungen E. Hubers über die „neutrale" Haltung des Gesetzgebers zu den Eigenarten des Menschen: Recht und Rechtsverwirklichung (2. Aufl. 1925), S. 293. 22 vgl. Veit, Geldreform und Geldverfassung (1948), S. 9. 28 vgl. über ähnliche Folgen der Wirtschaftsgesetzgebung im 1. Weltkrieg und der Prohibitionsgesetzgebung in Amerika Exner, Kriminalbiologie in ihren Grundzügen (2. Aufl. 1944), S. 124/125.

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aber keine Ordnung selbst. Ihre Betrachtung führt zu der Erkenntnis, daß der Stoff, mit dem es die Rechtsordnung zu tun hat, das soziale Leben, keine völlig ungeformte Masse ist, sondern schon gewisse Strukturen aufweist, an welche die rechtliche Ordnung anknüpfen kann und muß. Aber die Feststellung dieser Strukturen enthebt uns nicht der Aufgabe, selbst wertend und ordnend einzugreifen. Sie macht die ordnende Tat der Rechtssetzung nicht unnötig. Ja im Gegenteil, erst wenn wir wertend an die Sachverhalte herantreten, treten die Strukturen, die mit der Natur der Sache gemeint sind, deutlich hervor und erhalten ihre Relevanz24. Das wird schon bei der Behandlung des Menschen im Recht deutlich. Gewiß soll das Recht den Menschen zunächst einmal nehmen, wie er ist und mit allen seinen Eigenschaften rechnen. Aber es kann dabei nicht stehen bleiben. Es kann nicht allen Instinkten und Leidenschaften des Menschen einfach freie Bahn lassen. Es muß vielmehr einzelne Eigenschaften eindämmen, andere fördern und doch gelten lassen. Dazu muß es werten. Es stellt auch gewisse Ansprüche an den Menschen. Es verlangt von ihm, daß er sich nicht gehen läßt und macht ihn verantwortlich, wenn er nicht sittlich beherrscht und vernünftig — entsprechend den Kulturnormen, um M. E. Mayers Ausdruck zu verwenden — handelt. Der Schuldbegriff der Fahrlässigkeit ist der Ausdruck solcher Anforderungen der Rechtsgemeinschaft an den Rechtsgenossen. Die Notwendigkeit der Wertung zeigt sich weiter bei der Einzelabgrenzung, dem, was im Sinne des Thomismus als „determinatio" bezeichnet werden kann. Nehmen wir wieder das Beispiel des Pfandrechts. Die Betrachtung der Natur der Sache zeigt uns die typischen Interessen, die in Frage stehen, und die Beschaffenheit der Gegenstände, die in Betracht kommen. Sie zeigt uns etwa das Interesse des Schuldners daran, seine Sachwerte möglichst vollständig zur Kreditgewinnung auszunutzen, das entgegengesetzte des Gläubigers, eine möglichst reichliche Sicherung zu erhalten usw. Nun müssen diese Interessen aber im einzelnen durch eine praktikable Regelung abgegrenzt werden: das bedarf der Entscheidung, und zwar der Entscheidung unter bestimmten Wertgesichtspunkten. Es mag dafür sachlich nur eine beschränkte Anzahl von Lösungen geben; immerhin, eine muß gewählt werden. Noch deutlicher tritt der fragmentarische Charakter der Strukturen, die in der Sache selbst liegen, da hervor, wo zwei Lebensbereiche 24

vgl. dazu Stratenwerth, Das reditstheoretisdie Problem der Natur der Sache (1957).

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im sozialen Leben aufeinanderstoßen, z. B. Machtstreben und Erkenntnisverlangen, oder politisches Wollen und religiöse Überzeugungen. Der Staat hält aus Gründen der Staatsraison die Äußerung bestimmter historischer oder nationalökonomischer Einsichten für unerwünscht; er verbietet sie. Oder er hält es aus Gründen der politischen Machtbildung für zweckmäßig, wenn ein einheitlicher Bekenntnisstand herrscht. Man denke an den Grundsatz cuius regio eius religio. Beide Anliegen können vom Standpunkt der politischen Macht her durchaus berechtigt sein. Darf er nun die Wahrheit unterdrücken, die Glaubeiisüberzeugung mißachten? Auf solche Fragen kann die Antwort nur durch eine sittliche Enticbcidung gefunden werden, die ihrerseits auf eine bestimmte Wertung zurückgeht. Die Natur der Sache, sofern wir sie als bloße Eigenschaft der Dinge und des Menschen, als Eigengesetzlichkeit der sozialen Prozesse auffassen, läßt uns hier im Stich. Wir werden von neuem auf Wertungen zurückverwiesen. Daß dem tatsächlich so ist, kann noch von einer anderen Frage her deutlich gemacht werden; es ist das Problem, wann Differenzierungen im Recht „sachlich gerechtfertigt" sind. Betrachten wir zu diesem Zweck eine Reihe von geläufigen rechtlichen Unterscheidungen: a) Ein Vertrag, den ein Kind schließt, ist rechtlich anders zu behandeln als ein Vertrag, den ein Erwachsener schließt. b) Bewegliche Sachen und Grundstücke werden hinsichtlich der Besitzübergabe verschieden behandelt; die Verfügung über Grundstücke ist im Gegensatz zu der über bewegliche Sachen häufig erschwert, z. B. an behördliche Genehmigungen gebunden. c) Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung ... in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Notstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für L.eib oder Leben des Täters ... begangen worden ist (Notstand). d) Ein Staat schließt alle, die nicht der weißen Rasse angehören, von jedem Staatsamt aus. Die Differenzierung in a) ergibt sich, wie schon erörtert, aus der Natur der Sache. Das gleiche gilt von der unterschiedlichen Behandlung beweglicher oder unbeweglicher Sachen, soweit die Form der ßesitzübergabe in Frage steht. Dagegen hängt die Genehmigungspflicht bei Verfügungen über Grundstücke schon mit einer Bewertung — freilich nicht mit einer moralischen — zusammen. Grundbesitz iilt als ökonomisch wertvoller und sicherer.

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Die besondere Behandlung der Notstandshandlung geht auf die „Natur der Sache" insofern zurück, als man dem starken Selbsterhaltungstrieb des Menschen Rechnung trägt. Da bei Vorliegen eines Notstandes der Mensch nicht anders kann, als entweder selbst Schaden an Leib und Seele zu nehmen oder ein fremdes Rechtsgut zu verletzen, so soll er nicht bestraft werden. Die Natur der Sache begründet also die Sonderbehandlung des Notstandes. Aber inwieweit der Gesetzgeber nun in den Rechtsfolgen von den normalerweise geltenden Regeln abweichen will, das ist wiederum eine Bewertungsfrage. Das letzte Beispiel zeigt eine Unterscheidung, die sich rein auf eine Bewertung stützt. Die farbige Rasse wird niedriger bewertet. Ob das berechtigt ist, läßt sich ohne Werturteil nicht entscheiden. Die Beispiele zeigen, daß rechtliche Unterschiede nicht rein aus den unterschiedlichen sachlichen Eigenschaften der Dinge selbst folgen, daß wir vielmehr immer wieder auf Wertfragen stoßen, auch wenn wir der „Natur der Sache" nachgehen. Diese Erkenntnis wird bestätigt durch die Erfahrungen, welche die Schweizer Rechtsprechung bei der Anwendung des Gleichheitssatzes gemacht hat. Die Schweizer Verfassung garantiert die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 4) und gibt jedem Bürger die Möglichkeit, ihn betreffende Hoheitsakte daraufhin nachprüfen zu lassen, ob der Gleichheitsgedanke verletzt ist (Art. 113). Die Rechtsprechung ging zunächst davon aus, daß nur Unterschiede im Tatbestande Unterscheidungen rechtfertigen. Aber sehr bald stellte sie fest, daß auch gewisse Wertungen zu berücksichtigen seien. Sie hat sich dabei an die fundamentalen Rechtsanschauungen gehalten, die in der Verfassung selbst zum Ausdruck gekommen waren25. Sollen rechtliche Regeln geschaffen werden, so müssen also Entscheidungen getroffen werden.

II. Bei der Entscheidung über eine rechtliche Regel sind die Wertvorstellungen desjenigen, der sie trifft, von wesentlicher Bedeutung. Es sind nicht, wie z. B. die Interessenjurisprudenz meint, die überwiegenden Interessen, die die Entscheidung bestimmen; es sind die Werte, aus welchen eine Regel für den Interessenkonflikt gebildet wird. Dies gilt für den Gesetzgeber und seine Berater ebenso wie für den Richter, der in einer Entscheidung eine Lösung für ein gesetzlich nicht geregeltes Problem erläßt (precedent)1. 25

vgl. Aldag, Die Gleichheit vor dem Gesetz in der Reichsverfassung (1925), S.22-43. 1 vgl. dazu Starck, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das positive Recht, in: ARSP, Beiheft 44 (1991), S. 376. Kriele, Kriterien der Gerechtigkeit, 1963.

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1. Hier ist nun zuerst an den Wert „Gerechtigkeit" zu denken.

Es ist nicht einfach, eine allgemeine Definition für den Wert „Gerechtigkeit" zu entwickeln. Aus der Antike sind uns einige Bestimmungen überliefert. Ulpion (D 1.1.10) sagt: „Justitia est constans et perpetua voluntas, ius suum cuique tribuendi. Juris praecepta sunt haec honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere." Im antiken Griechenland hat man unter einem gerechten Mann zunächst nur denjenigen verstanden, der seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt ( ' . ). Es ist der korrekte Mann, der die Rechte seines Vertragspartners respektiert. Er hält seinen Vertrag ein: er leistet das Versprochene. Aristoteles hat diese Form gerechten Verhaltens geschildert2: sie ist später als justitia commutativa bezeichnet worden. Dieser justitia commutativa ist dann der sehr viel allgemeinere Begriff der justitia distributiva gegenübergestellt worden; danach besteht die Gerechtigkeit darin, daß man jedem Menschen zuteilt, was ihm zusteht (ius suum cuique tribuere). Dafür bedarf man dann aber eines allgemeinen Maßstabes3. Die Schwierigkeit, den Begriff der Gerechtigkeit allgemein zu definieren, liegt darin, daß auch bei diesem Wert, wie bei vielen, ein Verhalten in einer bestimmten Situation gemeint ist. Perelman hat dargelegt, daß eine solche allgemeine Bestimmung nur „formal" sein könnte. Er meint, Gerechtigkeit sei „ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe Art und Weise behandelt werden müssen."5 Sehr viel deutlicher erscheint das Wesen der Gerechtigkeit daher, wenn man gerechtes Handeln in einer bestimmten Situation ins Auge faßt, etwa die Pflichten, die sich aus ihr für den Richter ergeben. Der Richter soll unparteiisch sein. Er soll beide Parteien hören und damit beide respektieren. Seine Einstellung soll objektiv sein, d.h. auf die Sache, auf die Erkenntnis des Sachverhaltes gerichtet sein. Vergleichbar einem Historiker soll er leidenschaftslos erforschen, was sich wirklich ereignet hat. Auf der Grundlage dieser Ermittlungen der Fakten soll er dann das Recht ohne Rücksicht auf die Parteien anwenden. Seiner persönlichen Einstellung zu den streitenden Parteien darf er keinen Einfluß auf sein Urteil einräumen. In diesem Sinne ist die Justitia blind. Sie trägt eine Binde vor den Augen, weil sie nicht sehen will, um wen es sich bei den Streitparteien handelt. Der Richter soll die Verhandlung ruhig und leidenschaftslos führen. Ein zorniger, selbstherrlicher oder gar willkürlich urteilender Richter 2

vgl. Nikomachische Ethik V. 2.12. Perelman hat in seiner Schrift „Über die Gerechtigkeit" — Ausgabe München 1967, S. 16, dafür verschiedene Gesichtspunkte entwickelt. 5 L.c. p. 28. 3

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entspricht nicht der Vorstellung, die wir uns von einem gerechten Richter machen. In diesem Bild treten bereits eine Reihe von Zügen der Gerechtigkeit hervor, die auch für das gerechte Verhalten in anderen Situationen kennzeichnend sind. 2. Die Lage, in der sich derjenige befindet, der eine allgemeine Norm ausarbeitet und in Kraft setzt, ist von der eben geschilderten eines Richters verschieden. Der Richter entscheidet in der Regel den vor ihm liegenden Fall nach vorhandenen objektiven Normen, an die er gebunden ist. Nur wenn weder die Gesetze noch vorhandene „Precedents" eine entsprechende Norm enthalten, muß er selbst eine Norm entwickeln; dabei kann er aber meistens auch auf den Geist der gesetzlichen Normen zurückgreifen. Der Richter hat also die Gerechtigkeitsmaßstäbe für seine Entscheidung in den vorhandenen Normen. Anders ist die Lage des Gesetzgebers: er muß die Norm ja erst schaffen. Er muß seine Entscheidung unmittelbar aus der Gerechtigkeit entwickeln. Dies bedeutet aber nicht, daß es ihm völlig an Maßstäben fehlt. Er muß sachgemäß und in Achtung vor den, von der zu erlassenden Norm betroffenen Personen entscheiden. Sachgemäß bedeutet, daß er die Situation, die geregelt werden soll, genau erforscht; dabei sind insbesondere die eventuell unterschiedlichen Interessen der Betroffenen zu untersuchen, ebenso die Folgen, die bei der einen oder anderen Form der Entscheidung für sie eintreten6. Die Achtung vor den betroffenen Menschen, ihren Interessen und den bereits vorhandenen Rechten ist von der Gerechtigkeit gefordert. Der Gesetzgeber soll nicht willkürlich und sachwidrig entscheiden; er soll nicht einseitig für die Interessen einer Gruppe der Betroffenen Partei nehmen. Insofern treffen ihn ähnliche Pflichten wie den Richter. Zum Maßstab der Gerechtigkeit tritt hier ein anderer Wert: die Menschenwürde. Die Achtung vor der Menschenwürde bedeutet im Recht zunächst, daß es die körperliche Verletzung oder gar die Tötung eines Menschen nicht zuläßt, daß es sein Leben schützt. Das entspricht der alten Forderung „neminem laedere". Sie bedeutet aber auch, daß das Recht den Menschen auch als ein geistiges Wesen respektiert, daß ihm die Möglichkeit gegeben wird, sein Leben selbst zu gestalten, es aus seiner Persönlichkeit zu bestimmen. Bergson hat es so formuliert: „Nous sommes libres, quand nos actes emanent de notre personnalite entiere7." 6

Diesen Gesichtspunkt haben vor allem Bentham und seine Nachfolger sehr mit Recht hervorgehoben. 7 Bergson, Essai sur les donnees immediates de la conscience; 9. Aufl., 1911, S. 129.

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Die Selbstgestaltung des Lebens bedeutet u. a., daß der Mensch bestimmen kann, in welchem Land, an welchem On er leben will, daß er seinen Beruf und damit seinen Arbeits- und Wirkungskreis bestimmen kann. Sie betrifft aber auch das innere Leben, also wie der einzelne seinem Dasein Sinn und Inhalt gibt, etwa sein Bekenntnis zu einer bestimmten Religion oder Weltanschauung. In der Rechtsgestaltung bedeutet dies, daß die Rechtsordnung dem Rechtsgenossen gewisse Freiheiten gewähren muß. Dies ist in der europäischen Rechtskultur auch schon seit der Antike so gewesen; aber es waren nicht alle Menschen Rechtsgenossen. In der Antike galt dies vor allem für die Sklaven. Erst die Aufklärung hat den Gedanken der Menschenrechte durchgesetzt. Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte sagt: „La liberte consiste ä pouvoir faire tout ce que ne nuit ä autrui." Damit ist neben den Gedanken der rechtlichen Freiheit derjenige der Gleichheit getreten. Freiheit und Gleichheit sind damit die Maßstäbe geworden, die bei der Rechtssetzung zu beachten sind. 3. Es ist nun zu untersuchen, was diese Gesichtspunkte in den Gebieten, welche die wesentlichen Teile der Rechtsordnung bilden, bedeuten. Im Privatrecht tritt zunächst der Gedanke der Freiheit im Prinzip der Privatautonomie hervor. Flume hat formuliert: „Privatautonomie nennt man das Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen. Die Privatautonomie ist ein Teil des allgemeinen Prinzips der Selbstbestimmung des Menschen8." Die Privatautonomie erlaubt dem einzelnen, Rechtsbeziehungen zu anderen durch Verträge zu regeln, die Erbfolge zu bestimmen, eine Familie zu gründen, Institutionen zu schaffen oder ihnen beizutreten. Sie ist weitgehend Grundlage des privaten Rechts. Dieses stellt für die Gestaltung der Verhältnisse im einzelnen bestimmte Möglichkeiten zur Verfügung, beschränkt aber die Freiheit des einzelnen nur in begrenztem Umfang, etwa durch die Beachtung der guten Sitten oder Verbote, welche die Interessen von Mitbürgern schützen. Das Privatrecht ist aber auch durch ein zweites Prinzip bestimmt, das sich aus der Gerechtigkeit und der Achtung der Menschen wieder ableitet; das „neminem laedere", das Verbot, das Leben, den Körper oder die Rechte eines anderen zu verletzen. Wie auch immer in den positiven Rechtssystemen dieser Schutz gestaltet sein mag, durch dingliche Klagen oder Deliktsansprüche, das Privatrecht stellt jedenfalls Mittel dafür zur Verfügung. Schließlich folgt das Privatrecht in seinen Regeln über Verträge der justitia commutativa. Es greift hier in der Gerechtigkeit auch der ethische Wert der Treue ein. Verträge sollen ohne Zwang und Betrug geschlossen 8

Flume, Allgemeiner Teil II, 3. Aufl., S. 1.

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werden; sie sollen nach Treu und Glauben erfüllt werden. Auch Ausgleichsansprüche, wie sie etwa aus der ungerechtfertigten Bereicherung oder aus Geschäftsführung ohne Auftrag entstehen, gehören hierher — wie sie auch immer technisch gestaltet sein mögen. Das Strafrecht folgt Prinzipien der justitia distributiva. Die Schwere der Strafe soll der Schwere der Verbrechenstat entsprechen; dies gilt für die allgemeine gesetzliche Regelung ebenso wie für die Verurteilung im einzelnen Fall. Der Rechtsstaat fordert sodann die folgenden Prinzipien: nidld poena sine lege;

keine echte Strafe ohne Verschulden des Täters; keine Bestrafung ohne entsprechende Norm zur Zeit der Tat. Im öffentlichen Recht geht es zunächst um das Verhältnis von Staat und Recht. Der Staat, wie wir ihn kennen, ist erst eine Bildung der Neuzeit. Jakob Burckhardt hat ihn als Schöpfung der italienischen Renaissance aufgefaßt und in glanzvoller Darstellung als berechnete, bewußte Schöpfung des Geistes, als Kunstwerk geschildert9. Als charakteristische Züge des neuen Gebildes hat er im Innern den wohlgeordneten Zentralismus von Verwaltung, Justiz und Polizei, das rationale Steuersystem, die Schaffung eines einheitlichen Untertanenverbandes geschildert, in der Außenpolitik die rationale Sicherung und Ausweitung des einmal errichteten Staatswesens durch kluge Berechnung und Ausnutzung der vorhandenen Möglichkeit, durch rationale Argumentation in der Unterhandlung mit den anderen Mächten, aber auch durch Anwendung von Gewalt. Im ganzen hebt er die völlig objektive Beurteilung und Behandlung der Menschen und Dinge hervor, ohne Vorurteile, aber auch ohne ethische Hemmung. Die moderne Forschung hat dieses Bild im wesentlichen bestätigt, neigt allerdings dazu, gegenüber Italien eher die Bedeutung der Großstaaten, insbes. Spaniens hervorzuheben10. Einigkeit besteht aber darin, daß der moderne Staat sich durch die Monopolisierung der Gewalt und durch seine schlagkräftige, überpersönliche Organisation, seine verändernde reformierende Energie in Gesetzgebung und Verwaltung, durch die Herstellung einer echten Entscheidungseinheit in der Souveränität gegenüber politischen Gebilden anderer Art, insbes. der Lehnsherrschaft des Mittelalters deutlich abhebt11. Manche Autoren gehen so weit, die Bezeichnung Staat auf die moderne Erscheinungsform des Staatswesens beschränken zu wollen. In der Tat haben wir in dem Wort „Staat", das erst seit dem 16. Jahrhundert aufgekommen ist, wohl ein neues Wort für 9

Jakob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (Neuausgabe 1961), I.Abschnitt: Der Staat als Kunstwerk. 10 vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre (2. Aufl. 1966), S. 14. 11 Zum Lehnsstaat vgl. insb. Otto Brunner, Land und Herrschaft (2. Aufl. 1942).

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eine neue Sache; es erscheint aber doch zweckmäßiger, angesichts der Gleichheit mancher Funktionen, z. B. der Herstellung der Entscheidungseinheit, der Sicherung nach außen und Ordnung nach innen, den Begriff des Staates weiter zu nehmen und ihm auch frühere historische Gebilde zuzuordnen, wie die antike Polis oder das römische Imperium. Es bleibt jedoch richtig, den modernen Staat als ein besonderes Phänomen von diesen anderen Formen abzugrenzen. Der moderne Staat sichert die Durchsetzung des positiven Rechts und damit den Frieden in der Gesellschaft. Das öffentliche Recht betrifft zuerst die Organisation des Staates. Sie wird weitgehend durch praktische Zwecke bestimmt. Gerechtigkeitsaspekte greifen aber ein, soweit es sich um die Begrenzung der Staatsmacht gegenüber dem Individuum handelt. Das Gleichheitsprinzip fordert, daß die Staatsverwaltung alle Betroffenen gleich behandelt; Willkür darf sie nicht bestimmen. „Freedom of men under government is to have a standing rule to live by, common to every one of that society, and made by a legislative power erected in it", sagt Locke12. Vor allem aber fordern Gerechtigkeit und Achtung der Menschenwürde, daß es keine absolute Macht des Staates über die Menschen geben darf. Der Staat kann und muß in die Freiheit des einzelnen im Gesamtinteresse eingreifen, aber stets nur in einem bestimmten, an dem Zweck der Maßnahme orientierten Umfang. Grundsätzlich muß er die Freiheit des einzelnen achten. Man könnte hier von einer justitia protectiva sprechen. Aus ihr ergeben sich die Grundrechte des Menschen, wie sie in unserer Kultur seit der Aufklärung entwickelt worden sind. Für das Prozeßrecht gelten die Grundsätze, die wir schon bei der Beschreibung der Pflichten des Richters, die sich aus der Gerechtigkeit ergeben, dargestellt haben. Damit diese erfüllt werden, muß der Richter aber unabhängig sein; ein Richter, der an Weisungen gebunden ist, kann ihnen nicht entsprechen. Der Überblick zeigt, in wie verschiedener Weise der Gedanke der Gerechtigkeit in die Gestaltung des positiven Rechts eingreift, je nach der Sachlage, welche dieses zu regeln hat. Die technische Durchführung ist ein positives Recht und ist damit noch nicht bestimmt; sie kann unterschiedlich sein. Andererseits hat uns die Rechtsvergleichung, ebenso wie die Untersuchung von Urteilen, die als Precedents neues Recht schaffen, gezeigt, daß die Möglichkeit, diese Grundsätze durchzuführen, nicht unbegrenzt ist; es gibt in der Regel in einem positiven Rechtssystem nur eine bestimmte Anzahl von technischen Lösungen, die ihnen entsprechen. 4. In der gegenwärtigen juristischen Literatur wird das Rechtssystem, das den geschilderten Forderungen entspricht — also der Verbindung von 12

Two Treatises of Government; 1690, 2. Abhandlung, Nr. 22.

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Gerechtigkeit und Menschenwürde —, das also Freiheitsrechte gewährt, gelegentlich als System des „Pluralismus" der Wertauffassungen charakterisiert13. Diese Charakterisierung ist insofern richtig, als ein solches System die Meinungsfreiheit des einzelnen als ein Grundrecht rechtlich absichert. Insofern erlaubt sie eine Vielzahl von Meinungen, auch Fragen, die für das Geistesleben außerordentlich entscheidend sind; man denke nur an die religiösen Ansichten. Trotzdem ist diese Bezeichnung unglücklich. Denn die Geltung eines an den dargestellten Werten orientierten Rechtssystems setzt eine weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich der hier im vorigen Abschnitt dargestellten Grundwerte in einer Gesellschaft voraus, so über die Menschenwürde als wichtigsten Maßstab der Gerechtigkeit, über die Gleichheit der Menschen in dieser Hinsicht, über die Vertragstreue u. ä. Der sog. „Pluralismus" der Anschauungen ist dadurch stärker begrenzt, als dieser Ausdruck erkennen läßt14.

III. Die Bedeutung der ethischen Werte für die Gestaltung des positiven Rechts, die in vorangegangenen Abschnitten erörtert worden sind, sind über Jahrhunderte in der Rechtswissenschaft unter dem Begriff „Naturrecht" erörtert worden. Ihm wenden wir uns jetzt zu. Wie es, obwohl es sich um eine Frage der Ethik handelt, zu der eigenartigen Bezeichnung Naturrecht gekommen ist, ist an früherer Stelle erörtert worden1. Die Bezeichnung ist aber, wenn man die Begriffsgeschichte nicht kennt, außerordentlich mißverständlich, weil der Ausdruck „Natur" Assoziationen erweckt, mit denen der Begriff ursprünglich gar nichts zu tun hat. In Wirklichkeit würde es sich bei Ordnungssätzen dieser Art selbstverständlich um Sätze der Ethik, also nicht um Naturrecht, sondern um Kulturrecht handeln. Außerdem ist der Terminus durch die lange Geschichte der Naturrechtsphilosophie in vielfältiger Hinsicht vorbelastet. Es ist daher problematisch, ob man die Bezeichnung wieder aufgreifen soll. Ich habe dies früher deswegen für richtig gehalten, weil der Ausdruck Naturrecht nun einmal das hier in Frage stehende Problem kennzeichnet2. Vielleicht wäre es trotzdem besser, den Ausdruck überhaupt zu vermeiden und nur von Grundsätzen der Gerechtigkeit zu sprechen, eben um den mancherlei fixen Vorstellungen, die sich mit dem 13

vgl. dazu etwa den Aufsatz von Mayer-Maly, Werte im Pluralismus, Juristische Blätter 1991, S. 681 ff. H So auch Mayer-Maly in dem zitierten Aufsatz. 1 vgl. dazu oben Kap. I Abschn. 1.4. 2 vgl. dazu meinen Vortrag: Naturrecht als wissenschaftliches Problem, hrsg. vom Steiner Verlag Wiesbaden, 1965.

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Ausdruck Naturrecht verbinden, zu entgehen. Jedenfalls möchte ich hervorheben, daß der Ausdruck hier stets im Sinne von Grundsätzen der Gerechtigkeit, wie sie im folgenden näher gekennzeichnet werden, verstanden werden soll. 1. Bei der Untersuchung des Problems, ob es konstante, d.h. überhistorisch gültige Rechtssätze geben kann, die unmittelbar aus apriorischer Werteinsicht abgeleitet werden, ergibt sich nun eine Reihe von Schwierigkeiten. Zunächst tauchen natürlich alle die Probleme auf, die mit dem Problem ethischer Erkenntnis überhaupt verbunden sind. Wenn es sich in der Ethik überhaupt nur um irrationale Gefühlsäußerungen handelt oder wenn ethische Einsichten stets nur von relativer Geltung sind, die auf Konventionen oder persönlicher Entscheidung beruhen, so ist natürlich die Annahme eines Naturrechts unmöglich. Mit diesen Schwierigkeiten haben wir uns bereits auseinandergesetzt. Bei der Frage nach dem Naturrecht kommt aber zu diesen Schwierigkeiten noch eine weitere hinzu. Es handelt sich hier um Sätze, die sich auf die soziale Ordnung beziehen. Jede soziale Ordnung aber ist entwickelt für ganz bestimmte Gemeinwesen mit bestimmten Kräfteverhältnissen und bestimmten sozialen Problemen. An diesen Kräfteverhältnissen und an diesen Problemen ist sie orientiert. Jede Rechtsordnung ist mithin situationsgebunden. An dieser Situationsgebundenheit scheint der Gedanke eines Naturrechts notwendig scheitern zu müssen. Dieses Problem hat auch die alte Naturrechtslehre nicht übersehen. Sie hat einen Ausweg zunächst darin gesucht, daß sie primäre und abgeleitete Rechtssätze unterschied und nur die obersten und allgemeinen Grundsätze zu absolut geltenden Naturrechtssätzen erklärte. Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit hat man mit den Lehren vom „hypothetischen" und vom „relativen" Naturrecht versucht. Der Gedanke des relativen Naturrechts ist vor allem in der christlichen Naturrechtslehre ausgebildet worden. Ausgangspunkt ist der Gedanke, daß die reinen ethischen Grundsätze in der Welt nach dem Sündenfall nicht vollständig durchgesetzt werden können. Sie bedürfen daher mit Rücksicht auf die sündige menschliche Natur gewisser Modifikationen. Vorbild ist dabei Christi Ausspruch über die Zulassung der Scheidung: „Mose hat Euch erlaubt zu scheiden wegen Eures Herzens Härtigkeit, von Anbeginn aber ist's nicht also gewesen" (Matth. 19.8). Dieses modifizierte, auf die Welt zugeschnittene Naturrecht ist das relative Naturrecht3. Die Lehre vom hypothetischen Naturrecht ist wesentlich eingeschränkter. Sie bezeichnet als absolutes Naturrecht die Sätze, die sich aus dem bloßen 3

vgl. dazu Troeltsch, Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, Histor. Zeitschr. 106, S. 249 ff. Die christliche Lehre konnte hier an Gedankengänge der Stoiker anknüpfen.

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Dasein des Menschen ergeben, als relativ diejenigen, die weitere Handlungen voraussetzen, z.B. die Regeln über Eigentum, Verträge usw.4. Beide Lehren stellen eine gewisse Annäherung zwischen dem allgemeinen Naturrecht und der konkreten historischen Situation her; sie lösen aber unser Problem nicht, da sie zunächst ein allgemeines Naturrecht voraussetzen. Ein anderer Lösungsversuch ist die Lehre vom „Naturrecht mit wechselndem Inhalt", welche Stammler aufgestellt hat. Stammler versteht darunter „solche Rechtssätze, die unter empirisch bedingten Verhältnissen ein theoretisch richtiges Recht enthalten."5 Das wäre also ein konkreter Rechtsinhalt, der für eine bestimmte Situation sachlich zutreffen, also naturrechtlich gültig wäre. Diese Lehre setzt jedoch voraus, daß es formale (nicht inhaltliche) Kriterien gibt, wonach man feststellen kann, ob ein konkretes Recht „theoretisch richtig" ist. Stammler hat das behauptet; aber die von ihm angegebenen Kriterien sind in Wahrheit nicht rein formal6. Schließlich könnte man geschichtsphilosophisch sagen, daß es für jede geschichtliche Epoche ein bestimmtes, für sie gültiges Naturrecht gibt, etwa das europäische Mittelalter, die Neuzeit usw. Das bedeutete dann eine Gleichsetzung des relativen Naturrechts mit den jeweils führenden Kulturgedanken7, der „Idee der Kultur in ihrer jeweiligen Ausprägung"8. Aber diese Vorstellung ist problematisch. Abgesehen von der geschichtswissenschaftlichen Unsicherheit der Abgrenzung geschichtlicher Epochen würde eine solche Auffassung zu einer so starken Relativierung der Naturrechtsidee führen9, daß sie kaum noch einen faßbaren allgemeinen Inhalt hätte. Sie würde auch keine Richtlinien des Handelns mehr geben können; denn wer entscheidet, ob nicht mit neuen Zielsetzungen eben eine neue welthistorische Epoche heraufzieht? Bekanntlich hat sich auch der Nationalsozialismus auf eine Art Naturrecht in diesem Sinne berufen10. Letzten Endes entscheidet dann der geschichtliche Erfolg über den 4

vgl. etwa Höpfner, Naturrecht (3. Aufl. Gießen 1785) §35. Ähnlich kehrt die Lehre bei fast allen gleichzeitigen Autoren wieder. — Vgl. dazu auch Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, SZ (Germ. Abt.) 56, S. 232 ff. 5 Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung (4. Aufl. 1921), S. 174. 6 vgl. oben Kap.I. Abschn. VIII. 3. c. 7 So Koschaker, Europa und das römische Recht (3. Aufl. 1958), S. 345 ff. 8 Schönfeld, Rechtsperson und Rechtsgut, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben, Festgabe II (1929), S. 202. 9 Koschaker lehnt denn auch ausdrücklich ein allgemein gültiges Naturrecht ab, aaO., S.345. 10 Dazu Riezler, Relatives und Absolutes im Recht, in: Festgabe für Wenger I (1944), S. 31.

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Charakter als Naturrecht. Als Ausdruck eines einheitlichen Naturrechts könnten diese führenden Kulturgedanken nur dem erscheinen, der, wie Hegel, in der Weltgeschichte eine planmäßige (dem menschlichen Geist nachvollziehbare) Entfaltung einer Idee nach ihren verschiedenen inhaltlichen Momenten sieht11. Solche Geschichtsauffassung bleibt aber eine Hypothese12. Außerdem würde auch diese Auffassung des Naturrechts der Tatsache der Einmaligkeit der geschichtlichen Situation nicht voll gerecht werden, da sie ein Naturrecht für ganze Epochen annimmt. Die Lösung liegt vielmehr darin, daß die Situationen des menschlichen Daseins trotz ihrer unleugbaren Einmaligkeit im einzelnen typische und wiederkehrende Elemente aufweisen. Man kann in ihnen charakteristische Züge aufzeigen, die immer wiederkehren. Typische Interessen tauchen auf; typische Beziehungen kehren wieder. Darauf beruht ja auch die Möglichkeit des positiven Rechts. Ohne sie wäre eine abstrakte, allgemeine Ordnung der sozialen Prozesse gar nicht denkbar; jeder juristische „Tatbestand" geht auf einen typischen, wiederkehrenden Sachverhalt des sozialen Lebens. Kauf, Miete, Ehe sind solche typischen Sachverhalte. Nun könnte ja aber diese durchgehende Typik auf gewisse, in sich zusammenhängende geschichtliche Epochen oder Kulturen beschränkt sein. Aber auch das ist nicht der Fall. Es gibt eine übergreifende Typik, die auch über diese Grenze hinweggeht. Eucken hat das an einem Spezialproblem in seinen grundlegenden Untersuchungen über das Verhältnis von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte aufgedeckt. Er zeigt, daß wir auch historische Wirtschaftsordnungen nur verstehen können, wenn wir sie mit Hilfe der typischen Ordnungsmodelle, wie sie die Theorie entwickelt hat, analysieren. Diese „Modelle" beruhen aber auf der Beobachtung, daß es eine gewisse Anzahl von typischen Grundformen der Wirtschaftsordnung gibt, welche in der Wirtschaftsgeschichte in den verschiedenen Zeiten und Ländern immer wiederkehren13. Die gleiche Erfahrung zeigen politische Wissenschaft und Soziologie. Sie wären ohne jene Typik als Wissenschaft gar nicht denkbar. Wir müssen also davon ausgehen, daß es typische soziale Situationen und Beziehungen gibt, die auch jenseits der Grenzen einer bestimmten Epoche oder Kultur wiederkehren. Diese Erscheinung beruht letzten Endes darauf, daß es gewisse Grundstrukturen in der Natur des Menschen und ebenso gewisse kon11

So also, daß in jeder geschichtlichen Epoche ein Teilinhalt dieser Idee sich darstellte. — So auch Schönfeld. 12 vgl. dazu Veit, Die Flucht vor der Freiheit (1947), S. 43 ff. Heimsoeth, Geschichtsphilosophie (1948), S. 9, 21/22. 13 vgl. Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie (7. Aufl. 1959), insbes. S. 52 ff.

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stante Faktoren in der Umwelt des Menschen gibt; es sind dies Strukturen, die uns als Natur der Sache entgegengetreten sind. Damit besteht aber auch die Möglichkeit, die Anforderungen, die sich aus Werten ergeben, im Hinblick auf solche typischen Situationen in Grundsätzen festzuhalten. Insoweit steht also die Situationsgebundenheit des Rechts der Möglichkeit naturrechtlicher Prinzipien nicht entgegen. Die Tatsache, daß wir die Anforderungen ethischer Werte immer nur in bezug auf Situationen begreifen können, erweist sich jetzt sogar der Ableitung von Rechtsgrundsätzen günstig. Denn sie ergibt die Möglichkeit, aus einem ethischen Wen ein bestimmtes Verhalten als sittlich gefordert abzuleiten und, umgekehrt, ein entgegengesetztes Verhalten als sittlich verboten zu bezeichnen. Jedem Wert entspricht ein Unwert, der Gerechtigkeit die Willkür, der Treue die Untreue usw. Auch diese Unwerte werden durch ein bestimmtes Verhalten erfüllt. Damit ergibt sich die Möglichkeit, nicht nur positive Sätze aufzustellen, die ein bestimmtes Verhalten gebieten, sondern auch Verbotssätze, welche ein bestimmtes Verhalten in jedem Falle der Rechtsidee widersprechend ausschließen. Für die Rechtsbildung ist dies von großer Bedeutung; man denke nur an die Dolus-Sätze oder die Verbote des Dekalogs. 2. Aber wenn infolge der Typik der Situationen es auch möglich ist, zu überhistorisch geltenden Sätzen zu kommen, so liegt darin doch auch eine erhebliche Begrenzung. a) Die Sätze, die sich aus ethischen Werten im Hinblick auf typische Situationen und unter Berücksichtigung der in der Natur der Sache uns entgegentretenden Strukturen entwickeln lassen, werden notwendig einen gewissen Grad der Abstraktheit behalten. Sie werden daher wohl Ausgangspunkt einer konkreten positiven Ordnung sein können, aber sich nie zu einer vollkommenen, geschlossenen entwickeln lassen. Auch ist eine mechanische Ableitung konkreter Rechtssätze im Wege des Syllogismus kaum möglich. Erst die genaue Analyse der konkreten Situation kann die Verbindung der spezifischen Probleme, vor denen ein Richter oder ein Gesetzgeber steht, zu den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit herstellen. Ich erwähne etwa als Beispiel die Erfassung der Regeln über die sog. Gefährdungshaftung. Heute ist die Einsicht wohl herrschende Lehre, daß es sich bei der Gefährdungshaftung um eine Anwendung des Satzes der distributiven Gerechtigkeit handelt, wonach denjenigen die Haftung für Schäden treffen soll, die aus einem bestimmten technischen, mit Gefahr verbundenen Betriebe herstammen, der die wirtschaftlichen Vorteile dieses technischen Betriebes genießt und in der Lage ist, die Gefahren, wenn nicht zu beherrschen, so doch jedenfalls einzugrenzen. Aber diese Verbindung ergab sich nicht von selbst, als das Problem im 19. Jahrhundert zuerst auftauchte. Sie hat sich erst in langem Ringen mit bestimmten praktischen Problemen ergeben.

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b) Die Sätze, die sich auf die gekennzeichnete Weise ergeben, sind auch niemals vollständig oder abschließend. Sie sind es genausowenig wie ethische Einsicht überhaupt. Bei der Gerechtigkeit hat sich uns diese Offenheit oder Unabgeschlossenheit unserer Werteinsicht, insbes. in der Frage der Maßstäbe gezeigt. Die Grundsätze der Gerechtigkeit, die sich entwickeln lassen, geben uns daher immer nur Elemente der Ordnung, Teilstrukturen, und schließen sich nicht zu einem vollständigen, anwendbaren System zusammen. 3. Die klassische Naturrechtslehre der Antike hat das Naturrecht als Diktat der rechten Vernunft und als Einsicht in das Weltgesetz, die „lex aeterna" betrachtet. Die scholastische Lehre hat zwar diese Lehre im Prinzipiellen akzeptiert, aber in ihren Konsequenzen doch erheblich eingeschränkt. Demgegenüber hat die Berufung auf das Naturrecht das eigentümliche Pathos, das aus jener Lehre von der lex aeterna stammt, nie verloren. Daher ist es meines Erachtens notwendig, in der Richtung jener Einschränkung, die die Scholastik bereits getroffen hat, weiterzugehen. Der Ausgangspunkt eines Satzes der Gerechtigkeit ist allerdings eine a priori gegebene Werteinsicht. Aber wenn wir über die Umschreibung des reinen Wertinhaltes hinaus zu rechtlichen Prinzipien fortschreiten, können wir dies nicht tun, ohne empirische Daten aufzunehmen. Was wir von der Natur der Sache wissen, stammt aus unserer Erfahrung. Was wir von den Grundsituationen der Gesellschaft, etwa den Eigenarten des Über- und Unterordnungsverhältnisses wissen, ist ebenfalls Empirie. Die Grundsätze, die wir aufgrund solcher Erfahrungen entwickeln können, sind also nicht insgesamt a priori, sondern enthalten mehr oder weniger auch Erfahrungselemente. So ist z. B. das Prinzip: jede Macht über Menschen muß beschränkt sein, das man als einen solchen Grundsatz der Gerechtigkeit bezeichnen kann, zwar in seinem Ausgangspunkt a priori begründet, nämlich in der Würde des Menschen. Darauf gründet sich das Postulat, daß die Freiheit des Bürgers gesichert werden muß. Daß nun aber daraus gefolgert wird, daß bestimmte Machtverhältnisse eingegrenzt werden müssen, ergibt sich erst, wenn wir die Erfahrung hinzunehmen, daß die Menschen geneigt sind, Machtstellungen zu mißbrauchen und ungebührend auszudehnen. Es ist charakteristisch, daß Montesquieu da, wo er den Schutz der Freiheit gegenüber der Macht begründet, sich auch ausdrücklich auf die Erfahrung beruft: „C'est une experience eternelle que tout homme, qui a du pouvoir est porte ä en abuser. 11 va jusqu'ä ce qu'il trouve des limites."14 Wir können also nicht sagen, daß die Grundsätze der Gerechtigkeit als ganze Sätze von apriorischer Natur sind. Es handelt sich vielmehr um 14

Montesquieu, De l'esprit des lois, Buch XI Kap. 4.

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Sätze, die aus apriorischer Werteinsicht und Erfahrung entwickelt worden sind. Das bedeutet nun freilich, daß unter Umständen solche Sätze auch durch neue Erfahrungen berichtigt werden können. Lange Zeit hat es z. B. aufgrund von Erfahrungen geradezu als Axiom gegolten, daß die staatliche Einheit auch die religiöse Einheit fördere, ja daß überhaupt individuelle Freiheit und staatliche Ordnung im Grunde unvereinbar seien. Die Erfahrungen, die in dieser Hinsicht die antiken Stadtrepubliken gemacht hatten, schienen nur für kleinere Gemeinwesen Geltung zu besitzen. Erst die Entwicklung des modernen Verfassungsstaates hat gezeigt, daß Ordnung und Freiheit überhaupt vereinbar sind. Erst recht gilt diese Einschränkung natürlich dann, wenn es sich um bestimmte Institutionen handelt; etwa die Einschränkung vorhandener Macht durch ein System unabhängiger Gerichte. Vielleicht sind andere Institutionen denkbar, die den gleichen Zweck erfüllen, aber dafür fehlt uns Erfahrung. Sind also die entwickelbaren Grundsätze der Gerechtigkeit nicht vollkommen a priori gegeben, so muß doch noch einmal unterstrichen werden, daß sie auf rationale Weise entwickelt sind. Die in ihnen zugrunde gelegten Erfahrungen sind rational festgestellt und analysiert. Es handelt sich also nicht um irrationale Behauptungen, sondern jeder Satz ist aus einer Wertanalyse und aus vorhandener Erfahrung rational zu begründen, wenn auch nicht mit der Sicherheit mathematischer Deduktionen abzuleiten15. 4. Da die Erfahrung, und zwar die Erfahrung mit bestimmten Sätzen und Institutionen, in der Praxis von entscheidender Bedeutung ist, ist die Erkenntnis der Gerechtigkeitssätze nicht eigentlich Sache der Spekulation, sondern — sehr im Gegensatz zur Praxis und Auffassung des 18. Jahrhunderts — Sache der praktischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Die eigentlichen Erforscher dieser Region sind die Praktiker, die Gesetzgeber und Richter, die seit Jahrtausenden immer von neuem versucht haben, zu erkennen, was — im Einzelfall oder im allgemeinen — gerecht und sachgemäß wäre. Jedes gelungene, d. h. an der Gerechtigkeit orientierte Gesetz, jedes sachgemäße Urteil ist zugleich ein Stück erkanntes und positiviertes Naturrecht. Die Naturrechtslehre hat aus ihren Erkenntnissen im großen und ganzen nur die Summe gezogen. Das ist ein durchaus legitimes Verfahren. Die Naturrechtslehre wird immer in Rechnung ziehen müssen, was, sei es das positive Recht, sei es die philosophisch-ethische Forschung bereits an Naturrecht erkannt hat. Insofern ist 15

Auf diesen Zusammenhang des empirischen und rationalen Moments hat insbes. Kriele aufmerksam gemacht, vgl. Kriterien der Gerechtigkeit (1963), S. 79.

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die Naturrechtslehre in berechtigter Weise auch rückwärts gewandt und an der Vergangenheit orientiert. Ihre Aufgabe ist vor allem, diese gesammelte Erkenntnis auf ihren bleibenden Gehalt zu prüfen, indem sie ihn mit den Forderungen der Rechtsidee vergleicht, und die Einzelerkenntnisse zusammenzuschließen. Damit ist zugleich gesagt, daß sie diesen Bereich nicht erschöpfend darstellen kann. 5. Daher ist es auch grundsätzlich falsch, Naturrecht und positives Recht völlig auseinanderzureißen: jenes den Sternen, dies der Erde zuzuweisen. Nein, das Naturrecht lebt — was übrigens schon Aristoteles erkannt und gelehrt hat16 — gerade im positiven Recht. Dieses leitet gerade daraus, daß es Sätze der Gerechtigkeit aufgenommen hat, seine innere Autorität ab, die für seine Geltung genauso notwendig ist wie der Befehl des Gesetzgebers. Freilich gibt es nicht nur die Übereinstimmung zwischen Naturrecht und positivem Recht; es gibt auch das Problem des Widerspruches zwischen beiden. Kein ethischer Satz zwingt automatisch. Stets besteht gegenüber ihm die Freiheit, sich anders und gegen ihn zu entscheiden. Für die Sätze des Naturrechts gilt nichts anderes. Autorität und Geltung der Regeln des Naturrechts sind moralischer Art. Ihre Geltung reicht soweit wie die Geltung der sittlichen Werte, von denen sie abgeleitet sind. Die Macht des Staates steht ihnen nicht zur Seite. Sie können nur an das Gewissen appellieren. Insofern richten sie sich aber an jeden einzelnen. Die Sanktion des Naturrechts ist nicht staatlicher Zwang, sondern moralischer Aufruf zum Widerstand aktiver oder passiver Natur. Das naturrechtswidrige Gesetz ist moralisch unverbindlich. Hier taucht nun die schwere Frage auf, ob das Naturrecht zum gewaltsamen Widerstand berechtige oder sogar verpflichte. Es ist das Problem des Rechts zur Revolution, das in der politischen Geistesgeschichte eine so große Rolle gespielt hat; man denke nur an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung17, aber auch an die mittelalterliche Lehre vom Widerstandsrecht. Das Problematische dieser Lehre ist, daß hier das Recht, dessen erstes Ziel doch der Friede ist, selbst zur Gewalt und Selbsthilfe auffordert. Die Friedens- und die ethische Tendenz im Recht geraten in Widerspruch. Es ist deshalb notwendig, auf das grundsätzliche Verhältnis von Recht und Zwang einzugehen. Das Recht steht als öffentliche Ordnung mit dem Zwang nicht in Widerspruch; im Gegenteil, die Sicherheit der Rechtsordnung fordert die 16

Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. 10. Dazu Carl L.Becker, The Declaration of Independence, A Study in the History of Political Ideas (New York 1945). 17

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Anwendung von Zwang18; nur der Zwang kann angesichts der menschlichen Natur die sichere Geltung des Rechts gewährleisten. Das Wesen der sittlichen Werte steht dagegen mit der Anwendung von Gewalt in Widerspruch. Sie verpflichten nur zu einem ihren Forderungen entsprechenden persönlichen Verhalten. Das Naturrecbt ist zunächst die Summe der im Sittlichen wie im Sachlichen verwurzelten Grundsätze für die Gestaltung der sozialen Ordnung. Es ruft zugleich die sittliche Verpflichtung hervor, die positive Ordnung seinen Grundsätzen entsprechend zu gestalten. Diese Verpflichtung ist primär eine sittliche; sie muß daher zunächst mit moralischen Mitteln erfüllt werden. Wir sollen für eine gerechte Ordnung der Dinge nach unseren Kräften eintreten. Gegenüber naturrechtswidrigen Maßnahmen sind deshalb zunächst Gegenvorstellungen zu erheben; bewußten Verletzungen ist durch passiven Widerstand entgegenzutreten19. Der aktive Widerstand, der zur Gewalt greift, ist sittlich nicht geboten. Er ist jedoch naturrechtlich erlaubt und legitim gegenüber einer bewußt naturrechtswidrig handelnden, verbrecherischen Regierung. Er rechtfertigt sich, abgesehen vom Gesichtspunkt der Notwehr, wie der Rechtszwang überhaupt aus der Natur des Menschen, die die Erhaltung der öffentlichen Ordnung ohne jede Anwendung von Gewalt und Zwang nicht zuläßt, also letzten Endes daraus, weil das Naturrecht auf die Gestaltung der öffentlichen Ordnung gerichtet ist. Andererseits liegt es aber im Wesen des Rechts als einer Ordnung, daß aktiver Widerstand nur in äußersten Fällen gerechtfertigt sein kann. Jede Revolution setzt zunächst das Recht außer Kraft: setzt wieder Gewalt an die Stelle friedlicher Ordnung. Das bedeutet in sich stets ein großes, viele Menschen betreffendes Unglück. Daher trifft den, der eine Revolution unternimmt, eine schwere Verantwortung, und er kann den Versuch nur'wagen, wenn die Duldung der bestehenden Ordnung auch diesem Unglück für viele gegenüber unerträglich wäre. Die Verantwortung für die Aufrechterhaltung einer naturrechtlich richtigen Ordnung trifft, da es sich um eine ethisch fundierte Ordnung handelt, grundsätzlich jeden. Aber zweierlei muß beachtet werden. a) Für ein Unterlassen kann man immer nur soweit verantwortlich gemacht werden, als eine nach Einsicht und Lage des einzelnen gegebene Möglichkeit zum Handeln bestand. Es läßt sich kein abstraktes Maß des zu fordernden Widerstandes aufstellen; man muß auf die Situation des einzelnen Rücksicht nehmen. Jeder Schematismus ist hier unangebracht. 18 19

Richtig: Sterling, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe I (1877), S. 144 ff. So auch die Lehre der Stoiker, vgl. Seneca, De tranquillitate animi, Kap. 3.

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b) Man muß sich, besonders was die heutige soziale Welt angeht, darüber klar sein, daß die Technik eine ungeheure materielle Überlegenheit desjenigen, der die Regierungsgewalt in Händen hat, geschaffen hat. Die Zeiten der Hugenotten oder des englischen Bürgerkrieges, in denen die Opposition mit fast gleichen Chancen der Regierung militärisch entgegentreten konnte, sind vorbei. Das Unternehmen des aktiven Widerstandes bedeutet wohl in jedem Fall einen Gang auf Leben und Tod. Die Geschichte der deutschen Widerstandsbewegung unter Hitler zeigt es zur Genüge. Deshalb kann es nur einen Appell zum freiwilligen Kampf, aber keine positive Rechtspflicht zum Widerstand geben. Die Pflicht zum Widerstande wurzelt darin, daß das Naturrecht ethisch fundiert, seine Verwirklichung ein Gebot des Sittengesetzes ist. Ihre Erfüllung ohne Rücksicht auf die Gefahr fordert die höchste Achtung; ihre Nichterfüllung kann im Einzelfall einen sittlichen Makel begründen; aber sie begründet keine strafrechtliche Verantwortlichkeit im positivrechthchen Sinn. Nicht die Rechtsgemeinschaft, das Sittengesetz allein darf den aktiven Widerstand fordern. Der Kampf gegen eine Tyrannei ist etwas, das sich rechtlicher Regelung seinem Wesen nach entzieht. Daraus ergibt sich endlich, daß es eine Bestrafung wegen unterlassenen Widerstandes auf Grund Naturrechts nicht geben kann und auf Grund positiven Rechts nicht geben sollte. In letzterer Hinsicht steht auch der Grundsatz „nulla poena sine lege" entgegen. Dieser Satz, der Bestrafung ausschließt, wo sie nicht vor der Tat angedroht worden ist, ist selbst ein Gebot des Naturrechts. Er will Willkür ausschließen. Das Naturrecht kann im Namen der Rechtsidee vom Gehorsam gegen das positive Recht entbinden, weil das sittliche Gebot höher steht als der Gehorsam gegen die Gemeinschaft; aber es enthält keine Strafdrohungen gegen die, welche es verletzen. Seine Autorität ist moralisch, wie die der Rechtsidee selbst20. 6. Das Naturrecht ist als eine Summe von Sätzen der Gerechtigkeit zu verstehen, welche die Grundlage des positiven Kulturrechts bilden. Diese Grundsätze sind aus dem sittlichen Gehalt der Rechtsidee und der Natur der Sache im Hinblick auf bestimmte, wiederkehrende Grundsituationen und Grundsachverhalte des sozialen Lebens abgeleitet. In ihren ethischen Grundlagen apriorisch, enthalten sie empirische Momente, insoweit sie auf bestimmte Situationen bezogen sind und von bestimmten Gegebenheiten der menschlichen Natur oder der Natur der Sache ausgehen. Sie gehören der Welt des Menschen an; auf sie 20

vgl. dazu meinen Aufsatz: Zur Frage der strafrechtlichen Haftung der Richter wegen Anwendung naturrechtswidriger Gesetze, SJZ 1947, S. 61. — Die Frage führt auf das Problem, wieweit der Staat Verstöße gegen die Sittlichkeit zu ahnden hat.

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beschränkt sich ihre Geltung21. Sie bilden für uns kein geschlossenes System und keine geschlossene Ordnung, da uns die Rechtsidee nicht voll erkennbar ist. In den Naturrechtssätzen erkennen und formulieren wir einen eigenartigen Sachzusammenhang in der Welt des Menschen, der uns bei dem Versuch, eine gerechte soziale Ordnung zu schaffen, entgegentritt. Wir formulieren in ihnen bestimmte ethische Gehalte und Gegebenheiten des sozialen Lebens, die in der Sozialordnung zur Auswirkung kommen. Das Naturrecht bildet insofern — neben der persönlichen Ethik — einen selbständigen, eigenartigen Bereich des idealen Seins. Das Naturrecht bildet den Maßstab für die Beurteilung des positiven Rechts. Aber man kann auch sagen, daß das positive Recht aus dem Naturrecht lebt. Dies in einem doppelten Sinne. Zunächst einmal bilden die Regeln der Gerechtigkeit eine der materiellen Quellen, aus denen das positive Recht geschaffen wird; zum ändern aber wird das positive Recht in der lebendigen Entwicklung, die es in Anwendung und Auslegung erfährt, immer wieder aus dem Rückgriff auf das, was Gerechtigkeit erfordert, gespeist. Ohne jenen Rückgriff ist jene Rechtsentwicklung gar nicht zu verstehen; wollten die Richter nicht den Einzelfall gerecht entscheiden, was sollte sie veranlassen, vom Buchstaben des Gesetzes, von dessen mechanischer Anwendung abzuweichen? „Gesetzesergänzung durch freie Rechtsfindung, analoge Anwendung bestehender Rechtssätze auf neue Fälle, Ergänzung unvollständig formulierter und genauere Bestimmung mehrdeutig formulierter Vorschriften sind also nur verschiedene Stufen und Modalitäten einer und derselben Tätigkeit: Findung des richtigen Rechts."22 Sehr mit Recht hat neuerdings Ophüls darauf hingewiesen, daß keine positive Rechtsordnung allein aus sich heraus verständlich ist, daß sie vielmehr stets auf vorpositive oder überpositive, vorausliegende Regeln zurückgreifen muß — und diese schließen u. a. diejenigen der Gerechtigkeit ein23. Das Naturrecht ist die Anknüpfung für die Situationsanalyse und die Entwicklung neuen Rechts und bietet damit den Ausgangspunkt für die Meisterung aller Probleme. Aus seinen Sätzen läßt sich eine Ordnung auch für solche neu sich stellenden Fragen gewinnen. In der 21

Darin ist E. Wolf, Naturrecht und Gerechtigkeit, Ev. Theologie (1947/1948), S. 233 ff., insbes., S. 251, zuzustimmen. 22 W. Burckhardt, Die Lücken des Gesetzes und die Gesetzesauslegung (Bern 1925), S. 82. 23 vgl. C. F. Ophüls, Ist der Rechtspositivismus logisch möglich? NJW 1968, S. 1745 ff.

Die Grundlagen des Rechts

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Auseinandersetzung mit solchen Problemen ist die Einsicht des Menschen über das, was gerecht ist, erworben. In diesem Sinne ist unser Wissen um das Naturrecht die Summe der Erfahrungen, die der Mensch in seinem Suchen nach gerechter Ordnung in challenge und response gemacht hat.

IV. Wirtschaft und Recht 1. In den Theorien über die Bedeutung des Rechts für die Entwicklung der Wirtschaft finden sich sehr unterschiedliche Auffassungen. Auf der einen Seite geht man davon aus, daß die Wirtschaft in der jeweiligen Entwicklungsstufe das Recht bestimme. Für Marx ist die Kultur ja nur ein „Überbau" über der Wirtschaft, also durchaus von ihr bestimmt. Aber auch manche Vertreter der deutschen historischen Schule der Nationalökonomie haben eine ganz bestimmte Entwicklung der Wirtschaft angenommen, durch die auch die Rechtsordnung jeweils bestimmt sei. Sombart betrachtete die Wirtschaft seiner Zeit als eine im Übergang befindliche Epoche organisierter Wirtschaft. Sie sei durch Großunternehmen, Fusionen von solchen und durch Kartelle bestimmt. Diese Formen im Wirtschaftsrecht seien zwar wirksam, aber sie seien in der Eigenart der Entwicklungsphase begründet, welche die Wirtschaft erreicht habe. Auch wird von manchen Autoren der Kulturwissenschaften die Ansicht vertreten, bestimmte Formen der Kultur seien durch die Wirtschaftsentwicklung bestimmt. Dies ist z. B. von einigen für die italienische Renaissance angenommen worden1. Auf der anderen Seite wird aber gerade die Bedeutung des Rechts für die Gestaltung der Wirtschaft hervorgehoben. Diese Ansicht wird namentlich von den Nationalökonomen vertreten, welche eine Theorie der unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen entwickelt haben2. M. E. sind für das Verhältnis von Wirtschaft und Recht zwei Problemgruppen zu unterscheiden: die Regelung bestimmter geschäftlicher Vorgänge, die sich in der Praxis der Wirtschaft entwickeln, auf der einen, und die grundsätzliche Gestaltung der Wirtschaftsordnung auf der anderen Seite. 2. Was das erste Problem angeht, so sind im wirtschaftlichen Leben immer wieder neue Geschäftsbeziehungen entstanden, die dann einer rechtlichen Regelung bedurften. Sie stellen also das Recht vor bestimmte neue Regelungsprobleme. Man denke etwa an die Verlegerpraxis in 1

vgl. dttujohn Stephens, The Italian Renaissance. Introduction — übrigens mit kritischer Stellungnahme zu dieser Ansicht. 2 vgl. etwa Rucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie.

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Kapitel IV

der florentinischen Tuchindustrie der Renaissancezeit, an neue Zahlungsformen und -papiere, wie etwa den Wechsel, oder in unserer Zeit etwa die Leasingverträge. Die Entwicklung der Wirtschaft hat auch immer wieder neue Institutionen hervorgerufen, so etwa bei Beginn der Großproduktion die Aktiengesellschaft oder die Kreditbedürfnisse der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert die Hypothekenbanken. Auch die Genossenschaften sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Die Geschichte des positiven Rechts ist im wesentlichen von solchen Einzelproblemen und ihrer rechtlichen Lösung bestimmt3. Hier handelt es sich also darum, daß im Wirtschaftsleben bestimmte Vorgänge entstehen, die dann vom Gesetzgeber, von Wissenschaft und Rechtsprechung oder durch Gewohnheitsrecht eine rechtliche Form erhalten, oder — so etwa bei den Institutionen — Bedürfnisse, für welche die Gesetzgebung eine neue Form der Zusammenschlüsse finden muß. 3. Bei der Wirtschaftsordnung handelt es sich dagegen um die grundsätzliche Gestaltung des Wirtschaftslebens. Die Nationalökonomie hat zwei Grundformen herausgearbeitet: die Verkehrs- oder Marktwirtschaft und die zentralgeleitete oder Planwirtschaft. Bei der Marktwirtschaft werden Produktion und Verteilung des Sozialprodukts von Angebot und Nachfrage bestimmt. Die einzelnen Hersteller, Händler und Abnehmer bestimmen sie. Das Recht regelt sie nicht; es setzt nur die Bedingungen, unter denen sich die Wirtschaft frei entfalten kann. Es gibt dabei im einzelnen freilich unterschiedliche Gestaltungen, danach ob etwa freie Konkurrenz oder Oligopole bestehen4. Bei der Planwirtschaft bestimmt dagegen der Staat, welche Produkte (und wo) produziert werden sollen; ebenso regelt er die Verteilung an die Konsumenten. Hier ist also die gesamte Wirtschaft dem Recht unterworfen. Recht und Verwaltung, nicht die einzelnen, bestimmen sie bis in alle Einzelheiten hinein. Was das Verhältnis dieser verschiedenen Ordnungen zu den das Recht bestimmenden Werten angeht, so dient die Verkehrswirtschaft der Freiheit; sie macht aber eine justitia distributiva nicht möglich. Daher ist — so schon von Schmoller in seinem Aufsatz über die Gerechtigkeit? — eine sozialpolitische Ergänzung der Verkehrswirtschaft gefordert worden, die entsprechend der justitia distributiva jedenfalls bestimmten Bürgern ein gewisses Einkommen in Notfällen sichert. Sozialversicherung und Sozialfürsorge entsprechen dieser Forderung. Das Sozialrecht macht die marktwirtschaftliche Ordnung zur „sozialen Marktwirtschaft". 3

vgl. Coing, Europäisches Privatrecht I, §§106—116; II, §§13—26, 81. Dazu Eucken, I.e., p. 109f. 5 Über einige Grundlagen des Rechts und der Volkswirtschaft; Separatdruck, Jena 1875. 4

Die Grundlagen des Rechts

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Die Planwirtschaft würde es dagegen möglich machen, die Verteilung des Sozialprodukts nach den Grundsätzen der justitia distributiva, etwa nach der Leistung der einzelnen Rechtsgenossen, zu regeln. Die zentral geleitete Wirtschaft ist nach der Oktoberrevolution 1917 in der Sowjetunion eingeführt worden und nach dem 2. Weltkrieg auch in China, Nordkorea und Vietnam sowie den osteuropäischen Ländern. In den letzten Jahren ist sie aber in der Sowjetunion und in Osteuropa zusammengebrochen. Diese Länder wollen zur Marktwirtschaft übergehen. Die Gründe dafür dürfte man in zwei Faktoren sehen können. Es hat sich herausgestellt, daß die Marktwirtschaft produktiver ist als die zentral geleitete Wirtschaft. Es scheint auch, daß die Durchführung der Planwirtschaft mit persönlicher Freiheit des Bürgers nicht vereinbar ist; sie ist nur in Verbindung mit einer politischen Diktatur geschaffen und erhalten worden.

KAPITEL V DAS POSITIVE RECHT UND SEINE GELTUNG I. Positives Recht nennen wir die Friedensordnung, die in einer bestimmten sozialen Gruppe zu einer bestimmten Zeit Geltung besitzt. Das positive Recht ordnet das Zusammenleben der Menschen dieser Gruppe durch verbindliche Regeln; es wird von einer innerhalb dieser Gruppe bestehenden Autorit t getragen. 1. Der Ausdruck „positives Recht" entstammt der mittelalterlichen Rechtstheorie; er taucht zuerst bei Abaelard, dann bei den franz sischen Dekretisten des 12. Jahrhunderts auf. Wahrscheinlich geht er aber letztlich auf das griechische „θέσει δίκαιον" zur ck, so da wir in ihm den alten Gegenbegriff zum „φύσει δίκαιον", zum Naturrecht vor uns haben1.

Die Entgegensetzung dieser Begriffe wirkt auch in der heutigen rechtsphilosophischen Diskussion noch nach, ist aber der Einsicht in die n heren Sachverhalte keineswegs g nstig. Sie f hrt einerseits leicht zu einer gewissen Abwertung des positiven Rechts. Es erscheint dann gegen ber dem reinen, ewigen und universalen Naturrecht als die ver nderliche, menschlich bedingte, an Ort und Zeit gebundene Ordnung niederer Art. Andererseits hat sie den juristischen Positivismus des 19. Jahrhunderts dazu gef hrt, nun dem positiven Recht allein den Charakter als Recht zu vindizieren und jeden R ckgriff auf das Naturrecht auszuschlie en2. Beide Ansichten sind falsch. Die erste wird der Eigenbedeutung des positiven Rechts nicht gerecht. Unsere Untersuchungen ber das Naturrecht haben deutlich gemacht, da es sich bei diesem niemals um eine geschlossene, hie et nunc anwendbare Ordnung handeln kann, sondern nur um Grunds tze der Gerechtigkeit. Diese bed rfen aber einer Konkretisierung, um auf bestimmte Lebenssituationen anwendbar zu sein. Diese notwendige Umformung leistet die Positivierung, welche aus jenen Grunds tzen kon1

vgl. St. Kuttner, Sur les origines du terme „Droh positif", Nouvelle Revue historique de droh francais et Stranger 1936, S. 728 ff. 2 Besonders charakteristisch: Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892.

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krete praktikable Reditsregeln macht3. Hier liegt eine entscheidend wichtige, schöpferische Leistung. Dazu kommt, daß das positive Recht, indem es sich auf die Autorität einer sozialen Macht stützt, die Chance der Durchsetzbarkeit des Rechts und damit die Rechtssicherheit entscheidend erhöht. Jeder Vergleich zwischen Völkerrecht und innerstaatlichem Recht — jedenfalls unter rechtsstaatlichen Verhältnissen — macht dies deutlich. Die Bedeutung der Rechtssicherheit aber, als Grundlage der materiellen wie der moralischen Kultur, kann gar nicht überschätzt werden, gerade weil sie immer wieder durch Bewegungen anarchischer Auflehnung bedroht ist. Vor etwas mehr als 100 Jahren schrieb Guizot: „L'esprit revolutionnaire de nos jours n'admet aucun Systeme regulier et stable de societe ni de gouvernement; il est la destruction universelle et l'anarchie continue."4 Und wir können heute diese Worte ohne Änderung wiederholen. Immer wieder scheinen die Menschen, ungeduldig über die Zwänge, die eine befestigte soziale Ordnung mit sich führt, zu vergessen, welch ungeheuren Fortschritt die Schaffung des staatlichen Gewaltmonopols gerade für die Ausschaltung von Gewalt und Unrecht bedeutet hat. Andererseits war es ein Fehler des juristischen Positivismus, das 'positive Recht allein aus sich selbst verstehen zu wollen, genauer gesagt, allein aus dem „Willen des Gesetzgebers", und jeden Rückgriff auf den materiellen Wertgehalt der Rechtsordnung ebenso wie auf die in ihr wirksamen politischen und gesellschaftlichen Kräfte abschneiden zu wollen. Damit würde der Weg zu einem wirklichen Verständnis des positiven Rechts abgeschnitten. In Wahrheit müssen vielmehr beide, positives Recht und Naturrecht, in eins gesehen werden. Das positive Recht ist — alle ablenkenden Sonderinteressen in Rechnung gestellt — im ganzen doch der Versuch, eine gerechte und zweckmäßige Ordnung zu schaffen. Es kann daher niemals allein aus sich heraus verstanden werden: die Betrachtung der Grundsätze der Gerechtigkeit darf ebensowenig ausgeschaltet werden wie diejenige der konkreten politischen und ökonomischen Kräfte, die in ihr wirksam sind. Nur auf der Grundlage einer Erkenntnis der Grundsätze der Gerechtigkeit, des Naturrechts also wie es hier entwickelt ist, kann der Gerechtigkeitsgehalt einer positiven Rechtsordnung verstanden und entwickelt werden. Der ju3

Darauf hat neuerdings vor allem Esser in seinem Buch »Grundsatz und Norm in der riditerlidien Fortbildung des Privatrechts" (1956) mit Recht hingewiesen. 4 Guizot, Memoires pour servir i l'histoire de mon temps II (1859), S. 80.

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ristische Positivismus bedeutet eine unzulässige Beschränkung des vom positiven Recht zu entwickelnden Bildes. Noch eine zweite allgemeine Bemerkung muß hier vorausgeschickt werden. Das positive Recht wird hier als abstrakte Ordnung, als System von Regeln aufgefaßt. Gegen diese Auffassung, daß das Recht eine Summe von Regeln sei, daß aus ihm Rechte und Pflichten entsprängen, haben die „realistischen" Schulen in Skandinavien und Amerika — z. T. auch die deutsche Freirechtsschule — Widerspruch erhoben5. Sie sehen das Recht vielmehr in dem Verhalten der am Rechtsleben beteiligten Personen, insbes. der Richter, das unserer Beobachtung unterliegt. Diese Betrachtungsweise hat ihre allgemeine Grundlage im philosophischen Positivismus6; danach sind eine „Norm" oder ein „subjektives Recht" keine Gegenstände der Erkenntnis; sie sind weder als Tatsachen beobachtbar noch aus Beobachtungen ableitbar. Sie können daher nur als illegitime „metaphysische" Behauptungen abgelehnt werden. Ferner wird diese Lehre mit dem Hinweis gestützt, der Richter entscheide aus Intuition, nach Rechtsgefühl, nach einem „hunch"; seine Entscheidung sei aber nicht durch Normen gesteuert. Infolgedessen seien Voraussagen über das vermutliche Verhalten von Richtern alles, was versucht werden könne; die sogen, rechtlichen Regeln seien in Wahrheit solche Voraussagen. Das erste Argument steht und fällt mit der Annahme des positivistischen Begriffs von rationaler Erkenntnis; ich habe oben7 dargelegt, daß und warum er mir zu eng zu sein scheint. Von dem dort entwickelten Begriff der Rationalität aus besteht kein Grund, geistige Gebilde, wie es Normen sind, als Erkenntnisobjekte auszuschließen — genauso wie der geistige Gehalt eines Dramas ein legitimes Erkenntnisobjekt bildet. Wir sind dann nicht gezwungen, die Normen beiseite zu schieben und nur das Verhalten der Justizpersonen als Gegenstand der Rechtswissenschaft anzusehen8. Das zweite Argument beruht auf einer Verzeichnung des Vorganges bei der richterlichen oder überhaupt juristischen Urteilsbildung. Zu sagen, daß hier das Gesetz samt den dazu vorhandenen Erläuterungsbüchern, die Präjudizien und Schrifttum nachweisen, keine Rolle spielten, ist einfach eine unrealistische Darstellung juristischer Arbeitsweise9. In Wahrheit prüft der Jurist Normen, Präjudizien und 5

vgl. oben Kap. I Absdin. VIII. 2. 7 • vgl. oben Kap. I Absdin. VIII. 1. Kap. II Absdin. II. 8 Diese Einsicht wird auch bei der Betrachtung der Theorien über die Rechtsgeltung wichtig (vgl. unten zu Absdin. II. 5). • vgl. die zutreffende Kritik von Isays These bei Forithoff, Recht und

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Lehrmeinungen, wägt sie ab und richtet sich wohl in der allergrößten Zahl der Fälle danach: er ist froh, für seinen Fall eine Regel im Gesetz oder in einer Vorentscheidung gefunden zu haben. Er verfährt also nicht irrational, sondern folgt vorhandenen Regeln. Die alte Auffassung, wonach das Recht eine Ordnung ist, die aus Regeln besteht, bleibt also richtig. Recht ist weder Verhalten noch psychologisches Faktum; es ist geistiges Sein. 2. Nun gibt es mancherlei Arten von Ordnung, auch unter Menschen, auch wenn man also von der „Ordnung in der Natur", einer metaphysischen Ordnung der Dinge, einer Ordnung der ethischen Werte u. ä absieht. Auch die Spielregeln eines sportlichen Wettkampfes, die Regeln eines Tanzes, die Aufstellung von Truppen für eine militärische Operation, von Menschenmassen für eine Demonstration, stellen eine Ordnung zwischen Menschen her. Gemeinsam ist allen Ordnungen, daß sie die relative Stellung der einzelnen Glieder der von ihr Ergriffenen zueinander festlegen. Das kann im Raum selbst geschehen, in dem jeder seinen Platz zugewiesen erhält; in diesem Sinne sprechen wir etwa von Sitzordnung im Theater oder von der Ordnung eines Festzuges; es gibt aber auch nicht-räumliche Ordnungen wie die Spielregeln eines Wettkampfes. Tn jedem Falle ist die Ordnung als solche eine ideale; aber eine räumliche Ordnung stellt sich im Räume sinnlich dar, die unräumliche dagegen nicht. Die erstere ordnet die Dinge im Raum, die zweite Beziehungen, die selbst nicht räumlicher Natur sind. Die Rechtsordnung gehört zur zweiten Kategorie; sie ist ideale Ordnung, welche nicht-räumliche Beziehungen, nämlich soziale Beziehungen ordnet. Dazu muß sie aus der Fülle der konkreten Beziehungen typische herausheben und bezeichnen10. Die sozialen Beziehungen ordnet das Recht, indem es einerseits Güter, Tätigkeits- und Herrschaftsbereiche zuweist und abgrenzt und andererseits Verfahrens- und Organisationsformen für die Zusammenarbeit der Menschen bereitstellt. Die Abgrenzungsfunktion des Rechts tritt am plastischsten da hervor, wo es sich um räumliche Beziehungen handelt, also z. B. im Grundstücksrecht oder bei der Gebietshoheit der Staaten. Der GrundSprache (1940), S. 27. — Eine wirklich realistische Darstellung gibt zum Beispiel Kriele, Theorie der Reditsgewinnung (1967), S. 157 ff., 195 ff. 10 vgl. dazu die Ausführungen von V. Kraft über Ordnung und Auffindung identischer Beziehungen in „Grundlagen der Erkenntnis und der Moral" (1968), S. 20 ff.

Das positive Recht und seine Geltung

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Stückseigentümer ist — im Prinzip — in der Nutzung des Grundstücks bis zur Grenze frei. Er kann z.B. nach § 910 BGB Wurzeln eines Baumes oder eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eulgedrungen sind, abschneiden und behalten; er kann das Grundstück bis zur Grenze bepflanzen usw. Aber an der Grenze endet sein Recht. Ebenso endet die Staatsgewalt an der Staatsgrenze: aber innerhalb dieser Grenzen ist sie souverän. Jedem Eigentümer, jedem Staat ist damit durch die Grenzen im Raum ein Tätigkeitsbereich zugewiesen. Aber diese Beispiele zeigen nun sofort, daß räumliche Grenzen nicht die einzigen Formen der Begrenzung von Tätigkeitsbereichen sind. Denn der Grundeigentümer darf auch innerhalb seines Grundeigentums keineswegs alles: er kann in der Bebauung oder in der gewerblichen Nutzung seines Grundstückes noch durch andere Normen (Bauordnungen, Bebauungspläne usw.) beschränkt sein. Es gibt auch noch weitere Abgrenzungen zwischen der Tätigkeit der Menschen ohne jeden Bezug auf räumliche Grenzen; hierher gehören z.B. die Regeln über den unlauteren Wettbewerb und, generell, die im Deliktsrecht enthaltenen Verbote ebenso wie die Ausschlußrechte, die sich aus dem Patent- oder Urheberrecht ergeben. Allgemein kann man feststellen, daß die Abgrenzungsnormen dabei entweder daran anknüpfen, daß ein bestimmtes Gut, ein bestimmter Tätigkeitsbereich einem Individuum oder einer Organisation als „wohlerworbenes" Recht ausschließlich vorbehalten ist, oder, ausgehend von der allgemeinen, „natürlichen" Handlungsfreiheit, nur ganz bestimmt umschriebene Einzelhandlungen verbieten. Die Denkform für die erste Gruppe von Normen ist die des subjektiven Rechts in der Form des „Ausschlußrechtes": Eigentum, Immaterialgüterrecht usw.; diejenige der zweiten der allgemeine Gedanke der Freiheit im Sinne der klassischen Definition der französischen Erklärung der Menschenrechte: „La liberte consiste a pouvoir faire ce qui ne nuit pas aux droits d'autrui." Beide Elemente sind für eine sachgemäße Regelung des menschlichen Zusammenlebens notwendig. Richtig bemerkt Fikentscher: „Ebenso wie die gesicherte Herrschaft über erworbene Werte zur Würde der menschlichen Persönlichkeit gehört, so bildet ihre freie Entfaltung und ihr Recht auf Teilnahme an der ständigen Änderung der persönlichen Herrschaftsbereiche einen Bestandteil des Persönlichkeitsschutzes. Würden die verfügbaren Güter dieser Erde durch ein vollständiges System der Herrschaftssicherung aufgeteilt, so geriete das Leben und damit auch der Rechtsverkehr in Stagnation. Die Persönlichkeit bedarf also nicht nur eines rechtlichen Schutzes für ihren Herrschaftsbereich über Sachen und Rechte, sondern auch für ihre

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freie Entfaltungsmöglichkeit auf wirtschaftlichem wie auf anderen Gebieten. Die freie Entfaltungsmöglichkeit schließt die Ergänzung und Vergrößerung des eigenen Herrschaftsbereichs auf Kosten fremder Herrschaftsbereiche ein. Denn man muß davon ausgehen, daß Güter beschränkt verfügbar sind, und daß sich das Recht der Persönlichkeit zur freien, auch wirtschaftlich freien Entfaltung auf mehr Gegenstände bezieht, als die nämliche Persönlichkeit durch geistige oder körperliche Neuschöpfung herzustellen vermag11." Die Aufgabe, die Kooperation zu ermöglichen, löst die Rechtsordnung zunächst dadurch, daß sie es möglich macht, rechtlich verbindliche Verträge abzuschließen. Denn der Vertrag ist nicht nur das geschmeidigste, anpassungsfähigste Instrument der Zusammenarbeit; er ist auch dasjenige, bei dem Freiheit und Gleichheit am leichtesten gewahrt werden können; daher auch seine große Bedeutung im Völkerrecht. Der Kooperation dienen sodann die zahlreichen Formen der Organisation, die jede entwickelte Rechtsordnung kennt. Hier ist in erster Linie an die politische Organisation zu denken, die das Handeln der Gruppe möglich macht; aber dann auch an die zahlreichen Formen des gemeinschaftlichen Lebens im religiösen, geselligen und wirtschaftlichen Bereich. Jede Organisation, die auf eine gewisse Dauer angelegt ist, macht ihrerseits eine gewisse Reihe von Grundbestimmungen nötig: über die Leitung, ihre Bildung und ihre Rechte, über Rechte und Pflichten der Mitglieder, über die Bildung eigenen Vermögens usw. Kann man Regelung der Zusammenarbeit und Abgrenzung der Lebenssphären als die Aufgabe der materiellen Rechtsnormen bezeichnen, so treten dazu wohl in jeder Rechtsordnung Normen des Verfahrensrechtes, die bestimmen, in welcher Form und auf welche Weise Streitigkeiten ausgetragen werden sollen. Alle Einrichtungen und Regeln können und werden schließlich durch Sanktionen, insbes. durch Strafnormen geschützt. Alle Normen betreffen in irgendeiner Art menschliches Verhalten: sie schreiben dem Menschen vor, wie er sich verhalten soll, wenn er seine Lebenszwecke in der Gruppe verfolgen will. Aber es ist nicht diese Anordnung, dieser Befehlscharakter, der das eigentliche Wesen der Rechtsnorm ausmacht; dieses liegt vielmehr darin, daß der Rechtssatz Teil einer Ordnung ist, die jedem zuweist, was ihm zu11

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Fikentscher, Wettbewerb und gewerblicher Rechtsschutz (1958), S. 208,

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kommen soll, die Güter und Tätigkeitsbereiche verteilt. Daß solche Ordnung vorhanden ist, daß jedermann damit rechnen kann, daß sie bleibt und damit ihm bleibt, was ihm zugeteilt ist, darin liegt die segensstiftende Wirkung des Rechtes. 3. Die Rechtsordnung drückt sich in Regeln atis. Wir haben schon an anderer Stelle betont, daß dies nicht notwendig Regeln sein müssen, die in Gesetzen formuliert sind. Auch Gewohnheitsrecht, auch Juristenund Richterrecht spricht sich in Regeln aus12. Bei einer Gerichtsentscheidung ist sie in den Entscheidungsgründen ausgesprochen. Die vollständige Rechtsregel verknüpft einen bestimmten typisch umschriebenen Tatbestand mit einer Rechtsfolge. »Wer bei Abgabe einer Willenserklärung über deren Inhalt im Irrtum war oder eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte, kann die Erklärung anfechten, wenn anzunehmen ist, daß er sie bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde", bestimmt § 119 BGB. Natürlich braucht dabei sprachlich der Tatbestand nicht in einem besonderen Nebensatz formuliert zu sein, wie z.B. § 185 StGB zeigt: „Die Beleidigung wird mit Geldstrafe oder mit Haft oder mit Gefängnis bis zu einem Jahr und, wenn die Beleidigung mittels einer Tätlichkeit begangen wird, mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft." Der Tatbestand wird meistens irgendeine menschliche Handlung umschreiben; er kann aber ebenso einen anderen rechtserheblichen Umstand enthalten. Der Tatbestand spricht abstrakt; er beschreibt nicht einen individuellen Fall, sondern hebt nur auf eine Reihe allgemein umschriebener Tatbestandselemente ab13. Dadurch wird die Rechtsnorm für eine unbestimmte Anzahl von individuell verschieden gestalteten Fällen anwendbar und damit fähig, dem Gedanken der Gleichbehandlung gegenüber verschiedenen Individuen und individuellen Fallgestaltungen gerecht zu werden. Freilich stellt diese Form der Abstraktion hohe Anforderungen an die Kraft der Sprache und des Denkens — darauf wurde schon bei der Betrachtung des

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Es ist interessant, daß auch Art. l ZGB vom Richter bei Schließung einer Gesetzeslücke die Aufstellung einer Regel verlangt. Dazu vgl. MeierHayoz, Der Richter als Gesetzgeber (1951), S. 46. 13 Zu den verschiedenen Bedeutungen des Gegensatzes abstrakt — konkret vgl. die eindringlichen Ausführungen von Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit (Heidelberg 1953).

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Rechts als Kulturerscheinung hingewiesen14. Die Rechtssprache bedarf der Worte für abstrakte, sich über die Einzelerscheinungen erhebende Begriffe; sie entnimmt diese zunächst der Umgangssprache, entwickelt sie aber dann zu technischen Bedeutungen fort. So kommt es zur Trennung von der allgemeinen Sprache: für den Juristen fallen z. B. auch Tiere unter den Begriff der beweglichen Sachen. Im einzelnen verwendet das Recht sehr verschiedene Arten von Begriffen15. Vielfach werden die Allgemeinbezeichnungen der Umgangssprache übernommen, etwa: Baum, Gebäude, Quittung, Dunkelheit, Nacht. Sie sind, jedenfalls in Grenzbereichen, unscharf. Ihnen stehen die vom Recht durch Abstraktion gebildeten Allgemeinbegriffe oder Klassenbegriffe gegenüber, die durch bestimmte Merkmale scharf abgegrenzt sind16. Sie können auf Gegenstände der Umwelt, wie der Begriff der Sache im § 90 BGB, auf rechtlich erhebliche Eigenschaften des Menschen, wie die Volljährigkeit (§ 2 BGB) oder auf rechtlich bedeutsame Akte, Positionen oder Einrichtungen, wie etwa die prozessualen Begriffe Urteil, Beschluß, Schöffengericht, Berufung gehen17. Eine bedeutsame Rolle spielen Typenbegriffe und zwar sowohl soweit sie auf das Normale, Durchschnittliche, wie soweit sie auf bestimmte Strukturen gehen. So erscheint etwa im Schadensersatzrecht als typischer Vorgang „der gewöhnliche Lauf der Dinge" (§ 252 BGB), im Handelsrecht als normativer (idealer) Durchschnittstypus der sorgfältige Kaufmann, verwendet andererseits das Schuldrecht die Strukturbegriffe der einzelnen Vertragstypen, das Sachen- und Erbrecht seine ausgeformten Gestaltungsformen wie Grundschuld, Testamentsvollstreckung usw.

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vgl. dazu oben Kap. III Absdm. I. Neuere Untersuchungen darüber bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1960), insbes. S. 322 ff.; Engisch, Einführung in das juristische Denken (2. Aufl. 1956), insbes. Kap. II und III; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit (Heidelberg 1953), insbes. S. 244 ff. zum Typus-Begriff; v. Brusiin, Über das juristische Denken (1951), S. 62 ff. 16 vgl. dazu die treffenden Ausführungen von Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Revue Internationale de la Thiorie du Droit, 12. Bd. (1938, Neudruck 1966), S. 46. 17 Daß auch solche Ordnungsbegriffe im Recht nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten gebildet werden, darüber sogleich Ziffer 4. 15

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Eine besondere Gruppe bilden diejenigen Begriffe, die sich unmittelbar auf ethische Werte beziehen, wie Treu und Glauben in § 242 BGB, oder auf wertgeprägte Phänomene des sozialen Lebens, Institute wie Ehe, wissenschaftliche Hochschule u. ä. (Wesensbegriffe). Es liegt auf der Hand, daß jedes dieser verschiedenen Elemente der Auslegung besondere Aufgaben stellt und bei der Rechtsanwendung besondere Probleme aufwirft. Es ist eine andere Aufgabe zu bestimmen, ob jemand das 18. Lebensjahr vollendet hat und damit volljährig ist, oder festzustellen, daß jemand durch sein Verhalten gegenüber seinem Vertragspartner gegen Treu und Glauben verstoßen hat. Nicht alle Rechtssätze bestehen aus Tatbestand und Rechtsfolge. Es gibt zunächst zahlreiche ergänzende „Hilfsnormen". Z.B. legt § 143 BGB die Form der Anfechtung fest; § 142 BGB ihre Wirkung. Solche Normen dienen gewissermaßen der Vervollständigung der eigentlichen, aus Tatbestand und Rechtsfolge bestehenden Normen. Sie erläutern z. B. Begriffe — wie hier „anfechten" —, die in dieser Norm vorkommen. Es gibt ferner zahlreiche Zuständigkeitsnormen: sie bestimmen immer, wer, welche Behörde usw. für was zuständig ist. Daß auch sie letztlich nur Hilfsnormen zu der Bewertung der Normen sind, die inbes. festlegen, von wem staatliche Sanktion auszugehen hat, hat uns Kelsen gezeigt. Es gibt breite Prinzipien, die oft nicht die Form der Ordnung, sondern die Form einer Seinsfeststellung haben — so z. B. Art. 3 GG: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" und Art. 13 GG: „Die Wohnung ist unverletzlich" — mit sehr weitgefaßtem Tatbestand. In Wahrheit handelt es sich auch hier um Ordnungsregeln. So bedeutet der Gleichheitssatz in Art. 3 GG: Allen Menschen kommt gleiche Würde zu; alle Menschen sollen in Gesetz und Verwaltungsmaßnahmen gleich behandelt werden; Art. 13GG: Jedem Bürger kommt das Gut der unverletzlichen Wohnung zu; Behörden sollen nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen in Wohnungen eindringen. Sie stellen also Richtlinien für den Gesetzgeber bzw. die Verwaltung auf. In den Rechten, die wir bis heute kennen, sind die rechtlichen Regeln in der gewachsenen Sprache formuliert. Damit knüpft das Recht zugleich an die Vorstellungsgehalte an, welche die Sprache aufbewahrt. Erst aus diesen wird, soweit notwendig, die spezifisch juristische Bedeutung entwickelt. Diese Bedeutung der Sprache erleichtert zunächst die Formulierung rechtlicher Regeln; aber sie ist auch bedenklich, weil das Recht damit auch die Unscharfen der Sprache übernimmt, und sie engt die Bedeutung der rechtlichen Regeln ein, weil

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sie stets den Sprach- und Denktraditionen einer bestimmten Sprachgemeinschaft verhaftet ist18. 4. Die Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge, wie sie in ,der vollständigen Rechtsregel gegeben ist, beruht auf einer Bewertung. Sie ist nicht, wie die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts z. T. angenommen hat, Ausdruck einer besonderen „juristischen" Kausalität19. Diese Bewertung nimmt vor, wer den Rechtssatz aufstellt: der Gesetzgeber, der Richter, der konsultierte Rechtsgelehrte. Sie ist ein Werturteil20 und kann durch reine Interessen des Entscheidenden, durch Zweckmäßigkeitserwägungen oder durch solche der Gerechtigkeit bestimmt sein. Natürlich wird eine ethisch bestimmte, naturrechtliche Rechtsauffassung die Forderung aufstellen, daß die Gerechtigkeitserwägungen das letzte Wort haben. Aber auch von solchem Ausgangspunkt aus darf man nicht übersehen, daß es zahlreiche Fragen technischer Art gibt, in denen es legitimerweise allein auf die Zweckmäßigkeit, also bestenfalls eine Sachgerechtigkeit, ankommt. Außerdem aber gibt es — bei dem engen Verhältnis von Recht und Macht — auch immer wieder Normen, die auf den Macht- oder Wirtschaftsinteressen derjenigen, welche die Macht haben, beruhen oder doch durch sie mitbestimmt werden. Man denke nur an die zahlreichen wirtschaftsrechtlichen Bestimmungen eines modernen Wohlfahrtsstaates. Aus Beobachtungen dieser Art konnte die Interessenjurisprudenz zu der Lehre kommen, daß die Norm überhaupt nur die Resultante der vertretenen Interessen sei. Freilich sind nun die im Spiele befindlichen Interessen auch für eine ethisch orientierte Bewertung keineswegs gleichgültig: nur erscheinen sie hier nicht als Determinanten, als bestimmende Faktoren, sondern als Elemente des zu bewertenden Tatbestandes. Denn nach unserer Auffassung setzt ja auch ein Werturteil zunächst eine sorgfältige Analyse der tatsächlichen Verhältnisse, die bewertet werden sollen, und Prüfung der für die Bewertung in Betracht zu ziehenden

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vgl. zu diesen Problemen Forsthoff, Recht und Sprache (1940), insbes. S. 8, 11, 16. 19 vgl. dazu v. Ttthr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, II l (1914), S. 3 ff.; Staudinger-Coing, Kommentar zum BGB Allgemeiner Teil (11. Aufl. 1957) Einl. Rn. 54 ff. 20 vgl. dazu oben Kap. II Abschn. III. 5 und Kap. III Abschn. III.

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einzelnen Werte voraus. Dabei hängen die einzelnen Stadien dieses Prozesses natürlich zusammen: bei der Analyse der tatsächlichen Verhältnisse müssen die eventuell eingreifenden Werte schon in Betracht gezogen werden21. Gegebenenfalls müssen dann verschiedene Werte gegeneinander abgewogen und abgegrenzt werden. Die Bewertung, die derjenige vornimmt, der eine Rechtsregel aufstellt, bestimmt daher nicht nur die Beziehung von Tatbestand und Rechtsfolge; sie bestimmt vielmehr schon die Abgrenzung des Tatbestandes selbst und die Bestimmung der Allgemeinbegriffe, die darin verwendet werden. Rickert22 hat gezeigt, daß auch die Bildung rein ordnender Klassenbegriffe das Vorhandensein eines leitenden Prinzips voraussetzen. Dieses leitende Prinzip ist bei der juristischen Begriff sbildung teleologisch-praktischer Natur; es wird durch Erwägungen der Zweckmäßigkeit und der ethischen Bewertung konstituiert. Diejenigen Phänomene des sozialen Lebens werden in einem Klassenbegriff zusammengefaßt, die nach diesen praktischen Gesichtspunkten einer gleichmäßigen Beurteilung unterliegen. Daher kann die rechtliche Begriffsbildung für Zwecke der Regeln über die Eigentumsübertragung z. B. Tiere und leblose Gegenstände unter dem Sachbegriff zusammenfassen. Daher ist solche Begriffsbildung auch nichj notwendig für das ganze Rechtssystem einheitlich; für Fragen der Haftung z. B. können Tiere im Gegensatz zu leblosen Gegenständen eine besondere Kategorie bilden. Zwischen den einzelnen Normen kann ein Unterschied des Ranges bestehen. Im modernen Verfassungsstaat besteht eine Über- und Unterordnung der Normen. Alle Normen stehen unter der Verfassung; die Verordnung wiederum steht unter dem Gesetz. Diese Rangordnung bedeutet, daß die höhere Norm die niedere bricht und daß die niedere ihre Geltung aus der höheren ableitet: die Verordnung die ihre aus dem Gesetz, das Gesetz die seine aus der Verfassung. Auch aus der politischen Organisation können sich solche Rangordnungen ergeben. So können z. B. im Bundesstaat den Normen des Bundesrechts u. U. ein höherer Rang zukommen als denen der einzelnen Bundesstaaten.

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vgl. hierzu die wichtigen Ausführungen von Stratenwerth über das Verhältnis von Wertung und Berücksichtigung der Natur der Sache in: Das reditstheoretisdie Problem der Natur der Sache (1957). 22 H. Rickert, Zur Lehre von der Definition (3. Aufl. 1929).

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Außer dieser formellen Rangstufe gibt es naturgemäß Unterschiede in der praktischen Tragweite, in der Lebensbedeutung der Normen. Die Einzelregel und die in ihr stehende Bewertung wird regelmäßig in einem größeren Problemzusammenhang stehen. Dieser kann aber sehr verschieden sein: er kann mehr technischer oder spezifischer Natur sein, er kann von großer politischer, insbes. sozialpolitischer Bedeutung sein. Wenn der römische Praetor angesichts des Umstandes, daß ein Sklave durch Verträge, die er mit Dritten abschloß, zwar Rechte für seinen Herrn erwerben, diesen aber nicht verpflichten konnte, neue Klagen geschaffen hat, die den Herrn aus solchen Verträgen doch in gewissem Umfange haftbar machen, so ist das — bei allem Gerechtigkeitsgehalt der Lösung — doch eher ein technisches Problem. Wenn dagegen die Arbeitsschutz- und Sozialversicherungsgegesetzgebung die soziale Frage zu lösen oder doch wenigstens teilweise zu lösen versuchte, so stand, ethisch wie politisch gesehen, ein Problem erster Ordnung, eine soziale Lebensfrage zur Debatte. Es entspricht der Natur der Dinge, daß die Fragen der ersten Gruppe eher Sache des Richters und Gelehrten, des Juristen, die der zweiten Sache der politischen Entscheidung, also Sache des Gesetzgebers sind. Denn noch immer gelten im Kern Goethes Verse für die Tätigkeit des Richters: „In abgeschlossnen Kreisen lenken wir, gesetzlich streng, das in der Mittelhöhe des Lebens wiederkehrend Schwebende. Was droben sich, in ungemessnen Räumen, gewaltig seltsam hin und her bewegt, belebt und tötet ohne Rat und Urteil, das wird nach anderm Maß, nach andrer Zahl vielleicht berechnet, bleibt uns rätselhaft.**23 Dementsprechend wird auch die Art der Diskussion, die dem Rechtssatz vorausgeht, sehr verschiedener Natur sein. Im ersten Falle wird sie vor allem ein Gespräch unter Juristen als Fachleuten, im Bereich der Rechtswissenschaft, sein, sich im Rahmen der dort geführten Debatten über Auslegung und Rechtspolitik abspielen. Im zweiten Fall wird sie der großen Politik, unter Umständen umstürzenden politischen Bewegungen angehören. 5. Die positive Rechtsordnung gilt innerhalb einer bestimmten sozialen Gruppe. Dabei denken wir heute in erster Linie an die Staaten; für uns ist Recht zunächst einmal staatlich gesetztes Recht. 23

Die natürliche Tochter, IV, 2.

Das positive Recht und seine Geltung

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Aber dieser erste Eindruck täuscht. Der Staat ist keineswegs das einzige soziale Gebilde, innerhalb dessen es positives Recht gibt. Es gibt das Völkerrecht, das als überstaatliche Ordnung Recht zwischen den Staaten setzt; es gibt das Kirchenrecht, das innerhalb der organisierten Religionsgemeinschaften Geltung besitzt. Aber auch innerhalb von Gruppen sehr viel geringer Relevanz und Dignität existieren eigene Ordnungen: so in Vereinen, Gesellschaften, Unternehmungen. Es gibt eine Vielfalt von Rechtsgemeinschaften, Rechtskreisen, die nebeneinander stehen. Man hat die Ordnungen dieser nichtstaatlichen Rechtsgemeinschaften als Sozialrecht dem staatlichen Recht gegenübergestellt. Innerhalb dieser verschiedenen Rechtskreise kommt allerdings dem staatlichen Recht eine besondere Stellung zu, weil der moderne, nach dem Prinzip der Souveränität aufgebaute Staat innerhalb seines Gebietes das Zwangsmonopol in Anspruch nimmt und weitgehend — nicht vollkommen: man denke an Erscheinungen wie Streik, Wirtschaftsmacht und Boykott — auch durchgesetzt hat. Angesichts dieses Zwangsmonopols haben andere, nicht staatlich gesetzte Ordnungen nur dann eine wirkliche Geltungschance, wenn das staatliche Recht sie anerkennt. Behält sich der Staat für seine Organe ein Uberprüfungsrecht vor — wie z. B. nach deutschem Recht trotz der Vereinsautonomie gegenüber der Satzungs- und Entscheidungsgewalt der Vereinsorgane — so hat das staatliche Recht gegenüber dem anderer Gruppen die Suprematie: das staatliche Recht hat das letzte Wort. Diese überlegene Stellung des staatlich gesetzten Rechtes ist nun freilich nicht unabhängig davon, wie das Verhältnis von Staat und Gesellschaft geordnet ist und praktisch funktioniert. In Staatswesen, die unter dem Einfluß freiheitlicher Anschauungen geordnet sind, in denen sich daher Wirtschaft und Gesellschaft zwar im Rahmen des Staates, aber doch weitgehend autonom entwickeln können, kann die Bedeutung des staatlichen Rechtes auf manchen Gebieten erheblich durch ein im Rahmen der „Gesellschaft" oder der „Wirtschaft" autonom, d. h. unabhängig vom Staate entwickeltes Recht eingeschränkt sein. Es kann das Vertragsrecht durch Vertragsformulare, die im freien Geschäftsverkehr entworfen worden sind, oder durch „allgemeine Geschäftsbedingungen" von Einzelunternehmungen oder Unternehmensverbänden bestimmt sein; es kann das Wirtschaftsleben in Produktion, Preisgestaltung und Absatz weitgehend durch Kartellabsprachen, der Arbeitsmarkt durch Tarifverträge geordnet sein. Ein privat organisiertes Schiedsgerichtswesen kann die staatliche Rechtspflege weitgehend ausschalten. Auf die Bedeutung dieses „freien", gesellschaftlich entstandenen Rechts, des „selbstgeschaffenen Rechts der Wirtschaft"

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etwa, hat vor allem die soziologische Rechtssdiule immer wieder hingewiesen24. In der Tat ist die Bedeutung dieses gesellschaftlich geschaffenen Rechtes außerordentlich. Geschichtlich sind viele unserer wichtigsten Regeln im Privatrecht, z. B. im römischen Kauf recht oder im angloamerikanischen Trustrecht, zuerst als „freies" Recht in diesem Sinne entstanden und erst später in das staatliche Recht rezipiert worden, und solche „Rezeptionen" vollziehen sich auch heute noch ständig. Seine Bedeutung für die wirkliche Rechtslage in den „westlichen" Demokratien unserer Zeit kann gar nicht überschätzt werden25. Nicht zu Unrecht hat man von „private government" gesprochen. Daß hier erhebliche Gefahren vorliegen — Gefahren interessenbestimmter Regelungen und Schiedsgerichtsentscheidungen, Gefahren fehlender Kontrolle durdi Öffentlichkeit der Diskussion, Gefahren der Umgebung wohlerwogener staatlicher Regelungen — kann nicht übersehen werden, und an vielen Stellen sollte die Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft überprüft werden, z. B. beim organisierten privaten Schiedsgerichtswesen. Andererseits darf aber nicht übersehen werden, daß solche Regelungen auch berechtigterweise in Lücken eintreten können, die das staatliche Recht entweder sachlich oder wegen der örtlichen Begrenzung der Geltung staatlicher Gesetze und der Wirksamkeit des staatlichen Rechtsschutzes läßt. Jedenfalls aber gehört das Wissen darum, daß dieses „gesellschaftliche" Recht existiert, zur Kenntnis dessen, was positives Recht heißt — darin hat die soziologische Rechtsschule sicher Recht gehabt. Die Bestimmung seiner Grenzen im Verhältnis zur staatlichen Rechtsordnung ist eines der großen Probleme der Rechtsbildung in der modernen freiheitlichen Demokratie. 6. Das positive Recht wird von einer Autorität innerhalb der Gemeinschaft, für die es gilt, getragen. Um welche Autorität es sich handelt und welches ihre tatsächlichen Grundlagen sind, darüber ist viel gestritten worden26, und das wird natürlich auch von der Art der betreffenden Gemeinschaft abhängen. Soweit das staatliche Recht in Betracht kommt, ist es die Staatsautorität und die Macht der staatlichen Organisation, ihres „Zwangs24

vgl. etwa Eugen , Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), S.315 ff. 25 vgl. etwa die Darstellung der Internationalen Kartellorganisation bei H. Kronstein, Das Recht der internationalen Kartelle (1967). 29 insbes. in der allgemeinen Rechtslehre.

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apparates", welche das positive staatliche Recht trägt. Beruhte die Geltung und Kraft des „Naturrechtes" allein darauf, daß es sich auf verpflichtende sittliche Werte gründet, so tritt für das positive staatliche Recht die Autorität des Staates neben die sittliche, die auf dem inneren Gehalt einer Rechtsordnung beruht — oder doch gründen sollte. Wenn Hobbes gesagt hat, „Auctoritas, non veritas facit legem", so könnte man für normales positives Recht des Staates sagen: „Auctoritas et veritas faciunt legem. Geraten diese beiden Mächte in Konflikt, so liegt u. U. kein wahres Recht mehr vor27, tritt jedenfalls eine Krisensituation ein. Indem man nun einerseits das staatliche Recht mit dem Recht schlechthin, andererseits die beim positiven Recht zu der inneren Autorität der Rechtsordnung hinzutretende äußere Autorität mit Zwangsgewalt gleichsetzte, kam man dazu, das Vorhandensein einer Sanktion durch Zwang geradezu zum Wesensmerkmal des Rechtes zu machen und zu leugnen, daß es Recht ohne Zwang geben könne28. Gegen das Erfordernis des Zwanges als Merkmal allen positiven Rechtes hat sich jedoch schon früh auch Widerspruch erhoben. Georg Jellinek (1851—1911) hat in seiner Staatslehre z.B. darauf hingewiesen, daß man dann wichtigen Rechtsgebieten wie Völkerrecht und Kirchenrecht den Rechtscharakter absprechen müsse, weil in diesen Rechtsgebieten Sanktionen durch Zwang in diesem engen Sinne nicht vorhanden seien29. Um einer Regel den Charakter als Rechtsregel zuzusprechen, sei daher eine Zwangssanktion nicht erforderlich; für die Geltung des positiven Rechts genüge es, daß überhaupt irgendeine Garantie für seine Befolgung vorhanden sei. Diese könne auch in dem moralischen Druck liegen, der von bestimmten Gruppenauffassungen, von der öffentlichen Meinung, von kirchlichen Anschauungen auf den einzelnen oder eine Regierung ausgeübt werde; solche Pressionen seien oft wirksamer als der Zwangsapparat des Staates. „Es ist somit nicht der Zwang, sondern die Garantie, als deren Unterart nur der Zwang sich darstellt, ein wesentliches Merkmal des Rechtsbegriffs. Rechtsnormen sind nicht sowohl Zwangs- als garantierte Normen."30 27

vgl. dazu oben Kap. IV. Diese Auffassung ist von zentraler Bedeutung für die Rechtslehre Kelsens, vgl. Reine Rechtslehre (2. Aufl. I960), S. 35ff., S. 114ff. 29 G.Jellinek, Allgemeine Staatslehre (3. Aufl. 1914), S. 336/337. 30 G.Jellinek, aaO., S. 337. 28

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Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Für das Recht ist zunächst wesentlich, daß es eine abstrakte Ordnung des Zusammenlebens aufstellt, Handlungs- und Lebenssphären abgrenzt und Zusammenarbeit organisiert, und daß diese Ordnung in einer bestimmten Gruppe als verbindlich anerkannt ist: daß es durch Sanktionen bestimmter Art geschützt ist, ist ihm nicht wesentlich. Der Rechtsbegriff würde sonst praktisch auf die (inner-)staatliche Rechtsordnung eingeschränkt. Andererseits ist natürlich die Sanktion durch Rechtszwang für den praktischen Wert einer Rechtsordnung von größter Bedeutung. Ohne sie bleibt die Rechtsgeltung prekär. Man braucht sich nur die Verhältnisse vor der Entstehung des modernen Staates und seines Gewaltmonopols oder die Folgen mancher anarchischer Auseinandersetzungen in der Gegenwart vor Augen zu stellen, um zu sehen, welcher Fortschritt der Rechtssicherheit mit der staatlichen Garantie des Rechtes erreicht worden ist, welches hohe Gut der sozialen Kultur damit erreicht wurde. 7. Bei dem positiven Recht verknüpft sich die Rechtsordnung mit einer existierenden sozialen Macht, die seine Geltung garantiert. Diese Verknüpfung von Macht und Recht muß nicht notwendig dazu führen, daß der Träger der Macht nun auch in Anspruch nimmt, selbst zu bestimmen, was rechtens sein soll. Der früh-mittelalterliche Herrscher in Europa schützt das überkommene Recht; das gehört zu seinen Herrscherpflichten. Aber ändern kann er es deswegen nicht; neues Recht zu setzen ist nicht seine Aufgabe. Aber die Verbindung von Macht und Recht kann doch dazu führen, daß der Träger auch die Befugnis der Rechtsetzung in Anspruch nimmt. Im späteren Mittelalter hat sich diese Auffassung mit dem allmählichen Werden der modernen Staatsauffassung und unter dem Einfluß des römischen Rechtes durchgesetzt. Dann wird der Machtträger selbst zur rechtsetzenden Gewalt; werden seine Anordnungen formelle Rechtsquelle — neben der freilich durchaus eine frühere, überlieferte Rechtsordnung sich behaupten kann, wie im späten Rom das ius neben den leges der Kaiser31, in den kontinentalen Staaten Europas das Gemeine Recht neben lokalen Rcchtsbräuchen. Die innigste Verbindung von Macht und positivem Recht wird erreicht, wenn der Träger der Macht das Monopol der Rechtsetzung für sich in Anspruch nimmt, neben sich also keine andere Rechtsquelle duldet. Das ist in manchen absoluten Monarchien für den 31

vgl. dazu Käser, Das römische Privatredn II (1959), S. 33 ff.

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Monarchen, z. B. in Byzanz von Kaiser Justinian, in Anspruch genommen worden. Aus anderen Gründen hat die Staatstheorie der Aufklärung der Legislative ein solches Monopol vindiziert; hinter dieser Forderung stand die Lehre von der Gewaltenteilung und der feste Glaube an das abstrakte Gesetz, Sobald die Bildung des positiven Rechts überhaupt als bewußte Schöpfung verstanden wird, müssen sich Anschauungen darüber bilden, wer in einem Gemeinwesen Recht setzen kann und wie dieses zu geschehen hat. In der ausgebildeten Rechtstheorie werden sie in der Theorie der formellen Rechtsquellen zusammengefaßt. Sie stellt fest, welche Normen als positives Recht den Schutz der Macht genießen und wie diese Normen Zustandekommen müssen. Sie steht damit in Gegensatz zu der Lehre von dem Ursprung des Inhalts der Normen, der Lehre von den sogen, materiellen Rechtsquellen. Ihr Gegenstand ist vielmehr ausschließlich die Frage, wie es zur Entstehung positiven Rechtes kommt, unter welchen Voraussetzungen es also zu jener Verbürgung einer Rechtsnorm durch die Macht kommen soll. Es ist deutlich, daß jede derartige Theorie von den jeweiligen Macht- und Verfassungsverhältnissen, wie sie in dem betreffenden Gemeinwesen bestehen, beeinflußt werden muß; denn von diesen hängt es eben ab, wann eine Norm von der Autorität der bestehenden Gewalten geschützt werden soll, also positives Recht ist. Es kann daher, wie schon einmal kurz berührt, keine allgemeingültige Theorie der formellen Rechtsquellen geben. Die politischen Ordnungen oder die faktischen Machtverhältnisse sind maßgebend. Daraus erklärt es sich, daß eine Theorie der Rechtsquellen festgehalten werden kann, weil sie Verfassungsgrundsätzen entspricht, obwohl sie der Wirklichkeit der Rechtsbildung nicht mehr entspricht. Das eindrucksvollste Beispiel ist die Tatsache, daß die Rechtsquellenlehre der kontinentalen Länder im 19. wie im 20. Jahrhundert so lange gezögert hat, das Richterrecht, die Rechtsfortbildung durch den Richter, als Rechtsquelle anzuerkennen: diese Anerkennung hätte dem Prinzip der Gewaltenteilung ebenso widersprochen wie dem Dogma von der Vollständigkeit der gesetzlichen Ordnung und damit grundlegenden Vorstellungen vom Verfassungsstaat. Diese erwiesen sich für die Theorie der Rechtsquellen stärker als die Beobachtung der Tatsachen. Von der Monopolisierung der Rechtsetzungsgewalt bei den Trägern bestimmter politischer Gewalten sind regelmäßig vor allem drei Phänomene des Rechtslebens betroffen, die sich in einigermaßen entwickelten Rechtssystemen mit einer gewissen Kraft bemerkbar zu machen pflegen: das Gewohnheitsrecht, die Rechtsprechung und die Rechtslehre.

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So hat Justinian in der Constitutio „Tanta"32 die Kommentierung seiner Digesten verboten und nur wörtliche Übertragungen ins Griechische zugelassen. Er nahm „tarn conditor quam interpres legum" das alleinige Recht der Auslegung in Zweifelsfragen in Anspruch33. Er hat schließlich mit dem berühmten Satz: „Cum non exemplis, sed legibus iudicandum est"34 das Urteilen nach Praejudizien verboten. Ähnliche Bestimmungen finden sich aus den erörterten Gründen in Gesetzgebungswerken der Aufklärung. Das ALR verpflichtet den Richter, wenn ihm „der eigentliche Sinn des Gesetzes" zweifelhaft ist, bei der Gesetzeskommission anzufragen und deren Meinung in dem Urteil zu folgen (§§ 47/48 Einleitung pr. ALR). Bei Lücken soll er „nach den im Landrecht angenommenen allgemeinen Grundsätzen" entscheiden, aber den Fall dem Chef der Justiz anzeigen, damit der Gesetzgeber die Lücke schließen kann. Im übrigen zieht das Gesetz die Grenzen der Auslegung sehr eng. § 46 Einl. pr. ALR bestimmt: „Bei Entscheidung streitiger Rechtsfälle darf der Richter den Gesetzen keinen anderen Sinn beilegen, als welcher aus den Worten, und dem Zusammenhange derselben, in Beziehung auf den streitigen Gegenstand, oder aus dem nächsten unzweifelhaften Grunde des Gesetzes, deutlich erhellet." Noch schärfer bestimmt das Publikationspatent vom 5. 2. 1794, es solle sich kein Gericht unterfangen, „am allerwenigsten aber von klaren und deutlichen Vorschriften der Gesetze, auf den Grund eines vermeinten philosophischen Raisonnements, oder unter dem Vorwande einer aus dem Zwecke und der Absicht des Gesetzes abzuleitenden Auslegung, die geringste eigenmächtige Abweichung, bei Vermeidung Unserer höchsten Ungnade und schwerer Ahndung, sich zu erlauben.". Der Richter wird also auf strenge logisch-grammatische Auslegung beschränkt. Während der französischen Revolution verbot das französische Gesetz vom 16.(24. 8. 1790 den Gerichten jede Anordnung allgemeiner Art, und das Dekret vom 1. 12. 1798, das das Tribunal de Cassation schuf, schuf gleichzeitig für die Gerichte die Möglichkeit und in manchen Fällen die Verpflichtung, Zweifelsfragen dem Gesetzgeber vorzulegen35. Es ist jedoch interessant, daß keine dieser Anordnungen nachhaltigen Erfolg gehabt hat. Die richterliche Rechtsfortbildung aufgrund 82

33 s4 C 1.17.2.21. C 1.14.12. C 7.45.13. 35 vgl. dazu Geny, Methode d'interpretation et sources en droit prive positif (2. Aufl. Neudruck 1954) L, S. 83, 84.

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freier wissenschaftlicher Diskussion36 hat sich nicht unterdrücken lassen und schließlich auch ihre formelle Anerkennung gefunden. Die Machtentscheidung hat der Natur der Dinge weichen müssen. 8. Bei der Frage des Monopols der Rechtsbildung beim politischen Souverän sind wir auf die Möglichkeit eines Konfliktes zwischen Rechtsprechung und Souverän gestoßen. Aber dieses Problem kann sich noch sehr viel schärfer stellen. Der Richter ist dem Gesetz, d. h. dem positiven Recht unterworfen; er ist andererseits auf die Gerechtigkeit verpflichtet. Wie soll er entscheiden, wenn das positive Recht in unversöhnlichen Widerspruch zur Gerechtigkeit tritt? Vom Standpunkt des positiven Rechts besteht hier allerdings kein Problem. Es verlangt in der Regel vom Richter Gehorsam. Auch der Fall, daß eine Rechtsordnung dem Richter ein sogen. Prüfungsrecht gibt, macht keine Ausnahme. Was da in Frage steht, ist ein Konflikt zwischen Normen des positiven Rechts, die verschiedenen Rang haben, z. B. zwischen Verfassung und einfachem Gesetz. Anders steht es nur, wenn der Richter ermächtigt wird, das Prüfungsrecht auch unter dem Gesichtspunkt des Naturrechts auszuüben. Dann liegt kein Konflikt vor. Das positive Recht ordnet sich dann selbst der Gerechtigkeit unter. Die eigentliche Frage ist aber, ob dem positiven Recht hier nicht aus der Natur der Sache, nämlich aus der Verpflichtung des Richters auf die Gerechtigkeit, Grenzen gesetzt sind. Das ist eine Frage des Naturrechts. Dabei sind zwei Probleme zu unterscheiden. Das eine betrifft die Verpflichtung des Richters zum Widerstand gegen naturrechtswidriges positives Recht. Sie geht auf das persönliche Verhalten des Richters und entscheidet sich nach den früher entwickelten allgemeinen Grundsätzen37. Der Richter hätte danach zu entscheiden, ob er sein Amt niederlegen, sich sonst der betreffenden Entscheidung entziehen (passiver Widerstand) oder sich zu Handlungen aktiven Widerstandes entschließen will. Dahinter aber steht ein zweites Problem, das uns hier interessiert. Es geht dahin, ob der Richter auch berechtigt ist, den Fall entgegen dem naturrechtswidrigen Gesetz nach den Erfordernissen der materiellen Gerechtigkeit positiv zu entscheiden. Denn damit würde er rechtsschöpferisch entgegen dem positiven Recht tätig werden. Es geht hier also nicht nur um das Verhalten

36 37

vgl. dazu unten Kap. VI Abschn. V. vgl. oben Kap. IV.

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des Richters als Person, sondern um die Natur seiner Stellung in der Rechtsgemeinschaft. Nach Naturrechtsgrundsätzen ist auch diese Frage zu bejahen. Das Naturrecht verlangt die Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit. Nach naturrechtlichen Gesichtspunkten muß unter den drei Pflichten des Richters die dritte, die zur gerechten Entscheidung des Falles, den Vorrang haben. Er muß den Fall gerecht entscheiden, auch gegen das positive Recht. Das folgt aus dem Wesen seiner Stellung38. Das bedeutet aber nicht, daß nun persönliche Gerechtigkeit letzten Endes unbedingt über gebundene Gerechtigkeit gesetzt würde. Das würde der Natur des Rechts widersprechen. Daraus ergeben sich gewisse notwendige Einschränkungen des auf das Naturrecht gegründeten richterlichen Prüfungsrechts. Man kann sie in drei Maximen zusammenfassen: Der Richter hat, solange wie irgend möglich, nach einer Synthese von Gerechtigkeit und positivem Recht zu streben. Daraus folgt, daß er, ehe er einer positiven Norm den Gehorsam versagt, zu prüfen hat, ob die Norm unter irgendeinem Gerechtigkeitsgesichtspunkt haltbar ist, auch wenn der Gesetzgeber sich nicht auf ihn berufen hat39. Der Richter hat nur dann dem Gesetz den Gehorsam zu versagen, wenn es im klaren Gegensatz zu erkennbaren Gerechtigkeitsprinzipien steht, also insbes. wenn es aus Willkürgesichtspunkten erwachsen ist40. Er hat dabei sowohl die Mehrschichtigkeit der Gerechtigkeit, die 38

Im Ergebnis ebenso W. G. Becker, Die symptomatische Bedeutung des Naturredits im Rahmen des bürgerlidien Rechts, AcP 150 (1949), S. 97 ff., 121, 122. 39 Das entspricht der Regel, daß aktiver Widerstand nur in äußersten Fällen notwendig und zulässig ist. 40 Man hat häufig darauf hingewiesen, die Überprüfung des positiven Rechts vor dem Forum des Naturrechts oder der materiellen Gerechtigkeit sei deshalb unmöglich, weil beides unerkennbar sei. Ich glaube, daß die Schwierigkeiten, die hier vorliegen — und die natürlich nicht zu leugnen sind — überschätzt werden. Seit vielen Jahrhunderten arbeiten unsere Gerichte mit den Begriffen wie „Gute Sitten", „Treu und Glauben" u. ä., und zwar ohne wesentliche Schwierigkeiten. Es haben sich in der Judikatur längst praktikable Konkretisierungen dieser allgemeinen ethischen Begriffe in allgemeinen Rechtssätzen herausgebildet. Die Prüfung einer Norm auf Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit in den im Text geforderten äußersten Grenzen dürfte nicht wesentlich schwieriger sein. Es darf auch darauf verwiesen werden, daß die Verwaltungsgerichte mit dem Begriffe der willkürlichen Entscheidung ^tournement de pouvoir) seit langem arbeiten müssen.

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verschiedenen möglichen Aspekte, wie die Tatsache zu berücksichtigen, daß unsere Einsicht in die Rechtsidee beschränkt ist, dem Gesetzgeber daher ein weiter Spielraum freier Entscheidung bleibt41. Nur in äußersten Fällen ist die Verwerfung des positiven Rechts möglich. Richtig hat Reichel42 formuliert: „Der Richter ist kraft seines Amtes verpflichtet, von einer gesetzlichen Vorschrift bewußt abzuweichen dann, wenn jene Vorschrift mit dem sittlichen Empfinden der Allgemeinheit dergestalt in Widerspruch steht, daß durch Einhaltung derselben die Autorität von Recht und Gesetz erheblich ärger gefährdet sein würde als durch deren Außerachtsetzung." Der Richter hat sich endlich auf den ihm vorliegenden Einzelfall zu beschränken. Die gerechte Entscheidung des Einzelfalles nach Rechtsgrundsätzen ist seine Pflicht. Sie ist zugleich die unentziehbare — Eine ganz andere Frage ist die soziologisdi-politisdie, ob die Autorität der Gerichte zu solcher Überprüfung ausreicht. Sie kann natürlich nidit generell entschieden werden. Hier liegt das eigentliche Problem (so richtig v. Weber, Recht und Pflicht des Richters zur Prüfung der Gültigkeit des Strafgesetzes, Sonderveröffentlichung des Zentr. Justizbl. br. Zone 1947, 163 ff., 179). Dazu kann aber vom Standpunkt der Rechtsphilosophie aus nichts gesagt werden. — Für eine Überprüfung von Gesetzen an Hand allgemeiner Rechtsgrundsätze oder materieller Gerechtigkeit haben sich ausgesprochen: KG SJZ 1947, 257 ff., insbes. Sp. 262; OLG Kiel SJZ 1947, 323 ff., insbes. Sp. 327 (keine Geltung verbrecherischer Gesetze); OLG Frankfurt (Main) SJZ 1947, 622 ff.; Küster in einer Anm. zu OLG Braunschweig SJZ 1947, 663 ff.; W. G. Becker, Der richterliche Widerstand SJZ 1947, 480 ff. und auf Grund der Lehren des katholischen Naturrechts: Figge, Die Verantwortlichkeit des Richters SJZ 1947, 179 ff. — Dagegen OLG Hamburg SJZ 1948, 35 ff. mit ablehnender Anmerkung von Erdsiek; Ruscheweyh, Das Obergericht für das vereinigte Wirtschaftsgebiet (Münchner Juristentagung 1948) Recht und Gesetz 1948, 974/975. — Im ganzen hat der Gedanke der strengen Bindung des Richters an das Gesetz in den letzten Jahren wieder mehr Befürworter gefunden, E. Schmidt, Gesetz und Richter — Wert und Unwert des Positivismus (1952), der allerdings dem Richter unter dem Gesichtspunkt seiner „Justizgewährungspflicht" verbieten will, ein »gegen die Grundlagen des Gerechten verstoßendes Gesetz" anzuwenden, S. 19/20; Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz (1956); Weischedel, Recht und Ethik (2. Aufl. 1959). — Verkappte Überprüfungen stellen RGZ 107, 78; 48, 238 dar; dazu Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929), S. 215 ff. 41 Ich habe diese Prinzipien eingehender in dem gemeinschaftlich mit meinem Kollegen Prof. Veit veröffentlichten Aufsatz „Mark = Mark" SJZ 1947, 132 formuliert. 42 Gesetz und Richterspruch (1915), S. 142. Zustimmend Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929), S. 215 ff.

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Grundlage seines Widerstandes gegen das positive Recht im Falle seiner materiellen Ungerechtigkeit. Das Urteil des Reichsgerichtes vom 28. 11. 192343 ist in dieser Hinsicht vorbildlich, weil es von diesem Gesichtspunkt her, aus der Gerechtigkeit der konkreten Einzelentscheidung heraus, das Problem der Anwendung des Währungsgesetzes aufrollt. Trotz dieser Beschränkung durch Grundsätze wird sich in diesen Grenzfällen — aber letzten Endes auch in keiner anderen richterlichen Entscheidung — das Moment der persönlichen Entscheidung nicht völlig ausschalten lassen. Das ist nicht möglich, wo es um sittliche Fragen geht. So sehr Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft sich bemühen mögen und bemühen müssen, das Wesen der Gerechtigkeit auch im Hinblick auf typische Einzeltatbestände in Grundsätzen festzuhalten: das Recht, das Naturrecht sowohl wie das positive Recht, wird dadurch keine Mathematik. Jedes positive Recht hat Lücken, und die Grundsätze der Gerechtigkeit bieten nur Ausgangspunkte. Auf die lebendige Stimme persönlich gefühlter Gerechtigkeit angesichts des konkreten Falles kann nie verzichtet werden; sie kann niemals ausgeschaltet werden. Auch das Recht, so sehr es sich bemüht, Gerechtigkeit in grundsätzliche Ordnung umzusetzen, kann sie nicht entbehren, wird im Gegenteil erst in ihr lebendig. Der Richter, in dem sich diese lebendige Synthese von abstrakter Gerechtigkeitsordnung und persönlicher Gerechtigkeit vollzieht, ist deshalb die beherrschende Gestalt des Rechtslebens. In ihm wird der Gegensatz von persönlicher und Ordnungsgerechtigkeit durch persönliche sittliche Entscheidung überwunden. In seiner Tätigkeit vollendet sich das Recht. II. 1. In der vorangegangenen Erörterung des positiven Rechts sind wir immer wieder auf den Begriff der Geltung des Rechtes gestoßen. In der Tat ist es ja geradezu das Wesen eines positiven Rechtssatzes, daß er „in Geltung" steht, „gültig" ist. Ein Rechtssatz, der nicht mehr gilt, mag von historischem Interesse sein, den Juristen interessiert er nicht mehr. Wesen und Grund der Rechtsgeltung haben im 19. Jahrhundert den Gegenstand einer lebhaften Debatte gebildet. Dabei ging man meistens davon aus, daß das Recht ein psychologisches Faktum sei, daß es mit der Vorstellung vom positiven Recht, die in den Menschen lebendig sei, identisch sei. Die große Entdeckung oder Wiederentdeckung 43

RGZ 107, 78.

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des Philosophen Edmund Husserl (1859—1938), daß wir zwischen dem psychischen Akt und dem Gegenstand, den er meint, auf den er gerichtet ist, selbst unterscheiden müssen1, war noch nicht gemacht oder noch nicht in ihrer Bedeutung erfaßt. Der Begriff eines metaphysisch „geistigen Seins" war weitgehend unbekannt. Wie selbstverständlich die „psychologische" Auffassung vom Recht, die Geist und Vorstellung gleichsetzte, noch am Anfang unseres Jahrhunderts war, dafür mögen die folgenden Sätze aus der so bedeutenden, damals geschriebenen Darstellung des allgemeinen Teils des Deutschen Bürgerlichen Rechts von v. Tuhr dienen: „Wie das objektive Recht eine geistige, nur in ihren Wirkungen sinnlich wahrnehmbare Macht ist, so gehören auch die vom Gesetz vorgeschriebenen Rechtsfolgen der Gedankenwelt an: die Rechtsverhältnisse, subjektiven Rechte, Pflichten, rechtlichen Eigenschaften von Personen und Sachen sind nicht äußerlich wahrnehmbare Dinge — niemand hat je ein Recht gesehen —, sondern Vorstellungen, welche im Geist der beteiligten Menschen existieren und auf ihre Handlungsweise einwirken, Vorstellungen von etwas Seinsollendem, welche infolge des dem Kulturmenschen innewohnenden Legalitätssinns freiwillig befolgt und durch den ebenso kunstvollen wie wirksamen Mechanismus der Rechtspflege gegen den Willen des Widerstrebenden erzwungen oder ohne seinen Willen durchgesetzt werden2." Dieser Umstand verdient bei der Würdigung der jetzt zu erörternden Theorien berücksichtigt zu werden. Sie suchten die Rechtsgeltung aus psychologischen Tatsachen, dem Vorliegen eines Befehls oder umgekehrt der Anordnung der Norm zu erklären. 2. Die sogen. „Imperativtheorie" erklärte die Rechtsgeltung aus der Autorität der Anordnung desjenigen, der die Rechtsnorm erlassen hat. Schon im 17. Jahrhundert hatte Hobbes3 scharf formuliert: „Auctoritas, non veritas facit legem". Diese Lehre ist von Austin (1790—1859), dem Begründer der allgemeinen Rechtslehre, zur Grundlage seiner Rechtstheorie gemacht worden. Das Recht ist für ihn der Befehl des Souveräns an seinen Untergebenen. Er sagt: „A law, in the most general and comprehensive acception, in which the term is employed, may be said to be a rule laid down for the guidance of 1

vgl. dazu Edmund Husserl, Logische Untersuchungen /1 (4. Aufl. 1928), S. 108 ff., 363 ff.; II/2 (3. Aufl. 1922), S. 8 ff., 172 ff. 2 v. Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II. l (1914), S. 3/4. * dazu oben Absdin. I. 6.

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an Intelligent by an intelligent being having power over him"4 und stellt folgende weitere Kriterien auf: „A law is a command which obliges a person or persons5 ..., ... obliges generally to acts or for bearances of a class. ... Law is a command which obliges a person or persons to a course of conduct. Laws and other commands are said to proceed from superiors, and to bind or oblige inferiors6. ... the term superiority signifies might7." So gelangt er dazu, das Recht als Gebot des Souveräns zu verstehen: „Every positive law ... is set by a sovereign person, or a sovereign body of persons, to a member or members of the independent political society wherein that person or body is sovereign or supreme8" und den Souverän selbst folgendermaßen zu umschreiben: „If a determinate human superior, not in a habit of obedience to a like superior, receives habitual obedience from the hulk of a given society, that determinate superior is sovereign in that society, and the society (including the superior) is a society political and independent9." Austin denkt bei dem Souverän an bestimmte Personen; hierin sind ihm nicht alle Vertreter der allgemeinen Rechtslehre gefolgt; wohl aber darin, daß sie die Rechtsgeltung aus der Autorität des höchsten Machtträgers ableiten10. Gegen diese Auffassung hat man eingewendet, daß sie nur einer ganz bestimmten Epoche der europäischen Rechtsgeschichte, nämlich der des Absolutismus, entspreche, sonst aber nicht passe11. Man hat sie auch als spezifisch römische oder römisch-byzantinische bezeichnet, wobei man freilich übersieht, daß das Corpus Juris, so sehr es die Kaisermacht verabsolutiert, diese selbst über die lex regia aus dem Volkswillen ableitet — eine jener vielen Ambiguitäten dieser großen Rechtssammlung. Allen hat in seiner Kritik an Austin nicht ohne Grund bemerkt, daß dessen Theorie im Grunde schon zur Zeit ihrer ersten Formulierung durch die politische Entwicklung überholt gewesen sei — wenn man überhaupt zugeben kann, daß der absolute Fürst jemals eine unbeschränkte Souveränität im Sinne der Austin*

4

Austin, Lectures on Jurisprudence (4. Aufl. London 1879), I, S. 88. Austin, aaO., I S. 98. Austin, aaO., I S. 98, 99. 7 8 Austin, aaO., I S. 99. Austin, aaO., I S. 225/226. 9 Austin, aaO., I S. 226. 10 Z. B. Somlo, Juristische Grundlehre (1917), S. 150 ff., 309 ff. 11 vgl. die Kritik bei Allen, Law in the making (5. Aufl. 1951), S. 5 ff. und neuerdings bei Hart, The Concept of Law (1961), S. 50 ff., insbes. S. 73. 5

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sehen Theorie gehabt hat; dies erscheint mit Rücksicht auf die zahlreichen „wohlerworbenen" Rechte, die gerade der französische König hatte, immerhin zweifelhaft. Solchen Schwierigkeiten gegenüber suchte man dadurch auszuweichen, daß man an die Stelle des Willens des Souveräns den Willen des Staates als Geltungsgrund des Rechts ansah. 3. Gegenüber jener Lehre hat dann schon die historische Schule die eigentliche Quelle der Rechtsgeltung in der Volksüberzeugung gesehen, und in der allgemeinen Rechtslehre ist diese Auffassung dann psychologisch als die Anerkennungstheorie formuliert worden. Bierling12 hat sie folgendermaßen gefaßt: „Recht im juristischen Sinne ist im allgemeinen alles, was Menschen, die in irgendwelcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen. In dieser Begriffsbestimmung sind drei Wahrheiten ausgesprochen: I) Zweck allen Rechts ist ein bestimmtes äußeres Verhalten von Menschen zu Menschen. II) Das Mittel zur Erreichung des vorgenannten Zwecks, darinnen das Recht einzig und allein besteht, sind Normen oder Imperative, welche sich richten an den Willen der Menschen. III) Von allen anderen Arten von Normen unterscheiden sich die Rechtsnormen dadurch — und nur dadurch —, daß sie mit der vorgedachten Zweckbestimmung, d. h. als Norm und Regel des äußeren Verhaltens anerkannt werden innerhalb eines bestimmten Kreises von Menschen und zwar von den zu diesem Kreise Gehörigen als von Genossen gegenüber Genossen" Noch mehr ins Psychologische gewendet, führt Jellinek zu dem Problem aus: „Eine Norm gilt dann, wenn sie die Fähigkeit hat, motivierend zu wirken, den Willen zu bestimmen. Diese Fähigkeit entspringt aber aus der nicht weiter ableitbaren Überzeugung, daß wir verpflichtet sind, sie zu befolgen. Die Positivität des Rechts ruht daher in letzter Linie immer auf der Überzeugung von seiner Gültigkeit. Auf dieses rein subjektive Element baut sich die ganze Rechtsordnung auf."13 Nach diesen Auffassungen ist es also nicht die Macht und die politische Autorität des Souveräns — und damit auch seine Entscheidung — allein, welche das Fundament der Rechtsgeltung bildet; vielmehr ist der Umstand maßgebend, daß die Gesamtheit der Rechtsunterworfenen sie als verbindlich hinnimmt.

12 13

Bierling, Juristische Prinzipienlehre I (1894), S. 19. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (3. Aufl. 1914), S. 333 f.

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Der große österreichische Jurist Franz Klein (1854—1926) ist über diese Feststellung noch hinausgegangen. Die Anerkennungstheorie beantwortet die Frage nach dem soziologischen Geltungsgrund des Rechtes nur mit einer vorläufigen Feststellung. Dahinter erhebt sich die weitere Frage, worauf die Anerkennung des Rechtes denn nun ihrerseits zurückgeht, d. h. welche Motive es sind, die die Rechtsgemeinschaft veranlassen, das Recht anzuerkennen. Dieser Frage ist Franz Klein, der Verfasser der berühmten österreichischen Zivilprozeßordnung, in einer sorgfältigen und methodischen Untersuchung nachgegangen14. Er findet das entscheidende Motiv, soweit der Durchschnittsmensch, die Masse, in Frage steht, in der Gewissensbindung des Menschen durch die Gesellschaftsmoral, d. h. die sittlichen Werte, wie sie in der Auffassung der Gruppe (des Volkes) lebendig und durch ihre Interessen eingeengt und abgelenkt sind15. Diese moralischen Vorstellungen, die Gruppenmoral, sind nach Klein die Motive, aus denen die Rechtsgenossen dem Recht gehorchen. Das Rechtsbewußtsein also trägt das Recht. Es ist durch sittliche Wertvorstellungen und Gruppengeist bestimmt. 4. Gegenüber dieser Art der Betrachtungsweise sind nun aber zwei Einwände erhoben worden. a) Der Neukantianismus wies darauf hin, daß sowohl die Befehlstheorie wie die Anerkennungstheorie das Problem gar nicht lösen könnten. Beide Theorien legten psychologische Gegebenheiten zu Grunde, um die Geltung des Rechtes zu begründen. Kant aber hatte schon gelehrt, daß aus einem bloßen Faktum, einer Feststellung über das Sein, niemals ein „Sollen" folgen könne; also könne auch nicht aus einem psychologischen oder historischen Faktum die Geltung der Rechtsnorm abgeleitet werden; denn Geltung bedeute eben, daß die betreffende Norm verbindlich sei, mithin dem „Sollen" angehöre. Anerkennungs- und Befehlstheorie könnten also wohl das Faktum konstatieren, daß und warum bestimmte Leute eine gegebene Rechtsordnung befolgten; die Rechtsgeltung selbst könnten sie nicht erklären. Sie bedürfe einer zusätzlichen Ableitung. Kelsen hat daraus inbes. die Folgerung gezogen, daß man „soziologische" und „juristische" Betrachtungen scharf trennen müsse und 14

Franz Klein, Die psychischen Quellen des Rechtsgehorsams und der Rechtsgeltung. Vorträge und Schriften zur Fortbildung des Rechts und der Juristen. Heft l (Berlin 1912). 15 vgl. dazu Fr. Klein, aaO., S. 35, 36; auch Scbeler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (4. Aufl. 1954), S. 313.

Das positive Recht und seine Geltung

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innerhalb der „juristischen" Betrachtungsweise den Sollenscharakter des Rechts, seine verbindliche Geltung, ohne jede Rücksicht auf psychologische oder faktische Gegebenheiten ableiten müsse16. Dies führte ihn zu seinen Lehren vom Stufenbau der Rechtsnormen und von der Grundnorm. Denn der Geltungsgrund einer Norm kann nur die Geltung einer anderen Norm sein17. Diese Grundnorm lautet: „Da es die Grundnorm einer Rechtsordnung, das heißt: einer Zwangsakte statuierenden Ordnung ist, lautet der diese Norm beschreibende Satz, der Grundsatz der in Frage kommenden staatlichen Rechtsordnung: Zwangsakte sollen gesetzt werden unter den Bedingungen und auf die Weise, die die historisch erste Staats Verfassung und die ihr gemäß gesetzten Normen statuieren (in verkürzter Form: man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt)."18 Diese Grundnorm ist also nur eine vorausgesetzte Norm: sie wird vorausgesetzt, um den Sollenszusammenhang aller Normen eines Rechtssystems herzustellen und damit deren Sollenscharakter zu begründen. b) Andererseits hat man vom Standpunkt des philosophischen Positivismus aus das Problem der Rechtsgeltung überhaupt geleugnet. Man hat insbes. die Befehls- oder Willenstheorie deswegen kritisiert, weil sie sich nicht rein auf beobachtbare Fakten beschränke und in Vorstellungen wie derjenigen des „Willens des Staates" noch naturrechtlich-methaphysische Vorstellungen mitschleppe. Diese Kritik ist vor allem von Hägerström erhoben worden19. Hägerström folgerte daraus, daß man die Frage nach abstrakten Rechtssätzen überhaupt aufgeben und sich auf die Beschreibung der 18

„Die Suche nadi dem Geltungsgrund einer Norm kann nicht, wie die Sudie nadi der Ursache einer Wirkung, ins Endlose gehen. Sie muß bei einer Norm enden, die als letzte, höchste vorausgesetzt wird. Als höchste Norm muß sie vorausgesetzt sein, da sie nicht von einer Autorität gesetzt sein kann, deren Kompetenz auf einer noch höheren Norm beruhen müßte. Ihre Geltung kann nicht mehr von einer höheren Norm abgeleitet, der Grund ihrer Geltung nicht mehr in Frage gestellt werden. Eine solche als höchste vorausgesetzte Norm wird hier als Grundnorm bezeichnet", Reisen, Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 197. 17 Kelsen, aaO., S. 126. 18 Kelsen, aaO., S. 203, 204. 19 vgl. sein Essay „Is positive Law an Expression of Will?" (1906) jetzt ab.gedruckt in der Sammlung „Inquiries into the Nature of Law and Morals" (Uppsala 1953).

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Kapitel V

Fakten, d. h. des Verhaltens bestimmter Personen beschränken müsse. Damit war dann der Begriff der Norm überhaupt und damit natürlich auch das Problem ihrer Geltung beseitigt. In ähnlicher Richtung gehen Überlegungen mancher Vertreter des amerikanischen Realismus : Wenn etwa — so der Richter O. W. Holmes — die Rechtssätze nur Voraussagen über das künftige Verhalten von Richtern sind, so haben sie keinen Normcharakter mehr; sie sind Hypothesen über das Eintreten künftiger Tatsachen — hier das Verhalten von Richtern — und das Problem der Rechtsgeltung verschwindet. 5. a) Bei einer Stellungnahme muß man sich vor allem von der Vorstellung frei machen, daß das Recht, auch das positive Recht, mit bestimmten Vorstellungen, also mit psychologischen Fakten identisch sei. Die Rechtsordnung ist das so wenig, wie ein Klavierkonzert von Beethoven oder Thomas Manns Zauberberg mit den psychologischen Vorgängen im Hörer oder im Lesenden identisch ist. So wie diese Kunstwerke vorhanden sind, auch wenn sie gerade niemand spielt, hört oder liest, so ist auch ein Rechtssatz da, auch wenn an ihn in einem bestimmten Augenblick niemand denkt, ihn anwendet oder befolgt. Die Rechtsordnung ist mit anderen Worten „geistiges Sein" und zwar „objektiviertes" oder fixiertes geistiges Sein, d. h. ein in einem Text niedergelegter geistiger Gehalt20. Als solcher existiert sie ganz unabhängig davon, ob sie von bestimmten Personen in konkreten psychologischen Denkakten erfaßt, durchdacht und vollzogen wird. Nun gibt es aber verschiedene Arten des geistigen Seins, geistiger Inhalte. Ein Kunstwerk ist von anderem Gehalt als eine wissenschaftliche Theorie oder ein ethischer Satz. Zur Eigenart des positiven Rechts gehört, daß es eine verbindliche Ordnung für eine bestimmte Gesellschaft ist, daß es Konflikte entscheidet und Kooperation ermöglicht. Mit dieser Eigenart hängt zusammen, daß es ein „Sollen" zum Inhalt hat. Nur so ist es zu verstehen. Auch ein historisch gewordenes Recht, etwa das Recht der römischen Kaiserzeit, kann nur so — als verbindliche Ordnung — begriffen werden. b) Von dieser Eigenart des Rechts als eines geistigen Gebildes ist aber die Frage zu trennen, ob eine bestimmte Rechtsordnung oder einzelne ihrer Sätze in der Wirklichkeit Geltung haben. Dies ist eine faktische Frage, ein Problem, das die soziale Realität betrifft.

20

vgl. dazu oben Abschn, I. l und Nicolai Hartmann, Problem des geistigen Seins (2. Aufl. 1949), S. 408, 409.

Das positive Recht und seine Geltung

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Welches sind aber die tatsächlichen Umstände, die gegeben sein müssen, damit von einer ,Geltung' in diesem Sinne gesprochen werden kann? Im Grundsatz wird der Anerkennungstheorie zu folgen sein. Indessen wird sie m. E. in mehrfacher Hinsicht zu qualifizieren sein. Man wird zunächst nicht fordern dürfen, daß die Gesamtbevölkerung jeden einzelnen Satz der Rechtsordnung kennt und anerkennt; Luhmann hat in diesem Zusammenhang mit Recht einmal die Frage gestellt, ob wirklich der damalige § 1753 BGB jedermann bekannt sein müsse. Es ist notwendig zu differenzieren. Einmal kommt es darauf an, daß die Grundwerte, auf denen die betreffende Rechtsordnung beruht, und die sich daraus ergebenden Institute in der Volksanschauung verwurzelt sind. In einer modernen Demokratie sind diese Grundwerte regelmäßig im Grundrechtsteil der Verfassung verankert. Dies war die richtige Einsicht der historischen Schule, der übrigens die oben erörterten Feststellungen Franz Kleins in etwa entsprechen. Anerkannt müssen ferner diejenigen Prinzipien und Verfahren sein, nach denen in einer bestimmten Gesellschaft Recht entstehen soll, die von Hart sogenannten „Rules of recognition". Auf ihnen gründet, was Luhmann als „Legitimität durch Verfahren" bezeichnet hat. Nähert man sich damit schon dem Problem der Geltung der politischen Verfassung, so muß man sich des weiteren vergegenwärtigen, daß — nach der treffenden Formulierung Walther Burckhardts — diejenige Rechtsordnung positiv gilt, für die „eine entsprechende Organisation eintritt".21 Es kommt also auch darauf an, daß diese Organisation, in den Verhältnissen der Gegenwart regelmäßig der Staat, als Organisation anerkannt ist. In diesem Zusammenhang ist die Lehre von Ferrero über die Prinzipien der Legitimität bedeutsam. Schließlich ist in diesem Zusammenhang die subjektive Feststellung von Luhmann von Bedeutung, daß es bei diesen Fragen primär darum geht, ob die Beteiligten in ihren Erwartungen davon ausgehen, daß alle oder die meisten anderen jenes Grundinstitut und das politische System anerkennen22. c) Freilich stehen Faktisches und Ideales, Geschichtliches und Wesensmäßiges bei der Rechtsnorm nun doch nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind in eigenartiger Weise verschlungen. Dies gilt übrigens auch für sonstige Wesenheiten objektivierten Geistes in gewisser Weise: denn ein Kunstwerk, eine Plastik, ein Werk der Archi-

21 22

W. Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft (1927), S. 177. Luhmann, Rechtssoziologie I, S. 71, Anm. 27.

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Kapitel V

tektur kann physisch zerstört werden und damit auch als geistiger Gehalt untergehen23. Die Rechtsnorm geht aus dem geschichtlichen Leben hervor, entsteht durch einen historischen Akt. Auch das ist beim Kunstwerk nicht anders. Welche Akte hier im einzelnen in Betracht kommen, hängt von der positiven Verfassung des betreffenden Gemeinwesens, von den in ihm anerkannten Rechtsquellen ab. Aber die Rechtsnorm kann auch ihr Wesen verändern, sie kann ihren Charakter als geltendes Recht verlieren durch faktische Vorgänge, insbes. durch vollständiges Aufhören der faktischen Anerkennung. Wir sagen dann: sie ist desuet geworden. Oder sie ist durch erfolgreiche Revolution außer Kraft gesetzt. Der Verlust der „geschichtlichen" faktischen Geltung führt dann auch den Verlust der idealen herbei. Hier liegen die Dinge anders als beim Kunstwerk: denn auch ein von niemandem gekanntes, z. B. eine in der Erde verborgene unentdeckte Skulptur bewahrt ihren Charakter als geistiges Werk und kann, wieder entdeckt, neu zu wirken beginnen24. Das kann zwar der Rechtsnorm widerfahren: man denke an die Wiederentdeckung des Corpus Juris Justinians im Mittelalter; aber zunächst bewirkt die Nichtmehranerkennung eine Veränderung in ihrem Charakter als geistiges Werk; sie nimmt ihr die Geltung.

23 24

Dazu Hartmann, aaO., S. 448. Dazu Hartmann, aaO., S. 486 ff.

KAPITEL VI DAS JURISTISCHE DENKEN I. In seiner hier schon einmal zitierten kritischen Gegenüberstellung des juristischen und philosophischen Denkens meint Kant etwas gönnerhaft vom Rechtsgelehrten: „Was Rechtens sei (quid sit iuris?) d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er wohl noch angeben ..." Das ist abschätzig gemeint, weil, wie Kant fortfährt, damit dem Juristen das Kriterium dafür, „woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne", verborgen bleibt1. Aber die Äußerung charakterisiert die Aufgabe des Juristen richtig, besonders, wenn man in die Formel „Was Rechtens sei?" noch einfügt „Was in einem bestimmten Falle rechtens sei". Denn was die Gesetze sagen, interessiert den Juristen deswegen, weil er mit Rücksicht auf bestimmte Fälle Auskunft geben muß, was Recht ist. Die Frage beantwortet der Richter autoritativ, wenn er ein Urteil erläßt; aber ebenso muß sie der Anwalt sich stellen, wenn er einen Klienten berät, oder der Verwaltungsbeamte, der eine Anordnung treffen will. Das „Responded" ist die Hauptaufgabe des Juristen; sie hat sein Denken recht eigentlich geprägt. Freilich ist sie nicht die einzige; daneben steht von alters her die Aufgabe des Entwerfens juristischer Urkunden und Regelungen: das „Cavere" der römischen Jurisprudenz. Gewiß hat auch diese Tätigkeit das juristische Denken mitgeprägt, und klare und widerspruchsfreie Formulierung von Regelungen erwartet man von ihm. Aber Denkweise und Methode der Juristen sind doch in erster Linie von der Beurteilung der einzelnen Rechtsfrage her bestimmt. Der Jurist muß den einzelnen konkreten Fall, den er beurteilen soll, mit den mehr oder weniger abstrakt gefaßten Regeln in Beziehung setzen, aus denen die positive Rechtsordnung besteht. Regel und Fall sind die beiden Termini seines Denkens. Seine Überlegungen gehen vom Fall zur Regel und von der Regel zum Fall, beide verglei1

Kant, Metaphysik der Sitten (1797) Einleitung in die Rechtslehre (Inselausgabe von Weisdiedel) IV, S. 336.

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Kapitel VI

chend, analysierend, abwägend. Der Fall wird im Hinblick auf die Regeln analysiert, die möglicherweise zur Anwendung kommen, die Entscheidung bestimmen können; umgekehrt wird die Regel im Hinblick auf bestimmte Fälle oder Fallgruppen interpretiert. Juristisches Denken ist insofern Urteilen; juristische Tätigkeit Ausübung der Urteilskraft. Damit diese Beziehung der Regel auf den Fall hergestellt werden kann, muß man sich natürlich des Inhalts der Regel genau versichern; man muß sie verstehen, muß wissen, was sie bedeutet, um sie richtig anzuwenden, d. h. in den Fällen zur Geltung zu bringen, für die sie aufgestellt ist. Daher kommt der Auslegung der juristischen Regeln eine wichtige (wenn auch letzten Endes nur vorbereitende) Rolle im juristischen Denken zu, und die Jurisprudenz gehört insoweit zu den interpretierenden Wissenschaften. Hier zeigt sich der Zusammenhang des juristischen Denkens mit der Hermeneutik als der allgemeinen Lehre von den Wegen, die zum Verständnis eines Textes führen. Denn die Probleme, die ganz allgemein bei der Auslegung eines Textes auftauchen, etwa die rechte Beachtung des Gesamtzusammenhangs oder die Berücksichtigung der Umstände, unter denen der Text zustande kam, stellen sich natürlich auch, wenn es um das Verständnis rechtlicher Regeln geht. Die Methoden, welche eine bestimmte Jurisprudenz bei der Auslegung ihrer Texte anwendet, die Gesichtspunkte, die sie dabei anerkennt oder verwirft, machen einen Teil ihrer kulturgeschichtlichen Eigenart aus; in diesen Punkten unterscheidet sich etwa die deutsche Pandektistik des 19. Jahrhunderts von der wertenden Interessen Jurisprudenz unserer Gegenwart. So tritt neben die Ausübung der Urteilskraft als zweites Element juristischen Denkens die juristische Hermeneutik. Kant meint in dem am Eingang zitierten Wort, die Frage „quid sit iuris" könne der Jurist aus dem geltenden Recht beantworten. So ist es glücklicherweise in den meisten Fällen, aber doch keineswegs immer. Es gibt — je nach Temperament von den einen beklagt, von den anderen gepriesen, aber jedenfalls nach aller bisherigen Erfahrung nicht wegzuleugnen — das Phänomen der „Lücke im Recht"; anders ausgedrückt, es gibt Fälle, für die die vorhandene Rechtsordnung keine passende Regel enthält. Dann erwächst dem Juristen die Aufgabe, eine Regel erst zu entwickeln, die den ungeregelten Fall zu lösen erlaubt. Dies ist die dritte, nach manchen die vornehmste Aufgabe des Juristen: das Recht durch Bildung neuer Regeln fortzuentwickeln.

Das juristische Denken

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Es ist für das Recht von außerordentlicher Bedeutung, daß für die Lösungen dieser Aufgaben möglichst sichere und nachprüfbare Methoden entwickelt werden. Es handelt sich hier nicht nur um die wissenschaftliche Qualität, die „Sauberkeit" des juristischen Denkens. Es besteht vielmehr auch eine unmittelbare Beziehung zu Grundfunktionen des Rechtes selbst. Dabei braucht man zunächst gar nicht an das Problem der Bindung an die Gerechtigkeit zu denken, die hier gemeinte Beziehung ergibt sich vielmehr schon aus der Aufgabe, Friede, Sicherheit sowie Gleichheit zu gewährleisten. Die rechtliche Norm ist häufig das Ergebnis weltanschaulich oder interessenmäßig bedingter politischer Auseinandersetzungen; ähnlich der Vertrag das Resultat mehr oder weniger „harter" Verhandlungen. Die Norm soll diesen Streit beenden; sie soll — und wenn auch vielleicht nur auf Zeit — die Auseinandersetzung abschließen. Dafür aber ist es wichtig, daß sie nun, soweit wie möglich, aus sich selbst heraus verstanden und ausgelegt wird, und nicht erneut in Anwendung und Auslegung zum Gegenstand politischer Entscheidung gemacht wird. Man hat gesagt, alle juristische Auslegung sei letzten Endes doch Willensentscheidung und damit Politik; aber das scheint mir ein grundsätzliches Mißverständnis der Funktion des Rechts als Friedensordnung zu sein. Gerade weil und wenn eine rechtliche Regelung aus politischen oder wirtschaftlichen Kämpfen hervorgeht, soll sie den Kampf beenden: die einmal erreichte und akzeptierte Ordnung soll jetzt gelten; diese Funktion verlangt, daß der Jurist, der sie praktisch anzuwenden hat, soweit wie möglich mit rationalen Methoden die Bedeutung der Norm herausarbeitet und zur Geltung bringt. Dieses Bestreben trifft auf Grenzen: aber deshalb darf es nicht von vornherein als sinnlos abgewiesen werden: der Jurist muß den Versuch machen, dem Recht zu dienen, dessen Entscheidungen zu vollziehen und nicht seine eigene an die Stelle zu setzen. Das kann er aber nur, wenn er sein Denken methodischen Grundsätzen unterordnet. Auch hier gilt es — ähnlich wie bei der Ethik — den Versuch rationalen, methodischen Verfahrens so lange zu unternehmen wie irgend möglich und nicht vorzeitig abzubrechen, weil er nicht in allen Fallen zum Erfolg führen kann. Es wird die Aufgabe der folgenden Darlegungen sein, des näheren darzustellen, wie juristisches Denken diese Aufgabe lösen kann und lösen sollte (vgl. IV—V). Zuvor aber müssen wir, jedenfalls an einigen Beispielen, deutlich machen, wie verschieden die Wege sind, die man versucht hat zu gehen, und an welchem Punkt die heutige Diskussion, vor allem im Bereich des deutschen Rechtes, steht.

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Kapitel VI II.

Die Geschichte des geordneten Rechtsdenkens ist noch nicht geschrieben1. Ebensowenig existiert eine Universalgeschichte der Rechtswissenschaft2. Das macht es außerordentlich schwierig, allgemein über juristisches Denken zu sprechen. Unwillkürlich denkt jeder Autor in den Kategorien seines eigenes Rechtssystems und übersieht die anderen Denkweisen, die es außer diesen gibt oder in anderen Kulturen gegeben hat. Daß wir noch keine umfassenden Analysen dieser anderen Systeme haben, erschwert die Kritik, die Relativierung der eigenen Erfahrung. Immerhin soll der Versuch gemacht werden, wenigstens Hinweise auf einige andere juristische Denkweisen zu geben, ehe sich die Darstellung den methodischen Problemen zuwendet, wie sie sich für unser, d. h. hier das kontinentaleuropäische kodifizierte Recht im besonderen darstellen. Es ist das gewissermaßen ein „Caveat", das daran erinnern soll, wie verschieden sich die methodischen Fragen — bei voller Übereinstimmung in der Zielsetzung und in der Grundproblematik, etwa dem Lückenproblem — für verschiedene Zeiten und Systeme im einzelnen stellen. Denn natürlich ist die Technik, die Methode, welche die Jurisprudenz einer bestimmten Zeit verwendet, von vielen rechtlichen und außerrechtlichen Gegebenheiten bedingt. Was die rechtlichen Faktoren angeht, so ist die Eigenart des vorhandenen Rechts, der Quellen des positiven Rechts von großer Bedeutung. Die Probleme liegen anders, je nachdem ob eine Kodifikation oder nur eine fragmenta1

Steinwenter, Prolegomena zu einer Geschichte der Analogie, Festschrift Schulz II (1951), S. 345 ff. Steinwenter selbst hat eine Reihe von wichtigen Arbeiten zur Geschichte des Analogieschlusses vorgelegt; außer den eben erwähnten Prolegomena I die Aufsätze „Prolegomena zu einer Geschichte der Analogie II" in Studi in onore di Vincenzo Arangio-Ruiz II (1953), S. 169 ff. und „Analoge Rechtsanwendung im Römischen Recht" in Studi in memoria di Albertario II (1953), S. 105 ff. Leider gehen diese Untersuchungen nicht von dem allgemeinen philosophischen Begriff der Analogie, sondern von dem sehr speziellen der modernen deutschen Auslegungslehre aus. Von grundlegender Bedeutung jetzt die Arbeit von M. Herberger, Dogmatik (1981). 2

Der Plan von De Zulueta und Hermann Kantorowicz, eine umfassende Geschichte der Rechtswissenschaft herauszubringen, die Oxford History of Legal Science, hat leider durch den letzten Krieg nicht ausgeführt werden können. Vgl. über den Plan Fritz Schulz im Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner „Geschichte der Römischen Rechtswissenschaft" (1961) und Goodhart im Vorwort zu Kantorowicz' Schrift „The Definition of Law" ed. by Campbell (1958).

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rische Gesetzgebung vorhanden ist. An außerrechtlichen Daten kommt der politischen Verfassung, der Stellung des Riditertums im Verhältnis zur politischen Zentralgewalt große Bedeutung zu; ebenso prägen aber auch die wissenschaftlichen Methoden einer Zeit den juristischen Denkstil mit: die Rechtswissenschaft sieht in der Zeit der Scholastik anders aus als unter dem Einfluß des philosophischen Positivismus. Um dies deutlich zu machen, mag es genügen, einige Schlaglichter zu setzen, welche einige wichtige Epochen beleuchten. Ich greife, dem begrenzten Stand der eigenen Einsicht entsprechend, die folgenden heraus: die römische Rechtswissenschaft der klassischen Zeit, die Anwendung des römischen Rechts im Mittelalter — was Kantorowicz als „scholastische Rechtswissenschaft" bezeichnet hat —, die Systematik der Pandektistik und die klassische Auffassung der „Exogese" des Code in Frankreich. Dann sollen einige Hinweise auf das angloamerikanische Rechtsdenken folgen. 1. Die klassische römische Jurisprudenz entwickelte sich unter einer Rechtsordnung, die in vieler Hinsicht, vor allem im Privatrecht, nicht mehr als einen Rahmen bot. Die Gesetzgebung beschränkte sich sowohl in der Republik wie in der Zeit des Prinzipats auf die Regelung einzelner, sehr spezieller Materien; das prätorische Recht war schon deswegen nicht vollständig, weil es — ähnlich der englischen Equity in ihrem Verhältnis zum älteren Common Law — nur eine ergänzende Rechtsordnung war; es war „adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia" geschaffen3. Außerdem war es nicht in der Form materieller Rechtssätze niedergelegt; das Edikt des Prätors, in dem es enthalten war, bestand vielmehr in der Hauptsache aus der Verheißung von Klagen für bestimmte Tatbestände und Formeln für die Durchführung von Prozessen. Daher fehlten nicht nur bestimmte Materien — etwa die Regeln über Vertragserfüllung und Leistungsstörungen — sondern auch da, wo das Edikt eine Klageformel bot, wie etwa beim Kaufvertrage, war diese Formel oft nur ein Rahmen, der zur praktischen Anwendung einer Ausfüllung bedurfte. Die damit gegebene Aufgabe konnte die Rechtsprechung nicht lösen, weil sie in der klassischen Zeit durch Geschworene, also in der Regel Laien, ausgeübt wurde, die ihren Spruch nicht begründeten. Erst mit der allmählichen Entwicklung des kaiserlichen Consiliums zur obersten gerichtlichen Instanz des Reiches entstand ein mit Berufsrichtern besetztes Gericht. Der Einfluß der Juristen äußerte sich daher in anderer Form, der des „Responsum". Es handelt sich um eine später wohl regelmäßig schriftlich erteilte Auskunft über eine bestimmte Rechts8

Papinian, D 1.1.7. l.

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Kapitel VI

frage, die von einer Partei einem Juristen vorgelegt war; das Responsum wurde im Streitfalle dann dem Gericht vorgelegt. Das Responsum teilt regelmäßig nur die Rechtsauffassung des Gefragten mit, und zwar in knappster Form. Regelmäßig wird nur gesagt, ob eine Klage gegeben sei oder nicht. Begründungen sind selten. Die Juristen sind dafür berühmt, daß sie auf Begründung verzichten4. Die Autorität des Responsum beruht auf dem persönlichen Ansehen des Juristen, der in dieser Zeit stets der römischen Oberschicht angehört. Daher begnügt er sich festzustellen, dies halte er für wahr und richtig5. Die Responsa betreffen, ihrer Entstehung entsprechend, stets Einzelprobleme, wie sie aus konkreten Fällen erwachsen. Die römische Rechtswissenschaft stellt sich daher zunächst als eine unendliche Fülle solcher Detailentscheidungen dar, die in freier Diskussion gefunden und fortentwickelt werden. Prinzipien, regulae, hat daraus erst eine spätere Zeit entwickelt; für die klassische Zeit steht die Einzelentscheidung im Vordergrund; es gilt der Satz „Non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat" (D 50.17.1). Dementsprechend bilden Sammlungen von Responsa und Kommentare, die materialmäßig weitgehend auf ihnen beruhen, die Hauptbestandteile der klassischen Rechtsliteratur der Römer. Obwohl die römischen Juristen uns den Gedankengang, der zu ihrem Ergebnis geführt hat, in der Regel nicht mitteilen, hat es natürlich Gesichtspunkte, Regeln gegeben, die ihr juristisches Denken leiteten. Im einzelnen ist hier freilich noch vieles unsicher und bestritten. Eine große Rolle spielten sicher sprachliche Gesichtspunkte; das legte schon der Wortformalismus nahe, der in der Entwicklung des römischen Rechts eine so große Rolle gespielt hat. Der klassische Jurist benutzt die Ergebnisse der griechischen Sprachtheorie, die Grundsätze der Grammatik, aber auch z. B. die Etymologie. Er benutzt ferner die Methode der griechischen Wissenschaftslehre, wie sie insbes. im Anschluß an Platons Logik entwickelt worden war: die Festlegung leitender Begriffe, die Unterscheidung von Arten und Unterarten (genera, species), die unter solche Begriffe fielen, und damit die begriffliche Durchdringung des Rechtsstoffes6. 4

vgl. die von Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (1961), S. 147 zitierten Seneca-Stellen. 5 vgl. die Beispiele bei Schulz aaO., S. 146/147. 6 Zur Entfaltung dieser Methode in den Einzelwissenschaften und ihrem Einfluß auf die Jurisprudenz vgl. die Arbeiten von La Pira, La genesi del sistema nella giurisprudenza Romana: I. Problem! generali, in: Studi in onore di F. Virgili (1935); II. L'arte sistematrice, Bullettino dell* Istituto di diritto Romano 42 (1934), S. 336 ff.; III. II metodo, Studia et Documenta

Das juristische Denken

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Auf der Verwendung dieser Technik beruht insbes. das Lehrbuch des Gaius (ca. 160 nach Chr.), das ein für Lehrzwecke ausgearbeitetes System des Privatrechts bietet, welches die juristische Systematik über \l/2 Jahrtausende mitbestimmt hat. Gering ist der Einfluß rechtsphilosophischer Theorien, sehr umstritten, welche Bedeutung die Lehren der antiken Rhetorik gehabt haben7. 2. Die Rechtswissenschaft des Mittelalters ist eine Universitätsdisziplin. Der Unterricht an der scholastischen Universität und seine Veranstaltungen haben sie ursprünglich geprägt. Wie mittelalterliche Wissenschaft überhaupt, vermittelt sie zunächst die Beherrschung autoritativer Bücher, die — wie in den anderen Disziplinen — der Antike entstammen: in der Legistik herrscht das Corpus luris, in dem Justinians Gesetzgebung den Hauptteil ausmacht; im Kanonischen Recht zunächst Gratians Decretum (ca. 1140), das kirchliche Quellen ebenfalls von der Spätantike an zusammenstellt; später die Dekretalensammlungen der Päpste. Die zeitgenössischen Rechtsquellen spielen sonst im Unterricht keine Rolle; in der Praxis werden sie natürlich beachtet, aber in das allgemeine Recht, das lus Commune, das die Universität lehrt, eingeordnet und aus ihm erklärt. Die Arbeit der mittelalterlichen Rechtswissenschaft wird durch zwei Faktoren bestimmt. Sie beruht zunächst auf der Logik der Zeit; sie bedient sich dabei sowohl der Schlußlogik, wie besonders der logischen Argumentationslehre. Historische und soziologische Argumente fehlen; systematische Ableitungen aus Prinzipien sind selten. Die Rechtswissenschaft orientiert sich am Einzeltext, und das heißt angesichts der Eigenart der römischen und kanonischen Rechtssammlungen, an der Kasuistik. Am Einzeltext wird zunächst der entschiedene Einzelfall (casus) und seine Lösung herausgearbeitet. Dann aber wird im logischen Verfahren auch herausgearbeitet, welches allgemeine Argument für einen Rechtssatz sich aus dieser Entscheidung gewinnen läßt. In dieser Form — als Argumente — werden die Einzeltexte dann bei der Lösung von zweifelhaften Fällen, wie der Erörterung von Quaestiones verwendet, wenn es darum geht, Sätze zu finden, mit deren Hilfe sich die Quaestio beantworten läßt. Die Erörterung solcher Fragen erfolgt in einem strengen Schema: These — Gegenthese — solutio; bei jedem Schritt werden die Einzeltexte angeführt, die als Argumente dienen. Historiae et luris l (1935), S. 319 if.; IV. II concetto di scienza, Bullettino 44 (1936), S. 131 ff. 7 Betont wird dieser Einfluß von Strottx, Römische Rechtswissenschaft und Rhetorik (1949), S. 23 ff., 102 ff.; die herrschende Auffassung ist eher skeptisch: vgl. Schulz, aaO., S. 92/93.

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Kapitel VI

Das Modell der Erörterung des Einzelfalls oder einer einzelnen Auslegungsfrage ist die Schuldisputation der Universität, die Quaestio disputata. In ihr wird die Lösung einer Einzelfrage in offener Diskussion gesucht; es handelt sich um eine ausgesprochene und hoch stilisierte Form des Problemdenkens. Die Argumente der Lösung sind stets Einzeltexte aus dem Corpus luris Civilis (oder Canonici). Schon im normalen Unterricht wird bei der Behandlung der Einzelstelle auf deren Bedeutung als Argument hingewiesen und zu diesem Zweck werden besondere Sammlungen (sogen. Brocarda oder Brocardica) geschrieben. Später dienen große Repertorien der Zusammenstellung von Regeln, die als Argumente gedacht sind, und dem Nachweis der Texte, auf dem sie beruhen8. Entsprechend ist die Behandlung der Fälle in der Praxis. Die mittelalterliche Rechtswissenschaft hat viele Tausende von Gutachten, sogen. Consilia hervorgebracht, die für Parteien oder Gerichtsherren erstattet worden sind. Auch sie gehören also zur kasuistischen Literatur, sind aber ganz anders gebaut als die römischen Responsa. Die einzelnen Probleme des Falles werden nacheinander vorgenommen und nach der Weise der Quaestio in Erörterung und Abwägung der Gegenargumente gelöst; dabei geben stets die autoritativen Quellenstellen das Argument ab. Anders als bei den Römern liegt der Gedankengang des scholastischen Juristen deutlich vor uns9. Freie Erwägungen der Billigkeit oder der Interessenwürdigung fehlen: stets denkt der mittelalterliche Jurist mit Hilfe eines Textes aus der Quelle. Dabei zeigt die Kombination dieser Texte, ihre Verwendung im ganzen der Argumentation, oft nicht nur bewundernswerte Beherrschung des riesigen Stoffes, sondern auch ein tiefes Eindringen in den materialen Grundgedanken, die tiefere Bedeutung einer Stelle, soweit eine unhistorische, rein logische Interpretation ihn bloßlegen kann. 3. Es ist von hohem Reiz, diese Form juristischen Denkens derjenigen der deutschen Pandektistik oder der französischen Ecole de l'ex^gese des 19. Jahrhunderts gegenüberzustellen. Beide Schulen arbeiten auf Grund autoritativer Texte — wie die des Mittelalters — die Pandektistik sogar.mit denselben wie jene — und doch: wie anders ist das Bild, das sie bieten. 8

Zur mittelalterlidien Quaestio vgl. H. Kantorowicz, The Quaestiones Disputatae of the Glossators, Tijdsdirift voor Reditsgesdiiedenis 16 (1939) l ff.; zur Verwendung der Texte als Argumentation Weimar, Argumenta Brocardica, in: Studia Gratiana XIV (1967), 89 ff. • vgl. Going, Die Anwendung des Corpus luris in den Consilien des Bartolus, Studi in memoria di P. Koschaker (1954) I, S. 71 ff.

Das juristische Denken

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Die Methode des modernen kontinentalen Juristen wird, namentlich von angelsächsischer Seite, gerne dahin charakterisiert, daß der kontinentale Jurist von der Norm ausgehe und darunter den Fall subsumiere, während der europäische Angelsachse empirisch verfahre und daher vom Fall her induktiv seine Regeln „bilde"10. Es mag im Augenblick dahingestellt bleiben, wieweit diese Charakteristik heute wirklich noch zutrifft: sicher ist jedenfalls, daß sich in der Denkweise der kontinentalen Juristen in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit eine Änderung gegenüber der Scholastik vollzogen hat. Während diese mit dem Einzeltext arbeitete, bildet man jetzt aus den Einzeltexten Prinzipien und bringt diese bei der Fallösung zur Anwendung. Rein äußerlich zeigt sich der Wandel darin, daß nunmehr in den Darstellungen des Römischen Rechts der Autor die Rechtssätze selbst formuliert und die Einzeltexte, aus denen diese Rechtssätze entwickelt sind, in die Fußnoten verweist11. Die einzelnen Phasen des Vorganges sind noch nicht voll erforscht: aber Ausgangspunkt und Endpunkt der Entwicklung stehen fest; dieser ist das Denken aus Prinzipien heraus. Diese Wendung ist eine der inneren Voraussetzungen der modernen Kodifikation, aber auch der Methode der deutschen Pandektistik des 19. Jahrhunderts. Was diese hinzufügt, ist die besondere Rolle, welche sie dem Rechtssystem und den begrifflich festgelegten Instituten gibt, aus denen es besteht. Die Grundelemente dieser Auffassung sind schon bei Savigny in seinem „System des heutigen römischen Rechts" (1840) entwickelt. Savigny unterscheidet scharf zwischen der einzelnen positiven Rechtsregel und dem Rechtsinstitut, zu dem diese Regel gehört. Solche Rechtsinstitute sind z. B. Ehe, väterliche Gewalt, Verwandtschaft, Vormundschaft, Sachenrechte, Obligationen, Erbrecht12. Die richtige Erkenntnis des Wesens dieser Rechtsinstitute, wie es dem positiven Recht zugrunde liegt, ist nun für den Juristen von entscheidender Bedeutung; sie ist, wichtiger als die der einzelnen Regel. Denn im Volke — hier muß man sich erinnern, daß für Savigny das Recht Ausdruck des Volksgeistes ist — leben nicht die einzelnen Rechtssätze, sondern „die lebendige Anschauung der Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang"13, und der Gesetzgeber gestaltet die Einzelregel aus der Anschauung, die er sich von dem Rechtsinstitut als Ganzes, etwa vom Wesen der Ehe gebildet hat. 10

vgl. z. B. Allen, Law in the Making (5. Aufl. 1951), S. 336 ff. Dieses Bild bietet schon Domat's Werk „Les lois civiles dans leur ordre naturel" (1689—1697). 12 Savigny, aaO., I, S. 388. » aaO., I, S. 16. 11

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Daher ist die Erkenntnis der Rechtsinstitute zunächst die Grundlage der Auslegung der Einzelregel; es ist die Aufgabe der Wissenschaft, die Beziehung festzustellen, in welcher die einzelne Norm zum Institut steht14. Diese Erkenntnis ist aber ebenso die Grundlage der Rechtsanwendung. Denn wenn ich eine konkrete Lebensbeziehung unter die Regeln des positiven Rechts subsumieren will, sie also als Rechtsverhältnis auffassen will, so kann ich das nur tun, indem ich diese konkrete Lebensbeziehung, den Fall, daraufhin prüfe, zu welchen Reditsinstituten, z.B. Vertrag, Sacheigentum, Erbrecht usw. er in Beziehung steht. Erst wenn ich dies weiß, werde ich zu den anzuwendenden Einzelregeln geführt15. Außerdem kann ich durch Zurückgehen auf das Rechtsinstitut eventuelle Lücken in der positiven Regelung schließen, indem ich aus der Anschauung des Instituts selbst die fehlende Norm gewinne oder eine neue Lebenserscheinung überhaupt nach Analogie eines vorhande14

aaO., I, S. 48. Savigny führt aaO., I, S. 9 aus: „Das Urteil über das einzelne Redit ist nur möglidi durch Beziehung der besonderen Tatsadien auf eine allgemeine Regel, von welcher die einzelnen Redite beherrsdit werden. Diese Regel nennen wir das Recht schlechthin, oder das allgemeine Recht: Manche nennen sie das Recht im objektiven Sinn. Sie erscheint in sichtbarer Gestalt besonders in dem Gesetz, welches ein Ausspruch der höchsten Gewalt im Staate über die Rechtsregel ist. So wie aber das Urteil über einen einzelnen Rechtsstreit nur eine beschränkte und abhängige Natur hat, und erst in der Anschauung des Rechtsverhältnisses seine lebendige Wurzel und seine überzeugende Kraft findet, auf gleiche Weise verhält es sich mit der Rechtsregel. Denn auch die Rechtsregel, so wie deren Ausprägung im Gesetz, hat ihre tiefere Grundlage in der Anschauung des Rechtsinitituts, und auch dessen organische Natur zeigt sich sowohl in dem lebendigen Zusammenhang der Bestandteile, als in seiner fortschreitenden Entwicklung. Wenn wir also nicht bei der unmittelbaren Erscheinung stehen bleiben, sondern auf das Wesen der Sache eingehen, so erkennen wir, daß in der Tat jedes Rechtsverhältnis unter einem entsprechenden Rechtsinstitut, als seinem Typus, steht, und von diesem auf gleiche Weise beherrsdit wird, wie das einzelne Rechtsurteil von der Reditsregel. Ja es ist diese letzte Subsumtion abhängig von jener ersten, durch welche sie selbst erst Wahrheit und Leben erhalten kann." Savigny führt dann die Analyse eines Falles der Digesten (D 12.6.38 pr.) nach dieser Methode durch. Besondere Bedeutung hat diese Auffassung Savignys in seinem internationalen Privatrecht erlangt. Vgl. dazu Coing, Rechtsverhältnis und Rechtsinstitution im allgemeinen und internationalen Privatrecht bei Savigny, in: Eranion in honorem G. S. Maridakis (1964) III, S. 19 ff. 15

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nen Rechtsinstituts behandele10. Die Kenntnis des Instituts und seines Wesens ist also, wie spätere Pandektisten sagen, „produktiv"17, sie erlaubt die Fortentwicklung und Anpassung des Rechts. Für Savigny besteht danach das positive Recht sozusagen aus zwei Schichten: einer niederen, das sind die positiven Einzelnormen; und einer höheren, das sind die Rechtsinstitute, die sich ihrerseits zum System zusammenschließen. Erst der Rückgang auf diese höhere Schicht, das System, macht Verständnis und Anwendung der Einzelnormen möglich. Daher muß das Bemühen der Wissenschaft in erster Linie darauf gerichtet sein, das Wesen der Rechtsinstitute durch Synthese aus den Einzelnormen zu erkennen und begrifflich festzulegen. Nicht die unmittelbare Analyse der Einzelnorm, sondern die Erkenntnis der Rechtsinstitute, die hinter ihr stehen, die sogen. „Konstruktion" der Einzelnormen, ist Aufgabe der Rechtswissenschaft — ebenso wie die Beziehung auf Rechtsinstitute für den einzelnen praktischen Fall Aufgabe der Praxis ist: beide sind daher in ihrer Arbeit auch durchaus verwandt18. Wie diese Aufgabe im einzelnen zu lösen ist, darüber hat Savigny selbst keine Grundsätze aufgestellt. Die deutsche Rechtswissenschaft der Mitte des 19. Jahrhunderts suchte ihr durch rein begriffliche Festlegungen gerecht zu werden: aus dem Denken in Rechtsinstituten wurde dadurch die Begriffsjurisprudenz, die Ihering in seinem „Geist des römischen Rechts" zunächst ausführlich dargestellt hat19 und in einem späteren Bande des gleichen Werkes auf das schärfste bekämpft hat. Bei ihr stehen über den Einzelnormen die systematischen Begriffe, und das positive Recht ist erst aus diesem Begriffssystem auszulegen und anzuwenden, das einerseits als ihm vorausliegend gedacht wird, andererseits aber bei der „Konstruktion" auch wieder von ihm abhängig ist20. Damit wird sowohl die Arbeit der Wissenschaft wie die des Richters zu einer rein logischen Tätigkeit: Die im Spiele stehenden Interessen und Wertungen treten nicht mehr in Erscheinung. Rudolph Sohm konnte am Ende des Jahrhunderts sagen: 18

Savigny, aaO., I, S. 291. Jhering, Geist des römischen Rechts II/2 (5. Aufl. 1868), S. 386 ff. 18 vgl. Savigny, aaO., I, S. 8—11. 19 Jhering, Geist des römischen Rechts II/2 (1858), §§ 39—41. 20 Das ergibt sich insbes. aus dem von Jhering aufgestellten „Gesetz der Deckung", d. h. dem Postulat, daß der Begriff eines Instituts mit jeder Norm, die ihm unterfällt, vereinbar sein muß. 17

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„Wissenschaftliches Denken heißt Herrschaft über das Gegebene dadurch, daß wir es Begriffen unterordnen. Genau so in der Rechtswissenschaft. Mit Hilfe verhältnismäßig weniger Begriffe beherrschen wir die Welt des Rechts. Der Blick auf die Zwecke des Rechts („Interessenjurisprudenz") führt uns zu dem sachlichen Inhalt der Rechtssätze. Die Darstellung in der Form der Begriffsentwicklung („BegriffsJurisprudenz") gibt diesem Inhalt die wissenschaftliche, ja, die künstlerische Gestalt. Der Form nach verschwindet durch die Vorherrschaft des Begriffes die Positivität des Rechts. Die Wissenschaft verfährt, als ob sie die Rechtssätze aus gewissen allgemeinen Prinzipien frei hervorbrächte. Nur dadurch hegreifen wir das Recht. Nur dadurch wird das künstlerische Bedürfnis des menschlichen Geistes befriedigt, jenes Verlangen, welches die Herrschaft des Stoffes verabscheut."21 4. In Frankreich entwickelt sich zur gleichen Zeit eine Rechtslehre, die den Geist der modernen Kodifikation, wie sie das 18. Jahrhundert hervorgebracht hatte, in scharfer Konsequenz entfaltet22. Die Grundlage dieser Methode ist die verfassungsrechtliche Auffassung, daß gemäß der Gewaltenteilungslehre die Befugnis, Normen zu erlassen, ausschließlich bei der Legislative liegt. Der Richter ist dem Gesetz unterworfen; er darf, konfrontiert mit dem konkreten Fall, nur aussprechen, was der Gesetzgeber in abstrakter Form dazu gesagt hat23. Philosophisch ist die Verwandtschaft mit dem Positivismus deutlich. Aus dieser Ansicht folgt zunächst, daß das Gesetz die einzige und ausschließliche Quelle ist, aus der der Richter eine Entscheidung gewinnen kann. Es gibt daneben weder Gewohnheitsrecht noch Billigkeit oder Präjudizien. Diese Auffassung hat zur weiteren Folge, daß das Gesetz, da es die einzige Rechtsquelle ist, auch als vollständig angesehen wird. Alle Fälle, die vor den Richter kommen, sind aus dem Gesetz und nur aus ihm zu lösen. Eine Klage oder eine Einwendung, die nicht auf einen gesetzlichen Text gestützt werden kann, ist zurückzuweisen. 21

Sohm-Mitteis-Wenger, Institutionen des Römisdien Rechts (17. Aufl. 1926) Einleitung, S. 32. 22 Die sogen. Ecole de l'exegese, vgl. Bonnecase: La juridique franchise de 1804 l'heure präsente (1933) insbes. I, S. 234 ff., S. 288—347; E. Gaudemet, L'interpretation du Code Civil en France (1935). Kritische Schilderung der entsprechenden Periode in österreidi unter dem ABGB: Unger, Sdiletter's Jahrbücher I (1855), S. 353—359. Zusammenfassende kritische Darstellung bei Geny, Methode d'interprotation et sources en droit positif (2. Aufl. Neudruck 1954) I, S. 28 ff. 23 vgl. zu der hier zugrunde liegenden Rechtsquellenlehre oben S. 276 ff.

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Dabei braucht nicht untersucht zu werden, ob die Fallgestaltung, aus der die betreffende Klage oder Einwendung erwächst, dem Gesetzgeber gegenwärtig gewesen war oder nicht. Denn es ist eben nicht Aufgabe des Richters, das Gesetz fortzuentwickeln: dies bleibt dem Eingreifen der Legislative vorbehalten. Die Rechtswissenschaft ist darauf beschränkt, das Verständnis der Texte, der Einzelnonnen des Gesetzes, herzustellen. „Ma profession de foi est ainsi: les textes avant tout."24 In scharfem Gegensatz zur deutschen Pandektistik wird jeder Rückgriff auf die hinter dem Text liegenden Grundinstitute abgelehnt. Einem Autor dieser Schule wird das Wort zugeschrieben: Je n'enseigne pas le droit civil; je n'enseigne que le code Napoteon25. Die Einzelexegese wird mit den Mitteln der logisch-grammatischen Auslegung durchgeführt. Wertungen und Interessenwürdigung bleiben außerhalb der wissenschaftlichen Auslegung. Freilich entwickelt selbst diese Theorie der rigorosen Gesetzestreue gewisse Möglichkeiten, das vorhandene positive Recht der fortschreitenden Entwicklung anzupassen. Dies geschieht einmal durch die Analogie, die als zulässiges Mittel der juristischen Logik angesehen wird. Es geschieht aber vor allem dadurch, daß das Gesetz objektiv verstanden und durchaus von den subjektiven Vorstellungen des historischen Gesetzgebers abgelöst wird. Diese Theorie ist die unmittelbare Folge der Auffassung, daß allein der Text des Gesetzes maßgebend sei. Damit wird es möglich, den Text nicht aus der Vorstellungswelt des Gesetzgebers, sondern aus derjenigen der eigenen Zeit zu verstehen und ihm damit u. U. einen ganz anderen, neuen Sinn abzugewinnen und damit gegebenenfalls das Gesetz neuen Anschauungen und Verhältnissen anzupassen. Ein berühmtes Beispiel im französischen Recht ist der Versuch, aus der Bestimmung des Art. 1384 C. c. eine objektive, von Verschulden unabhängige Risiko- und Schadenshaftung des Sacheigentümers abzuleiten, der Ende des 19. Jahrhunderts von Saleilles und Josserand unternommen wurde. Der Text dieser Bestimmung lautet: „On est responsable non seulement du dommage que l'on cause par son propre fait, mais encore de celui qui est caus£ par le fait des personnes dont on doit r£pondre, ou des choses que l'on a sous sa garde."26 24

Demolombe, hier zitiert nach Geny, aaO. I, S. 30. vgl. Geny, aaO. I, S. 30. 26 vgl. die Übersicht bei Planiol-Ripert, Traite Elomentaire de Droit Civil II (3. Aufl. 1949) Nr. 1042 ff. — Richtig bemerkt Geny, daß diese 25

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5. Eine sehr charakteristische und den geschilderten Formen des juristischen Denkens in vieler Hinsicht durchaus entgegengesetzte Denkweise hat sich im anglo-amerikanischen Recht entwickelt. Sie ist für denjenigen, der stets unter einem kontinentalen Rechtssystem gearbeitet hat, nicht leicht zu charakterisieren. Mit allem Vorbehalt sei das folgende gesagt. Das englische Recht (Common Law) hat sich als Richterrecht entwickelt. Ähnlich wie in Rom betraf die Gesetzgebung eher Einzelpunkte; jedenfalls gilt dies für die Zeit vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Ein wichtiger Bestandteil der Rechtsentwicklung waren daneben in der Hauptzeit der Entwicklung (vom 12. bis 15. Jahrhundert) die sogen, „writs". Ein „writ" (Breve) war ein „schriftlicher Befehl des Königs an den Sheriff (Vorsteher einer Grafschaft) oder einen anderen Gerichtsherrn zur Ergreifung bestimmter Maßnahmen"27, z.B. der Ladung vor das Königsgericht. Einen solchen Writ mußte der Kläger bei der königlichen Kanzlei erwirken, um ein Verfahren bei den königlichen Gerichten einzuleiten. Es enthielt außer der Angabe der Parteien eine kurze Darstellung des Sachverhalts und der zu ergreifenden Maßnahmen. Für diese Writs entwickelte nun die Kanzlei Formulare für die verschiedenen Fallgruppen und schließlich ein Register solcher Formulare, welche im englischen Recht ähnliche Bedeutung erlangten wie die actiones und ihre formulae im römischen28. In diesem Rahmen wurde das englische Recht durch Gerichtsentscheidungen gestaltet29. Die Kenntnis von Entscheidungen spielte früh eine Rolle. Schon der englische Richter Bracton, dem wir eine berühmte Darstellung des englischen Rechts des 13. Jahrhunderts verdanken, den „Tractatus de legibus et consuetudinibus Angliae", hatte in seinem sogen. „Notebook" mehr als 2000 Entscheidungen der kö„objektive" Auslegungstheorie gerade die Gefahr höchst subjektiver Ausdeutung des Textes heraufbesdiwört, aaO., I, S. 263. — Auch in Deutschland ist im 19. Jahrhundert die objektive Auslegungstheorie entwickelt worden, vgl. Binding, Handbuch des Strafredits I (1885), S. 450 ff.; Kohler, Lehrbuch des Bürgerlidien Rechts I (1906), S. 122 ff., 130. Sie ist auch in Deutschland vorherrschend: vgl. Larenz, Methodenlehre der Reditswissenschaft (1960), S. 31 ff., 237 ff.; Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (1956), S. 121 ff.; BGHSt l, 76; BGHZ 23, 390. " Peter, Actio und Writ (1957), S. 19. 28 Plucknett, A Concise History of the Common Law (2. Aufl. 1936), S. 317 ff.; 323. Dazu Peter, Actio und Writ (1957), insbes. 3. Kapitel. 28 Vorzügliche Darstellung der Gesamtentwicklung jetzt bei Dawson, The Oracles of Law (1968), S. 1—99.

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niglidien Gerichte aufgezeichnet30. In den Verhandlungen vor den Gerichten, wie wir sie aus den sogen. „Yearbooks" seit dem 14. Jahrhundert kennenlernen, spielte das Anführen und die Erörterung von Vorentscheidungen eine nicht unerhebliche Rolle, allerdings nicht als bindende Vorentscheidung, sondern als Beweis für den Gerichtsgebrauch31. Das gleiche Bild bieten die seit dem 16. Jahrhundert vorhandenen Law Reports, welche Entscheidungen veröffentlichen32. Der große englische Jurist Coke (1552—1634) sagte: „Our book cases are the best proof what the law is; argumentum ab auctoritate est fortissimum in lege."33 In den vorhandenen Gerichtsentscheidungen, in den Precedents, sah man das Recht niedergelegt, ohne daß freilich vor dem 18. Jahrhundert eine Bindung an sie eintrat. In diesem Sinne stellt Allen fest: „Precedent ist the evolutionary principle on which the Common Law has grown."34 Die Besonderheit des englischen Rechts liegt nun darin, daß es eine Theorie über Wesen und Anwendung von Vorentscheidungen (Precedents) und bestimmte Regeln über die Bindung des Richters an vorhandene Vorentscheidungen entwickelt hat. Die Bedeutung eines „Precedent" liegt nach der traditionellen Theorie zunächst darin, daß es beweist, daß eine bestimmte Rechtsregel existiert, nämlich diejenige, aufgrund deren der Fall entschieden worden ist35. Es hat Autorität, „because it is a correct statement of the law."36 Denn auch das Common Law besteht aus Regeln; aber sie können nicht dem Gesetz entnommen, sondern müssen in Precedents gefunden werden. „Our Common Law system consists in the applying to new combinations of circumstances those rules of Law which we derive from principles and judicial precedents .. ,"37 Wesentlich an einem Precedent ist daher nicht die konkrete Entscheidung, die ja nur den konkreten Fall betrifft, sondern die Regel, welche als juristisch entscheidender Gesichtspunkt die konkrete Entscheidung trägt und aus der diese abgeleitet ist: die sogen, „ratio decidendi" (im Gegensatz zum „obiter dictum", der beiläufigen Be30

Zu dem Z weds dieser Sammlung Plucknett, aaO., S. 232, 305 ff. vgl. Allen, aaO., S. 182—191 mit eindrudtsvollen Zitaten; Plucknett, aaO., S. 308. 32 Allen, Law in the Making (5. Aufl. 1951), S. 196. — Pluanett, aaO., S. 311. 33 Zitiert nach Allen, aaO., S. 199. " aaO., S. 332. 35 3 Allen, aaO., S. 210 ff. « Allen, aaO., S. 273. 37 Parke, /. in Mirehouse v. Renneil l Cl. and F. 527, 546; zitiert nadi Allen aaO., S. 225. 31

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merkung). Diese muß durch Interpretation des Urteils gefunden werden38. Die Anwendung dieser Regel auf einen neuen Fall setzt natürlich voraus, daß dieser dem des Precedents analog liegt; ist er in wesentlichen Punkten verschieden, so kommt er nicht in Betracht und muß unterschieden werden (to be distinguished). Ist also das Precedent zunächst eine Rechtsquelle in dem Sinne, daß sie dem Richter hilft zu erkennen, was Recht ist, so ist es u. U. auch formelle Rechtsquelle in dem Sinne, daß der Richter an es gebunden ist und die in ihm enthaltene Regel auf neue gleichgelagerte Fälle anwenden muß (sogen. Regel des „stare decisis*) 39. Die englische Doktrin sieht hierin vor allem ein Mittel, Stabilität und Rechtssicherheit zu erreichen. Im englischen Recht ist diese Regel dann dahin ausgebildet worden, daß jedes Gericht durch die Entscheidungen höherer Gerichte und daß das House of Lords (das als höchstes Gericht fungiert) und der Court of Appeal an die eigenen Vorentscheidungen gebunden sind. Nicht erst eine ständige Rechtsprechung, das einzelne Precedent bindet in diesem Rahmen. 1966 hat freilich das House of Lords erklärt, es werde in Zukunft u. U. von eigenen Precedents abweichen. In Amerika gilt das Prinzip nicht in gleicher Strenge40; aber auch der amerikanische Richter mißt dem Precedent große Bedeutung zu und läßt sich im Zweifel von ihm leiten. Es liegt nun auf der Hand, daß ein solches System eine besondere Denkweise hervorgerufen hat. Der anglo-amerikanische Jurist muß vom Fall ausgehen; er muß den Fall, den er entscheiden muß, genau analysieren und ihn mit ähnlich gelagerten Fällen vergleichen, die in früheren Entscheidungen, in Precedents, entschieden worden sind. Findet er dort die gleichen tatsächlichen Elemente, so wird er die ratio decidendi des Precedents suchen und danach den neuen Fall entscheiden. Der große amerikanische Richter Cardozo hat diese erste Phase der Tätigkeit eines Common Law-Richters folgendermaßen umschrieben: „The first thing he does is to compare the case before him with the precedents, whether stored in his mind or hidden in the books. I do not mean that precedents are ultimate sources of the law, 38

Über die Schwierigkeiten soldier Interpretation Allen, aaO., S. 270 if. Die strenge Precedent-Theorie, wie sie am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt war, stellt Salmond in seinem Aufsatz »The Theory of Judicial Precedent" dar, Law Quarterly Review XVI (1900), S. 376—391. 40 vgl. Goodhart: Case Law in England and America. Essays in lurisprudence (1931), S. 50—74 mit interessanter Erörterung der Gründe. 39

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supplying the sole equipment that is needed for the legal armory, the sole tools, to borrow Maitland's phrase, ,in the legal smithy'. Back of precedents are the basic juridical conceptions which are the postulates of judicial reasoning, and farther back are the habits of life, the institutions of society, in which those conceptions had their origin, and which, by a process of interaction, they have modified in turn. None the less, in a system so highly developed as our own, precedents have so covered the ground that they fix the point of departure from which the labor of the judge begins. Almost invariably, his first step is to examine and compare them. If they are plain and to the point, there may be need of nothing more. Stare decisis is at least the everyday working rule of our law. I shall have something to say later about the propriety of relaxing the rule in exceptional conditions. But unless those conditions are present, the work of deciding cases in accordance with precedents that plainly fit them is a process similar in its nature to that of deciding cases in accordance with a statute."41 So entsteht ein Denkprozeß, den Edward Levi mit glücklicher Formel als „reasoning from case to case" beschrieben hat42. In den USA ist schon der juristische Unterricht auf diese Art der Analyse von Gerichtsentscheidungen, von „leading cases" abgestellt, sogen. „Case-method". Diese Methode wird gern als „induktiv" und „empirisch" beschrieben43 und der systematisch-deduktiven des kontinentalen Juristen entgegengestellt. Empirisch ist sie gewiß insofern, als mit großer Sorgfalt die Fakten zusammengestellt und verglichen werden und die vorhandenen Regeln (aus Precedent oder anderen Quellen gewonnen) gewissermaßen an dem Fall getestet werden. Besser würde man sie aber vielleicht als „problematisches" Denken bezeichnen; denn der einzelne Fall wird hier als Problem gerechter Ordnung gesehen und auf der Grundlage genauer Fallanalysen nach einer Lösung gesucht, und zwar primär mit Hilfe vergleichbarer „precedents", also im Wege der Analogie zwischen Fällen. Läßt sich aber kein geeignetes Precedent finden — liegt also im Sinne der kontinentalen Lehre eine Lücke vor — so urteilt der angloamerikanische Richter aufgrund einer Regel, die er selbst als gerecht und zweckmäßig aufstellt. Dabei ist er in der Auswahl der „autho41

Cardozo, The Nature of ludicial Process (zitiert nach den von M. Hall herausgegebenen „Selected Writings of Benjamin Nathan Cardozo", 1947), S. 112 ff. 42 vgl. Edward Levi, An Introduction to Legal Reasoning (1949), S. 1. 48 vgl. etwa Allen, aaO., S. 154/155.

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rities", deren er sich bedient, verhältnismäßig frei. Allen zeigt in seiner Darstellung der englischen Rechtsfmdung, wie englische Richter in solchen Fällen auf Regeln des römischen Rechts oder auf einen bedeutenden ausländischen Autor wie Pothier zurückgegriffen haben44. Amerikanische Entscheidungen haben gelegentlich biblische Regeln, wie „niemand kann zwei Herren dienen .. .", zum Ausgangspunkt ihrer juristischen Argumentation gemacht. Es handelt sich nach der Rechtstheorie hier freilich nur um sogen, „persuasive sources". Aber die Freiheit, mit der sie herangezogen werden, ist bewundernswert. Entscheidend ist, daß nach dem Urteil des Richters eine gerechte und zweckmäßige, überzeugende Lösung gefunden werden kann. Diese Aufgabe des Richters hat Cardozo stark betont; nach den oben zitierten Sätzen fährt er fort45: „It is a process of search, comparison, and little more. Some judges seldom get beyond that process in any case. Their notion of their duty is to match the cofors of the case at hand against the colors of many sample cases spread out upon their desk. The sample nearest in shade supplies the applicable rule. But, of course, no system of living law can be evolved by such a process, and no judge of a high court, worthy of his office, views the function of his place so narrowly. If that were all there was to our calling, there would be little of intellectual interest about it. The man who had the best card index of the cases would also be the wisest judge. It is when the colors do not match, when the references in the index fail, when there is no decisive precedent, that the serious business of the judge begins. He must then fashion law for the litigants before him. In fashioning it for them, he will be fashioning it for others. The classic statement is Bacon's: ,For many times, the things deduced to judgment may be meum and tuum, when the reason and consequence thereof may trench to point of estate/ The sentence of today will make the right and wrong of tomorrow. If the judge is to pronounce it wisely, some principles of selection there must be to guide him among all the potential judgments that compete for recognition." Hier tritt nun ein anderes Element in Erscheinung, das dem kontinentalen Juristen am anglo-amerikanischen Rechtsdenken und an den Urteilen des Common Law-Richters auffällt: die ungezwungene, freie und persönliche Art, mit denen die praktischen, politischen und ethischen Gesichtspunkte diskutiert werden, welche bei der Fallentscheidung eine Rolle spielen46. 44

45 Allen, aaO., S. 254, 255 S. Cardozo, aaO., S. 113. Gerade dies hat europäische Beobachter immer wieder beeindruckt, vgl. z. B. Radbrud), Der Geist des englischen Rechts (1946). 46

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III. Für ein System kodifizierten Rechts muß eine Theorie des juristischen Denkens entsprechend den Aufgaben des Juristen1 drei Gegenstände umfassen: die Auslegung, die Anwendung und die Fortbildung der vorhandenen Rechtssätze. 1. Indem sie Gesetze auslegt, gehört die Rechtswissenschaft in den größeren Kreis der hermeneutischen Wissenschaften2. Die Hermeneutik ist die Lehre von der richtigen Interpretation von Texten, von sprachlich fixierten Geisteswerken3. Das Ziel jeder Interpretation ist das Verstehen des Textes, das Erfassen seiner geistigen Bedeutung, seines Sinnes. Die Hermeneutik hat hierfür bestimmte methodische Gesichtspunkte entwickelt. Im Anschluß an einen Sprachgebrauch von Schleiermacher nennt man sie die Canones der Auslegung4. Der erste Gesichtspunkt, der hier eine Rolle spielt, ist der der Objektivität oder — anders ausgedrückt — der Gesichtspunkt der Autonomie des zu interpretierenden Werkes. Der Satz will besagen, daß jede Interpretation mit dem Entschluß des Interpreten anfangen muß, sich ganz auf das Werk und seine Eigenart einzustellen. Zwar ist ein subjektives Interesse, ein subjektives Angerührtsein von einem bestimmten Text gewiß die Voraussetzung des Verständnisses. Aber es gibt kein Verständnis eines Textes ohne den Willen des Interpreten, dem Text objektiv und ohne Vorurteil gegenüberzutreten, nichts in den Text hineinzutragen, sondern das zu entwickeln, was im Text selbst enthalten ist. Man kann diesen Canon der Objektivität oder der autonomen Interpretation zusammenfassen mit dem alten Satz: „Sensus non est inferendus, sed efferendus." Der zweite Canon ist der Gesichtspunkt der Einheit. Das Werk muß als Einheit verstanden werden, der einzelne Satz im Blick auf die Gesamtheit — die Gesamtheit aus der Interpretation der einzelnen Sätze begriffen werden. Der Literaturwissenschaftler Staiger hat das 1

vgl. oben I. Natürlich ist auch die Analyse von Precedents Auslegung; aber sie bleibt hier außer Betracht. 3 Es ist sicher richtig, daß ganz analoge Gesichtspunkte auch bei der Interpretation anderer Geisteswerke gelten müssen, etwa im Bereich der bildenden Kunst, aber ich möchte mich hier auf die Interpretation von Texten und die dafür entwickelten Regeln beschränken. 4 Ich lehne mich hier an meine Ausführungen in meinem Vortrage „Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik" (1959) an. 2

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in seinem Werk „Kunst der Interpretation" dahin formuliert: „Längst hat die Hermeneutik gelehrt, daß wir das Ganze aus dem einzelnen, das einzelne aus dem Ganzen verstehen."5 Der dritte Canon ist der Gesichtspunkt der genetischen Auslegung, der Auslegung des Textes aus seinem Ursprung her. Dieser Gesichtspunkt ist von Schleiermacher in seiner Hermeneutik an Hand des Zusammenhanges, der zwischen der Sprache als objektiver Gegebenheit und dem individuellen Denken besteht, entwickelt worden. Jeder Satz, der sprachlich ausgedrückt wird, ist mit beiden verbunden. Er ist auf der einen Seite Ausdruck eines individuellen Denkens, eines individuellen Geistes, und er ist auf der anderen Seite formuliert in einer geschichtlich gewordenen, objektiv festliegenden Sprache. Das führt dazu, daß die genetische Interpretation, die Interpretation also, die vom Ursprung her ein Wortwerk interpretieren will, sich sofort auf zwei Wege gewiesen sieht: einerseits auf die Frage nach der Persönlichkeit des Autors — Schleiermacher hat von der „ Lebenstotalität" des Autors gesprochen — und andererseits auf die nach den objektiven Gegebenheiten, die dieser Autor in der Sprache schon vorfand, in der er sich ausdrückt. Beides führt in weite Zusammenhänge hinein. Die Interpretation vom Subjekt, von der Individualität des Autors, her führt zur Interpretation unter dem Gesichtspunkt der Biographie, der Lebensverhältnisse, der psychologischen Momente, der gesellschaftlichen Situation des Autors. Jene andere Richtung, die von dem objektiven Gehalt der Sprache ausgeht, in der der Autor sich ausdrücken muß, führt dagegen in eine Reihe von überindividuellen Zusammenhängen hinein. Da ist zunächst die Sprache selbst, die ja eine Gedankenentwicklung von Generationen, die uns vorangegangen sind, aufbewahrt. Kein Mensch denkt losgelöst von den Traditionen des Denkens, das sich in der Sprache niedergeschlagen hat. Über die Sprache führt dieser Gesichtspunkt dann zurück zur allgemeinen Geistesgeschichte: zu Stilentwicklung, Formenentwicklung, Ideenentwicklung, in die der Autor hineingestellt war und die ihm die Möglichkeit des Ausdruckes gegeben haben, wie sie auch vielleicht die Richtung seines Denkens schon bestimmt haben. So führt also der genetisch-historische Gesichtspunkt zu einer doppelten Interpretationsgrundlage: zu einer subjektiv-biographischen und zu einer objektiv-geistesgeschichtlichen. Der vierte Canon der Auslegung ist die Auslegung aus der Sachbedeutung, das, was Schleiermacher in seiner Hermeneutik die technische Auslegung genannt hat. Dieser Auslegungscanon geht von der Einsicht aus, daß jedes sprachliche Werk auf einen jenseits des sprach5

Staiger, Kunst der Interpretation (1955), S. 11.

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liehen Ausdrucks stehenden inneren Sachzusammenhang hinweist; es sagt etwas aus. Das ist am deutlichsten, wenn wir an einen wissenschaftlichen Satz denken: er soll eine bestimmte Erkenntnis ausdrücken, eine Erkenntnis über ein bestimmtes Sachgebiet. Aber dies gilt auch für die Dichtung: Die Tragödie will etwas über den Menschen und seine Stellung in der Welt aussagen. Damit ergibt sich die Möglichkeit und die Notwendigkeit, einen Satz auszulegen aus seiner Sachbedeutung, aus den sachlichen Zusammenhängen, auf die er hinweist. Wir werden hier zu der wichtigen Tatsache geführt, daß die Geisteswissenschaften es zwar zunächst mit Texten, mit Geisteswerken zu tun haben, die historisch entstanden sind und individuelle Schöpfungen individueller Geister darstellen, daß diese Texte aber zugleich überhistorisch sind, indem sie auf einen bestimmten Sachzusammenhang verweisen wollen. Ein philosophisches Werk etwa will nicht nur die Gedanken eines philosophischen Autors ausdrücken; es will eine Wahrheit aussprechen. Der einzelne Satz kann infolgedessen sowohl aus dem inneren Formzusammenhang heraus wie aus seiner sachlichen Bedeutung heraus, aus dem, was er meint, interpretiert werden: die Tragödie z. B. als Kunstwerk bestimmter Struktur, aber auch als Aussage über den Menschen, der wissenschaftliche Satz als Teil eines individuellen Systems, aber auch als Erkenntnisaussage. Es ist von vornherein deutlich, daß diese Interpretation auch dann möglich ist — ob ein solches Vorgehen sinnvoll ist, ist eine andere Frage —, wenn man von der Person des Autors ganz absieht, wenn man also die Frage der Genese, der historischen Entstehung dieses Satzes, ganz dahingestellt sein läßt. Die Möglichkeit dieser Auslegung aus dem Sachzusammenhang heraus zeigt uns jedenfalls, daß ein Geisteswerk, ein Satz, der einen Gedanken ausspricht, selbständig angeeignet werden kann, ohne daß man dabei auf die Person des Autors, die historischen Umstände, aus denen es erwachsen ist, zurückgreifen muß. Die Möglichkeit dieser „technischen" Interpretation führt aber noch zu einer weiteren Einsicht. Es zeigt sich nämlich, daß ein Satz Bedeutungen entwickeln kann, die jenseits der Ziele und der Einsichten liegen, die der Autor des Satzes selber hatte. Man hat hier mit Recht von der üherschießenden Bedeutung eines Geisteswerkes gesprochen, einer überschießenden Bedeutung insofern nämlich, als die in der Interpretation zu gewinnende Bedeutung über das hinausgeht, was der Autor sich damit gedacht hat6. 6

Die Rechtsgeschichte — in Parenthese bemerkt — bietet vielleicht das deutlichste Illustrationsmaterial zur Richtigkeit dieser Einsicht. Ich brauche

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Ein fünfter Gesichtspunkt spielt in der Hermeneutik eine Rolle: es ist der Gesichtspunkt des Vergleichs. Überall bedient sich die Interpretation von Texten des Mittels der Vergleichung ähnlicher Werke. Ein solcher Vergleich, etwa mit den anderen Werken des gleichen Autors oder der gleichen Zeit oder der gleichen Gattung läßt auf der einen Seite die Besonderheit des Einzelwerkes hervortreten, ist aber auch, worauf Dilthey aufmerksam gemacht hat, der den Geisteswissenschaften eigentümliche Weg, zu allgemeinen Erkenntnissen zu kommen. Geisteswissenschaftliche Interpretation muß stets mit der Methode der Vergleichung arbeiten. Es ist schon von Schleiermacher ausgesprochen und in der weiteren Entwicklung der Hermeneutik anerkannt worden, daß alle hermeneutischen Gesichtspunkte grundsätzlich gleichberechtigt sind, so daß die wissenschaftliche Interpretation jeden dieser Gesichtspunkte zur Geltung kommen lassen muß, will sie sich über den Sinn eines Satzes deutlich werden. Ihre Anwendung und Abwägung geschieht in einem topischen Verfahren. 2. Eine Analyse der Gesichtspunkte, welche in der juristischen Auslegung — und zwar sowohl bei Gesetzen wie bei Vertragen — eine Rolle spielen, zeigt nun, daß sie sich durchaus den allgemeinen hermeneutischen Regeln einordnen lassen. Ziel der juristischen Auslegung ist, die gegebenen Rechtssätze in ihrer Bedeutung als Sätze der Rechtsordnung, also der gerechten und zweckmäßigen Ordnung menschlichen Zusammenlebens, zu verstehen. Das Ziel des Verstehens teilt die juristische Auslegung mit jeder anderen Form der Interpretation; die Besonderheit liegt darin, daß die gegebenen Sätze als Ordnungssätze verstanden werden sollen. Stendhal soll den Code civil als Gebilde vorbildlicher Sprachkunst gelesen haben; metrisch Interessierte haben das BGB daraufhin studiert, ob es Hexameter enthalte (und tatsächlich einen in § 923 gefunden); nur an gewisse Sätze etwa der Magna Charta zu erinnern und an die sich wandelnde Bedeutung, die diese Sätze in der englischen Geschichte gewonnen haben. Man kann gewiß sagen, daß eine bestimmte Auslegung, die etwa diesen Sätzen in der Auseinandersetzung der Puritaner mit dem englischen Königtum zuteil geworden ist, nicht die ursprünglidie war, nidit diejenige, die den mittelalterlichen Autoren dieser Sätze vorgeschwebt hat, und trotzdem wird man nicht leugnen können, daß auch diese späteren, abweichenden Auslegungen immer einen gewissen Zusammenhang mit dem Sinn des Satzes bewahrt haben. Wir werden noch sehen, daß gerade dieser Gesichtspunkt der überschießenden Bedeutung für die Interpretation im Bereich der Rechtswissenschaft von sehr großer Bedeutung ist.

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aber das ist dann eben nicht juristisches, sondern ästhetisches Verständnis des Gesetzes. Voraussetzung der Interpretation ist auch bei der juristischen Auslegung die objektive Einstellung. Ja, man kann sagen, ihr kommt in der Jurisprudenz ein ganz besonderer Wert zu; ist doch die „Textverdrehung'', die Auslegung nach subjektiven Parteizwecken, geradezu als einer der schwerwiegendsten Verstöße gegen die Berufsethik des Juristen bekannt, als Verfahrensweise, die den kleinen, schlechten, ja käuflichen Juristen kennzeichnet. Ebenso ist der Gesichtspunkt der Einheit eine der Grundregeln der juristischen Auslegung, sowohl bei Verträgen wie bei Gesetzen. „Incivile est nisi tota perspecta lege una aliqua eius proposita iudicare" hat schon der römische Jurist Celsus (2. Jahrhundert n. Chr.) gesagt7. Und der Code civil ordnet in Art. 1161 an: „Toutes les clauses des conventions s'interpretent les unes par les autres, en donnant a chacune le sens qui resulte de l'acte entier". Dem Gesichtspunkt der Einheit kommt bei der Gesetzesauslegung sogar eine spezifische Bedeutung zu: denn im Gegensatz zu einem ästhetischen Kunstwerk soll ein juristischer Text, ein Gesetz, widerspruchsfrei sein, damit es gleichmäßig und ohne Willkür angewendet werden kann. Eine widerspruchsvolle Rechtsordnung verletzt das Postulat der Gerechtigkeit nach Anwendung eines einheitlichen Maßstabes auf alle8. Die Rechtswissenschaft hat daher stets versucht, die Harmonie aller geltenden Texte herzustellen und Widersprüche zu beseitigen. Diesem Ziel dient die richtige Eingrenzung des Geltungsbereiches von Prinzipien, die Distinktion von Begriffen oder von Precedents; diesem Ziel soll vor allem, soweit vorhanden, das juristische System dienen, das jedem Einzelinstitut oder Einzelsatz seine Stellung zuweist. Im übrigen spielen in der juristischen Auslegung, wie sie sich geschichtlich entwickelt hat, vor allem bestimmte Gesichtspunkte der sogen, genetischen und „technischen" Auslegung eine Rolle. Wie jede Auslegung geht auch die juristische zunächst von dem Wortsinn des Textes aus. Er wird mit Hilfe des allgemeinen Sprachgebrauches und der technischen Juristensprache, wie sie z. Z. der Entstehung des Gesetzes gegeben waren, ermittelt. Diese Auslegung, die dazu tendiert, mit Wortbedeutungen als festen Größen zu operieren, 7

D 1.3.24. Zu diesem Erfordernis vgl. vor allem Perelman, Über die Gerechtigkeit (1967), S. 53 ff. 8

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ist die älteste Methode der Jurisprudenz. Wenn irgendwo, gilt in ihr der Satz: Am Anfang war das Wort. Der Formalismus, der in der Rechtsentwicklung eine so große Rolle gespielt hat, wirkt darin lange nach; aber das genaue Wägen des Wortes ist auch für die entwickelte Jurisprudenz charakteristisch geblieben. Das Festhalten am Wort und an seiner allgemein üblichen Bedeutung ist im Rechtsverkehr unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes gerechtfertigt; auch in der Gesetzesauslegung spielt dieser Gesichtspunkt neben anderen Erwägungen, wie der oft bestehenden Schwierigkeit, den „inneren" Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, eine wichtige Rolle. Den deutlichsten Ausdruck findet diese Hochschätzung des Wortes bei der juristischen Auslegung in der Regel, welche weitere Auslegung verbietet, wenn der Wortlaut eindeutig ist. „Cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio"9 (auch „Sens clair"-Regel genannt). Vernünftigerweise wird man diese Regel freilich darauf einschränken, daß der klare, normale Wortsinn nur der Ausgangspunkt der Auslegung ist und daß, wer dem Text einen anderen Sinn beilegen will, dafür die Beweislast trägt10. Schon früh hat sich mit diesem Ernstnehmen des Wortes in seinem allgemein gültigen Sinn die Verwendung grammatischer und logischer Regeln verbunden11. Damit waren die Elemente der grammatischlogischen Auslegung gegeben, die wohl in allen entwickelten Systemen der Ausgangspunkt jeder Auslegung ist. Nach den Kategorien der allgemeinen Hermeneutik gehört sie zur genetischen Auslegung, insofern sie auf die verwendete Sprache als Gegebenheit rekurriert. Zur Kategorie der genetischen Auslegung gehört ferner die historische Auslegung des Gesetzes. Unter diesen Begriff lassen sich verschiedene Gesichtspunkte zusammenfassen, die in der geschichtlichen Entwicklung unseres juristischen Denkens zu verschiedenen Zeiten hervorgetreten sind. Historische Auslegung ist darauf gerichtet, festzustellen, was der Gesetzgeber mit der Aufstellung des auszulegenden Rechtssatzes gewollt hat. Sie will den Gedanken des historischen Gesetzgebers nachvollziehen12. Der Auslegende soll sich in dessen 9

vgl. D. 32, 25,1. Die deutsche Rechtsprechung hat daran festgehalten, vgl. RGZ 158, 124. Über ihre Bedeutung im Völkerrecht: Lauterpacht, De l'interpretation des traitis, Annuaire de l'Institut du Droit International, Session de Bath (1950), S. 366 ff., insbes. S. 377. 10 So auch z. B. Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber (1951), S. 42 für die Schweiz, und Lattterpacht aaO., S. 387 für das Völkerrecht. 11 vgl. die Bemerkungen zur römischen Jurisprudenz oben Absdin. II. 1. 12 vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I (1840), S. 213.

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Lage versetzen. Als Hilfsmittel dazu empfiehlt eine ältere Theorie u. a. die Untersuchung der Situation, in der der Rechtssatz aufgestellt worden ist, insbes. der Rechtslage, die das Gesetz etwa ändern wollte13. Im Vertragsrecht entspricht der Suche nach dem Willen des Gesetzgebers die Ermittlung des Parteiwillens. Genauer fordert die Interessenjurisprudenz, der Auslegende müsse den gesellschaftlichen Interessenkonflikt rekonstruieren, den der Gesetzgeber vor Augen gehabt hat, und die gesellschaftliche Interessenund Machtlage, die ihn bestimmt hat, einem Interesse den Vorzug zu geben bzw. einen bestimmten Interessenausgleich anzustreben14. Auch diese Interessenanalyse ist historische Interpretation; aber diese geht damit in die soziologische über. Die Auslegung aus den Auffassungen und Absichten des historischen Gesetzgebers entspricht offensichtlich derjenigen aus der Persönlichkeit des Autors. Aber gerade wenn man sie damit vergleicht, tritt eine eigentümliche Schwierigkeit hervor, die dieser Methode im juristischen Bereich anhaftet. Der Autor eines literarischen Werkes ist eine bestimmte Person. Aber wer ist diese Person beim Gesetzgeber? Der Herrscher oder das Parlament, welche das Gesetz beschließen oder sanktionieren, erlassen es kraft ihrer politischen Autorität; aber sie sind selten ihre Verfasser, ihre „Urheber" im Sinne des literarischen Urheberrechts15. Das sind vielmehr Beamte, Angehörige vorbereitender Kommissionen, Mitglieder von Parlamentsausschüssen usw.; diesen aber fehlt die Autorität, die von ihnen entworfenen Sätze zu Gesetzen zu erheben. Diese Schwierigkeit hat manche Autoren, ja ganze Rechtssysteme dazu geführt, den Rückgriff auf die Ansichten der Gesetzes Verfasser, die Verwertung der sogen. „ Gesetzesmaterialien " für unzulässig zu erklären. — So ist z. B. im englischen Recht nach der durchaus herrschenden Meinung die Berücksichtigung der sogen, „parliamentary history" eines Statutes ausgeschlossen16. Indessen ist es vernünftig, anzunehmen, daß die politische Instanz, welche einen Satz als Rechtsnorm erläßt, diesen Satz so aufgefaßt haben will, 13

Diesen Gedanken betont z. B. Savigny in „Juristische Methodenlehre", nadi der Ausarbeitung des Jakob Grimm herausgegeben von Wesenberg, 1951, S. 27; er spielt heute noch in der englischen Auslegungstheorie für Statutes eine Rolle, vgl. etwa Maxwell, On the Interpretation of Statutes (11. Aufl. 1962), S. 20—22. 14 vgl. etwa Heck, Gesetzesauslegung und Interessen Jurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 95 f. 15 vgl. dazu Forsthoff, Recht und Sprache (1940), S. 46. J « vgl. Maxwell, aaO., S. 26.

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wie ihn seine Verfasser verstanden haben; die Verwertung ihrer Auifassungen ist daher sicher unbedenklich. Ob sie bindend sind, ist eine andere Frage17. In einem weiteren Sinn hat die historische Rechtsschule die historische Auslegung verstanden; sie fragte zwar auch nach dem Willen des Gesetzgebers: aber darüber hinaus nach der geschichtlichen Entwicklung der Rechtsinstitute, die der Gesetzgeber aufgenommen hat, und damit nach der Entfaltung der Rechtsideen in der Geschichte. Der Auslegende sollte sich deren Verlauf und den Punkt, den sie im Moment der Gesetzgebung erreicht hatte, vor Augen stellen. Geschichtliche Auslegung war ihr also vor allem Auslegung aus der juristischen Ideengeschichte. Moderne historische Auslegung wird alle diese Faktoren berücksichtigen. Sie wird zu erkennen suchen, welches das Problem war, das der Gesetzgeber lösen wollte; sie wird den Rechtssatz als seine Antwort auf dieses Problem und damit als Ordnungssatz verstehen. Dazu wird sie alle Elemente in Betracht ziehen, die geeignet sind, auf diese Frage Licht zu werfen: die gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die vom Gesetzgeber gesehenen und gewürdigten Interessen, die Kategorien, die ihm zur Erkenntnis der Situation zur Verfügung standen, die ethischen und sozialpolitischen Ideen, die ihn etwa bestimmten; die juristischen Begriffe, in denen er sich ausdrückte. Die historische Auslegung umfaßt damit die soziologische und die axiologische Interpretation: aber sie untersucht beide Aspekte im Hinblick auf die Lage bei der Gesetzesentstehung. Die historische Auslegung greift damit weit über die technische Gesetzgebungsgeschichte, die Erforschung der sogen. Materialien, hinaus; sie muß die gesamte politische Geschichte ebenso einbeziehen wie die Sozial- und Ideengeschichte. Historische Auslegung heißt Auslegung mit Hilfe der Gesamtheit der geschichtlichen Elemente, die die Entstehung des Gesetzes bestimmt haben. Neben die genetische tritt auch in der Jurisprudenz die „technische" Auslegung: das Verstehen eines Satzes aus seiner Sachbedeutung. Diese Sachbedeutung ist bei einer juristischen Regel ihr Sinn als gerechte, zweckmäßige Ordnung eines Problems des menschlichen Zusammenlebens. Diesen Sinn muß die Auslegung zu erfassen suchen und entfalten. Dazu ist sie aber nur in der Lage, wenn sie selbst ebenso von der Gerechtigkeit wie von den zu ordnenden Sachproblemen etwas weiß; hier zeigt sich, daß das Wissen um die Aspekte der Gerechtigkeit, wenn man will, um das Naturrecht, eine notwen17

Dazu unten S. 274 ff.

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dige Grundlage juristischer Auslegung ist; die Auslegung steht ebenso in ihrem Dienst wie das Gesetz selbst18, und die Grundsätze der Gerechtigkeit erscheinen in der Auslegung des positiven Rechts. In der traditionellen Auslegung erscheint dieser Gedanke unter dem Begriff der „Ratio legis". Sie ist der objektive Zweck, der hinter einer Norm steht und sie zu einer sinnvollen d. h. aber eben gerechten und zweckmäßigen Regelung macht. In der Ratio legis erscheinen also sowohl die pragmatischen wie die ethischen Grundlagen des Gesetzes19. Sie kann aufgrund der historischen Erforschung des Willens des Gesetzgebers, aber ebenso aus dem systematischen und sachlichen Zusammenhang, also mit der Methode der objektiven Auslegung ermittelt werden20. Im Rahmen der soziologischen Jurisprudenz tritt diese Art der Auslegung auf, wenn eine Norm aus sozialen Grundgegebenheiten, z. B. der Machtlage, erläutert wird, wie dies im Rahmen der deutschen Jurisprudenz vor allem Müller-Erzbach getan hat. Die technische Auslegung reflektiert also direkt auf den möglichen soziologischen und axiologischen Sinn der Norm, ohne sich notwendig auf den historischen Gesetzgeber zu beziehen. Im Zusammenhang mit diesem Gedanken steht die — vor allem bei der Vertragsauslegung wichtige — Regel, daß ein juristischer Text nach Möglichkeit so auszulegen sei, daß er in Wirksamkeit treten könne (sogen. Regel des „Effet utile", auch dahin formuliert „ut res magis valeat quam pereat"). Ihr liegt der Gedanke zugrunde, daß hinter einem solchen Text eine echte „Ratio" stehen müsse, d. h. eben, daß er eine sinnvolle, zweckmäßige Regelung enthalten müsse. Daher sei die Auslegung gehalten, den Weg zu einem derartigen Verständnis des Textes zu finden21. Ebenso steht der Gesichtspunkt der Auslegung nach „Treu und Glauben", der wiederum vor allem im Vertragsrecht besondere Bedeutung besitzt und auf dem alle ergänzende Auslegung beruht, mit dem Grundgedanken, daß eine recht18

vgl. dazu Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1967), S. 172; auch meine Bemerkungen in „Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik" (1959), S. 22 ff. und vor allem W. Burckhardt, Methode und System des Rechts (1936), S. 15, 19. 1 vgl. dazu die Ausführungen von Du Pasquier, Les lacunes de la loi et la Jurisprudence Suisse sur l'Article 1er CCS (1951), S. 73. 20 Über die große Rolle, die gerade diesem Gesichtspunkt in der Schweizer Rechtsprechung zukommt, vgl. Du Pasquier, aaO., S. 73; Meier-Hayoz, aaO., S. 44 f., 136. 21 Zu dieser Regel im Völkerrecht vgl. Lauterpacht, De Interpretation des traites aaO., S. 412 ff.

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liehe Regelung in gerechter Ordnung ihren Sinn hat, in unmittelbarem Zusammenhang. Die Auslegung nach der Ratio legis ist die eigentliche Grundlage der sogen, objektiven Theorie der Auslegung. Sie hält den Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien für unrichtig; sie fragt daher nicht nach dem Willen des historischen Gesetzgebers, sondern nach dem „des Gesetzes selbst". Daß hier im Grunde genommen die Sachbedeutung des Gesetzes als maßgeblicher Auslegungsgesichtspunkt gemeint ist, wird sofort deutlich, wenn man sich die Äußerungen der Autoren näher ansieht, die die Theorie vom „Willen des Gesetzes" entwickelt haben. Ich zitiere aus der deutschen Literatur nur zwei, nämlich eine Äußerung von Binding und eine Äußerung von Kohler. Binding sagt: „So ist es besser, statt den Willen des Gesetzgebers den Rechtswillen, der in einem Rechtssatz als einem Gliede des ganzen Rechtssystems seinen Ausdruck gefunden hat, nach Inhalt, Autorität und beabsichtigter Wirkung als Ziel der Auslegung dieses Satzes zu bezeichnen."22 Und er erläutert das damit, daß er sagt: „Das Gesetz denkt und will, was der vernünftig auslegende Volksgeist aus ihm entnimmt." Der vernünftig auslegende Volksgeist! Das heißt also: Die objektive Auslegung greift zurück auf die Vernunft des Gesetzes, also auf den inneren Sachzusammenhang, das innere, sachliche Ziel des Gesetzes. Kohler23 entwickelte die objektive Theorie der Gesetzesauslegung folgendermaßen: „Es ist ein häufiger Irrtum zu meinen, daß der Gedanke der vollständige Sklave unseres Willens sei, und nur das hervorbringe, was wir wollen, während doch der Gedanke dem Willen gegenüber seine volle Selbständigkeit hat und vielfach über die Tragweite des Willens hinausgeht. Daß der Gedanke einen so weiten Hintergrund hat, beruht wiederum darauf, daß unser Denken nicht bloß ein individuelles, sondern ein soziologisches ist. Was wir denken, ist nicht nur unsere Arbeit; es ist etwas Unendliches, es ist das Erzeugnis der Gedankenarbeit von Jahrhunderten und Jahrtausenden. Es hat unendlich viele Zusammenhänge, es zeigt in den Begriffen einen Ideeninhalt, den der subjektiv Denkende nicht ahnt." 22

Handbuch des Straf rechts I (1885), S. 456. " Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I (1906), S. 123.

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Diese Sätze Kohlers wirken in mancher Hinsicht wie eine Illustration zu Schleiermachers Gesichtspunkt, daß die Sprache objektive Erkenntnisse früherer Generationen aufbewahrt, zeigt aber auch deutlich, was der Gesichtspunkt der überschießenden Bedeutung im Rahmen der Hermeneutik meint: daß in einem ausgesprochenen Gedanken mehr liegen kann als der Autor geglaubt oder erkannt hat. Schließlich hat auch in der juristischen Methode das vergleichende Verfahren seinen Platz. Am deutlichsten tritt es vielleicht bei kasuistischem Rechtsdenken in Erscheinung: der anglo-amerikanische Jurist, der Fälle und Precedent vergleicht, übt es in hervorragendem Maße. Aber auch für das Gesetzesrecht des Kontinents hat die Rechtsvergleichung seit dem 19. Jahrhundert steigende Bedeutung gewonnen. Indem sie, von bestimmten Ordnungsproblemen — etwa der Produzentenhaftung, urtj ein modernes Beispiel zu wählen — ausgeht und die Lösungen zusammenstellt, welche verschiedene Rechtsordnungen dafür gefunden haben, sowie deren Bewährung in der Praxis analysiert, macht sie nicht nur die Eigenart des eigenen Gesetzes deutlich, sondern erlaubt auch, zu einem Urteil über seinen inneren Wert als zweckmäßige oder unzweckmäßige Problemlösung zu kommen, also seinen sachlichen Gehalt deutlicher zu erfassen. In welchem Verhältnis stehen nun die verschiedenen hier erörterten Gesichtspunkte? Die allgemeine Hermeneutik ist, wie dargelegt, zu dem Ergebnis gekommen, daß kein Gesichtspunkt vernachlässigt werden darf; sie betrachtet vielmehr ein Interpretationsergebnis als umso sicherer, je mehr die verschiedenen Verfahren konvergieren, also zur gleichen Lösung führen. Gilt das Gleiche auch für die Jurisprudenz? Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den einen oder den anderen Auslegungsgesichtspunkt auszuschalten. Die objektive Theorie erklärte den Rückgriff auf die Motive des historischen Gesetzgebers für überflüssig, wenn nicht gar unzulässig. Die deutsche Theorie des 19. Jahrhunderts hielt den Rückgriff auf die Ratio legis z.T. nur für erlaubt, wenn der Gesetzgeber diese ausdrücklich festgestellt hatte; sie wollte den Ausleger auf die grammatisch-logische Auslegung beschränken24. Aber die Erfahrung zeigt, daß die Praxis immer wieder über solche hemmenden Regeln hinweggeht und gegebenenfalls jeden Auslegungsgesichtspunkt benutzt, der ihr zur Verfügung steht, um einem gegebenen Gesetzestext einen Sinn abzugewinnen, dies selbst dann, wenn es Entscheidungen gibt, die sich für 24

Savigny, System des heutigen Römischen Redits I (1840), S. 214—218; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (6. Aufl. 1887), S. 60.

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eine bestimmte Auslegungsmethode aussprechen25. Es zeigt sich also, daß in der Jurisprudenz die gleiche Regel gilt, wie für die Hermeneutik im allgemeinen: grundsätzlich kann und soll der Interpret alle Auslegungscanones beachten. Es wird nicht immer möglich sein, sie durchzuführen; wenn z. B. die Materialien bei einer bestimmten Regel keinen ausreichenden Anhalt für die Absichten des Gesetzgebers bieten, wird man auf diesen Teil der historischen Auslegung verzichten müssen. Wenn die gewählten Formulierungen mehrdeutig sind, wird die Beachtung des allgemeinen Sprachgebrauchs oder der grammatischen Regeln nicht zum Ziele führen. Aber keine Methode sollte von vornherein ausgeschaltet werden. Dieser Grundsatz entspricht auch dem Umstand, daß die Gesichtspunkte untereinander in Beziehung stehen — etwa die axiologische und die historische Auslegung — und sich gegenseitig stützen. Insbesondere besteht kein Anlaß, bei der Gesetzesauslegung die historische Methode auszuschalten, die sich bemüht, die Auffassungen der Gesetzesverfasser zu ermitteln. Gewiß kann man die Gesetzesanwendung nicht für alle Zeiten an diese Auffassungen binden; das würde den Erfordernissen der steten Anpassung der Rechtsordnung und damit der Gerechtigkeit widersprechen. Aber die historische Auslegung gibt uns, wo sie möglich ist, doch zunächst einmal einen festen Ausgangspunkt; sie zeigt uns, welche Fallgestaltung der Gesetzgeber (oder der Richter beim Präjudiz) vor Augen hatte und von welchen Wertgesichtspunkten er ausging; sie gibt damit auch eine klare Grundlage dafür ab, ob wir einem Sachverhalt noch mit der Auslegung des Gesetzes gerecht werden können oder zur Fortbildung des Gesetzes fortschreiten müssen. Einen gewissen Vorrang wird man nur dem Erfordernis einräumen dürfen, einen gesetzlichen Text als sinnvollen Satz einer sozialen Ordnung und als Lösung für ein Ordnungsproblem zu begreifen. Diese Fragestellung muß auch die logisch-grammatische und die historische Auslegung beherrschen; die letzte muß darauf gerichtet sein, die Ordnungsvorstellungen des historischen Gesetzgebers, seine Anschauungen über eine gerechte und zweckmäßige Interessenordnung zu verstehen. Die englische Auslegung spricht von einer „presumption", die dafür spricht, daß der Gesetzgeber etwas Vernünftiges gewollt habe. Insofern kann man vielleicht sagen, daß der Auslegung nach der Sachbedeutung (Schleiermachers technischer Auslegung) ein ge25

vgl. hinsichtlich der Rechtsprechung des deutschen BGH die Feststellungen von Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1960), S. 237 f. Für den internationalen Gerichtshof Lauterpacht aaO., S. 371.

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wisser Vorrang zukommt. Denn die juristische Auslegung dient dazu, dem Richter zu helfen, das Gesetz anzuwenden: sie soll ihm die Entscheidungssätze verdeutlichen, welche das Gesetz enthält. Diese Aufgabe bestimmt die gesamte Auslegung. Der Vorgang bei der Auslegung eines juristischen Textes unterscheidet sich im übrigen nicht von demjenigen, der bei jeder Interpretation stattfindet26. Der Auslegende bildet zunächst verschiedene Hypothesen über den möglichen Sinn der zweifelhaften Textstelle27; er untersucht dann den Text nach den verschiedenen Gesichtspunkten, welche hier im Überblick dargestellt worden sind, und wägt danach ab, welche Hypothese sich als am besten gestützt erweist. Das Verfahren ist also, allgemein gesprochen, durchaus topischer Natur28. Dabei ist hervorzuheben, daß die verschiedenen Canones der juristischen Auslegung Erfahrungssätze sind, die sich im Umgang mit der Sache ergeben haben: „axiomes fond£s sur ' 29 rience". Das Auslegungsverfahren bedeutet also Anwendung bewährter Standardgesichtspunkte. IV.

1. Die Auslegung des Gesetzes dient seiner Anwendung. Wir haben gesehen, daß dieser Gesichtspunkt schon den Gang der juristischen Interpretation bestimmt; wenn ihr Ziel im Gegensatz zu anderen Arten des Textverständnisses ist, die Sätze des Gesetzes als Ordnung sozialer Probleme, insbes. sozialer Konflikte zu verstehen, so kommt darin zum Ausdruck, daß sie die Anwendung des Gesetzes vorbereiten soll. Die wissenschaftliche Arbeit am Recht — so hat es ein bedeutender deutscher Gelehrter formuliert — hat die Aufgabe, Entscheidungsnormen für den Richter bereitzustellen1. Im einzelnen bedeutet dies im Idealfalle, daß die juristische Auslegung zu den einzelnen Rechtssätzen feststellt, auf welche Fallgruppen des wirklichen Lebens der Satz anwendbar ist und auf welche nicht. Dieses Ziel wird nun vollständig nie erreichbar sein. Die Auslegung muß dann aber dreierlei zu erreichen versuchen. Sie muß die 26 27

vgl. oben Kap. II Abschn. II.

Krisle, Theorie der Rechtsgewinnung (1967), S. 163 ff. spricht von der „ Normhypothese ". 28 So richtig Viehweg, Topik und Jurisprudenz (3. Aufl. 1965), S. 59. 29 So Herbert Kraus in seiner Stellungnahme zu Lauterpacht, De Pinterpretation des traites, Annuaire de l'Institut du Droit International, Session de Bath (1950), S. 445. 1 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz (1932), S. 4 ff., 125 ff.

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typischen Fallgruppen angeben, für die der Satz sicher gemeint ist; sie muß zu den „Grenzfallen" Stellung nehmen, d. h. zu den Fallgruppen, bei denen man zweifeln kann, ob sie noch unter den Rechtssatz zu ziehen sind oder nicht, und sie muß mit Hilfe der geschilderten Auslegungsgesichtspunkte den Sinn des Rechtssatzes und seiner einzelnen Elemente so deutlich machen, daß sie den Richter in die Lage setzt, bei Fällen, die nicht expressis verbis behandelt sind, zu beurteilen, ob die betreffende Regel anwendbar ist. Dies ergibt sich daraus, daß die meisten Rechtssätze für bestimmte Fallgruppen entwickelt worden sind, auf diese sozusagen gemünzt sind, aber zugleich auf weitere Fallgruppen möglicherweise anwendbar sind. Llewellyn hat plastisch vom „Kern" und vom „Grenzsaum" des Rechtssatzes gesprochen2. Literarisch entfaltet sich solche Auslegung vor allem im Kommentar, während die systematische, insbes. lehrbuchartige Darstellung sich eher auf die erste und dritte der Aufgaben beschränkt. 2. Was aber ein Gesetz anwenden heißt, darüber sind im Laufe der Geschichte sehr verschiedene Ansichten vertreten worden. Es ist leicht einzusehen, daß sie von den jeweils vorherrschenden philosophischen Theorien über das Recht beeinflußt waren. Die Auffassungen, die gegenwärtig in Deutschland — und wenn nicht alles täuscht, in vielen anderen Ländern des Kontinents — vorherrschen, haben sich in Auseinandersetzung mit einer Anschauung entwickelt, die in der Aufklärungszeit entstanden und im Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts zur Herrschaft gebracht worden ist. Rechtsanwendung besteht danach in einer logischen Operation: der Richter subsumiert den Lebenssachverhalt unter den abstrakten Tatbestand des Gesetzes und wendet dann die für diesen angeordnete Rechtsfolge auf den konkreten Sachverhalt an. Rechtsanwendung vollzieht sich in Form eines logischen Schlusses3. Wie die Auslegung des Rechts sich nach dieser Ansicht auf die grammatisch-logische Methode beschränkt, so ist auch die Anwendung des Qesetzes nur ein logischer Schluß. Wenn diese Auffassung richtig ist, so hat in der Justiz die Herrschaft des Gesetzes vollkommen die Gewalt von Personen über Menschen verdrängt: und der Wunsch, diesen Zustand zu erreichen, hat auch hinter dieser Theorie gestanden. Wir haben ein Beispiel dieser Anschauung in der Beschreibung der fran* vgl. das Zitat aus Llewellyns „Präjudizienredit und Rechtsprechung in Amerika" (1933) bei Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe, Revue internationale de la theorie du droit XII (1938), S. 52, 53. 3 Für die logische Gestalt dieses Schlusses vgl. etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (1960), S. 195 ff.

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zösischen Ecole de l'exe"g£se kennengelernt4; ich füge hinzu, daß die Begriffsjurisprudenz zu ähnlichen Ergebnissen kam — nur daß hier das „Begriffssystem" anstelle des Gesetzes herrscht. 3. Die Kritik an dieser Ansicht hat an verschiedenen Punkten eingesetzt. Zunächst haben genauere Analysen der Elemente, aus denen sich gesetzliche Tatbestände aufbauen, gezeigt, daß es sich hier um Begriffe verschiedener Art handelt, unter die sich keineswegs immer in gleicher Weise „subsumieren" läßt5. Freilich, an einem Begriff wie Volljährigkeit (§ 2 BGB) ist nicht zu deuteln: entweder jemand hat das 21. Lebensjahr vollendet oder er hat es nicht. Verwendet das Gesetz aber etwa Worte der Umgangssprache, die auf Allgemeinvorstellungen wie Baum, Dunkelheit, Nacht etc. gehen, so zeigt sich bei seiner Anwendung, daß derartige Allgemeinvorstellungen nicht präzise definiert sind und u. U. erhebliche Unscharfen aufweisen. Ob sie in Grenzfällen zutreffen, muß aus anderen, ideologischen Erwägungen ermittelt werden. Wieder anders liegen die Dinge, wenn das Gesetz auf Wertbegriffe wie Treu und Glauben, niedriger Beweggrund u. ä. abstellt. Hier vollzieht sich die „Subsumtion" schon deshalb in anderer Weise, weil das, was den Anforderungen von Treu und Glauben genügt, nur an einem Verhalten in bestimmten Situationen gezeigt werden kann — und auch da nicht abschließend6. Ohne Rekurs auf das eigene Wertgefühl wird hier die „Subsumtion" sich gar nicht vollziehen lassen. So zeigt schon die nähere Analyse der vom Gesetz verwendeten Begriffe, daß die sogen, juristische Subsumtion, die Anwendung des gesetzlichen Tatbestandes auf den Lebenssachverhalt, sich anders vollzieht, als etwa die Einordnung einer individuellen Pflanze in die Kategorien des Linn^schen Systems. Sie ist keine Operation der reinen Logik. Zweckmäßigkeits- und Werterwägungen können schon von den Begriffen her, die das Gesetz selbst in Bezug nimmt, nicht ausgeschaltet werden7. Ferner macht sich der Einfluß der veränderten Anschauungen über das Recht selbst auf die Theorie der Rechtsanwendung bemerkbar. Ihering hatte, als er sich von der Begriffsjurisprudenz abwandte, geschrieben: „Jener ganze Kultus des Logischen, der die Jurisprudenz zu einer Alathematik des Rechts hinaufzuschrauben gedenkt, ist eine Verirrung und beruht auf einer Verkennung des Wesens des Rechts. 4

5 vgl. oben unter II. 4. vgl. Kap. V Absdin. I. 3. vgl. oben Kap. II Absdin. III. 7 vgl. zu diesem Problem die vorzügliche Darstellung bei Larenz, Methodenlehre der Reditswissensdiaft (1960), S. 176 S.; Engisch, Einführung in das juristische Denken (3. Aufl. 1964), S. 54 ff. 8

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Das Leben ist nicht der Begriffe, sondern die Begriffe des Lebens wegen da."8 An die Stelle der Logik hatte er nun den Zweck gesetzt. Das mußte auch zu einer veränderten Auffassung von der Rechtsanwendung führen. Wenn teleologische Erwägungen das Gesetz bestimmen, so müssen sie offenbar auch bei seiner Anwendung maßgebend sein. Es war daher nur konsequent, wenn Heck, der eigentliche Begründer der Interessenjurisprudenz, vom Richter als „Gehilfen des Gesetzgebers" gegenüber dem Gesetz einen „denkenden Gehorsam" forderte. Hiernach ist der Richter genau so wenig auf eine logische Schlußoperation beschränkt wie der Offizier, der einen Befehl ausführen soll; er muß vielmehr in der konkreten Situation die Interessenentscheidung des Gesetzgebers zur Geltung bringen, darf also nicht einfach „subsumieren", sondern muß den Fall auf die in ihm konfrontierten Interessen analysieren und dann die festgestellten Interessen entsprechend den Interessenbewertungen seiner Zeit, die der Gesetzgeber vorgenommen hat, bewerten. In der gleichen Richtung wirkte die Kritik an dem Dogma der Vollständigkeit der gesetzlichen Ordnung: wenn es hier auch in erster Linie um die schöpferische Tätigkeit des Richters bei der Schließung von Lücken im Gesetz, also bei seiner Fortbildung ging9. so entstand dabei doch ein anderes Bild von der Tätigkeit des Richters: die Bedeutung des Willens- und Wertungsmomentes in der richterlichen Urteilsbildung trat hervor10. Auf diesem Wege sind dann manche Autoren des Realismus und der Freirechtsschule so weit fortgeschritten, daß sie die Steuerungskraft der Rechtsnormen überhaupt leugneten und das Wesen des Urteils in der freien, gefühlsbedingten Entscheidung sahen; am weitesten sind manche Vertreter des amerikanischen Realismus gegangen. Für Jerome Frank ist die richterliche Entscheidung schlechthin irrational; sie beruht auf einem „hunch", einem Einfall, der psychologisch mannigfach bedingt sein kann11. Für den Deutschen Isay beruht sie auf einer auf der Grundlage des Wertgefühls erfolgenden Intuition™. Erst hinterher werde die Entscheidung mit dem Gesetz verglichen und aus ihm begründet. Dieses Vergleichen habe in erster Linie den Sinn einer 8

Ihering, Geist des römischen Rechts III (4. Aufl. 1888), S. 321. vgl. dazu unten V. 10 vgl. dazu z. B. ein Werk wie Biilow, Gesetz und Richteramt (1885). 11 /. Frank, Law and Modern Mind (1930). 12 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung (1929). 9

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Kontrolle der an sich intuitiv gefundenen Entscheidung; sie diene außerdem dazu, die Entscheidung als allgemein gültig zu erweisen13. Hier wird also die Möglichkeit, den Richter in seiner Entscheidung zu binden, im Grunde überhaupt geleugnet; dem Gesetz bleibt nur die Bedeutung eines Anhaltes für die Selbstkontrolle des an und für sich frei entscheidenden Richters. Isay hat sich für seine Ansicht auf ein ausgedehntes Erfahrungsmaterial aus der richterlichen Praxis berufen. Dieser Gesichtspunkt läßt sich nun freilich in einer Richtung weiterentwickeln, in der man wieder auf objektive Gegebenheiten — wenn auch nicht auf das Gesetz — stößt. Die zunächst irrational erscheinende Reaktion des Richters wird sich nämlich mit soziologischen Gegebenheiten, Standesvorurteilen, Ideologien verknüpfen lassen. Diesen Weg hat Carl Schmitt verfolgt, wenn er als Grundlage des richterlichen Urteils die Durchschnittsanschauungen der Richterschaft, insbes. der Disziplinarrichter, ansieht14. Diese Anschauung hat die marxistische Rechtslehre genauer entwickelt. Nicht ohne Einfluß auf den Wandel der Anschauungen war schließlich, wenigstens in Deutschland, daß die Rechtsprechung mehr und mehr auf die Generalklauseln des BGB zurückgriff und gleichzeitig die in den Grundrechten der Verfassung niedergelegten allgemeinen Wert- und Ordnungsvorstellungen zur Entfaltung brachte15. Denn damit wurde deutlich, daß richterliches Urteilen auch der Verwirklichung von Wertvorstellungen dienen kann. Alle diese Gesichtspunkte führen zu der Ansicht, daß die Rechtsanwendung nicht einfach als Subsumtion aufgefaßt werden kann, sondern ein Vorgang zweckgerichteter Willensbetätigung ist, bei dem die dem Gesetz entnommenen Wertungen — seien sie sittlicher, seien sie pragmatischer Art — die entscheidende Rolle spielen. Der Richter hat den Sachverhalt nicht einfach unter die Ordnungsbegriffe logisch einzuordnen; er hat — teleologisch — zu fragen, ob auf den Sachverhalt, wie er vor ihm liegt, die gesetzliche Regel nach ihren sittlichen und praktischen Zwecken anzuwenden ist. Danach hat er auch die im gesetzlichen Tatbestand verwendeten Allgemeinbegriffe zu interpretieren. 13

vgl. hay, aaO., S. 248. vgl. dazu C. Schmitt, Gesetz und Urteil (1912). 15 Dazu Comg, Rechtspolitik und Rechtsauslegung in hundert Jahren deutscher Reditsentwicklung, in: Verhandlungen des 43. Deutschen Juristentages (München 1960) II, S. B l ff. 14

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4. Angesichts dieser Entwicklung des Problems muß man zwei Fragen stellen. Ist es überhaupt sinnvoll, von einer Anwendung des Rechts zu sprechen? Und, wenn wir diese Frage bejahen, welche Methode soll bei der Anwendung des Rechts befolgt werden? Die erste Frage ist notwendig geworden durch Theorien, wie sie Isay und Frank aufgestellt haben; danach beruht die richterliche Entscheidung auf Gefühl und Intuition; sie ist daher vom Gesetz her nicht zu steuern. Von „Anwendung" des Rechts kann eigentlich keine Rede sein. Soweit diese Theorie auf der allgemeinen Ansicht beruht, alle Werturteile seien irrationaler Natur, können wir auf die Gesichtspunkte zurückgreifen, die wir früher zu dieser Frage entwikkelt haben16. Es ist dort gezeigt worden, daß nicht nur die Urteile, in denen wir feststellen, ein bestimmtes Verhalten sei sinnvoll, um einen bestimmten Zweck zu erreichen (also das Werturteil im Rahmen einer Zweck-Mittel-Relation), rational begründbar sind, sondern daß dies auch für ethische Urteile insofern gilt, als sie mit rationalen Argumenten gerechtfertigt werden können. Soweit jene Theorie sich aber auf besondere Erfahrungen mit dem richterlichen Urteil beruft, ist sie durch die Wirklichkeit nicht erhärtet. Auch wenn am Anfang einer richterlichen Entscheidung eine Intuition steht, so wird doch diese Intuition vom Richter — wie vom Juristen überhaupt — am Gesetz, an den Ergebnissen der Lehre, an Vorentscheidungen17 geprüft; und der Richter wird, wenn er die zunächst intuitiv gefundene Regel, nach der er den Fall entscheiden will, dort nicht bestätigt findet, in der Regel seine Auffassung korrigieren. Diese Kontrolle der intuitiv gefundenen Regel ist also mehr als eine bloße Rationalisierung: sie ist Prüfung derselben am Gesetz und führt eventuell zur Verwerfung der zunächst angenommenen Lösung. Damit aber wird sie zur Anknüpfung an das Gesetz und der Gesamtvorgang zur Rechtsanwendung18. Ferner wird bei Isays und Franks Theorie die Spontaneität der richterlichen Entscheidung, auch da wo sie echte sittliche Entscheidung ist, überschätzt. Gewiß, jedes echte sittliche Urteil und jede echte sittliche Entscheidung erwächst aus einer spontanen Äußerung des sittlichen Ge18

vgl. oben Kap. II Absdin. III. 5. Auf deren Bedeutung weist vor allem Kriele, Theorie der Reditsgewinnung (1967), S. 258, 262 hin. 18 Zur Frage der riditerlidien Intuition vgl. das auch sonst widitige Budi von 5cÄc«er/e, Reditsanwendung (1952), S. 101 — im hiesigen Text vgl. oben Kapitel V Abschnitt I. 17

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fühls angesichts einer bestimmten Situation. Und gewiß ist das sittliche Fühlen selbst im Menschen ursprünglich angelegt. Aber es ist nicht unbeeinflußbar. Es gibt nicht nur eine Kultur des Verstandes, sondern auch eine Kultur des Herzens. Es gibt eine sittliche Er-ziehung, die das sittliche Fühlen verfeinert, die in uns angelegten sittlichen Kräfte stärkt und uns ihre Forderungen deutlicher zum Bewußtsein bringt, genau so wie es eine Bildung und Verfeinerung des ästhetischen Empfindens gibt. Die sittliche Erziehung vollzieht sich so, daß wir bestimmte Regeln für unser Verhalten in bestimmten Situationen, die aus der sittlichen Erfahrung vergangener Generationen stammen, zunächst mehr oder weniger mechanisch aufnehmen, dann aber aus unserem eigenen Werterleben innerlich verstehen und uns zu eigen machen. Die Wirkung der überkommenen Rechtsordnung auf den Richter entspricht nun dem Einfluß der ethischen Tradition auf das Fühlen des einzelnen. Das Recht enthält in seinen Regeln die sittliche Erfahrung vieler Generationen; in ihm sind die Entscheidungen niedergelegt, die gerecht und freiheitlich, zuverlässig und wahrhaftig gesonnene Menschen in Jahrhunderten für bestimmte Situationen des sozialen Lebens als richtig empfunden haben. Die Rechtsregeln geben sittliche Erfahrungen, Rechtsgedanken, wieder. Der Umgang mit dem Recht übt daher auf das sittliche Gefühl des Juristen eine verfeinernde, kultivierende Wirkung aus; das Gefühl für die Werte, auf denen sein Recht beruht, Gerechtigkeit, Freiheit, Treu und Glauben, wird in ihm besonders lebendig19. Daher wird auch die intuitive Entscheidung eines wahren Juristen, die aus der Reaktion seines Rechtsgefühls entspringt, von den Wertungen seiner Rechtsordnung vorgeprägt sein. Wenden wir uns nun der Frage des Verfahrens zu, das bei der Rechtsanwendung eingehalten werden soll, so liegt es auf der Hand, daß unsere Anschauung vom Sinne des Rechtes nicht ohne Einfluß darauf sein kann, welche Antwort wir geben. Hier ist die Ansicht entwickelt worden, daß das positive Recht als Versuch aufgefaßt werden sollte, eine gerechte und zweckmäßige soziale Ordnung auszuarbeiten. Diesem Sinne der Rechtsordnung selbst muß dann auch ihre Anwendung entsprechen. Sie hat die Aufgabe, die Gerechtigkeits- und Zweckgedanken, die im Gesetz niedergelegt sind, in der Lösung des konkreten Falles zur Geltung zu bringen und ihn nach ihnen zu entscheiden. Hierfür reicht sicher ein Subsumtionsverfahren nicht aus, das sich darauf beschränkt, zu prüfen, ob die einzelnen 19

Das zu erreichen, die sittlichen Grundwerte des Rechts lebendig werden zu lassen, sollte auch das erste Ziel der Rechtserziehung sein.

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Tatbestandselemente, wie sie in der Norm formuliert sind, etwa nach ihrer lexikographischen Bedeutung im gegebenen Sachverhalt verwirklicht sind. Dieses Verfahren muß deshalb verfehlt sein, weil der gesetzliche Tatbestand selbst ja unter Wertungsgesichtspunkten gebildet ist. Wenn, wie Rickert20 uns gelehrt hat, hinter jeder sinnvollen Einteilung von Phänomenen, jeder sinnvollen Bildung von Artbegriffen, eine Theorie stehen muß, so ist diese Theorie im Falle der rechtlichen Norm eben die Zusammenfassung bestimmter Erscheinungen unter Wertgesichtspunkten: daher muß nun auch' die Abgrenzung der im Tatbestand auftauchenden Worte und die Klärung der bei der Subsumtion auftauchenden Zweifel unter eben diesen Wertgesichtspunkten erfolgen. Ebensowenig aber reicht in allen Fällen der „denkende Gehorsam" aus, von dem Heck gesprochen hat. Er kann nur genügen, wenn mit der gesetzlichen Regel bestimmte praktische Zwecke, etwa bestimmte wirtschaftliche Entwicklungen bei Gesetzen über Subventionen, gefördert werden sollen, also bei Gesetzen pragmatischer Natur. Anders tliegt es aber, wenn das Gesetz auf Gerechtigkeitserwägungen beruht. Dann verlangt die Gesetzesanwendung, daß der Richter vor dem konkreten Tatbestand die Wertung des Gesetzes wiederholt und danach seine Entscheidung trifft. Dann kann diese also nicht erreicht werden, ohne daß er die in ihm selbst lebendigen Wertvorstellungen ins Spiel bringt. Hier verknüpfen sich, wie Erich Kaufmann so eindrucksvoll gezeigt hat21, die objektive Sittlichkeit des Gesetzes und das persönliche Ethos des Richters. Es gibt keine Verwirklichung des Rechts ohne dieses persönliche Element; denn verwirklichen heißt lebendig machen. Natürlich liegen hier auch Gefahren. Wird es dem Richter gelingen, die Wertungen des Gesetzes lebendig zu machen? Wird er nicht seine persönlichen Wertungen an die Stelle setzen? Ist hier — mit anderen Worten — nicht die Einbruchsstelle der Ideologie des Richterstandes? Niemand kann diese Gefahren leugnen. Um so wichtiger aber ist es, den rationalen Gehalt der dem Gesetz zugrunde liegenden Werte herauszuarbeiten, weil nur so der Richter in die Lage versetzt wird, sich selbst zu kontrollieren. An dieser Stelle wird vielleicht der Sinn der Bemühungen um eine Theorie der Gerechtigkeit erst vollkommen deutlich. Nur sie kann uns in den Stand setzen, einer20

Ridzert, Zur Lehre von der Definition (3. Aufl. 1929). Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reidisver Fassung. in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 3 (1927). 21

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seits dem Subjektivismus vorzubeugen, andererseits aber auch der Auflösung der Werteinsicht in Ideologiekritik zu begegnen22. Im Ergebnis komme ich also zu der oben gekennzeichneten Methode ideologischer Rechtsanweridung23, die man auch als wertkritische Methode bezeichnet hat24. Der Richter hat den Fall auf die im Konflikt befindlichen Interessen zu untersuchen; er muß sich fragen, wie der Gesetzgeber einen .solchen Konflikt bewertet hat. Danach wird er mit Hilfe des Gesetzes, den Präjudizien, der Literatur suchen. Er wird dabei die gesetzlichen Tatbestände aus der Wertung des Gesetzes, also ideologisch, verstehen. Man wird gegen diese These vielleicht einwenden, daß in der Praxis doch sehr viele Fälle, wenn nicht die meisten, ohne eine derartig genaue Prüfung entschieden wurden — eben doch durch einfache Subsumtion. Das ist unbestreitbar: es gibt eben Fallgruppen, deren Problematik längst erkannt ist und für welche die Frage, nach welcher Regel sie zu entscheiden sind, durch das Gesetz und seine Auslegung in Präjudizien und Wissenschaft geklärt ist. Hier kann und soll der Richter in der Tat das Ergebnis dieser Vorarbeit benutzen. Das ist nicht nur eine legitime Arbeitsersparnis, sondern entspricht auch den Geboten der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit25. Trotzdem darf und wird kein guter Richter jemals vollkommen routinemäßig verfahren; er wird sich den Sinn dafür bewahren, wo ein Fall — auch ein Fall, der prima facie ein Routinefall zu sein scheint — der genaueren Prüfung im Sinne jenes hier geschilderten Verfahrens bedarf. V. 1. Die Aufklärung und die im 19. Jahrhundert herrschende Lehre haben daran geglaubt, daß das Gesetz vollständig sei. Für den Fall, daß der Gesetzgeber doch einen Fall übersehen haben sollte, waren besondere Verfahren vorgesehen, welche eine Regelung durch den Gesetzgeber selbst gewährleisten sollten. Die französische Gesetzgebung hatte hierfür den sogen. R£f£^ obligatoire organisiert; in Preußen war eine Mitteilung an das Justizministerium vorgesehen. Indessen haben sich diese Regelungen in der Praxis offenbar nirgends bewährt. Nach kürzerer oder längerer Zeit gab man die Aufgabe, die Probleme, die durch Gesetzeslücken oder unklare Gesetzesregelungen entstehen, 22 23 24 25

Riduig Kriele, Theorie der Reditsgewinnung (1967), S. 54. vgl. oben Abschn. IV. 3. vgl. Germann, Methodische Grundfragen (1946), S. 109. vgl. dazu insbes. Kriele, aaO., S. 258, 262.

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zu lösen, an den Richter zurück. Am deutlichsten ist dies in Frankreich durch den berühmten Art. 4 des Code Civile geschehen: „Le juge qui refusera de juger, sous pretexte du silence, de l'obscurito ou de Pinsuffisance de la loi, pourra etre poursuivi comme coupable de de*ni de justice." Entsprechende Grundsätze gelten in allen Staaten, die eine kodifizierte Rechtsordnung besitzen. 2. Damit wird dem Richter eine dreifache Aufgabe auferlegt. Er muß über jeden Anspruch, der vor ihm geltend gemacht wird, entscheiden; er kann nicht — wie es den römischen Geschworenen der klassischen Zeit möglich war — es ablehnen, ein Urteil zu erlassen, weil er keine gesetzliche Norm findet. Der Richter ist auf der anderen Seite dem Gesetz unterworfen; er soll also die vor ihn gebrachten Klagen aufgrund des Gesetzes entscheiden. Schließlich verpflichtet ihn sein Eid, sein Urteil nicht nur aufgrund des Gesetzes, sondern auch billig und gerecht zu fällen. Seine Tätigkeit steht unter der Devise, die man an das Gebäude des Supreme Court der Vereinigten Staaten gemeißelt hat: „Equal justice under law." Die Erfahrung zeigt nun aber, daß es für den Richter nicht in jedem Falle möglich ist, diesen drei Anforderungen gleichmäßig gerecht zu werden. Natürlich kann ein Richter, wenn ein Anspruch vor ihm geltend gemacht wird, der auf Sachverhalten beruht, die der Gesetzgeber nicht ins Auge gefaßt hat, einfach die Klage abweisen, weil sie sich nicht auf einen gesetzlichen Text stützen kann. Dann wird er aber unter Umständen seine Verpflichtung, gerecht und billig zu entscheiden, verletzen. Wenn er dagegen in einem solchen Fall sich vom Gesetze entfernt, um den Fall gerecht zu lösen, dann wird er seine Verpflichtung, den Fall nach dem Gesetz zu entscheiden, verletzen müssen. Das Problem, das sich damit stellt, ist das Problem der sogen. Lücke im Gesetz. Hierunter versteht man nicht nur die Fälle, für die sich im Gesetz überhaupt keinerlei Lösung finden läßt — solche Fälle werden verhältnismäßig selten sein —; vielmehr handelt es sich um Probleme, die vom Gesetzgeber nicht oder nicht vollständig gesehen worden sind und für die daher im Gesetz eine gerechte und sachgemäße Lösung nicht zu finden ist1. 3. Nun hat freilich die Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts im Interesse der Lehre von der Vollständigkeit der Rechtsordnung auf 1

vgl. E. Zitelmann, Lücken im Recht (1903).

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verschiedene Weise darzutun versucht, daß solche Lücken in Wahrheit nicht vorhanden seien. Einmal hat man zu diesem Zweck auf die Möglichkeiten verwiesen, welche die sogen, juristische Logik bietet. Auftretende Lücken sind danach durch ein argumentum a fortiori, durch Analogieschluß oder durch das Argumentum e contrario (expressio minus, exclusio alterius) zu schließen. Die deutsche Begriff s Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts verwies dabei insbes. auf die produktiven Kräfte, welche in dem über den Gesetzestext selbst entwickelten juristischen System steckten2. Der Rückgriff auf die von der Wissenschaft entwickelten vorgegebenen Begriffe der Rechtsinstitute sollte eventuelle Einzellücken im Normenbestand der gesetzlichen Regelung zu schließen erlauben. Für solche Lücken, die im Gesetz dadurch entstanden, daß der zeitliche Abstand vom Erlaß des Gesetzes, insbes. der Kodifikation, wuchs, bot weiter die objektive Theorie der Auslegung3 einen Ausweg. Da nach dieser Theorie der Text des Gesetzes losgelöst von den Vorstellungen seiner Urheber, also den Absichten des historischen Gesetzgebers auszulegen ist, war es möglich, die vorhandenen Texte nicht aus der Vorstellungswelt der Entstehungszeit der Gesetze, sondern aus derjenigen der eigenen Zeit des Interpreten zu verstehen. In diesen Zusammenhang gehört dann auch die Lehre, daß das Gesetz unter Umständen klüger sein könne als der Gesetzgeber: daß sich mit anderen Worten, gerade bei objektiver Auslegung, dem Gesetz unter Umständen eine Lösung für Fälle entnehmen lasse, an die der Gesetzgeber weder gedacht habe noch überhaupt denken konnte. Es liegt auf der Hand, daß dies unter Umständen die Anpassung älterer Gesetzestexte an die Bedürfnisse der eigenen Zeit des Auslegenden außerordentlich erleichtert. Ich darf hier erneut an die Auslegung des Art. 1384 Code Civil im Sinn einer objektiven Haftung für Gefahren, die von bestimmten Sachen ausgehen, erinnern. Aber gegen diese Behelfe lassen sich doch schwerwiegende Bedenken geltend machen. Die Figuren der sogen, juristischen Logik wie Analogie oder argumentum a fortiori beschreiben zwar bestimmte Denkverfahren, aber aus ihnen ergibt sich nicht, wann das eine oder das andere anzuwenden ist. Dies gilt insbes. für das Verhältnis von Analogieschluß und argumentum e contrario. Die Kriterien dafür, ob ich eine gesetzliche Regel im Wege der Analogie auf einen Fall übertrage, der gegenüber deren Tatbestand Abweichungen aufweist, oder ob ich den Umkehrschluß ziehe, ebenso dafür, ob ich extensiv 2

vgl. dazu oben Absdin. II. 3.

3

vgl. dazu oben Absdin. III. 2.

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oder restriktiv auslegen soll, kann mir die juristische Logik nicht liefern; ich muß sie auf andere Weise zu gewinnen suchen und werde praktisch zunächst auf die Auslegung des Gesetzes zurückverwiesen. Mit deren Hilfe wird es häufig möglich sein, festzustellen, ob eine Aufzählung im Gesetz abschließend gemeint war oder nur exemplifikativ, und danach zu entscheiden, ob der Umkehrschluß (argumentum e contrario) gerechtfertigt ist oder nicht. Auch Fragen der extensiven oder restriktiven Auslegung werden sich klären lassen, wenn ich den Willen des Gesetzgebers feststellen und mit der Formulierung, die er gewählt hat, vergleichen kann. Dann bleibe ich in der Tat im Bereich der Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung und das Lückenproblem stellt sich nicht. Anders liegt es aber regelmäßig bei der Analogie. Darüber, ob eine gesetzliche Regel auf einen ähnlichen Fall im Wege der Analogie zu übertragen ist, wird mir die Auslegung in der Regel nichts sagen. In Wahrheit folge ich hier nicht als Vollstrecker des Gesetzes dem — ausgelegten — Gesetzesbefehl, sondern ich benutze eine im Gesetz für einen anderen Fall vorgesehene Regelung als Gesichtspunkt, als Anknüpfungspunkt bei der Aufstellung einer Regel für einen nicht oder nicht sachgerecht geregelten Fall. Damit befinde ich mich aber nicht mehr im Bereich der Gesetzesanwendung, sondern, wie Ge'ny richtig ausgeführt hat, in einem ganz anderen Feld, nämlich dem der freien Forschung, die die passende Regel für den zur Entscheidung stehenden Fall sucht, also im Bereich der Rechtsschöpfung4. Was die Methode der Auslegung des Gesetzes „aus der Zeit" angeht, die eine Konsequenz der Bevorzugung der sogen, objektiven Auslegungsmethode ist, so hat wiederum Ge'ny mit Recht darauf hingewiesen, daß sie, ganz im Gegensatz zu ihrem scheinbar „objektiven" Charakter, einer höchst subjektiven und willkürlichen Auslegung des Gesetzes Tür und Tor öffnet. In der Tat kann die Auslegung eines großen Gesetzeswerks, die von den Gedanken der Urheber völlig abstrahiert und sich nur an die Worte hält, die nun reinterpretiert werden, den Charakter des Beliebigen, ja des Spiels annehmen — jeder Jurist kennt Arbeiten, insbes. Anfängerarbeiten, dieser Art. Gewiß wandeln sich — darauf hat Stone in diesem Zusammen4

vgl. Geny, Methode d'interpretation et sources en droit positif (2. Aufl. Neudruck 1954) I, S. 304 if. Für die Einordnung der Aufstellung einer Rechtsregel im Wege der Analogie bei der Rechtsschöpfttng auch Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber (1951), S. 73.; Stone, Legal System and Lawyers' Reasonings (1964), S. 312 (unter Hinweis auf Austin); Du Pasquier, Les Lacunes de la Loi et la Jurisprudence Suisse sur PArticle l" CCS (1951), S. 31 f.

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hang hingewiesen5 — die objektiven Wortbedeutungen mit der Entwicklung der allgemeinen Sprache; aber das allein berechtigt noch nicht, den gesetzlichen Gedanken zu ändern. Festen Boden hat man nur unter den Füßen, wenn man feststellen kann, daß der historische Gesetzgeber den betreffenden Fall gesehen und entschieden hat. Legitim ist nicht die beliebige Reinterpretation: legitim ist nur die allmähliche Veränderung des Gesetzesverständnisses durch den Prozeß der Auslegung in Wissenschaft und Präjudizien, die z. B. bestimmten Gesetzesbestimmungen allmählich größeres Gewicht gibt, andere zur Icttre morte verurteilt. Aber damit befinden wir uns eben wieder zum mindesten im Grenzbereich von Gesetzesanwendung und schöpferischer Rechtsfortbildung durch Schließen von Lücken. Was schließlich den Gedanken angeht, daß im Gesetz mehr an regulativem Gehalt stecken könne als der Gesetzgeber selbst gewußt habe, so haben wir hier ein Phänomen vor uns, das den Geisteswissenschaften auch sonst bekannt ist und das unter der Formel bekannt ist, daß der Interpret unter Umständen den Text besser verstehe als der Autor selbst6. Von den Fällen, in denen dieser Satz nach den Untersuchungen von Bollnow seine Berechtigung hat, wird bei dem Gesetz regelmäßig der gegeben sein, daß eine Gedankenbewegung nicht voll zum Abschluß gekommen, ein im Gesetz verwendeter Gedanke nicht in seinen vollen Konsequenzen erfaßt und entwickelt ist, so daß derjenige, der das Gesetz anwendet, nun die Möglichkeit hat, ihn in seiner vollen Bedeutung zu entfalten. Ais Beispiel könnte man den Gedanken der Vertrauenshaftung im deutschen BGB nennen. Gewiß besteht hier also eine interpretatorische Möglichkeit: aber wiederum ist zu fragen, ob sich dies Verfahren noch mit der einfachen Anwendung des Gesetzes auf eine Stufe stellen läßt, ob hier nicht wiederum eine Fortbildung des Gesetzes vorliegt, um eine Regel für einen Fall zu finden, den der Gesetzgeber nicht gesehen hat. Bei genauer Prüfung wird man sich der Bejahung dieser Frage kaum entziehen können. Daß die Richter die Tendenz haben, auch die von ihnen neu entwickelten Regeln aus dem Gesetz zu legitimieren und daher als Ergebnis bloßer Gesetzesauslegung darzustellen, entspricht ihrer Stellung und ehrt sie7; aber die Wissenschaft muß die Dinge nach ihrer Eigenart unterscheiden. 5

vgl. Stone, aaO., S. 32 ff. vgl. dazu die Untersudumg von Bollnow, Das Verstehen (1949). 7 vgl. zu dieser Haltung der Richter die Feststellungen von Du Pasquler, aaO., S. 26, 72; Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber (1951), S. 122 über diejenige des Schweizer Bundesgerichts. 6

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4. Es hat sich denn auch wohl in allen Ländern, die über eine zeitlich zurückliegende Kodifikation verfügen, die Erkenntnis durchgesetzt, daß auch eine umfassend angelegte Kodifikation eben Lücken aufweist und daß diese Lücken vom Richter zu füllen sind. In Deutschland hat sich diese Erkenntnis zunächst durch einzelne Arbeiten vom Ende des 19. Jahrhunderts angebahnt8 und wurde in extremer Form von der sogen. Freirechtsschule vertreten. In der Kampfschrift von Kantorowicz „Der Kampf um die Rechtswissenschaft"9 wird eine scharfe Kritik an der sogen, juristischen Schlußlogik vorgenommen, mit der die damals herrschende Lehre das Problem der Lücke im Gesetz hinweginterpretieren wollte10. Dann heißt es: „Wir fordern deshalb, daß der Richter, durch seinen Eid verpflichtet, den Fall so entscheidet, wie er nach klarem Wortlaut des Gesetzes zu entscheiden ist. Von diesem darf und soll er absehen erstens, sobald ihm das Gesetz eine zweifellose Entscheidung nicht zu bieten scheint, zweitens, wenn es seiner freien und gewissenhaften Überzeugung nach nicht wahrscheinlich ist, daß die zur Zeit der Entscheidung bestehende Staatsgewalt die Entscheidung so getroffen haben würde, wie es das Gesetz verlangt. In beiden Fällen soll er die Entscheidung treffen, die seiner Überzeugung nach die gegenwärtige Staatsgewalt, falls der einzelne Fall ihr vorgeschwebt hätte, getroffen haben würde. Vermag er eine solche Überzeugung nicht herzustellen, so soll er nach freiem Recht entscheiden."11 Unter freiem Recht verstand Kantorowicz dabei nichtstaatliches, von der staatlichen Rechtsetzung und staatlichen Macht daher unabhängiges Recht. Hierzu rechnete er insbes. auch das durch den Richter geschaffene Recht12. Extrem ist diese Stellungnahme deswegen, weil die Tendenz offensichtlich ist, den Anwendungsbereich des Gesetzes möglichst einzuschränken. Das war in einem Lande, in dem kodifiziertes Recht herrscht, zweifellos eine Übertreibung; sie hat sich auch nicht durchgesetzt. Wohl aber ist auf die Dauer die Erkenntnis, daß es auch im kodifizierten Recht Lücken gibt, die der Richter schließen kann und darf, allmählich angenommen worden. Von großem Einfluß war dabei die berühmte Formel des § l des Schweizerischen Zivilgesetzbuches: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem 8

vgl. etwa Bülow, Gesetz und Richteramt (1885). Veröffentlicht 1906 unter dem Pseudonym „Gnaeus Flavius". 10 vgl. Gnaeus Flavins, aaO., S. 25 S. 11 18 aaO., S. 41. aaO., S. 10, 20. 9

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Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung." Für die jetzige Auffassung der deutschen Rechtsprechung ist das Urteil des BGH vom 30. 10. 195l13 charakteristisch. In diesem Verfahren hatte sich die Revision dagegen gewendet, daß ein durch Beschluß des großen Zivilsenates festgestellter Rechtssatz vom Oberlandesgericht als geltendes Recht betrachtet wurde. Sie hatte ausgeführt, daß diese Bindung im Prinzip dem Grundsatz widerspreche, daß der Richter dem Gesetz unterworfen sei. Indem der Bundesgerichtshof sich mit diesen Argumenten auseinandersetzt, führt er folgendes aus: „Dieser Grundsatz hat nicht die Bedeutung einer Bindung des Richters an das Gesetz als eine nicht mehr fortbildungsfähige Norm. Die richtige, d. h. dem Rechte gemäße Anwendung des positiven Rechts gestattet dem Richter nicht nur, das Recht im Sinne seiner Weiterentwicklung durch Auslegung des gesetzten Rechtes fortzubilden, sondern sie verpflichtet ihn sogar hierzu, wenn die Findung einer gerechten Entscheidung dies erfordert." In Frankreich ist es vor allem das Werk von Francois Geny gewesen, diese Erkenntnis durchzusetzen. Er hat gezeigt, daß neben dem Gesetz die autorite* von Lehre und Rechtsprechung, von Doctrine und Jurisprudence steht, und daß aus diesen Rechtsquellen die im Gesetz auftauchenden Lücken zu schließen sind. Er hat dabei insbes. gezeigt, daß schon beim Verfahren der Analogie in Wahrheit keine Rechtsanwendung mehr vorliegt, weil das Gesetz hier in Wahrheit nicht mehr als Gesetzesbefehl, sondern als Ausgangspunkt für eine allgemeine Argumentation im Rahmen der freien Forschung verwendet wird14. Dadurch gelangte Geny zu einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Rechtsanwendung und freier Rechtsfortbildung. Natürlich hat auch Geny damit nicht geleugnet, daß zwischen Auslegung und Fortbildung ein innerer Zusammenhang besteht, und daß beide ineinander übergehen können. Aber es bleibt sein Verdienst, herausgearbeitet zu haben, daß mit der Rechtsfortbildung ein völlig neues Verfahren der Rechtsfindung beginnt15. 13

BGH JZ 1952, 110 if. Geny, Methode d'interpretation et sources en droit prive positif (2. Aufl. Neudruck 1954) I, S. 304; II, S. 117, 120 f. 11 Diese Erkenntnis ist in Deutschland vor allem in Essers grundlegendem, auf breiter rechtsvergleichender Basis aufgebauten Werk „Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts" (1956) herausgearbeitet worden. 14

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Auf den damit geschaffenen Einsichten muß die Theorie der Fortbildung des Rechtes aufbauen. 5. Eine Lücke im Gesetz liegt vor, wenn eine bestimmte Fallgestaltung und die damit gegebenen Probleme vom Gesetzgeber nicht oder nicht vollständig gesehen worden sind und daher aus dem Gesetz auch mit den Mitteln der Auslegung für die damit aufgeworfenen Probleme keine sachgemäße Lösung zu finden ist. Ob und in welchem Umfange der Gesetzgeber solche Fallgestaltung vor Augen gehabt hat, muß durch die historische Auslegung festgestellt werden. Solche Lücken werden sich insbes. dadurch ergeben, daß sich die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse gegenüber denjenigen, wie sie zur Zeit des Erlasses der Kodifikation bestanden haben, ändern. Die Lücke durch Aufstellung einer Norm, welche den neuen Problemen gerecht wird, zu schließen, ist Aufgabe des Richters. Die Rechtswissenschaft wird ihm dabei, genau wie bei der Auslegung des Gesetzes, vorarbeiten. Das positive Recht kann von diesem Grundsatz Ausnahmen zulassen und dem Richter im Interesse der Rechtsunterworfenen verbieten, Lücken zu schließen. Eine Ausnahmeregelung dieser Art gilt im Strafrecht aufgrund des Satzes nulla poena sine lege. Er bedeutet in unserem Zusammenhang, daß die Rechtsprechung nicht berechtigt ist, im Wege der Rechtschöpfung neue Straftatbestände — etwa im Interesse der Gleichheit — zu schaffen. Schließung von Lücken im Strafrecht ist dem Richter vielmehr nur insoweit erlaubt, als dadurch keine neuen Straftatbestände geschaffen werden. Solche Ausnahmebestimmungen dürfen nicht mit dem generellen Verbot der Rechtschöpfung durch den Richter im Interesse der ausschließlichen Gesetzgebungsgewalt der Legislative auf gleiche Ebene gesetzt werden. Das treibende Motiv ist hier ein anderes. Während dort die ausschließliche Kompetenz des Gesetzgebers im Vordergrund steht, handelt es sich hier um den Schutz der Freiheit des einzelnen Bürgers. Das Verfahren bei der Lückenschließung entwickelt sich so, daß zunächst die im Spiel befindlichen Interessen genau entwickelt werden, die gegebene und zu ordnende Situation also auf ihren tatsächlichen und interessenmäßigen Gehalt hin untersucht wird. Nach der Feststellung, daß der Gesetzgeber diese Situation sich nicht vollständig vor Augen gestellt hat, werden die möglichen Regelungsgesichtspunkte aufzufinden, zu vergleichen und gegeneinander abzuwägen sein. Hierbei kann die Rechtsvergleichung eine entscheidende Hilfe leisten. Ebenso wird natürlich zu prüfen sein, ob das eigene Gesetz an irgendeiner Stelle Gesichtspunkte enthält, die sich für die

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sachgemäße Ordnung des Problems verwenden lassen. Ebenso werden die bekannten Aspekte der Gerechtigkeit, die Grundsätze der Gerechtigkeit heranzuziehen sein. Richtig hat Allen auf die Frage „To what, then, do the judges turn?" geantwortet: „To those principles of reason, morality and social utility which are the fountain-head not only of English law but of all law."16 Aufgrund dieser Elemente wird dann eine Regel für das offene Problem aufgestellt werden. Die Erörterung, in der diese neue Regel gefunden wird, wird sich im Wege der freien wissenschaftlichen Erörterung vollziehen. Sie ist libre recherche im Sinne von Ge"ny. Die Erfahrung zeigt, daß die Rechtsprechung unter Berücksichtigung des Standes der wissenschaftlichen Diskussion sich in solchen Fällen allmählich von Entscheidung zu Entscheidung, so wie die Fälle aufkommen, an die Regel herantastet, die sie schließlich feststellt und mit der sie das Problem löst. Beispiele lassen sich· wohl in jedem System kodifizierten Rechtes ohne Schwierigkeit finden. Aus dem deutschen Recht sei etwa an das Problem der Behandlung nichtiger oder anfechtbarer Gesellschaftsverträge erinnert, oder an die Entwicklung der Grundsätze für das Handeln auf eigene Gefahr, bei der der rechtsvergleichenden Arbeit von Stoll17 entscheidende Bedeutung zugekommen ist. Damit nähert sich die Schließung einer Lücke im Gesetz dem Verfahren neuer Rechtsbildung, der Vorbereitung neuer Gesetzgebung in gewissem Umfange an. Trotzdem zeigt der Vergleich mit den rechtspolitischen Erörterungen, die neuer Gesetzgebung vorausgehen, doch auch die Unterschiede, die bestehen, und die Grenzen, die der Rechtsfortbildung des Richterrechts gesetzt sind. Grundlage und Grenze des Richterrechts bleibt die Lücke im Gesetz, die durch die Pflicht zu gerechter Entscheidung entsteht. Richterliche Rechtsfortbildung wird daher immer nur Einzelprobleme betreffen, wie sie durch einzelne Fälle vor den Richter gebracht werden. Richterliche Rechtsschöpfung bleibt damit stets an die Kodifikation, die sie ergänzt, angelehnt. Eine grundsätzliche Neuregelung oder Reform ganzer Rechtsmaterien ist dem Richter verwehrt. Sein Augenmerk bleibt auf den Einzelfall und das damit verbundene Einzelproblem beschränkt. Demgegenüber ist der Gesetzgeber im Rahmen seiner Bindung an die Gerechtigkeit und ihre Prinzipien grundsätzlich frei. Infolgedessen wird sich auch eine Diskussion, die eine Neuregelung zum Ziel hat, 1 17

Allen, Law in the Making (5. Aufl. 1951), S. 277. H. Stoll, Das Handeln auf eigene Gefahr (1961).

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eine Diskussion de lege ferenda, anders bewegen als eine Diskussion, welche im Wege der libre recherche eine Rechtslücke schließen soll. Sie wird in jeder Hinsicht weiter ausgreifen können und stärker experimentellen Charakter tragen. VI.

1. Nicolai Hartmann hat einmal den Versuch gemacht, zwei Denkweisen einander grundsätzlich gegenüberzustellen: die systematische und aporetische1. Die erste charakterisiert er folgendermaßen: „Systematische Denkweise geht vom Ganzen aus. Die Konzeption ist hier das Erste und bleibt das Beherrschende. Nach dem Standpunkt wird hier nicht gesucht, er wird zuallererst eingenommen ... Problemgehalte, die sich mit dem Standpunkt nicht vertragen, werden abgewiesen."2 Von der zweiten sagt er: „Aporetische Denkweise verfährt in allem umgekehrt. Ihr sind die Probleme vor allem heilig ... Sie kennt keine Zwecke der Forschung neben der Verfolgung der Probleme selbst ... Das System selbst ist ihr nicht gleichgültig, aber es gilt ihr nur als Idee, als Ausblick ... Sie zweifelt nicht daran, daß es das System gibt, nur daß es vielleicht in ihrem eigenen Denken latent das Bestimmende ist. Darum ist sie seiner gewiß, auch wenn sie es nicht erfaßt."3 Die eine Denkweise geht also von einem erkannten festgelegten Zusammenhang der Erkenntnisse aus; die andere ist an den Fragen, am Problem orientiert. Versuchen wir das rechtswissenschaftliche Denken, wie es sich in unserer Analyse dargestellt hat, in diesen Gegensatz einzuordnen, so wird man es gewiß auf der Seite des Aporetischen, Problematischen einordnen müssen. Wir hatten das Gesetz, allgemein gesprochen, die Rechtsregel als Antwort auf ein soziales Ordnungsproblem, als „Response" auf einen „Challenge" charakterisiert; wir haben als Zweck dieser Auslegung angesehen, anwendbare Normen für die Lösung zweifelhafter Probleme bereitzustellen; wir haben gezeigt, wie von dieser Aufgabe alle juristischen Begriffe, Unterscheidungen usw. ihren Sinn erhalten. Wir hatten gesehen, wie die Rechtsfortbildung in der Form der Lückenschließung im Wege problemorientierter Diskussion vor sich geht. Das gleiche Bild hat sich uns bei der Untersuchung der juristischen Methode ergeben. Die Methode des am Problem orientierten Denkens ist zunächst 1

vgl. Diesseits von Idealismus und Realismus, Kantstudien XXIX (1924), S. 160—206. 2 8 N. Hartmann, aaO., S. 163. N. Hartmann, aaO., S. 164.

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die Topik4. Sie stellt die im Umgang mit den Problemen des Forsdiungsgegenstandes bewährten Gesichtspunkte (Argumente) zusammen und versucht, auf ihrer Grundlage zu einer begründbaren, nachvollziehbaren Lösung zu kommen5. Gerade diese Methode aber fanden wir in der Jurisprudenz immer wieder angewendet: in der Auslegung zweifelhafter Punkte des Gesetzes ebenso wie bei seiner Anwendung oder Fortbildung6. Auch die Streiterörterung zwischen den Parteien im gerichtlichen Verfahren ist ja im Grunde nichts anderes als ein hin- und hergehender Prozeß der Argumentation, in welchem dem Richter die für die Entscheidung des Falles relevanten Argumente tatsächlicher und rechtlicher Art vorgeführt werden. Dabei muß freilich daran erinnert werden, daß die Bedeutung von Argumenten in jeder Wissenschaft von einer anderen Sacherfahrung abhängt. Sie ist anders in der Geschichtswissenschaft, anders in der Jurisprudenz begründet. In jener beruht sie, wie wir kurz geschildert haben, in gewissen Erfahrungsregeln, die sich bei der Verwendung von Dokumenten der Vergangenheit für die einzelnen Epochen gebildet haben, und vor allem im Vergleich mit den bereits bekannten Daten. In dieser treten andere Gesichtspunkte hervor. Es sind zunächst die Regeln der juristischen Hermeneutik; sie haben eine ähnliche Kontrollfunktion wie die der Urkundenkritik in der Geschichtswissenschaft. Es sind ferner solche, die der Ermittlung des zu beurteilenden Sachverhalts entnommen sind: die Tatumstände des Falles einschließlich der individuellen oder gruppenmäßigen Interessen, die mit ihm in Erscheinung treten. Dazu treten die Wertungsgesichtspunkte, die der geltenden Ordnung entnommen oder aus ihr entwickelt worden sind. Dabei besteht zwischen Tatsachen- und Wertargumenten ein enger Zusammenhang; denn juristische Tatsachenanalyse erfolgt stets mit Rücksicht auf vorhandene Wert- und Ordnungsgesichtspunkte: bestimmte tatsächliche Aspekte sind wichtig, weil sie begründen können, daß bestimmte Wertgesichtspunkte Anwendung finden müssen. Auch Hypothesen über künftige tatsächliche Abläufe spielen in der juristischen Argumentation eine bedeutende Rolle; sie begründen den Hinweis auf die möglichen oder wahr4

vgl. Viehweg, Topik und Jurisprudenz (3. Aufl. 1965), S. 15; Horn NJW 1967, 600—608. 5 vgl. oben Kap. II Absdin. II und III. 6 Riditig Viehweg, aaO., S. 60 — Zum Verhältnis von Topik und Jurisprudenz vgl. auch Stone, Legal System and Lawyers' Reasonings (1964), Chapter 8; etwas abweidiend Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 121, 122, 145.

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scheinlichen Folgen einer Entscheidung, die in einem bestimmten Sinne ergeht. 2. Das Ergebnis ist vielleicht überraschend. Die Jurisprudenz gilt für viele auch heute noch als eine ausgesprochen systematische Disziplin, die Rechtswissenschaft als eine dogmatisch verfahrende, d. h. axiomatisch festgelegte Grundwahrheiten explizierende Geisteswissenschaft7. Tatsächlich hat sich im Selbstverständnis der Jurisprudenz in den letzten Jahrzehnten ein Wandel vollzogen, eine gewisse Abkehr von der Suche nach dem System, dessen Aufbau für lange Zeit vor allem im 18. und 19. Jahrhundert im Vordergrund stand. Trotzdem hat auch heute noch die systematische Jurisprudenz durchaus ihren Platz, insbes. in der kontinentalen Rechtswissenschaft. Worum handelt es sich bei diesem System? Es ist wichtig zu sehen, daß die Motive zur Bildung eines juristischen Systems zunächst vor allem in Zwecken der Darstellung und der Lehre zu suchen sind. Das erste ausgearbeitete juristische System, das uns in der europäischen Rechtstradition erhalten ist, die Institutionen des römischen Juristen Gaius (etwa 160 n. Chr.) ist ein Lehrsystem. Es war für Schulzwecke geschrieben und hat in seiner Zeit auf die Praxis keinerlei Einfluß ausgeübt. Im einzelnen nach dem Muster der griechischen Wissenschaftsmethode, der Aufspaltung von allgemeinen Oberbegriffen geschrieben, teilt es den gesamten Stoff des positiven römischen Rechts in Personen-, Vermögens- und Aktionen-Recht8. Der Stoff ist anhand von sehr allgemeinen Leitbegriffen geordnet; z. B. wird das Personenrecht zunächst auf dem Gegensatz der freien und unfreien Personen, und dann auf dem Begriff der Gewalt über Personen und seinen verschiedenen Unterarten aufgebaut (Gewalt des Herrn über Sklaven, des Vaters über die Kinder, des Vormundes, des Ehemanns über die Frau usw.). Es handelt sich also nicht etwa um ein System von Normen, bei dem die einzelnen positiven Sätze aus bestimmten obersten Ordnungsprinzipien abgeleitet und damit in einen Ableitungszusammenhang gebracht werden. Das System ist vielmehr eine an gewissen Leitbegriffen orientierte, dadurch übersichtlich geordnete Darstellung des Stoffes. Gleiches scheint im Grunde auch noch für die zahlreichen systematischen Versuche des 16. und 17. Jahrhunderts zu gelten, die frei7

vgl. etwa Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissensdiaften (1927); ders., Die dogmatische Denkform in den Geisteswissensdiaften und das Problem des Historismus (1954), S. 262. 8 Actlones sind im römischen Recht die Formen der zivilrechtlichen Klagen.

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lieh im einzelnen noch wenig erforscht sind9. Insbesondere gilt dies für die auf der Logik des Petrus Ramus (1515—1572) aufgebauten juristischen Werke. Erst das Naturrecht der Aufklärung bringt eine neue Form des juristischen Systems; jetzt werden gewisse oberste Prinzipien aufgestellt und daraus speziellere Regeln in der Weise abgeleitet, daß man sie auf die besonderen typischen Situationen des Soziallebens anwendet. Bei diesen Systemen handelt es sich zum mindesten der Tendenz nach um ein System von aus Axiomen abgeleiteten Prinzipien — ohne daß dieses Ziel freilich wirklich erreicht worden wäre. Eine dritte Form des Systems haben wir in der Systematik der deutschen Pandektistik, insbes. bei Savigny10. Zwar enthält dieses System auch Elemente der beiden soeben geschilderten Typen; es verwendet vielfach Leitbegriffe, nicht Leitsätze (z. B. den Begriff der juristisch relevanten „Handlung"); es bildet allgemeine Sätze, indem es mit den anhand allgemeiner Leitbegriffe herausgearbeiteten Tatbeständen wie etwa dem der Willenserklärung bestimmte allgemeine Sätze verknüpft; es stellt als oberstes Prinzip das der Anerkennung menschlicher Freiheit auf. Aber das eigentlich Charakteristische dieses Systems ist der Gedanke, die Masse der positiven Rechtsnormen jeweils bestimmten, im gesellschaftlichen Leben selbst gegebenen und von der Sittlichkeit des Volksgeistes durchdrungenen und gestalteten Rechtsinstituten wie Ehe, Familie, väterliche Gewalt, Eigentum usw. zuzuordnen. Die die Institute beherrschenden sittlichen Gedanken sollen zugleich die Auslegung der ihnen zugehörigen Einzelnormen beherrschen und der Schließung eventueller Lücken dienen. Mit diesem Gedanken wird das System als Abbild einer in den Dingen selbst gegebenen Ordnung aufgefaßt und ist gerade deshalb nicht nur geordnete Darstellung, sondern auch für die Rechtspraxis fruchtbar. Schlagwortartig kann man also die in der Geschichte der Rechtswissenschaft entwickelten Systeme in drei Gruppen teilen: Lehrsysteme, die die juristischen Stoffe anhand von Leitbegriffen übersichtlich ordnen; deduktive Systeme aus Prinzipien; Systeme, die versuchen, eine dem Sozialleben immanente Ordnung widerzuspiegeln. 9

vgl, jetzt Übersicht bei Troje, Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Philosophie und Rechtswissenschaft (1969), S. 63 ff. 10 System des heutigen Römischen Rechts (ab 1840 in acht Bänden erschienen).

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Freilich muß man einer solchen Unterscheidung sogleich hinzusetzen, daß kein historisches System einen dieser Typen rein verwirklicht. Keines dieser Systeme entspricht ferner den Anforderungen der modernen Logik; der Versuch, eine positive Rechtsordnung vollständig zu axiomatisieren und mit den Mitteln des modernen Logik-Kalküls darzustellen, wird zwar als möglich angesehen, ist aber noch nicht durchgeführt worden11. Ein vollständiges juristisches System müßte zweierlei enthalten: 1. alle für eine rechtliche Ordnung überhaupt in Betracht kommenden Prinzipien, also eine vollständige Tafel der Grundsätze der Gerechtigkeit; 2. alle für eine rechtliche Ordnung in Betracht kommenden Lebenssituationen und ihre Eigengesetzlichkeit. In dieses System müßten sich dann die historischen Rechtsordnungen als Teil- und Annäherungslösungen gewissermaßen einzeichnen lassen. Ein solches System ist nie entwickelt worden; es setzte die vollständige Kenntnis der sittlichen Welt und der natura rerum voraus. Am nächsten kommt ihm vielleicht die Systematik umfassender rechtsvergleichender Darstellungen; denn alle Rechtsvergleichung arbeitet uneingestanden mit einem überpositiven und annäherungsweise universalen System. Die bisher entworfenen Systeme sind von der Entwicklung immer wieder überholt worden. Dies zeigt sich dann darin, daß bestimmte Probleme in dem System keinen Platz mehr finden und in seinem Rahmen nicht mehr sachgerecht gelöst werden können. So beruht das klassische System der deutschen Pandektistik auf dem Modell der Gesellschaft gleichmäßig freier Einzelner, deren Rechtsbeziehungen im wesentlichen auf Vertrag und Eigentum beruhen; in diesem Modell ist weder Platz für die Probleme, die aus dem Vorhandensein großer privater Organisationen und damit privater Macht erwachsen, noch für mehr technische wie diejenigen des Vertrauensschutzes und der um seinetwillen auferlegten Haftungen12. Das System kann also, jedenfalls nach unserer bisherigen Einsicht, nie als Abschließendes entworfen werden. Sohm hat deshalb das System überhaupt nur mit ästhetischen Gründen rechtfertigen wollen: er hat die Systembildung als „ideale" der 11

Viehweg, Topik und Jurisprudenz (3. Aufl. 1965), S. 56—58. Wichtige Grundlagenarbeit bei Klug, Juristische Logik (3. Aufl. 1966), S. 12 ff., 173 ff. 12 vgl. dazu Going, Bemerkungen zum überkommenen Zivilrechtssystem, in Festschrift für Dolle I (1963), S. 23 ff.

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eigentlich praktischen Aufgabe der Rechtswissenschaft gegenübergestellt13. Aber das heißt die Bedeutung systematischer Arbeit in der Rechtswissenschaft unterschätzen. Cardozo hat einmal gesagt: „In law, as in every other branch of knowledge, the truths given by induction tend to form the premises for new deductions."14 Dieses Wort trifft die Bedeutung des Systems. Jedes System faßt den in der Arbeit an den Einzelproblemen erreichten Erkenntnisstand zusammen: die erkannten Rechtsprinzipien in ihrer gegenseitigen Beziehung ebenso wie die erkannten Sachstrukturen, die uns im Fall, im Gegenstand der Regelung entgegentreten. Es erleichtert damit nicht nur Übersicht und praktische Arbeit; es wird auch Ursprung neuer Erkenntnisse über bestehende Zusammenhänge, die erst das System deutlich macht, und damit Grundlage weiterer Entwicklung des Rechts. Eine Wissenschaft, die nur am Einzelproblem arbeitete, würde nicht in der Lage sein, zur Entdeckung größerer Zusammenhänge von Problemen zu weiteren Prinzipien fortzuschreiten; sie würde in der Rechtsvergleichung die Funktions-Verwandtschaft verschieden ausgeprägter positiver Institute und Regeln nicht erkennen. Darum bleibt die Arbeit am System eine dauernde Aufgabe: nur muß man sich bewußt sein, daß kein System die Fülle der Probleme deduktiv beherrschen kann; das System muß offen bleiben. Es ist nur eine vorläufige Zusammenfassung. Die Rechtswissenschaft schreitet im Problemdenken fort. Auch für die Rechtswissenschaft gilt die Feststellung Nicolai Hartmanns: „Ein unendlicher Verstand, der alle Problemlinien bis in ihre entferntesten Konsequenzen übersehen könnte, ... würde ... das System so anlegen, daß alles in ihm seinen Ort fände. Ein endlicher Verstand wird das nie können. Seine Systembildungen sind nur Antizipationen des Ganzen vor dessen wirklicher philosophischer Durchdringung und Überschau."15 Aber vom sorgfältig entworfenen juristischen System, wie es das des 19. Jahrhunderts ist, gilt auch das Wort des Biologen Köhler: „Die Wahrheit von heute ist der Spezialfall von morgen", d. h. es behält in engeren Grenzen seine Bedeutung und Anwendbarkeit16. 13

vgl. Sohm-Mitteis-Wenger, Institutionen des Römischen Rechts (17. Aufl. 1926) Einleitung, S. 32. 14 Cardozo, Nature of the Judicial Process (zitiert nach den von M. Hall hrsg. „Selected Writings of Benjamin Nathan Cardozo", 1947), S. 124. 15 N. Hanmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, Kantstudien XXIX (1924), S. 163. 16 Diesen Ausspruch erwähnt K. Lorenz im Vorwort zu „Darwin hat recht gesehen" (1965). — Eine vorzügliche Darstellung der Bedeutung und der

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3. Die moderne Rechtswissenschaft beruht auf der Verwendung aller der Gesichtspunkte, die uns in den vorangegangenen Erörterungen entgegengetreten sind. Sie benutzt die alt-ehrwürdige grammatischlogische Auslegung ebenso wie die soziologische und axiologische Methode, von denen diese auf den Gerechtigkeitsgehalt einer Regelung, jene auf ihre gesellschaftlichen Bedingungen reflektiert. Sie arbeitet ebenso mit den Ergebnissen historischer Untersuchungen über die Entstehung der positiven Normen, die sie zu behandeln hat, wie mit der Hilfe, die ein zusammenfassendes System gewähren kann. Sie verwendet schließlich die Ergebnisse zweier Hilfsdisziplinen, auf die hier noch kurz einzugehen ist, der Rechtsgeschichte und der Rechtsvergleichung. Die Rechtsgeschichte ist zunächst die Geschichte der geltenden Gesetze, die Gesetzgebungsgeschichte. Sie arbeitet mit den Dokumenten, die über die Gesetzgebungsgeschichte vorhanden sind, den sogen. Materialien, und sucht die subjektiven und objektiven Umstände, die zur Entstehung der Regel geführt haben, zu ermitteln: also die Auffassung der Gesetzesverfasser (der damit betrauten Beamten und parlamentarischen Kommissionen etwa), die etwa bestehenden gesellschaftlichen Ordnungsfragen, die den Anstoß zur Aufstellung der Regeln gegeben haben usw. Handelt es sich um eine Regel des Richterrechts, die in einer Entscheidung aufgestellt ist, so wird man den Fall, der zu ihrer Aufstellung geführt hat, ebenso analysieren wie die Problemgeschichte, d. h. frühere Fälle und frühere Gesichtspunkte, mit denen die Gerichte gearbeitet haben. Diese Form der Rechtsgeschichte ist die Grundlage der historischen Auslegung. Dieser historischen Erfassung einer bestimmten Rechtsregel steht gegenüber die allgemeine Rechtsgeschichte. Ihr Gegenstand ist zunächst die Geschichte der juristischen Ideen, d. h. der Gedanken, die im Laufe der Kulturentwicklung die rechtliche Ordnung bestimmt haben, insbes. natürlich derjenigen, die noch in die Gegenwart hineinwirken. Hierhin gehören Ideen wie Gleichheit und Freiheit als Grundlagen der politischen Verfassung, Privatautonomie und Eigentum als Grundlage des Privatrechts usw. Die allgemeine Rechtsgeschichte hat sodann deutlich zu machen, vor welche Ordnungsprobleme die einzelne juristische Epoche gestellt war, welche Probleme etwa im 19. Jahrhundert die allmählich auf dem Kontinent fortschreitende industrielle Revolution mit sich gebracht hat. Diese Probleme haben die einzelnen Gesellschaften dann auf der Grundlage ihrer leitenden Grenzen des Systemdenkens in der Jurisprudenz gibt Horn, NJW 1967, S. 601 ff.

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Ideen dadurch gelöst, daß sie bestimmte Institutionen, juristische Prinzipien und Regeln geschaffen haben. Deren Entstehung, ihre Entwicklung und Umformung, ihre Bewährung oder Nichtbewährung in der Praxis des sozialen Lebens zu erforschen, bildet den dritten Problemkreis, dem sich die Rechtsgeschichte zuwenden muß17. Mit diesen Untersuchungen erarbeitet sie ein Material, das einmal unmittelbar für das Verständnis der Grundlagen einer gegebenen Ordnung von Bedeutung ist, zum anderen aber auch zu vergleichender Würdigung der vorhandenen Regelung dienen kann. Von besonderer Bedeutung für die moderne Rechtswissenschaft ist das Mittel der Vergleichung geworden, das ja zu den klassischen Methoden der Hermeneutik gehört. Verglichen werden heute nicht mehr nur die einzelnen Rechtsordnungen als solche, sondern es steht vielmehr die Vergleichung der Problemlösungen im Vordergrunde. Beherrschend tritt dabei der Gedanke hervor, daß es im Rechtsleben einerseits Probleme gibt, die permanent in der Zeit sind, etwa die Frage der Regelung des Irrtums beim Vertrage, oder doch Probleme, die in der Gegenwart sich in verschiedenen Rechtsgemeinschaften gleichmäßig stellen. Dieser Sachverhalt ermöglicht es, die verschiedenen Lösungen, die das gleiche Problem in verschiedenen Rechtsordnungen gefunden hat, und die Bewährung dieser Lösungen miteinander zu vergleichen. Es zeigt sich, daß die Zahl der möglichen Lösungen keineswegs unbegrenzt ist, daß es vielmehr immer nur eine beschränkte Zahl von Gesichtspunkten gibt, die eine befriedigende, d. h. praktische und gerechte Lösung ermöglichen. Die moderne Rechtsvergleichung bedeutet also, daß die historisch gegebene positive Lösung sozusagen im Lichte der allgemeinen, überhaupt denkbaren Lösungen der gegebenen Probleme untersucht und eingeordnet wird, die historische einmalige Lösung also in einem ausgezeichneten Sinn auf das Allgemeine zurückbezogen wird. Dadurch wird nicht nur die eigene Lösung in ihrer Besonderheit verständlicher, es können vielfach auch Schwierigkeiten des eigenen Rechts durch diesen Vergleich geklärt und überwunden werden. 4. Versucht man nun die Rechtswissenschaft in ihren eben geschilderten Methoden in das Gesamtbild der Wissenschaft einzuordnen, so wird man sie den Geisteswissenschaften, und hier zunächst den interpretierenden Wissenschaften zuordnen müssen. Grundlage aller " Eine vorzügliche Definition der Aufgaben der Reditsgesdiidite bietet Raymond Saleilles* Aufsatz „Quelques mots sur le role de la methode historique dans l'enseignement du droh" Revue Internationale de l'enseignement XIX (1890), S. 482—503.

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juristischen Arbeit sind Texte und ihre Interpretationen. Aber gegenüber den philologischen Disziplinen unterscheidet sich die Rechtswissenschaft nun doch durch zwei Momente. Zunächst — das haben wir schon hervorgehoben — ist die Rechtswissenschaft angewandte Geisteswissenschaft. Sie steht im Dienste der praktischen Verwirklichung der Rechtsordnung. Sie soll Regeln für die Entscheidung von Fällen bereitstellen. Ihre Arbeit hat also, ähnlich wie die der Medizin, ein praktisches Ziel. Zum anderen: Die Rechtswissenschaft ist zwar nicht, wie vielfach behauptet wird, eine Sozialwissenschaft, denn sie fragt nicht kausal nach Abläufen innerhalb der Gesellschaft, oder phänomenologisch nach vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen, sondern nach der gerechten Ordnung einer bestimmten Gesellschaft. Sie ist die Wissenschaft von den geltenden Ordnungen. Aber die Rechtswissenschaft kann sich auf der anderen Seite nicht von den Sozialwissenschaften isolieren. Sie bedarf der Kenntnis der sozialen Wirklichkeit. Ein Rechtsgelehrter, der etwa im Bereich des Kartellrechts, des Arbeitsrechts oder des Wettbewerbsrechts arbeitet, muß die einschlägigen tatsächlichen Verhältnisse kennen. Er muß wissen, wie Kartelle funktionieren, wie Tarifverhandlungen tatsächlich ablaufen, wie der Kampf im Wettbewerb tatsächlich aussieht. Er bedarf daher des ständigen Kontaktes und der ständigen Hilfe der Vertreter der Sozialwissenschaften. Jede Isolierung, jede Abkapselung wäre für die Rechtswissenschaft gefährlich. Zusammenfassend wird man die Rechtswissenschaft daher als praktische, als angewandte Geisteswissenschaft bezeichnen müssen, die den Sozialwissenschaften nahesteht. Wegen ihrer praktischen Natur hat im 19. Jahrhundert v. Kirchmann der Rechtswissenschaft den Charakter als Wissenschaft bestritten, weil sie ausschließlich von den vergänglichen positiven Gesetzen abhängig sei. Wer so denkt, übersieht, daß Rechtswissenschaft betreiben heißt, die geltenden Gesetze als einen Lösungsversuch von dauernden Problemen der Ordnung unter dauernden Prinzipien der Gerechtigkeit zu verstehen. So mag der Jurist getrost der Meinung Kirchmanns den Satz von Edmund Burke entgegensetzen: „The science of jurisprudence, the pride of the human intellect, which with all his defects, redundancies and errors is the collected reason of the ages combining the principles of original justice with the infinite variety of human concernes."

SCHLUSSBEMERKUNG Wir haben das Recht in seinen kulturellen und soziologischen Bedingungen, seinen ethischen Grundlagen aufgesucht. Es bleibt uns die Aufgabe, am Ende unseres Weges noch einmal die Frage nach dem metaphysischen Sinn der Rechtsbildung aufzuwerfen. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal unsere Ergebnisse! Wir müssen davon ausgehen, daß das „Zusammenleben unter Rechtsgesetzen", um den Kantischen Ausdruck zu gebrauchen, nicht die einzige Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens darstellt. Der Mensch lebt zunächst in den persönlichen Gemeinschaften der Familie, der Freundschaft u. ä. und dann in den großen, überpersönlichen Gemeinschaften der Nation, der Kirche, der Kultur. Diese Gemeinschaftsbeziehungen bestimmen sein Dasein in unendlich viel stärkerem Umfange als die Rechtsordnung, die zu diesen erlebten Gemeinschaften nur als äußere Regel hinzutritt. Es ist für die Erfassung des Lebenssinnes des Rechtes außerordentlich wichtig, diese Erkenntnis festzuhalten. Auf der anderen Seite entspricht das Recht einem tiefen Bedürfnis des Menschen. Es dient der Daseinssicherung. Indem er dem sozialen Leben eine feste Ordnung verleiht, sucht er die aus der Unruhe des sozialen Lebens, dem Gegeneinander menschlichen Bestrebens und menschlicher Leidenschaften aufsteigende Bedrohung seines Daseins zu bannen, seinem Dasein Stetigkeit und Festigkeit, Berechenbarkeit und Sicherheit zu geben. In den großen unpersönlichen Gemeinschaften, wo kein unmittelbares Band persönlicher Zuneigung mehr die Menschen umschließt, wird solche Ordnung zur Notwendigkeit, soll nicht der chaotische Kampf aller gegen alle hereinbrechen. Das Recht steht insoweit im Zusammenhang mit den sonstigen ordnenden, Klarheit und Ruhe schaffenden Bestrebungen des Menschen: der Wissenschaft, der Kunst, der Sittlichkeit und Selbstbildung; es ist ein Teil der Kultur. Der Wille zum Recht hat aber bis auf den heutigen Tag die ihm entgegengesetzten Mächte niemals ganz überwunden. Der gewaltsame Kampf, die willkürliche Gewalt, die Vernichtung aus blindem, leidenschaftlichem Haß sind immer starke Mächte in der Welt des Menschen. Noch harrt die Aufgabe, den Völkern eine Friedensordnung zu geben, ihrer Lösung.

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Schlußbemerkung

Geschichtlich sehen wir das Recht, soweit wir eine allgemeine Entwicklung beobachten können, auftauchen, wo die engen, persönlichen Bindungen der vitalen Gemeinschaften, von Familie, Sippe und Stamm nicht zureichen oder allmählich zurücktreten. Die Beziehungen zwischen den Sippen, im größeren Rahmen des Stammes und Volkes zu regeln, scheint sein erster Gegenstand gewesen zu sein, und lange bleibt es, wie die Religion, an Stamm und Volk gebunden. Erst als die persönlichen Bindungen dieser urtümlichen Gemeinschaften sich lockern und die Persönlichkeit des einzelnen an Bedeutung gewinnt, beginnt es sich aber zu entfalten und zu wachsen. Das meint wohl das Wort, das von Laotse überliefert ist: „Wo der Geist verloren, kommt Menschenliebe auf. Wo Menschenliebe verloren, kommt Gerechtigkeit auf." Das Recht wächst mit dem Selbstgefühl des einzelnen und der Achtung, die er genießt; und es wächst mit der unpersönlichen Größe der Gemeinschaften. Wenn es überhaupt erlaubt ist, aus seiner Geschichte einen Schluß zu ziehen, so scheint es mit der Bedeutung des isolierten Individuums in der Gruppe zusammenzuhängen. In seiner Entwicklung hat es von jeher religiöse und sittliche Vorstellungen in sich aufgenommen. Wo es sich voll entfaltet, finden wir in seiner obersten Wesensschicht sittliche Werte wirksam: die Gerechtigkeit, die Achtung vor den Mitmenschen, die Freiheit, Treue und Redlichkeit. An dem Aufschwung der Religion und Moral zum Absoluten in den Hochkulturen hat auch das Recht seinen Anteil genommen. In schwerem Ringen mit dem Machtwillen des einzelnen wie der Gruppen ist es wenigstens teilweise zur sittlich fundierten Ordnung geworden. So steht es heute vor uns: technisch kompliziert, kaum übersehbar in seinen Einzelheiten und doch von wenigen großen ethischen Gedanken beherrscht, die mit seinem Wesen in einem tiefen, vorgegebenen Zusammenhang zu stehen scheinen und von denen es sich nicht lösen kann, ohne sich selbst zu widersprechen. Damit ist das Recht dem großen Reich des Sittlichen verbunden, unter dem das Leben der Menschen steht. Echtes Recht zu schaffen, eine wahrhaft gerechte und freiheitliche Sozialordnung herzustellen, erscheint als sittliche Verpflichtung. Freilich erschöpft das Recht die Sittlichkeit nicht und wird sie niemals erschöpfen. Im Rechte selbst können nur wenige sittliche Werte verwirklicht werden. Gemessen am großen Reich des Sittlichen ist die Aufgabe der Rechtsbildung und Rechtsverwirklichung nur bescheiden. Höhere und größere stehen neben ihr, und stets bedarf die rechtliche Ordnung selbst der Ergänzung durch eine übergreifende sittliche Gemeinschaft, wie sie die Hochreligionen, vor allem das Christentum, möglich gemacht haben. Aber recht

Schlußbemerkung

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gestaltet, schafft das Recht die sozialen Voraussetzungen für eine freie, wesensgemäße Entfaltung der sittlichen Persönlichkeit und ist darum eines der Fundamente der Sittlichkeit in der sozialen Welt. Am Sinn des Sittlichen hängt letzten Endes auch der Sinn des Rechtes im menschlichen Leben. Nur eine Bejahung der ethischen Forderungen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Humanität läßt es als sinnvolles Gebilde erscheinen. Wem Macht, Gewalt und Kampf die höchsten Güter des Lebens sind, dem hat es nichts zu sagen. Welcher Sinn dem Sittlichen aber im letzten, im Plane des Weltganzen zukommt, bleibt menschlicher Erkenntnis verschlossen. Das Sittliche verpflichtet uns; das ist gewiß. Es gehört zu dem Bereich des Absoluten, aus dem allein der Mensch seinem dem Tode zueilenden Leben einen Sinn zu geben vermag. Aber das Dasein der sittlichen Werte in unserem Leben bleibt uns im Grunde rätselhaft. Wohl hat der Glaube das Sittliche wie das Recht mit dem Heiligen, mit der Existenz Gottes und seinem Willen verknüpft und ihm damit eine überweltliche Bedeutung verliehen; wohl sind philosophisches und religiöses Denken ihm darin gefolgt und verehren im Naturrecht Gottes Denken und Wollen, im positiven Recht das Werk seiner erhaltenden Gnade. Das entspricht einer tiefen Sehnsucht des Menschen; aber dahin kann nur wagender Glaube reichen; die Erkenntnis vermag in diese Regionen nicht zu folgen. Ihr scheint das Recht eng mit der Welt des Menschen verbunden und sie muß sich begnügen, in dieser Welt des Menschen an einer Stelle Zusammenhänge erfaßt und ein Stück weit verfolgt zu haben. Ordnung und Sinnzusammenhang des Ganzen sind ihr verschlossen. „Was unsere Mühen überreich belohnte, das war die Einsicht, daß Maß und Regel in den Zufall und in die Wirren dieser Erde unvergänglich eingebettet sind" (E. Jünger).

NAMENVERZEICHNIS Adorno 8581 Albert 106*, 10841 Aldag 192« Alexander 21 Alkidamas 918 Allen 236,25l10,257, 25838,26044,28916 Antiphon/ff., 19 Aristoteles 64, l O 22 ,11,13 ff., 20 f., 24, 28, 92,10l18,107,107«, 109 f., 118, 166,16724,199,205" ArnimS, 185* Atatürk 135 Augustinus 24,25 ff., 186 Augustus 144,149 Austin 51,64 f., 86,179,235 f. Bachofen 168 Bacon 260 Bagolino 44" Barth, Hans 5521,10323·27,105,105», HO48 Barth, Karl 27 ff. Barth, Paul 185" Bauer 26'7 Baumgart 492 Baur58 n Becker, Carl 20517 Becker, Walter G. 23238 Beethoven 126 Beneke 505 Bentham 49 ff., 64, 85,93,110,126,140 Bergbohm76f.,2132 Bergsonllo 60 ,120,194 7 Berneker 1543,13615,13818 Betti 38 Bierling20618,23717 Binding 2562S 270 Bingham 6413 Bloch 85 Bodin30,104

Böhml89 Bohatec 2722 Bollnow958, 100'5,10634,285 de Bonald 42 Bonnecase 25422 Bowring 493, 6415 Bracton 256 Brentano 1 1 8, 11 86M 22 Brunner, Emil 1 8616 Brunner, Otto 1 96" v. Brusiin 22015

Bülow 27610, 2868 Burckhardt,Jacobl969 Burckhardt, Walther 20822, 24l 21 Burke39ff.,298 Butterfield31'- 3 ,38 3 Calvin 23, 2722 Capelle 63, 1963 Cardozo 258, 295 Cassirer31',38,62 5 - 6 ,95 9 Celsus 265 Chabod 294 Chamberlain 57" Cicero 1 0,20 ff., 1859·10·" Clauss57" Cohen 7l33 Coke 294 Collingwood 5', 38 Comte 60 Cortes 42 Darwin 37, 55 Dawson 256 Dejouvenel 17l36 De Maistre 42 Demolombe 25524 Dernburgl82', 185 Descartes 3 1

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Namenverzeichnis

De Zulueta 2462 Diels63-5-6,712'1J,815-17,920,19" Dilthey 3l3,38,958,101 Domat251H Droysen 38 During l l25 Du Granges-Boudont 3l 2 Dumont 492 Du Pasquier 26920,2844,2857 Ehrlich 22524 Ellul 27,2823 Emge71,1456,15017,18616 Erdsiek23340 Esser2143,25626,28715 Eucken 1324,16l4·5·7,16212,20113,2092, 2104 Everett 492 Evers 23340 Exner 18923 Fehrl54 24 Ferrerol7237 Fest 8582 Fetscher 602 Feuerbach 150 Figge 23340 Fikentscher218n Fischer 5811 Flumel82 2 ,195 8 Forsthoff2159,22118,26715 Frank 5812,276", 278 Frazer 16420 Freud 9,37, 57,125 Friedrich II. v. Hohenstaufen 140 Friedrich II. v. Preußen 34 Friedrich Wilhelm IV. 175 Gadamer 38,958, 97 Gaius 20 68 ,249,292 Gaudemet, Eugene 25422 Gaudemet, Jean 16415 Gehlen 12l66 Geigeroi3,637·9·10,10323,107,10738 Geny 23035,25422,25624'25·26,2844, 286 f. Germann 28124 Geyer24 4 ,25 13 ,26 li

Gigon 1021 Gilbert 2 Ginsberg 115,11557,11658,11965 Gobineau 56 Goedeckemeyer 18511 Goethe 117,142,150,173,224 Goodhart2462,25840 Grimmjacob 148,15220,26713 Grotius 28,32 Günther 57" Guizot2144 Habermas 4726 Hägerström 63», 239 v. Haller 42 Hammurabi 163 Hart64 13 ,65< 9 ,86,236» Hartmann, Nicolai 6l4, 71,127,12978·80, 153,1592,16l4,24020,24224·25,290, 295 Hauriou 188 Hayek 325,625·6 Hazard 313 Heck 1445,1845,26714,2731,276,280 Hegel 31,44 ff., 51 f., 108,149,15833, 178,201 Heimpel283 Heinimann 714 Heinze 1857 Helmholtz613 Herder 38 Heusler 15323 Heuss, Alfred 98", 13413 v.d.Heydte28 3 Hippias 7 Hobbes 32 ff., 104,172,227,285 Hoebel 132',1339,134", 136,164'8, 165,16725,16827 Höpfner2004 Holmes 58,239 Horn 2914 Horvath 1433,17649 Howald 12267 Huber 182', 18921 Hugol84 6 Hume 35,3517° Husserl, Edmund 2351

Namenverzeichnis Ihering51,155,25317,2768 Ireland 4419 Isay58,182',215 9 ,233 4 °- 41 ,277ff. Isidor v. Sevilla 2276 Jaeger l O 24 ,13,20 65 · 67 Jamblichos 19 Jantzen 158 Jellinek, Georg 14912,227,237 JodelSl 11 Jonas 8582,91 Jones 13616, 16826 Joseph II. 34 Josserand 255 Jünger 301 Justinian 228 Kallikles7 10 ,8f. Kant 1,3,35 f., 44, 57,109 ff., 129,238, 243 Kantorowicz, Ernst H. 283 Kantorowicz, Herrmann 2462,247, 2508,286 Kapp 11 «,10l18 Käser 16929,22831 Kaufmann, Erich 6520,280 Kelsen 65 ff., 86,179,221,227,238,240 v. Kirchmann 298 Klein, Franz 237f., 240 Klug 294" Kneale 4523 Köhler 295 Kohler, Joseph 4415,1335,25626,270 f. Koschaker2007·9 Kraft 591,6l3, 637,10014,107», 21610 Kranz 63·5·6, 712·13, 815·17,920,1963 Krauss159' Krawietz 8686, 8687 Krielell3,11 S64,192l,20415,2159,26918, 27327,27817,28122·25 Kritias 7,9 Kroll 62 Kronstein 22625 Krüger 19610 Küster 23240 Kunkel 98",15219,163'° Kuttner 213

305

Laotse 300 LaPira248 6 Larenz 22015,256*, 27225,2743,2757 Latte 13818,164 Lau 2722 Lauterpacht 2669·10,26921,27225,27329 Leisegang 2513 Lenz 58" Leonidas 113 f. Lerner 5812·15 Lesky 149 Lessing, Theodor 107,10737 Levi, Edward 2S942 Lieber 5416, 5520 Liermann 2722 Lipsius 15l18 Locke 34,162 Löwith21' Lorenz 122,29516 Luhmann87ff., 126 ff. Lundstedt63 9 ,64"- 12 Luther 23,26 f. Macaulay 175 Machiavelli29ff. Malinowski 143,168 Mandelbaum 10l17,10328,104,10431 Mannheim 5417,5522,103 ff., 10324·25·26, 10430 Marrou 38, 97'°, 10013,10840 Marsilius v. Padua 283 Marx 36,49,51 ff., 85,98,101,102 f., 105,108,149,159 ff., 178,209 Maxwell 26713·'6 Mayer 183,1834,190 Mayer-Malyl98 13 · 14 Maynez 71 McBriar 37' v. MehringSl 13 Meier-Hayoz 21912,266'°, 26920,2844, 2857 Meinecke 29*, 308·10, 3 82 Mendel 561 Mesnard 282,309 Meusel 399 Michelakis 1543 Mill 50,5l 12 ,80

306

Namenverzeichnis

Mitteis 146,152,25421,29513 Mommsen, Theodor 98,134* Montesquieu 38,20314 Mozart 111 Müller, Adam 42 Müller-Erzbach 269 Napoleon 55 Natorp l O23 Nelseon 7l34 Niebuhr38 Nietzsche 9,56 f., 81,103,122 ff., 122«», 12470·7',125 NohlllQ 49 ,126 76 Nottarpl6519·21 Ockham 26 Olivecrona 639 Ophüls 208,20823 v. Oppeln-Bronikowski 42 Oppenheimer 13410 Ottol26f.,126 73 Papinian 2473 Parke 37 Pascal 23 Patzik 101,10l20,10222,113", 11658 Paulus (Apostel) 232 Perelman 92 f., 114 f., 1933,2658 Peter 25627·28 PetersenlS54 Planck 1858 Planiol 25526 Platon 63'6, 77·8-9·10, 8,918·19,10 ff., 28,44,101 18 ,107,178,248 Plessner 12l66,123,1277e Plucknet25628,25730·31·32 PohlenzlS56,19*1,2173,2274 Popper 1334,2064,4726,6l3,106,10634, 10841,15834,16l3 Pothier260 Pound, RoscoeSl Praechter 63 Pringsheim 13615 Protagoras 6, 77>8·9 Pufendorf32ff.

Rabel 1479·10 Radbruch 82 ff., 182l Ramus 293 Rattrey 134 Reale 44 Recasens Siches 44 Regelsberger 1821 Rehberg 42 Reiche 233 Reichel 5813 Rexius 39*, 4213 Ricardo 501 Ricci 44>9 Rickert 22322,28020 Riezler 14913,20010 Ripert 25526 Ritter 1443 Rommen 18612 Ross 1439,639 Rostovtzeff 98 Rothacker 384,2927 Rousseau 163 Saleilles 255,29717 Salier 58" Salmond 25839 Savigny 42 ff., 57,17547,251 ff., 26612, 267", 27l 24 ,293 Scheler 11658,117", 123*9,12676, 12979. so, s i Scheuerle 27818 Schlechta 12370 Schleicher 626 Schleiermacher 261 f., 264,271 f. Schmidt, Eberhard 1552*, 23340 Schmitt, Carl 39*, 59,15016,314 Schmoller 18,210 Scholz4523 Schönfeld2008,201 Schopenhauer 56 Schröder 15220 Schulz, Fritz 1127,2462,2484·5 Schumpeter 5315,1639 Senecal8f.,20619,2484 Sextus Empiricus 66 Shaftesbury 38 Sigismund 146

Namenverzeichnis Simmel 129,12979 Simonides II 3 1 Smith, Adam 48' Snelllll 51 Sohm 253,25421,294,29513 Sokrates 7", 10 Solmsenll 25 ,10l 18 Sombartl33 4 ,209 Somlo 65,146", 236'° Sorokinl7131,172,17238·40 Spranger 10329, HO 47 ,184 Stahl 42,186 Staiger 9710,2995 Stammler 71 ff., 2005 Starck 192' Stavenhagen 16l4 Stein, Karl Frhr. vom 42 Steinwenter 246' Stenzel77, 1022·24,1438 Stephens 2091 Stern 42U Stoll, Hans 347 Stone 10119,284,2855,29l6 Stratenwerth 19024,22221 Stroux 2497 Taines 626 Thibaut 43M Thielickel8718 Thieme 1434,2004 Thomas 149,15220 Thomas v. Aquin 23 ff., 185 f. Thomasius 32,34 f. Thrasymachos T Toulmin 10221 Toynbee 135,180

Troeltsch8172,1993 Troje2939 v.Tuhr222",234,235 2 Überweg 6 3 ,24 4 ,25 13 ,26 16 Ulpian208 Unger 25422 Veitl89 22 ,201 12 ,233 41 Verdroß 63 Vico 38 Viehweg 27328, 291«, 29411 Vierkandt 171,17l32·33·35·39,17648 VilleyS" Voltaire 38 v. Weber, Hellmuth 23240 Weber, Max 7443, 79 ff., 115,117 f., 13617,138,148" Weimar 250" Weischedel 3818,23340 Welzel 1823 Wenger25421,29513 Wengler 15527 Wesenberg 26713 Wieacker 4315,5813 v. Wilamowitz-Moellendorf 10839 Winckelmann 78M Windscheid 27l 24 Wolf, Erik 63·6, 77·', 1963, 8274,20821 Xenophon78·", l O22 Zanta 325 Zitelmann 189,282' Zorn 295

307

SACHVERZEICHNIS Absolutismus 33 f., 236 — aufgeklärter 33 f. Abstraktheit 202 AdelS, 16,123 f. Adelsherrschaft 6 s. a. Aristokratie Aggressivität 122 Akademie, platonische 10,14,101 Allgemeine Rechtslehre 51,64,146, 235 f. Altertum s. Antike Analogie 109,127,2461,252,255,259, 283 f., 287 Anarchie 47,137,214 Anerkennungstheorie 236 ff. Anthropologie 13,17,32,35,134,1846 Antike 5ff., 28,31, 32,35,136,161 f., 181 Antithese 7,46 Aporetische Denkweise 290 Arbeit 110,114 Arbeiter 36 f., 53 Arbeitsrecht 144,153,155,176 Aristokratie 15 ff., 116,123 s. a. Adelsherrschaft Aufklärung 6,9,28,31 ff., 37,42,56, 141 f., 173,230 Ausgleichsansprüche 196 Auslegung 65,97 ff., 261 ff. — aus der Sachbedeutung 262 f., 268 f.,272 - Canonesder261ff.,272f. — genetische 262,265 — grammatisch-logische 78,230, 249 f., 255,266,271 f., 274,296 - historische 266 ff, 272,288 - objektive 255,25626,269 f., 271, 283 f. - technische 262 f., 265,268 f., 272

- von Gesetzen 2, 78,221 f., 232, 244 f., 255,264 ff., 285 — von precedents 258,26l 2 - von Verträgen 264 f., 267,269 Autorität 205 Axiom 178,204 Basis 52 Befehlstheorie s. Imperativtheorie Begriffe 220,253 f., 265,275 f., 283 — bei Hegel 45 — der reinen Vernunft 35 - beiPlatonlOf. — neukantische Rechtsphilosophie 10,71 ff. Begriffsjurisprudenz 253 f., 275,283 Bergpredigt 26 f. Bewertung s. Werturteil Bewußtsein 51 ff., 62, 71 ff., 103 f. Billigkeit 16,18,27,152,155,254 BonafideslSlf. Brocarda 250 Bürger 16,103 Bürgerkrieg 144 Bürgerrechte 34 Challenge 180,209,290 Christentum 22 ff., 82, 90,123,162,300 Civitas Dei 26 f. Common Law 140 f., 150,247,256 ff. Consilia 140,250 Corpus Juris Civilis 28,229,236, 241, 250 Darwinismus 55 f. Datenschutz 128 Declaration of Independence 2, 34,153, 20517

310

Sachverzeichnis

Dekalog 111,202 Demokratie 6,15 ff., 142,155 f., 178 Denken, juristisches 114,243 ff. Dialektik 7,46 f., 179 Dreistadiengesetz von Comte 60 Ecole de l'exegese 250,254 ff., 275 Ehe 25,43,117,172,175 f., 183,220 Eid 147 f.,165 Eigentum 12, 34,43,48,52, 54,143, 153,159,179,182 Elementarwerte 110,117 f. Emanzipation 22,116 Emanzipation der Frau 116,159,168 Empirismus 59 ff., 59', 71,106 ff. Equity 247 Erbsünde 22 Erfahrung 203 Erkenntnis 95 ff., 106 ff., 118,122,125 - bei Hegel 45 f. - bei Kant 35 — beiPlatonll — des Rechts bei Kelsen 66 f. - ethische 105,126 ff. — positivistische Auffassung 61 ff., 106 ff., 215 — wissenschaftliche bei Max Weber 79 f. Erkenntnistheorie 45,62 Erziehung 12,24,104,122 Ethik 92 f.,95 f., 106 f., 108 ff., 121 f., 126 ff. — beiBentham49f. — bei Kant 35 — christliche Auffassungen 22 ff., 26,56,122 - der Stoiker 19 ff., 32 — des Aristoteles 14 ff., 111 — desSokrates 10 Evolution 89 f. Fabian Society 37 Fahrlässigkeit 190 Familie 12,48,133 f., 137,159', 168 ff., 171,175 Feudalismus 53 f. Formale Rechtslehren 64 ff.

Formalismus 137,166 f., 248,266 Fortschritt 3 7,38 Frankfurter Schule 85 Französische Revolution 22,36,39,42, 16312,176 Freiheit 2,13,21,33ff., 39,47f., 71, 75, 7661,128,141,143,152 f., 178,195, 293 Freirechtsschule 58,215,276,286 Frieden 26,122,142 ff., 154 f., 178 Fürst 29f., 178 Gebotssatz 202 Gefährdungshaftung 202 Geist 44,51, 56,96,121,123 f., 126 Geisteswissenschaften 38, 61 f., 95 ff., 102,105,106 ff., 126,263 f., 285,297 Geltung des Naturrechts 205 Gemeines Recht 140 Gemeinschaft 19,25,48, 70, 76,109, 119,145,171 f., 175 ff., 182,185,236, 299 f. — aller Menschen (Stoa) 21 — der Gläubigen 26 — frei wollender Menschen (Stammler) 75 f. — staatliche 21 — von Vernunftwesen (Grotius) 32 Gemeinwohl 25,33 Gerechtigkeit 2,10, 71, 78,109 ff., 114 f., 118 f., 122,143,150 E, 164, 173,178,185 ff., 193,197 f., 230 ff., 268 f. — allgemeine Definition 193 - bei Aristoteles 15 ff., 111,193 — bei Bentham 50 — bei Luhmann 90,126 - beiPerelman92f., 1933 - bei Platon 12,13 — bei den Sophisten 7, 8 — distributive s. iustitia distributiva — göttliche 26 f. - Grundsätze der 193 ff., 213 f., 289,294 s. a. Rechtsgrundsätze

Sachverzeichnis — in der stoischen Philosophie 20, 21 — soziale 18 Geschäftsführung ohne Auftrag 196 Geschichte 1,4 ff., 22,26,37,39 ff., 48, 51, 53 f., 78, 96, 98,104 ff., 123 ff., 158,178 f., 246 s. a. Rechtsgeschichte Geschichtlichkeit - des Rechts 85 Gesellschaft l, 13,32,48, 50, 52, 54,98, 100,112 ff., 116 f., 138,163,168,177, 225 f., 298 Gesellschaftsordnung 36,39 Gesellschaftsvertrag 33,39 f., 141 Gesetz 2, 7, 8, 9,20, 33, 34,43, 78, 141 f., 223,228 ff., 244 f. s. a. Auslegung von Gesetzen, Gesetzesanwendung Gesetz - moralisches 29,30, 35 — sittliches 181 — ungeschriebenes 7 Gesetzesanwendung 273 ff., 284 Gesetzgeber 114,140,244 f., 256 f., 269 ff., 281,283,285,288 Gewalt 27, 33, 56,122,142,177,205 — Monopolisierung der 196 Gewaltenteilung 34,228 f. Gewissen 24,27, 80,122,237 Gewissensfreiheit 48 Gewohnheitsrecht 43, 70,137,139, 219,229,244 Glauben 23,27,79, 80, 96 Gleichheit 15,16,34, 39,56,143,153, 168,192,195,221 - natürliche 8,21,33 Gleichheitssatz 221 Gnade 22,23,26,301 Götter 5,6,25, 81 f., 116,165 Götterglauben 7 Gottesurteil 165 Griechen 5 ff., 22,133,136,143,147, 163,193 Griechisches Recht 133,136,13615·l6, 13818 Grundbegriffe (bei Stammler) 73

311

Grundnorm 68 ff., 238 f., 23916,240 Grundrechte 36,37,148,197,277 s. a. Menschenrechte Rechte, natürliche Grundwerte der Gesellschaft 198 Gruppe 55,123 ff., 137 ff., 142 f., 145, 167 f., 171 f., 218,224,237f. Hermeneutik 2,244,261 ff., 291 Herrschaft - absolute 33,172 ff. Historische Rechtsschule 4, 36,42 ff., 76,108,136,149,157,178 f., 236,240 Historismus 37, 82,103 Höhlengleichnis 11 Humanismus 28 Hypothese 100 ff., 107,125 Idealismus - deutscher 44 ff.,57 Idealstaat 12 Ideen — als Gedanken Gottes 24 — beiPlaton s. Ideenlehre Platons — bei Savigny 43 f. — in der neukantianischen Philosophie 10 Ideengeschichte 44 Ideenlehre Platons 10 ff., 14,44 Ideologie 52,55,59, 82,102 ff. Ideologiekritik 55,101,281 Imperativtheorie 235 f., 238 f. Individualität 38,42 f., 118 f. Individuum 52,176,300 Indogermanen 122 f. Induktion 106 Institute s. Rechtsinstitute Institutionen 204,210 — Lehre von den 188 Interesse (utilitas) bei Grotius 32 Interessen 36,44,49 ff., 55,102 f., 104, 154,176 f.,183,188,190,222,253, 267,276,291 — typische 201 — bei Bentham 49*, 50

312

Sachverzeichnis

Interessenabwägung 50 Interessenjurisprudenz 49 ff., 78,145, 148,192,222,267,276 — wertende 244 Interessenkonflikt 145 Interpretation s. Auslegung, Verstehen lustitia commutativa 193 ff., 195 lustitia distributiva 193 ff., 196,210 lustitia protectiva 197 „Jedem das Seine" 12 f.,185 s, a, suum cuique Jüngstes Gericht 22 Jurisprudence, universal 64 s. a. allgemeine Rechtslehre Jurisprudenz 2, 76,243 ff., 265,291 f. — praktische 20 - römische 139,247 ff. Juristenrecht 139 ff., 219

Lehrsystem 292 f. Lex aeterna 24,185,203 Lex divina 24 Lex humana 24 Lex naturalis 24,27 Liberalismus 36 Liber Augustalis 141 Logik 10,32, 59,61, 71,106 ff., 248, 275 f., 294 — in der Auffassung Hegels 45 - juristische 255,275 f., 294" Logos 18,20,21 Lücke (im Gesetz) 16,21912,226,230, 234,252,276,281 ff. Lustprinzip 49,122,126

Kaiser 28,98,104,228 Kampf 103,107,109,123,143 ff., 155 ff.,172,177 f., 245,299 Kapitalismus 53 f., 103,161 ff. Kategorischer Imperativ 109,111 „Katheder-Sozialisten" 18,37 Kausalität 67 f.,74 Kirche 28, 84,177,188 Kirchenrecht 176,183,224,227 Klasse53,55,101,113,116l. Klassenherrschaft 53 Klassenkampf 53 Kodifikation 141 f., 158,170,246,251, 254,286 Kommunismus 36 Komplexität 87 f. Konstruktion 253 Konvention 7,19, 73,107,121,199 Krieg 48,119,123 f., 137,144,172,177 Kritische Theorie 85 Kultur l, 3,4,31, 37f., 42 ff., 56, 80, 84, 95,97,116 ff., 121 ff., 126,134 ff., 164,170,180 Kulturnormen 190 Kulturwerte 117

Machiavellismus 29 ff. Macht 29, 30, 70, 84, 97,103,107,119, 123,150,172 ff., 180,222,228f. Marburger Schule 71 ff. Marktwirtschaft 210 f. Marxismus 36,51 ff., 101 Materie 14,1752,18 Mathematisch-naturwissenschaftliches Denken 31,106 ff. Mehrwert 53 Meinungsfreiheit 198 Menschenrechte 34,39 Menschenwürde 194,197,198 Metaphysik 20,45, 59,60,95,122 Methode, juristische 2,296 f. Mittelalter 17,22,23,24 ff., 28,32, 135,139 ff., 147,149,161 ff., 228, 249 f. Modelle 201 Monarchie 16,17, 39,104,156,173 Monopol 53 Moral 56f.,65, 90,116f., 119ff., 122 ff., 145,160 Moraleclosell7,120,167 Morale ouverte 117,120 Moralität 48 Mutterrecht 133,168 f. Mythos 11

Lebensideale 117 Legalität 47 f.

Nation 37, 79, 87,172,177 Nationalkultur 42

Sachverzeichnis Nationalökonomie 36,48,79,183 f., 209 f. Nationalsozialismus 58,118,168 Natur 8, 9,16,19,20,22,32,47,67, 91, 116,121,166,181,198 Natur der Sache 181 ff., 22321,231 Naturgesetze 18,19,61,68,106 Naturphilosophie 10 Naturrecht 8,20 ff., 24 f., 28,29,31,42, 53,65, 76, 78, 90 f., 148,185,198, 205,213,214,231 ff., 268 — hypothetisches und relatives 199 — geschichtsbezogenes 200 — bei den Stoikern 19 ff. — bei Thomas von Aquin 24 f., 185 — bei Stammler 200 - der Aufklärung 28,32 ff., 36,293 Naturwissenschaften 18,60 ff., 65,95 f., 100 ff., 106 f., 119 Neminem laedere 194 Neopositivismus 61 ff., 86, 91 Neukantische Philosophie 10, 71, 82, 238,240 Nominalismus 26 Nomos 7,152 Norm l, 20,58 f., 65 ff., 76,87f., 96,99, 101,121 ff., 137 ff., 215,217 ff., 245 Normensystem 66,116 Notstand, Notwehr 192,206 Nulla poena sine lege 196,288 Obrigkeit 26 f. Ökonomie s. Wirtschaft Offenbarung 23,24,26,138 Oligarchie 16,17 Ordnung, öffentliche 206 Pandektistik 244,247,250 ff., 255, 293 f. Papst 28,104 Peripatos 14 Persönlichkeit 101,119,152,154, 217 f.,300 f. Person 48,216 Person(en)würde s. Würde

313

Pflicht 35,64,114,122 Phänomenologie 99 Planwirtschaft 21 Of. PolisH, 171 Politik 12,28 ff., 36,42, 83,96 ff., 104, 119,245 Politische Wissenschaft 12,16,28 Positivismus - juristischer 76 f., 86,179,213 f. — philosophischer 59 ff., 76,69, 86, 91,106 f., 126,215,239 Praxis 204 Precedents 192,193,197,257ff., 26l2, 265 Presse 36 Pressefreiheit 114 Primitive Rechtsordnungen 132 ff., 137, 166 f. Privatautonomie 195 Privateigentum s. Eigentum Produktionsmittel 36,54,119 Produktionsverhältnisse 2,51 ff., 103 ff., 159ff., 180 Produktivkräfte 51 f. Proletariat 36 Protestantische Soziallehre 186 f. Prozeß, -recht s. Verfahren Prüfungsrecht, richterliches 231 ff. Psychoanalyse 57,122 Psychologie 37, 55, 64,66, 99 Quaestio disputata 250 Quellenkritik 100 Rache 56,119,123 f., 137,138,143,169 Rassentheorie 56 ff., 86,118 Ratio legis 279 ff. Rationalismus 31 ff., 38 Rationalität des Werturteils 126 ff. Realismus 51, 58,63 f., 215,239,276 Recht — als Ausdruck der Weltvernunft 19 — als Friedensordnung 143 ff., 154, 213,245 — als geistiges Sein 239 f.

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Sachverzeichnis

— als Gemeinschaftsregelung (Radbruch) 84 — als Kulturphänomen 2,3, 37,108, 179, s. a. Recht im Rahmen der Gesamtkultur — anglo-amerikanisches256ff. s. a. Common Law — archaische Auffassung 5 — archaisches 134,137,165 — bei Aristoteles 16,20 — bei den Sophisten 7 ff. - bei Hegel 47 f.,53 — bei Kant 35 — bei Luhmann 89 ff. - bei Marx 53 ff.,98,105 — bei Savigny 42 f. — bei Stammler 73 ff. — im Rahmen der Gesamtkultur 42, 44,159 ff., 179f. — in der Auffassung der Freirechtsschule 58 - positives 7,24,33, 65, 72, 76 f., 102,187,213 ff. — richtiges 71, 74 ff. — staatlich gesetztes 224 ff. - subjektives 63, 65,215,217 — ungeschriebenes 20 Rechte, natürliche 34, 35 Rechtsanwendung 2 Rechtsbildung 4, 78,139 ff., 143 ff., 180,182,229 f., 299 Rechtsdynamik 68 Rechtsfähigkeit 48,167 Rechtsfolge 219,221,235 Rechtsfortbildung, richterliche s. Richter recht Rechtsgeltung 234 ff. Rechtsgeschäft 67 Rechtsgeschichte 43 f., 95,100,155 f., 179,246,2636,296f. Rechtsidee 13, 74 f., 108,185 Rechtsinstitute 43,100,251 ff., 25215, 293 Rechtsnorm 65,67, 78,174,235 ff. Rechtsordnung 2,49, 63,65, 68 ff., 96, 122,133 f., 139,141 ff., 152 f., 167, 216 ff., 224,239 f.

Rechtspflege 137 Rechtspflicht 63,183 Rechtspolitik 64, 66, 78,224 Rechtsquelle 65, 78,138 ff., 228 ff., 231, 254,258,286 f. Rechtssatz 67 f., 75,147,170,224,234, 264 s. a. Rechtsnorm Rechtsschöpfung 2 Rechtssicherheit 148 f., 15l17,214,228 Rechtssoziologie 87 ff. Rechtsstaat 34, 36,153,163 Rechtssystem s. System Rechtstheorie 86 ff. Rechtsvergleichung 95,136,286,294 ff. Rechtswertbetrachtung 82 f. Rechtswidrigkeit 63 Rechtswissenschaft 2,3,43,63,65 f., 76 f., 95,98,139,142,224,2462,247, 255,286 ff. — mittelalterliche 140,249 f. - römische 149 f.,247 ff. Reduktion 56,114 ff. Reform 39 ff. Reformation 23 Reformsozialismus 36 f. Reich 22,26,27,28, 98 Reine Rechtslehre 65 ff. Relativismus — philosophischer 79 ff., 126 — systematischer 83 Religion 55,96,138,160,164 Renaissance 28 ff., 161 f., 196», 209,209' Response 180,209,290 Responsuml39,247f.,250 Ressentiment 56,122 ff. Restauration 42 Revolution 39ff., 52,99,104,144,150, 155,17343,206,241 — proletarische 36 Rezeption 100,135 f., 149f.,226 Rhetorik 6, 92,101 f., 126,249 Richter 58 f.,61,114,117,118,140, 145,151,157,181,184,215,222 f., 229 ff., 239,254 f., 256 ff., 273 ff., 281 ff.

Sachverzeichnis s. a. richterliche Entscheidung, Richterrecht Richterliche Entscheidung 58 f., 67, 157,254,276 ff; Richterrecht 140 f., 219,229 f., 256,286 Römisches Recht 98,100,135,136, 139 f., 149,150,162 f., 167,228, 247 ff., 251 Rom 139,143 f.,153 s. a. römisches Recht Sachgemäßheit 194 Sachgesetzlichkeit 182 ff. Sanktion 63,67,142,164,218,227 - des Naturrechts 205 Satzung 7, 8,16,21,74 Schöpfung 22,186 Scholastik 18,23 ff., 203,249 f., 251 Schuld 22,63,122,153,165,182 Schuldprinzip 48 Selbstbindung des Gesetzgebers 146 Selbsthilfe 117,137,143,145,173,205 Sicherheit 33,143,153 ff., 172,177 f., 299 s. a. Rechtssicherheit Sittengesetz 35,111 f., 207 Sittliche Verpflichtung 122 Sittlichkeit l, 35,48,53, 84,118ff., 278 ff.,293,300 f. s. a. sittliche Verpflichtung, Sittengesetz Situationsgebundenheit des Rechts 199, 201 Sklaven 9,17,22, 75,123 ff., 167,223 Sklaverei s. Sklaven Sophistik6ff., 10,19 Souveränität 30,196 Sozialismus 36, 53, 54, 84 f., 103 Sozialrecht 210 Sozialvertrag s. Gesellschaftsvertrag Sozialwissenschaften 62,104 f., 298 Soziologie 65,66,183 Soziologische Jurisprudenz 44, 49 ff., 78,156,225 f.,269 Spekulation 204

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Sprache 3, 5,10, 99,107,109,122,132, 170,219 ff.,262,265 Staat 22,28, 70,90 f., 106,119,122,133, 137,186 ff., 224 ff. — als Organisation 196 f. — Auffassungen in der Renaissance 28 ff. - beiBurke39f. - bei Hegel 48 - beiPlaton!2 — christliche Auffassungen 23, 25 ff., 185 f. Staatsformen 16,17 Staatslehre 13,16 Staatsraison 12,29 f., 190 Staats theorie — konservative 39 ff., 186 Staatsvertrag s. Gesellschaftsvertrag Standardgesichtspunkte 100 f., 273 Standesunterschiede 9,12,167 Stoa 18 ff.,22,24,28,32,185 Stoiker s. Stoa Strafe 8,37,48,67,68,122,134,142, 153,189 Strafrecht 134,153,165,289 ff. s. a. Strafe Saint-Simonisten 36 Subsumtion 59,115,275,277,279 f., 281 Sühne 169 Sühnevertrag 134,143 Sündenfall 23,186 „Suum cuique" s. „Jedem das Seine" Syllogismus 101,202 s. a. Logik Synthese 46 System 2, 3,43,64,65,69,98 f., 102, 111,119f., 126 f., 246,249,253,265, 290,292 ff. — soziales 86 ff. Systemtheorie 86 ff., 126 f. Tatbestand 219 ff., 275,280 Technik 2,182

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Sachverzeichnis

Theologie 23 Thomismus 18,24 f., 26 Topik 11, II 25 ,101 f., 108,264,290 f. Traditions, 16,37,148 f. Treu und Glauben 2,196,220 f., 23240, 269,275 Treue 166,172 Triebe 56 f., 121 f., 182,184 Tugenden 15 Typik201 Tyrannis6,16 Überbau 2,52 ff., 98,105,108,160 ff., 209 Übernahme von Recht s. Rezeption Umkehrschluß 283 f. Unabhängigkeit des Richters 34,197 Unabhängigkeitserklärung, amerikanische s. Declaration of Independence Ungerechtfertigte Bereicherung 196 Unterlassen 206 Universität 17, 81,135,139,260 Uppsala-Schule 63 Urheberrecht 61 Urteil, richterliches s. richterliche Entscheidung Utilitarismus 49 ff., 85 f., 93,110 Utility-principle 50 Verbotssatz 202 Verfahren, rechtliches 100,117,197 Verfassung 39 f., 70,144,153,176,233, 239 - beiBurke39ff. — von Athen 16 Verfassungsumsturz 16,39 f. Vernunft 29, 57 f., 101,129 — bei Kant 35 — beiPlaton!3 — in der Aufklärung 31 ff., 35 — in der christlichen Rechtsphilosophie 23 ff. — in der stoischen Philosophie 20 - praktische 14,35,116,129 — reine 35

— theoretische 14 Vernunftbegriffe 71 Verschulden 196 Verstehen 95 ff. Vertrag 15,33,114,134,143,146,176, 191,218,223 f. s. a. Auslegung von Verträgen, Gesellschaftsvertrag Verwaltungsrecht 152 Völkerrecht 21, 70,144 f., 15425,155, 214,218,224,227 Volksgeist 41,46,108,136,179,251, 270,293 Voluntarismus 56 ff. Vorsatz 182 Vorsokratiker 6 ff. Wahrheit l, 8, 920,20, 32,101 ff., 165 ff., 263 Weistümerl39 Weltanschauung 79, 82,98,101,103, 122 Weltgeist 45, 48 Weltgesetz, s. lex aeterna Weltrechtssystem 70 Weltstaat 21 Weltvernunft 19, 32 Wertabwägung 114 ff. Wertbegriffe 275 Werte 2,15, 56, 57, 71, 78 ff., 82 f., 99, 104,108 ff., 123 ff., 126 ff., 202,220, 237,279 f. Werteinsicht 203 — apriorische 199,203 Werthierarchie 115,122 Wertkonflikt 114 Wertphilosophie 44 Wertsystem 116,126 f., 128 Wertungsjurisprudenz 192 Werturteil 62 f., 6310, 76 ff., 100,123 f., 126 ff., 222,276 ff. Wertvorstellungen 37,192 - Pluralismus der 198 Widerstand 27,205,251 ff. Wiener Kreis 61 ff., 86 Wille 12 f., 48,51,56 ff., 79,104,107, 235 f., 270

Sachverzeichnis Wille Gottes 23,26, 301 Wille zur Macht 57,103,123 Willenserklärung 72,219,293 Willkür 6, 8,43, 75, 76,107,141 f., 145 f., 152,189 — bei Kant 35 Wirklichkeit 14, 51 Wirtschaft 36 f., 48 f., 50 ff., 96, 98,103 ff., 119,159 ff., 184,187, 225 Wirtschaftsordnungen l, 119,159ff. Wirtschaftsrecht 15526 Wirtschaftssysteme

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s. Wirtschaftsordnungen Wissenschaftstheorie 86 Wohlfahrtsstaat 222 Writ 256 Würde 81,148,221 Zauberei 166 f. Zentralismus 196 Zeugen 7, 8, 920,167,170 Zurechnung 67 Zwang l, 67,205 f.,225,227f. Zweck-Mittel-Betrachtung 74,276,278 Zwei-Reiche-Lehre 27