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German Pages 211 [212] Year 1988
JOHANNESSEUFERLE
Grundlegung einer Theorie des Sozialstaats
Sozialpolitische Schriften Heft 56
Grundlegung einer Theorie des Sozialstaats Ein Versuch mit Hilfe analytischer Instrumente aus Ökonomie, Soziologie und Biologie
Von Dr. J ohannes Senferle
Duncker & Humblot · Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Seuferle, Johannes: Grundlegung einer Theorie des Sozialstaats: e. Versuch mit Hilfe analyt. Instrumente aus Ökonomie, Soziologie u. Biologie I von Johannes Seuferle.- Berlin: Duncker u. Humblot, 1988 (Sozialpolitische Schriften; H. 56) Zugl.: München, Univ., Diss., 1986 ISBN 3-428-06396-1 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten
© 1988 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41
Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06396-1
Inhaltsverzeichnis I. Zusammenfassung, Selbstkritik, Eigenlob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die soziale Selektionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1. Zu den Begriffen: Evolution, Evolutionstheorie und Selektionstheorie . .
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a. Deskriptive Variante der Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 b. Taxonomische Verwendung der deskriptiven Variante der Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 c. Mechanistische Variante der Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 d. Explikative Verwendung der mechanistischen Variante der Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 e. Prognostische Verwendung der mechanistischen Variante der Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 f. Normative Verwendung der mechanistischen Variante der Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Erkenntnistheoretische Probleme einer explikativen Verwendung der Theorie der Evolution durch Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3. Genselektion, Verwandtschaftsselektion, Gruppenselektion und Kulturselektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 111. Sozialstaat als Handel mit contingent claims . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 IV. Die Ausstattung mit contingent claims, welche die Fitness eines Individuums maximiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Vorbemerkungen
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2.. Deskriptive Analyse der Entscheidung unter Unsicherheit mit Hilfe der Theorie der Evolution durch Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Bewertung von Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 a . Bewertung des Einkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 b. Der Einfluß von Entscheidungen anderer Individuen auf die Bewertung von Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 c. Der Einfluß von Normen und Gesetzen auf die Bewertung von Handlungsfolgen ....... . .. . ... . ............. . . ............ .. . . . . 100 V. Die Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen, welche die Fitness einer Gruppe maximiert . .. .. . ........ . ... .. . . ..... . ..... . .. . . . . . . . .... 103 1. Vorbemerkungen
103
Inhaltsverzeichnis
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2. Tiergruppen und archaische Gesellschaften
116
3. Agrargesellschaften .. .... ......... : .... ... . ............. .. .. .. 125 VI. Explanandum "Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen" 1. Vorbemerkungen
139 139
2. Tiere ................. . ............. . .. . .................. .. . 141 3. Archaische Gesellschaften . ............... . ..................... 150 4. Agrargesellschaften ... .. . ...... . ....... . . .............. . ...... 156 VII. Explanans "Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen" 1. Vorbemerkungen
169 169
2. Tiere und archaische Gesellschaften ...... . . . ............ . . . .. ... 170 3. Agrargesellschaften und frühe Industriegesellschaften . . .... . . ..... . 174 Vlll. Industriegesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Die Entstehung sozialstaatlicher Paradigmen aus dezentraler Interaktion ................. .. .............. .. ................... . 184
2. Die Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen, welche die Fitness einer reifen Industriegesellschaft maximiert .... . . . .. . .......... .. . . .. . 187 3. Überlegungen zur "besten" Sozialpolitik in einer reifen Industriegesellschaft . .. . ...... ... . .... . ..... .... .. .. . .. . .. . ... . ...... . ..... 192 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
I. Zusammenfassung, Selbstkritik, Eigenlob Es begann damit, daß ich mir als Inhalt meiner Dissertation eine möglichst grundlegende Auseinandersetzung mit dem Sozialstaat wünschte. Vor dem Wissen, was eine "grundlegende Auseinandersetzung" sei, stand mein Ehrgeiz, diese zu leisten. Es entstand eine Arbeit, der es durch einige neue Namengebungen, einige neue Kategorien, einige neue Abstraktionen und durch die Übertragung einiger Methoden in neue Anwendungen vielleicht gelingt, einen Schritt dahin zu tun, daß wir zwei Fragen eines Tages besser beantworten können: - warum herrschte und herrscht in der menschlichen Geschichte wann, wo, welche Ausprägung von Sozialstaat (darin eingeschlossen: von Sozialpolitik)? - welche Ausprägung von Sozialstaat (darin eingeschlossen: von Sozialpolitik) wäre in einer reifen Industriegesellschaft "die beste"? Die erste Fragestellung kann man als positive Theorie des Sozialstaats bezeichnen, die zweite Fragestellung als normative Theorie des Sozialstaats. Diese Dichotomie übersieht vorerst bewußt die Möglichkeit einer positiven Theorie der Normen, auf deren Basis der Sozialstaat bewertet wird: wenn Normen endogenisiert werden, muß die Trennung in positive und normative Sozialstaatstheorie anders präzisiert werden. Ich werde in dieser Arbeit soziologische, ökonomische und biologische Analyseinstrumente einsetzen. Eine positive oder normative Theorie des Sozialstaats, die sich ausschließlich ökonomischer Methoden bediente, ist aus zwei Gründen schwer realisierbar: erstens weil die ökonomische Methodik typischerweise nicht auf positive oder normative Fragen ausgerichtet ist, zweitens weil sie bislang kaum Untriviales über den Sozialstaat herausgefunden hat. Versucht man ökonomische Teildisziplinen wie Verteilungstheorie, Wachstumstheorie, Makroökonomik oder Wohlfahrtsökonomik in ein sozialwissenschaftliches positiv-normativ-Spektrum einzugliedern, so zeigt sich, daß diese Disziplinen ihrer Natur nach weder das eine, noch das andere sind. Vielmehr handelt es sich um Komplexe von wenn-dann-Aussagen, die positive Theorie werden, wenn diewenn-Komponentenempirisch überprüft und verifiziert werden, und die normative Theorie werden, wenn irgendwelche dann-Komponenten als wünschenswert eingestuft werden und durch die Realisierung von wenn-Komponenten erzeugt werden sollen. Typischerweise gestalten sich empirische Überprüfung und praktische Realisierung der wenn-Komponenten debattenreich, diffus, oft unmöglich.
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I. Zusammenfassung
Für die ökonomische Theorie des Sozialstaats stellt sich das Problem der im allgemeinen streitbaren Verwendung für positive oder normative Zwecke kaum, weil- von wenigen Andeutungen abgesehen- die ökonomische Theorie des Sozialstaats nicht existiert. 1 Mehrere Autoren empfinden den Stand der Literatur, die sich als Theorie der Sozialpolitik oder des Sozialstaats betitelt, als beklagenswert.2 Unter Sozialstaat werde ich in dieser Arbeit die Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen verstehen, also z. B.: Altenversorgung, Krankenversorgung, Krankenpflege und Krankenbehandlung, Invalidenversorgung, Mißgeburtenüberleben, Hinterbliebenenversorgung, Arbeitslosenversorgung, Armenfürsorge, Umverteilung, Teile der Gewährleistung von Kollektivgütern, Maßnahmen zur Herstellung von Chancengerechtigkeit, Schutzregelungen. Die Definition durch Musterbeispiele umgeht das Problem einer vorzeitigen Wesensergründung des Sozialstaats und insbesondere das Problem der normativen Implikationen, die vorzeitige Ausgliederungen sozialer Phänomene aus dem Begriff "Sozialstaat" haben könnten. Positiv geht es also um die Frage, ob, in welchem Maß und durch welche Träger diese sozialstaatliehen Paradigmen ausgeprägt sind. Normativ geht es um die Frage, ob, in welchem Maß und durch welche Träger diese sozialstaatlichen Parp.digmen derzeit ausgeprägt sein sollen. Es gibt verschiedene Methoden, Ereignisse aus der Geschichte des Sozialstaats zu erklären, d. h. positive Theorie des Sozialstaats (eingeschlossen: der Sozialpolitik) zu betreiben. Greifen wir einmal beispielhaft drei empirische Tatbestände heraus, nämlich daß Arbeitsminister Theodor Blank Anfang der 60er Jahre mehrmals mit dem Versuch scheiterte, eine allgemeine Selbstbeteiligung in der GKV einzuführen; 3 daß Italien eine Pflichtversicherung gegen Arbeitslosigkeit für Arbeiter 1919 einführte, Deutschland 1927, Norwegen 1938 und die Niederlande erst 1949; 4 1 Dazu gehören m.E. etwa Modelle zur Umverteilung aus der "Ökonomischen Theorie der Politik"; siehe zum Beispiel: Harold M. Hochman und George E . Petersen: Redistribution through Public Choice, New York und London 1974; sodann die Debatte über die Wirkungen der Sozialversicherung auf die Kapitalbildung; siehe zum Beispiel: Franeo Modigliani und Richard Hemming (eds.): The Determinants of National Saving and Wealth, London und Basingstoke 1983, darin die ersten vier Beiträge. Unter Umständen könnte man auch mikroökonomische Theorien zum Verhalten gewisser Akteure im Sozialstaat (Ärzte, Krankenhäuser, Arbeitslosengeldempfangsberechtigte) als Hilfstheorien für eine Theorie des Sozialstaats betrachten. 2 Siehe zum Beispiel: Egon Matzner: Wohlfahrtsstaat von morgen, Frankfurt am Main und New York 1982, S. 126, oder: Hans Peter Widmaier: Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, Harnburg 1976, S. 14. 3 Albert Müller: Versuch einer Kostendämpfungspolitik unter Theodor Blank, in: Die Ortskrankenkasse 62, 1980, S. 521 - 535.
I. Zusammenfassung
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daß in höheren, teil-urbanen Agrargesellschaften (antikes Athen, antikes Rom, deutsches Mittelalter) sozialstaatliche Paradigmen bereits weitgehend ausgeprägt sind.5 Die empirischen Tatbestände unterscheiden sich in dem Zeitraum, den sie umfassen und in dem Maß, in dem sie für eine Geschichte des Sozialstaats "grundlegend" sind. Zur Erklärung der geschilderten Ereignisse erscheinen jeweils ganz verschiedene Ansätze gerechtfertigt. Warum Theodor Blank mit seinen Selbstbeteiligungsplänen scheiterte wird man am besten im Stil einer narrativen Ereignisgeschichte analysieren, die Interessen, Fähigkeiten und Persönlichkeit der handelnden Menschen in den Vordergrund stellt. Hü~r dürfte die "Geschichtstheorie der großen Männer" angebracht sein, die, wenn die Zeiträume kurz und die Probleme peripher werden, vielleicht zur "Geschichtstheorie der kleinen Männer" wird, analytisch aber dieselbe bleibt. Warum verschiedene europäische Länder zu verschiedenen Zeitpunkten eine erste (im allgemeinen auf Arbeiter beschränkte) Pflichtversicherung gegen Arbeitslosigkeit einführten, wird man am besten im Lichte der Kräfteverhältnisse zwischen sozialistischen Parteien, bürgerlichen Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgebern analysieren. Die sogenannte Konflikttheorie, die Ralf Dahrendorf 1957 als Weiterentwicklung der marxistischen Theorie vorstellte 6 , hat sich bei der Analyse dieser Frage nach Ansicht einiger Autoren bewährt. Eine alternative Theorie wäre der sogenannte Funktionalismus, der die unterschiedlichen Einführungszeitpunkte einer Pflichtversicherung gegen Arbeitslosigkeit mit den unterschiedlichen Zeitpunkten des Erreichens gewisser Schwellenwerte der Industrialisierung, der Urbanisierung oder der Modernisierung zu begründen versuchen würde. 7 Warum schließlich in höheren teil-urbanen Agrargesellschaften sozialstaatliehe Paradigmen bereits weitgehend ausgeprägt sind, wird man am besten im Lichte einer sozialen Selektionstheorie analysieren. Sie begründet Merkmale gegebener Gesellschaften gruppenselektionstheorisch damit, daß sie die Überlebenswahrscheinlichkeit dieser Gesellschaften maximieren halfen. Die Gruppenselektionstheorie oder soziale Selektionstheorie ist ein völliges Analogon zur biologischen Selektionstheorie, die Merkmalausprägungen bei Tieren damit begründet, daß sie die Fitness (im Sinne von Überlebenswahrscheinlichkeit, siehe Abschnitt II, 3 dieser Arbeit) dieser Tiere maximieren. Für Fragestellungen der sehr langen Frist erscheint mir die soziale Selektionstheorie einzig angemessen: kurzfristig mögen "große Männer" und in 4 Jens Alber: Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt am Main 1982, S. 171. 5 Siehe Abschnitt VI, 4 in dieser Arbeit. 6 Ralf Dahrendorf: Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957. 7 Alber, S. 200 - 208.
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I. Zusammenfassung
Konflikten siegreiche Gruppen alle möglichen sozialen Institutionen durchsetzen, langfristig werden die Institutionen nur am Leben bleiben, wenn sie der Überlebenswahrscheinlichkeit der Gesellschaften, die sie annehmen, dienlich sind. In diesem Falle w erden die Institutionen sich entweder durch Kampf und Eroberung zwischen Gruppen oder durch soziale Diffusion, d. h. eine Prägung von Gruppen, überlebensdienliche Institutionen nachzuahmen, durchsetzen. Die "Geschichtstheorie der großen Männer" und die Konflikttheorie haben deshalb. in der sehr langen Frist nur die Funktion, eine Erklärung für die Erzeugung sozialer Variationen im Rahmen einer sozialen Selektionstheorie zu leisten. Nun ist die soziale Selektionstheorie derzeit alles andere als eine ausformulierte sozialwissenschaftliche Theorie. Vorbereitet wurde sie 1962 durch den Edinburgher Biologen Vero C. Wynne-Edwards 8 , der die Gruppenselektionstheorie für Tiergruppen in ihrer heutigen Form entdeckte, und seinerseits durch Alexander M. Carr-Saunders angeregt worden war.9 Der amerikanische Zoologe und Anthropologe Robert Ardrey popularisierte die Gruppenselektionstheorie Wynne-Edwards'scher Prägung in zahlreichen Veröffentlichungen10 und scheute nicht vor den Menschen betreffenden Schlußfolgerungen zurück. Er erkannte die Möglichkeit einer Gruppenselektionstheorie für menschliche Gruppen, beschränkte sich aber auf Andeutungen bezüglich der Erklärungskraft dieser Theorie. Auch die anderen Autoren, die sich zu einer sozialen Selektionstheorie bekennen, haben diese Theorie kaum umfassend und detailliert dargestellt oder überprüft. Da ist in erster Linie F. A. Hayek zu nennen: "In viel größerem Maß als bisher muß erkannt werden, daß unsere gegenwärtige Ordnung nicht in erster Linie das Ergebnis eines menschlichen Entwurfs ist, sondern aus einem wettbewerbliehen Prozeß hervorging, in dem sich die erfolgreichen Einrichtungen durchsetzen." 11 Selten wird Hayek präziser: "Gewisse Praktiken" von Gruppen werden selektionstheoretisch damit begründet, daß sie das "Florieren" dieser Gruppen begünstigten, das insbesonder e, was mir wenig zweckdienlich scheint, als Expansion, als Bevölkerungswachstum verstanden wird.l 2 Ein weiterer Vertreter der sozialen Selektionstheorie, der sich etwas konkreter äußerte, ist der amerikanische Psychologe Donald T. CampbelL Schon 1965 untersuchte er, wie die sozialen Parallelen zu den Prinzipien der s Vero C. Wynne-Edwards: Animal Dispersion in Relation to Social Behaviour, Edinburgh 1962. 9 Alexander Carr-Saunders: The Population Problem. A Study in Human Evolution, Oxford 1922. 1o Robert Ardrey: The Social Contract. A Personal Inquiry into the Evolutionary Sources of Order and Disorder , London und New York 1970, derselbe: The Territorial Imperative. A Personal Inquiry into the Anima! Origins of Property and Nations, New York 1966. n Friedrich A. Hayek: Die drei Quellen menschlicher Werte, Tübingen 1979, S. 10. 12 Zur Definition von Fitness siehe Abschnitt II, 3. Zu den Zitaten Hayek , S. 20.
I. Zusammenfassung
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biologischen Evolutionstheorie - also zu Variation, Selektion und Vererbung - aussähen.13 Als Mechanismen der sozialen Selektion erkannte er Kampf und soziale Diffusion. Die "Vererbung" leisten Tradition und das Verharrungsvermögen sozialer Institutionen. Weiter wäre der Politologe Peter A. Corning zu nennen: er bemühte sich, einen Forschungszweig n.amens "biopolitics" zu begründen, der politische Institutionen hinsichtlich ihres Beitrags für das Überleben von Gesellschaften betrachtet.14 Ich hatte bei Cornings Texten nicht den Eindruck, daß sie wesentliche Präzisierungen der sozialen Selektionstheorie enthielten. Neben diesen Wissenschaftlern veröffentlicht seit kurzem der Wissenschaftstheoretiker Gerard Radnitzky auf dem Gebiet der sozialen Selektionstheorie: "The main mechanism of cultural evolution is the selection of competing rules of perception and action. It selects those rules, rule systems, institutions, etc., that, on balance, bring the group which partakes in them more benefits than costs .. . A rule system or a social pattern that has evolved spontaneously, .. . , has thereby passed the test of daily experience. It has survived the selection process of competing rules or social patterns." 15 Hauptzweck der vorliegenden Arbeit ist es, die rudimentäre soziale Selektionstheorie zu präzisieren und sogleich auf ein wichtiges Problem, die Erklärung der Evolution des Sozialstaats, anzuwenden. Gerade hier scheint sie auf den ersten Blick versagen zu müssen: wie ist es möglich, daß Gruppen, die absehbar lebenslang Invalide und Schwerkranke versorgen, die mißgebildete Kinder nicht gleich nach der Geburt töten, sich offenbar durchgesetzt haben gegen Gruppen, die Mißgeburten töten, Alte, Sieche, Kranke und Krüppel vernachlässigen? Obwohl es doch scheint, daß letztere Gruppen im Kampf ums Überleben Vorteile haben müssen. Ich will diese Argumentation das selektionstheoretische Rätsel des Sozialstaats nennen; Abschnitt V wird sich mit der Lösung des Rätsels befassen. Eine gewisse Spannung der Arbeit liegt also darin, daß ich die soziale Selektionstheorie auf ein Feld anwende, für das sie auf den ersten Blick gerade nicht geeignet zu sein scheint.
13 Donald T. Campbell: Variation and Selective Tention in Socio-Cultural Evolution, in: Herbert R. Barringer, George I. Blanksten und Raymond W. Mack (eds.) : Social Change in Developing Areas: AReinterpretation of Evolutionary Theory, Cambridge, Mass. 1965, derselbe: On the Conflicts Between Biological and Social Evolution and Between Psychology and Moral Tradition, in: American Psychologist 30, 1975, s. 1103- 1126. 14 Peter A. Corning: Politics and the Evolutionary Process, in: Evolutionary Biology, Valurne 7, New York 1974, S . 253- 294, siehe auch: Steven A. Peters und Albert Somit: Sociobiology and Politics, in: Arthur L . Caplan: The Sociobiology Debate, New York, San Francisco und London 1978, S. 449- 461. 15 Gerard Radnitzky: The Evolution of the Extended Order. Hayek's Theory of the Rise of Civilization. Konferenzpapier: The 14th International Conference of the Unity of the Sciences. Houston, Texas, Nov. 28 - Dec. 1 1985, ZitatS. 17.
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I. Zusammenfassung
Wenn man nun die soziale Selektionstheorie (ich könnte auch sagen: die Theorie der Evolution durch Gruppenselektion) auf Fragestellungen der positiven Sozialstaatstheorie anwendet, also gegebene Ausprägungen von Sozialstaat zu erklären versucht, so macht man eine zunächst betrübliche Entdeckung: die Erklärungen sind zirkulär. Ein weitverbreitetes Merkmal in einer Menge von Gruppen wird damit begründet, daß es die Fitness einer Gruppe erhöht, - daß Merkmale, die die Fitness von Gruppen steigern, in einer Menge von Gruppen immer häufiger werden. Die Zirkularität dieser Erklärung besteht darin, daß es keine theorieunabhängige Möglichkeit gibt, die Fitness-erhöhende Wirkung eines Merkmals zu messen, weil letztlich die Fitness-erhöhende Wirkung eines Merkmals nur daran erkannt werden kann, daß sich das Merkmal in der Menge der Gruppen ausbreitet. Das Explanadum wird also vom Explanans nicht nur erklärt, sondern ist zugleich die einzige Möglichkeit, das Explanans für wahr zu befinden. Genau dieselbe Zirkularität weisen auch die anderen mechanistischen Varianten der Evolutionstheorie auf. Mit Hilfe der "Geschichtstheorie der großen Männer" erklärt man Merkmal A in einer Gruppe damit, daß - Herr X Merkmal A wollte, - daß Herr X in dieser Gruppe ein "großer Mann" war oder ist. Wie kann man messen, daß Herr X ein "großer Mann" ist? Letztlich nur damit, daß er sich mit seinem Projekt, dem Merkmal A, dank seiner charismatischen Ausstrahlung durchgesetzt hat, also mit Hilfe des Explanandums. Es gibt keine von der "Geschichtstheorie der großen Männer" unabhängige Methode, empirisch zu bestimmen, wer ein "großer Mann" ist. Analoges gilt für Dahrendorfs Konflikttheorie. Die anfängliche Betrübnis wegen der Zirkularität der sozialen Selektionstheorie wandelt sich in Optimismus um, wenn man erkennt, daß die anderen Erklärungen sozialer Phänomene ebenfalls zirkulär sind, die Zirkularität der sozialen Selektionstheorie aber vergleichsweise am besten umgangen werden kann. Daß es eine Umgehungsmöglichkeit gibt, deutet die Selbstverständlichkeit an, mit der Biologen Tiermerkmale selektionstheoretisch erklären, etwa, daß Polarfüchse weiß sind, Wüstenmäuse sandfarben, und einige Falter im Verlaufe der industriellen Revolution in England grau, rußfarben, zumindest dunkler geworden sind. Ich werde zeigen, daß es kein Zufall ist, daß die Biologen mit Vorliebe farbliehe Merkmale von Tieren selektionstheoretisch erklären. Vorgreifend liegt das daran, daß farbliehe Merkmale von Tieren mit anderen Tiermerkmalen vermutlich kaum kausal verknüpft sind. Bei ähnlich gearteten Merkmalen von Gesellschaften läßt sich die Zirkularität der sozialen Selektionstheorie ebenfalls mit großer Plausibilität umgehen. Für stärker vernetzte Merkmale ist diese Überwindung der Zirkularität mit Hilfe größerer Modelle möglich, die die Fitness-
I. Zusammenfassung
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maximierende Ausprägung von mehreren Merkmalen simultan ermitteln siehe dazu die Abschnitte Il, 3 und V. Hingegen ist es sehr schwer, die Zirkularität von konflikttheoretischen Erklärungen und von Erklärungen mit Hilfe der "Geschichtstheorie der großen Männer" zu umgehen. Dadurch wird die soziale Selektionstheorie zur wissenschaftliebsten im Sinne von intersubjektiv nachprüfbarsten der drei Möglichkeiten, soziale Merkmale zu erklären. Übrigens werde ich im Abschnitt II, 2 begründen, warum trotz einer Vielzahl von soziologischen Theorien zum sozialen Wandelletztlich nur diese drei Formen von mechanistischen Varianten der Evolutionstheorie zu unterscheiden sind. Damit wurden bereits zwei Vorteile einer sozialen Selektionstheorie zusammengetragen: sie degradiert andere mechanistische Auffassungen von Wandel zu Spezialfällen, ohne ihrerseits dergestalt reduzierbar zu sein, zudem ist die Zirkularität von Merkmalerklärungen mit ihrer Hilfe zwar nicht überwindbar, aber in einem noch zu präzisierenden Sinne vergleichsweise einfach und plausibel umgehbar. Der dritte Vorteilliegt in der normativen Verwendung der sozialen Selektionstheorie. Die.Konflikttheorie und die "Geschichtstheorie der großen Männer" haben keine normativen Implikationen: prognostiziert man mit Hilfe dieser Konzepte die weitere Entwicklung einer Gesellschaft, so gibt es für diese Gesellschaft keinen Anlaß, ihre weitere Entwicklung normativ zu begrüßen oder gar zu beschleunigen. Prognostiziert man aber mit Hilfe der sozialen Selektionstheorie die weitere Entwicklung einer Gesellschaft, so werden die Gesellschaften, die die Norm haben, dergestalt prognostizierte Entwicklungen zu beschleunigen, positiv selektiert, da sie rascher Fitness-Vorteile gegen andere Gesellschaften erringen und sich schneller an neue Umstände anpassen. Die Norm der Evolutionsbeschleunigung wird also in einer Menge von Gruppen, die Evolution durch Selektion unterworfen ist, positiv selektiert. Wertfrei festgestelltes Sein-Werden und Sein-Sollen werden also- positiv betrachtet- identisch.l6 Spekulationen über die Zukunft mit Hilfe der sozialen Selektionstheorie haben in deskriptivem Sinne normative Relevanz. Die Norm, die positiv selektiert wird, ist die Norm der Maximierung der Überlebenswahrscheinlichkeit. Ratschläge, die ein Politikberater unter Heranziehung der sozialen Selektionstheorie gibt, orientieren sich also nur an einer Norm: wie kann die Überlebenswahrscheinlichkeit des betrachteten Sozialsystems maximiert werden? Die Tatsache, daß sich dieser Politikberater nur nach einer Norm richten muß, daß er auf eine Zielabwägung verzichten kann, macht seine Ratschläge intersubjektiv nachprüfbar, ja grundsätzlich sogar objektiv 16 Ähnlich bei Jack Hirshleifer: Evolutionary Models in Economics and Law: Cooperation versus Conflict Strategies, in: Richard 0 . Zerbe, Paul H. Rubin (eds.): Research in Law and Economics, Greenwich, Conn. und London 1982, S. 1- 60, besonders S . 3.
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I. Zusammenfassung
richtig oder falsch, wohingegen die Ratschläge eines Politikberaters, der viele Normen zugleich im Auge behalten muß - Freiheit, Gerechtigkeit, Wohlstand, volkswirtschaftliche Kosten-, im Grunde nur Sammlungen von Argumenten sind, also Sammlungen von Wirkungsbehauptungen bezüglich alternativer Ziele, während ein umfassender, unmittelbar handlungsbezogener R~iitschlag wissenschaftlich nicht begründet werden kann. Politikberatung mit selektionstheoretischen Überlegungen ist folglich nicht nur tatsächlich möglich, sondern auch deskriptiv zu erwarten, da diese Evolutionsbeschleunigung, wenn sie korrekt ist, positiv selektiert wird. Das kann man von keiner anderen Art der Politikberatung sagen. Ich habe somit drei Gründe genannt, die eine soziale Selektionstheorie als positive und als normative Sozialstaatstheorie herausheben. Insbesondere scheint sie mir die "wissenschaftlichste" im Sinne von nachprüfbarste der mechanistischen Auffassungen sozialen Wandels zu sein. Da sie zudem ausschließlich geeignet ist, "grundlegende" Fragen zu klären, da diese Fragen sehr große Zeiträume betreffen, in denen ein Wirksamwerden der Selektion zu erwarten ist, und die anderen Theorien sozialen Wandels in diesen großen Fristen zur Erklärung von Teilproblemen von der sozialen Selektionstheorie vereinnahmt werden, erscheinen die grundlegenden Fragen wissenschaftlicher Analyse besonders zugänglich. Daraus folgt das Urteil, daß die eingangs als weniger "grundlegend" erwähnten positiven Fragestellungen kaum wissenschaftlich im Sinne von intersubjektiv nachprüfbar bearbeitet werden können. Um Henri Poincare zu zitieren: Wissenschaft gibt es nur vom Allgemeinen.17 Natürlich genügt es nicht, mit Hilfe einer sozialen Selektionstheorie völlig isoliert zu bestimmen, welche Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen die Gruppen-Fitness maximiert. Vielmehr müssen alle Merkmale optimal auf die Gruppen-Fitness ausgerichtet werden, wobei zu beachten ist, daß nur bestimmte Tupel von Ausprägungen aller Merkmale realisierbar sind. Solche Restriktionen werde ich in Zukunft "Nebenbedingungen" nennen. Eine wichtige soziale Nebenbedingung ist zum Beispiel die Produktionsfunktion, welche die Merkmale Produktion, Arbeit, Kapital und Rohstoffeinsatz verbindet. Oder die Produktionsrestriktion, die besagt, daß sich alle Produktionen in Einzelbereichen zur Gesamtproduktion addieren müssen. Eine weitere Nebenbedingung beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, sozialstaatliehe Paradigmen in Abhängigkeit von anderen Gruppenmer kmalen zu realisieren: sie wird in dieser Arbeit besonders wichtig. Sozialstaatliche Paradigmen können durch Sozialpolitik einerseits und durch - wie ich im folgenden sagen werde- dezentrale Interaktion andererseits entstehen, d. h . durch altruistisches Verhalten (wie in dieser Arbeit jedes Hilfsverhalten 17 Zitiert nach Wladimir Weidle: Das Besondere und das Allgemeine, Antaios 6, 1965, S . 550- 558.
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ohne nähere Erforschung der Motive heißen soll) oder durch privaten Handel mit bedingten Ansprüchen, d . h. durch Versicherung. Sozialpolitik muß natürlich nicht immer unmittelbares staatliches Tätigwerden bedeuten, sondern kann auch der Versuch sein, den Datenkranz für die Neigung zu Altruismus und für die Neigung zum Kauf von Versicherung zu manipulieren, also sozialstaatliche Paradigmen auf dem Umweg über dezentrales Interagieren herzustellen. Der Fall des zentralen Wirkens nicht-staatlicher Organisationen, sozusagen des organisierten Altruismus (freie Wohlfahrtspflege) wird in dieser Arbeit nicht als gesonderte Kategorie behandelt. Jedenfalls ist es möglich, daß es die soziale Selektionstheorie, also die Theorie der Gruppenselektion, abzuleiten gestattet, daß in einer gegebenen Gesellschaft "Sozialstaat" an sich wünschenswert ist, zugleich aber erkannt werden muß, daß in dieser Gesellschaft praktisch keine Neigung zur Produktion sozialstaatlicher Paradigmen durch ·dezentrale Interaktion besteht, und Sozialpolitik eventuell so teuer ist, daß die Gesellschaft unter Beachtung aller Aspekte lieber auf eine großzügige Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen verzichten sollte. Daraus folgt, daß es für eine positive Theorie des Sozialstaats und der Sozialpolitik von großem Interesse wäre, zu wissen, wie gesellschaftliche Datenkonstellationen zwischenmenschliches Hilfsverhalten und die menschliche Neigung zum Kauf von Versicherung beeinflussen. Diesem Fragekomplex ist Abschnitt IV gewidmet. Neben den (sozio-)biologischen Altruismus-Theorien geht es in IV um einen deskriptiven selektionstheoretischen Ansatz zur Entscheidung unter Unsicherheit, da die Entscheidung eines Menschen zum Kauf von bedingten Ansprüchen eine Entscheidung unter Unsicherheit darstellt. Zunächst wird festgestellt, daß ein Gen, das einen Phänotypen dahingehend prägt, in Unsicherheitssituationen die Alternative mit der höchsten Erwartungsfitness zu wählen, auf dem Wege genetischen Lernens positiv selektiert wird. Die Annahme eines Gens ist nicht essentiell, da dasselbe Ergebnis mit Hilfe einer Theorie der sogenannten kulturellen Vererbung gewonnen werden kann. Erstaunlicherweise ist die Varianz der Fitnessverteilung einer Handlungsalternative ohne Bedeutung. Das an Nutzenempfindungen orientierte Entscheidungsverhalten, das die genetisch positiv selektierte Entscheidung nach der Erwartungsfitness simuliert, ist die Entscheidung nach dem Erwartungsnutzen (Bernoulliprinzip), und ein solches Nutzenempfinden , das bis auf positive lineare Transformationen der Fitnessbewertung von Handlungsfolgen entspricht. Das Bernoulliprinzip läßt sich also sozusagen selektionstheoretisch rechtfertigen. Für eine wirkliche deskriptive Entscheidungstheorie benötigt man Informationen über die tatsächliche Bewertung von Handlungsfolgen. Zunächst werde ich eine Einkommen-Fitness-Funktion betr achten . Da zudem eine lineare Fitness-Nutzen-Funktion positiv selektiert wird, also deskriptiv zu
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erwarten ist, folgt aus diesen beiden Funktionen die Gestalt einer Einkommen-Nutzen-Funktion. Deren Krümmung kann als Maß für die Risikoaversion eines Individuums angesehen werden und bestimmt die Neigung eines Individuums zum Erwerb von bedingten Ansprüchen (contingent claims). Diese Neigung kann also in verschiedenen historischen Abschnitten mit Mutmaßungen über den Verlauf der Einkommen-Fitness-Funktion begründet werden. Darüber hinaus haben Normen und Gesetze vielfältigen Einfluß auf die Bewertung von Handlungsfolgen. Zum Beispiel wird in einer Welt weit verbreiteter Hilfsbereitschaft die Handlungsalternative, die den Erwerb eines bedingten Anspruchs auf einen bestimmten Schadensfall vorsieht, geringer bewertet als in einer Welt, in der uninstitutionalisierte, nachbarschaftliehe Hilfe weniger zu erwarten ist. Besonderes Gewicht werde ich auf die Berücksichtigung der Tatsache legen, daß die Fitness-maximierende Ausstattung mit contingent claims eines Individuums eventuell davon abhängt, in welchem Umfang andere Individuen mit contingent claims ausgestattet sind. So ist es möglich, daß ein "Angsthase" in einer Welt von Hasardeuren besonders erfolgreich ist und positiv selektiert wird, während andererseits ein risikofreudiger Mensch in einer Welt von Risikomeidern positiv selektiert wird und sich ausbreitet: dadurch ändert sich der Charakter der menschlichen Umwelt, und der Fitnessvorteil des risikofreudigen Menschen verschwindet. Eventuell bildet sich eine sogenannte evolutionär stabile Strategie, d. h. in diesem Fall ein Mischungsverhältnis zwischen Angsthasen und Hasardeuren, das in dem Sinne stabil ist, daß jede anteilige Vermehrung einer Gruppe den Mitgliedern der sich vermehrenden Gruppe Nachteile bringt, sie also negativ selektiert werden und folglich ihr Anteil wieder sinkt. Eine Anwendung dieses von dem englischen Biologen John Maynard Smith entwickelten Ansatzes 18 in den Sozialwissenschaften erscheint mir höchst fruchtbar, weil der Ansatz die Vielgestaltigkeit der Welt erklären kann. Was bislang den Sozialwissenschaftler störte: daß es "eiskalte Egoisten" gibt und aufopferungsbereite Altruisten, daß es Menschen gibt, die wie ein Modell des "homo oeconomicus" scheinen und Menschen, denen die Worte "Nutzen" und "Interessenlage" fremd zu sein scheinen (die erheblichen Definitionsprobleme seien vernachlässigt), genau das wirkt im Lichte des Ansatzes von Maynard Smith, der Spieltheorie und Selektionstheorie verbindet, gerade rational. Gerade die Heterogenität der Erscheinungen ist das Begründbare und muß nicht mehr beklagt werden als eines von vielen Hindernissen, das sozialwissenschaftliche Erkenntnis gegenüber naturwissenschaftlicher Erkenntnis erschwert. 18 Siehe zum Beispiel: John Maynard Smith: Evolution and the Theory of Games, Cambridge 1982.
I.
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In V geht es um die Ermittlung von Merkmalausprägungen, welche die Fitness einer Gruppe maximieren. Um die Zirkularität selektionstheoretischer Erklärungen von Merkmalausprägungen zu umgehen, dürfen diese Überlegungen nur in Zwischenschritten empirisch sein; im Gegenteil müssen sie "theoretischer" Natur sein. Da es nun auf dem Wege "theoretischen" Räsonierens einem geschickten und elequenten Wissenschaftler gelingen dürfte, durch Vernachlässigung einiger Aspekte und Betonung anderer Aspekte fast jede Merkmalausprägung oder Kombination von Merkmalausprägungen als Fitness-maximierend zu begründen- vor allem, wenn er aus der Empirie weiß, daß sich so tatsächlich Gegebenes erklären ließe - muß einer beliebig betonenden Argumentation, die in vielerlei Hinsicht implizit zu bleiben versucht, ein Riegel vorgeschoben werden. Wie kann das bei überwiegend qualitativen Fragestellungen geschehen? In V, 1 schlage ich ein Verfahren vor, das als eine Art Algorithmus für die Kombination qualitativer Urteile sicherstellen soll, daß jede Betonung oder Vernachlässigung möglicher Aspekte, die ein Sozialwissenschaftler in dem Bemühen vornimmt, die Fitness-Wirkungen alternativer Ausprägungen eines Merkmals zu ermitteln, explizit gemacht und begründet werden muß. Ich nenne dieses Verfahren die rationale Kombination qualitativer Urteile. Es handelt sich hier um eine erste Annäherung an ein Problem, dem eine ausgebaute soziale Selektionstheorie größere Aufmerksamkeit widmen müßte. Mit dem Verfahren der rationalen Kombination qualitativer Urteile werden in V, 2 und V, 3 Fitness-maximierende Merkmalausprägungen in archaischen Gesellschaften und in Agrargesellschaften gesucht. Abschnitt VII wird versuchen, die Erklärung der tatsächlichen Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen auf verschiedenen kulturanthropologischen Entwicklungsstufen des Menschen zu leisten. Dabei helfen die Erkenntnisse aus Abschnitt IV über das HUfsverhalten und über die Ausstattung mit contingent claims, welche die Fitness eines Phänotypen maximieren, ebenso wie die Erkenntnisse aus Abschnitt V über die Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen, welche die Fitness einer Gruppe maximiert. Die weitere Analyse ist einfach, wenn eine solche individuelle Neigung zur Realisation von Sozialstaat positiv selektiert wird, daß exakt der Sozialstaat realisiert wird, der wiederum auf dem Wege der Gruppenselektion positiv selektiert wird. Es spricht aber nichts für diese zufällige Übereinstimmung. Im anderen, eher zu erwartenden Fall, muß Sozialpolitik versuchen, entweder den Datenkranz, der die individuelle Neigung zum Tausch bedingter Ansprüche determiniert, so zu verändern, daß ein im Lichte der Gruppenselektion wünschenswerter Gesamthandel entsteht, oder Sozialpolitik geht so vor, daß sie den wünschenswerten Gesamthandel durch staatliche Zwangsmaßnahmen unmittelbar realisiert. Beide Vorgehensweisen haben ihrerseits Wirkungen auf die Gruppen-Fitness: da die Manipulation Kosten verursacht oder in anderer Weise auf Gruppenmerkmale einwirkt, ist es unge2 Seuferle
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I. Zusammenfassung
rechtfertigt, jeden beliebigen Aufwand zu betreiben, um ein Merkmal mit Blick auf die Gruppen-Fitness zu optimieren, da jedes Merkmal durch vielfältige Nebenbedingungen mit anderen Merkmalen verknüpft ist, die ihrerseits Wirkungen auf die Gruppen-Fitness ausüben. Zuvor werde ich in Abschnitt VI den Versuch unternehmen, die Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen bei Tieren und auf verschiedenen kulturanthropologischen Entwicklungsstufen des Menschen auf wenigen Seiten gerafft darzustellen. Ob eine solche rein ergebnisorientierte Darstellung (wie ging es Kranken, Invaliden, Mißgebildeten, Armen tatsächlich) ohne größere Würdigung des sozialgeschichtlichen Hintergrunds überhaupt lesbar und leistbar ist, mag anhand dieses Beispiels entschieden werden. Jedenfalls bereitete es mir große Mühe, aus der überwiegend narrativen sozialgeschichtlichen Literatur die "essentials" zum tatsächlichen Wohlergehen Benachteiligter herauszuarbeiten und zu Gesamturteilen zusammenzufügen, ohne Gefahr zu laufen, im Hinblick auf andere Abschnitte überproportionalen Aufwand zu betreiben. Der Abschnitt VI wäre eine eigene empirische und historische Arbeit wert gewesen. Da wir nicht auf einen jahrtausendealten Konkurrenzkampf von vielen recht kleinen Industrienationen zurückblicken können und die sich in diesem Prozeß am Ende herausgebildeten sozialstaatliehen Paradigmen als Gruppen-Fitness-maximierend vermuten können, bleiben Überlegungen zum Fitness-Maximum für reife Industriestaaten ohne Explanandum. Sie sind vielmehr normativ zu verstehen, da die Neigung, solche Überlegungen -falls sie korrekt sind- in die Gestaltung tatsächlicher Politik einfließen zu lassen, als Norm der Evolutionsbeschleunigung positiv selektiert wird. Spekulationen für Fitness-maximierende Industriestaaten sind sozusagen als im positiven Sinne normativ zu verstehen. Das zeichnet normative Reflexionen dieser Art vor normativen Sätzen aus, die einfach nur die sprachliche Form von Soll-Aussagen haben. Der normative Teil VIII beginnt mit der Betrachtung von Tendenzen hinsichtlich der autonomen Entstehung sozialstaatlicher Paradigmen in einer reifen Industriegesellschaft: es gibt m. E. keine ausreichend begründbaren Erwartungen dahin, daß "Sozialstaat" in einer reifen Industriegesellschaft im Vergleich zur frühen Industriegesellschaft mit höherer Wahrscheinlichkeit "von selbst" entsteht. Da ich in VIII, 2 argumentieren werde, daß Sozialstaat auch in einer späten Industriegesellschaft von der Gruppenselektion bevorzugt wird, folgt die unveränderte Notwendigkeit zur "Produktion von Sozialstaat" durch zentrale Instanzen. Es fragt sich nun nur n och, wie der Sozialstaat auf Dauer in einer Industriegesellschaft aussehen soll, der die Überlebenswahrscheinlichkeit dieser Gesellschaft maximiert. Abschnitt VIII, 3 ist Spekulationen zu dieser Frage gewidmet.
I. Zusammenfassung
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Abschnitt II ist methodischen Vorarbeiten gewidmet. Zunächst geht es um die Definition der Begriffe "Evolution", "Evolutionstheorie" und "Selektionstheorie". Ich werde unterscheiden zwischen einer deskriptiven Variante (die Erkenntnis, daß Evolution stattfindet) und einer mechanistischen Variante (die Frage, wie Evolution abläuft) der Evolutionstheorie, einer taxonomischen Verwendung der deskriptiven Variante und einer explikativen, einer prognostischen und einer normativen Verwendung der mechanistischen Variante. Zugleich werde ich versuchen, die sonstigen soziologischen Konzepte zur Theorie des sozialen Wandels in wenigen Sätzen zu skizzieren und in diesen Rahmen einzuordnen. Im Abschnitt Il, 3 folgt die Definition des zentralen Begriffes der Evolutionstheorie, der Fitness, die in einer Theorie der Evolution durch Selektion als theoretischer Term im Sinne von Sneed und Stegmüller betrachtet werden kann.l9 Es folgen Erläuterungen zur Zirkularität selektionstheoretischer Erklärungen und Betrachtungen zur Umgehung dieser Zirkularität anhand von Beispielen aus der Biologie. II, 3 beschäftigt sich kritisch mit der Gruppenselektionstheorie und ihrer Wirksamkeit im Vergleich zur vermutlich rascheren Genselektion. Es wird allgemein untersucht, wie Gen-, Verwandtschafts-, Gruppen- und Kulturselektion bei der Prägung von Genotypen-, Phänotypen- und Gruppenmerkmalen wirken bzw. zusammenwirken können. Abschnitt III schlägt eine Definition von "Sozialstaat" vor, die so abstrakt ist, wie es den umfassenden Fragestellungen der Arbeit entspricht. Alle sozialstaatliehen Paradigmen lassen sich m. E. als Handel mit contingent claims auffassen, als Handel mit Ansprüchen, die beim Eintreten einer Bedingung wirksam werden. Das Wort Handel ist dabei völlig untechnisch zu verstehen: man könnte auch Tausch, Tauschgeschehen oder Marktgeschehen sagen. Nicht jeder Handel mit contingent claims ist ein Teil des Sozialstaats, aber jeder Teilbereich des Sozialstaats ist Handel mit contingent claims. Für Umverteilung und Sozialversicherung läßt sich das relativ leicht begründen. Für die sozialpolitisch motivierte Distribution und Allokation von staatlichen Leistungen ist es schwerer: für letzteres Problem benötige ich wegen vielfältiger theoretischer Bezüge disproportioi).al viel Raum. Schließlich kann auch privates Hilfsverhalten als unverbriefter Austausch von contingent claims "in kind" aufgefaßt werden. Die rigoros abstrakte Auffassung des Sozialstaats als contingent-claims-Handel eröffnet die Möglichkeit, den Sozialstaat mit Hilfe der ökonomischen Theorie der Unsicherheit zu analysieren. Im Lichte dieser Theorie gibt es dann so etwas wie einen Pareto-optimalen Sozialstaat: der Handel mit contingent claims in einer Gruppe, der es nicht mehr erlaubt, den Erwartungsnutzen eines Individuums zu erhöhen, ohne den Erwartungsnutzen eines anderen Indivi19 Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band 2, Berlin, Heidelberg und New York 1973, 8. Kapitel.
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I. Zusammenfassung
duums senken zu müssen. 2o Es zeigt sich aber, daß dieser Pareto-optimale Sozialstaat iin Rahmen einer sozialen Selektionstheorie, die den Fitnessmaximierenden Sozialstaat sucht, eher eine Nebenrolle spielt. Zum Beispiel ist es möglich, daß die Präferenzen der Menschen so wenig überlebensdienlich ausgeprägt wären, daß der Pareto-optimale Sozialstaat zwar realisierbar, aber sogleich dem Untergang geweiht wäre. Insbesondere besteht vom biologischen, d. h. hier gruppenselektionstheoretischen Standpunkt aus a priori kein zwingender Grund, überhaupt Pareto-Optimalität zu fordern, es sei denn in der Präzisierung, daß in der Produktion keine Verschwendung stattfinden solle, was im Vergleich zu anderen Aspekten, etwa dem Volumen, in dem insgesamt Produktionsfaktoren zur Verfügung stehen, relativ unbedeutend sein kann. Aus gruppenselektionstheoretischem Blickwinkel ist Pareto-Optimalität ein Argument unter vielen. Außerdem darf gerade in der Theorie der Sozialpolitik von dem Problem, daß je nach Ausgangsverteilung diverse Pareto-optimale Zustände existieren, nicht abgesehen werden. Deshalb soll Abschnitt III als Exkurs betrachtet werden. Ich halte es zwar für andeutenswert, daß ein theoretisches Konstrukt wie der Pareto-optimale Sozialstaat erbaubar wäre, aber ich halte das für normative Zwecke nicht für vertiefenswert. Selbst ein Sozialstaat, der nicht Erwartungsnutzen so zu verteilen suchte, daß dieser Nutzen für niemanden mehr steigerbar wäre, ohne an anderer Stelle gesenkt werden zu müssen, sondern der irgendeinen Ausdruck, der von den Erwartungsnutzen aller Individuen abhängt, zu maximieren suchte, wäre vom selektionstheoretischen Standpunkt aus nicht a priori realisierenswert. Kurz gesagt: ein Sozialstaat, der sich nach individuellen Präferenzen ausrichtet, verdient vom gruppenselektionstheoretischen Standpunkt aus zwar Beachtung, aber keine dominierende Position. Deshalb wird auf die Überlegungen in III in der restlichen Arbeit nur selten Bezug genommen. Andererseits mag Abschnitt III für denjenigen eine Anregung sein, der einen Sozialstaat konzipieren möchte, welcher individuellen Präferenzen optimal angepaßt ist. Was leistet die Arbeit, was leistet sie nicht? Für normative Zwecke zeigt sich, daß die Norm der Maximierung der Überlebenswahrscheinlichkeit einer Gesellschaft immer noch reichlich breit und offen ist und nicht entscheidend strengere Soll-Aussagen abzuleiten gestattet als eine normative Diskussion über den Sozialstaat, wie wir sie kennen, die keinerlei methodischen Einschränkungen unterliegt. Vielleicht wurde wenigstens ein kleiner Fortschritt erreicht. Für positive Zwecke hingegen gelingen einige Erklärungen "grundlegender" Tendenzen in der Geschichte des Sozialstaats, die schlüssig sind für denjenigen, der die Theorie der Evolution durch Selektion 2o Jack Hirshleifer und John G. Riley: The Analytics of Uncertainty and Information - An Expository Survey, Journal of Economic Literature 17, 1979, S. 1375- 1421, aufS. 1385f.
I. Zusammenfassung
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nicht als solche verwirft. Vor allem für die Frage, unter welchen Umständen sozialstaatliche Paradigmen durch dezentrale Interaktion entstehen, erweist sich ein ökonomisch-biologisches Analysemodell als aussagefähig. Daraus ergibt sich folgende Ambition: ein Sozialwissenschaftler soll durch die Lektüre dieser Arbeit, die konsequent versucht, mit methodischer Strenge biologische Analyseinstrumente beispielhaft auf eine sozialwissenschaftliche Fragestellung anzuwenden, besser entscheiden können, ob es sich lohnt, diesen Weg verstärkt und auch für andere Fragestellungen einzuschlagen.
II. Die soziale Selektionstheorie 1. Zu den Begriffen: Evolution, Evolutionstheorie
und Selektionstheorie
So wie das Christentum eine Religion ist, so wie Natrium ein spezielles Alkalimetall ist, wie der Löwe eine bestimmte Katze ist, die Nationalökonomie eine bestimmte Wissenschaft, so ist Evolution ein bestimmtes Element in der Menge aller - Theorien, Denkansätze, Konzepte, wissenschaftlichen Paradigmen, Weltbetrachtungsweisen, Erklärungsmuster? Keine der üblichen Nominaldefinitionen aus spezifischem Merkmal und nächsthöherem Gattungsbegriff scheint richtig befriedigend.l Richard C. Lewontin hat m.E. in ausgezeichneter Weise die Prinzipien zusammengestellt, die mit abnehmender Notwendigkeit den Begriff der Evolution kennzeichnen: change, order, direction, progress, perfectibility. 2 Essentiell ist die Idee "change": "The idea of evolution, in its simplest form, isthat the current state of a system is the result of a more or less continual change from its original state." 3 Zuallererst bedeutet eine evolutionäre Sichtweise, daß man Wandel in der Welt erkennt, sodann daß Wandel stetig (uniform, immerwährend) und eher allmählich ist. Der Wandel sollte aber auch wirklich zu neuen Zuständen führen, er sollte eine Richtung haben (order, direction)- er sollte verschieden sein von dem Wandel, den etwa die Reihenfolge der Karten in einem Kartenspiel mitmacht, wenn man das Kartenspiel fortgesetzt mischt. Stattdessen sollte Wandel als Graph in einem Achsensystem mit der Zeit auf einer Achse und einer Beschreibung des Systems auf der anderen Achse darstellbar sein, wobei der Graph sein Steigungsvorzeichen nicht ändern sollte. Wie essentiell die Idee von "direction" für eine evolutionäre Sichtweise ist, bleibt nach Lewontin umstritten. Zum Beispiel fehlt die Vorstellung von "direction" in der Geologie, deren Modellvorstellung eher zyklisch ist, die aber dennoch als Musterbeispiel einer evolutionären Modellvorstellung gilt. Sie fehlt aber nicht bei Biologen und Soziologen. In der Biologie wurde als Richtung, in welche die Entwicklung von Organismen läuft, ein stetiges Ansteigen von "Komplexität" vorgeschlagen, ein stetiges Ansteigen des "Informationsgehalts" von Organismen, 1 Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band 1, 6. Auflage, Stuttgart 1978, S. 369. 2 Richard C. Lewontin: Evolution, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, editor: David C. Sills, Band 5, o. 0. 1968, S. 202- 210. 3 Lewontin, S. 203 .
1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
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ein stetiges Ansteigen von Ordnung oder von "negativer Entropie" in der organischen Welt oder ein Anwachsen der Homöostase, d. h. der Fähigkeit eines Organismus, trotzwechselnder Umwelteinflüsse gewisse eigene Merkmale konstant zu halten. Nun ist es schwer, zu sagen, inwiefem Säugetiere etwa "komplexer" sein sollen als Bakterien.4 Deshalb ist auch die Idee einer Richtung in der biologischen Evolution durchaus umstritten. In der sozialen Welt wurde als Richtung, in die die Entwicklung von Gesellschaften führt, ein stetiges Ansteigen der Arbeitsteilung5, der sogenannten Systemkomplexität6 und der sogenannten Differenzierung7 vorgeschlagen. Weitere Beispiele werden unten folgen. Auch hier ist die objektive empirische Identifikation von "Komplexität" oder von "Differenzierung" höchst umstritten, weswegen die Idee von "direction" in der sozialen Evolution auch überhaupt abgelehnt werden kann. Als weitere Prinzipien der Evolution nennt Lewontin "progress" und "perfectibility". Mit "progress" meint er eine normative Beurteilung von Wandel dahingehend, daß er gut und fördemswert sei, wie sie vor allem früher in gesellschaftswissenschaftliehen Evolutionstheorien zu finden war (Ethnozentrismus). Mit "perfectibility" meint er die Vorstellung des evolutionstheoretisch Argumentierenden, daß irgendwann ein perfekter Endzustand erreicht sei, in dem die Evolution aufhöre: dem darwinistischen Biologen und einem Teil der Soziologen dürfte die Vorstellung fremd sein. Dem Marxisten aber nicht, der den Kommunismus als Endzustand betrachtet, in dem die Wandel erzeugenden Kräfte nicht mehr wirksam sind. Auch nicht demjenigen Physiker, der das kosmische Geschehen im Lichte des zweiten thermodynamischen Gesetzes als Weg zu immer größerer Entropie sieht und damit einen Zustand totaler Entropie als Ende der Evolution betrachtet. Die Prinzipien "change", "order", "direction" , "progress" und "perfectibility" kennzeichnen also nach Lewontin mit abnehmender Notwendigkeit den Begriff der Evolution. Mindestens ebenso vielschichtig gestaltet sich die Präzisierung des Wortes "Evolutionstheorie". Ich möchte zwischen einer deskriptiven und einer mechanistischen Variante der Evolutionstheorie unterscheiden: erstere stellt fest, daß Systeme kontinuierlichem Wandel unterworfen sind, zweitere beschäftigt sich mit den Gesetzen, denen dieser kontinuierliche Wandel folgt. Genauso unterscheidet Walter J. Bock: "A clear distinction must be 4 Lewontin. S. 204. s Emile Durkheim: De la division du travail sociale: etude sur l'organisation des socil~tes superieures, zuerst Paris 1893. 6 u. a. Niklas Luhmann: Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, in: Jürgen Habermas und Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt am Main 1971, S. 22. 7 z. B. Talcott Parsons: The Social System, Glencoe, Illinois, 1951 Kapitel4 und 5.
li. Soziale Selektionstheorie
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made between evolutionary theory - the concept that living organisms change over time - and the mechanisms by which evolution takes place. Darwin in his "On the origin of species" had to tasks before him. The first was to argue that animals and plants change with respect to time; the second was to provide a mechanism by which this change occurs." 8 A. M. Peters begründet die weitverbreitete Verwirrung bezüglich der Trennung zwischen deskriptiver und mechanistischer Variante der Evolutionstheorie: "Die Lehre Darwins setzt sich aus zwei unterschiedlichen Gedankenreihen zusammen ... Die eine betrifft die Theorie des allgemeinen genealogischen Zusammenhangs der Lebewesen, während die andere eine Theorie der Kausalität dieser Evolution beinhaltet. In seinem Werk "On the origin of species by means of natural selection" hat Darwin diese beiden Theorien innig miteinander verschränkt und sie so dargestellt, als bildeten sie eine untrennbare Einheit. Tatsächlich handelt es sich aber ... um heterogene Bestandteile. Die Theorie des evolutionären Zusammenhangs der Organismen war in verschiedener Gewandung schon lange vor Darwin aufgetreten ("Evolutionstheorie") .... Auf der anderen Seite ist die Theorie der kausalen Erklärung der Evolution ("Selektionstheorie") Darwins originaler Beitrag. "9 Weiter will ich eine taxonomische Verwendung der deskriptiven Variante der Evolutionstheorie sowie eine explikative, eine prognostische und eine normative Verwendung der mechanistischen Variante der Evolutionstheorie unterscheiden:
----
Evolut i onstheorie
~
deskriptive Variante
(Erkenntnis stetigen Wandels) taxonomische/Verwendung
mechanistische Variante (Gesetze stetigen Wandels }
I
explikative Ve rwendung
~ prognost i s che Verw,ndung
normat1ve
Verwendung
Jede dieser Varianten und Verwendungen kann für Wissenschaften wie Geologie, Biologie, Sozialwissenschaften und Linguistik exemplifiziert werden, vermutlich auch für andere Wissenschaften. Für jede Variante und für jede Verwendung von Evolutionstheorie in jeder dieser Wissenschaften kann angegeben werden, welche alternative Theorie dem evolutionstheores Walter J. Bock: Principles and Methods of Comparative Analyses in Sociobiology, in: The Sociobiology Debate, editor: Arthur L. Caplan, New York 1978, S. 396410, ZitatS. 397/398. 9 A. M. Peters: Historische, soziologische und erkenntniskritische Aspekte der Lehre Darwins, in: Hans-Georg Gadamer und Paul Vogler (Hrsg.): Biologische Anthropologie, Band 1, Stuttgart 1972, S. 326- 352, ZitatS. 327.
1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
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tischen Ansatz entgegensteht. In einigen Fällen scheint eine empirische Prüfung des evolutionstheoretischen und des alternativen Ansatzes möglich.
a. Deskriptive Variante der Evolutionstheorie Hiermit ist die grundsätzlich als empirisch zu klassifizierende Hypothese gemeint, daß ein System kontinuierlichem Wandel unterworfen sei. Musterbeispiel ist die Vorstellung in der Biologie, daß nicht schon immer alle Tierund Pflanzenarten existiert haben, sondern eine Art sich allmählich aus einer anderen entwickelt hat. Dem steht die Vorstellung entgegen, Gott habe in einem Zug die verschiedenen Pflanzen, Tiere und den Menschen kreiert. Musterbeispiel der Evolutionstheorie in ihrer deskriptiven Variante ist auch die Annahme einer allmählichen Entstehung geologischer Formationen durch Gebirgsbildung, Sedimentation und Erosion und den etwas weniger "allmählichen" Vulkanismus im Gegensatz zu der Auffassung, das Aussehen der Erde sei durch die Sintflut gestaltet worden und seitdem unverändert. Ebenso die Überlegung, daß Sprachen nicht von irgend jemandem einfach erfunden wurden, oder von einer höheren Gewalt geprägt wurden, sondern sich langsam und stetig entwickelt haben. Im Bereich der Sozialwissenschaften ist Musterbeispiel einer evolutionstheoretischen Betrachtung die Meinung, daß die im Zeitalter der Entdeckungen und später vorgefundenen Naturvölker nicht völlig degenerierte Randerscheinungen der zivilisierten Völker sind, sondern im Gegenteil auf Entwicklungsstufen stehen, die die Vorfahren der Menschen in den entwickelten Entdeckervölkern schon hinter sich gebracht haben. Für soziale Systeme ist zudem die Betonung der Tatsache bedeutsam, daß der stetige Wandel sozialer Systeme in dem Sinn unbewußt sei, daß ihn niemand bewußt herbeiführe und steuere. Für die Rechtsgeschichte besagt eine evolutionäre Vorstellung, daß eine Rechtskodifikation eine derart komplexe Struktur sei, daß ihre Schaffung den Verstand eines oder mehrerer Menschen weit überschreite, sondern im Gegenteil nur als Entwicklungsprozeß zu verstehen sei. Hayek betont diese Tatsache, um zu belegen, daß schon vor Darwin - nämlich bei den römischen Juristen- die Vorstellung von Entwicklungsprozessen entstanden sei.1o
b. Taxonomische Verwendung der deskriptiven Variante der Evolutionstheorie Die Einteilung der Tierwelt (und der Pflanzenwelt) erfolgt auf der Grundlage der ldee, daß Tierarten voneinander abstammen, und Tierarten, die voneinander abstammen oder relativ kurz zurückliegende gemeinsame Vor10 Friedrich A. Hayek: Evolution und spontane Ordnung, Vortrag am 5. 7.1983, Sonderdruck der Bank Hoffmann AG, Zürich, Zürich 1983, S. 17.
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II. Soziale Selektionstheorie
fahren haben, eher zu Familien, Gattungen, Gruppen zusammengeiaßt werden sollten, als Tierarten mit sehr weit zurückliegenden imaginären (oderfalls Fossile existieren- weniger imaginären) gemeinsamen Vorfahren. So werden Löwen, Tiger, Leoparden, Wildkatzen etc. zu den Katzen gruppiert, und nicht etwa Löwen und Kamele deshalb in einer Gruppe vereint, weil beide dieselbe Farbe haben, ebenso wie Delphine und Wale nicht zu den Fischen zählen, obwohl sie im Wasser leben, weil sie vermutlich vor kürzerer Zeit mit anderen Säugetieren gemeinsame Vorfahren aufweisen als mit anderen Fischen. 11 Für die Taxonomik ist also die Idee einer Evolution von Einzellern, Schwämmen über Würmer, Weichtiere zu Tieren mit Skelett, dann über Wirbeltiere zu Säugetieren eine entscheidende Hilfe dafür, bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen Tieren zum Anlaß von Gruppenbildung zu nehmen und andere Gemeinsamkeiten für nebensächlich zu halten. Auch die Einteilung der Sprachen erfolgt nach den gemeinsamen Ursprüngen und Vorläufern von Sprachen- nach ihrer Abstammung-, ebenso wie die Einteilung von Rechtssystemen; für beide gäbe es auch andere Gemeinsamkeiten, die zum Anlaß von Gruppenbildung genommen werden könnten. Aus Gründen, die zu diskutieren hier nicht der richtige Ort ist, dominiert auf vielen Gebieten derzeit die evolutionstheoretische Taxonomik vor allen anderen möglichen Einteilungsmustern. Ebenso verhält es sich in der Soziologie: Gegeben seien Gesellschaften wie die 1971 entdeckten Tasaday im philippinischen Regenwald 12 , die USA oder die Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1985, Athen, Sparta, Kreta, Karthago, Rom, das westfränkische Reich des 9. Jahrhunderts, die Schweiz des 14. Jahrhunderts, das osmanische Reich des 16. Jahrhunderts, Preußen, Österreich-Ungarn, die Hunnen, die Inka, die Maya, die Eskimos, die Indianer, Saudi-Arabien von 1975, Südafrika, die Juden des alten Testaments, die Massai, die Puritaner im Neuengland des 17. Jahrhundert, Naturvölker des Amazonas-Beckens, die Pygmäen, der Iran von 1983 - wie will man diese unzähligen Gesellschaften, die einander bezüglich aller möglichen Kriterien ähneln, in eine Systematik bringen? Insbesondere mit Hilfe der Vorstellung, daß Gesellschaften eine kontinuierliche Evolution durchmachen, die in jeder Gesellschaft hinreichend ähnlich verläuft, um gegebene Gesellschaften danach einteilen zu können, auf welcher Stufe dieser Evolution sie stehen. Man teilt also den für alle Gesellschaften ungefähr ähnlichen Evolutionsprozeß in eine begrenzte Anzahl von Stufen ein und ordnet gegebene, zeitlich bedingte Gesellschaften einzelnen Stufen zu. Dabei ist die beliebteste Stufenbildung eine solche nach der Wirtschaftsstufe, also nach der 11 J ohn Maynard Smith: The Theory of Evolution, 3. Auflage Harmondsworth 1975, S. 27-31. 12 J. Nance: The Gentle Tasaday: A Stone Age People in the Philippine Rain Forest, New York 1975.
1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
27
Grundlage des Lebensunterhalts eines Volkes: Jäger und Sammler, niederer Bodenbau, höherer Bodenbau, Industrialismus. Eine altemative Stufenbildung orientiert sich an der Sozialstruktur: Horden-Organisation, StammesOrganisation, Häuptlingstum, Staat. 13 Andere Einteilungen haben nur noch dogmengeschichtliche Bedeutung: Auguste Comte betont die moralische, intellektuelle oder geistige Dimension bei der Betrachtung von Gesellschaften. Nach Comtes Drei-StadienGesetz befindet sich eine Gesellschaft nacheinander im theologischen, im metaphysischen und schließlich im positiven Stadium ihrer geistigen Entwicklung.l4 Nach Henry Sumner Maine löste eine Gesellschaft mit "relationships based on contract" eine Gesellschaft mit "relationships based on status" ab. 15 Lewis Henry Morgan unterschied sieben Entwicklungsstufen einer Gesellschaft: lower, middle und upper status of savagery, lower middle und upper status of barbarism und status of civilization.t 6 Schließlich wäre noch Ferdinand Tönnies zu nennen, der meinte, soziale Systeme wären sukzessive als "Gemeinschaft", dann als "Gesellschaft" zu charakterisieren.l7 Eine gesellschaftliche Taxonomik ergibt sich implizit auch, wenn ein Sozialwissenschaftler nur eine Entwicklungsrichtung der sozialen Evolution angibt. Oben wurden schon Durkheims Steigerung der Arbeitsteilung, Luhmanns Steigerung von Systemkomplexität und Parsons Steigerung der sogenannten Differenzierung erwähnt. Ungeordnet einige weitere Beispiele: ebenfalls Luhmann läßt sich die Hypothese zuschreiben, die soziale Evolution führe immer mehr zu einer "Weltgesellschaft" _18 Herbert Spencer beschrieb die Richtung der sozialen Entwicklung als Anpassungssteigerung gegenüber der natürlichen und sozialen Umwelt.l9 Marshall D. Sahlins fügt den bekannten Entwickungsrichtungen Anpassungsfähigkeit und Differenzierung noch den Energieverbrauch hinzu. 2o Erwähnen will ich auch, daß neben deskriptiven oder taxonomischen sozialen Evolutionstheorien, die eine immerwährende Entwicklungsrichtung behaupten, sogenannte "rise-and-fall-theories" bestehen21, die einen 13 Frank Robert Vivelo: Handbuch der Kulturant hropologie, Stuttgart 1981, S. 59- 62. 14 Nach Klaus Schrape: Theorien normativer Strukturen und ihres Wandels, Basel 1977, Band 1, S . 46. 15 Henry Sumner Maine : Ancient Law, London 1907, S . 172- 174. 16 Nach Richard P. Appelbaum: Theories of Social Change, 3. Auflage, Chicago 1971, s. 25. 11 Nach Appelbaum, S . 27. 18 Nach Schrape, Band 2, S. 196. 19 Nach Schrape, Band 1, S . 47 . 20 Nach Appelbaum, S. 58. 21 Siehe ebd., S. 99ff.
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II. Soziale Selektionstheorie
gesetzmäßig zyklischen Verlauf der sozialen Entwicklung postulieren. Das gilt z. B. für Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes". 22 Auch der innerhalb der social-change-Literatur schwer eingliederbare Max Weber sah an einer Stelle sozialen Wandel als Oszillation zwischen verschiedenen Formen der Autorität: charismatische Autorität werde durch traditionelle oder rationale Autorität ersetzt, die dann wieder auf dem Wege des revolutionären Umschwungs durch charismatische Autorität ersetzt würde.23 All diese Ansichten zur deskriptiven oder taxonomischen sozialen Evolutionstheorie sind in die soziologische social-change-Literatur (sozialer Wandel) als "klassische Evolutionstheorien" eingegangen. c. Mechanistische Variante der Evolutionstheorie
Diese Variante betrifft die Vorstellungen über das "Wie" der Evolution; insbesondere handelt es sich um die Aufzählung der Prinzipien und der Gesetze, die Wandel bewirken und erhalten. In der Geologie spricht man von Evolution durch Gebirgsbildung, Sedimentation, Erosion und Vulkanismus; in der Biologie von Evolution durch Mutation, Selektion und Vererbung. Vor dieser darwinistischen Theorie vertrat Lamarck die Auffassung, Evolution von Organismen geschähe durch die Vererbung von im Leben erworbenen Eigenschaften und Fähigkeiten. Je nachdem, in welcher Menge die Selektion stattfindet, unterscheidet man Genselektion und Gruppenselektion; je nachdem, ob die Vererbung wirkliche genetische Vererbung ist oder Merkmalausbreitung durch soziales Lernen und Imitieren geschieht, unterscheidet man Gen- oder Gruppenselektion einerseits und Kulturselektion andererseits. Die Debatte über Gen-, Gruppen- und Kulturselektion werde ich im Abschnitt II, 3 ausführlich referieren. Im sozialwissenschaftliehen Bereich sind Vorstellungen über den technischen Ablauf von Evolution dünner gesät, als man meinen könnte. Vivelo schreibt: "Warum und wie die Menschheit sich von einem Stadium zum anderen fortentwickelt hat- warum und wie diese Übergänge zwischen den adaptiven Strategien sich vollzogen haben-, dies sind außerordentlich strittige Fragen. Die Anthropologen wissen es bisher ganz einfach noch nicht. "24 Auch Elman R. Service faßt in seinem Aufsatz "Cultural Evolution" zusammen, daß mit Ausnahme von Sozialdarwinismus und Marxismus keine 22 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bände, München 1923. 23 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß einer verstehenden Soziologie, 2 Bände, Tübingen 1956, Band 2, S. 541ff. 24 Vivelo, S . 66.
1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
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soziologische Theorie präzisere Aussagen über den technischen Ablauf der sozio-kulturellen Evolution mache.25 Dabei versteht Service unter "Sozialdarwinismus" nicht den heute als dogmengeschichtliches Kuriosum betrachteten Versuch, nationale soziale Schichtung zu rechtfertigen, sondern vielmehr eine Prägung sozialer Merkmale durch Selektion im Kampf zwischen Gruppen: also etwa dasselbe, was in dieser Arbeit soziale Selektionstheorie heißt.2 6 Klaus Schrape, der die Theorien des sozialen Wandels von Habermas, Parsons, Dahrendorf und Luhmann referiert, schreibt: "Erstaunlich ist, daß Habermas, ebenso wenig wie Luhmann, eine explizite Klärung des von ihm verwendeten Evolutionskonzeptes gibt. "27 Damit ist gemeint, daßtrotzeines ständigen Lippenbekenntnisses zur Evolution keiner der Autoren bezüglich des tatsächlichen mechanischen Ablaufes des sozialen Wandels präzise wird. Deshalb meint Schrape, daß die soziologische Theorie des sozialen Wandels in einem beklagenswerten Zustand sei, da erklärungskräftige, überprüfbare Hypothesen kaum anzutreffen seien - er zitiert Martindale (" weakest branch of sociology" ), Dahrendorf (" unerfüllte Versprechungen", "offenes Gelände"), Zapf, Moore und Appelbaum28 -, was ein Licht auf die krisenhafte Einschätzung dieser Wissenschaft wirft, da die Theorie des sozialen Wandels nach Ansicht vieler Autoren- Schrape zitiert König, Geiger, Parsons29- andererseits der Hauptgegenstand der Soziologie ist. Beginnen wir in dem Bemühen, mechanistische Varianten sozialer Evolutionstheorie (Evolution sei hier völlig assoziationsfrei als Wandel oder Entwicklung verstanden) zu identifizieren, mit einer Gesamtschau der soziologischen Theorien sozialen Wandels. Richard P. Appelbaum trennt in seinen häufig zitierten "Theories of social change" in: evolutionary theories, equilibrium theories, conflict theories, "rise and fall" theories. Jo Wilbert E. Moore trennt in seinem Artikel "Social Change" in der "International Encyclopedia of the Social Sciences" in: 2s Elman R. Service: Cultural Evolution, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, editor: David C. Sills, Band 5, o. O. 1968, S. 221-227, Zitat auf s. 224. 26 Zu dem Begriff .,Sozialdarwinismus" siehe: Sol Tax und Larry S. Krucoft: Social Darwinism, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, editor: David C. Sills, Band 14, o. 0. 1968, S. 400- 402, und: A. M. Peters, S. 339. 27 Schrape, Band 1, S. 104. 2a Ebd., Band 1, S. 14, 29 Ebd., Band 1, S. 13f. 30 Appelbaum, a . a. 0 ., S. 9.
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II. Soziale Selektionstheorie
evolutionary theories, marxist theory, functionalist theory, conflict theory.Jl
Man kann Moore als eine Art "Trennungspessimisten" bezeichnen: die verschiedenen Auffassungen zu sozialem Wandel unterscheiden sich bei ihm nur in der Betonung, was z. B. daran deutlich wird, daß einer der Väter die Soziologie, Emile Durkheim, sowohl als Vertreter der "evolutionary theories", als auch bei der "functionalist theory" aufscheint. In einem neueren Universitätslehrbuch trennt Steven Vago: evolutionary theories, conflict theories, structural functional theories, systems theories, social psychological theories. 32 In einem deutschen Lehrbuch zum sozialen Wandel unterscheidet Hermann Strasser als Theorien des endogenen sozialen Wandels: - marxistische und nicht-marxistische Varianten der Konflikttheorie, - zyklische Theorien, Auf- und Abstiegstheorie, - klassische Evolutionstheorie, - multilineare Theorie der sozialen Evolution und Modernisierungstheorie. Als Theorien des exogenen sozialen Wandels trennt er: Diffusions- und Kulturkontakttheorie, - Krisen- und Katastrophentheorie, - Funktionalismus.JJ Ich will nun versuchen, aus dieser größeren Zahl von Ansätzen, die verschiedene Autoren jeweils verschieden gliedern, die Menge der tatsächlich disjunkten Auffassungen zum mechanistischen Ablauf von sozialem Wandel herauszuarbeiten und zugleich untersuchen, wo die in der Einleitung angekündigte soziale Selektionstheorie, welche die vorliegende Arbeit prägen wird, in diesen Theorieansätzen einzugliedern ist.
Kein Kandidat für eine mechanistische Variante der Evolutionstheorie ist das, was die Soziologen "klassische Evolutionstheorie" des sozialen Wandels n ennen. Damit sind all jene Stadien-Gesetze, Tax onomiken und Behauptungen über die Richtung sozialer Evolution gemeint, die ich gerade unter der Überschrift der deskriptiven Variante der Evolutionstheorie auf3l Wilbert E . Moore: Social Change, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, editor: David C. Sills, Band 14, o. 0 . 1968, S . 365- 375. 32 Steven Vago : Social Change, New York u . a. 1980. 33 Hermann Strasserund Susan C. Randell: Einführung in die Theorien des sozialen Wandels, Darmstadt und Neuwied 1979.
1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
31
gezählt habe: diese Taxonomiken sind im allgemeinen weder überprüfbar, noch wird präzise dargestellt, wie und warum sich eine Gesellschaft von einem Studium zum anderen entwickelt. Appelbaum schreibt über die klassische soziologische Evolutionstheorie: "The analogy to biological models is, of course, imperfect, for the concept of chance or random variation, and hence survival of the most well adapted variants, is not present in the sociological formulations. "34 Dasselbe gilt für die zyklischen Theorien des Auf- und Abstiegs von Gesellschaften. Auch diesen Literaturzweig der Theorie des sozialen Wandels können wir für die gegebene Fragestellung streichen. Ein sicherer Kandidat für eine mechanistische Variante der Evolutionstheorie sind hingegen Konflikttheorie und Marxismus. Der Marxismus beruht letztlich auf der Annahme exogener Kräfte als Motor des sozialen Wandels: Die dauernde Fortentwicklung der Produktivkräfte, die für alle Dynamik verantwortlich ist, wird im Modell nicht mehr erklärt, sondern für alle Gesellschaften als konstantes Charakteristikum gesetzt. Die kontinuierliche Dynamik des sozialen Geschehens ergibt sich in der marxistischen Geschichtstheorie folgendermaßen: zu einem gegebenen Fortentwicklungsstand der Produktivkräfte "gehören" bestimmte Produktionsverhältnisse, die ihrerseits als wichtigste Institutionen soziale Klassen hervorbringen. Aufgrund des ständigen Fortschreitens der Produktivkräfte geraten die Produktionsverhältnisse alsbald "in Widerspruch" zu den Produktivkräften, d. h . hemmen die weitere Fortentwicklung der Produktionstechnik. Alte Produktionsverhältnisse, damit auch alte soziale Klassen, werden in Revolutionen beseitigt, sofern die "Spannung" zu groß geworden ist. Entscheidend ist, daß der gesellschaftlichen Dynamik hier der Hauptantrieb des Selektionsdrucks fehlt. Nicht Wettbewerb, Kampf und Auslese erzwingen gesellschaftlichen Wandel, sondern der durch die exogene Kraft des technischen Fortschritts immer wieder neu herbeigeführte Konflikt zwischen Gruppen. Man kann die marxistische Geschichtstheorie in die größere Gruppe der von Ralf Dahrendorf begründeten soziologischen Konflikttheorien stellen. 35 Diese unterscheiden sich von der sozialen Selektionstheorie wesentlich darin, daß sie Wandel in einer Gesellschaft begründen könnten, die völlig allein auf der Welt wäre, während die rudimentäre Selektionstheorie Wandel als Ergebnis von Selektion in einer Gruppe von Gesellschaften sieht. Die soziale Selektionstheorie selbst kann in den oben aufgezählten soziologischen Theorien des Wandels kaum identifiziert werden. Man könnte sie a1S eine Mischung der Diffusions- oder Kulturkontakttheorie mit dem Appelbaum, S. 30. Ralf Dahrendorf: Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957. 34
35
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II. Soziale Selektionstheorie
Funktionalismus ansehen. Tatsächlich hat die Hayek'sche Auffassung zum sozialen Wandel, die, wie in der Einleitung zusammengestellt, in nennenswertem Umfang noch von Donald T. Campbell, Peter A. Corning und Gerard Radnitzky vertreten wird, in die soziologische Standard- und Lehrbuchliteraturbislang nicht explizit Eingang genommen. Gemäß der rudimentären sozialen Selektionstheorie befinden sich Gesellschaften in einem ständigen Konflikt, im Laufe dessen überlegene Gesellschaften den Untergang unterlegener Gesellschaften durch Aussterben, Aufteilen, Aufnehmen erzwingen. Für die Selektion sorgt dauernde Auseinandersetzung. Gäfgen schreibt: "Fehlen gar Behauptungen über die Haupttriebkräfte gesellschaftlicher Entwicklungen fast gänzlich ... , so bleibt nur eine Art "evolutionäre Selektion" von Gesellschaften und/oder deren Institutionen übrig. Bei dieser Selektion bleiben Institutionen übrig, die lebenswichtige soziale Funktionen erfüllen, dysfunktionale werden mangels Überlebensfähigkeit der an ihnen festhaltenden Sozialgebilde eliminiert. Die Entstehung der Institutionen selbst kann dabei fast beliebige Gründe haben, ebenso ihre Verbreitung, es sei denn, es handele sich um einen einfachen Imitationsprozeß. "36 Hiermit ist schon eine wesentliche Präzisierungsbedürftigkeit der sozialen Selektionstheorie angesprochen: da sich kein natürliches Pendant zur biologischen Vererbung aufdrängt, muß als Verbreitungsmechanismus erfolgreicher gesellschaftlicher Merkmale eine allgemeine Verharrungstendenz von Institutionen (Tradition) oder zwischengesellschaftliches Lernen und Imitieren angenommen werden. Gemäß dem herrschenden oder zumindest am weitesten verbreiteten soziologischen Paradigma, dem Funktionalismus (mit Durkheim beginnend wird eine endlose Liste bekannter Soziologen als "Funktionalisten" bezeichnet37 ) , sind alle "Elemente" oder Institutionen einer Gesellschaft irgendwie "gleichgewichtig" aufeinander abgestimmt bzw. können soziale Erscheinungen damit erklärt werden, daß sie eine bestimmte "Funktion" erfüllen. Zum Beispiel ist es typisch "funktionalistisch", die Rolle der Religion in einer Gesellschaft als Widerspiegelung, "Verdoppelung" und insbesondere als Legitimation der Sozialordnung dieser Gesellschaft zu sehen: Wildbeutergruppen ohne autoritäre Führung sind gewöhnlich polytheistisch, während Gesellschaften mit klaren Autoritäten gewöhnlich auch einen Hochgott verehren.38 Sozialer Wandel stellt sich für einen Funktionalisten folglich in der Weise dar, daß sich ein soziales System in irgendeiner 36 Gerard Gäfgen: Institutioneller Wandel und ökonomische Erklärung, in: Erik Boettcher, Philipp Herder-Dorneich, Karl-Ernst Schenk (Hrsg.): Jahrbuch für neue politische Ökonomie, Band 2, Tübingen 1983, S. 19- 49, ZitatS. 23/24. 37 George C. Homans: Bringing Man Back In, in: American Sociological Review 29, 1964, s. 809 - 818. 38 Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1980, ursprünglich Paris 1912.
1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
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Beschreibungsdimension ändert - nicht durch eigengesetzliche Dynamik, sondern durch exogenen Anstoß, der nicht Modell-endogen erfaßt werden kann - und folglich diverse Institutionen mit neuen Anforderungen konfrontiert sind, sich also wandeln müssen, um wieder mit allen anderen Institutionen "im Gleichgewicht" zu sein und ihre Funktion wahrnehmen zu können. Es fragt sich nur, warum sich Institutionen wandeln, was sie dazu antreibt, sich zu ändern. Die einzige Antwort, die mir befriedigend scheint, ist, daß die Kraft der Gruppenselektion, d. h . der Wettbewerb zwischen Gruppen, die Ausrichtung sozialer Institutionen auf optimale Nützlichkeit erzwingt. Damit scheint der Funktionalismus nur eine andere verbale Fassung der sozialen Selektionstheorie zu sein, die bezüglich der Richtung des Wirkens der Selektion präziser, bezüglich des technischen Ablaufs von Wandel aber nebulöser ist. Ähnlich sehen Gäfgen39 und Appelbaum4o das Verhältnis zwischen Funktionalismus und Evolutionstheorie. Ein weiteres offenes Problem der sozialen Selektionstheorie ist die Frage, wie soziale Variationen erzeugt werden, die dann der Selektion unterliegen. Unbenommen der Tatsache, daß die Konflikttheorie eine eigenständige mechanistische Auffassung sozialen Wandels ist, kann das z. B. durch Gruppenkonflikte geschehen. Ebenso kann das durch charismatische Persönlichkeiten geschehen, die Änderungen durchsetzen, die analog biologischer Mutationen zum großen Teil scheitern, aber hier und da die Überlebenswahrscheinlichkeit der Gesellschaft, die sie einführt, beträchtlich steigern. Auch das gilt unbenommen der Tatsache, daß das Wirken charismatischer Persönlichkeiten als eigenständige mechanistische Variante sozialer Evolution darstellbar ist: die "Geschichtstheorie der großen Männer" .41 Hierbei handelt es sich nur in eingeschränktem Sinne um eine Evolutionstheorie -nur in dem Sinne, in dem "Evolution" Entwicklung bedeutet - , da das Wirken "großer Männer" ja eher einen sprunghaften , diskontinuierlichen Geschichtsverlauf begründet denn einen im erweiterten Sinne "evolutionären Geschichtsverlauf" - im Sinne von allmählich, gesetzesartig, stetig, unbewußt. Nach dieser Theorie läßt sich das historische und soziale Geschehen am treffendsten im Stil einer narrativen Ereignisgeschichte (als Gegensatz zur Strukturgeschichte42) darstellen, die über Menschen, ihre Ideen, Absichten, Ziele, ihre Gegenspieler und ihre Zeit mit geringen und höchstens anekdotischen Anklängen an gesetzesartige Zusammenhänge referiert. Erfolg oder Scheitern von Persönlichkeiten und ihren Projekten sind Gäfgen, S. 23. Appelbaum, S. 10. 41 Siehe z. B.: Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Ausgabe Stuttgart 1978, herausgegeben von Rudolf Marx, oder: Thomas Carlyle: Helden und Heldenverehrung, Jena 1913, Original: On Heros, Heroworship and The Heroie in History, London 1841. 42 Jürgen Kocka: Sozialgeschichte, Göttingen 1977, S. 70ff. 39
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3 Seuferle
II. Soziale Selektionstheorie
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nur bei detaillierter Kenntnis der historischen Lage und der menschlichen Umstände verstehbar-eine Generalisierung wird kaum versucht. Hermann Strasser verbindet diese "Geschichtstheorie der großen Männer" mit den sozialpsychologischen Theorien des sozialen Wandels: "Eine andere Art der Erklärung der Wandelursache, die sowohl psychologisch als sozialpsychologische Züge aufweist, hat mit der Rolle zu tun, die "große Männer" oder auch Eliten in der Initiierung gesellschaftlicher Veränderungen spielen. "43 Von dieser Verbindung abgesehen, sind psychologische und sozialpsychologische Theorien des sozialen Wandels dadurch gekennzeichnet, daß Veränderungen in Psyche, Wünschen, Trieben, Zielen des einzelnen für den sozialen Wandel kausal sind. Damit kann zunächst nur eine bestimmte Gruppe sozialer Merkmale auf diesem Wege erklärt werden: Viktor Vanberg spricht von "Komplexen normativer Regelungen" (Eigentum, Geld, Recht, Sitten, Normen), die so erklärt werden könnten, im Gegensatz zu "organisierten sozialen Kollektiven" (Staat, Partei, Sozialversicherung, Armee, Kirche), die nicht auf diesem Wege erklärt werden könnten.44 Es fragt sich aber, wie es zu Veränderungen menschlicher Persönlichkeitsstrukturen kommen kann. Wohl nicht nach Art einer Katastrophentheorie (Dürre, Erdbeben, Flut als Auslöser sozialen Wandels) völlig exogen warum sollten sich die Menschen plötzlich ändern. Vielmehr nur systemendogen durch sozialen Wandel, der folglich seinerseits nicht letztlich psychologische oder sozialpsychologische Ursachen haben kann: es bleiben also wieder nur charismatische Menschen, Gruppenkonflikte, funktionalistische Allpassungen oder Mutationen im Zuge der sozialen Selektion; nur im Rahmen dieser Theorien- dämpfend, stärkend oder variierend- kann eine psychologische Theorie des sozialen Wandels m.E. relevant werden. Aus der größeren Zahl eingangs aufgezählter Theorien des sozialen Wandels, die mir eher Beschreibungen des sozialen Wandels mit jeweils wechselnder Betonung zu sein scheinen, sind m. E. nur drei disjunkte mechanistische Varianten sozialer Evolution erkennbar: - die soziale Selektionstheorie mit Präzisierungen bezüglich der Quellen gesellschaftlicher Variation (charismatische Persönlichkeiten, Gruppenkonflikte), mit Präzisierungen bezüglich der Richtung der Selektion (Funktionalismus, klassische Evolutionstheorien), mit Präzisierungen bezüglich des tatsächlichen Ablaufs der Selektion (soziale Diffusion, Kulturkontakttheorie), Hermann Strasserund Susan C. Randall, S. 45. Viktor Vanberg: Der individualistische Ansatz zu einer Theorie der Entstehung und Entwicklung von Institutionen, in: Erik Boettcher, Philipp Herder-Dorneich, Karl-Ernst Schenk: (Hrsg.): Jahrbuch für neue politische Ökonomie, Band 2, Tübingen 1983, S. 50- 69, ZitateS. 55/ 56. · 43
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1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
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mit Präzisierungen bezüglich der Technik gesellschaftlicher "Vererbung" (soziale Diffusion, Funktionalismus), die soziologische Konflikttheorie als Fortentwicklung der marxistischen Geschichtstheorie, die "Geschichtstheorie der großen Männer" . Wie man sieht, kann die soziale Selektionstheorie als eine Art Rahmenhandlung des sozialen Wandels alle anderen Theorien des sozialen Wandels zu "Hilfstheorien" degradieren, ohne ihrerseits in dieser Form reduzierbar zu sein. Da die soziale Selektionstheorie für einen lang andauernden Wettbewerb sehr vieler Gesellschaften mit Sicherheit wahr ist, sofern empirisch bestätigt werden kann, daß Selektion existiert, d. h. einige Gesellschaften tatsächlich untergingen und untergehen, eignet sie sich besonders als Theorie des Wandels in der sehr langen Frist. Die beiden anderen mechanistischen Varianten können hingegen kurzfristige Veränderungen in nur einer Gesellschaft analysieren. Vielleicht begründet dieser völlig verschiedene Zeithorizont, weswegen die soziale Selektionstheorie von Soziologen im allgemeinen nicht explizit angeführt wird. Es ist aber zu betonen, daß Ideen der sozialen Selektion implizit in vielen soziologischen Texten anzutreffen sind. Zum Vergleich der soziologischen Theorien des sozialen Wandels schreibt Appelbaum: "There is, at present, no adequate crit.eria in the social sciences by which evolutionary or equilibrium theories and conflict theories, in their present form, can be compared and assessed relative to one another in terms of overall explanatory power."45 Tatsächlich zeigt sich bei dem Versuch, einen gegebenen Prozeß sozialen Wandels- etwa den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus oder die Einführung eines ersten Zweiges der Sozialversicherung in einem einzelnen Land- im Lichte einer dieser Auffassungen von Wandel darzustellen, daß dieses im allgemeinen im Lichte jeder der Auffassungen möglich ist, es aber sehr schwierig ist, eine dieser Darstellungen in einem objektivierbaren Sinne für besser oder korrekter als eine andere zu erachten. Die Einführung der Sozialversicherung in Deutschland zwischen 1870 und 1890 etwa läßt sich im Stil der Ereignisgeschichte mit großer Betonung der Rolle Bismarcks oder, wie Michael Stalleis zu belegen sucht, der Rolle der preußischen Ministerialbürokratie darstellen46 , sie läßt sich marxistisch als Pazifizierung der durch kapitalistische Wirtschaftszyklen ausgelösten sozialen Unruhen darstellen, oder - milder - konflikttheoretisch als herrschaftssichernde Reaktion der Elite auf die Organisation der Arbeiter im Kapitalismus, und sie läßt sich in selektionstheoretischer Terminologie als Mutation begreifen, die Appelbaum, S. 93. Michael Stolleis: Die Sozialversicherung Bismarcks. Politisch-institutionelle Bedingungen ihrer Entstehung, in: Hans F. Zacher (Hrsg.) : Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, Berlin 1979. 45
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3"
II. Soziale Selektionstheorie
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in dem Sinn positiv selektiert wurde, daß sie den wirtschaftlichen, technologischen und politischen Aufstieg des Deutschen Reiches zumindest nicht verhinderte. Als Präzisierung der Richtung, in der Selektion wirkt, kann man auch in funktionalistischer Terminologie argumentieren, daß Sozialversicherung eine notwendige Begleiterscheinung von Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung sei - womit sie sich unverändert durch Selektion durchsetzt als Variation, die wegen der guten gegenseitigen Abstimmung von Institutionen im Wettbewerb der Gesellschaften positiv selektiert wird und sich durch sogenannte soziale Diffusion (zwischengesellschaftliches Imitieren) ausbreitet. All diese Darstellungen erwecken mehr oder weniger stark den Eindruck, der tatsächliche historische Ablauf würde in ein Schema gezwängt. Ich glaube aber nicht, daß unterschiedliches Empfinden bezüglich dieses Eindrucks objektivierbar ist; mit anderen Worten glaube ich nicht, daß für ein einzelnes Land eine dieser Darstellungen falsifizierbar ist. Hierin folge ich Appelbaum, der soziologische Wandeltheorien für nicht testbar hält. 47 Es könnte aber sein, daß sich im Länderquerschnitt irgendeine Auffassung von sozialem Wandel bewähren kann. Die "Geschichtstheorie der großen Männer" läßt sich auch für viele Gesellschaften nicht prüfen, da es in jedem Land irgendwelche Befürworter der Einführung von Sozialversicherung gab, die man höchStens im Wege theorieabhängiger Messung dadurch, daß es tatsächlich zu Sozialversicherung kam, im nachhinein als "große Männer" identifizieren könnte. Diese Geschichtstheorie ist selbst für eine Querschnittanalyse zu unpräzise, um prüfbar zu sein. Die Konflikttheorie sieht die Einführung von Sozialversicherung im wesentlichen als Befriedung der Arbeiter. Man könnte diese Theorie meßbar machen, indem man sie dahingehend verstärkt, daß die Einführung von Sozialversicherungen in einem Land desto wahrscheinlicher ist, desto stärker die Notwendigkeit einer Befriedung der Arbeiter auftritt. Die Notwendigkeit der Befriedung der Arbeiter muß nun noch operationalisiert werden: etwa als politische Kraft des Arbeiterlagers, gemessen am Stimmenanteil der Linksparteien oder als gewerkschaftlicher Organisationsgrad der Arbeiter. 48 Dann kann eine empirische Untersuchung klären, wie der Stimmenanteil der Linksparteien und der Organisationsgrad der Arbeiter mit dem Stand der Verbreitung von Sozialversicherung in verschiedenen Ländern in verschiedenen Jahren korreliert ist. Eine hohe Korrelation würde eine Bewährung der Konflikttheorie -eingeschränkt auf die gegebene Meßmethode- bedeuten. Die rudimentäre soziale Selektionstheorie ist auch im Länderquerschnitt nicht überprüfbar. Prüfbar ist aber ihre funktionalistische Variante: Appelbaum, S. 117 ff. J ens Alber: Vom Armenha us zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt am Main 1982, S. 126ff. 47
4B
1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
37
zunächst ist mit geeigneten Meßmethoden ein Indikator der Modernisierung, der Industrialisierung und der Urbanisierung in einem Land zu konstruieren, dann ist dieser Indikator in der Phase der Einführung von Sozialversicherung zu bestimmen. Liegt er in dieser Phase in verschiedenen Ländern ähnlich, so scheint ein bestimmter Indikatorwert für die Einführung von Sozialversicherung ursächlich zu sein, d. h . die Einführung von Sozialversicherung gemäß dem funktionalistischen Paradigma bei gewissen Graden der Industrialisierung, Modernisierung und Urbanisierung notwendig zu sein. Als weitere Präzisierung der sozialen Selektionstheorie ist eine Version prüfbar, die spezifische Annahmen über die Vererbung sozialer Merkmale macht: z. B. als Verbreitung durch zwischenstaatliches "Abgucken", die sogenannte Theorie der sozialen Diffusion. Eine operationalisierte Variante dieser Theorie drängt sich nicht unmittelbar auf; Jens Alber schlägt vor, daß soziale Diffusion dann bestätigt sei, wenn die Nachzügler der deutschen Lösung einer Pflichtversicherung diese bei geringeren Graden der Industrialisierung und der Urbanisierung und somit in größerer Unabhängigkeit von innergesellschaftlichen Herausforderungen eingeführt hätten. 49 Natürlich wäre die Vermutung von sozialer Diffusion auch nahegelegt, wenn in auffallend kurzer Folge nach der Einführung der deutschen Pflicht-Unfall- und -Krankenversicherung in den Jahren 1883/ 84 zahlreiche andere europäische Länder, die sich, wie gesagt, bezüglich ihres Entwicklungsstandes als auch bezüglich des Einführungsdrucks durch Arbeiterunruhen möglichst stark unterscheiden sollten, eine Pflicht-Unfallund -Krankenversicherung eingeführt hätten. Nach einer eingehenden Analyse von Alber kann die These von sozialer Diffusion in der gegebenen Meßanordnung für die Einführung von Sozialversicherung kaum bestätigt werden. Auch die funktionalistische These, nach der Entwicklungsstand und Ausbreitung von Sozialversicherung korreliert seien, wird zwar nicht falsifiziert, aber keineswegs bindend bestätigt. 50 Alber schreibt: "Festzuhalten bleibt demnach, daß die Unterschiede in den sozio-ökonomischen Entwicklungsniveaus zum Zeitpunkt der Einführung der sozialen Versicherungssysteme verschiedener Länder zu groß sind, um die Sozialversicherungsgesetzgebung als funktional notwendige Reaktion auf Schwellenwerte der sozio-ökonomischen Entwicklung verstehen zu können . .. Während manche Nationen ihr erstes Versicherungsprogramm schon einführten, als noch 90 Prozent der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren, schufen andere Länder ihre ersten Schutzsysteme erst, als schon 90 Prozent ihrer Erwerbsbevölkerung außerhalb des Agrarsektors arbeiteten. "51 Etwas besser schneidet nach Alber die konflikt49
5o 51
Alber, S. 134. Ebd., S. 94- 101. Ebd. , S. 100/101.
38
li. Soziale Selektionstheorie
theoretische These ab: gewerkschaftliche Macht und Stimmenanteil der Arbeiterparteien seien - wenn auch zahlreiche Studien zu zahlreichen unterschiedlichen Ergebnissen kamen- vergleichsweise gut mit der Einführung und Ausdehnung von Sozialversicherung verbunden.52 Es ist hier nicht der Ort, diese um die Soziologen Peter Flora und Jens Alber seit Jahren diskutierten Fragen zu vertiefen.53 Sozialer Wandel verbindet sich immer mit gewissen "großen Persönlichkeiten", findet immer ablehnende und befürwortende Gruppen und läßt sich- sofern er andauerte und sich ausbreitete- immer als positiv selektierte Sozial-Mutation darstellen. Im Kern sind also die drei Auffassungen zur tatsächlichen "Mechanik" gesellschaftlicher Evolution nicht falsifizierbar. Natürlich sind sie in präzisierten Fassungen, die sich weiterhin mit konkreten Meßanordnungen verbinden müssen, falsifizierbar: ein ständiges Scheitern präzisierter und operationalisierter Versionen dürfte auch Rückwirkungen auf die Beurteilung der zugehörigen Kern-Auffassung zu sozialem Wandel haben. Dennoch wäre deren Ablehnung nicht gerechtfertigt; zumal irgendwann Präzisierungen und Operationalisierungen erfunden werden können, die eine Bestätigung der Theorie nahelegen. Schließlich lassen sich die drei Auffassungen zu sozialem Wandel in Explanans-Satzmengen für gegebene, tatsächlich anzutreffende Merkmale sozialer Systeme überführen. Wenn man weiß, wie etwas entstanden ist, folgen Hypothesen, warum etwas so ist, wie es ist. Es könnte sein, daß Unterschiede in der Erklärungsfähigkeit der explikativen Verwendungen der mechanistischen Varianten der Evolutionstheorie im sozialen Bereich rückwirkend Unterschiede in der Beurteilung der mechanistischen Variante selbst bewirken.
d. Explikative Verwendung der mechanistischen Variante der Evolutionstheorie In der Biologie beschreiben wir nicht nur mit Hilfe der Theorie der Evolution durch Selektion, wie sich Merkmale entwickeln und ausbreiten, sondern erklären auch, warum Merkmale so sind, wie sie sind. Die mechanistische Variante kann unmittelbar explikativ verwendet werden, indem gezeigt wird, daß das zu erklärende Merkmal die Fitness seines Trägers maximiert. Diese einfache Formulierung übergeht allerdings zwei Schwierigkeiten: erstens enthält die selektionstheoretische Explikation eine gewisse Zirkula>2
Ebd., S. 195- 208.
sa Peter Flora und Arnold J. Heidenheimer (eds.) : The Development of Welfare Sta-
tes in Europe and America, New Brunswick 1981, und : Hans F . Zacher (Hrsg.): Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung, Berlin 1979.
1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
39
rität, die aus dem Problem der Fitness-Messung resultiert, dazu gleich Abschnitt II, 2. Zweitens konkurrieren verschiedene Arten von Selektion (Gen-, Gruppen-, Verwandtschafts- und Kulturselektion) bei der Erklärung biologischer Merkmalausprägungen, dazu anschließend Abschnitt II, 3. Die Frage der Fitness-Messung und der konkurrierenden Selektionsebenen stellt sich für soziale Selektion genauso, weshalb die folgenden Abschnitte biologische und soziale Evolution zugleich behandeln. Mit Hilfe der rudimentären sozialen Selektionstheorie wird ein gesellschaftliches Merkmal in der Weise erklärt, daß es die Fitness im Sinne von Überlebenswahrscheinlichkeit (zu dieser Definition siehe II, 2) der betrachteten Gesellschaft maximiert, was insbesondere beinhaltet, daß es die Gesellschaft in Kampf und Wettbewerb mit anderen Gesellschaften stärkt. Nach der "Geschichtstheorie der großen Männer" leitet sich das Vorhandensein eines gesellschaftlichen Merkmals, insbesondere wenn es gerade neu eingeführt wurde, aus folgender Satzmenge ab: 1. Person X wollte Merkmal A. 2. Person X war ein "großer Mann".
Ob Person X tatsächlich ein "großer Mann" war, d. h. ob das Explanans wahr ist, kann nur daran erkannt werden, ob Merkmal A eingeführt wurde, d. h. kann nur theorieabhängig gemessen werden, da die empirische oder prüfbare Fassung der zweiten Aussage des Explanans mit dem Explanandum identisch ist. Diese Zirkularität ließe sich nur in der Weise überwinden, daß auf gänzlich anderem Wege geklärt werden könnte, ob Person X ein "großer Mann" ist, nämlich auf einem Wege, der von der "Geschichtstheorie der großen Männer" unabhängig ist. Geht das nicht, so verhindert die Tatsache, daß das "Groß-Sein" theoretischer Term in der "Geschichtstheorie der großen Männer" ist, eine Prüfung dieser Theorie - ebenso wie Fitness als theoretischer Term der Evolutionstheorie eine Prüfung von ExplanansSatzmengen, in denen dieser Begriff vorkommt, solange verhindert, solange Fitness nicht unabhängig von der Evolutionstheorie gemessen werden kann, oder zumindest von der Evolutionstheorie unabhängige Vermutungen über Fitness-Unterschiede begründet werden können- mehr dazu im Abschnitt li, 2.
Eine analoge Zirkularität weisen Explikationsversuche mit Hilfe eines konflikttheoretischen Explanans auf. Werden gegebene Merkmale als Folge des Durchsetzens einer Gruppe gegen eine andere interpretiert, so kann dieses Durchsetzen nur am Vorhandensein der Merkmale erkannt werden: das Explanandum folgt nicht nur aus dem Explanans, sondern ist zugleich die einzige Methode zur Überprüfung des Explanans. Es mag erstaunen, daß die Verwendung sämtlicher mechanistischer Varianten der Evolutionstheorie zur Erklärung gesellschaftlicher Merkmale
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II. Soziale Selektionstheorie
streng genommen zirkuläre Erklärungen liefert. Daraus kann m. E. nicht die Forderung folgen, diese Theorien über Bord zu werfen, sondern im Gegenteil folgt daraus, daß die Forderung nach Falsifizierbarkeit, strenger Prüfbarkeit etc. im Lichte der historischen und der sozialwissenschaftliehen Wissenschaftspraxis reichlich naiv ist. Dies hat die Erkenntnistheorie nach Popper- durchaus angeregt und geschult durch Popper- auch erkannt und mildere und differenziertere Kriterien der Wissenschaftlichkeit von Aussagen erstellt. 5 4 Insbesondere zeigt sich aufgrunddieser Zirkularität der explikativen Verwendungern verschiedener mechanistischer Auffassungen von sozialer Evolution, daß die explikativen Umformulierungen der konkurrierenden mechanistischen Auffassungen durch mögliche unterschiedliche explikative Bewährung keinen Hinweis auf Bewährungsunterschiede der mechanistischen Auffassungen geben können. Im folgenden Abschnitt II, 2 werden die hier angeschnittenen Fragen vertieft. e. Prognostische Verwendung der mechanistischen Variante der Evolutionstheorie
In der Biologie kann die Theorie der Evolution durch Selektion zusätzlich um Hypothesen darüber erweitert werden, was typischerweise positiv selektiert wird, d . h. in welche Richtung die Evolution läuft. Wie schon oben geschrieben, kann man z. B. eine ständige Steigerung von Komplexität, Informationsgehalt, negativer Entropie oder Homöostase von Organismen annehmen. Andere vermuten eine ständige Steigerung der "competitive ability", der Biomasse, der Populationswachstumsrate, der Effizienz, der Stabilität oder des gesamten Energiedurchflusses (durch alle Organismen einer Art) als Ziel der biologischen Spezies-Evolution.55 Genauso wurden in der sozialen Evolution Endziele wie die ständige Erhöhung der Arbeitsteilung, der Differenzierung und wiederum der Komplexität angenommen. 56 Die prognostische Verwendung der mechanistischen Variante der Evolutionstheorie besteht darin, letztere um Zusatzannahmen zu erweitern, die es erlauben, dem (bisherigen) Wandel in einer (wichtigen) Beschreibungsdimension eine eindeutige Richtung zuzuordnen, und zu prognostizieren, daß der zukünftige Wandel diese Richtung beibehalten werde. Das Erkennen und insbesondere das Fortschreiben solcher Entwicklungsgesetze verurteilt Popper als "Historizismus" heftig: als eine falsch verstandene Soziologie, 54 Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band 2, 6. Auflage, Stuttgart 1979, S. 468ff. und S. 726ff.; sowie im ersten Band, 6. Auflage, Stuttgart 1978, S. 351 ff. 55 Costas B. Krimbas: On Adaptation, Neo-Darwinian Tautology, and Population Fitness, in: Evolutionary Biology, Volume 17, New York 1984, S. 1-58, dort S. 47. 56 Siehe Abschnitt I.
1. Evolution, Evolutions- und Selektionstheorie
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die als theoretische Geschichtswissenschaft Entwicklungsgesetze der Gesellschaft aufzustellen suche, die es nicht gäbe, da nichts die Extrapolation eines vergangenen Trends legitimiere. 57
f. Normative Verwendung der mechanistischen Variante der Evolutionstheorie Hiermit ist die These gemeint, daß Wandel wünschenswert und beschleunigenswert sei, und die Ratschläge dafür, wie ein System, das Evolution unterworfen ist, leichter und schneller so sein kann, wie es vermutlich auf Dauer - gemäß der prognostischen Verwendung der mechanistischen Variante- sowieso wird. Karl Marx schreibt: "Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist ... kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern. "58 Grundsätzlich besteht für ein der Evolution unterworfenes System- nehmen wir an, für eine Gesellschaft - kein Anlaß, so sein zu wollen, wie das System vermutlich oder wahrscheinlich werden wird. Es ist aber darauf hinzuweisen, daß eine solche Norm bzw. die Befolgung einer solchen Norm dann positiv selektiert wird, wenn es sich um eine Evolution durch Selektion handelt. Zunächst kann eine Gesellschaft ihre Prägung in verschiedenen Beschreibungsdimensionen nach allen möglichen Normen ausrichten: Freiheit, Gerechtigkeit, Interessen der Armen , Interessen der Reichen, Subsidiarität, absolute Priorität menschlichen Lebens. Es ist aber nicht gesagt, daß Gesellschaften, die sich nach diesen Normen richten, positiv selektiert werden. Das kann in irgendwelchen historischen Abschnitten der Fall sein, das muß aber nicht der Fall sein. Die Wahrscheinlichkeit, daß eine Norm zusammen mit der durch sie gestalteten Gesellschaft überlebt, ist nur dann maximiert, wenn diese Norm die Norm einer Maximierung der Überlebenswahrscheinlichkeit ist. Mit anderen Worten wird sich diese Norm im Zuge einer Evolution gesellschaftlicher Normen durch Selektion verbreiten, mit anderen Worten kann man positiv folgern, daß Gesellschaften die Norm haben, möglichst schnell so zu sein, wie sie auf Dauer sowieso sein werden. Nur diese Norm wird positiv selektiert, was sie selbstverständlich aus der Menge der gesellschaftlichen Normen heraushebt. Geschieht die soziale Evolution allerdings nicht durch Selektion, sondern durch innere Gruppenkonflikte und durch das Wirken "großer Männer", so ist es zwar möglich, daß eine Gesellschaft, die zu erkennen glaubt, wohin sie 57 Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, 5. Auflage, Tübingen 1979, besonders S. 83 - 94. 5B Karl Marx: Das Kapital, Band 1, Ausgabe Berlin (Ost) 1961, S.7- 8, im Vorwort vom 25. 7.1867.
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II. Soziale Selektionstheorie
durch das "Gesetz" der Gruppenkonflikte getrieben wird - etwa zum Sozialismus (Marx) -, versucht, diese Dynamik voranzutreiben, aber es fehlt jeder Mechanismus, der eine solche Evolutionsbeschleunigung belohnt oder erzwingt. Einzig unter dem Regime der Evolution durch Selektion werden die Erkenntnis des selektierten Einzelelements, daß es der Evolution durch Selektion unterworfen ist, und der Versuch, korrekt erkannte Entwicklungsrichtungen vorwegzunehmen, ihrerseits positiv selektiert. Die Norm der Evolutionsbeschleunigung genießt nur bei Evolution durch Selektion eine herausgehobene Position, da sie positiv als gegeben vermutet werden kann. Für ein System, das Evolution durch Selektion unterworfen ist, werden also Sein-Werden und Sein-Sollen auf Dauer identisch: Das Werturteilsproblem, über das die deutsche Sozialwissenschaft kurz nach der Jahrhundertwende vehement diskutierte59 , stellt sich in einem System, das Evolution durch Selektion unterworfen ist, in neuem Licht. In einem solchen System haben prognostische Überlegungen von vornherein eine normative Implikation: eine wertfreie Projektion der Zukunft gibt es nicht mehr, sie vereint sich mit der Projektion einer wünschenswerten Zukunft. 2. Erkenntnistheoretische Probleme einer explikativen Verwendung der Theorie der Evolution durch Selektion
Nicht erkenntnistheoretisches Interesseper se motiviert diesen Abschnitt. Aber eine der interessantesten und wichtigsten Fragen, die nach längerem fachwissenschaftlichem Nachdenken, Schreiben, Lesen oder Reden aufkommt, ist die Frage: "Was soll das und was bringt das?", deren Präzisierung die Erkenntnistheorie leistet in der Ahnung, daß diese Präzisierung für verschiedene Fachgebiete gleiche Elemente enthält. Zum Beispiel kann man für Texte aus allen Fachgebieten fragen, ob in ihnen vorkommende Wörter wie "also", "deshalb", "weil", "folglich" in einem bestimmten Sinne berechtigt oder unberechtigt sind- "also" Logik betreiben. In allen Fachgebieten kann man z. B. fragen, ob irgendein wissenschaftlicher Beitrag oder irgendeine wissenschaftliche Entwicklung Kriterien für wissenschaftliche Fortschrittlichkeit erfüllt oder nicht. Insbesondere aber kann man in allen Wissenschaften fragen, ob wissenschaftliche Erklärungen - was soll das sein?-, die im allgemeinen mit Hilfe wissenschaftlicher Theorien- was soll das sein? - geschehen, befriedigend oder unbefriedigend sind: man kann zahlreiche wissenschaftliche Erklärungen zusammentragen, etwa für Ebbe und Flut, für das Waldsterben, für die Weltwirtschaftskrise 1929- 1933, für die Dollarhausse 1983/84 oder für die Verbreitung von Sozialversicherung in Europa von 1880 bis 1950 und versuchen, eine fachunabhängige, allge59 Als Zusammenfassung siehe: Gerhard Kleinhenz: Probleme wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Sozialpolitik, Berlin 1970, erstes Kapitel.
2. Explikative Verwendung der Evolutionstheorie
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meine Charakterisierung der wissenschaftlichen Erklärung zu erreichen, anhand derer man allgemein entscheidet, was die wissenschaftliche Erklärung befriedigend oder zumindest relativ befriedigender macht. Beginnen wir mit erkenntnistheoretischen Aspekten eines Musterbeispiels explikativer Evolutionstheorie aus der Biologie: mit der Erklärung von Merkmalen von Tierpopulationen. Warum- wie schon oben geschriebensehen manche Schmetterlinge von oben aus wie abgestorbene Blätter, warum sind Wüstenmäuse heller als Feldmäuse, warum ist der Polarfuchs weiß? Die selektionstheoretische biologische Erklärung - um beim letzten Beispiel zu bleiben -lautet, daß ein Gen, das dafür sorgt, daß ein Polarfuchs weiß wird, im Genpool der Polarfuchs-Population immer zahlreicher wird, da weiße Polarfüchse länger leben und sich damit auch stärker fortpflanzen, wodurch das Gen für Weißheit von Polarfüchsen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hat als das Allel für eine andere Farbe, was natürlich auch eine zunehmende Verbreitung der Farbe "Weiß" bei den Phänotypen nach sich zieht. 5o Auf der Ebene der Gentypen ist die Fitness im Sinne von Überlebenswahrscheinlichkeit des Weiß-Gens höher als die Fitness des Grau- oder Braun-Gens, weil auf der Ebene der Phänotypen die Fitness im Sinne von Überlebens- und Reproduktionswahrscheinlichkeit der weißen Füchse die Fitness der grauen oder braunen Füchse übersteigt. Daß ein wahrscheinlicher überlebendes Gen wiederum seinen Anteil im Genpool erhöht, ist eine analytische Wahrheit. Ich will die Argumentation Satz für Satz logisch geordnet wiederholen: 1. empirische Aussage: weiße Füchse leben im Polargebiet im Mittellänger
als andersfarbige Füchse.
2. Folgerung aus 1. und gewissen empirischen Aussagen über Fortpflanzung: weiße Füchse vermehren sich im Mittel stärker als andersfarbige Füchse. 3. Folgerung aus 1. und 2. und Aussagen, die den Begriff "Gen" definieren: das Gen für die Farbe "Weiß" überlebt im Genpool der Polarfüchse wahrscheinlicher als das Allel (Alternativ-Gen) für eine andere Farbe. 4. Folgerung aus 3.: das Weiß-Gen steigert seinen Anteil im GenpooL 5. Folgerung aus 4. und Aussagen, die den Begriff "Gen" definieren: der Anteil weißer Füchse steigt. Diese Verdeutlichung der Aussagen, mit denen die Erklärung der Tatsache, daß Polarfüchse weiß sind, geleistet wird, dient dazu, zu klären, wie der Begriff "Fitness" definiert werden muß, damit mit Hilfe dieses Begriffes so Zur genaueren Erläuterung des Begriffes "Gen" siehe z. B.: Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Berlin u. a. 1976, 3. Kapitel, oder: Michael Ruse: Sociobiology: A Philosophical Analysis, in: Arthur L. Caplan (ed.): The Sociobiology Debate, New York 1978, S . 355- 375, besonders S. 363f.
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Il. Soziale Selektionstheorie
eine ebenso logische Erklärung der Weißheit von Polarfüchsen möglich ist. Die Umformulierung würde folgendermaßen lauten: A. Aus Aussage 1. und 2. von oben wird: weiße Füchse haben eine größere Fitness als andersfarbige Füchse~ B. Aus A. und aus Aussagen, die den Begriff "Gen" definieren, folgt: das Gen für die Farbe "Weiß" hat eine größere Fitness als sein Allel. C. Aus B., wie 4. oben: das Weiß-Gen steigert seinen Anteil im GenpooL D. Aus C., wie 5. oben: der Anteil weißer Polarfüchse steigt. Die evolutionstheoretische Erklärung aus biologischen Merkmalausprägungen mit Hilfe des Begriffes "Fitness" ist also dann logisch zwingend, wenn Fitness auf der Phänotypenebene Überlebens- und Reproduktionswahrscheinlichkeit (und zwar für eine nicht präzisierte Zahl nachfolgender Generationen) bedeutet, und wenn Fitness auf der Genotypenebene Überlebenswahrscheinlichkeit bedeutet. 61 Eine weitere Definition des Begriffes "Fitness" würde die evolutionstheoretische Erklärung biologischer Merkmalausprägungennur mit Zusatzannahmen leisten können: denn das Einsetzen jeder von der gerade gegebenen verschiedenen Definition von "Fitness" in die obige Folgerungskette - etwa Nachkommenzahl, Gewicht, Größe, Kampfkraft - beraubt die Erklärung von Merkmalausprägungen ihrer logischen Stringenz, die nur dadurch wieder hergestellt werden kann, daß eine deutliche Abbildbarkeit zwischen der "falschen" und der wahren Bedeutung von Fitness zusätzlich behauptet wird. Die Auffassung, Gen-Fitness sei Gen-Überlebenswahrscheinlichkeit hat allerdings zwei praktische Mängel: erstens ist die Gen-Überlehenswahrscheinlichkeit bei genügend großem Zeithorizont für alle Gene strenggenommen null, bei nicht endlichem Zeithorizont ist sie zwar von null verschieden, aber auf die beliebige Wahl des Zeithorizonts relativiert. Einen Ausweg bietet das Konzept der "expected time to extinction" - ETE- der Erwartungswert der Zeit bis zum Aussterben als Meßmethode der Überlebenswahrscheinlichkeit, die nicht auf die Wahl eines Zeithorizonts relativiert werden muß.62 Fitness in biologischen Kontexten als Gen-Überlebenswahrscheinlichkeit zu definieren, hat einen entscheidenden Vorteil und einen entscheidenden Nachteil: der Vorteilliegt darin, daß diese Definition evolutionstheoretische Argumentationen, insbesondere die Erklärung biologischer Merkmalausprägungen, wahr macht, sogar tautologisch, definitorisch, analytisch - wie immer man sich ausdrücken will-wahr macht, der Nachteilliegt darin, daß Weitere Überlegungen zur Phänotypenfitness folgen im Abschnitt IV, 2. William S . Cooper: Expected Time to Extinction and the Concept of Fundamental Fitness, Journal of Theoretical Biology 107, 1984, S. 603- 629. 61
62
2. Explikative Verwendung der Evolutionstheorie
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durch diese Definition von "Fitness" die Falsifikation einer evolutionstheoretischen Merkmalexplikation nicht mehr möglich ist, weil Fitness als Überlebenswahrscheinlichkeitnicht gemessen werden kann oder, besser gesagt, nur unter der Voraussetzung der Richtigkeit der evolutionstheoretischen Merkmalexplikation gemessen werden kann. Es gibt aber m. E. keine Alternative zu diesem Dilemma. Natürlich existiert die Möglichkeit, Fitness so zu definieren, daß sie gemessen werden kann: Nachkommenzahl, Virilität, Fruchtbarkeit, Kampfkraft usw. Mit solchen Fitnessbegriffen könnte eine evolutionstheoretische Merkmalexplikation überprüft und falsifiziert werden. Das Problem ist nur: sie wird in der großen Mehrzahl der Fälle regelmäßig tatsächlich falsifiziert. Irgendwelche Komponenten oder Einflußfaktoren von Fitness mögen zwar hier und da stark mit Fitness als Überlebenswahrscheinlichkeit korrelieren, da Fitness aber von einer großen Zahl von Einflußfaktoren höchst komplex determiniert wird, ist die Messung der wahren Fitness als Überlebenswahrscheinlichkeit über die Messung ihrer Determinanten im allgemeinen mehr oder weniger falsch. Alexander Rosenberg schreibt: "The fitness of an organism is measured by counting progeny, either of the organism, its ancesters and/or descendants, or some subset of the progeny in a branching tree of descent. But while these demographic counts are the units in which fitness is measured and are the only common coin of evolutionary comparisons, it should be obvious that as they stand, they are highly unsatisfactory measures of fitness."63 Nach Rosenberg ist Fitness ein sogenannter theoretischer Term wie Nutzen in der Mikroökonomik und Kraft in der klassischen Partikelmechanik, d. h. eine Funktion in einer Theorie, die nicht theorieunabhängig gemessen werden kann, anders gesagt eine Funktion, bei der jede bekannte Meßmethode die Richtigkeit der Theorie, in der sie vorkommt, voraussetzt. Theorien, in denen solche theoretischen Terme vorkommen, sind im Lichte der am Abgrenzungsproblem zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Aussagen orientierten naiven Erkenntnistheorie von Karl Popper oder Hans Albert schwer einzuordnen, da sie einerseits wegen der Meßprobleme bei theoretischen Termen nicht falsifiziert werden können, andererseits aber die Wissenschaftspraxis derart beherrschen, daß man zögern muß, sie unwissenschaftlich zu nennen. Deshalb erscheint es mir nicht verwunderlich, daß Popper eine recht nebulöse Meinung zur Falsifizierbarkeit der Evolutionstheorie vertritt: die Evolutionstheorie sei ein "metaphysisches Forschungsprogramm", sie sei "fast (!) tautologisch", sie sei "situationslogisch". Poppers Probleme rühren m.E. aber auch daher, daß er deskriptive und mechanistische Varianten der Evolutionstheorie unzureichend unterscheidet. 54 63 Alexander Rosenberg: Fitness, The Journal of Philosophy 80, 1983, S . 457 - 478, aufS. 460. 64 Kar! R. Popper: Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung, Harnburg 1979, 37. Kapitel.
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li. Soziale Selektionstheorie
Die genaue Begründung dafür, warum Fitness nicht theorieunabhängig gemessen werden kann, bin ich noch schuldig. Exakt bezieht sich diese Theoretizität auf die explikative Variante der Evolutionstheorie: "Fitness is a primitive or undefined term with respect to the theory of natural selection."65 Explanandum sei, wie oben, die Tatsache, daß eine im Polargebiet ausgesetzte Fuchspopulation, in der sich zunächst alle Farben mischen mögen, fortgesetzt immer weißer wird, auch dann ständig weißer wird, wenn schon die Mehrzahl der Füchse weiß ist, bis man schließlich, von Mutanten abgesehen, den Polarfuchs generell mit einem weißen Fuchs identifiziert. Als Explanans dienen die Sätze A, B, C, D von oben. Entscheidend sind die erkenntnistheoretischen Eigenschaften des Satzes A, der das Explanans einleitet: weiße Füchse haben eine größere Fitness als andersfarbige Füchse. Da man von einem Explanans generell verlangt, daß die Sätze, aus denen es besteht, wahr sein mögen, und da die Aussage zweifelsohne etwas über die Welt behauptet, etwas sagt, was auch anders sein könnte, also eine empirische oder synthetische oder falsifizierbare Aussage ist, fragt sich, wie die Wahrheit der das Explanans einleitenden Aussage A festgestellt werden kann. Wie kann man die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Phänotypen messen, wie die Reproduktionswahrscheinlichkeit? Wohlgemerkt: nicht ihre Determinanten, sondern die Wahrscheinlichkeit selbst, die Fitness selbst? Da das tatsächliche Überleben und der tatsächliche Reproduktionserfolg eines Phänotypen um die wahrscheinlichen Werte mehr oder weniger stark schwanken, ist nicht einmal die langfristige Beobachtung eines Phänotypen eine Methode, die die beabsichtigte Größe mißt. Es ist ja durchaus möglich, daß ein kümmerlicher, halbgesunder, unattraktiver Hirsch durch einige günstige Zufälle lange lebt und unattakiert viele Paarungen vollbringen darf, während sich ein prachtvoller 16-Ender durch ein Mißgeschick in jungen Jahren verletzt und gar keinen Reproduktionserfolg hat, obwohl die Reproduktionswahrscheinlichkeit - wie immer definiert (Kinder, Enkel, Großenkel) -letzteren Hirsches viel größer als ersteren Hirsches war. Ich wüßte keine Methode, die Überlebens-und Reproduktionswahrscheinlichkeit eines einzelnen Phänotypen kurz- oder langfristig zu messen. Meßbar ist lediglich die Überlebens- und Reproduktionswahrscheinlichkeit einer Gruppe von Phänotypen, da sich in einer genügend großen Gruppe Zufälle im tatsächlichen Überleben und Reproduzieren ausgleichen, so daß die beobachtbare Entwicklung der Gruppenpopulation die durchschnittliche Fitness der Gruppenmitglieder ist. Insbesondere ist die empirische Aussage, daß die Subpopulation der weißen Füchse fitter sei als die Subpopulation der andersfarbigen Füchse, dadurch meßbar, daß erstere Subpopulation zahlreicher wird als zweitere Subpopulation, oder anders gesagt, ihren Anteil an der Gesamtpopulation steigert. Das heißt: die Frage 65
Rosenberg, S. 463.
2. Explikative Verwendung der Evolutionstheorie
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war, ob das Explanans für die Weißheit der Polarfüchse, insbesondere der Startsatz dieses Explanans, wahr sei. Diese Frage ist in Anbetracht der Nicht-Meßbarkeit von Fitness nicht entscheidbar; eine wesentliche Folgerung aber aus dem Startsatz des Explanans, nämlich die Ausbreitung weißer Füchse in einer im Polargebiet ausgesetzten Fuchspopulation, ist empirisch überprüfbar. Diese Aussage als "empirische Version" des Explanans-Startsatzes entspricht aber genau dem Explanandum. Folglich enthalten in der empirischen Version des Explanans - in der überprüfbaren Fassung Explanans und Explanandum denselben Satz. Aus dieser Feststellung ergeben sich zwei wesentliche Aspekte: Fitness ist ein theoretischer Term bezüglich der Theorie der Evolution durch Selektion als der wesentlichen explikativen Variante der Evolutionstheorie, weil jede bekannte Meßmethode von Fitness ihrerseits ein Modell der Theorie der Evolution durch Selektion liefert. Zweitens ist eine Erklärung, bei der Explanans und Explanandum denselben Satz enthalten, zirkulär, unbefriedigend, keine besondere wissenschaftliche Leistung, da das Explanandum in diesem Fall trivialerweise aus dem Explanans folgt. Rosenberg drückt denselben Sachverhalt folgendermaßen aus: "If fitness levels could not even in principle be measured by anything but levels of reproduction, then differences in fitness could not explain differences in rates of reproduction, and so could not explain evolution."66 All diese Ausführungen sollen belegen, daß die üblichen selektionstheoretischen Erklärungen biologischer Merkmalausprägungen stark zirkulären, tautologischen Charakter haben. Diese Zirkularität basiert auf der Zirkularität, die man schon in dem Slogan "the fitter survive", mit dem Spencer die darwinistische Theorie zusammenfaßte, erkannte, da dieser Satz in Anbetracht der Tatsche, daß Fitness nur durch Überleben gemessen werden kann, "im Grunde" - d. h. hier: in seiner empirischen, prüfbaren Fassung -lautet: "the survivors survive" , sich also von einer analytischen Aussage des Typs: "Schimmel sind weiß" in nichts zu unterscheiden scheint. 67 Dennoch haben viele Biologen und habe ich das Gefühl, daß die darwinistische Erklärung biologischer Merkmalausprägungen- etwa von Tierfarben- korrekt, befriedigend und "den Kern der Sache treffend" sei. Wie ist das möglich, trotzdes belegbaren Anscheins der Zirkularität? Entscheidend ist, daß Aussagen über Fitness nicht in ihre meßbare Fassung überführt werden, sondern als "theoretische" Aussagen bestehen bleiben. Dabei ist es nicht unter sagt , eine Aussage über Fitness unter anderem auch aus empirischen Überlegungen herzuleiten, was allerdings die Aussage über Fitness nicht ihrerseits zu einer überprüfbaren Aussage macht, da Fitness unverändert nur theorieabhängig gemessen werden kann.
66 67
Rosenberg, S. 462. Krimbas, S. 4.
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II. Soziale Selektionstheorie
Explanandum sei, daß Mäuse in der Wüste sandfarben sind. Zum Beispiel mag eine empirische Untersuchung ergeben haben, daß Eulen in der Wüste sandfarbene Mäuse seltener fangen als andersfarbige Mäuse. 68 Damit ergibt sich folgende Argumentation: 1. Empirische Aussage: Eulen fangen sandfarbene Mäuse in der Wüste
seltener als andersfarbige Mäuse.
2. Definition:
Fitness ist "expected time to extinction".
3. Definition:
"extinction" für eine Maus ist u. a. Gefangen- und Gefressen-Werden durch eine Eule.
4. Folgerung aus 3. und elementaren Sätzen der Wahrscheinlichkei tstheorie:
Eine geringe Wahrscheinlichkeit für eine Maus, von einer Eule gefangen und gefressen zu werden, bedeutet ceteris paribuseine längere "expected time to extinction" für diese Maus.
5. Folgerung aus 1.,
Sandfarbene Mäuse sind in der Wüste ceteris paribus fitter als andersfarbige Mäuse.
2. und4.:
In dieser und ähnlicher Weise kann eine Aussage über Fitness ganz aus empirischen und definitorischen Aussagen deduziert werden. Das Problem liegt- wie so oft- in der ceteris-paribus-Klausel: sie muß ausschließen, daß mit der Sandfarbigkeit einer Maus eventuell eine weitere Eigenschaft korreliert ist, welche den Fitness-Vorteil der Sandfarbigkeit unterlaufen könnte. Nur für Mauspopulationen, die mit Sicherheit in jeder Beziehung mit Ausnahme der Farbe gleich sind, gilt obige Deduktion über Fitness. Da die ceteris-paribus-Klausel strenggenommen nie prüfbar ist, oder besser gesagt nie strikt verifiziert werden kann, weil die Zahl der Beschreibungsdimensionen pragmatisch ist, d. h. auf den Beschreiberund auf den Stand der Wissenschaft relativiert ist, kann auch nie streng gezeigt werden, daß daraus, daß sandfarbene Mäuse in der Wüste ceteris paribus fitter als andersfarbige Mäuse sind, folgt, daß sandfarbene Mäuse an sich in der Wüste fitter als andersfarbige Mäuse sind, einfach weil wir nicht wissen können, was wir noch wissen werden, d. h. welche Beschreibungsdimensionen noch gefunden werden können: letzterer Schluß ist also ebenso pragmatisch auf einen gegebenen Stand der Wissenschaft relativiert, wie die Erkenntnis der "Gleichheit" zweier Mauspopulationen. Das heißt, daß Aussagen über Fitness relativ zu einem gegebenen Stand der Wissenschaft aus empirischen und definitorischen Überlegungen deduziert werden können. Sie können nicht für immer und mit absoluter Sicherheit deduziert werden. Das Dilemma, daß ein Explanans, welches Aussagen über Fitness macht, nur mit Hilfe des Explanandums, das es erklären im ss Maynard Smith, Theory of Evolution, S. 18.
2. Explikative Verwendung der Evolutionstheorie
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Sinne von deduzieren soll, auf seine Wahrheit hin überprüft werden kann, bleibt strenggenommen bestehen: aber es besteht in etwas milderer Form, da Aussagen über Fitness aus empirischen Beobachtungen und Definitionen unter der Einschränkung eines sich nicht mehr erweiternden wissenschaftlichen Kenntnisstandes deduziert werden können. Um zusammenzufassen: die Erklärung biologischer Merkmalausprägungen mit Hilfe der Theorie der Evolution durch Selektion - als der wesentlichen hier relevanten explikativen Variante von Evolutionstheorie - ist strenggenommen unbefriedigend, weil zirkulär, da das Explanans das Explanandum nicht nur erklärt, sondern zugleich nur mit dessen Hilfe für wahr befunden werden kann. Es besteht aber die Möglichkeit, die Wahrheit des Explanans mit theoretischen und empirischen Überlegungen plausibel zu machen, ja die Wahrheit des Explanans sogar mit theoretischen und empirischen Überlegungen zu deduzieren unter der Bedingung, daß man zusätzlich annimmt, daß alle relevanten empirischen und theoretischen Beziehungen beachtet wurden -was nachzuweisen, nie möglich ist. Nun könnte jemand einwenden, daß Polarfüchse, die nicht weiß sind, gar keine Polarfüchse sind, die Eigenschaft der Weißheit also definitorisch diesen Füchsen zugeordnet sei, und ihre evolutionstheoretische Erklärung sich mithin erübrige. Tatsächlich scheint es schwierig, zu entscheiden, ob Merkmale von Populationen von Lebewesen diesen essentiell oder gar definitorisch oder mehr peripher zuzuordnen sind. Daß Vögel fliegen können, wirkt wie ein Definitionsmerkmal, daß der Mensch aufrecht geht, wirkt sehr wesentlich, vielleicht gar auch definitorisch, daß Wüstenmäuse hingegen eine helle Farbe haben, wirkt weniger wesentlich. Es fragt sich, ob die explikative Variante der Evolutionstheorie, insbesondere die Theorie der Evolution durch Selektion, auch Merkmale erklären kann, die zunehmend essentiell mit Merkmalträgern identifiziert werden. Nehmen wir z. B. das Problem, zu erklären, daß Vögel fliegen. Wesentlich für den Erklärungsversuch ist die Annahme einer Grundpopulation, in der Evolution durch Selektion geschieht, die, um überhaupt "Population" genannt werden zu können, bezüglich einiger Merkmale homogen sein muß, und die, damit die Fragestellung der Evolution durch Selektion einen Sinn macht, bezüglich einiger Merkmale heterogen sein muß. Unsinnig ist es, in der Population der Tiere oder "Flügeltiere" das Auftreten von Vögeln zu erklären: man müßte dazu erläutern, daß z. B. "Flügeltiere", die tatsächlich fliegen können, ceteris paribus "fitter" sind als "Flügeltiere", die nicht fliegen können, womit abgeleitet würde, daß es keine nichtfliegenden Tiere mit Flügeln gäbe, was falsch ist; würde man in der größeren Population der Tiere argumentieren, so würde man ableiten, daß alle Tiere des Fliegens mächtig sein müßten, was ebenfalls falsch ist. Das Explanandum heißt ja auch nur: "es gibt Tiere, die fliegen können", und solch ein Existenz4 Seuferle
50
II. Soziale Selektionstheorie
Explanandum kann mit Fitness-Überlegungen n icht abgeleitet werden, da diese immer die vollständige Verbreitung der Fitness-steigernden Eigenschaft in der betrachteten Population begründen. Lediglich ein "Für-AlleExplanandum" kann mit der Theorie der Evolution dur ch Selektion abgeleitet werden. Damit kann höchstens innerhalb der Population der Vögel begründet werden, daß Vögel fliegen. Dazu muß allerdings geklärt werden, was man unter Vögeln verstehen möchte. Entweder wird die Vogelpopulation durch die Eigenschaft x, y, z, ... definiert, unter denen sich "FliegenKönnen" nicht befindet, und es wird argumentiert, daß unter den mit x, y, z, ... charakterisierten "Vögeln" fliegende Vögel fitter sind, weswegen sie sich alsbald zur Gänze ausgebreitet haben, oder aber "Fliegen-Können" ist eine der Eigenschaften x, y, z, ... und braucht damit mit der Theorie der Evolution durch Selektion nicht erklärt zu werden. Die Existenz fliegender Tiere verliert dann ihren Problemcharakter für die explikative Variante der Evolutionstheorie. Für die mechanistische Variante bleibt die Frage zu klären, wie sich Vögel entwickelt haben, oder wie es zur Entstehung von Vögeln kam: diese Ideen bleiben aber ohne Folgen für Explikationsversuche für diejenigen Eigenschaften, die Vögeln definitorisch zugeordnet wurden, obwohl ansonsten der mechanistischen Variante ein explikatives Pendant zugeordnet werden kann. Die feinsinnigen Differenzierungen hinsichtlich des Wertes evolutionstheoretischer Explikationsversuche sollen nun für ein soziologisches Beispiel wiederholt werden . Explanandum sei die Tatsache, daß es in Jägerund-Sammler-Gruppen kein Privateigentum an Ressourcen (Jagdgebiete, Sammelgebiete, Wasser etc.) gibt. Das Explanans für diese Tatsache, das wir ein gruppenselektionstheoretisches Explanans nennen, weil Evolution durch Selektion in einer Population von Gruppen stattfindet, ist wesentlich einfacher als das vorherige für Tiermerkmale, da die Unterscheidung zwischen Gen- und Individuenfitness entfällt. Es lautet: 1. Jäger-und-Sammler-Gruppen ohne Privateigentum an Ressourcen haben
eine größere Fitness als Gruppen mit Privateigentum.
2. Wenn eine bestimmte Ausprägung eines Merkmals die Fitness einer Gruppe positiver als eine alternative Ausprägung des Merkmals beeinflußt, breitet sich diese Merkmalausprägung in der Menge der Gruppen aus. Die einzige Bedeutung von Fitness, die dieses Explanans zu einer korrekten Erklärung des Explanandums macht, ist -wie bei den Genen - die Überlebenswahrscheinlichkeit oder besser die "expected time to extinction" , ETE. Daß Merkmale, die Gruppen länger existieren lassen oder unwahrscheinlicher untergehen lassen, auf Dauer in der Menge der Gruppen häufiger anzutreffen sind, ist eine analytische Wahrheit, die aus der Definition der verwendeten Begriffe und einer zusätzlichen Annahme über "soziale Verer-
3. Verschiedene Selektionstheorien
51
bung" - siehe unten - folgt. 6 9 Bei jeder anderen Definition von GruppenFitness- Wirtschaftskraft, Gesundheit der Menschen, politische Stabilitätmüßte zusätzlich eine Korrelation dieser Auslegung von Fitness mit der Gruppenüberlebenswahrscheinlichkeit behauptet werden, damit das Explanandum aus dem Explanans logisch folgt. Was allerdings versteht man unter dem "Überleben" einer Gruppe? In welchem Sinne "überlebten" Frankreich oder die Schweiz, "überlebten" hingegen nicht das Königreich Sizilien, das osmanische Reich, Estland, Litauen? Diese Frage wird von Soziobiologen und von Soziologen, die mit der evolutionstheoretischen Terminologie sympathisieren, wiederholt angeschnitten: 70 ich werde sie in V, 1 etwas genauer ansprechen und vorschlagen, Gruppen-Überleben recht pragmatisch als Abwesenheit von Aussterben, "Geschluckt"-Werden oder AufgeteiltWerden einer Gruppe zu definieren. Auch für das gruppenselektionstheoretische Explanans stellt sich die Frage, woher wir wissen, daß Jäger-und-Sammler-Gruppen "fitter" sind, wenn sie kein Eigentum an Ressourcen einführen. Der Test über das Explanandum durch Überführung der Explanans-Aussage mit dem theoretischen Term "Fitness" in eine prüfbare Aussage über beobachtbare Merkmale von Jägern und Sammlern würde die Erklärung, wie oben erläutert, zirkulär machen. Gefragt sind also "theoretische" Überlegungen zum Ressourceneigentum bei Jägern und Sammlern. So mag es möglich sein, zu zeigen, daß gewisse Aspekte der Gruppen-Fitness ceteris paribus von der Abwesenheit von Ressourceneigentum günstig berührt werden: z. B. spart man die Ressourcen zur Einteilung und Kontrolle des Privateigentums an Ressourcen. Mag es auch noch so einleuchtend und empirisch untermauert sein, daß Privateigentum an Ressourcen bei Jägern und Sammlern ceteris paribus alle möglichen Determinanten von Fitness schwächt, so muß noch zusätzlich angenommen werden, daß alle Aspekte der Beeinflussung der Gruppen-Fitness durch Ressourceneigentum beachtet wurden, um zu folgern, daß Gruppen ohne Eigentum an Ressourcen insgesamt fitter als andere Gruppen sind -eine Annahme, die nie bewiesen werden kann. 3. Genselektion, Verwandtschaftsselektion, Gruppenselektion und Kulturselektion
Während das Phänomen der Evolution durch Selektion auf der Genotypenebene und auf der Phänotypenebene allgemein akzeptiert wird, ist die Vorstellung von Selektion auf der Ebene von Gruppen neuer und umstrittener. 69 Die zweite Aussage des Explanans folgt - wie Lewontin sagt - aus den "Prinzipien" der Variation, der Selektion und der Vererbung: Richard C. Lewontin: Adaptation, Scientific American 239, 1978, S. 156- 169. 70 Krimbas, S. 41.
4'
52
II. Soziale Selektionstheorie
Gruppenselektion ist nicht zuletzt deshalb umstritten, weil es mehrere Prozesse gibt, die so genannt werden können. Als soziale Gruppenselektionstheorie möchte ich die Vorstellung bezeichnen, daß Gesellschaften, die hinsichtlich vieler Merkmale variieren, ständig in Kampf und Wettbewerb stehen, und Gesellschaften mit Merkmalen, die sie in der Auseinandersetzung mit anderen Gruppen stärken, überleben. Als biologische Gruppenselektionstheorie möchte ich die Vorstellung bezeichnen, daß Merkmale von Phänotypen nicht nur durch Genselektion erklärt werden können, sondern auch damit, daß bestimmte Merkmale von Phänotypen die Gruppen, in denen Phänotypen zusammenleben, besonders überlebensfähig machen, wodurch sich diese Merkmale von Phänotypen verstärkt ausbreiten, eben weil diese Gruppen zusammenlebender Individuen weniger wahrscheinlich untergehen. Zudem kann Gruppenselektion noch mit der sogenannten Kulturselektion in Verbindung gebracht werden. Kulturselektion bezeichnet ursprünglich eine Theorie der Evolution, die nicht durch Variation, Selektion und Vererbung arbeitet, sondern durch Variation, Selektion und Lernen oder Imitation. Merkmale breiten sich also nicht genetisch aus, sondern sozial durch Lernen oder Imitieren. Die Logik der Evolutionstheorie und insbesondere ihrer hier betrachteten explikativen Variante wird von dieser Alternativannahme bezüglich des Ausbreitungsmechanismus von Merkmalen in keiner Weise berührt. Genselektionstheorie und Kulturselektionstheorie sind sogar in vielen Konstellationen empirisch ununterscheidbar. Die soziale Gruppenselektionstheorie in Verbindung mit Kulturselektion würde beinhalten, daß sich Merkmale von Gesellschaften - Institutionen, Gesetze, Normen - auch durch Imitation verbreiten. Insbesondere könnte man eine Neigung von Gesellschaften zur Imitation der Institutionen erfolgreicher Gesellschaften annehmen, was eine besonders rasche und wirksame Ausbreitung Fitness-maximierender Institutionen unter Gesellschaften begründen würde. Auch die bloße Neigung zur Imitation anderer Gesellschaften würde eine positive Selektion Fitness-maximierender Institutionen erklären: die Überlebenswahrscheinlichkeit steigernde Institutionen können länger imitiert werden als Institutionen, die die Überlehenswahrscheinlichkeit einer Gesellschaft verringern - einfach weil sie im Mittel länger sichtbar sind - und werden, sofern man keine komplizierten Annahmen über gesellschaftliches Imitieren (sogenannte soziale Diffusion) trifft, folglich mehr imitiert. Ohne jegliche Annahmen über Lernprozesse zwischen Gesellschaften bezüglich gesellschaftlicher Institutionen müßte die soziale Gruppenselektionstheorie das Problem, daß es in ihr kein natürliches Pendant zur Vererbung der Genselektionstheorie gibt, derart lösen, daß sie sehr weitgehende Institutionenremanenz in Gesellschaften postuliert- eine sehr weitgehende Neigung zur Beibehaltung gegebener Institutionen - , so daß
3. Verschiedene Selektionstheorien
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Gesellschaften mit nicht adaptierten Institutionen untergehen, Gesellschaften mit sehr gut adaptierten Institutionen überleben, und folglich auf Dauer dominierende Institutionen als Fitness-maximierende Institutionen erklärt werden können. Lediglich der mögliche empirische Befund, daß Gesellschaften in gänzlich chaotischer Weise ihre Normen, Gesetze und Institutionen ändern, würde es trotz des Bestehens von Variation und Selektion unmöglich machen, gegebene Normen, Gesetze und Institutionen als Fitness-maximierend zu erklären. Ansonsten kann soziale Gruppenselektion nur in Verbindung mit irgendeinem Element von "Kultur" existieren, das "soziale Vererbung" leistet, sei es als bloße Tradition, sei es als zwischengesellschaftliches Lernen. F. A. Hayek hat sich in den letzten Jahren wohl mit am pointiertesten zu einer sozialen Gruppenselektionstheorie bekannt. Als Vorläufer in dieser Denkweise zitiert er den Engländer Carr-Saunders aus seinem Buch "The Population Problem" von 1922 mit dem Satz: "Those groups practising the most advantageaus customs will have an advantage in the constant struggle with adjacent groups." 71 Nach Hayek haben sich die beiden unsere Gesellschaftsordnung bestimmenden Moralelemente "Familie" und "Sondereigentum" auf gruppenselektionstheoretischem Wege durchgesetzt, da sie den Gesellschaften, die sie annahmen, zu stärkerer Vermehrung verholfen hätten.72 An anderer Stelle schreibt Hayek: "The individual may have no idea what this overall order is that results from his observing such rules as those concerning kinship and intermarriage, or the succession of property, or which function this overall order serves. Yet all the individuals of the species which exist behave in that manner because groups of individuals which have thus behaved have displaced those which did not do so." 73 Die beiden Zitate legen eine eigenartige Mischung von Gruppen-, Kultur- und Genselektionstheorie dar. Es scheint, als glaube Hayek, daß Individuen in erfolgreichen Gesellschaften deren institutionelle Merkmale wie Verwandtschaft, Heirat, Eigentum verinnerlichten, sich aufgrund des Lebens in Gruppen mit gut adaptierten Institutionen stärker vermehrten, als andere Individuen, und auf diese Weise zur Verbreitung der erwähnten Institutionen beitrügen. Das erinnert an Lamarcks Theorie der Vererbung erworbener (im Leben erlernter) Merkmale, die nur noch dogmengeschichtliche Bedeutung hat. 74 Hayek kann seine Idee aber dahingehend aufrechterhalten, daß institutionelle Merkmale wie Verwandtschaft, Heirat und Eigentum durch 71 Alexander Carr-Saunders: The Population Problem. A Study in Human Evolution, Oxford 1922, S. 223 . 72 Friedrich A. Hayek: Evolution und spontane Ordnung, Vortrag am 5. 7. 1983, Sonderdruck der Bank Hoffmann AG, Zürich, Zürich 1983. 73 Friedrich A. Hayek: Notes on the Evolution of Systems of Rules of Conduct, in: Friedrich A. Hayek: Studies in Philosophy, Politics and Economics, London 1967, S. 66- 81, ZitatS. 70. 74 Krimbas, S. 13- 16.
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II. Soziale Selektionstheorie
soziales Lernen vermittelt werden. Erfolgreiche Gesellschaften, gekennzeichnet durch eine stärkere Menschenvermehrung, erhalten sich ihre institutionellen Merkmale und verbreiten ihre Merkmale dergestalt, daß ihre zahlreicheren Menschen mit den ihnen eigenen Überzeugungen über wünschenswerte soziale Institutionen mehr imitiert werden und mehr lehren einfach weil sie zahlreicher sind - als die Menschen aus anderen Gesellschaften. Hayeks soziale Selektionstheorie verbindet also- nach dem vorangestellten Zitat - Gruppenselektion mit Kulturselektion auf Phänotypenebene. Letztlich ist es nicht entscheidend, ob man alternativ mit Gruppenselektion und mit Kulturselektion auf Gruppeneb-ene (wie oben) argumentiert: es ist irrelevant für die explikative Variante der Evolutionstheorie, da die Erklärung gesellschaftlicher Institutionen unverändert dadurch erfolgt, daß man ihre Gruppen-Fitness maximierende Wirkung beweist, es ist aber relevant für die mechanistische Variante der Evolutionstheorie, da der detaillierte dynamische Ablauf von Evolution von der tatsächlichen Ebene von Imitation und Lernen- Menschen oder Gruppen- bestimmt wird. So viel zu einer Variante mechanistischer und explikativer Evolutionstheorie, die ich als soziale Gruppen- und Kulturselektionstheorie charakterisieren würde. Die Anreicherung der Genselektionstheorie zur Erklärung von Phänotypenmerkmalen um Elemente sozialen Lernens - um Kulturselektion- kann man in Anlehnung an Boyd und Richerson "dual inheritance theory" nennen 75 und in Anlehnung an viele andere Autoren- u. a. William H. Durharn ·- "coevolutionary theory". Durharn schreibt: "Changes in phenotype are thougt to result most commonly from individual-levelnatural selection (together with some forms of kin and group selection), which acts to preserve those genotypes that direct the formation of phenotypes best suited to the prevailing conditions ... Particularly in human beings, however, there is an important nongenetic or cultural component of phenotypes."76 Natürlich lassen sich die Fähigkeit und die Neigung von Menschen zum Lernen, Imitieren und zum Lehren ihrerseits als genetisch geprägt darstellen. So fragt Durham, wie es auf genetischem Wege zur Entwicklung einer "capacity for culture" kam.77 Man kann sich das nur so vorstellen, daß die Fähigkeit von Phänotypen zur Imitation, zur Verarbeitung von Erfahrungen anderer und zum Lernen genetisch positiv selektiert wurde - was durchaus plausibel klingt. Überdies wirken Genselektion und Kulturselektion bezüglich menschlicher Merkmale theoretisch betrachtet in die gleiche Richtung: Merkmale, die die Überlebenswahrscheinlichkeit von Phänoty75 Robert Boyd und Peter J. Richerson: Sociobiology, Culture and Economic Theory, in: Journal of Economic Behavior and Organisation 1, 1980, S. 97 - 121. 76 William H. Durham: Toward a Co-evolutionary Theory of Human Biology and Culture, in: Arthur L. Caplan (ed.): The Sociobiology Debate, New York 1978, S. 428448, Zitat auf S. 428. 77 Durham, S. 429.
3. Verschiedene Selektionstheorien
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pen steigern, ermöglichen es, daß diese Phänotypen länger imitiert werden und sich folglich auf dem Wege des Abschauens ausbreiten, wohingegen Merkmale, die Phänotypen weniger lange leben lassen, nicht so lange zur Imitation einladend beobachtbar bleiben. Also breiten sich überlebensdienliche Merkmale auf dem Wege sozialen Lernens aus. Neben anderen Überlegungen, die mir weniger einleuchten- z. B. der Vermutung, die Bereitschaft zum Lernen wäre für bestimmte Merkmale genetisch vorgeprägt-ist das die wichtigste Kraft, von der Durharn sagt, daß sie dafür verantwortlich sei, "to keep culture on track of the adaptive optima. " 78 Zu derselben Fragestellung schreiben Boyd und Richerson: "In the case of cultural traits aquired by young children, culture behaves so much like genes that the heritable variance each causes is almost impossible to separate. The controversy over the genetic versus cultural determination of I. Q. isaprominent example. " 7 9 Die entscheidende Frage ist natürlich die nach der relativen Wirksamkeit von Gen- und Kulturselektion. Wenn Kulturselektion nur, wie oben beschrieben, durch wahlloses Imitieren arbeitet, dürfte sie nicht viel schneller sein als Genselektion. Wenn Individuen darüber hinaus dazu neigen, bevorzugt solches Verhalten nachzuahmen, das sie für Fitness-steigernd halten oder das aufgrund gewisser Indizien Fitness-förderlich zu sein scheint, nimmt das Tempo der Ausbreitung Fitness-maximierender Eigenschaften durch Kulturselektion deutlich zu - und eine genetische Selektion hin zur Nachahmung Fitness-positiven Handeins wäre ja sehr plausibel. Allerdings darf man auch das Tempo der genetischen Vererbung bei Menschen nicht unterschätzen: I.M. Lerner schätzt, daß derzeit nur ein Drittel der Bevölkerung einer Generation zwei Drittel des Genpools der kommenden Generation bestimmt. 80 Eine Reihe von Experimenten wird als Beleg für die Aussage angeführt, daß einige Züge menschlichen Verhaltens auch genetisch geprägt seien: dazu gehören in erster Linie die Zwillingsexperimente, die bei gleichgeschlechtlichen eineiigen Zwillingen wesentlich auffälligere Verhaltensähnlichkeiten als bei gleichgeschlechtlichen zweieiigen Zwillingen belegen, so bezüglich der Verhaltensmerkmale Extrovertiertheit-Introvertiertheit, Sprachbeherrschung, Gedächtnis, Motorik, Lernschnelligkeit, Homosexualität, Neigung zu Neurosen und Psychosen und Neigung zum Alkoholismus. 81 Außerdem wurde festgestellt, daß der Mensch für die Erlernung gewisser Phobien eine Art Vorprägung zu haben scheint, so etwa für Phobien vor Schlangen, Spinnen und Ratten, während es sich als schwierig erwies, ihm Phobien gegen Küchenmesser oder Elektrogeräte beizubringen, Durham, S. 433. Boyd und Richerson, S. 106. 80 Peter A. Corning: Politics and the Evolutionary Process, in: Evolutionary Biology, Volume 7, New York 1974, S. 253- 294, zitiert Lerner aufS. 277. 81 Edward 0 . Wilson: Biology and the Social Sciences, in: Da edalus 106, 1977, S . 127- 140, aufS. 133. 78
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li. Soziale Selektionstheorie
die unter Umständen ebenfalls gefährlich sind.B 2 Schließlich hat man bei Kibbutz-Kindern beobachtet, daß es im geschlechtsreifen Alter fast nie zu sexuellen Kontakten zwischen den Kindern kommt, die zusammen aufgewachsen sind.83 Diese Abneigung vor sexuellen Kontakten mit frühkindlichen Spielgenossen kann als genetische Prägung zur Vermeidung von Bruder-Schwester-Inzest interpretiert werden, der im gegebenen Fall allerdings nicht vorgelegen hätte. Für die vorliegende Arbeit ist es müßig, die relative Wichtigkeit von Kultur- und Genselektion ausführlich zu diskutieren: dabeidein dieselbe Richtung wirken, ist es für die betrachtete explikative Variante der Evolutionstheorie, die Theorie der Evolution durch Selektion belanglos, mit welcher Art von "Vererbung" sie gegebene Merkmalausprägungen erklärt: eben mit irgendeiner Mischung, mit sogenannter Koevolution, das genügt für hier verfolgte Zwecke. Das gilt so nicht für die Debatte über die relative Wichtigkeit von Gruppen- und Genselektionstheorie, die häufig in entgegengesetzte Richtung wirken, wie folgende Überlegung demonstriert. Wenn Tiere dazu neigen, in kleinen Gruppen von einigen wenigen "Familien" zu leben, wie das für viele Säugetiere und auch für Primaten und den frühen Menschen zutrifft, kann man sich vorstellen, daß Gruppen, die ihre Umwelt effizienter nutzen, die in Kämpfen mit konkurrierenden Arten erfolgreicher sind, oder die gar in Kämpfen mit anderen Gruppen derselben Art siegreich sind, positiv selektiert werden. Angenommen, Hilfsverhalten des einzelnen, das paradigmatisch definiert sei und unter dem Begriff "Altruismus" zusammengefaßt werden soll, hälfe einer Gruppe zum Erfolg im Kampf gegen andere Lebewesen und gegen die Natur. Dann folgt, daß Gruppen mit vielen Altruisten erfolgreicher sind als Gruppen mit wenigen Altruisten und damit länger überleben und positiv selektiert werden. Kann man daraus nun folgern, daß sich Altruismus durch Gruppenselektion allgemein verbreitet, weil altruistische Tiere ihren Gruppen zu weniger wahrscheinlichem Aussterben verhelfen, und damit auch ihrerseits wahrscheinlicher überleben und sich wahrscheinlicher vermehren können und die Eigenschaft des Altruismus vererben können? Nichts spricht gegen diese Folgerung. Aber: auch in Gruppen mit vielen Altruisten gibt es einige Egoisten. Auch die Egoisten profitieren davon, daß die Gruppe durch altruistische Taten wahrscheinlicher überlebt- auch sie überleben länger. Zudem haben sie innerhalb der Gruppe die Chance, durch egoistisches Verhalten länger zu überleben und sich stärker zu reproduzieren als die Altruisten. Sie werden also durch Genselektion immer zahlreicher werden- innerhalb der Gruppe immer zahlreiWilson, S . 135. Joseph Shepher: Mate Selection Between Second Generation Kibbutz Adolescents and Adults, Archives of Sexual Behavior 1, 1971, S. 293ff. 82
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eher werden-, gleichzeitig durch Gruppenselektion, wenn sie sehr zahlreich geworden sind, im Wettbewerb mit altruistischeren Gruppen sich wiederum in ihrem Fortbestand gefährden. Die biologische Debatte dreht sich um die Frage, ob Gruppenselektion, die zweifelsohne logisch betrachtet existiert, in der Realität stark genug wirken kann, um gegen die ihr in der beschriebenen Weise typischerweise entgegengerichtete Selektion auf Genotypenebene überhaupt sichtbar oder empirisch relevant zu werden. Maynard Smith schreibt: "Group selection will have evolutionary consequences; the only question is how important these consequences have been. If there are genes which, although decreasing individual fitness, make it less likely that a group (deme or species) will go extinct, then group extinction will influence evolution. It does not follow that the influence is important enough to play the role suggested for it by some biologists. " 84 Es existieren einige Modelle zur Simulation des gemeinsamen Wirkens von Gruppen- und Individuenselektion. Gilpin etwa nahm für eine in Gruppen auf viele Territorien verteilte Population irgendeines jagenden Tieres an, daß ein Gen für "prudence" existiere, das die Räuber davon abhalte, sich stark zu vermehren und ihre eigenen Ressourcen übermäßig auszubeuten.S 5 Gruppen in Territorien, in denen "prudence" weitverbreitet ist, überleben länger als solche Gruppen, in denen man weniger enthaltsam und klug ist und die Beutetiere extensiv jagt, was zu Jäger-Beute-Zyklen führen kann, die regelmäßig auch die Gefahr einschließen, daß Jäger- und Beutetiere im betrachteten Territorium gänzlich aussterben. Gruppenselektionstheoretisch wird das Gen für "prudence" also positiv selektiert, während es individualselektionstheoretisch negativ selektiert wird, weil unkluge Individuen sich nicht in der Vermehrung zurückhalten, um auf die begrenzten Ressourcen Rücksicht zu nehmen. Gilpin zeigt, daß bei halbwegs vernünftigen Annahmen über Gruppengröße, Intergruppenmigration und über die Wahrscheinlichkeit, daß Jäger-BeuteZyklen zum Aussterben der J äger führen, das altruistische Gen "prudence" sich gegen sein Allel im Genpool behaupten kann, Gruppenselektion also wirksam ist. In Zusammenfassung anderer Modelle schreibt Maynard Smith: ". . . these models ... confirm the logical possibility of group selection, but show that the population structure in time and space required for its Operation is of a kind which may berather infrequent in practice."86 Interessanterweise spricht Gilpin mit der Problematik der freiwilligen Populationskontrolle einer Art zum Erhalt ihrer Lebensgrundlage die Frage an, die die Gruppenselektionstheorie sozusagen begründete. V. C. WynneEdwards, der mehr als jeder andere Biologe mit der Gruppenselektionstheorie in Verbindung gebracht wird, stellte 1962 in seinem Buch "Animal 84 John Maynard Smith: Group Selection, in: The Quarterly Review of Biology 51, 1976, S . 277- 283, aufS. 277. 85 M. E. Gilpin: Group Selection in Predator-Prey Communities, Princeton 1975. 86 Maynard Smith, Group Selection, S. 280.
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II. Soziale Selektionstheorie
Dispersion in Relation to Social Behaviour" 87 folgende Überlegung an: jede Art in einem Gebiet ist mit dem Problem konfrontiert, daß die kurz- und mittelfristig mögliche Populationsdichte - bei Überausbeutung der Ressourcen - die langfristig mögliche Populationsdichte übersteigt. Will eine Art nicht ihr Aussterben durch Überausbeutung ihrer Ressourcen riskieren oder zumindest nicht in ausgeprägten Massewechseln vorkommen, was sich ja bei manchen Arten, oft sogenannten Schädlingen, beobachten läßt, so muß die kurz- und mittelfristig scheinbar mögliche Vermehrung verhindert werden. Das geschieht nach Wynne-Edwards im wesentlichen durch Dominanzhierarchien und Territorialverhalten. Letzteres bedeutet, daß ein Tier oder eine Tiergruppe unabhängig von der Besiedlungsdichte ein bestimmtes Gebiet als Jagd- und Futterreservat, als Schutz- und Rückzuggebiet, als Aufzuchtgebiet der Jungen oder als Ort sexueller Begegnung gegen Artgenossen verteidigt. Zudem finden Individuen, die kein Revier oder Territorium besitzen, oft auch keinen Partner zur Fortpflanzung.aa Untergruppen einer Art, die Territorialverhalten zeigen, kontrollieren auf diesem Wege ihre Populationsdichte und verhindern eine Vermehrung, die ihnen langfristig zum Schaden gereicht, weil sie ihre eigene Nahrungsgrundlage zerstört: folglich werden sie sich als die "fitteren" ausbreiten, und folglich läßt sich das bereits seit Ende des letzten Jahrhunderts von Biologen entdeckte TerritorialverhaltenB9 vieler Tiere gruppenselektionstheoretisch als verkappte Geburtenkontrolle erklären. Das gleiche gilt für Dominanzhierarchien, die im allgemeinen damit verbunden sind, daß der Unterlegene akzeptiert, daß er sich nicht, oder nur bei Duldung des Überlegenen, fortpflanzen darf, womit auch auf diesem Wege mögliche Vermehrung verhindert wird und eine gruppenselektionstheoretische Erklärung von "Hackordnungen" abgeleitet werden kann. Wynne-Edwards ging soweit, in diesen Konventionen, die er als Konventionen der Populationskontrolle interpretierte, sogar den Ursprung des Phänomens "Gesellschaft" überhaupt zu erblicken. Inzwischen wurden aber auch individual-selektionstheoretische Ideen zur Erklärung von Territorialverhalten und Dominanzhierarchien beigetragen. go Nach anfänglichen Erfolgen scheint mir, daß sich die Gruppenselektionstheoretiker inzwischen in der Defensive befinden. Eine neue Variante möglicher Selektionsebenen ist die 1964 von W. D. Rarnilton vorgestellte Verwandtschaftsselektion (kin selection).91 Rarniltons 87 Vero C. Wynne-Edwards: Anima! Dispersion in Relation to Social Behaviour, Edinburgh 1962. 88 Robert Ardrey: Der Gesellschaftsvertrag, München 1974, S. 178- 179. 89 Dazu Edward 0 . Wilson: Sociobiology. The New Synthesis, Cambridge, Mass. 1975, s. 260. 90 Dawkins, S. 129- 144. 91 W. D. Hamilton: The Genetical Theory of Social Behaviour (I und II), Journal of Theoretical Biology 7, 1964, S. 1 - 16 und 17- 32.
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Beitrag kann heute mit mehreren anderen Gedankengängen in die Reihe der (sozio-)biologischen Altruismus-Theorien gestellt werden, die ich in IV, 1 näher referieren werde. Die Idee ist die folgende: ein Gen für Altruismus, etwa für die Rettung eines gefährdeten Artgenossen unter Inkaufnahme eigener Lebensgefahr, wird im Prinzip negativ selektiert, weil es die Überlebenswahrscheinlichkeit des Retters verringert und dürfte deshalb höchstens als Mutation auftreten. Wenn jemand, der dieses Gen hat, allerdings unter eigener Lebensgefahr einen Verwandten rettet, dann besteht eine gute Wahrscheinlichkeit, daß dieser Verwandte ebenfalls Träger des Gens für Altruismus ist. Für Geschwister beträgt diese Wahrscheinlichkeit, der sogenannte Verwandtschaftsgrad, definiert als die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Verwandte ein Gen gemeinsam haben, 0,5. Bei Geschwistern hat der Gerettete also mit der Wahrscheinlichkeit 0,5 dasselbe Gen für Altruismus wie der Retter. Nun mag die Rettungsaktion manchmal erfolgreich sein, d. h. Retter und Geretteter überleben, wo zuvor der Gefährdete starb. Die Überlebenswahrscheinlichkeit von Phänotypen, die also ein auf Verwandte begr enztes Altruismusgen haben, ist höher als die von Phänotypen, die sich nicht unterstützen. Folglich wird ein Gen zur Verwandtenunterstützung positiv selektiert, wenn man davon ausgeht, daß Rettungsaktionen nicht grundsätzlich für Retter und Zu-Rettenden tödlich verlaufen. Wie Dawkins sehr anschaulich schildert, würde sich z. B. nach derselben Logik ein Gen für Albinismus in dem Fall zunehmend ausbreiten, daß es mit der Anweisung an den Albino gekoppelt wäre, Hilfsverhalten ausschließlich gegen andere Albinos zu üben. 92 Natürlich sind diese Selektionstheorien auch für die Erklärung menschlicher Eigenschaften relevant. Altruistisches Verhalten des Menschen kann man versuchen, mit Gruppenselektion, Verwandtschaftsselektion und Individualselektion zu erklären. Die Neigung des Menschen, für Wechselfälle des Lebens vorzubeugen, z. B. durch Erwerb von contingent claims, ist individualselektionstheoretisch begründbar. Gruppenselektionstheoretisch mag man meinen, sie würde wegen des nachlassenden Aufwands zur Schadensvermeidung negativ selektiert, oder man mag argumentieren, die Neigung zur Vorbeugung gegen Schäden werde wegen der Möglichkeit zur Risikoverteilung, die sie eröffnet und die unternehmerisches Tun rationaler macht, positiv selektiert. Für eine freie Wirtschaftsordnung, in der durch das Wirken des Marktes eine bestimmte Produktionsstruktur und eine bestimmte Verteilung der Güter auf die Menschen zustande kommt, kann man fragen, welche Präferenzen der Menschen, die ja die Produktionsstruktur determinieren, zu einer die Gruppen-Fitness maximierenden Produktionsstruktur führen. Starke Präferenzen für Alkohol und für gefährliche Sportarten, hingegen geringe Präferenzen für äußere Sicherheit, Gesundheitsvorsorge und 92
D awkins, S . 105 f.
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II. Soziale Selektionstheorie
Katastrophenprophylaxe führen bei freier Wirtschaftsordnung z. B. vermutlich nicht zu einer die Gruppen-Fitness maximierenden Produktionsstruktur. Die Gruppenselektion wirkt in der sehr langen Frist auf solche menschlichen Präferenzen hin, welche die Gruppen-Fitness maximieren, sofern immer eine Wirtschaftsordnung vorliegt, die die Produktion nach individuellen Präferenzen ausrichtet. Allerdings dürfte die Prägung von Präferenzen durch Genselektion und Kulturselektion so viel schneller und wirksamer geschehen, daß dieses Wirken der Gruppenselektion auf menschliche Präferenzen de facto völlig belanglos ist. Um zusammenzufassen: Kandidaten für die evolutions- oder selektionstheoretische Erklärung von Genotypenmerkmalen, Phänotypenmerkmalen und Gruppenmerkmalen sind Genselektion, Verwandtschaftsselektion, Gruppenselektion und Kulturselektion.
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Die ursprünglichste und einfachste biologische Erklärung von Phänotypenmerkmalen geschieht über die Genselektion auf Genotypenmerkmale, die ihrerseits den Phänotyp determinieren (Pfeile 1. a und 2). Eine etwas kompliziertere Betrachtung ergibt sich, wenn man Genotypenmerkmale auch durch Verwandtschaftsselektion und Gruppenselektion erklärt (Pfeile 1. b und l.c). Schließlich ist es möglich, daß Phänotypenmerkmale auf die Genselektion zurückwirken, d. h. je nach Ausbreitung gewisser Phänotypen andere Gene Fitness-maximierend wirken, oder, mit anderen Worten, die Fitness von Genen dichteabhängig oder- wie man im englischen sagt- frequency-dependent ist (Pfeil 3). Diese Idee führt zu sogenannten evolutionär stabilen Strategien, die später breiten Raum einnehmen werden (Abschnitt IV, 3. b). Weiterhin können Phänotypenmerkmale auch auf direktem Wege ohne den Umweg über Genotypen- von der sogenannten Kulturselektion geprägt werden (Pfeil4). Die einfachste Erklärung von Gruppenmerkmalen erfolgt über Gruppenselektion in Verbindung mit Kulturselektion, wobei letztere entweder als zwischengesellschaftliches Imitieren oder als bloße Tradition wirkt (Pfeile 5 und 6). Natürlich ist es wieder möglich, daß Gruppenmerkmale auf die Gruppenselektion zurückwirken, indem die Fitness von Gruppenmerkmalen davon abhängt, wie weit das betreffende Merkmal bereits unter Grup-
3. Verschiedene Selektionstheorien
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pen verbreitet ist (Pfeil 7). Weiterhin darf man nicht vergessen, daß Gruppen aus Individuen bestehen, und die Merkmale dieser Individuen ihrerseits die Merkmale der Gruppe mitbestimmen (Pfeil 8). Rückwirkend ist auch zu beachten, daß je nach Ausprägung gewisser Gruppenmerkmale ganz verschiedene menschliche Merkmale Fitness-maximierend sein können und positiv selektiert werden: Gruppenmerkmale wirken also auf die Genselektion zurück (Pfeil 9), die ihrerseits Phänotypenmerkmale prägt (Pfeile 1. a und 2). 93 Neben den elf betrachteten Wirkungen gibt es noch weitere, weniger bedeutsame Effekte. Tatsächlich werden Genotypen-, Phänotypen- und Gruppenmerkmale also direkt oder indirekt von jeder der vier Selektionen und ebenfalls von den beiden jeweils nicht betrachteten Merkmalen geprägt. Sämtliche hier explizierten Wirkungen werden im folgenden beachtet. Es ist zuzugeben, daß die Vielzahl möglicher Wirkungen zu einer gewissen Immunisierung der Theorie der Evolution durch Selektion beiträgt, da ein findiger Theoretiker fast jedes Merkmal durch geschicktes Gruppieren von Selektionsebenen, Vererbungsmechanismen, Rückwirkungen und Wirkungen zwischen Merkmalen begründen kann. Deshalb müßte man noch viel ausführlicher, als das hier geschehen konnte, begründen, unter welchen Konstellationen welche Wirkungen in welcher Kombination legitimerweise zur Erklärung von Merkmalausprägungen herangezogen werden dürfen. In Abwesenheit eines dieses Problem klärenden Werkes verbleibt ein Rest von Intuition bei der Beurteilung der "Adäquatheit" einer vorliegenden komplizierten selektionstheoretischen Erklärung einer Merkmalausprägung.
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Hayek, Notes on the Evolution . .. , S. 71.
111. Sozialstaat als Handel mit contingent claims Im folgenden wird eine abstrakte Betrachtungsweise des Sozialstaats entwickelt, die einerseits zu der Ambition "grundlegenden" Räsonierens über den Sozialstaat paßt und andererseits eine Verbindung der Theorie des Sozialstaats (darin eingeschlossen der Sozialpolitik) mit einer recht jungen Gattung der ökonomischen Theorie, der Unsicherheitsökonomik, herstellt. Es soll nämlich gezeigt werden, daß sämtliche sozialstaatliehen Paradigmen als Handel mit contingent claims aufgefaßt werden können. Dabei denke ich an folgende Liste von Gesetzen, Institutionen, Regelungen und privaten Verhaltensweisen, die man als Elemente oder als Paradigmen des Sozialstaats bezeichnen könnte: Sozialversicherung, Teile der Privatversicherung, private Wohltätigkeit (interfamiliär und intrafamiliär), Sozialhilfe, BAFöG, steuerliche Förderung privater Versicherung, Arbeitsförderung (Beratung, Fortbildung, Umschulung), Arbeitgeberentgeldfortzahlung, betriebliche Altersversorgung, öffentlicher Gesundheitsdienst, sozialer Wohnungsbau, Zwang zur Kfz-Haftpflichtversicherung, Versorgung von Kriegsversehrten, Flüchtlingen, Heimkehrern, Kriegshinterbliebenen, Evakuierten, Vertriebenen, politisch Verfolgten, Katastrophenhilfe, Vermögensbildungspolitik (Spar- und Bausparförderung), Steuerrecht (Tarife und Vergünstigungen vor allem in der Einkommen- und Vermögensteuer), Tarifvergünstigungen und Tarifdifferenzierungen bei öffentlichen Gütern und Diensten, kostenfreie Gewährung einiger öffentlicher Güter und Dienste, Familienlastenausgleich (unter anderem Kindergeld), Wohngeld, Schadensrecht (Haftpflicht), Schutzgesetzgebung (Arbeitszeit, Betriebsgefahren, Betriebshygiene, Kündigung; personenbezogen: Arbeitnehmer, Frauen, Mütter, Schwangere, Jugendliche, ältere Arbeitnehmer, Behinderte, Mieter). Diese Liste folgt nicht aus übergeordneten Prinzipien, weswegen ihre Vollständigkeit nur pragmatischer Konsens bestätigen kann. Manche Autoren würden diese Liste um weitere Paradigmen des Sozialstaats erweitern: so thematisiert Lampert in seiner "Sozialpolitik" auch Mittelstandspolitik und Mitbestimmung.l Bei dem gegebenen Ansatz dieser Arbeit ist eine genaue Abgrenzung der Menge der sozialstaatliehen Paradigmen sowohl überflüssig, als auch unmöglich, da schon das Wort "Paradigma" ein bewußtes Bekenntnis zur Vagheit des betrachteten Prädikats zum Ausdruck bringt. 1
Heinz Larnpert: Sozialpolitik, Berlin u. a. 1980.
III. Sozialstaat als Handel mit contingent claims
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All diese sozialen Erscheinungen sollen nun - aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet- gleich sein: es handelt sich um freiwilliges, manipuliertes oder erzwungenes Austauschen von contingent claims. In Zukunft werde ich schreiben: um Handel mit contingent claims, wobei das Wort "Handel" von jeglichen technischen Assoziationen tatsächlichen Austausch-Geschehens frei bleiben soll. Handel mit bedingten Ansprüchen oder mit contingent claims bedeutet, daß man statt durch Hergabe von Gegenwartsgütern Gegenwartsgüter zu erwerben (Kauf, Tausch), statt durch Hergabe von Gegenwartsgütern Zukunftsgüter zu erwerben (Kredit), durch Hergabe von Gegenwartsgütern bedingte Ansprüche auf Güter erwirbt, also Ansprüche, die nur bei Eintreten einer Bedingung wirksam werden. Man kann z. B. Ansprüche auf Güter oder auf Geld erwerben für den Fall eines Arbeitsunfalls, für den Fall einer Krankheit, für den Fall eines Diebstahls oder einer Sachbeschädigung oder für den Fall, daß in einer Lotterie bestimmte Zahlen gezogen werden oder daß bestimmte Fußballvereine oder bestimmte Pferde Wettbewerbe gewinnen oder daß die Regierung die nächste Wahl verliert. Wir nennen solche Geschäfte Versicherung, Lotterie oder Wette: Tausch von contingent claims gegen Gegenwartsgüter, Zukunftsgüter oder ebenfalls contingent claims. Dabei ist ein bedingter Anspruch auf ein Gut im Vergleich zu einem sicheren Anspruch auf dasselbe Gut- von der Maklerrendite abgesehen- prinzipiell um so viel billiger, wie es der Multiplikation des sicheren Anspruchs mit der Wahrscheinlichkeit des Eintretens der Bedingung entspricht, da sich sonst im Handel mit contingent claims auf Dauer rentenartige Gewinne erzielen ließen, die weitere contingent-claims-Makler mit geringeren Preisen auf den Markt locken würden. Natürlich betrachten wir nicht jedes Tauschgeschäft mit contingent claimsals sozialstaatliches Paradigma. Transportversicherung, Kreditversicherung, diverse Sachversicherungen, insbesondere private Versicherungen von Luxusgütern oder von irgendwelchen Kuriosa bei Lloyd's in London, sowie Lotterien und private Wetten zählen im allgemeinen nicht dazu. Ebensowenig weite Teile der Versorgung mit staatlich gewährleisteten Gütern (Polizei, Straßen, Oper, Theater, auswärtiger Dienst, Parks, Feuerwehr, Deich, Schulen, Hochschulen, äußere Sicherheit, Bundesbahn und Bundespost: also echte Kollektivgüter und zeitbezogen in einem Land öffentlich produzierte und vertriebene Leistungen), obwohl Distribution und Allokation öffentlicher Leistungen - das wird noch zu zeigen sein- als Handel mit contingent claims begriffen werden können. Zwar ist also jedes sozialstaatliche Paradigma als Handel mit contingent claims darstellbar, aber nicht jeder Handel mit contingent claimshat paradigmatisch mit dem Sozialstaat zu tun.
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III. Sozialstaat als Handel mit contingent claims
Man kann das folgendermaßen veranschaulichen: sozialstaatliche Paradigmen Sozialversicherung
Handel mit contingent claims Teile der Privatversicherung
Teile der Privatversicherung
Wetten und Lotterien
Umverteilung
Teile der Distribution staatlicher Leistungen
Teile der Distribution staatlicher Leistungen Teile der Allokation staatli cher Leistungen
Teile der Allokation staatlicher Leistungen
Schutzregeln und -gesetze private Wohltätigkeit
Ich will nun sozialstaatliche Paradigmen gruppieren, um nicht für jedes einzeln nachweisen zu müssen, daß es aus abstraktem Blickwinkel als Handel mit bedingten Ansprüchen auffaßbar ist. Nach Peter Flora und Arnold J. Heidenheimer lauten die zwei fundamentalen Dimensionen des Wohlfahrtsstaates "security" und "equality" .2 Um das handlungsbezogener auszudrücken, könnte man sagen, sie lauten "Versicherung" und "Umverteilung" . Das typische sozialstaatliche Paradigma vereint Elemente der Versicherung mit Elementen der Beeinflussung der Verteilung: man denke etwa an die Sozialhilfe, die als Zwangsversicherung gegen Verarmung, persönlichen Ruin und Versicherungsnotstand interpretierbar ist, allerdings zu Beiträgen (Steuern), die nicht risikoäquivalent sind und damit umverteilende Wirkung haben. Nun ist es unschwer möglich - und wurde auch schon wiederholt getan - Versicherung und Umverteilung als Handel mit contingent claims zu betrachten: ich will das gleich erläutern. Anschließend werde ich -für staatliche Leistungen wegen vielfältiger theoretischer Implikationen sehr ausführlich- erläutern, wie man Versorgung mit öffentlichen Gütern, Schutzgesetzgebung und Privatwohltätigkeit als contingent-claims-Handel auffassen kann. Mit diesen fünf Sammelkategorien können m. E. alle oben aufgezählten sozialstaatliehen Paradigmen eingefangen werden, die dann ihrerseits wiederum auf eine Dimension reduziert werden. Es liegt auf der Hand, den Versicherungsvertrag als einen Handel mit bedingten Ansprüchen aufzufassen: die Vorbereitung dieser Auffassung von Versicherung, die Arrow im Jahre 1953 offenbar erstmals in dem zunächst in 2 Peter Flora und Arnold J . Heidenheimer: The Historical Core and Changing Boundaries of the Welfare State, in: dieselben (eds.): The Development of Welfare States in Europe and America, New Brunswick und London 1981, S. 17 - 34, aufS. 25.
III. Sozialstaat als Handel mit contingent claims
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französischer Sprache erschienenen Aufsatz "The Role of Securities in the Optimal Allocation of Risk-Bearing" 3 vertrat, bezeichnen Hirshleifer und Riley in ihrem Übersichtsaufsatz zur Unsicherheitsökonomik aus dem Jahre 19794 (neben dem Erwartungsnutzentheorem von von Neumann I Morgenstern aus dem Jahre 1944) als Meilenstein in der Geschichte der Unsicherheitsökonomik. In einem späteren Aufsatz formulierte Arrow sehr klar: "But an insurance is a more subtle kind of contract; it is an exchange of money now for money payable contingent on the occurrence of certain events."5 Aber auch Umverteilung kann als Handel mit contingent claims aufgefaßt und gerechtfertigt werden. Schließlich könnte Einkommensumverteilung so vor sich gehen, daß man sich ex ante- also in sehr jungen Jahren- bei einer Agentur gegen unterdurchschnittliches Einkommen versichert und in dem Fall, daß man später mehr verdient, Teile des Einkommens abgeben muß, während man in dem Fall, daß man weniger verdient, von der Agentur Teile der Differenz zum Durchschnittseinkommen bezahlt bekommt. Um auch hier Arrow, den vielleicht wichtigsten Autor der unsicherheitsökonomischen Literatur zu zitieren: "lt may be useful to remark here that a good part of the preference for redistribution expressed in government taxation and expenditure policies and private charity can be reinterpreted as desire for insurance. "6 Eine ähnliche Auffassung vertraten bereits 1962 James M. Buchanan und Gordon Tullock in "The Calculus of Consent". 7 Auch in einem jüngst erschienenen Aufsatz stellte Hans-Werner Sinn unter Würdigung der Aussagen von Arrow und Buchanan I Tullock fest, daß man Umverteilung Versicherung nennen könne oder daß man Umverteilung als Ergebnis eines Versicherungsprozesses betrachten könne. 8 Die Bereitstellung oder Gewährleistung von öffentlichen Leistungen und die Verteilung von öffentlichen Leistungen können ebenfalls als Handel mit contingent claimsinterpretiert werden. Öffentliche oder staatliche Leistungen seien vorerst mit der obigen Beispielsammlung paradigmatisch defi3 Kenneth J. Arrow: The Role of Securities in the Optimal Allocation of Risk-Bearing, in: derselbe: Essays in the Theory of Risk-Bearing, Amsterdam und London 1970, s. 121- 133. 4 Jack Hirshleifer und John G. Riley: The Analytics of Uncertainty and Information - An Expository Survey, Journal of Economic Literature 17, 1979, S. 1375- 1421, auf s. 1376. 5 Kenneth J . Arrow: Insurance, Risk, and Insurance Allocation, in: derselbe: Essays in the Theory of Risk-Bearing, Amsterdam und London 1970, S. 134. 6 Kenneth J. Arrow: Uncertainty and the Welfare Economics of Medical Care, American Economic Review 53, 1963, S. 941- 973. 7 James M. Buchanan und Gordon Tullock: The Calculus of Consent, Ann Arbor 1962, Kapitel 13. 8 Hans-Werner Sinn: Die Grenzen des Versicherungsstaates theoretische Betrachtungen zum Thema Einkommensumverteilung, Versicherung und Wohlfahrt, in: Hermann Göppl und Rudolf Henn (Hrsg.): Geld, Banken und Versicherungen, Band 2, Königstein/Taunus 1981, S. 907ff.
5 Seuferle
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III. Sozialstaat als Handel mit contingent claims
niert: unten werde ich das Definitionsproblem kurz kommentieren. Im Bereich der Versorgung mit öffentlichen Leistungen stellen sich zwei Fragen: erstens die Frage der Allokation, also die Frage des Vorhandenseins von staatlichen Leistungen, zweitens die Frage der Distribution, also die Frage, wie und insbesondere zu welchen Preisen staatliche Leistungen verteilt werden sollen. Die Distribution staatlicher Leistungen ist ein sozialstaatliches Paradigma, wenn Preisdifferenzierungen oder auch die kostenlose Gewährung sozialpolitisch begründet werden (Schule, Hochschule, sozialer Wohnungsbau), wobei es im einzelnen oftmals nicht möglich ist, eine betriebswirtschaftliche oder eine soziale Motivation empirisch zu trennen (z. B. Sondertarife nach Altersgruppen bei der Bundesbahn). Die Allokation staatlicher Leistungen ist ein sozialstaatliches Paradigma, wenn Einrichtungen erstellt werden, die allgemein mit dem Sozialstaat in Verbindung gebracht werden, etwa Krankenhäuser, Sozialämter oder ein öffentlicher Gesundheitsdienst. Allokation und Distribution von staatlichen Leistungen lassen sich als erzwungener Handel mit contingent claims auffassen. Ich beginne mit der Distribution. Man kann folgendermaßen argumentieren: wir alle haben z. B. den bedingten Anspruch, im Falle eines Feuers kostenlos die Dienstleistung "Löscheinsatz" geliefert zu bekommen, zwangsweise erworben bzw. wir alle sind gegen Feuerwehreinsatzkosten zwangsversichert (wobei die den Ländern zustehende Feuerschutzsteuer auf Feuerversicherungsprämien einen Teil der "Beiträge" ausmacht). Wir alle sind z. B. auch zwangsversichert gegen die Kosten eines Studiums bzw. haben den bedingten Anspruch, kostenfrei studieren zu können, zwangsweise gekauft, wobei die Bedingungen darin liegen, gewisse Voraussetzungen zu erfüllen und überhaupt den Wunsch zum Studium zu haben. Genauso haben wir alle zwangsweise den bedingten Anspruch erworben, zu weit unter Selbstkosten liegenden Tarifen die Oper besuchen zu dürfen - der Kartenpreis könnte als Selbstbeteiligung in dieser "Versicherung" interpretiert werden -, haben uns also gegen kostendeckende Opernbesuchskosten zwangsversichert, wobei der "Schadensfall" hier - anders als bei Feuerwehr- oder Polizeieinsatzkosten - von der puren Lust diktiert wird. Alle ohne spezielles Entgeld oder gegen nicht kostendeckendes Entgeld gewährleisteten öffentlichen Leistungen können analog obiger Beispiele als Zwangsversicherung der Bevölkerung gegen die Inanspruchnahmekosten dieser öffentlichen Leistungen interpretiert werden. Dabei besteht der Anspruch auf kostenfreie oder kostengünstige Inanspruchnahme im allgemeinen nur de facto und nicht in rechtlich verbriefter Form. Wie würde der freiwillige contingent-claims-Handel aussehen bzw. wie könnte ein freiwilliger contingent-claims-Handel organisiert werden, der genau dieselbe Distribution staatlicher Leistungen bewirken würde, wie der erzwungene contingent-claims-Handel? Vergleichsweise einfach war das
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für die anderen Arten von erzwungenem Handel mit bedingten Ansprüchen: der Pflichtversicherung (Sozialversicherung) oder der Versicherungspflicht entspricht die Privatversicherung und der Umverteilung entspräche eine Privatversicherung gegen unterdurchschnittliches Einkommen, die im Falle unterdurchschnittlichen Einkommens Leistungen erbrächte und im Falle überdurchschnittlichen Einkommens Prämien verlangte. Ebenso möglich wäre ein Verkauf von Arbeitsleistungenper Termin noch bevor die speziellen und individuellen Fähigkeiten des Verkäufers von Arbeitsleistungen bekannt wären, wie jüngst Wolfram Engels argumentierte.9 Staatliche Leistungen könnten dergestalt distributiert werden, daß Institutionen wie Feuerwehr, Bundesbahn, Oper, Theater einen Verein gründen würden - den Feuerwehrverein oder ein Opernverein - und den Vereinsmitgliedern im Tausch gegen den Vereinsbeitrag ihre Leistungen kostenlos oder nur zu einem geringen, als Selbstbeteiligung interpretierbaren Betrag zur Verfügung stellen würden. Die Entscheidung eines Individuums, diesem Verein gegen den Jahresbeitrag beizutreten, entspricht exakt der Entscheidung eines Individuums, sich gegen die Inanspruchnahmekosten oder die vollen Inanspruchnahmekosten einer Leistung zu versichern. Angenommen, ein Individuum trete dem Opernverein nicht bei. Dann kostet der Besuch einer Opernvorstellung - sagen wir- 300,- DM. Beträgt das Nettoeinkommen eines Individuums in einer Periode Y, so liegt das für sonstige Konsumhonen zur Verfügung stehende Einkommen in einer Periode, in der ein Opernbesuch zur Debatte steht, mit der Wahrscheinlichkeit a für einen Opernbesuch bei Y-300 und mit der Wahrscheinlichkeit (1-a) für keinen Opernbesuch bei Y. Tritt das Individuum hingegen dem Opernverein bei, dessen Beitrag für die betrachtete Periode 120,- DM betrage, so liegt das für sonstige Konsumtionen zur Verfügung stehende Einkommen des Individuums in jedem Fall bei Y-120.
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Y- 300
ke ine Mi tg liedsc ha ft im Opernve rein, dennoch Opernbesuch
/ Y-1 20
Mi tg liedschaft im Opernverein
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ke ine Mitgliedsc haft i m Opernverein, ke i n Opernbesuch
In völliger Analogie zur Versicherungstheorie erkennt man, daß für den Fall, daß der Opernvereinsbeitrag von 120,- DM eine "faire Prämie" ist, die 9 Wolfram Engels: Brauchen wir ein neues System der sozialen Sicherung?, in: Gerhard Fels, Achim Seffen, Otto Vogel (Hrsg.): Soziale Sicherung, Köln 1984, S. 12 - 34.
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Wahrscheinlichkeit a für den Opernbesuch in der betrachteten Periode also 40 Prozent beträgt, die Versicherung gegen Opernbesuchskosten, sprich der Vereinsbeitrag, mehr Nutzen bringt als es im Durchschnitt Nutzen bringt, in zwei von fünf Perioden die Oper für 300,- DM zu besuchen und in drei von fünf Perioden nicht in die Oper zu gehen und nichts zu bezahlen (als Vereinsmitglied wie auch als Nicht-Mitglied zahlt man in fünf Perioden 600,DM). Auch bei einem Beitrag von geringfügig mehr als 120,- DM oder bei einer Opernbesuchswahrscheinlichkeit a von geringfügig unter 40 Prozent lohnt sich für ein risikoscheues Individuum der Beitritt zum Opernverein. Für eine positive Theorie der Versorgung mit staatlichen Leistungen und damit auch der Sozialpolitik kann man anmerken, daß bei zunehmender Risikoaversion der Menschen die Neigung zum Kauf von Ansprüchen darauf, im Falle der Inanspruchnahme eines Kollektivgutes nichts oder wenig bezahlen zu müssen, steigen wird. Das könnte als Rechtfertigung für eine Ausdehnung des erzwungenen contingent-claims-Handels, der diesen freiwilligen contingent-claims-Handel simuliert, in einer Welt zunehmend risikoscheuer Menschen dienen. Nochmal: so wie es rational ist, eine Unfallversicherung abzuschließen, selbst wenn man letztlich nie einen Unfall hat, so ist es rational, in einer Periode dem Opernverein beizutreten, selbst wenn man in dieser Periode letztlich nicht in die Oper geht. Dem Leser mag bei letzterer großzügiger Analogie nicht ganz wohl sein. Natürlich besteht ein gewisser Unterschied zwischen dem Erwerb des bedingten Anspruchs auf billigen Opernbesuch und dem Erwerb des Anspruchs auf Güter oder Geld im Falle eines Unfalls, eines Diebstahls oder im Falle desEintretenseines Ereignisses, das Gegenstand einer Wette war. Ersteren Handel nennt man in der englischsprachigen Literatur Handel mit "claims contingent on taste" . Ein privatwirtschaftlicher Handel mit solcherart bedingten Ansprüchen wird schwer entstehen: es ist anzunehmen, daß die Entwicklung des Geschmacks nicht unabhängig davon ist, gegen welche Geschmacksentwicklungen man sich versichert hat (moral hazard).lO Da allerdings auch die Verteilung von Aufwand zur Schadensverhütung auf verschiedene potentielle Schäden nicht unabhängig davon ist, gegen welche Schäden man sich versichert hat, scheint mir der Unterschied nur gradueller Natur zu sein. Zudem kann man Teile eines privatwirtschaftliehen contingent-claims-Handels, nämlich des Handels mit Krankenversicherung, als Handel mit "claims contingent on taste" begreifen: das kann gelten für Kuren, für allgemeine Untersuchungen ohne auslösende Beschwerden, für Arztbesuche, die mehr aus Umtriebigkeit oder Langeweile erfolgen und für lO Siehe Richard Schmalensee: Option Demand and Consumer's Surplus: Valuing Price Changes unter Uncertainty, American Economic Review 62, 1972, S. 813- 824, .besondereS. 822.
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manche Krankenhauseinweisung älterer Leute, die zu Hause einsam waren oder ihrer häuslichen Umgebung lästig geworden sind. Neben der Distribution kann auch die Allokation von Einrichtungen, die staatliche Leistungen erbringen, als erzwungener contingent-claims-Handel betrachtet werden. So haben wir alle zwangsweise den bedingten Anspruch gekauft, daß in dem Falle, daß wir bestimmte Institutionen- Feuerwehr, Hochschule, Park, Straßen, Theater, Polizei - brauchen oder eine Neigung haben, ihre Leistungen zu konsumieren, diese Institutionen überhaupt vorhanden sind und in einer solchen Dimension vorhanden sind, daß sie unsere Bedürfnisse befriedigen können. Wir sind also gegen das Fehlen der Institutionen, die tatsächlich vorhanden sind, für den Fall, daß wir sie benötigen oder wünschen, zwangsweise versichert. Wie oben besteht der Nutzungsanspruch im allgemeinen nur de facto und nicht de jure. Wie sähe das private Pendant zu diesem erzwungenen Handel mit contingent claims aus? Auch hier könnte man sich vorstellen, daß Institutionen wie Feuerwehr, Bundesbahn, Oper, Theater einen Verein gründen würden, der nun allerdings nicht mehr gegen den Vereinsbeitrag die kostenlose oder nicht kostendeckende Nutzung der Leistungen der Institution vertreibt, sondern der gegen den Vereinsbeitrag überhaupt das Recht auf Nutzung der Institution vertreibt, völlig unabhängig davon, wie im Fall tatsächlicher Inanspruchnahme die Finanzierung der Leistungen erfolgt. Nicht-Vereinsmitglieder haben also keine Chance, jemals in den Genuß des Gutes oder des Dienstes zu kommen. Vereinsmitglieder hingegen erwerben den bedingten Anspruch, daß im Falle ihres Begehrens für das Gut dieses (für sie) überhaupt vorhanden sei. Sie versichern sich also mit ihrem Vereinsbeitrag dagegen, irgendein Produkt oder irgendeine Dienstleistung zu wünschen, aber erfahren zu müssen, daß das Gut oder der Dienst -weil nicht existent - nicht gewährleistet werden kann. Es handelt sich hierbei um ein Verfahren, die von Burton A. Weisbrod erfundene Optionsnachfrage zum Gegenstand von Geldtransfers zu machen. In dem viel kommentierten Aufsatz "Collective-Consumption Services of Individual-Consumption Goods " aus dem Jahre 196411 argumentierte Weisbrod folgendermaßen: ein Nationalpark stiftet nicht nur denjenigen Nutzen, die ihn tatsächlich besuchen, sondern stiftet auch denjenigen, die ihn nie besuchen, Nutzen in der Form, daß sie eine zusätzliche Option in ihrem Leben haben, nämlich die, daß sie den Park besuchen könnten. Vergleicht man soziale Kosten und sozialen Nutzen des Nationalparks, so muß man diesen Optionsnutzen mit in Rechnung stellen. Alles ist unproblematisch, wenn der Nationalpark aus den Eintrittsgeldern kostendeckend finanziert werden kann. Der Nutzen der potentiellen Besucher fällt dann als positive 11 Burton A. Weisbrod: Collective-Consumption Services of Individual-Consumption Goods, Quarterly Journal of Economics 78, 1964, S. 471-477.
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Externalität kostenlos ab. Möglicherweise reichen aber die Eintrittsgelder nicht zur Finanzierung des Parks hin. Unter Einbeziehung der Optionsnachfrage könnte aber dennoch die soziale Wünschenswertigkeit des Parks folgen. Also geht es darum, die Optionsnachfrage irgendwie einzuziehen: z. B. könnte nur den Mitgliedern eines "Nationalparkvereins" der Besuch des Nationalparks gestattet werden. Für jedes Individuum stellt sich die Frage, ob es den bedingten Anspruch "Nationalparkbesuch" erwerben will (Bedingungen: Hin-Wollen, Hin-Fahren, eventuell Eintrittspreis). Ein bestimmter freiwilliger contingent-claims-Handel kann also zu genau demselben Ergebnis führen, wie die Finanzierung des Nationalparkdefizits mit Steuermitteln, die sich als erzwungener contingent-claims-Handel interpretieren läßt. In derselben Weise kommentierte Cotton M. Lindsay12 Weisbrods Originalbeitrag: zunächst verteidigt er Weisbrods Optionsnachfrage gegen den Vorwurf13, es handele sich nur um eine Umbenennung des altbekannten Konzepts der Konsumentenrente, mit dem Hinweis, daß die Optionsnachfrage ein Element der Unsicherheit enthalte, das der Konsumentenrente fremd sei. Daß Weisbrods Optionsnachfragekonzept vielmehr zur unsicherheitsökonomischen und versicherungstheoretischen Literatur gehöre, formuliert Lindsay so: " ... it is possible that individuals who do not plan to use a facility or service might be willing to pay something to insure that the item will be available in case they later change their minds. "14 Die monetäre Äußerung von Weisbrods Optionsnachfrage ist also der Erwerb eines claims "contingent on taste". Im übrigen erstreckt sich Optionsnachfrage nicht allein auf öffentliche Institutionen. Beispielsweise mag auch das einzige Feinschmeckerlokal in einer kleineren Stadt demjenigen, der es zwar nicht aufsucht, aber hingehen könnte, durch sein bloßes Vorhandensein Nutzen stiften, mögen die Bewohner eines kleinen Dorfes für das Vorhandensein des einzigen Gasthauses im Dorf Zahlungsbereitschaften haben, die allerdings nie eingezogen werden, wenn sich das Gasthaus durch den Speisen- und Getränkeverkauf selbst finanzieren kann, ist es sogar möglich, daß eine Firma wie die Porsche AG als Institution Nutzen stiftet, also Zahlungsbereitschaften für das bloße Vorhandensein von Porsche existieren, z. B. von denjenigen, die noch nicht wissen, ob sie nicht vielleicht einmal "Porsche-Fahrer" sein mögen, also dafür, daß sie sich diese Option offen halten können, unter Umständen etwas bezahlen würden. Die Tatsache, daß eigentlich jede Sammelbezeichnung von Einzelprodukten oder Einzeldienstleistungen- also Institutionsnamen wie Porsche, Fein12 Cotton M. Lindsay: Option Demand and Consumer's Surplus, Quarterly Journal of Economics 83, 1969, S. 344- 346. 13 Millard F . Long: Collective-Consumption Services of Individual-Consumption Goods: Comment, Quarterly Journal of Economics 81, 1967, S. 351- 352. 14 Lindsay, S. 344.
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schmeckerlokal, Feuerwehr, Polizei, Hochschule- Gegenstand von Optionsnachfrage sein kann, bedeutet m.E. einige Verwirrung für diejenigen Finanzwissenschaftler, die die Abgrenzung einer Kategorie "öffentliche Güter" in der Menge der Güter versuchen. Dieses Bemühen verursacht seit jeher einiges Unbehagen: erstens stehen mehrere Abgrenzungskriterien zur Auswahl (Nicht-Rivalität, Nicht-Ausschließbarkeit, Nicht-Zurückweisbarkeit)l5, die einerseits in so erstaunlichem Umfang dieselben Güter als öffentliche Güter herausheben, daß man vermuten muß, die Kriterien entstammten irgendeinem tieferliegenden, unentdeckten "Ur-Abgrenzungskriterium", andererseits aber in wenigen Fällen auch widersprüchlich entscheiden16, so daß sich fragt, welches Kriterium durchschlagend sein soll, zweitens ist die Relevanz dieser Abgrenzungsüberlegungen für die Frage, welche Güter tatsächlich öffentlich gewährleistet werden sollen, ziemlich gering geblieben. Weisbrods Optionsnachfragekonzept bedroht das Kriterium der Nicht-Rivalität im Konsum, das Münch gar als "erstes Hauptkriterium" der kollektiven Güter herausgestrichen hat.17 Während für den Konsum eines Einzelguts vollkommene Rivalität besteht - Schnitzel, Feuerwehreinsatz, Sportwagen, Objektbewachung, Prüfung an einer Hochschule, Tasse Kaffee - besteht für den "Konsum" der Sammelbezeichnung dieses Einzelgutes (Weisbrods Optionsnachfrage), also im allgemeinen eines Institutionsnamens - Dorfgasthaus, Feuerwehr, Sportwagenfirma, Polizei, Hochschule, Kaffeeautomat- schon deswegen keine vollkommene Rivalität, weil unter diesem Blickwinkel potentielle Konsumtionen miteinander konkurrieren würden, die wegen der Definition des Adjektivs "potentiell" nur in einer stochastischen Rivalitätsbeziehung miteinander stehen. Anders gesagt: mein Nutzen daraus, daß ich diese Tasse Kaffee trinken könnte und Dein Nutzen daraus, daß Du diese Tasse Kaffee trinken könntest, schließen einander natürlich viel weniger aus, als unsere Nutzen aus dem tatsächlichen Trinken des Kaffees, die sich voll ausschließen. Um zusammenzufassen: sicher gibt es eine historisch bedingte, mit dem Stand der Technik variierende Nicht- oder Schwer-Ausschließbarkeit vom Konsum, die praktisch bedeutsam ist, weil sie staatliche Gewährleistung von Gütern erzwingt. Sicher gibt es Externalitäten im Konsum: etwa Heizungsaktivitäten in einem Raum mit mehreren Personen oder das Töten einer Stechfliege in einem Raum mit mehreren Personen18 oder eine Impfung oder einen Feuerwehreinsatz, der das Übergreifen eines Brandes verhindert. Was mir aber zweifelhaft erscheint, ist der Versuch einer nicht situationsbedingten, also dem Gut immanenten Trennung der Gütersphäre nach dem Klaus N. Münch: Kollektive Güter und Gebühren, Göttingen 1976, 1. Kapitel. Münch, S. 55 I 56. 17 Münch, S. 52. 18 Vgl.: James M. Buchanan: The Demand and Supply of Public Goods, Chicago 1968, s. 11. 15
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Kriterium der Nicht-Rivalität im Konsum. Je nach Blickwinkel kann nämlich jedes Gut der Rivalität unterliegen oder nicht. Wählt man Sammelbezeichnungen, befinden sich also nur Weisbrods Optionsnachfrager in Konkurrenz, so haben wir viele Kollektivgüter, wählt man Bezeichnungen für Einzeleinheiten, so haben wir viele private Güter. Das Konzept der NichtRivalität trennt also in Wahrheit nicht die Menge der Güter, sondern trennt in systematischer Weise die Menge der Güterbezeichnungen. Dieser Vorschlag zur Kollektivgutdefinition hat eine gewisse Verwandtschaft mit dem Ansatz von Holger Bonus, der die Kollektivgut-Dichotomie durch ein Kontinuum ersetzen will, indem jedem Gut und jeder Dienstleistung ein sogenannter Öffentlichkeitsgrad zugeordnet wird, der sich nach den von dem Gut oder dem Dienst ausgehenden Externalitäten bemißt.19 Über den Vorschlag von Bonus hinaus erscheint mir betonenswert, daß die hochkontroverse Kollektivgut-Dichotomie im wesentlichen nur das rein sprachliche Problem der Wahlmöglichkeit zwischen alternativen Aggregationsgraden in der Bezeichnung von Gütern widerspiegelt. Insbesondere gibt es auch noch für private Institutionen und Produktionsstätten Optionsnachfrage, die man strenggenommen, wie Samuelson es für Kollektivgüter vorschlägt, addieren müßte, um die optimale Allokation auch privater Institutionen und Produktionsstätten zu errechnen. Damit wäre ich bei meiner letzten Bemerkung zu der Problematik angelangt, Kollektivgüter-Allokation als spezielle Ausprägung von contingent-claimsHandel zu begreifen. Wenn das möglich ist, müßte auch die Bedingung für die Pareto-optimale Allokation von Kollektivgütern als Spezialfall der Bedingung für die Pareto-optimale Allokation von contingent claims darstellbar sein. Samuelson zeigte, daß Kollektivgüter dann Pareto-optimal gewährleistet werden, wenn die Summe der privaten Grenz-Verzichtbereitschaften für ein bestimmtes Gewährleistungsniveau, ausgedrückt in einem Alternativgut, den ebenfalls in diesem Alternativgut ausgedrückten Grenzkosten der Produktion des Gewährleistungsniveaus entsprechen. 20 Andererseits ist das Tauschgeschehen auf den Märkten für contingent claims dann Pareto-optimal, wenn es nicht mehr möglich ist, den Erwartungsnutzen eines Individuums zu steigern, ohne den Erwartungsnutzen eines anderen Individuums verringern zu müssen.21 Diese beiden Regeln sind äquivalent in dem Sinne, daß sie immer den gleichen Imperativ für die Bemessung der Kollektivgüterversorgung tätigen. Ist 19 Holger Bonus: Öffentliche Güter und der Öffentlichkeitsgrad von Gütern, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 136, 1980, S. 50- 81. 2o Paul A. Samuelson: The Pure Theory of Public Expenditure, Review of Economics and Statistics 36, 1954, S. 387 - 389; siehe auch: Hor st Hanusch: Theorie des öffentlichen Gutes, Göttingen 1972, dazu S. 75- 84. 21 Karl H. Borch: Equilibrium in a Reinsurance Market, Econometrica 30, 1962, s. 424-444.
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das Gewährleistungsniveau nach einer Regel zu gering, so ist es auch nach der anderen Regel zu gering -und umgekehrt. Man erkennt das, wenn man sich fragt, wie die Grenzverzichtbereitschaften nach der Samuelson-Regel zustande kommen. Wie kommt jemand dazu, zu sagen, daß er für eine doppelt so gut ausgestattete Ortsfeuerwehr auf 20,- DM Jahreseinkommen verzichten würde, für den dreispurigen Ausbau der Autobahn Harnburg-Hannover auf 10,- DM, für den Bau eines Theaters in der Kleinstadt, in der der Befragte wohnt, auf 40,- DM Jahreseinkommen oder für die Abhaltung der Wagner-Festspiele in Bayreuth auf 5,- DM? Sicher hängt das mit der Wahrscheinlichkeit zusammen, von einer effizienten Ortsfeuerwehr zu profitieren, mit der Wahrscheinlichkeit, die Autobahn zwischen Harnburg und Hannover zu befahren, das neu gebaute Ortstheater tatsächlich zu besuchen oder mit der Wahrscheinlichkeit, die Festspiele in Bayreuth zu besuchen. Wenn jemand sagt, daß er für eine wesentlich verbesserte Ortsfeuerwehr auf 20,- DM Jahreseinkommen verzichten würde, so heißt das, daß sein Erwartungsnutzen in einer Welt mit dem verfügbaren Einkommen Y-20 und einer hocheffizienten Ortsfeuerwehr größer ist, als sein Erwartungsnutzen in einer Welt mit dem verfügbaren Einkommen Y und einer schlecht ausgerüsteten Ortsfeuerwehr. Daß sein Nutzen in ersterer Welt höher ist, folgt daraus, daß er erstere Welt gegen zweitere Welt tauschen möchte. Daß es sich pr äzise um den Erwartungsnutzen handeln muß, folgt daraus, daß der Nutzen einer Feuerwehr entweder außerordentlich groß ist- wenn man sie braucht - oder null ist - wenn man sie nicht braucht: das zwischen diesen Polen liegende mittlere Nutzengefühl aus einer Feuerwehr würde ich Erwartungsnutzen nennen, da es mit der Wahrscheinlichkeit schwankt, die Feuerwehr zu brauchen. Ein Individuum wird die Verzichtbereitschaft für ein bestimmtes Gewährleistungsniveau eines öffentlichen Gutes so lange steigern, bis der Erwartungsnutzen einer Welt mit dem öffentlichen Gut und einem um die Verzichtsbereitschaft verringerten Einkommen nur ganz knapp größer bzw. im Optimum gleich groß ist, wie der Erwartungsnutzen in einer Welt mit ursprünglichem Einkommen aber anderem Gewährleistungsniveau des Kollektivgutes. Wenn also individuelle Verzichtbereitschaften für ein bestimmtes quantitatives Niveau eines öffentlichen Gutes - angenommen, sie wären wahrheitsgemäß ermittelbar - die Produktionskosten dieses quantitativen Niveaus überschreiten, folgt nach Samuelsons Kollektivgüterregel, daß man das höhere Niveau gewährleisten solle. Gleichzeitig bedeutet das, daß der Erwartungsnutzen von vielen noch steigerbar ist, ohne daß der Erwartungsnutzen von irgend jemandem gesenkt werden muß, da jedes Individuum seine Verzichtbereitschaft für das fragliche Alternativ-Gewährleistungs-
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III. Sozialstaat als Handel mit contingent claims
niveaugenauso bemessen hat, daß der Erwartungsnutzen der "Nutzenwette" den Erwartungsnutzen der "Nutzenwette" bei dem alten Gewährleistungsniveau übersteigt. Also treffen Samuelson-Regel und ErwartungsnutzenRegel immer dieselbe Aussage bezüglich des wünschenswerten quantitativen Niveaus öffentlicher Güter. Für eine positive Theorie der Kollektivgüterversorgung und damit auch der Sozialpolitik fragt sich, wie die Neigung zum Kauf des Anspruchs, daß ein bestimmtes Gut im Falle des Aufkommens eines Bedürfnisses nach diesem Gut vorhanden sei, davon abhängt, wie sich die Risikoneigung oder -aversion der Menschen entwickelt. Wenn der Handel mit dieser Art von contingent claims als Analogie zum Kauf von Versicherung darstellbar ist, dürfte die Neigung der Menschen, für das Vorhandensein öffentlicher Güter Verzichtbereitschaften, Optionsnachfragen oder Versicherungsprämien (Vereinsbeiträge) zu bezahlen, steigen, die Versorgung mit öffentlichen Gütern bei einer Zunahme der Risikoaversion also wachsen, wenn hingegen der Handel mit solchen contingent claims eher einer Lotterie, einem Loskauf ähnelt, wird die Versorgung mit öffentlichen Gütern bei einer Zunahme der Risikoaversion eher zurückgehen, falls sie vom freiwilligen contingent-claims-Handel determiniert wäre, oder der erzwungene contingent-claims-Handel sich an seinem freiwilligen Pendant orientierte. Nun läßt sich schwer entscheiden, ob der Kauf eines Anspruchs auf Nutzungsrecht (der ja Vorhandensein impliziert) eher Versicherung oder eher Lotterie ist. Es scheint mit darauf anzukommen, welcher Art das Nutzungsrecht ist. Für das Recht, die Ortsfeuerwehr zu nutzen, scheint mir die Nähe zur Versicherung stärker, für das Recht, die Bayreuther Festspiele zu besuchen (falls man es will, hinfährt, Karten bekommt, Zimmer, Karten usw. bezahlen kann), scheint mir die Nähe zur Lotterie stärker. Im ersten Fall tauscht man eine Welt mit sehr starken Nutzenschwankungen (ist man nicht im "Feuerwehrverein" und braucht auch die Feuerwehr nicht, betrage der Nutzen z. B. ± 0, braucht man sie doch, betrage der Nutzen -200) gegen eine Welt mit geringeren Nutzenschwankungen (ist man Mitglied im "Feuerwehrverein" und braucht die Feuerwehr nicht, betrage der Nutzen -10, braucht man sie doch, betrage der Nutzen - 30). Im zweiten Fall kauft man praktisch ein Los, das sehr wenig kostet, aber mit der geringen Wahrscheinlichkeit, daß man sich zu einem enthusiastischen Wagner-Verehrer entwickelt, einen sehr hohen Nutzen bringt. Erwirbt man das contingent claim, Bayreuth besuchen zu dürfen, beteiligt sich also an den Vorhaltekosten dieser Institution, so tauscht man eine Welt mit geringen Nutzenschwankungen (man darf nicht nach Bayreuth; falls man es auch nicht will, betrage der Nutzen ± 0, falls doch, -10) gegen eine Welt mit großen Nutzenschwankungen (man darf nach Bayreuth; falls man nicht will, ist nur die Prämie verloren, Nutzenentgang z. B. -5, falls doch, betrage der Nutzen des dann möglichen Genusses + 80), was allgemein der Situation des Loskaufes in einer Lotterie entspricht:
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gegen geringe Gebühr erwirbt man die geringe Wahrscheinlichkeit eines großen Nutzengewinns. Natürlich sind die Nutzenzahlen, die ich den verschiedenen Handlungsfolgen zugeordnet habe, völlig willkürlich. Sie sollten nur verdeutlichen, daß wirapriorikeine Aussage darüber machen können, wie Veränderungen der Risikoaversion den freiwilligen contingent-claims-Handel beeinflussen würden, den die öffentliche Kollektivgutallokation erzwingt. Auch die vierte Dimension des Sozialstaats und damit der Sozialpolitik, die Schutzgesetzgebung, läßt sich als Handel mit bedingten Ansprüchen auffassen. Das Gefühl, mit dieser Abstraktion das "Wesen" des Gegenstands zu vergewaltigen, mag hier allerdings recht stark sein. Man müßte folgendermaßen argumentieren: ein Schutzgesetz- nehmen wir z. B. das Kündigungsschutzgesetz -bedeutet, daß jeder in seiner Eigenschaft als potentieller Arbeitnehmer, dem gekündigt werden könnte, allen anderen in ihrer Eigenschaft als potentielle Arbeitgeber, die kündigen könnten, einen Betrag dafür zahlt, daß sie gegebenenfalls nur unter bestimmten Umständen kündigen dürfen. Jeder erwirbt also zwangsweise durch ein Kündigungsschutzgesetz von allen anderen den bedingten Anspruch: wenn Du mir kündigen willst, mußt Du Dich an die Bedingungen x, y, z ... halten. Da jeder diesen Anspruch von allen erwirbt, wird kein Geld bewegt. Ebenso läßt sich die Einführung von Haftpflicht, ein Jugendschutzgesetz, ein Mieterschutzgesetz, ein Gesetz zum Schutz von älteren Arbeitnehmern oder ein Betriebsgefahrenschutzgesetz interpretieren: gleichsam als ex-ante-Versicherung gegen bestimmte negative Aspekte des Schaden-Erleidens, des Jung-Seins, des Mieter-Seins, des Alt-Seins oder des Arbeiter-Seins. Oder - da die Wahrscheinlichkeiten, jung, alt, Mieter oder Arbeiter zu sein, systematisch schwanken - als erzwungener contingent-claims-Handel zu erzwungenen, zu festgesetzten Preisen. Abgesehen von der Tatsache, daß Schutzgesetzgebung - wenn man so will - contingent-claims-Handel ist, hat Schutzgesetzgebung auch erhebliche Konsequenzen auf den contingent-claims-Handel. In einer Welt ohne Haftpflicht etwa, wird der freiwillige contingent-claims-Handel weitgehend im Tausch von Ansprüchen für die Bedingung bestehen, daß man einen Schaden erleidet. In einer Welt mit Haftpflicht hingegen, wird das Volumen dieses Handels zurückgehen und werden stattdessen Ansprüche getauscht, die unter der Bedingung stehen, daß man jemandem einen Schaden zugefügt hat. In ersterer Welt muß man sich gegen das Schaden-Erleiden versichern, in zweiterer Welt gegen das Schaden-Zufügen. 22 Schutzgesetzgebung mani22 Zum Zusammenhang und zur Konkurrenz zwischen Haftpflicht und Sozialversicherung siehe: Dieter Schäfer: Soziale Schäden, soziale Kosten und soziale Sicherung, Berlin 1972.
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III. Sozialstaat als Handel mit contingent claims
puliert also die Produktpalette des contingent-claims-Handels, d.h. die Bedingungen für die Ansprüche gehandelt werden. Schutzgesetzgebung manipuliert auch Schadensvolumina. Ein Gesetz, das bestimmte vorbeugende Maßnahmen gegen Betriebsgefahren vorschreibt, verringert - je nach Regelung der Haftpflicht - für den Arbeiter oder für den Unternehmer den Preis von Geldansprüchen, die unter der Bedingung stehen, daß der Arbeiter einen Unfall erleidet. Zusammenfassend: Schutzgesetzgebung als Lastenverteilung und Schutzgesetzgebung als Veränderung von Lastenvolumina ist sowohl erzwungener contingent-claims-Handel, als sie auch freiwilligen oder manipuliert freiwilligen contingent-claims-Handel bezüglich Preisen, Produkten, Marktteilnehmern und Handelsvolumen verändert. Private Wohltätigkeit, Mildtätigkeit oder Barmherzigkeit kann als Handel mit contingent claims "in kind" interpretiert werden. Ist in einer kleinen Gruppe die Unterstützung von Menschen üblich, die einem bestimmten Risiko zum Opfer fielen, so kann man sagen, daß die Helfenden durch eine Art Realtausch den De-Facto-Anspruch erwerben, ihrerseits unterstützt zu werden, wenn sie demselben Risiko zum Opfer fallen. Bedingte Ansprüche werden nicht explizit mit Gegenwartsgütern gekauft, sondern implizit, unspezifiziert und unverbrieft - gleichsam durch herrschende Sitten erworben. Diese Sichtweise wird im folgenden keine Bedeutung haben; ich erwähne sie nur vollständigkeitshalber. Andere Erklärungsansätze der Privatwohltätigkeit, insbesondere aus der (sozio-)biologischen Altruismus-Theorie, werden stärker berücksichtigt werden (siehe Abschnitt IV, 1). Die Dimensionen Versicherung, Umverteilung, Kollektivgüterversorgung, Schutzgesetzgebung und Privatwohltätigkeit, die m.E.- wenn auch nicht trennscharf - alle Paradigmen des Sozialstaats einfangen können, sind also ihrerseits verschiedene Ausprägungen von freiwilligem, manipuliert freiwilligem oder erzwungenem Handel mit contingent claims. Zwei Sozialstaaten unterscheiden sich darin, mit welchen Produkten (contingencies), zu welchen Preisen, zwischen wem, in welchem Umfang, welche contingent claims, wie (freiwillig, erzwungen) gehandelt werden. Theorie des Sozialstaats - darin eingeschlossen: Theorie der Sozialpolitik- wird damit eine Unterkategorie der Theorie des Handels mit contingent claims.
IV. Die Ausstattung mit contingent claims, welche die Fitness eines Individuums maximiert 1. Vorbemerkungen
Im positiven Teil versucht diese Arbeit, die Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen in großen historischen Abschnitten oder in sogenannten kulturanthropologischen Entwicklungsstufen zu erklären. Methodisch geht sie so vor, daß untersucht wird, welche Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen die Fitness einer Gesellschaft innerhalb einer Gruppe von in bestimmten Merkmalen homogenen Gesellschaften (hier: Wirtschaftsstufe) maximiert. Dabei muß die Nebenbedingung beachtet werden, daß der als Fitness-maximierend erkannte Sozialstaat auch irgendwie durch menschliches Handeln "gemacht", "produziert" werden muß. Da ich im Abschnitt III gezeigt habe, daß alle sozialstaatliehen Paradigmen als Handel mit contingent claims aufgefaßt werden können, mag insbesondere dasjenige menschliche Handeln, das man als Tausch, Erwerb oder Veräußerung von contingent claimsdurch den einzelnen bezeichnen kann, die Fitness-maximierenden sozialstaatliehen Paradigmen erzeugen. Ist das nicht der Fall, dann stellt sich die Frage, ob bzw. in welchem Umfang staatliche Sozialpolitik als Manipulation (Zwang und Lockung) des Handels mit contingent claims die Ausprägung eines Fitness-maximierenden Sozialstaats betreiben soll, wobei zu beachten ist, daß von der Manipulation andererseits negative Wirkungen auf die GruppenFitness ausgehen können. Die Vorgehensweise im positiven Teil ist also zweistufig: zunächst werden in allen Dimensionen Fitness-maximierende Merkmalausprägungen ermittelt mit Ausnahme der Dimension "Sozialpolitik" und ohne Beachtung der Frage, daß sozialstaatliche Paradigmen irgendwie "erzeugt" werden müssen. Dann wird untersucht, welche private Neigung zum Erwerb von contingent claimsunter diesen Gruppen-Fitness-maximierenden Merkmalen entsteht. Dazu bedarf es der hier vorgestellten deskriptiven Theorie der privaten Neigung zum Tausch bedingter Ansprüche. Im Falle einer Diskrepanz zwischen dem Gruppen-Fitness-maximierenden Handel mit contingent claims (soweit im Zusammenhang mit dem Sozialstaat stehend) und dem Handel mit contingent claims, den Individuen in dem Bestreben vornehmen, ihre eigene Fitness zu maximieren, besteht die Möglichkeit, Sozialpolitik entweder in der Form zu betreiben, daß sie ihrerseits unmittelbar Handel mit contingent claims vornimmt, darstellt, ausübt, oder in der Form Sozial-
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
politik zu betreiben, daß andere Gruppenmerkmale geändert werden mit dem Ziel, Einfluß auf die private Neigung zum Handel mit contingent claims zu nehmen. Auch für die zweite Stufe, die Ermittlung der "besten" Sozialpolitik, sind deskriptive Informationen über die Neigung von Individuen zum Handel mit bedingten Ansprüchen bei alternativen sonstigen gesellschaftlichen Daten hilfreich. Jedes private Hilfsverbalten läßt sich als Realtausch unter Einbezug von contingent claims auffassen. Es läßt sich auch mit der privaten Neigung zum Tausch von contingent claims erklären. Daneben gibt es jedoch noch andere Erklärungen für Hilfsverhalten, die im Rahmen einer deskriptiven Theorie sozialstaatlicher Paradigmen Relevanz besitzen könnten, die unter der Überschrift steht, evolutionstheoretisch oder selektionstheoretisch zu sein: das sind die (sozio-)biologischen Altruismus-Theorien. Der erste und m.E. bedeutsamste dieser Ansätze wurde schon referiert (siehe Abschnitt II, 3): W. D. Rarniltons Verwandtschaftsselektion, die erklärt, daß ein Gen für die exklusive Unterstützung von Verwandten positiv selektiert wird. Mit Hilfe dieser Theorie läßt sich der Kamikaze-artige Einsatz mancher Insekten für ihre Artgenossen erklären, es läßt sich erklären, warum Väter im allgemeinen weniger für ihre Kinder sorgen als Mütter und es läßt sich erklären, warum Enkel eine geringere Neigung haben, ihre Großeltern zu unterstützen, als umgekehrt. 1 Mit anderen Worten wurde in kurzer Zeit eine ganze Reihe erfolgreicher Anwendungen von Rarniltons Theorie entwickelt, die im Kontext der jüngeren Genselektionstheorie steht, welche ihrerseits bedeutende Erfolgserlebnisse hatte, so die Erklärung des im allgemeinen ungefähr ausgeglichenen Geschlechtsverhältnisses bei Säugetieren (obwohl man annehmen könnte, daß es mehr Weibchen als Männchen geben müßte, weil deren Zahl sozusagen der begrenzende Faktor für das Fortpflanzungstempo ist), und die Erklärung abweichender Geschlechterverhältnisse bei sozialen Insekten.2 Weniger erfolgreich war die biologische Gruppenselektionstheorie. Musterbeispiele ihres möglicherweise erfolgreichen Tätigseins sind die Erklärung von Territorialverhalten und Dominanzhierarchien.3 Falls eindeutig ist, daß Hilfsverbalten unter Gruppenmitgliedern eine Gruppe stärkt, kann die Verbreitung von Hilfsverbalten auch gruppenselektionstheoretisch erklärt werden. Wie schon ausgeführt, fragt sich nur, ob die Gruppenselektion schnell genug wirkt, um im Vergleich zu eventuell entgegengesetzten Wirkungen der Genselektion sichtbar zu sein. 1 Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Berlin, Heidelberg und New York 1978, S. 126 - 129 und 201 - 204. 2 Wichtige Originalbeiträge hierzu: R. A. Fisher: The Genetical Theory of Natural Selection, Oxford 1930; sowie Robert L. Trivers und H. Hare: Haplodiploidy and the Evolution of the Social Insects, Science 191, 1976, S. 249- 263. 3 Siehe Abschnitt II, 3.
1. Vorbemerkungen
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Zwei neuere genselektionstheoretische Ansätze zum Altruismus verdienen noch Erwähnung. Zunächst Robert L. Trivers Aufsatz "The Evolution of Reciprocal Altruism" 4 , in dem er feststellt, daß unter gewissen Umständen "nachtragendes Hilfsverhalten" in einer Population, in der es die Wahl zwischen "Hilfsverhalten" und "kein Hilfsverhalten" gibt, die überlegende Strategie ist, d. h. positiv selektiert wird. Unter "nachtragendem Hilfsverhalten" versteht Trivers, daß man andere Individuen grundsätzlich unterstützt, diese Unterstützung aber bei solchen Individuen unterläßt, die gezeigt haben, daß sie nicht ihrerseits empfangene Hilfe vergelten, also "zurückhelfen". Das Aufkommen von reziprokem Altruismus setzt voraus, daß Individuen einander wiedererkennen und Gruppen so klein sind, daß eine nennenswerte Wahrscheinlichkeit der Wiederbegegnung besteht. Dann kann es sein, daß sich nachtragendes Hilfsverhalten gegen unterschiedsloses Hilfsverhalten und gegen den Verzicht auf Hilfe für andere durchsetzt, weil die Strategie des Verzichts auf Hilfe bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Annahme von Hilfe, die sich auf genselektionstheoretischem Wege eigentlich durchsetzen müßte, durch die Verweigerung von Hilfe bestraft wird. Vorteilhafter ist dann die Partizipation am allgemeinen Geben und Nehmen. Noch vorteilhafter unter genselektionstheoretischem Gesichtspunkt ist aber eine Strategie, die Trivers "subtle cheating" nennt, nämlich dergestalt am allgemeinen Austausch von Hilfsleistungen zu partizipieren, daß man immer etwas mehr nimmt, als man gibt. Hieran lassen sich spannende Spekulationen knüpfen. Es soll aber genügen, erwähnt zu haben, daß das Triverssehe Modell neben Verwandtschaftsselektion und Gruppenselektion einen weiteren disjunkten Ansatz zur Erklärung zwischentierischen und zwischenmenschlichen Hilfsverhaltens anbietet. Ebenfalls im Rahmen der (sozio-)biologischen Altruismus-Theorie zitiert wird ein mir vergleichsweise unwichtiger erscheinender Aufsatz von M. J . West Eberhard5 : er beschäftigt sich mit der sogenannten Elternmanipulation. Danach haben Eltern ein erbliches Gen, das ihre Kinder zur Geschwisterhilfe manipuliert, und das sich dadurch ausbreitet, daß Kinder, die einander als Geschwister unterstützen, wahrscheinlicher überleben als andere Kinder. Auf diesem Wege kann eine Geschwister-Unterstützung erklärt werden, die in kleinen, ortsfesten Gruppen mit hoher Wahrscheinlichkeit der Verwandtschaft wie allgemeiner Altruismus aussehen mag. Sozialstaatliche Paradigmen- man denke etwa an die Unterstützung eines Kranken- können also mit Hilfe (sozio-)biologischer Altruismus-Theorien erklärt werden, und sie können erklärt werden als mehr oder weniger expli4 Robert L . Trivers: The Evolution of Reciprocal Altruism, The Quarterly Review of Biology 46, 1971, S. 35- 57 . 5 M. J . West Eberhard: Evolution of Social Behavior by Kin Selection, The Quarterly Review of Biology 50, 1975, S . 1- 34.
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
ziter Handel mit contingent claims, d.h. -überwiegend- als mehr oder weniger explizite Versicherung. Wie steht es mit der Neigung eines Menschen, bedingte Ansprüche zu erwerben? Die Entscheidung, einen bedingten Anspruch zu erwerben, ist deswegen, weil unsicher ist, ob die Bedingung eintritt, unter welcher der Anspruch steht, eine Entscheidung unter Unsicherheit. (M~nschliche) Entscheidungen unter Unsicherheit lassen sich aus mindestens dreierlei Blickwinkeln analysieren: - ökonomisch-präskriptiv: die Theorie der Entscheidung unter Unsicherheit in den Wirtschaftswissenschaften; - psychologisch-deskriptiv; - selektionstheoretisch-deskriptiv. Zum psychologischen Aspekt werde ich kein Wort verlieren. 6 Statt dessen werde ich selektionstheoretisch argumentieren, dabei aber die präskriptive ökonomische Analyse im Auge behalten: wie oben schon gezeigt, vermischen sich in der selektionstheoretischen Analyse ohnehin positive und normative Betrachtung.
2. Deskriptive Analyse der Entscheidung unter Unsicherheit mit Hilfe der Theorie der Evolution durch Selektion Es geht zunächst darum, welches Entscheidungsverhalten unter Unsicherheit selektionstheoretisch zu erwarten ist. Dazu nehmen wir an, daß es ein Gen gäbe, welches das Entscheidungsverhalten eines Phänotypen unter Unsicherheit determiniere. Die Annahme genetischer Vererbung ist, wie in II, 3 argumentiert, nicht essentiell: die Annahme sozialen Lernens leistet dasselbe. Wie sieht das Gen aus, das sich gegen alle Allele bezüglich des Entscheidungsverhaltens unter Unsicherheit durchsetzt? Es ist dasjenige Gen, das in der Menge der alternativen Gene (Allele) die höchste Überlebenswahrscheinlichkeit hat, d.h. das einen Phänotypen so prägt, daß er möglichst lange lebt, möglichst viele Nachkommen zeugt, die- damit sie sich ihrerseits fortpflanzen - möglichst gesund, möglichst fruchtbar und möglichst sexuell attraktiv sein sollen. All das fassen wir nach II, 2 so zusammen, daß das Gen einen Phänotypen dahingehend prägen soll, daß er seine Phänotypenfitness maximiert, weil das Gen auf diesem Wege seine eigene Überlebenswahrscheinlichkeit (= Genotypenfitness) maximiert. Der koms Dazu etwa: Gerard Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, 3. Auflage, Tübingen 1974, S. 36ff.; Helmut Laux: Entscheidungstheor ie, Berlin, Heidelberg und New York 1982, S. 193f. zu den Wahlexperimenten von M. Allais; Hans-Werner Sinn: Ökonomische Entscheidungen bei Ungewißheit, Tübingen 1980, S. 131ff. ; P . J . H. Schoemaker : Experiments on Decisions under Risk: The Expected Utility Hypothesis, Boston 1980.
2. Entscheidung unter Unsicherheit
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plexe Begriff der Phänotypenfitness wird also positiv beeinflußt durch die Überlebenswahrscheinlichkeit des Phänotypen und die quantitative und die qualitative Komponente des von ihm gezeugten Nachwuchses. Man könnte Phänotypenfitness als durchschnittliche Überlebensdauer aller Gene eines Phänotypen definieren. Wenn ein Phänotyp in einer Unsicherheits- oder Risikosituation 7 so entscheidet, daß er den Erwartungswert seiner Phänotypenfitness maximiert, dann maximiert er zugleich die Überlehenswahrscheinlichkeit des Gens, das ihn dazu antreibt, so zu entscheiden. Dieses·Gen wird also positiv selektiert und folglich im deskriptiven Sinne dominieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob zwei Handlungsalternativen zwar dieselbe Erwartungsfitness bedingen, sich aber im Risiko, also in der Streuung um diese Erwartungsfitness, unterscheiden. Ein Gen, das zusätzlich forderte, die Handlungsalternative zu wählen, die geringer um die Erwartungsfitness streut, wird nicht positiver oder negativer selektiert als ein Gen, das einen Phänotypen dazu prägte, die Handlungsalternative mit großer Streuung um die Erwartungsfitness zu wählen. Letzteres Gen überlebt manchmal überdurchschnittlich lange und manchmal überdurchschnittlich kurz: im Mittel aller Fälle überlebt es genauso lange wie das Gen für die Vorziehenswürdigkeit gering streuender Fitness-Verteilungen. Mit anderen Worten ist die Varianz einer Fitness-Verteilung (Fitness auf Phänotypenebene) selektionstheoretisch irrelevant: mögliche Gene, die sie berücksichtigen, überleben alle im Mittel gleich lang, weswegen keine Berücksichtigung der Varianz differentiell selektiert wird. Positiv selektiert wird lediglich das Gen, das einen Phänotypen in Unsicherheitssituationen zum "Phänotypen-Erwartungs-Fitness-Maximierer" macht, da dieses Gen wahrscheinlicher überlebt, als jedes alternative Gen (Allel). Ein Individuum, das Handlungsalternativen korrekte Bewertungen ihrer Wirkungen auf seine Fitness beimißt (seien sie verbal formuliert, oder in Geldeinheiten oder sonstwie angegeben) und dann die Alternative wählt, welche die höchste Erwartungsfitness bringt, wird positiv selektiert und ist mithin deskriptiv zu erwarten. Nun entscheiden Individuen aber im allgemeinen nach Lust- und Unlustgefühlen, nach Nutzen, und nicht nach hoch abstrakten Spekulationen über Wirkungen von Handlungsalternativen auf ihre Überlebenswahrscheinlichkeit sowie auf Zahl und Qualität ihrer Nachkommen. Welches auf Nutzen begründete Entscheidungsverhalten führt zu demselben Ergebnis wie die Maximierung der Erwartungsfitness? Einmal die Entscheidung nach dem Erwartungsnutzen (Bernoulliprinzip) und zugleich eine solche Bewertung von Handlungsalternativen in Nutzen, die bis auf positive lineare Transformationen der Bewertung von Handlungsal7 Auf die von Frank H. Knight eingeführte Unterscheidung zwischen "risk" und "uncertainty" will ich hier verzichten (Frank H. Knight: Risk, Uncertainty and Profit, New York 1921). Man könnte mit Hans-Werner Sinn allgemein von "Ungewißheit" sprechen.
6 Seuferle
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
ternativen in Fitness entspricht. Positiv selektiert wird also ein Individuum, das in Unsicherheitssituationen nach demErwartungsnutzen-oder Bernoulliprinzip entscheidet, Handlungsfolgen subjektiv in Nutzen (bis auf lineare Transformationen) genauso bewertet, wie sie objektiv in Phänotypenfitness zu bewerten wären. Die Entscheidung nach dem Bernoulliprinzip wird in der Ökonomie mit mehreren sogenannten "Axiomen" menschlichen Entscheidungsverhaltens gerechtfertigt, die einige Autoren für evident richtig und einhaltenswert halten, andere Autoren hingegen als nicht zwingend attackieren.s Aus diesen Axiomen folgt die Entscheidung nach dem Bernoulliprinzip. Da die Entscheidung nach dem Bernoulliprinzip positiv selektiert wird, folgt, daß auch die Einhaltung der Axiome, aus denen das Bernoulliprinzip abgeleitet wird, positiv selektiert wird. Die umstrittenste Behauptung der Axiome ist, daß sie jegliche Freude oder Abneigung am Spiel und am Wetten ausschließen: Wetten können durch nutzenäquivalente Zahlungen ersetzt werden, ohne daß die Freude an der Wette die Höhe der Zahlung mitbestimmt. Die Ablehnung jeder per-se-Wertschätzung von Wette oder Spiel in Lebenssituationen erscheint aber unter Fitness-Gesichtspunkten rational: wer Spiele mit extrem guten Chancen nur ablehnt, weil sie Spiele sind, oder Spiele mit sehr schlechten Chancen realisiert, weil er das Spiel als solches liebt, wird neg(ltiv selektiert, weil er im Mittel geringere Gewinne macht als derjenige, der Spiele und Wetten nüchtern beurteilt. Man könnte also argumentieren, daß die Axiome, die das Bernoulliprinzip begründen, in dem Sinne evident sind, daß ihre Einhaltung positiv selektiert wird, woraus folgt, daß auch die Entscheidung nach dem Bernoulliprinzip positiv selektiert wird. In diesem Sinne ließe sich die merkwürdige Unklarheit auflösen, welche die Diskussion des Bernoulliprinzips m. E. kennzeichnet, da dieses Prinzip einerseits allgemein als "bestes" Entscheidungsprinzip unter Unsicherheit gilt und durch seine Ableitbarkeit aus fast evidenten "Axiomen" herausgehoben wird, andererseits aber doch nicht genau gezeigt werden konnte, worin die Sonderstellung des Bernoulliprinzips unter vielen offensichtlich unzureichenden Entscheidungsregeln für den Unsicherheitsfall exakt begründet liegt. Der entscheidende Punkt meiner Argumentation liegt darin, daß aus genselektionstheoretischer Sicht Fitness-Streuungen irrelevant sind, und die bloße Maximierung der Erwartungsfitness gewissermaßen ausreicht: diese Erkenntnis erklärt und widerspiegelt die Tatsache, daß bei Entscheidungen nach in Nutzen bewerteten Handlungsfolgen die Nutzen-Streuungen dann ebenfalls irrelevant sind, die Orientierung am Erwartungsnutzen also genügt, wenn Handlungsfolgen in geeigneter Weise (den s Zu den Axiomen siehe etwa : Laux, S. 174ff. und Sinn, S. 89f.
2. Entscheidung unter Unsicherheit
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genannten "Axiomen" entsprechend) in Nutzenwerte übersetzt worden sind, und Streuungen von Handlungsfolgen hierbei bereits berücksichtigt worden sind. Zwei weitere Anmerkungen: erstens ist selbstverständlich hinzuzufügen, daß nur Phänotypen, die alternativen Umweltzuständen subjektive Wahrscheinlichkeiten zurechnen, welche den objektiven Wahrscheinlichkeiten entsprechen, die Erwartungsfitness und den Erwartungsnutzen von Handlungen korrekt kalkulieren, und folglich eine möglichst "richtige" subjektive Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten von Umweltzuständen positiv selektiert wird. Zweitens ist zuzugeben, daß es auch möglich wäre, daß jemand, der Fitness nicht linear in Nutzen abbildet und der nicht nach der Erwartungsnutzenmaximierungsregel entscheidet, dadurch, daß sich sozusagen zwei Fehler aufheben, nach der Erwartungsfitnessmaximierungsregel entscheidet. Ich sehe drei Gründe für die relative Irrelevanz dieses Arguments: - die Einhaltung der Axiome, aus denen die Erwartungsnutzenmaximierungsregel folgt, wird ihrerseits positiv selektiert; man darf annehmen, daß unter alternativen genetischen Prägungen für dasselbe Resultat "einfache" Codes mit nicht höchst komplexen Informationen eher auftreten, da solche Gene eher und häufiger als Mutanten zu erwarten sind- jedenfalls entspricht es der wissenschaftlichen Tradition in der Biologie, immer zunächst "einfache" genetische Informationen anzunehmen; die mathematische Präzisierung des geschilderten "doppelt fehlerhaften" Entscheidungsverhaltens wäre sehr schwierig. Es erscheint einleuchtend, daß eine Wahlhandlung nach der Erwartungsfitnessmaximierungsregel genau gleich getroffen wird, wenn nach der Erwartungsnutzenregel entschieden wird und zugleich gilt: Nutzen = Fitness. Tatsächlich gilt diese Aussage auch in schwächerer Fassung, nämlich dann, wenn gilt: Nutzen
= x · Fitness + a
Um das zu zeigen, sei eine Entscheidungssituation unter Unsicherheit angenommen, bei der zwischen den Handlungsalternativen A 1 und A 2 gewählt werden soll, die im Falle der Umweltzustände S 1 (mit p (SI) = 0,4) und S 2 (mit p (S2) = 0,6) folgende Handlungsergebnisse oder outcomes 0 in FitnessEinheiten erbringen: s 2 (p2 = o,6)
5 6
s•
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
Nach der Erwartungsfitnessmaximierungsregel folgt, daß Handlung A 1 bevorzugt werden muß, weil: 0,4 · 3 + 0,6 · 5 > 0,4 · 1 + 0,6 · 6 oder 4,2 > 4,0
Es fragt sich nun, welche Transformation der outcome-Matrix
in Nutzeneinheiten nach der rechnerisch analog vorgehenden Erwartungsnutzenmaximierungsregel das Ergebnis konserviert, daß A 1 gegen A 2 präferiert wird. Oder: welche Operationen mit den 0-Werten folgende Ungleichung erhalten:
Man kann zeigen, daß nur lineare Transformationen der 0-Werte die Ungleichung konservieren. 9 Die Ungleichung gilt also auch für Ausdrücke der Form (O;i · x + a) mit x > 0. Wenn ein Entscheider also dergestalt Nutzen empfindet, daß Nutzen = Fitness · x + a und nach der Erwartungsnutzenmaximierungsregel entscheidet, trifft er genau .dieselben Entscheidungen wie ein unmittelbarer Erwartungs-Fitness-Maximierer. Eine lineare Form der Nutzen-Fitness-Funktion wird also positiv selektiert. Es ist recht unplausibel, daß die Funktion: Nutzen = Fitness · x + a
folgenden Verlauf nimmt:
Dazu müßte man annehmen, daß es Handlungsfolgen gäbe, die negative Fitness und positiven Nutzen brächten, insbesondere müßte man annehmen, 9 Im Beispiel sieht man unmittelbar, daß Potenzieren der outcome-Werte die Präferenzrelation A1 > A2 nicht konserviert. Zum Beweis siehe z. B. Laux, S. 182ff.
2. Entscheidung unter Unsicherheit
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daß an einer exakt angehbaren Stelle der noch positiven Nutzen-Bewertungen die Fitness-Bewertungen ihr Vorzeichen ändern würden. Da es für solche Annahmen keine Gründe gibt, wird eine solche Übersetzung von Fitness in Nutzen positiv selektiert, deren Verlauf durch eine Ursprungsgerade beschreibbar wäre. Die Behauptung, daß Nutzen als wesentlicher theoretischer Term der Mikroökonomik und Fitness als wesentlicher theoretischer Term der biologischen Evolutionstheorie in linearer Weise voneinander abhängen, oder präziser diejenigen Menschen, deren subjektive Nutzenbewertung von Handlungsalternativen die objektive Fitnessbewertung linear abbildet, positiv selektiert werden, also auf Dauer deskriptiv zu erwarten sind, diese Behauptung kann weitreichende Folgen für die Sozialwissenschaften haben: sie deutet eine Art theoretische Brücke zwischen Biologie und Ökonomie an, die vielleicht in fruchtbarer Weise ausgebaut werden könnte. Deshalb will ich ein weiteres diese Behauptung stützendes Argument anführen, obwohl weiterreichende Implikationen der skizzierten Verbindung von Biologie und Ökonomie nicht Gegenstand dieser Arbeit sein werden. Neben der entscheidungstheoretischen Argumentation gibt es eine spieltheoretische Überlegung, die plausibel macht, warum eine lineare Übersetzung von Fitness in Nutzen positiv selektiert wird. Es geht immer um folgende Frage: was macht derjenige, der einer Alternative A 1 , die die doppelte Fitness wie die Alternative A 2 impliziert, auch den doppelten Nutzen zurechnet, anders als derjenige, der Alternative A 1 sagen wir nur 5% mehr Nutzen zurechnet, was tut er anderes- schließlich wählen ja beide Alternative A 1 -, was berechtigt, anzunehmen, ersterer Nutzen-Empfinder werde positiver selektiert als zweiterer Nutzen-Empfinder? Eine unter mehreren spieltheoretischen Argumentationen, die meine These stützen, bezieht sich auf das allgemeine Nullsummenspiel mit zwei Spielern und einer endlichen Zahl von Alternativen. Für diese Spiele gilt von Neumanns Minimax-Theorem: dieses Theorem besagt, daß es für ZweiPersonen-Nullsummen Spiele eine bestimmte Zahl gibt, genannt "value of the game" .10 Das ist der Betrag, den ein Spieler auf Dauer und im Durchschnitt zu gewinnen oder zu verlieren erwarten kann, wenn sich beide Spieler rational verhalten. Für denjenigen, der die ungünstigere Ausgangskondition in dem Nullsummenspiel antrifft, ist es der minimale Betrag, den er auf Dauer verliert- beliebig geschicktes Verhalten des anderen kann auf Dauer keinen höheren Durchschnittsverlust erzwingen, wenn der eingangs benachteiligte Spieler eine bestimmte Strategie realisiert, die seinen Verlust 10 Siehe als sehr einfach lesbare Einführung: Morton D. Davis: Game Theory. A Non-Technical Introduction, New York 1973, S. 28ff. Siehe auch: Martin Shubik: Game Theory Models and Methods in Political Economy, in: Handbook of Mathematical Economics, Volume 1, Amsterdam, New York und Oxford 1981, S. 285- 330.
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minimiert (auch den Gewinn des anderen), und die "value of the game" genannt wird. Im allgemeinen ist diese Strategie eine bestimmte Strategie aus der Menge aller "mixed strategies", bei denen die zur Disposition stehenden Handlungsalternativen mit genau definierten Wahrscheinlichkeiten gewählt werden. Will nun ein Spieler diese seinen Verlust minimierende Strategie errechnen, so sind die Zahlen relevant, die in den Spalten und Zeilen der Normalform des Spieles als Geld, Nutzen, Fitness oder was auch immer stehen. Eine solche in bestimmtem Sinne beste Strategie - nämlich die beste dann, wenn auch der andere Spieler rational handelt - könnte es z. B. sein, Alternative A 1 mit der Wahrscheinlichkeit 0,7, Alternative A 2 mit der Wahrscheinlichkeit 0,18 und Alternative A 3 mit der Wahrscheinlichkeit 0,12 zu realisieren. Die Kalkulation der mixed strategy ist mit den Zahlen in der Matrix der Normalform des Spieles determiniert: allerdings nur bis auf lineare Transformationen dieser Zahlen. Wenn die Zahlen in der Normalform also Fitness-Werte waren, und als beste Strategie errechnet wurde, die Alternativen A 1 , A2 , A 3 mit den Wahrscheinlichkeiten 0,7 0,18, 0,12 zu realisieren, dann wird auf der Basis von Nutzen-Zahlen in der NormalfarmMatrix dann genau dieselbe Strategie 0,7, 0,18, 0,12 errechnet, wenn die Nutzen-Zahlen lineare Transformationen der Fitness-Werte sind, also gilt: Nutzen = Fitness · x + a Geht man davon aus, daß Spieler - natürlich vor allem im "Spiel des Lebens" -, die möglichst präzise die Verlust-minimierende Strategie realisieren, positiv selektiert werden, so müssen diese Spieler auch die Eigenschaft haben, Nutzen möglichst nahe an oberer Beziehung zu empfinden, womit auch diese Eigenschaft positiv selektiert wird. 3. Bewertung von Handlungsfolgen
Für eine brauchbare deskriptive selektionstheoretische Entscheidungstheorie benötigt man nicht nur Aussagen über die positiv selektierte Entscheidungsregel in Unsicherheitssituationen und über die Abbildung von Fitness in Nutzen. Insbesondere benötigt man zudem Vorstellungen über die tatsächlichen Fitness-Bewertungen von Handlungsfolgen und über die Auswirkungen aller möglicher Parameter auf diese Fitness- und damit NutzenBewertungen.
a. Bewertung des Einkommens Im Vordergrund steht dabei die Frage der Wirkungen des Einkommens auf die Phänotypenfitness. Eine Definition des Wortes Einkommen, die dem archaischen Menschen und vielleicht gar dem Tier genauso gerecht wird,
3. Bewertung von Handlungsfolgen
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wie dem Menschen in modernen Industriestaaten, die zudem jeweils die Bezüge zum Vermögensbegriff erklärt, der sich je nach Aggregationsebene (Individuum, Gruppe, Staat, Welt) anders darstellt, kann ich hier nicht leisten, da eine große Menge an Literatur verarbeitet werden müßte. Versuchen wir es einmal mit relativ kurzen Betrachtungsperioden, in denen man individuelles Einkommen als Dispositionsspielraum über Güter und Dienste bei konstantem Realwert des individuellen Vermögens betrachten kann. Ein hohes Einkommen eröffnet größere Zugriffsmöglichkeiten auf Nahrungsmittel und ist damit grundsätzlich Fitness-positiv zu bewerten. Das gilt über die eigene Sättigungsgrenze hinaus, falls Frau(en) und Kinder ernährt werden müssen, und falls Nahrungsmittel gelagert werden können, oder Überschüsse gegen Forderungen auf Nahrungsmittel in der Zukunft verkauft werden können. Zudem gewinnt das Einkommen an Bedeutung für die Fitness in solchen Gesellschaften, in denen große Vermögen akkumuliert und vererbt werden können, da auf diesem Wege die Überlebens- und Reproduktionswahrscheinlichkeit der Generationen, die einem betrachteten Phänotypen nachfolgen, erhöht werden kann. Aber schon für die Wahrscheinlichkeit, überhaupt einen Partner zur Fortpflanzung zu finden, ist das Einkommen bedeutsam, wie die Erfahrung belegt, daß Vogel-Männchen, die kein Territorium erringen konnten, im allgemeinen auch kein Weibchen zur Fortpflanzung finden, daß in Ländern, in denen die Ehe eines Mannes mit mehreren Frauen gestattet ist, viele Männer keine Chance zur (legitimen) Vermehrung haben und auch in Gebieten, in denen die Einehe herrschte, Heirat bis vor kurzem ein Privileg des Reichen war.l 1 Je nach den sonstigen Umständen in einer Gesellschaft ist es also möglich, daß das Einkommen schon ab einer relativ frühen Grenze, die ungefähr der Sättigungsgrenze mit Nahrungsmitteln entspricht, keinen weiteren Phänotypenfitnesszuwachs mehr bringt (Graph 1), daß auch bei hohem Einkommen Einkommensunterschiede deutliche Fitnessunterschiede bedingen (Graph 2), oder daß Einkommen zwar immer Fitness-positiv wirkt, bei hohen Einkommen Einkommenszuwächse aber kaum noch Fitnesszuwächse nach sich ziehen, wie das einer partiellen substitutionalen Produktionsfunktion entspricht, da man Einkommen analog als Produktionsfaktor von Fitness ansehen kann (Graph 3): Graph 2 Fitness
Graph 3 Graph 1 ~----------------~Einkommen
11
Siehe Abschnitt VI, 2.
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
Ist die Einkommens-Fitness-Funktion in einer Gesellschaft ungefähr beschreibbar, so folgt aufgrund der Tatsache, daß eine lineare Abbildung von Fitness in Nutzen positiv selektiert wird, auch die Form der Einkommen-Nutzen-Funktion, der sogenannten Nutzenfunktion des Einkommens:
~utzen
Einkommen
Dabei wurde der Graph im ersten Quadranten mit Hilfe der Beziehungen im vierten und im dritten Quadranten und der Spiegelung im zweiten Quadranten konstruiert. Wie man aus der Unsicherheitsökonomik und speziell aus der Versicherungstheorie weiß, ist die Krümmung der Nutzenfunktion des Einkommens ein Maß für die Risikoaversion eines Individuums. Damit determiniert diese Funktion auch entscheidend die Neigung eines Individuums, sich zu versichern, d.h. eine Welt mit unter allen Umständen sicherem Einkommen einer Welt vorzuziehen, in der das Einkommen je nach den Umständen streut. Was ist damit gewonnen, die bekannte Nutzenfunktion des Einkommens aus anderen Beziehungen herzuleiten? Erstens muß die Annahme der Risikoaversion eines Menschen (oder die Annahme der Rechtskrümmung der Nutzenfunktion des Einkommens oder die Annahme des abnehmenden Grenznutzens) nun nicht mehr einfach gesetzt werden, sondern kann aus anderen, sozusagen tieferen, Annahmen abgeleitet werden. Insbesondere folgt sie aus einer potentiell empirisch überprüfbaren .Funktion, der Einkommen-Fitness-Funktion: Risikoaversion oder abnehmender Grenznutzen werden selektionstheoretisch - oder soziobialogisch oder evolutionstheoretisch, wie immer man sagen will - erklärt. Zweitens ist es nun möglich, Unterschiede in der Risikoaversion in verschiedenen kulturanthropologischen Entwicklungsstufen oder in räumlichen Gebieten mit vergleichsweise objektiver erkennbaren Unterschieden in der Krümmung der EinkommenFitness-Funktion zu erklären oder Tendenzen in der Entwicklung der Risikoaversion vorherzusagen, wenn andere Charakteristika der Zukunft bekannt sind. Damit ist es möglich, Hypothesen über zeitliche und räumliche Unterschiede in der privaten Neigung zum Erwerb von contingent claims aufzustellen. Diese unterstützen Versuche zur Erklärung gegebener historischer Sozialpolitik.
3. Bewertung von Handlungsfolgen
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b. Der Einfluß von Entscheidungen anderer Individuen auf die Bewertung von Handlungsfolgen Es ist möglich, daß die Bewertung einer Handlungsalternative systematisch davon abhängt, wie andere bezüglich derselben Handlungsalternative entscheiden. Insbesondere in den Fällen, die eine erhebliche zwischenmenschliche Interaktion bedingen, liegt die Annahme nahe, daß der vermutliche Erfolg einer Vorgehensweise damit schwankt, wie die anderen in derselben Frage vorgehen. In anderen Fällen, die kaum mit innerartlicher Konfrontation verbunden sind, scheint das wenig plausibel. Die Entscheidung eines Hamsters etwa, ob er sich einen Winternahrungsvorrat anlegt, der bis März reicht oder bis Mai reichen soll, hängt nicht davon ab, wie andere Hamster diese Frage entscheiden, d.h. die Rationalität dieser Entscheidung wird von dem Vorgehen anderer Hamster nicht berührt. Die Entscheidung eines einsamen Bauern, ein sicheres, in seinen Erträgen aber karges Getreide anzubauen, sagen wir Hirse, oder umgekehrt Weizen anzubauen, der üppige Erträge liefert, das aber nur bei günstiger Wetterentwicklung, hängt kaum davon ab, wie andere abgelegen wohnende Bauern diese Frage entscheiden. Die Entscheidung eines Menschen, den finanziellen Folgen eines Schadens grundsätzlich vorzubeugen- sei das nun durch Selbstversicherung, durch Sparen oder sei das durch Erwerb von contingent claims-wird kaum davon berührt, ob andere Menschen beschlossen haben, diesem Schaden vorzubeugen. Im folgenden geht es aber nicht um diese "Spiele gegen die Natur". Es geht um Entscheidungen unter Ungewißheit, bei denen die richtige Wahl davon abhängt, wie andere in derselben Frage unter Ungewißheit entscheiden. Ich beginne mit einer typischen spieltheoretischen Fragestellung, und zwar mit verschiedenen Anwendungen des Falke-Taube-Spiels. Ursprünglich bezieht sich dieses Spiel auf zwei Alternativen des Kampfverhaltens. Ein "Falke" greift immer an und kämpft um den gesetzten Preis, bis er nicht mehr kann, sich verletzt oder getötet wird. Eine "Taube" hingegen geht Auseinandersetzungen, welche die Gefahr einer Verletzung beinhalten, immer aus dem Weg. Welche Verhaltensweise wird positiv selektiert? In einer Welt der Tauben ist ein Falke besonders erfolgreich, da er seine Ziele allein durch Drohungen kampflos- also ohne Verletzungsrisiko- erreichen kann. Dadurch wird sich Falken-Verhalten durch genetisches oder durch soziales Lernen ausbreiten. In der somit sukzessive entstehenden FalkenWelt ist der Falke der Taube unverändert überlegen, wenn er auf sie trifft. Aber nun besteht für den Falken auch zunehmend die Gefahr, auf einen anderen Falken zu treffen. In diesem Fall wird so lange gekämpft, bis sich ein Falke verletzt. Dadurch sinkt die Überlebens- und Reproduktionswahr-
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
scheinlichkeit, die Fitness, der Falken. Wenn es sehr viele Falken gibt, wird die Falken-Fitness unter diejenige der Tauben sinken. Also werden sich die Tauben wieder ausbreiten. Diese Zyklen können gegen ein Gleichgewicht streben, das in zweierlei Weise beschrieben werden kann: entweder strebt die Population zu einer stabilen Relation zwischen Tauben und Falken. Oder jedes einzelne Individuum variiert zwischen Tauben- und Falkenverhalten in genau derselben Relation, wie sie für die Gesamtpopulation stabil wäre, zeigt also mit einer Wahrscheinlichkeit p Taubenverhalten und mit einer Wahrscheinlichkeit (1- p) Falkenverhalten. Letzteres Gleichgewicht wäre in Nicht-Nullsummenspielen eine analoge Lösung zur "mixed strategy" in Nullsummenspielen. Eine bestimmte Mischung aus Tauben- und Falkenverhalten wird dann von keiner anderen Strategie übertroffen, wenn alle anderen dieselbe Mischung aus Tauben- und Falkenverhalten realisieren. Wohlgemerkt: in einer Welt der Tauben ist der reine Falke besonders erfolgreich. Also wir d zunächst der Falke positiv selektiert und noch nicht die Falke-Taube-Misch-Strategie. Rationales Verhalten aller vorausgesetzt, wird sich aber nach und nach eine präzise Mischung beider Verhaltensweisen ausbreiten. Analog gilt auch für die "mixed strategy" im Nullsummenspiel, daß sie nur dann rational ist, wenn der Spielgegner ebenfalls die "mixed strategy" realisiert, also sich rational verhält. Die Strategie in einem Nullsummenspiel, die dann, wenn sie von allen oder zumindest den meisten Konkurrenten gespielt wird, jeder anderen Strategie überlegen ist, heißt ESS für "evolutionär stabile Strategie". Entdeckt und auch sogleich auf die Situation des Tierkonflikts angewendet wurde diese evolutions-und spieltheoretische Argumentation von dem englischen Biologen John Maynard Smithl2 im Jahre 1973. Eine Zusammenfassung der seitdem recht vehementen Forschung, die vor allem im "Joumal of Theoretical Biology" stattfand, gibt John Maynard Smith in seinem 1982 erschienenen Buch: "Evolution and the Theory of Games" _13 Gegeben seien in der Normalform des Taube-Falke-Spiels folgende völlig willkürliche outcome-Bewertungen, die in Fitness-Einheiten zu verstehen sind und Ergebnisse des Kampfes um irgendeine Ressource, um Futter, ein Territorium oder um einen Weibchen-Harem bezeichnen sollen.l4 Trifft ein Falke auf eine Taube, so gewinnt er die gesamte Ressource im Wert von 50 Einheiten, da die Taube nach dem Angriff des Falken sofort die Flucht ergreift. Trifft eine Taube auf eine Taube, so gewinnt sie in der Hälfte aller 12 John Maynard Smith und G. R. Price: The Logic of Anima! Conflict, Nature 246, 1973, S. 15- 18, und John Maynard Smith: The Theory of Gamesand the Evolution of Anima! Conflicts, Journal of Theoretical Biology 47, 1974, S. 209- 221. 13 John Maynard Smith: Evolution and the Theory of Games, Cambridge 1982. 14 Zahlen aus: Dawkins, S. 82 ff.
3. Bewertung von Handlungsfolgen
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Fälle die Ressource, also 25 Einheiten, abzüglich des Fitness-Verlustes, der mit der zwar "soften" aber zeitraubenden Taube-Taube-Auseinandersetzung verbunden ist, von, sagen wir, 10 Einheiten: im Mittel gewinnt sie also 15 Einheiten. Trifft ein Falke auf einen Falken, so wird er in einem von Stärke-Unterschieden abstrahierenden Modell jeden zweiten Kampf verlieren, was er definitionsgemäß erst nach einer Verletzung tut. Der FitnessVerlust durch eine Verletzung betrage 100 Einheiten. Als Verlierer büßt der Falke also 100 Fitness-Einheiten ein, als Gewinner bekommt er 50 Einheiten, im Mittel verliert er also bei einer Falke-Falke-Auseinandersetzung 25 Einheiten. Damit lassen sich in die Normalform des Falke-Taube-Spiels folgende Zahlen einsetzen: Taube
Falke
Taube
15,15
0,50
Falke
50,0
-25, -25
Man stelle sich nun zufälliges, paarweises Aufeinandertreffen und Kämpfen in einer Population vor, deren Mitglieder zwischen der Falke- und der Taube-Strategie wählen können. Die Erwartungswerte der Fitness einer Taube und eines Falken betragen: E (Fitness Taube) E (Fitness Falke)
15 · P Taube-Treffen + 0 · P Falke-Treffen 50 · P Taube-Treffen + (- 25) · P Falke-Treffen
Die Wahrscheinlichkeiten dafür, einer Taube oder einem Falken zu begegnen , entsprechen genau dem Anteil beider Strategien an der Gesamtpopulation. Es gilt: P Taube-Treffen + P Falke-Treffen
1
Im Gleichgewicht ist der Erwartungswert der Fitness beider Strategien gleich groß. Damit läßt sich das p Taube-Treffen - P Falke-Treffen -Paar, das alle 5 7 Bedingungen erfüllt, bei obiger pay-off-Matrix zu - - , - - errechnen. 12 12 Stabil ist in dieser Population also ein Zustand, in dem entweder cirka 42% der Individuen die Tauben-Strategie verfolgen und cirka 58% die FalkenStrategie, oder in dem jedes Individuum in ungefähr 42% der Fälle wie eine Taube und in ungefähr 58 % der Fälle wie ein Falke handeltl5. 15 Zur allgemeinen Errechnung von ESS siehe: Maynard Smith, Theory of Games, S. 11 f f. und zum Existen zbeweis S . 180 ff.
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
Es gibt viele Möglichkeiten, das Falke-Taube-Spiel auf menschliche Entscheidungssituationen fruchtbar anzuwenden. Ich werde einige Möglichkeiten referieren, die in relativ geringem Zusammenhang zur Theorie des Sozialstaats und zur menschlichen Neigung zum Handel mit contingent claims stehen, um aufzuzeigen, wie fruchtbar das Konzept evolutionär stabiler Strategien in den Sozialwissenschaften angewandt werden kann. Anschließend folgt eine Anwendung, die unmittelbar auf die Neigung zum Abschluß von Versicherungen Bezug nimmt. Da der Falke in einer RisikoSituation die Handlungsalternative wählt, die ihm unter den günstigsten Umständen den maximalen Erfolg bringt, die Taube hingegen die Handlungsalternative wählt, die den möglichen Verlust minimiert, ist das FalkeTaube-Spiel ein Spezialfall des Spieles eines Maximax-Entscheiders gegen einen Minimax-Entscheider. Welches Entscheidungsverhalten in Risikosituationen wird positiv selektiert? Bei den meisten Spielen interessanterweise keine pure Strategie, sondern ein gemischtes Vorgehen. Für Kampfspiele ist das nach den Überlegungen über Falken und Tauben evident. Während bei unabhängigem Entscheidungsverhalten, also etwa bei der Entscheidung eines einsamen Bauern zwischen kargen, sicheren und unsicheren, üppigen Erträgen, die Minimax-Regel positiv selektiert wird - oder auch eine andere Regel, aber jedenfalls nur eine Regel - wird bei abhängigem Entscheidungsverhalten entweder in der Population oder beim einzelnen Individuum eine Mischung zwischen Minimax- und Maximaxentscheidungen positiv selektiert. Das gilt auch für viele "wirtschaftliche Kampfspiele ". Gegeben sei einerseits ein hochaggressiver Wettbewerber, ein Maximax-Entscheider, der durch Preisunterbietungen und enorme Werbeetats Marktanteile und langfristig Maximalgewinne erzielen will, andererseits ein Wettbewerber mit Minimax-Psyche. Zunächst mag das aggressive Verhalten belohnt und imitiert werden. Treffen aber zwei Maximax-Entscheider bei einem Auftrag oder auf einem Teilmarkt aufeinander, so werden sie sich durch astronomische Werbeetats, die dann nur noch Kosten und keine Marktanteile mehr bringen, oder durch Preisunterbietungen gegenseitig ruinieren. Jetzt können die Minimax-Entscheider, sofern sie noch existieren, aufatmen. Bei sehr vielen Marktanteilen könnte es eine stabile Mischung zwischen Minimax- und Maximaxwettbewerbern geben, die ungefähr gehalten wir d. Geometrisch ließe sich dieses Gleichgewicht folgendermaßen darstellen:
·3. Bewertung von Handlungsfolgen
93
Gewinnzone
Verlustzone
ESS
0 %
100 %
Antei l der Wet t bewerber mit Maximax-Psyche
In Punkt A werden beide Verhaltensweisen gleich belohnt. Man erkennt, daß A ein stabiles Gleichgewicht bezeichnet: rechts von Ahaben die Maximax-Entscheider einen geringeren Gewinn als die Minimax-Entscheider, also wird ihr Anteil sinken, links von Ahaben sie einen größeren Gewinn als die Minimax-Entscheider, also wird ihr Anteil steigen. Allerdings muß es kein Gleichgewicht geben. Ich will das an einem Beispiel aus dem Straßenverkehr verdeutlichen. Bei Hindernissen auf Autobahnen oder auf mehrspurigen großstädtischen Straßen kann man immer zwei alternative Verhaltensweisen beobachten : die eine ist, sich sofort richtig einzuordnen, die andere, bis zum Hindernis vorzufahren und vorne "reinzudrücken". Im folgenden werde ich die Alternativen "Einordnen" und "Reindrücken" nennen. Daß in einer Welt der "Softies", der Tauben oder der Minimax-Entscheider der "Reindrücker" schneller ans Ziel kommt, liegt auf der Hand. Andererseits ist das in einer Welt der aggressiv-riskanten Maximax-Entscheider, von denen zusätzlich angenommen sei, daß sie- als Maximax-Entscheider- niemanden vorlassen, nicht mehr so sicher. Gibt es nun eine stabile Aufteilung der Autofahrer in Einordner und Reindrücker? Das hängt von den genauen Umständen ab:
Zeit von A nach B in Minuten
Einordner
Zeit von A nach B i n Minuten
0 % Anteil der Reindrücker
100 %
Re i ndrücker 0 %
100%
Anteil der Re indrücke r 16
16 Für hohe Prozentsätze an "Reindrückern" machen die Kurven keinen Sinn mehr, da in diesem Fall der Einordner geradezu zum "Reindrücker" würde.
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
Sicher ist: wenn A in der linken Skizze ein Gleichgewicht ist, ist es ein stabiles Gleichgewicht. Unklar ist aber, ob die Kurven so liegen, daß es einen Schnittpunkt gibt. Das hängt z. B. davon ab, wieviele Reindrücker ein "Verkehrs-Softie" jeweils hereinläßt. Läßt er immer genau ein Fahrzeug einscheren, so wird bei einer Reindrücker-Quote von 50% die ReindrückerSchlange so lang wie die Einordner-Schlange. Dann wird der Reindrücker zum "Einfädler", und in der rechten Hälfte der Skizze ändert sich die Qualität der Fragestellung. Ob es ein Gleichgewicht gibt, hängt z. B. auch von dem verkehrsfolgetheoretischen Problem ab, wie sich mit zunehmender Quote an Reindrückern die durchschnittliche Zeitdauer ändert, die alle Fahrzeuge zu der Strecke von A nach B, auf der das Hindernis liegen soll, brauchen, da, wie man bei genauerem Hinsehen erkennt, die Kurvenverläufe in den Skizzen notwendig eine Aussage zu diesem Problem implizieren. Ohne zahlreiche weitere Annahmen ist die Frage nicht entscheidbar, ob dieses Verkehrs-Spiel eine ESS hat. Zumindest müßten noch kompliziertere Kombinations-Strategien eingeführt werden wie Einordner-Reinlasser, Einordner-Auffahrer, der auf den Vorderwagen auffährt, um keinen einlassen zu müssen, Reindrücker-Vorlasser und Reindrücker-Auffahrer. Wenn man aus diesen und vielen anderen Verkehrs-Spielen sukzessive den evolutionär stabilen Fahrstil überhaupt in einer Stadt, einem Land oder in einer Region ableiten will, also die Mischung von Fahrstilen, die stabil ist und z. B. als typisch italienisch, typisch pariserisch oder als typisch amerikanisch bezeichnet wird- wie gesagt, nicht den einen Fahrstil, denn überall gibt es jeden Fahrstil, sondern das typische Mix von Fahrstilen- dann müssen Unterschiede in den jeweiligen Belohnungen für bestimmte Vorgehensweisen gefunden werden. Nur unterschiedliche Belohnungen (Schnelligkeit, Sicherheit) für bestimmte "pure strategies" lassen es ja zu, unterschiedliche stabile "mixed strategies" zu erreichen. Solche objektiven Unterschiede mögen liegen in der Straßenbeschaffenheit, der typischen Regelung an Kreuzungen, der Verkehrsdichte, der sonstigen Motorisierung, dem Beschleunigungsvermögen der Wagen und der Überwachungsintensität der Polizei. Wozu dieser Ausflug in die Verkehrspsychologie: ich deutete eine Möglichkeit an, Verhalten mit evolutions-und spieltheoretischen Überlegungen aus objektiven Gegebenheiten herzuleiten- damit auch Verhaltensänderungen mit Änderungen objektiver Gegebenheiten zu begründen. Genau dies soll für das Verhalten bei Entscheidungen unter Risiko/Unsicherheit im Hinblick auf den contingent-claims-Handel vertieft werden. Zunächst noch ein Beispiel, das mit contingent-claims-Handel unmittelbar nichts zu tun hat. Vielmehr geht es um eine andere Art der Versicherung vor Vermögensverlusten, nämlich um Anlagen-Diversifikation. Wenn es in dieser Frage eine ESS geben soll, dann muß die Rationalität von Anlagen-
3. Bewertung von Handlungsfolgen
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Diversifikation davon abhängen, wie viele andere Anleger bereits ihre Aktiva diversifizieren, dergestalt, daß diese Rationalität mit zunehmender Zahl der Diversifizierer sinkt. Andererseits müßten die Nicht-Diversifizierer solange besonders erfolgreich sein, solange sie wenige sind und mit steigender Zahl negativ selektiert werden. Zunächst ist es schwer, solche Abhängigkeiten zu entdecken. Es wird leichter, wenn man das Spiel als Auseinandersetzung zwischen dem vollen Anlagen-Diversifizierer und dem intelligenten Nicht-Diversifizierer begreift. Letzteren möchte ich lieber als intelligenten Spekulanten bezeichnen, da der Verzicht auf Diversifikation in einer Risiko-Umgebung nur Spekulation bedeuten kann- also Verzicht auf die Durchschnittsrendite zugunsten der Hoffnung auf eine überdurchschnittliche Rendite-, ersteren möchte ich als Nicht-Spekulanten bezeichnen. Der intelligente Spekulant zeichnet sich dadurch aus, daß er aufgrund betriebswirtschaftlicher, volkswirtschaftlicher, psychologischer Kenntnisse, aufgrund seines besonderen Insider-, Branchen- und Markteinblicks die fundamentale Entwicklung auf einem Markt im allgemeinen richtig einschätzt. Das heißt, daß er in einer Welt der Nicht-Spekulanten tatsächlich eine überdurchschnittliche Rendite erwirtschaftet. Er wird also in einer Welt der Nicht-Spekulanten positiv selektiert. Wenn nun die Zahl der intelligenten Spekulanten steigt, wird es schwieriger für den intelligenten Spekulanten, erfolgreich zu sein. Da auch die anderen Spekulanten die fundamentale Entwicklung eines Preises richtig antipizieren, wird diese Fundamentalentwicklung in kürzester Zeit vorweggenommen. Wenn auf einem Markt neue Daten bekannt werden, darf der Spekulant nicht mehr nur über die vermutliche Fundamentalentwicklung nachdenken. Er muß, da dies viele tun, für eine richtige Markt-Prognose insbesondere darüber nachdenken, wie die anderen die Entwicklung des Marktes beurteilen.17 Er muß, mit anderen Worten, auf einem Markt, der von der Spekulation geprägt wird, über die Spekulation spekulieren. Dieses intelligent zu tun, ist selbst für einen besonders intelligenten, kenntnisreichen, mit psychologischen Gesetzen vertrauten Menschen nicht ganz leicht. Zudem werden auch die anderen Spekulanten über die Spekulation spekulieren. Also muß der besonders intelligente Spekulant darüber spekulieren, wie die anderen Spekulanten über die Spekulation spekulieren. Wenn auch die anderen dies tun, muß er sich auf die nächste Meta-Ebene bewegen. Er muß darüber spekulieren, wie die anderen Spekulanten darüber spekulieren, wie die Spekulation über die Spekulation spekuliert. Irgendwann gibt es keine psychologischen Gesetze mehr und irgendwann wird auch unklar, welche MetaEbene die richtige ist. Intelligentes Spekulieren wird unmöglich. Die Prognose über die Preisentwicklung unterscheidet sich in nichts mehr von der 17 Das schrieb schon Keynes: John Maynard Keynes: The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936, 12. Kapitel.
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
Prognose über die nächste Roulette-Zahl. Der intelligente Spekulant scheitert im Mittel bei jeder zweiten Spekulation. Es kann angenommen werden, daß er negativ selektiert wird. Sterben die Spekulanten auf diesem Wege aus, so wird es bald wieder nichtspekulationsgeprägte Märkte geben, intelligentes Spekulieren wird wieder möglich sein und das Spiel beginnt von neuem. Eine bestimmte Gleichgewichts-Relation von intelligenten Spekulanten und von Voll-Diversifizierern kann als Lösung unterstellt werden. Zwei Anmerkungen: erstens ist es wichtig, den intelligenten Spekulanten als Gegenspieler zum Diversifizierer zu setzen, da der ungeschickte Spekulant sofort negativ selektiert wird. Zweitens sind die meisten Menschen gleich auf mehreren Märkten Spekulanten. Zum Beispiel halten die meisten Menschen nur eine Währung, spekulieren also sozusagen in der Währung ihres eigenes Landes, statt einen Währungskorb zu halten. Außerdem beteiligen sich die meisten Menschen nur an ihren eigenen Humankapitalinvestitionen: statt Anteile am zukünftigen Einkommen eines anderen Menschen zu erwerben, der gerade ein MBA macht oder einen Programmierer-Kurs besucht, investiert man Humankapital nur in sich selbst. Hier ist intelligentes Spekulieren - also der Verzicht auf Diversifikation - auch besonders rational, da man natürlich über sich selbst über die besten Insider-Kenntnisse verfügt. Außerdem entstehen Probleme wegen moral hazard, die aber prinzipiell durch coinsurance, durch Selbstbeteiligung, lösbar wären. Die bisherigen Überlegungen leisten nicht viel für eine Theorie des Sozialstaats. Sie erklären die Vielgestaltigkeit der Welt, machen rational, daß es immer unter anderen Menschen gibt: Schläger, Maximax-Entscheider, Risiko-Liebhaber, brutale Wettbewerber, rabiate Autofahrer und Spekulanten. Das könnte für eine Theorie der Schadensvolumina relevant sein, die in eine Theorie des Sozialstaats eingepaßt werden könnte. Wichtiger scheint es aber, eine evolutionär stabile Strategie für die Neigung zum contingent-claims-Handel zu entdecken, falls sie existiert. Die prinzipielle Neigung zur Versicherung ist- wie gesagt- eine Fragestellung unabhängigen Verhaltens. In dieser Frage wird es keine ESS geben, weil die Rationalität der Vorbeugung gegen finanzielle Folgen von Schäden grundsätzlich nicht davon berührt wird, ob andere gegen Schadensfolgen vorbeugen. Das gilt aber nicht für verschiedene Arten der Versicherung: GüterLager, Sparen, bedingtes Kredit-Versprechen, bedingtes Güter- oder Geldversprechen. Die beiden ersten Arten des Vorheugens gegen die finanziellen Folgen von Schäden nennen wir Selbstversicherung, die letzte Form, also den Kauf des Versprechens, im Schadensfall Geld oder Güter zu bekommen, Versicherung. Die Vorbeugung gegen mögliche finanzielle Lasten durch Kreditlinien will ich im folgenden nicht weiter diskutieren, da es sich um einen Zwitter aus Sparen und Versicherung handelt. Einerseits ähnelt dieser Fall dem Sparen, da der Erwerb von Forderungen für den Fall großen Liqui-
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ditätsbedarfs ja nützlich ist, weil man diese verkaufen oder beleihen kann, also auch Kredite erwerben kann, andererseits unterscheidet sich ein bedingtes Kreditversprechen, das man etwa für den Fall eines Arbeitsunfalls erwirbt, von dem bedingten Versprechen auf eine Geldzuweisung für den Fall eines Arbeitsunfalls letztlich nur im Preis, wobei der Preisunterschied wesentlich die Spekulation über die weitere Zahlungsfähigkeit des Arbeitsunfall-Opfers widerspiegelt. Auch die Selbstversicherung durch Güter-Lager will ich nicht weiter diskutieren, da sie nur für Tiere und Jäger-und-Sammler relevant ist. Bleibt die Frage, ob es zwischen den Versicherungsarten "Vermögensbildung" und "Versichern" eine ESS gibt. Angenommen, alle suchten Schäden durch Vermögensbildung (Finanzaktiva, Immobilienerwerb, sonstige Aktiva) vorzubeugen. In dieser Welt müssen die Mitglieder einer Innovatoren-Gruppe, die sich wechselseitig für den Schadensfall Geldzuweisungen versprechen, also eine Versichertengemeinschaft bilden, wesentlich weniger sparen für dieselbe Sicherheit. Außerdem ist es möglich, daß viele gar nicht das Vermögen hätten bilden können, das zur Deckung teuerer Schadensfälle hingereicht hätte. Die Innovatoren-Strategie wird also aus zwei Gründen positiv selektiert: sie erlaubt mehr Konsum, und sie bringt für viele überhaupt erst Sicherheit vor schweren Risiken. Die Annahme höheren proKopf-Konsums gilt natürlich nur ceteris paribus, d. h. für einen kleinen Anteil von Mitgliedern des Versicherungsvereins im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Ob der Gesamtkonsum steigen kann, und ob das Um-SichGreifen von Versicherungsvereinen auf Dauer die Kapitalbildung verringert, ist eine theoretisch und empirisch viel diskutierte Fragestellung, die ich hier nicht vertiefen will. Etwas streifen muß ich sie dennoch. Durch die Verbreitung der Innovator-Gruppe der Versicherer sinkt die Nachfrage nach Alt-Vermögenstiteln. Da das Angebot, etwa aus den jeweiligen Vermögensauflösungen wegen Eintretens von Schadensfällen, zunächst gleich hoch bleibt, sinken die Preise von Vermögenstiteln, wodurch die Renditen, also die Effektivverzinsungen, steigen. Ebenso sinkt durch die Verbreitung von Versicherung das Angebot an neu anlagesuchenden Mitteln: bei gleicher Neuinvestition wird der Zins steigen. Ich will den Zinseffekt in Erinnerung behalten. Betrachten wir zunächst die Gruppe der Menschen, die sich in der Versicherungsgemeinschaft organisiert hat. Diese Gruppe wird immer größer und immer anonymer. Da die Mitglieder sich immer weniger mit der Gemeinschaft identifizieren, da sie einander kaum kennen und damit auch einander kaum in zufällig-uninstitutionalisierter Weise kontrollieren können, steigt die Unbedenklichkeit im Riskieren des versicherten Schadens an (moral hazard erster Art), häuft sich gar echter Versicherungsbetrug und nimmt die Neigung zu, die Versicherung im Schadensfall auszunutzen, d. h. den Scha., den teuer beheben zu lassen oder noch teuerer zu machen, als er ursprüng7 Seuferle
IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
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lieh war (moral hazard zweiter Art). 18 Dadurch steigen die Mitgliedsbeiträge. Zugleich haben wir in Erinnerung, daß der Zins gestiegen ist. Die Alternative zur Versicherung, nämlich dem Schaden durch Vermögensbildung vorzubeugen, ist also gleichzeitig attraktiver geworden, da Sparen wegen dem hohen Zins stärker belohnt wird und ein Vermögen rascher aufgebaut werden kann. Es könnte also eine ESS zwischen Versichern durch Vermögensbildung und Versichern durch contingent-claims-Handel geben. Sehr stark erscheinen mir die Abhängigkeiten aber nicht. Zudem müßte man noch eine dritte Strategie betrachten, nämlich diejenige sehr vieler kleiner Versicherungsgemeinschaften, die das moral-hazard-Problem nicht kennen, dafür aber wegen recht hoher Varianz des Gesamtschadens mehr Vermögen bilden müssen. Der Einfachheit halber möchte ich bei zwei Alternativen bleiben. Es gibt beispielsweise folgende Möglichkeiten: Fall 2
Fall 1
Fall 3
Fitnes s u.a. als Funktion von Kon-
sunspielraun und
Sicherheit
0 %
100 %
Pr ozentsatz der ~it glieder der Versiche rtengemeinschaft an der Gesamtbevölkerung
Im ersten Fall ist die Versicherungsstrategie immer überlegen. Das gilt für teuere, schwer beeinflußbare Risiken, wie etwa für einen schweren Arbeitsunfall, eine schwere Verletzung oder Krankheit, Wasserschäden, Hagelschäden, einen teueren Haftpflichtfall oder den Tod des Familienernährers. Im zweiten Fall bricht die Versicherungsstrategie wegen moral hazard sofort zusammen: das Risiko ist de facto nicht versicherbar. Das gilt etwa für das Risiko, eine Prüfung nicht zu bestehen oder für das Konkursrisiko eines Unternehmers. Wohlgemerkt macht diese Darstellung die Dichotomie Versicherbarkeit-Nicht-Versicherbarkeit zu einem Kontinuum, was m.E. der empirischen Lage wesentlich näherkommt, da immer wieder versucht wird, schwer oder nicht versicherbare Risiken zu versichern. Im dritten Fall gibt es eine ESS. Das kann man sich vorstellen für relativ billige, begrenzt beeinflußbare Risiken wie Zahnbehandlung, leichte 1s Zu dieser Unterscheidung siehe: Friedrich Breyer: Moral Hazard und der optimale Krankenversicherungsvertrag. Eine Übersicht, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 140, 1984, S. 288- 307.
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Krankheiten, kleinere Operationen, Gerichts- und Anwaltskosten, Sachbeschädigungen am eigenen Auto, Hausrat-Schäden, Diebstahl bei geringen Sachwerten. Es gilt auch für prozentuale oder absolute Selbstbeteiligungen an größeren Risiken. Bisher wurde entweder angenommen, gleiche Schäden seien für alle Menschen gleich wahrscheinlich, oder die Prämien wären so kalkuliert, daß sie den verschiedenen Wagnissen genau entsprächen: mit anderen Worten wurde von der adverse-selection-Problematik abgesehen. Diese kann jedoch bewirken, daß die Versicherer-Fitness-Kurven in den drei betrachteten Fällen eine deutlich negativere Steigung haben. Im zweiten Fall bewirkt adverse-selection einen noch rascheren Zusammenbruch der Versichertengemeinschaft. Die Beiträge beginnen wegen moral hazard sofort zu steigen mit der Folge, daß die "guten Risiken" die Versichertengemeinschaft verlas,., sen. Dadurch müssen die Beiträge weiter steigen. Wenn wegen jeder Beitragssteigerungdurch Austritt eines "guten Risikos" das nächste dann vergleichsweise zu gut gewordene Risiko austritt, bricht die Gemeinschaft zusammen. Ebenso ist es möglich, daß die Gemeinschaft nicht zusammenbricht, weil das nächstbeste Risiko trotz gestiegenen Beitrags den Nutzen des Verbleibs in der Versichertengemeinschaft höher schätzt als den Nutzen des Austritts. Im dritten Fall der ESS werden einige die Versichertengemeinschaft verlassen, weil sie die geringe Größe ihres persönlichen Risikos nicht angemessen in den allgemeinen oder in den unzureichend differenzierten Beiträgen berücksichtigt finden. Andererseits werden einige Selbstversicherer der Gemeinschaft beitreten, da sie wissen oder mehr oder weniger zu Recht glauben oder fühlen, daß ihr persönliches Risiko größer ist, als es dem allgemeinen Beitrag oder dem Wagnisklassenbeitrag entspricht. Bei einer ersten Beitragserhöhung wegen moral hazard in der Versicherergruppe ist also anzunehmen, daß gute Risiken austreten und schlechte Risiken bleiben. Dadurch verstärkt sich die negative Neigung der VersichererFitness-Kurve. Die ESS wird somit weiter links liegen, also bei einem geringeren Anteil von denjenigen, die die Versicherungsstrategie wählen, sofern adverse-selection nicht überhaupt einen Zusammenbruch der Gemeinschaft bewirkt. Im ersten Fall mag auch eine stärkere negative Steigung der Versicherer-Kurve die Rationalität der Versicherungsstrategie nicht gefährden. Kennt man die ESS, so weiß man, in welchem Umfang contingent claims für die angesprochenen Ereignisse dezentral oder freiwillig gehandelt werden würden. Kennt man Tendenzen, denen die Versicherer-Dichte-abhängigen Sparer- und Versicherer-Fitness-Kurven im Zeitablauf unterliegen, so kennt man Tendenzen in der Neigung zum contingent-claims-Handel für die betrachteten Ereignisse. Das wäre der Nutzen einer Sparen-Versichern-ESS für eine positive Theorie des Sozialstaats. Normativ spricht für die ESS in dem hier betrachteten Fall- das ist nicht immer so-, daß sie der Population 7'
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
eine höhere durchschnittliche Fitness bringen als reines Sparverhalten oder reines Versichern. Ungleich komplizierter ist es allerdings, diese Beobachtung mit der Gruppen-Fitness in Verbindung zu bringen. c. Der Einfluß von Normen und Gesetzen auf
die Bewertung von Handlungsfolgen
Um zu dieser uferlosen Thematik nicht zu weitschweifig werden zu müssen, will ich sie von vornherein auf die Betrachtung der Handlungsalternative "Erwerb eines contingent claims" eingrenzen. Es geht also darum, wie Normen und Gesetze (auch die "Gesetzeswirklichkeit") die Bewertung der Handlungsalternative "Erwerb eines contingent claims" beeinflussen. Zunächst muß man fragen, in welchen Dimensionen die Handlungsalternative, irgend etwas zu kaufen, überhaupt bewertet werden kann, und wie Normen und Gesetze auf diese Dimensionen wirken. Bei dem Kauf irgendeines Produkts beachten wir: Preis, Qualität, Spezifikation und Brauchbarkeit, Lieferzuverlässigkeit, Substitute. Bei dem Erwerb eines contingent claims beachten wir dieselben Dimensionen, wobei allerdings, wenn es sich um einen bedingten Anspruch auf Geld handelt, Aspekte der Zuverlässigkeit mit der Dimension "Qualität" verschmelzen, da diese allein Qualitätsunterschiede begründen können. Das wesentliche Problem der Zuverlässigkeit im Handel mit contingent claims besteht darin, ob Verträge überhaupt eingehalten werden: natürlich hängt meine Wertschätzung eines bedingten Anspruchs wesentlich von der Wahrscheinlichkeit ab, mit der ich erwarte, im Falle des Eintretens der Bedingung tatsächlich Leistungen zu erhalten. Folglich wird in einer Welt, in der zur Gewaltanwendung "legitimierte" Instanzen die Einhaltung privater Verträge erzwingen, der Handel mit contingent claims reger sein, als in einer Welt ohne Zwang zur Vertragseinhaltung. Aber auch in einer Welt, in der die Informationskosten über die Zuverlässigkeit des Handelspartners nicht prohibitiv groß sind, also etwa in einem Dorf oder in einer Stadt oder auch in einem größeren Gebiet, das mit modernen Kommunikationsmitteln vernetzt ist, kann sich Handel mit contingent claims entwickeln, ohne daß staatliche Instanzen Vertragseinhaltung erzwingen. Analog zu Trivers' Modell, das erklärt, daß reziproker (nachtragender) Altruismus in einer Welt, in welcher der Austausch von Hilfsleistungen zur Debatte steht, unter gewissen Umständen die positiv selektierte Strategie ist, kann man argumentieren, daß eine Strategie nachtragender Vertragseinhaltung, welche den Handel mit contingent claimssukzessive auf die zuverlässigen Tauschpartner beschränkt, in einer Welt positiv selektiert wird (also alsbald deskriptiv vorherrscht), in welcher Abschluß und Einhaltung von Verträgen zur Debatte stehen. Mit anderen Worten: das Aufkommen einer Norm der Ver-
3. Bewertung von Handlungsfolgen
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tragseinhaltung, die notwendige Bedingung für einen nennenswerten Handel mit contingent claims ist, kann sowohl gruppen- als auch individualselektionstheorisch erklärt werden. Normen und Gesetze haben entscheidenden Einfluß darauf, welche Art von bedingten Ansprüchen gebraucht und damit gehandelt werden. Besonders deutlich wird das z. B. für die Regelung der Haftpflicht: je nach deren Ausgestaltung müssen eher die potentiellen Opfer contingent claims für den Fall des Geschädigt-Werdens kaufen, oder müssen eher die potentiellen Schädiger contingent claims für den Fall des Schaden-Zufügens kaufen. Auch der technische Fortschritt produziert immer neue Bedingungen, unter denen es sinnvoll sein mag, Ansprüche zu erwerben: etwa der Anspruch auf Krankenbehandlung, der mit dem Fortschritt der Medizin an Attraktivität gewinnt. Oder der Anspruch auf Ersatz des Eigentums bei Diebstahl, Feuer, Sturm oder Wasserschaden, der erst relevant wird, wenn anders als z. B. bei Jägern und Sammlern, nennenswertes persönliches Eigentum existiert. Der Anspruch auf Geldleistungen im Fall von Arbeitslosigkeit wiederum wurde mit dem Aufkommen einer kapitalistischen Produktionsweise bedeutsam. Damit wurden die Aspekte der Zuverlässigkeit und der Brauchbarkeit angeschnitten, die für die Entscheidung zum Erwerb eines bedingten Anspruchs wichtig sind, und die von Normen und Gesetzen beeinflußt werden. Weiter sind mögliche Substitute zum contingent claim relevant. Dieselben Leistungen, die man durch Erwerb eines bedingten Anspruchs erhalten kann, kann man von Mitmenschen erhalten, die sich altruistisch verhalten, entweder weil sie gemäß den (sozio-)biologischen Altruismus-Theorien dementsprechend genetisch geprägt sind, oder weil sie eine allgemein herrschende Norm des HUfsverhaltens befolgen. Wie auch immer: wenn ich z. B. damit rechnen kann, daß jeder kundige Autofahrer einem anderen, der eine Panne hat, sogleich hilft, wird meine Neigung, dem ADAC beizutreten, also unter anderem den bedingten Anspruch "kostenlose Pannenhilfe" einzukaufen, geringer sein. Ebenso werden Eltern weniger Ansprüche auf Transfers in hohen Lebensjahren erwerben, wenn sie erwarten können, daß ihre Kinder sie im Alter großzügig unterstützen werden. Das ist nicht verwunderlich: Hilfsverbalten kann als Realtausch unter Einbezug von contingent claims aufgefaßt werden. Wenn folglich Menschen in großem Umfang contingent claims "in kind" erwerben, also einander helfen, müssen sie in weniger großem Umfang contingent claims "in cash" erwerben. Im Prinzip gilt also, daß eine Norm allgemeinen Hilfsverhaltens, die so wirksam gepredigt wird, daß sie tatsächlich menschliches Handeln beeinflußt, ebenso wie genetisch begründetes Hilfsverbalten das Volumen des explizit vorgenommenen Handels mit contingent claims tendenziell verringert. Normen beeinflussen auch den Preis bedingter Ansprüche. Wenn die herrschende Ethik so gestaltet ist und so wirksam ist, daß sie etwa dazu führt,
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IV. Fitness und Ausstattung mit contingent claims
daß gegen einen Schaden versicherte Menschen unverändert, also trotz der Versicherung, erheblichen Aufwand zur Schadensvermeidung treiben, eine Norm der allgemeinen Vorsicht befolgt wird, dann werden contingent claims für den betrachteten Schaden recht preiswert sein. Das wird den Handel anregen. Wenn umgekehrt in erheblichem Umfangmoral hazard als nachlassender Schadensvermeidungsaufwand beobachtet werden kann, werden contingent claimsrecht teuer werden, was dazu anregt, die Notwendigkeit ihres Erwerbs zu überdenken, was wiederum bei unzureichender Wagnisklassendifferenzierung zu adverse selektion führen kann, welche nach und nach durch das Aussteigen der "guten Risiken" den Preis des contingent claims in eine solche Höhe treibt, daß der Handel praktisch zum Erliegen kommt. Kurz gesagt: sind in einer Gesellschaft Normen wirksam, die offenen und verdeckten, legitimen und illegitimen Versicherungsbetrug verhindern, so wird in dieser Gesellschaft mehr mit contingent claims gehandelt, als in einer Gesellschaft, in der moral hazard bedingte Ansprüche verteuert und damit unter anderem zu einer solchen Ökonomisierung des Handels mit contingent claims beiträgt, daß auch adverse selektion als möglicher Auslöser des Zusammenbruchs eines Versicherungsmarktes verstärkt befürchtet werden muß. Normen verlieren ihre Bedeutung allerdings weitgehend dann, wenn durch Selbstbeteiligung und Wagnisklassendifferenzierung gegen moral hazard und adverse-selektion effizient vorgegangen wird. Damit gilt das Argument vorwiegend für staatliche Zwangsversicherungen, die keine Selbstbeteiligung vorsehen und unzureichend oder gar nicht nach Wagnisklassen differenzieren, die andererseits als Zwangseinrichtungen nicht befürchten müssen, daß der "Handel" mit contingent claims darunter leidet, daß sich der bedingte Anspruch verteuert. Nochmals: grundsätzlich beeinflussen Normen den Preis von contingent claims. Für hocheffiziente Versicherungsmärkte, die mit "coinsurance" und Wagnisklassendifferenzierung arbeiten, gilt das allerdings nur geringfügig. Für staatlich erzwungene Versicherungen gilt das zwar durchaus, bleibt aber ohne Auswirkungen auf das Handelsvolumen in dem betrachteten bedingten Anspruch.
V. Die Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen, welche die Fitness einer Gruppe maximiert 1. Vorbemerkungen
In diesem Abschnitt geht es um eine selektionstheoretische Analyse der Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen auf Gruppenebene. Instrumente werden die Gruppenselektionstheorie in Verbindung mit der Kulturselektionstheorie sein, wobei auch die Rückwirkung von Gruppenmerkmalen auf die Gruppenselektion, die die Ableitung evolutionär stabiler Strategien hinsichtlich des Gruppenverhaltens erlauben würde, kurz betrachtet werden wird. Kampf und Wettbewerb um Ressourcen und Habitate zwingen Gruppen, die überleben wollen - auf Dauer kann man also nur sagen: zwingen Gruppen- zur Maximierung ihrer Fitness, d. h. ihrer Überlebenswahrscheinlichkeit: die tautologische Wahrheit dieser Aussage folgt aus dem tautologischen Charakter der Evolutionstheorie. Eine Gruppe überlebt, solange nicht ihre sämtlichen Mitglieder plötzlich sterben- vielleicht bis auf einen unbedeutenden Restbestand -, solange sie nicht von einer anderen Gruppe unter Verlust ihrer Autonomie "geschluckt" wird, und solange sie nicht ebenfalls unter Autonomieverlust auf andere Gruppen aufgeteilt wird. Positiv ist das Überleben einer Gruppe schwer definierbar: mag es noch präzisierbar sein, warum wir glauben, daß z. B. die Gruppe "Frankreich" zwischen 1960 und 1970 "überlebt" hat, so ist unter anderem wegen Wanderungen zwischen Gruppen schwer zu präzisieren, warum wir glauben, daß Frankreich zwischen 900 und 1980 "überlebt" hat. Es erscheint mir am besten, festzustellen, daß der Gruppe "Frankreich" zwischen 900 und 1980 keines der drei geschilderten Ereignisse (Aussterben, "Geschluckt"-Werden, AufgeteiltWerden) widerfuhr. Jürgen Habermas weist auf eine Möglichkeit hin, die Frage des Überlebens von Gruppen viel stärker zu problematisieren, als ich dies hier tun will: die Maßstäbe für "historisches Leben und Überleben" eines gesellschaftlichen Systems seien von Interpretationen abhängig, die in dem betrachteten gesellschaftlichen System selbst erzeugt würden.l. Das mag richtig und beachtenswert sein, für die folgenden Ausführungen reicht aber eine pragmatischere Sichtweise von Gruppen-Überleben aus. 1 Jürgen Habermas : Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien, Frankfurt am Main 1970, S. 176.
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V. Gruppenfitness und sozialstaatliche Paradigmen
Welcher Handel mit contingent claims maximiert nun die Fitness einer Gruppe? Allgemeiner: Wie müssen die Merkmale A, B, C, D ... in verschiedenen Beschreibungsdimensionen einer Gruppe ausgeprägt sein, um die Gruppen-Fitness zu maximieren? Da wir- wie in Abschnitt III, 3 ausführlich dargestellt - die Wirkungen eines Merkmals auf die Fitness einer Gruppe nur unter der Voraussetzung der Richtigkeit der explikativen Verwendung der Theorie der Evolution durch Selektion messen können, d. h. nur dergestalt messen können, daß die gegebene Ausprägung dieses Merkmals als Fitness-maximierend vermutet wird, sind empirische Untersuchungen dieser Art als Explanans für gegebene Merkmalausprägungen völlig ungeeignet. Vielmehr muß versucht werden, mit Hilfe sogenannter "theoretischer" Überlegungen zu untersuchen, wie Merkmale die Fitness einer Gruppe beeinflussen. Diese Aufgabe ist beinahe unlösbar, da wir über den Einfluß verschiedener Merkmale auf Einflußfaktoren von GruppenFitness höchstens qualitative Vorstellungen haben, also nur die Einflußrichtung betreffende Vorstellungen, da ein Merkmal im allgemeinen heterogene qualitative Einflüsse ausübt, die in Abwesenheit einer Quantifizierung kaum zu einem Urteil über die Gesamtwirkung amalgamiert werden können, und da die diversen Merkmale dergestalt äußerst vielfältig miteinander verbunden sind, daß nur bestimmte extrem vieldimensionale Tupel von Ausprägungen aller Merkmale technisch, sozialtechnisch oder "sozialpsychologisch" realisierbar sind. Die folgenden Überlegungen, die aus Gründen mangelnder Operationalisierbarkeit der eingehenden Variablen überwiegend nicht-formal gehalten sind, würden, sofern dieses Problem nicht bestünde, dem mathematischen Kalkül der nicht-linearen Programmierung entsprechen. Nach diesem Kalkül wird eine Zielfunktion, in diesem Fall die Gruppen-Fitness-Funktion, die von allen möglichen Gruppenmerkmalen in einer nicht notwendig linearen Weise abhängt, unter Nebenbedingungen, die neben Gleichungen insbesondere auch Ungleichungen sein können, maximiert. Die Nebenbedingungen, deren Zahl beliebig ist, verbinden in ebenfalls nicht notwendig linearer Weise Gruppenmerkmale und definieren zusammen die Menge aller möglichen Kombinationen von Merkmalausprägungen. Aus dieser Menge wird mit Hilfe bestimmter vereinfachender Verfahren (im Fall einer linearen Zielfunktion und linearer Nebenbedingungen z. B. der sogenannten Simplex-Methode2) die Merkmalkombination - es können auch mehrere sein errechnet, welche die Zielfunktion, also die Gruppen-Fitness, maximiert. Gehört die Ausprägung sozialstaatlicher Paradigmen zu den Parametern der Zielfunktion oder geht sie in Nebenbedingungen ein (als reine ;,Anhängselvariable" könnte sie auch nur in einer Nebenbedingung auf2 Alpha C. Chiang: Fundamental Methods of Mathematical Economics, 2. Auflage, New York 1974, S. 651.
1. Vorbemerkungen
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scheinen), so errechnet das Kalkül der nicht-linearen Programmierung unter anderem die Gruppen-Fitness-maximierenden Ausprägungen sozialstaatlicher Paradigmen, die folglich selektionstheoretisch zu erwarten sind. Eine viel weitergehende Methode, die in den folgenden verbalen Überlegungen nicht einmal implizit enthalten ist, die aber die nicht-lineare Programmierung zum Spezialfall degradiert, wäre die dynamische Programmierung, die es erlauben würde, zu errechnen, welcher Zeitpfad der Ausprägung von Sozialstaat unter Nebenbedingungen gewisse Zielgrößen maximieren würde.3 Wenn es für ein brauchbares Explanans für das Explanandum eines gegebenen Sozialstaats nicht gestattet ist, die Gruppen-Fitness-Funktion empirisch zu bestimmen, ist es dann wenigstens möglich, unpräzise empirische Betrachtungen darüber anzustellen, ob gewisse Einflußfaktoren "wichtiger" als andere sind? Ist es wertvoll, wenn wir etwa durch "casual empiricism" feststellen, daß untergehende Gesellschaften häufig durch Dekadenz und Sittenverfall oder durch eine Vernachlässigung der Waffenproduktion gek ennzeichnet sind, daß untergehende Tiergruppen häufig durch Übervölkerung oder umgekehrt durch Fortpflanzungsverzicht gekennzeichnet sind? Solche Überlegungen sind nicht unbedeutend. Sie stehen aber auch unter dem Fluch der Zirkularität: wir wollen sie als Explanans für Merkmalausprägungen verwenden, müssen aber feststellen, daß sie mit dem Explanandum identisch sind. Ein Merkmal kann für die Fitness- sei es für eine Gruppe, sei es für ein Individuum - in zweierlei Hinsicht "wichtig" sein: es kann "Design-notwendig" sein in dem Sinne, daß seine Anwesenheit kaum auffällt, seine Abwesenheit aber die Fitness völlig zusammenbrechen läßt, d. h. die Überlebenswahrscheinlichkeit fast auf Null sinken läßt; in die Fitness-Funktion müßte es also multiplikativ eingehen. Design-notwendig ist es etwa für eine Gazelle, daß sie an den Beinen nicht verletzt ist, daß sie laufen kann. Empirisch läßt sich die Design-Notwendigkeit eines Merkmals an seiner annähernden All-Verbreitung erkennen. Wofür kann man die Erkenntnis der Design-Notwendigkeit eines Merkmals, die in eine entsprechend spezifizierte Fitness-Funktion eingehen mag, verwenden? Um die All-Verbreitung dieses Merkmals zu erklären. Wieder einmal wird das Explanandum nicht nur vom Explanans erklärt, sondern ist zugleich die einzige Möglichkeit, daß Explanans empirisch zu verifizieren. Folglich darf die Design-Notwendigkeit eines Merkmals in einem Explanans für die All-Ausbreitung dieses Merkmals nicht mit empirischen Überlegungen begründet werden. Vielmehr müssen theoretische Überlegungen, die allerdings durch andersartige empirische Zusammenhänge unterstützt werden dürfen, die Design-Notwendigkeit eines Merkmals begründen: im Falle der Gazelle ist es leicht einzuse3
Chiang, S . 771.
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V. Gruppenfitness und sozialstaatliche Paradigmen
hen, wie wichtig es für sie ist, laufen zu können, und zwar mit Argumenten, die unabhängig von der explikativen Verwendung der Theorie der Evolution durch Selektion sind. Eine andere Art von "Wichtigkeit" kann ein Merkmal dadurch erreichen, daß es gerade nicht Design-notwendig ist, sondern im Gegenteil, weil die Design-notwendigen Merkmale sowieso allgemein verbreitet sind und keine Fitness-Unterschiede mehr begründen, gerade durch seine nicht überragende "Wichtigkeit" heterogen verteilt ist und folglich Fitness-Unterschiede -und letztlich ist Fitness ja ein relatives Prädikat- entscheidend determiniert. Diese Form von Wichtigkeit ist strikt zeitbezogen. Es handelt sich darum, daß ein Merkmal in dem Sinne wichtig ist, daß im Augenblick die Evolution wesentlich über dieses Merkmal "läuft", der wesentliche Selektionsdruck auf diesem Merkmal lastet, die Adaption im Ablaufen und nicht schon abgeschlossen ist, weil das Merkmal im Moment recht heterogen auf Gruppen, Phänotypen oder Genotypen verteilt ist. Das mag für menschliche Gesellschaften etwa in bestimmten Zeiträumen für die Verwendung von Pflug- und Zugtier, für die Verwendung von Kraftmaschinen, für den Eisenbahnbau oder für die Gewerbefreiheit gegolten haben. Empirisch erkennt man zeitbezogen wichtige Merkmale daran, daß es im Augenblick eine starke Tendenz hin zu einer bestimmten Ausprägung dieses Merkmals gibt. In eine Gruppen-Fitness-Funktion müßte das Merkmal mit hohem Gewicht eingehen, damit eine solche Funktion zusammen mit dem Kalkül der mathematischen Programmierung als geeignetes Explanans für die starke "Bewegung", die hinsichtlich dieses Merkmals stattfindet, dienen kann. Zugleich kann das Explanans nur mit Hilfe des Explanandums auf empirischem Wege für richtig befunden werden. Den Ausweg aus der zirkulären Erklärung bieten wie immer theoretische Überlegungen - irgendwie begründete Mutmaßungen darüber, welche Merkmale zu einem bestimmten Zeitpunkt starkem Selektionsdruck ausgesetzt sind, also in dem Sinne "wichtig" sind, daß sie in Populationen von Gruppen oder Phänotypen unterschiedlich ausgeprägt sind. Um zusammenzufassen: natürlich ist es legitim, durch "casual empiricism"- insbesondere der Beobachtung von "Tier-Todesfällen" und "Gesellschafts-Untergängen" - Vermutungen über die relative Bedeutung von Merkmalen für die Überlebenswahrscheinlichkeit des Merkmalträgers anzustellen. Es fragt sich nur, wozu man diese Vermutungen verwendet. Verwendet man sie zur Erklärung von Merkmalausprägungen, indem eine Fitness-Funktion unter Nebenbedingungen maximiert wird, in deren Spezifikation diese Vermutungen eingehen, so zeigt sich, daß dieses Verfahren der (nicht-linearen) mathematischen Programmierung zwar durchaus das Explanandum abzuleiten vermag, die Korrektheit der Spezifikation der Fitn.ess-Funktion aber ebenfalls nur mit Hilfe des Explanandums gezeigt werden kann. Zwar ist somit "casual empiricism" durchaus zur Spezifikation
1. Vorbemerkungen
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einer Fitness-Funktion geeignet, nicht aber dafür, mit dieser Funktion anschließend gegebene Merkmalausprägungen zu erklären, da diese Erklärung zirkulär wäre. Aus diversen Gründen ist es unmöglich, auf empirischem Wege eine über "casual empiricism" hinausgehende exakte Fitness-Funktion abzuschätzen, obwohl dies möglich scheint. Fitness definierte ich als "expected time to extinction", ETE. Angenommen, man verdächtige eine bestimmte Anzahl von Merkmalen A, B, C, D, ... der Beeinflussung der Fitness einer Gruppe, eines Phänotypen oder eines Genotypen, so folgt: Expected time to extinction = f (A, B, C, D, ... ) Da nun in einer Reihe von Fällen tatsächlicher "extinction" die Merkmalausprägungen, A, B, C, D, ... gemessen werden können, folgt: Actual time to extinction = f (A, B, C, D, ... , Zufall) Als Schätzgleichung kann man ansetzen: Actual time to extinction = a 0 + a 1A + a2B + a3C + a4D + ... +
E
Auf diesem Wege sind die Parameter a 0 bis an und damit die relative Wichtigkeit von Merkmalen ermittelbar. Allerdings: ist die relative Wichtigkeit einiger Faktoren- wie oben erläutert- strikt zeitbezogen, weswegen auch die Fitness-Funktion strikt zeitbezogen ist und mit vergangenen oder zeitlich gemischten "extinction-Fällen" nicht geschätzt werden kann; ist die Zahl der erkannten Fitness-Einflußfaktoren immer zeit- und personbedingt; mag oftmals ein nicht-linearer Ansatz- wie oben erläutert etwa die Multiplikation von Merkmalen -korrekt sein; tritt aufgrundvon Nebenbedingungen, die zwischen Merkmalen gelten, nur eine begrenzte Menge von Merkmalkombinationen empirisch auf, so daß die gesamte wahre Fitness-Funktion in Abhängigkeit von diesen Merkmalen nicht geschätzt werden kann, da ihre Datenbasis systematisch begrenzt ist. Einige dieser Probleme sind typisch für ökonometrische Analysen, insbesondere von Querschnittsdaten.4 Ungefähre Aussagen über eine FitnessFunktion sind natürlich ableitbar, exakte hingegen nicht. Auch diese wären allerdings als Explanans wegen der besprochenen Zirkularität unbrauchbar. Es bleibt also nur der Versuch, der Gruppen-Fitness-Funktion mit theoretischen Reflexionen beizukommen. Das Hauptproblem besteht darin, quali4
Hans Schneeweiß: Ökonometrie, 3. Auflage, Würzburg und Wien 1978, vor allem
S. 34, 37ff., 51 und 189.
108
V. Gruppenfitness und sozialstaatliche Paradigmen
tative Urteile im Sinne von Richtungsurteilen bezüglich der Wirkung von Merkmalen auf die Gruppen-Fitness zu einer Gesamtfunktion zusammenzusetzen. Dies muß in einer intersubjektiv prüfbaren Weise geschehen. Ansonsten könnte man annehmen, daß das Geschick eines guten Sozialwissenschaftlers ausreicht, qualitative Urteile so zu einer Gruppen-FitnessFunktion zu verbinden, wie es seiner jeweiligen Absicht entspricht, d. h. so, daß er das beweisen oder erklären kann, was er beweisen oder erklären möchte. Durch Weglassen von Merkmalen, Übergehen von Nebenbedingungen und einigen isolierten "Wichtigkeitsurteilen", mit denen heterogene Fitness-Effekte eines Merkmals in homogene (unidirektionale) Effekte umgewandelt werden, sowie durch starke Betonung anderer Nebenbedingungen läßt sich schließlich alles beweisen. Ich möchte kühn behaupten, daß dies die Vorgehensweise des typischen soziologischen Beitrags aus der funktionalistischen Schule ist. Selbst ein Text wie Max Webers "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" 5 , der über die Anregung der Kapitalbildung die protestantische Ethik ursächlich mit dem Kapitalismus verbindet, den ich im übrigen für ein Musterbeispiel erfolgreichen Tätigseins der klassischen Soziologie halte und dem ich intuitiv zustimme, steht in der Tradition der geschickten, eloquenten Heraushebung einiger Zusammenhänge und der Unterdrückung anderer Zusammenhänge (etwa der geringen Konsumanregung durch protestantische Ethik) durch überwiegend nicht erläuterte und explizit erwähnte "Wichtigkeitsurteile". Ein erster Schritt zu überprüfbarem Nachdenken über eine Gruppen-Fitness-Funktion besteht darin, die Gruppen-Fitness in Komponenten zu zerlegen. Gruppen-Fitness heißt ja Wahrscheinlichkeit des Untergangs einer Gruppe. Diese läßt sich in die Wahrscheinlichkeit des Untergangs durch Aussterben, durch "Geschluckt"-Werden und durch Geteilt-Werden aufspalten, also in die Wahrscheinlichkeiten der drei Fälle von Untergang. Wie diese Einzelwerte zur gesamten Untergangswahrscheinlichkeit zusammenzusetzen sind, bleibt natürlich ungeklärt. Die Wahrscheinlichkeit des Überlebens einer Gruppe durch Aussterben läßt sich wiederum aufteilen in die Wahrscheinlichkeit des Aussterbens durch die Umwelt einer Gruppe und in die Wahrscheinlichkeit des Aussterbens bei konstanter im Sinne von nichtagierender Umwelt durch Handlungen der Gruppe selbst. Natürlich ist keine Aufteilung in Fitnesskomponenten besser als eine andere, die gewählte Aufteilung ergibt sich rein pragmatisch aus mehreren Möglichkeiten zur Bildung disjunkter Unterkategorien. Ich habe mich für die folgende Aufspaltung der Untergangswahrscheinlichkeit einer Gruppe in zehn disjunkte Unterkategorien entschieden und sie anhand von Beispies Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: derselbe: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, 5. Auflage, Tübingen 1963, s. 183- 195.
1. Vorbemerkungen
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len erläutert. Für die folgenden Betrachtungen seien die Fitnesskomponenten mit kleinen Buchstaben als Komponenten a, b, c, d, e, f, g, h, i, j abgekürzt. Wslk. d. Aussterbens bei krnstanter i. S. v,
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AufZlrllt.sven.oeigerung
.. durch di-___., .• lebender ,_SelbstiiDrd rekte Totung
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Individ:
Sctn.angeren......._ Intergruppenaggression sonstige
~-sonstige
Wslk. des Aussterbens
\
uC~~~=~t • ~
, .durch rekte Totung
Investitionsverzicht
(b)
Um.el.tz.erst6rung
•• noch nicht
Ressourcenüberaus:,_......--- beutung --Fortpflanzungsverzicht ~ IX'• differentielle ......._ Fortpflanzung Frli