Grundlagen des institutionalistischen Rechtspositivismus [1 ed.] 9783428457175, 9783428057177


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Grundlagen des institutionalistischen Rechtspositivismus [1 ed.]
 9783428457175, 9783428057177

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D. Ν. M A C C O R M I C K / Ο. W E I N B E R G E R

Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus

Schriften

zur

Rechtetheorie

Heft 113

Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus

Von

Donald Neil MacCormick und Ota Weinberger

DUNCKER

&

HÜMBLOT/BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus / v o n Donald N e i l MacCormick u. Ota Weinberger. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1985. (Schriften zur Rechtstheorie; H. 113) I S B N 3-428-05717-1 NE: MacCormick, Donald N e i l [Mitverf.] ; Weinberger, Ota [Mitverf.] ; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1985 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1985 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3-428-05717-1

Vorwort Aus zwei Gründen haben w i r uns entschlossen, eine Reihe von A r beiten i n einem gemeinsamen Buch zu veröffentlichen: 1. die von uns entwickelten rechtstheoretischen Konzeptionen stimmen weitgehend überein; 2. w i r hoffen, daß die vorgelegte Lehre als eigenständige und ausbaufähige Rechtstheorie angesehen werden kann, die w i r deswegen der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Diskussion vorlegen wollen. Es ist i n der Wissenschaftsgeschichte kein allzu seltenes Phänomen, daß gewisse Theorien von verschiedenen Forschern unabhängig voneinander und ungefähr zur gleichen Zeit entwickelt wurden. Das berühmteste Beispiel ist wohl die Erfindung der Infinitesimalrechnung durch Leibniz und Newton. Wissenschaftssoziologisch gesehen ist die größere oder kleinere Wahrscheinlichkeit solcher Übereinstimmungen durch verschiedene Umstände bedingt. Die kulturelle und geistige Entwicklung bietet i n gewissen Momenten die Möglichkeit, gewisse Konzeptionen zu entwickeln. Die aktuelle Problemsituation w i r f t gewisse Probleme auf und führt zu gewissen Betrachtungsweisen und Formen von Hypothesen bzw. Theorien. Und schließlich bedingt oft eine ähnliche Ausbildung der Forscher und eine analoge kulturelle Situation, daß ähnliche Ideen von verschiedenen Autoren entwickelt werden. I n unserem Fall, d. h. bei der Entwicklung des Institutionalistischen Rechtspositivismus, sind unsere Ergebnisse vollkommen unabhängig voneinander entstanden — w i r kannten einander weder persönlich, noch unsere Arbeiten. Unsere akademische Schulung ist i n verschiedenen Rechtskreisen vor sich gegangen, w i r hatten verschiedene Lehrer sowohl i m Bereich der Jurisprudenz als auch i n jenem der Philosophie. Beide sind w i r jedoch i m Geiste einer analytischen oder strukturtheoretischen Jurisprudenz geschult worden, beide interessieren w i r uns gleichzeitig sowohl für logische und methodologische wie auch für soziologische und politische Probleme des Rechts. Beide standen w i r vor derselben Problemsituation i n der Jurisprudenz und suchten Antworten auf dieselben Fragen der Rechtstheorie, die uns von keiner der etablierten Lehren angemessen beantwortet zu sein schienen. Weder der reine Normativismus noch der Rechtsrealismus noch die verschiedenen soziologischen Rechtstheorien geben befriedigende Erklärungen des Wesens und der Existenz des Rechts. Es gab also offenbar eine gemeinsame Basis für unsere Untersuchungen, doch war unsere Zutrittsweise und die wissenschaftliche Aufgabenstellung, die w i r vor Augen hatten, nicht

Vorwort

6

die gleiche. MacCormick untersuchte die Grundfrage der analytischen Jurisprudenz, die logische Struktur der juristischen Argumentation und die Abhängigkeit umgangssprachlicher Äußerungen vom Recht, während Weinberger neben den strukturtheoretischen Problemen des Rechts und der Rechtsdynamik sich intensiv m i t der philosophischen und semantischen Grundlegung der Normenlogik befaßte. U m so mehr waren w i r überrascht und erfreut, als w i r eine so weitgehende Ä h n lichkeit unserer Ergebnisse feststellen konnten. Erfreut hauptsächlich deswegen, w e i l w i r darin eine gewisse Bestätigung unserer Ansichten erblickten, daß w i r auf verschiedenen Wegen zu gleichen Resultaten gelangt sind. Die Frage der Priorität erscheint uns einerseits unwichtig, andererseits sind w i r der Meinung, daß sie keinem von uns zusteht, bzw. nicht genau bestimmt werden kann. MacCormick hat das erste Programm des Institutionalistischen Rechtspositivismus vorgelegt, und zwar i n seiner Antrittsvorlesung „Law as Institutional Fact" (1973), Weinberger hatte i m wesentlichen die gleichen Gedanken i n seinem Aufsatz „Die Norm als Gedanke und Realität" (1969) ausgedrückt und ist — ohne Kenntnis der MacCormickschen Arbeit — später auch zur selben Terminologie gelangt [in dem Aufsatz „Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen" (1979)]. Die i n diesem Band abgedruckten Arbeiten sollen unseren Weg zum Institutionalistischen Rechtspositivismus belegen sowie die Hauptthesen und das weitere Programm dieser Lehre darstellen. Nach der allgemeinen Einleitung folgen die Arbeiten i n chronologischer Reihenfolge. Sie wurden für die Wiederveröffentlichung stellenweise stilistisch adaptiert und ergänzt. Die Übersetzungen der Arbeiten von MacCormick haben Dr. Alfred Schramm und Univ.-Doz. Dr. Peter Strasser durchgeführt. W i r danken dem österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung für die Übernahme der Übersetzungskosten. Frau Gabriela Taucher danken w i r für die sorgfältige Vorbereitung des Manuskripts und Herrn Dr. Dr. Peter Koller, Frau Mag. Dr. Herlinde Pauer-Studer, Herrn Dr. Alfred Schramm für die Hilfe bei der Durchführung der Korrekturen. Frau Dr. Pauer-Studer hat dankenswerterweise das Namen- und Sachverzeichnis des Buches angefertigt. Den Verlegern der Erstpublikationen der hier abgedruckten Arbeiten danken w i r für die Genehmigung des Wiederabdrucks. Edinburgh, Graz 1984

D. Neil MacCormick Ota Weinberger

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Ausgangspunkte des Institutionalistischen Rechtspositivismus

11

OTA WEINBERGER Vorbemerkung

11

1. Die Rechtsontologie des Institutionalistischen Rechtspositivismus .. 12 1.1. Die Problemsituation: Rechtstheorie zwischen Normativismus und Realismus 12 1.2. Normenontologie jenseits von Normativismus und Realismus: Das Dasein des Rechts nach institutionalistischer Auffassung 15 1.3. Die semantische und logische Basis des Institutionalistischen Rechtspositivismus 19 2. Tatsachen: rohe und institutionelle Fakten 2.1. Anmerkungen zur Geschichte des Terminus sachen4: Anscombe und Searle 2.2. Institution und Regel 2.3. Die menschliche Welt und ihre Beschreibung 2.4. Gibt es rohe Tatsachen?

22 »institutionelle

Tat-

22 25 28 30

3. Die Struktur des Rechts 30 3.1. Allgemein: Die Aufgabenstellung der Strukturtheorie des Rechts .. 30 3.2. Die spezifischen Züge der institutionalistischen Strukturtheorie des Rechts 32 3.3. Institutionen und die sie bestimmenden Regeln 35 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6.

Der Streit um das Naturrecht aus der Sicht des Institutionalistischen Rechtspositivismus 37 Meine Zutrittsweise zum Streit um das Naturrecht 38 Was führt die Rechtsphilosophen zum Naturrecht? 39 Was führt die Rechtsphilosophen zum Rechtspositivismus? 40 Typologie der rechtspositivistischen und der naturrechtlichen Lehren 41 Fragwürdige Thesen beider Parteien 44 Warum ich mich für einen Rechtspositivisten halte 49

5. 5.1. 5.2. 5.3.

Abschließende Anmerkungen Zur Institutionentheorie Zur juristischen Methodenlehre Zur Gerechtigkeitstheorie Ein Postskriptum zu Weinbergers Einleitung D. N E I L M A C C O R M I C K

50 50 53 55 57

8

Inhaltsverzeichnis Die Norm als Gedanke und Realität

60

OTA WEINBERGER Vorwort 1. Basis und Ziel der ontologischen Wesensbestimmung der Norm 2. Die Idealität der Norm 3. Die Eigenart des Normgedankens 4. Die Norm als Realität 5. Die Rechtsordnung in gedanklicher und realer Perspektive 6. Der Charakter der Rechtswissenschaften 7. Die Normenlogik als Hilfswissenschaft der Rechtswissenschaften Das Recht als institutionelle Tatsache

60 61 61 64 66 70 72 .. 74 76

D. N E I L M A C C O R M I C K 1. 2. 3.

Institutionelle Tatsachen und rechtliche Institutionen Rechtliche Institutionen und die Struktur der Rechtssysteme Das Transzendieren von institutionellen Tatsachen Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen

76 87 98 108

Eine logisch-methodologische Überlegung zu einem Grundlagenproblem der Sozialwissenschaften OTA WEINBERGER 1. 2. 3. 4. 5.

Problemstellung Rohe Tatsachen und ihre Beschreibung Menschabhängige Tatsachen und ihre Beschreibung Typologie der praktischen Sätze und Begriffe Konsequenzen für die methodologische Grundauffassung schaftswissenschaften Anmerkung

108 109 114 116 der Gesell122 123

Über analytische Jurisprudenz

124

D. N E I L M A C C O R M I C K Einleitung 1. Das Problem des Rechtswissens 2. Rechtliche Tatsachen sind institutionelle Tatsachen 3. Der problematische Charakter der rohen Tatsachen 4. Wir brauchen eine hermeneutische Methode Jenseits von Positivismus und Naturrecht

124 126 129 133 134 140

OTA WEINBERGER 0. 1.

Problemsituation und Aufgabenstellung Das Recht als institutionelle Tatsache und die Grundlage der rechtswissenschaftlichen Methode (i) Die These des Non-Kognitivismus (ii) Das normenlogische Positivitätspostulat (iii) Überlegungen de lege lata u n d Überlegungen de lege ferenda

140 142 144 144 145

Inhaltsverzeichnis 2.

Kritische Betrachtungen über den Begriff

des Rechtspositivismus

3.

Sachliche Gründe für eine naturrechtliche

Auffassung

4.

Braucht man für die inhaltliche Rechtsbegründung die Idee des Naturrechts? 152 (i) Die Methode der schwachen (selbstverständlichen) Voraussetzungen 154 (ii) Die Methode der konsensstrebigen Analysen 154

5.

Die Rolle des analytischen Zutrittes zur Rechtstheorie bei der Auflösung des Streites zwischen Rechtspositivisten und Naturrechtlern

155

Recht, Moral und Positivismus

156

D. NEIL

. . 145 149

MACCORMICK

1.

Eine Art des Positivismus

156

2.

Rechtsregeln und die interne Betrachtungsweise

160

3.

Der hermeneutische Zugang zur Rechtstheorie

165

4.

Die Konvergenz von Positivismus und Naturrecht

172

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

176

Skizze einer handlungstheoretischen und non-kognitivistischen Gerechtigkeitslehre OTA 1.

Die (i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi)

WEINBERGER

Problemsituation in der Gerechtigkeitstheorie Gerechtigkeit als formales Prinzip Gerechtigkeit als materiales Apriori . Anthropologisch gegebene Gerechtigkeitsprinzipien Die utilitaristischen Gerechtigkeitskriterien Gerechtigkeit als Fairneß Gerechtigkeit nach Maßgabe einer Normenordnung

2.

Gerechtigkeitspostulate

3.

Der non-kognitive

4.

Strukturtheorien

5.

Die Funktion

als Handlungsdeterminanten

Charakter der praktischen Argumentation des praktischen Denkens

189

Gerechtigkeitspostulate

7.

Gerechtigkeit in Ethik, Jurisprudenz und politischer Theorie

8.

Der Charakter der Gerechtigkeitsargumentation des Non-Kognitivismus

9.

Rationale Methoden der materialen praktischen Argumentation .. (a) Die Methode der „selbstverständlichen" Voraussetzungen (b) Die Analyse der Ausgewogenheit des Rollenspiels (c) Das Prinzip der Gegenseitigkeit in partnerschaftlichen Beziehungen (d) Konsens und Gerechtigkeit Der dialektische

im Kontext des Entscheidens

Charakter

185 186 188

von Vorsätzen, Normen und Werten

6.

10.

178 178 181 181 181 182 184

vom Standpunkt

der praktischen Argumentation

191 192 193 195 196 197 198 198 200

Inhaltsverzeichnis

10

Institutionelle Moral und die Verfassung

202

D. N E I L M A C C O R M I C K 1.

Einleitung

2.

Positivismus

202 und das Problem des Rechtsirrtums

3.

Theorie der institutionellen

4.

Institutionelle

5.

Positivistische

6.

Praktische Vernunft

202

Moral

205

Moral und die britische Verfassungstheorie Voraussetzungen der institutionellen und verfassungskonstituierende

207

Moral

213

Gewohnheit..

Die Grenzen der Rationalität im Rechtsdenken

217

222

D. N E I L M A C C O R M I C K 1.

Einführung

2.

Anmerkungen

.

222

3.

Das Rechtsdenken und die Grenzen der Rationalität

über die praktische Rationalität

223 236

Die Conditio Humana und das Ideal der Gerechtigkeit

243

OTA WEINBERGER 1.

Die Rolle der Gerechtigkeitstheorie

2.

Die anthropologische Zutrittsweise

3.

Gerechtigkeitsideale

4.

Der analytisch-dialektische gen

243 zum Problem der Gerechtigkeit

als Handlungsdeterminanten Charakter

245 246

der Gerechtigkeitsüberlegun-

249

5.

Formale Gerechtigkeitspostulate

250

6.

Naturrecht

253

7.

Postulate der gerechten Rechtsanwendung (a) Das Postulat der wahren Tatsachenfeststellung (b) Das Postulat der Realisation (c) Postulate der Verfahrensgerechtigkeit

254 254 254 254

8.

Ausgewogenheit des Rollenspiels als Postulat der Gerechtigkeit

254

9. 10.

oder Gerechtigkeitsüberzeugungen

Kollektives

Handeln

Aktuelle Aspekte der Gerechtigkeitsproblematik (a) Konservative oder reformatorische Gerechtigkeit (b) Gemeinschaftliche und übergemeinschaftliche Orientierung Gerechtigkeit (c) Prospektive Gerechtigkeit

256 256 256 der

256 257

Quellenverzeichnis

259

Namen-

260

und Sachverzeichnis

OTA WEINBERGER

Einleitung: Ausgangspunkt des Institutionalistischen Rechtspositivismus Vorbemerkung Die von MacCormick und m i r entwickelten rechtsphilosophischen Auffassungen weisen — wie schon i m Vorwort erwähnt und wie der Leser aus den hier abgedruckten Arbeiten ersehen kann — große Ähnlichkeit auf, was nicht nur die gemeinsame Herausgabe der vorliegenden Studien, sondern auch die Bezeichnung unserer Lehren m i t einem gemeinsamen Namen ,Institutionalistischer Rechtspositivismus' rechtfertigt. I n diesem Kapitel möchte ich versuchen, die philosophischen Ausgangspunkte und die Grundthesen des Institutionalistischen Rechtspositivismus zu skizzieren und einen Ausblick auf die theoretischen Leistungen und die m i r vorschwebenden Perspektiven dieser Lehre zu gewähren. Für die dabei ausgesprochenen Meinungen, ihre Darlegungsweise und Begründung b i n ich allein verantwortlich. Dieser Hinweis erscheint m i r deswegen wichtig, weil ich m i r sehr wohl bewußt bin, daß gewisse Unterschiede i n der Gewichtung der Thesen und ihrer Begründungsweise zwischen MacCormick und m i r bestehen, j a daß es gewisse Teilfragen gibt, wo unsere Ansichten nicht deckungsgleich sind. I m philosophischen Bereich w i r d der Leser sicherlich bemerken, daß MacCormick Oxford nicht nur geographisch näher steht als ich, und daß ich als logischer Rekonstruktivist von den Konzeptionen der Ordinary Language Philosophy weiter entfernt b i n als mein Koautor. Ferner ist offensichtlich, daß bei uns beiden die Frage der sprachlichen und logischen Analyse eines unserer zentralen Anliegen ist, doch daß bei m i r die spezifische Problematik der Normenlogik zentralere Bedeutung hat als bei meinem geschätzten Kollegen; begreiflicherweise, denn ich befasse mich seit etwa vierzig Jahren m i t Normenlogik und ihrer Rolle i n der Jurisprudenz 1 .

1 I m A n h a n g zu dieser A b h a n d l u n g stellt N e i l MacCormick einige ergänzende Überlegungen an u n d gibt zu einigen Punkten, i n denen seine Auffassung v o n meiner abweicht, Stellungnahmen ab.

12

Ota Weinberger 1. Die Rechtsontologie des Institutionalistischen Rechtspositivismus2

Der IRP ist vor allem eine rechtsontologische Konzeption, die sich wesentlich von den traditionellen Voraussetzungen der Rechtstheorie sowie der praktischen Philosophie überhaupt unterscheidet, denn er gibt eine neuartige, nicht traditionelle A n t w o r t auf die Fragen nach dem Wesen des Rechts und nach der Daseinsweise gesellschaftlicher Normensysteme. 1.1. Die Problemsituation: Rechtstheorie zwischen Normativismus und Realismus Die herrschenden Auffassungen des Rechts und die rechtsphilosophischen Erklärungen der Daseinsweise des Rechts bewegen sich — wenn ich richtig sehe — zwischen zwei Polen: dem Normativismus und dem Rechtsrealismus. Die konkreten Lehrmeinungen schwanken i n gewisser Weise zwischen diesen Extrempositionen. Nach normativistischer Konzeption ist das Recht nichts anderes als ein Normensystem, d.h.: eine Menge irgendwie miteinander zusammenhängender Idealentitäten (objektiv verstehbarer Gedankeninhalte) m i t normativem Sinn. Die Existenz des Rechts w i r d als Daseinsweise von Idealentitäten angesehen. Das Recht als Sinngebilde kann intersubjektiv übermittelt und aufgrund von sprachlichen Kommunikaten verstanden werden. I m einzelnen w i r d die Daseinsweise der gesellschaftlichen Normensysteme von den einzelnen normativistischen Lehren unterschiedlich expliziert, und es w i r d hierbei i n verschiedener Weise oft auch auf andere, nicht-normative Tatsachen bezug genommen. Darin und i n der Begründungsweise der Geltung des Rechts als eines Systems sowie der Geltungsbegründung der einzelnen Normen i n diesem System unterscheiden sich die einzelnen normativistischen Lehren untereinander. Den extremsten Normativismus stellt wohl Kelsens Reine Rechtslehre dar. Ihre hervorstechendsten Kennzeichen sind die Ausklammerung alles Nichtnormativen durch das Reinheitspostulat 3 , die Begründung der Geltung von Rechtsnormen durch höhere (besser: vorgeordnete) Normen, wodurch die Rechtsdynamik als Vorgang dargestellt wird, der nur i m Bereich der Normen — und nicht i m Bereich der sozialen Tatsachen — vor sich geht 4 , und die Grundnorm als bloße 2 F ü r ,Institutionalistischer Rechtspositivismus' werde ich die A b k ü r z u n g ,IRP' verwenden. 3 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., W i e n 1960, S. 1. 4 H. Kelsen, a.a.O., S. 196: „Allerdings bildet i n dem Syllogismus, dessen Obersatz der die höhere N o r m aussagende Soll-Satz ist: m a n soll den Geboten Gottes (oder den Geboten seines Sohnes) gehorchen, u n d dessen Schlußsatz der die niedere N o r m aussagende Soll-Satz ist: m a n soll den Zehn Gebo-

Einleitung

13

Annahme (Hypothese, transzendentalphilosophische Voraussetzung oder fiktive Norm) zur letztinstanzlichen Begründung der objektiven Geltung der Rechtsordnung 5 . Zur Rechtfertigung der erwähnten Grundnormvoraussetzung arbeitet allerdings auch Kelsen m i t dem Begriff der Wirksamkeit (Effektivität oder Faktizität) der Rechtsordnung sozusagen als Rechtfertigung der erwählten Grundnormvoraussetzung. Die Wirksamkeitsfrage ist aber zweifellos von der Prüfung soziologischer Tatsachen abhängig, was eine „reine" Beantwortung der Geltungsfrage unmöglich macht 6 . Daraus folgt: Es kann keinen reinen Normativismus geben. Der Rechtsrealismus geht von der These aus, daß nur Sätze, die tatsächliches, der Beobachtung zugängliches Geschehen beschreiben, wahr sein können, und daß daher auch die Darstellung des Rechts i n der Beschreibung von beobachtbaren Vorgängen i n der Gesellschaft und i n der Bestimmung von deren gesetzmäßigen Zusammenhängen bestehen muß. Gegenstand der Rechtsbetrachtungen sind jene gesellschaftlichen Einrichtungen, die m i t dem Recht zu t u n haben, wie Gerichte und Behörden sowie der Stab von Menschen, die professionell mit dem Recht befaßt sind. Für den Rechtsrealisten ist Gegenstand der Rechtserkenntnis das Verhalten des Rechtsstabs, die Feststellung der faktischen Regelmäßigkeiten seines Verhaltens und die prognostische Bestimmung des zu erwartenden zukünftigen Verhaltens der Staatsorgane. Die rechtsrealistischen Lehren sind i n verschiedenem Maße antinormativistisch; die einen leugnen überhaupt, daß Normen sinnvolle Gedanken sind, die anderen anerkennen die Normen nur als psychische Realitäten i m Bewußtsein des Rechtsstabs oder sie betrachten sie als Charakteristik der ideologischen Einstellung des Rechtsstabs7. Die aktuten (oder dem Gebot, seine Feinde zu lieben) gehorchen, der eine Seins-Tatsache feststellende Satz: Gott hat die Zehn Gebote erlassen (oder der Sohn Gottes hat befohlen, die Feinde zu lieben) als Untersatz ein wesentliches Glied. Obersatz u n d Untersatz sind beide Bedingungen des Schlußsatzes. A b e r n u r der Obersatz, der ein Soll-Satz ist, ist conditio per quam i m Verhältnis zum Schlußsatz, der auch ein Soll-Satz ist; das heißt, die i m Obersatz ausgesagte N o r m ist der Geltungsgrund der i m Schlußsatz ausgesagten Norm. Der als Untersatz fungierende Seins-Satz ist n u r conditio sine qua non i m Verhältnis zum Schlußsatz; das heißt: die i m Untersatz festgestellte SeinsTatsache ist nicht der Geltungsgrund der i m Schlußsatz ausgesagten Norm." 5 H. Kelsen, a.a.O., S. 197-209; ders., Allgemeine Theorie der Normen, posthum hrsg. v o n K. Ringhof er, R. Walter, W i e n 1979, S. 295 ff. Z u r K r i t i k vgl. O. Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz u n d Ethik. Eine Auseinandersetzung m i t Hans Kelsens Theorie der Normen, Berl i n 1981, S. 135, 174. 6 Dies hat Kelsen w o h l nicht bemerkt. 7 Während Hägerström w o h l der markanteste Vertreter der erstgenannten Konzeption ist, anerkennt Alf Ross, der bekannteste Rechtsrealist (der sogar Arbeiten über normenlogische Probleme geschrieben hat), sehr w o h l das Recht als ein System normativer Sinngebilde, die als Ideologien des Richters

14

Ota Weinberger

eilen realistischen Lehren anerkennen meist die Normen als Elemente des Rechtslebens und leiten bloß die Geltung der Rechtsnormen vom Verhalten der Menschen, und insbesondere von jenem des Rechtsstabs, ab. Die Problemsituation, vor die die Autoren, welche den IRP entwickelt haben, gestellt waren, läßt sich kurz i n folgender Weise charakterisieren: auf der einen Seite erscheint es kaum bestreitbar, daß das Recht dem Sinn nach aus Normen besteht, was nur auf dem Boden einer längst überwundenen neopositivistischen Philosophie, die nur jene Sätze als sinnvolle ansah, die Wahrheitsfähiges ausdrücken, d.h. die reine Sachverhaltsbeschreibungen zum Inhalt haben, i n Zweifel gezogen werden kann; auf der anderen Seite, nämlich bei den Normativisten, bleibt die Explikation der gesellschaftlichen Existenz der Normensysteme unbeantwortet. Schon aus der Betrachtung der normativistischen Lehren selbst w i r d ersichtlich, daß das Dasein des Rechts nicht ohne Bezug auf beobachtbare Tatsachen akzeptabel begründet werden kann. Hierzu möchte ich eine markante Passage aus Kelsens klassischem Aufsatz „Was ist die Reine Rechtslehre?" zitieren: „Die eigenartige Beziehung zwischen dem natürlichen Sein der normsetzenden und normentsprechenden A k t e einerseits und dem Sollen der gesetzten und entsprochenen Rechtsnormen anderseits, konstituiert die spezifische Rechtswirklichkeit oder, was dasselbe ist, die Positivität des Rechts 8 ." Dieses Zitat charakterisiert prägnant die ganze Problemsituation; es zeigt aber auch, daß auf dem Boden der üblichen ontologischen Konzeptionen, die Sein und Sollen als verschiedene ontische Bereiche einander gegenüberstellen, das Dasein des Rechts nicht adäquat expliziert werden kann. Das Wesen der gesellschaftlichen Erscheinungen und Einrichtungen sowie die Entstehung und Wirkungsweise rechtlicher Regulative kann i m Rahmen der üblichen ontologischen Vorstellungen nicht verstanden werden. Es geht hier also keineswegs bloß darum, eine Kompromißtheorie zwischen Normativismus und Realismus aufzufinden, sondern i n dessen Verhalten zur Geltung kommen. Vgl. A . Hägerström, in: Die P h i l o sophie der Gegenwart i n Selbstdarstellungen, hrsg. v o n JR. Schmidt, Bd. 7, Leipzig 1929, S. 111 - 159; ders., Inquiries i n t o the Nature of L a w and Morals, hrsg. v o n Κ . Olivecrona, Uppsala, Wiesbaden 1953; A . Ross, O n L a w and Justice, London 1958, S. 75 ff. Seine normenlogischen A r b e i t e n sind v o r allem: ders., Imperatives and Logic, Theoria 7 (1941), S. 5 3 - 7 1 ; ders., Directives and Norms, London 1968. 8 H. Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? Zuerst i n : A . Verdross (Hrsg.), Demokratie u n d Rechtsstaat, Festschrift f ü r Zaccharia Giacometti, Zürich 1953, S. 143 -161, i n : H. Klecatsky, R. Marcic, Η. Schambeck (Hrsg.), Die W i e ner rechtstheoretische Schule, W i e n 1968, Bd. 1, S. 615.

15

Einleitung

u m eine tief ergreif ende philosophische Aufgabe: es muß eine dem menschlichen Dasein und der Explikation der gesellschaftlichen Realität entsprechende Ontologie — eine Ontologie der Normen und Institutionen — geschaffen werden, i n der der Begriff der Existenz von gesellschaftlichen Normen (insbesondere von Rechtsnormen) nicht als ein Verwunderung erregendes In-Kontakt-Stehen oder Überlappen von Sollen und Sein erscheint und i n der Sollenselemente n u r als Bewußtseinsinhalte wirksam sind, sondern i n der das reale Dasein von Normen ein selbstverständlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, die als bloßer Ablauf von sukzessiven Zuständen, d . h . beobachtbarem Verhalten, gar nicht verstanden oder erklärt werden könnte. 1.2. Normenontologie jenseits von Normativismus Das Dasein des Rechts nach institutionalistischer

und Realismus: Auffassung

Wenn w i r die menschliche Lebenswelt verstehen und erklären wollen, wenn w i r das Funktionieren der Gesellschaft m i t ihren verschiedenartigen Einrichtungen ebenso wie das Verhalten der Einzelnen erfassen wollen, müssen w i r davon ausgehen, daß der Mensch ein handelndes Wesen ist, daß er handlungsfähig ist als Einzelner und daß er auch gemeinschaftliches Handeln zustande bringt. Die Normenontologie muß daher handlungstheoretisch fundiert werden, d. h. das Wesen der Normen als Idealentitäten ebenso wie das reale Dasein von Normen muß m i t Rücksicht auf ihre Funktion als Handlungsdeterminanten definiert werden. Handlung ist informationsbestimmtes Verhalten. Nur dann, wenn w i r voraussetzen dürfen, daß dem Handelnden Handlungsspielräume zur Verfügung stehen, i n denen der Verhaltensablauf von einem dem Akteur zugeschriebenen — bzw. von i h m durchgeführten — Informationsverarbeitungsprozeß abhängt, weil uns dies als Erfahrungstatsache bekannt ist, können w i r sinnvollerweise von Handlungen sprechen 9 . Die Handlungstheorie muß allerdings noch eine angemessene Beschreibung der m i t der Handlung verbundenen Informationsprozesse vorlegen; dies kann m. E. nur durch eine formale Theorie dieser Operationen geschehen, nicht jedoch durch den bloßen Hinweis auf die Willenhaftigkeit dieser Vorgänge, denn, obwohl die Willens- und Wertungsprozesse uns gewissermaßen durch unser Erleben vertraut sind, müssen sie selbst expliziert werden, und dies geschieht eben durch eine formale Theorie der dem Wollen entsprechenden Informationsverarbeitungsprozesse 10 . Ohne 9 Vgl. die ersten skizzenhaften Andeutungen, w i e ich m i r eine solche Theorie vorstelle, in: O. Weinberger, Studien zur formal-finalistischen Handlungs^ theorie, F r a n k f u r t / M . , Berlin, New Y o r k 1983. 10 Vgl. O. Weinberger , Freedom, Range for A c t i o n and the Ontology of Norms, Philosophy and L a w , Sonderheft, i n Drude.

16

Ota Weinberger

daß w i r hier auf Details eingehen müßten, können w i r sagen, daß Handeln von Tatsacheninformationen abhängt (Situationsinformationen, Erkenntnissen über Kausalbeziehungen), denn dies ist heute ein Gemeinplatz. Dagegen w i r d vielfach übersehen, daß zum Handeln auch technologisches Wissen (Know-how) verschiedener Komplexität (dieses Wissen ist keine bloße Implikation des Kausalwissens, wenn auch Kausalwissen ins technische Wissen einfließt) und die Kenntnis gewisser erlernter Handlungsgeschicklichkeiten erforderlich sind. Der handlungsbestimmende Prozeß beruht außerdem immer noch auf weiteren Bestimmungsstücken: Absichten, Einstellungen und einer spontanen A k t i v i t ä t zum Handeln. Wenn w i r die Bestimmung der Handlung als Informationsverarbeitungsprozeß darstellen wollen, w i r d ein besonderer Typus von Informationen auftreten, die w i r »praktische Informationen 4 nennen können. Sie geben Ziele an, Normen, Wertstandards, Präferenzen u. ä., die die Handlung stellungnehmend bestimmen. Die Struktur der handlungsbestimmenden Informationstransformation bildet die philosophische Motivation für die Erstellung einer Semantik für die praktische Philosophie, welche die Trennung von Tatsacheninformation (beschreibender Information) und praktischer Information sicherstellt (siehe Abschnitt 1.3.). Normen sind als ein wichtiger Typus von praktischen Informationen anzusehen: es kommt ihnen die Rolle einer spezifischen A r t von Handlungsdeterminanten zu; und dadurch tragen sie zur Strukturierung von Institutionen bei. Normen sind zunächst als Idealentitäten, als gedanklich-sprachliche Gebilde, aufzufassen. Ich möchte diese Entitäten nicht platonisch als entia per se, die sprachlich erfaßt (erkannt, beschrieben u. ä.) werden, konzipieren, sondern als Bedeutungen, die sprachlichen Zeichenreihen zugeordnet sind, die also ebenso wie diese Zeichenreihen durch das Konstitutionssystem der Sprache bestimmt sind 1 1 . 11 Die Hypostasierung der Bedeutungen halte ich für eine inakzeptable Metaphysik. Auch w e n n w i r den Begriff der Bedeutung so konzipieren, daß ein u n d dieselbe Bedeutung i n verschiedenen Sprachen ausgedrückt werden kann, bleibt die Bedeutung ein sprachlicher Begriff, ein Begriff, der durch Bedeutungsäquivalenz i n einer gewissen Klasse v o n Sprachen durch A b s t r a k t i o n definiert ist. Die Hypostasierung der Bedeutungen macht aus Begriffen platonische Ideen, was der modernen wissenschaftstheoretischen Auffassung i m Wege steht, dergemäß unsere Begriffsapparatur verschieden konstituiert werden k a n n u n d unsere T e r m i n i nicht als bloße Bezeichnungen vorgegebener u n d an sich bestehender Ideen anzusehen sind. I n der praktischen P h i l o sophie leistet die Hypostasierung der Normen u n d Werte einer verzerrten Konzeption der Begriffe ,Norm', »Wert* usw. Vorschub: Normsätze werden als Bezeichnungen v o n an u n d f ü r sich bestehenden Idealentitäten angesehen, u n d häufig w i r d das „Erfassen" v o n Normen u n d Werten als eine A r t kognit i v e r Prozeß gedeutet. Die kognitivistische Konzeption w i r d oft m i t der platonistischen Normenontologie verbunden, folgt aber logisch nicht aus i h r . ( I m

Einleitung

17

Die zentrale ontologische These, auf der der IRP aufgebaut ist, lautet: Die Welt, i n der es Handelnde gibt, also die menschliche Welt, umfaßt Tatsachen, die nicht erfaßt und nicht erklärt werden können, wenn nicht auch praktische Informationen zur Charakterisierung gewisser Tatsachen herangezogen werden. Solche Tatsachen — w i r bezeichnen sie i n Gegegeniiberstellung zu den rohen Tatsachen als ,institutionelle Tatsachen' — können einerseits nur deswegen bestehen, weil Ziele, Wertstandards, Präferenzen und normative Regulative gelten, d.h. gesellschaftlich institutionalisiert sind 1 2 , und andererseits sind die institutionellen Tatsachen, deren Konstituenten die durch praktische Sätze ausdrückbaren Informationen sind, gerade der Grund, weswegen Normen (und andere praktische Bestimmungen wie Ziele, Werte, Präferenzen) als real daseiend bezeichnet werden. Normen sind genau dann real, wenn sie i n gesellschaftlichen oder/und persönlichen Wirkzusammenhängen der Handlungsdetermination stehen. Daraus folgt für die Betrachtung (a) von Handlungsvorgängen, gesellschaftlichen Einrichtungen und Prozessen, sowie (b) von Normen, Werten, Zwecken folgendes: (i) handlungsrelative und gesellschaftliche Vorgänge sind durch äußere Beschreibungen (Verhaltenstrajektorien) allein weder bestimmbar noch erklärbar; (ii) i n die Erkenntnis institutioneller Tatsachen greift immer ein Moment des Verstehens ein, nämlich des Verstehens von praktischen Informationen; (iii) man kann sehr wohl vom realen Dasein (oder der Existenz) von Normen sprechen, doch nur aufgrund von Zusammenhängen mit beobachtbaren Vorgängen, die als rohe Tatsachen beschrieben werden können; (iv) praktische Informationen (Normen usw.) als sinnvolle Gedankenentitäten sind von Normen (usw.) als Realitäten wohl zu unterscheiden — nur Normen i n Wirkzusammenhängen sind Tatsachen, Konstituenten der Wirklichkeit, während jene bloß sprachliche Entitäten bzw. Denkmöglichkeiten sind. Nicolai Hartmanns Auffassung, daß reales Sein nicht notwendig durch Räumlichkeit, sondern durch die Tatsache charakterisiert ist, daß es sinnvoll ist, alles real Bestehende i n zeitlichen Koordinaten zu sehen 13 , erscheint m i r als Folge der Wirkzusammenhänge von realen IdealReich der platonischen Normentitäten müßte die Klasse der richtigen N o r men aus der Klasse aller denkbaren ontisch herausgehoben sein, w e n n der Kognitivismus platonisch begründbar wäre.) 12 Der Begriff der Institutionalisierung muß natürlich noch näher erörtert werden. Er dürfte jedoch k a u m exakt definierbar sein. 13 Vgl. N. Hartmann, Der A u f b a u der realen Welt, B e r l i n 1940, S. 63. 2 MacCormick /Weinberger

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entitäten m i t beobachtbaren Vorgängen. Ich halte jedoch das reale Wirken von Informationen i n faktischen oder potentiellen Prozessen, insbesondere i n Handlungen, für das wesentliche Moment der W i r k lichkeit von Gedankenentitäten, wozu auch Normen, Werte usw. gehören. Diese Konzeption gestattet es auch, von der latenten Existenz der Idealentität zu sprechen: Informationen können real bestehen, auch wenn sie zur Zeit keine beobachtbare Wirkung haben. Ich habe an anderer Stelle die Meinung zum Ausdruck gebracht, daß Ontologie keine rein feststellende, sondern i m wesentlichen eine stipulative Theorie ist 1 4 . Man kann nun fragen, ob die Festsetzungen der institutionalistischen Auffassung bloß freie — vielleicht auch zweckmäßige — Festsetzungen sind, so daß auch andere Ontologien, etwa die übliche Ontologie der Sphäre der materiell-kausalen Gegenstände und Prozesse und jene der normativen Idealentitäten, die nur psychologisch — sozusagen durch das Bewußtsein der Menschen — m i t kausalen Vorgängen verbunden sind, genauso berechtigte Auffassungen sind, wie jene Ontologie, für die ich eintrete. Ich glaube, es gibt gute Gründe für die institutionalistische und gegen die traditionelle Ontologie, nämlich die Notwendigkeit, informationelle Realitäten als Bestimmungselemente der i n unserer Erfahrung gegebenen Vorgänge zu verstehen. Es gibt also trotz des prinzipiell stipulativen Charakters unseres ontologischen und begrifflichen Frameworks gewisse Gegebenheiten, denen unsere Ontologie i n angemessener Weise angepaßt werden muß. M i t MacCormick können w i r sagen „es existieren viel mehr Dinge als nur jene, die i n Begriffen der Physik, Physiologie oder Verhaltenspsychologie abgehandelt werden können" 1 5 . Die institutionalistische Konzeption der Ontologie des Rechts hat natürlich wichtige Implikationen für die Rechtswissenschaft, wie i m einzelnen später noch auszuführen sein wird. Die einseitigen Theorien, sowohl der das Rechtsleben auf menschliches Verhalten reduzierende Realismus als auch der reine Normativismus, erscheinen als überwunden. Es bleibt jedoch von beiden etwas übrig: vom Realismus die Relevanz soziologischer Beobachtung für die Jurisprudenz, vom Normativismus die Bemühung, normative Relationen logisch zu erfassen, und das vorrangige Interesse an einer Strukturtheorie der Rechtsordnung sowie der juristischen Argumentation. Das ins Auge gefaßte Feld der rechtlichen Realität w i r d i n der Konzeption des IRP nach beiden Richtungen h i n breiter. I m Bereich der 14 O. Weinberger , Freedom, Range for A c t i o n and the Ontology of Norms, w i r d i n L a w and Philosophy erscheinen. 15 Vgl. D. Ν. MacCormick , Das Recht als institutionelle Tatsache, S. 76 -107 dieses Bandes, insbes. S. 77.

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praktischen Informationen werden nicht nur Verhaltens- und Ermächtigungsnormen, sondern auch Rechtsgrundsätze, gesellschaftliche Wertstandards und der teleologische Hintergrund des Rechts zum Gegenstand der juristischen Betrachtung gemacht. A u f der anderen Seite gehört nach Auffassung des IRP zum Recht auch die Gesamtheit der Einrichtungen und soziologischen Tatsachen, welche beobachtbare Erscheinungen sind, die m i t dem Recht zusammenhängen. Es könnte scheinen, daß der IRP sich der Konzeption nähere, daß das Recht als komplexes Phänomen nur durch eine vielschichtige und gemischte Methode (multilevel approach) adäquat erfaßt werden kann. I n Wirklichkeit ist er jedoch eher eine Spielart des Normativismus, ein handlungstheoretischer und soziologischer Normativismus, als eine methodologische Mehrschichtigkeitstheorie der Rechtswissenschaft. Er ist auf die Struktur der Rechtsordnung und der juristischen Argumentation gerichtet und zeigt, daß das Recht, trotz seines gedanklichen Charakters, der es zum dynamischen Normensystem stempelt, als soziales Phänomen verstanden werden muß, weil gesellschaftliche Phänomene prinzipiell diesen Charakter haben; sie sind gleichzeitig beides: Gedanke und Realität 1 6 . 1.3. Die semantische und logische Basis des Institutionalistischen

Rechtspositivismus

Die Strukturtheorie des Rechts — wie sie m i r vorschwebt — ist eine logisierte Betrachtungsweise der Rechtsordnung und des rechtlichen Geschehens. I m Geiste der i n Abschnitt 1.2. skizzierten Normenontologie, die die handlungslenkenden und handlungsbestimmenden Informationen i n beschreibende (oder theoretische) und praktische Informationen einteilt, muß (a) als Basis der praktischen Philosophie, also aller handlungsbezogenen Disziplinen, eine Semantik herangezogen werden, die zwischen beschreibenden (theoretischen) und praktischen Sätzen kategorial unterscheidet, (b) gefordert werden, daß die Analyse jene Stellen, an denen Dezisionen als Elemente der Begründung auftreten, aufzudecken und explizit darzustellen hat. Eine solche Semantik kann nicht reistisch aufgebaut werden 1 7 . Die Semantik der praktischen Philosophie — ich pflege sie als gnoseologisch 16 Vgl. den i n diesem Band abgedruckten Aufsatz „Die N o r m als Gedanke u n d Realität", S. 60 - 75. 17 Es k a n n also nicht jeder selbständige Ausdruck als Bezeichnung eines an u n d für sich existierenden Gegenstandes angesehen werden, w i e etwa 2*

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differenzierte Semantik 4 zu bezeichnen — unterscheidet zwei grundlegende Satzkategorien: beschreibende und praktische Sätze. Beide kann man i n informative und nicht-informative Sätze einteilen, je nachdem, ob sie dazu geeignet sind, wirkliche bzw. mögliche Tatsacheninformationen, resp. geltende oder mögliche normative Informationen auszudrücken. Nicht-informativ sind ζ. B. Aussagesätze der Form ,p pf oder ,ρ Α - ι p', oder Normsätze der Form ,(p V - . p) soll sein', ,Wenn ( p A - i p), dann soll q sein', ,(p Α - . ρ ) soll sein', u. ä.). Es können verschiedene Arten praktischer Sätze unterschieden werden; für unsere Zwecke halte ich es für angemessen folgende Arten zu unterscheiden: (i) Normsätze, bei denen weiters unterschieden werden kann, ob sie Sollen (Gebote, Verbote) oder Dürfen (Erlaubnis oder Indifferenz) aus drücken, (ii) Forderungssätze, die teleologische Bestimmungen ausdrücken, (iii) Wertsätze, die gewissen Gegenständen oder Sachverhalten Wertprädikate zusprechen, oder Präferenzen (relative Wertungen) ausdrücken 1 8 . Searles Unterscheidung der verschiedenen Richtungen der Anpassung, die zwischen sprachlichen Ausdrücken und der Welt besteht je nachdem, u m welche A r t der Äußerung es sich handelt 1 9 , steht i n einer interessanten Beziehung zu der gnoseologisch differenzierten Semantik. Searle zeigt, daß bei manchen Ausdrücken eine Anpassung der sprachlichen Äußerung an die Welt [,word-to-world direction of fit'] vorausgesetzt wird, nämlich bei den behauptenden Sprechakten, wie: Beschreibungen, Behauptungen, Aussagen, während bei anderen, bei den direktiven und kommissiven Sprechakten, wie Anordnungen, Befehlen, Aufforderungen, Versprechen, Gelübden, die Welt den Worten anzupassen ist [,world-to-word direction of fit']. Auch i n der Searleschen Darlegung w i r d die prinzipielle Verschiedenheit der pragmatischen Rolle von Ini n der Frege sehen Semantik. Normsätze können nicht als Bezeichnungen von an u n d für sich bestehenden Gegenständen angesehen werden, sondern sie sind Ausdruck spezifischer I n h a l t e (Bedeutungen), die n u r durch Elemente ihres Inhalts auf Gegenstände u n d Sachverhalte, bzw. mögliche Gegenstände u n d Sachverhalte, Bezug nehmen. 18 I n umgangssprachlichen Formulierungen ähneln Wertsätze rein deskript i v e n Prädikationen (,Paris ist eine Stadt 4 — ,Paris ist schön 4 ), doch sollte eine kritische Sprachtheorie den tiefengrammatikalischen Unterschied beachten. 19 Vgl. J. R. Searle , Intentionality, Cambridge et al. 1983, p. 7; ders., A Taxonomy of Illocutionary Acts, i n : ders., Expression and Meaning, Cambridge et al. 1979, p. 1 - 27. (Bei subtiler Betrachtung findet m a n natürlich auch i n dieser Frage gewisse Unterschiede zwischen Searles u n d meiner A u f fassung, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden muß.)

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formationen vor Augen geführt: die einen Ausdrücke stellen dar und sind daher der Welt anzupassen, die anderen sind „praktisch" (im philosophischen Sinne), sie sind Elemente der Handlungsbestimmung, daher muß — bildlich gesprochen — die Welt ihnen angepaßt werden. Praktische Sätze und die von ihnen dargestellten Bedeutungen sind ebenso nicht-psychologistisch zu konzipieren wie Aussagesätze und die ihnen entsprechenden Bedeutungen (Propositionen). M i t der gnoseologisch differenzierten Semantik hängen die Nichtableitbarkeitspostulate von »Sollen* aus ,Sein' bzw. von ,Sein' aus »Sollen4 zusammen, denn wenn Normsätze aus Aussagesätzen logisch ableitbar wären, könnte keine kategoriale Trennung zwischen beiden Satzarten bestehen. Diese Postulate kann man i n folgender Weise definieren: (1) Aus einer Klasse rein deskriptiver Prämissen kann kein informativer Normsatz abgeleitet werden. (2) Aus einer Klasse praktischer (insbesondere normativer) Prämissen kann kein informativer Aussagesatz abgeleitete werden 2 0 . Diese Postulate haben metalogischen Charakter, d.h. sie sind Prinzipien, denen jedes Normenlogiksystem entsprechen muß. Ich bin der Meinung, daß die Probleme der logischen Beziehungen (z. B. das Problem der Unverträglichkeit von Normsätzen 21 ) nicht durch modifizierte Anwendung logischer Systeme der deskriptiven Sprache gelöst werden können, sondern daß eine genuine Normenlogik aufgebaut werden muß 2 2 . Ich bin jedoch nicht sicher, ob diese These als integrierender Bestandteil des IRP anzusehen ist, oder einfach als meine Meinung über eine Vorfrage dieser Theorie 2 3 . 20

Die Einschränkung dieser Grundsätze auf informative Konklusionen ist notwendig, w e n n sie auch meist nicht ausdrücklich angeführt w i r d , denn gewisse nicht-informative, nämlich: tautologische Aussagesätze, sind auch aus der leeren Prämissenklasse ableitbar, also auch aus einer n u r praktische Sätze enthaltenden Klasse. Die i m Text stehende Formulierung ist so gewählt, daß eine Deduktion v o n Normsätzen aus Forderungssätzen u n d Aussagenprämissen nicht ausgeschlossen w i r d . 21 A l s logisch unverträglich sind insbesondere folgende Normsatzpaare anzusehen: ,p soll sein* — ,non-p soll sein'; ,p soll sein' — ,non-p ist (ausdrücklich) erlaubt'. I n anderer Terminologie spricht man hier v o n normenlogischen Widersprüchen (zum Unterschied gegenüber z. B. ,p' — ,non-p' als einem logischen Widerspruch der deskriptiven Sprache). Jedenfalls ist die Unverträglichkeit (der normenlogische Widerspruch) anders definiert als der W i d e r spruch i n der deskriptiven Sprache. 22 Den Terminus ,genuine Normenlogik' verstehe ich i n folgender Weise: eine genuine (oder echte) Normenlogik geht v o n einer Semantik aus, die Aussagesätze u n d Normsätze kategorial unterscheidet, u n d sie handelt v o n Normsätzen, nicht v o n Aussagesätzen über Normen. 23 Einerseits scheint es m i r denkbar, den I R P zu vertreten u n d gleichzeitig andere Wege zur Theorie der Normenlogik zu verfolgen, andererseits glaube

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Ota Weinberger 2. Tatsachen: rohe und institutionelle Fakten 2.2. Anmerkungen zur Geschichte des Terminus institutionelle TatsachenAnscombe und Searle

Sowohl MacCormick als auch ich haben den terminus »institutionelle Tatsachen4 von J. R. Searle entlehnt; Searle selbst beruft sich auf Anscombes Gegenüberstellung von ,brute facts 4 und »institutional facts 424 . Anscombe charakterisiert i n dem kleinen Aufsatz „On Brute Facts44 die institutionellen Tatsachen relativ zu den sie konstituierenden brute facts i m wesentlichen durch den Umstand, daß bei jenen ein institutioneller Kontext vorausgesetzt wird; sie bringt aber keine Erklärung oder gar eine Theorie der Institutionen. Dagegen tat dies Searle i n einer Weise, die einer näheren Betrachtung wert ist 2 5 . Den Kern seiner Konzeption der Institutionen bildet der Begriff der konstitutiven Regel, durch die Institutionen entstehen. Searle konzipiert sie i n Gegenüberstellung zu den regulativen Regeln (die normativen Charakter haben). Ich glaube, daß die Entwicklung seiner Lehre von den institutionellen Fakten und von der Konstitution von Institutionen durch konstitutive Regeln i n nicht unwesentlichem Zusammenhang steht m i t seiner berühmten und vieldiskutierten Beweisführung, daß Sollen aus kognitiven (rein beschreibenden) Prämissen auf logischem Wege gewonnen werden kann, wodurch die sogenannte „ K l u f t zwischen Sein und Sollen 44 überwunden und die Ableitbarkeit des Sollens aus deskriptiven Prämissen durch ein Beispiel nachgewiesen werden sollte. Die ganze Überlegung stützt sich auf den Begriff des Versprechens, und besteht i n einer Kette von Feststellungen, die nach einer Reihe sozusagen logischer Schritte zu einem Sollsatz führt: „(1) Jones uttered the words ,I hereby promise to pay you, Smith, five dollars 4 . (2) Jones promised to pay Smith five dollars, (3) Jones placed himself under (undertook) an obligation to pay Smith five dollars. (4) Jones is under an obligation to pay Smith five dollars. (5) Jones ought to pay Smith five dollars 26 . 44 ich, daß differenzierte Regeln für Aussage- u n d Normsätze nötig sind, was gerade das Wesen der genuinen Normenlogik ausmacht u n d m i t den G r u n d auffassungen des I R P übereinstimmt. 24 Vgl. G. Ε. M . Anscombe, O n Brute Facts, Analysis 18, 3, 1958, S. 69 - 72. 25 J. R. Searle, Speech Acts. A n Essay i n the Philosophy of Language, Cambridge 1969. 26 J. R. Searle, H o w to derive "ought" f r o m "is", The Philosophical Review 1964, S. 43 - 58, zitiert nach: W. D. Hudson (Hrsg.), The Is/Ought Question, London 1969, S. 120 - 134.

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Searle behauptet nicht, daß dies eine Kette logischer Operationen sei, durch die der Soll-Schlußsatz fabriziert wird, er behauptet bloß, daß durch rein kognitive Ergänzungen — ohne Heranziehung normativer Prämissen — notwendigerweise zu diesem Schlußsatz gelangt werden kann. Und die Kritiker, die an das Ergebnis nicht recht glauben und bei der Sache einen Taschenspielertrick vermuten, durch den unbemerkt irgendwo eine normative Prämisse eingeschleust wird, suchen alle Zwischenstationen nach getarnten normativen Eindringlingen ab. I n seinem „Speech Acts" greift Searle das Problem nochmals auf und versucht mittels der Klärung des Begriffs der »Institution 4 klarzustellen, daß Versprechen als institutionelle Tatsache besteht und daß das »promising game4 deswegen als Tatsache durch einen Aussagesatz konstatiert werden kann. Das Versprechen als institutionelle Tatsache w i r d durch nichtnormative, nämlich durch konstitutive Regeln definiert und eingeführt, so daß das Feld der Beschreibungen eine Gesamtheit bildet, die selbst aussagend (beschreibend) ist, aber logisch einen Sollsatz zur Konklusion hat. Ich glaube, daß der Begriff der institutionellen Tatsache, wenn er angemessen analysiert wird, tatsächlich die Streitfragen nach dem Wesen des ,promising game4 und der Ableitbarkeit von Sollen aus Sein löst. Er zeigt auch, daß die Sucher nach getarnten normativen Zwischengliedern am Holzweg sind. Searles Thesen und sein Beweis der Ableitbarkeit von Sollen aus Sein werden durch den adäquat analysierten Begriff der institutionellen Tatsachen und die Lehre von deren Konstitution durch Regeln widerlegt; u m das zu zeigen, ist es aber erforderlich, die Beziehung zwischen Institution und Regeln und das Wesen der Regeln näher zu untersuchen. Bevor ich zu diesen allgemeinen Überlegungen schreite, möchte ich einige Bemerkungen zu Searles Beispiel, dem »promising game 4 , machen. Es ist einfach nicht wahr, daß, wenn man verspricht A zu t u n — sei es i n der Form ,Ich werde A tun 4 (gemeint als bindende Zusage) oder ,Ich verspreche, daß ich A t u n werde 4 —, folgt, daß man verpflichtet ist, A zu t u n (,Ich soll A tun 4 ). Diese Sollfolge gilt gegebenenfalls auch dann nicht, wenn eine solche Institution gesellschaftlich existiert (d.h. wenn ein solcher Typus von versprechenden Verhaltensweisen gesellschaftlich institutionalisiert ist). Eheverlöbnisse (das Versprechen jemanden zu ehelichen) sind i n unserer Gesellschaft zweifellos institutionalisiert, sie sind sogar Rechtsinstitution, da sie Rechtsfolgen haben, doch folgt nach österreichischem Recht (§ 45 A B G B 2 7 ) die Soll-Konklusion nicht, daß 27 § 45 A B G B lautet: „ E i n Eheverlöbnis oder ein vorläufiges Versprechen, sich zu ehelichen, unter was f ü r Umständen oder Bedingungen es gegeben oder erhalten worden, zieht keine rechtliche Verbindlichkeit nach sich, weder

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der Verlobte den Verlöbnispartner zu ehelichen habe. Das »promising game4 gestattet, den Sollsatz abzuleiten, daß der Inhalt des Versprechens realisiert werden soll, dann und nur dann, wenn die Institution des Versprechens die normative Regel etwa folgender A r t m i t umfaßt: (1) Für jedes x, y , ζ gilt: wenn χ dem y versprochen hat, ζ zu leisten, dann soll x dem y die Leistung ζ erbringen. Der Sollen produzierende Charakter des Versprechengebens kann von verschiedenen zusätzlichen Bedingungen abhängig sein: es kann eine besondere Form vorgeschrieben sein (Gelübde), es kann die ausdrückliche Zustimmung des Begünstigten als Bedingung der Sollfolge vorgeschrieben sein, u. ä. Institutionen sind jedenfalls nicht nur Systeme konstitutiver definitionsartiger Regeln — wie Searle meint 2 8 —, sondern umfassen auch normative Regeln. Und das Rätsel u m die Solldeduktion aus der Promising-Game-Institution löst sich nun von selbst auf: Es braucht keine normative Prämisse eingeschmuggelt zu werden, denn sie steht am Anfang der Überlegung; sie ist da als integrierender Bestandteil der Institution des Versprechens bzw. die Soll-Konklusion gilt dann und nur dann, wenn diese Institution diese Soll-Regel als Bestandteil enthält. Schon hier t r i t t die Tatsache zutage, daß Searles Konzeption der institutionellen Tatsachen revisionsbedürftig ist. Unbefriedigend scheint m i r auch Searles Unterscheidung regulativer und konstitutiver Regeln 29 . „Regulative rules regulate a pre-existing activity, an activity whose existence is logically independent of the rules. Constitutive rules constitute (and also regulate) an activity the existence of which is logically dependent on the rules 3 0 ." Der sozusagen historische Gesichtspunkt, das K r i t e r i u m der schon bestehenden oder noch nicht bestehenden Praxis, ist für das Wesen der Regeln kaum entscheidend, jedenfalls weder für ihren semantischen, noch ihren logischen Charakter. Und wenn Searle dann die Formulierung der regulativen Regeln i n Imperativform einführt, scheint er der Meinung wenigstens nahe zu sein, daß diese regulativen Regeln i m wesentlichen zur Schließung der Ehe selbst, noch zur Leistung desjenigen, was auf den F a l l des Rücktritts bedungen worden ist." 38 "These 'institutions' are systems of constitutive rules. Every institutional fact is underlain b y a (system of) rule(s) of the form ' X counts as Y i n cont e x t C \ " J. R. Searle, Speech Acts, S. 51 f. 29 Der A u t o r ist sich selbst dessen bewußt, daß seine Erörterung nicht perfekt ist. Vgl. J. R. Searle, Speech Acts, S. 33. 80 A.a.O., S. 34.

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normativen Sinn haben, während die konstitutiven Regeln von definitorisch-festsetzendem Charakter sind. M i t der Meinung, konstitutive Regeln hätten Definitionscharakter, stimmt die These überein, daß Spielregeln (z.B. Regeln des Schachspiels) eigentlich nicht verletzt werden können, da derjenige, der nicht den Spielregeln entsprechend verfährt (ζ. B. mit dem Springer diagonal zieht) einfach ex definitione dieses Spiel (hier Schach) nicht spielt 3 1 . 2.2. Institution

und Regel

Zweifellos sind alle Regeln, die i n unseren Betrachtungen über Institutionen i n Betracht kommen, handlungsbezogen; und Institutionen können nur i n einer Welt von handelnden Individuen und von Gemeinschaften bestehen. Die Konstitution von Institutionen beruht auf der Einführung von gewissen Relationen und Begriffen. Dabei ist es für das Wesen dieser Elemente von Institutionen unerheblich, ob w i r von einer neuen, neu zu schaffenden, oder einer eingebürgerten Institution sprechen. Die betreffenden Elemente können immer durch definitionsartige Regeln bestimmt werden 3 2 . So werden ζ. B. fürs Schachspiel ein Schachbrett und Schachfiguren definitorisch eingeführt. Die Einführung bzw. das Bestehen dieser Entitäten hat gewissermaßen schöpferisch festsetzenden Charakter; und er pflegt m i t der Zuordnung von Namen verbunden zu sein. Die Namen sind aber nicht das wesentliche, sondern die festgesetzten Relationen, sowie die die Handlungspotentialitäten und die Handlungsweisen bestimmenden Regeln. Die definierten Entitäten werden als Gegenstände realisiert, bzw. sie können als solche realisiert werden. Man kann Schachspiele herstellen oder — u m ein gesellschaftliches Beispiel zu nehmen — Schulen oder Haushalte einrichten. Das Entscheidende sind aber nicht die terminologischen Festsetzungen, ζ. B. daß Schach auf einem Schachbrett gespielt wird, daß die Figur, die i n zwei mal acht Exemplaren i m Spiel auftritt, ,Bauer 4 genannt wird, sondern entscheidend sind die Strukturrelationen, die normativ bestimmten Handlungsmöglichkeiten bzw. Handlungserfordernisse und Handlungsziele der Institution. Das Schachbrett kann ersetzt werden durch Datenpaare (a, 1) — (h, 8) ohne eigentliche Änderung des Spiels, die Bauern 31 Ich glaube, daß diese Auffassung häufig vertreten w i r d , vielleicht sogar die herrschende Meinung ist. Ich selbst habe sie eine Zeitlang vertreten; n u n halte ich sie für ganz falsch. 32 Sie können j e nachdem, ob eine neue I n s t i t u t i o n eingeführt oder eine bestehende ausdrücklich beschrieben w i r d , rein k o n s t r u k t i v oder rekonstrukt i v verstanden werden. Vgl. die i n der Logik geläufige Unterscheidung v o n »synthetischen 4 u n d »analytischen Definitionen 4 . Siehe z. B. Ch. Weinberger, O. Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979, S. 174 f.

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könnten ,pion* genannt werden, usw. Die Institution umfaßt aber Regeln, die i n dem Rahmen der sozusagen durch deflatorische Regeln geschaffenen Strukturen Handlungsmöglichkeiten eröffnen (Schach zu spielen, zu rochieren, usw.), und solche, die uns institutionelles Sollen vorschreiben, ζ. B. die Aufstellung des Schachbretts und der Figuren i n der Ausgangsposition. Auch das Ziel, den Gegner Schachmatt zu setzen, ist vorgegeben 33 . A l l e Institutionen — auch Spiele — umfassen neben Regeln, welche den Rahmen der Institution und der möglichen Handlungen aufgrund von definitionsartigen Regeln festlegen, auch normative Regeln, die Sollen und Dürfen bestimmen, gegebenenfalls Ermächtigungen aussprechen (beim Kartenspiel ζ. B. die Kompetenz, das Atout zu bestimmen). Searles Auffassung, die die Institutionen m i t den definitionsartigen konstitutiven Regeln (im Sinne seiner Terminologie) und Namensgebungen identifiziert, ist verfehlt. Die Institutionen werden vielmehr durch definitorische und durch normative Regeln geschaffen; nur beide zusammen konstituieren Institutionen. M i t anderen Worten: auch normative Regeln sind konstitutive Regeln und sie stellen notwendige Bestandteile der Bestimmung von Institutionen dar. „Ein solches Stück Holz gilt als Bauer i n einem gewissen Kontext — nämlich jenem des Schachspiels oder einer Schachpartie —" und die ganze Menge ähnlicher Regeln konstituiert allein noch nicht die Institution des Schachspiels. Der Bauer selbst als Element des Schachspiels w i r d nicht durch diese Bezeichnungskonvention allein bestimmt, sondern auch — oder vor allem — durch die Handlungsnormen, die bezüglich dieser Elemente des Schachspiels gelten. Er hat eine Ausgangsposition (das kann noch durch reine Definitionsregeln bestimmt sein); es bestehen Handlungsregeln über die Zuteilung der Farbe beim Spielbeginn, die Zugmöglichkeiten, Regeln des Schlagens usw. Es bestehen Zeitnormen über den Ablauf des Spiels, usw. Zum Wesen der Institutionen jeder A r t gehört es, daß sie Handlungsstrukturen darstellen, sie sind daher immer m i t Verhaltensformen (Dürfen, Sollen, Ermächtigen) verbunden, und das ist es gerade, was ihre Rolle i m menschlichen Leben ausmacht: sie bieten Handlungsmöglichkeiten und regeln normativ das Verhalten i n einem gewissen Bereich. Bloße Definitionsregeln können dies keineswegs leisten 34 . 33 A l s K i n d e r haben w i r manchmal „Freßschach" gespielt, das den Verlust des Königs zum Ziel hat u n d m i t der N o r m arbeitet, daß eine eingestellte Figur geschlagen werden muß. Das Ziel, den Gegner Schachmatt zu setzen, ist also eine die I n s t i t u t i o n bestimmende praktische Information. 34 Aus der Tatsache, daß der I R P die institutionelle Tatsache u n d deren Konstituierung durch Regeln ganz anders auffaßt als Searle, folgt, daß w i r zwar den Terminus »institutionelle Tatsachen' von diesem A u t o r übernommen haben, daß Searle aber keineswegs als Vater des I R P anzusehen ist.

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Sowohl die definitionsartigen als auch die normativen Regeln sind wohl zu unterscheiden von den strategischen Regeln. Beim Schachspiel sind dies ζ. B. verschiedene Anleitungen, die darauf abzielen, die Wahrscheinlichkeit des Sieges zu erhöhen. Etwas Analoges gibt es auch bei anderen gesellschaftlichen Normensystemen. W i r leben i m System des Rechts, das uns durch seine Institutionen einen Rahmen gibt, i n dem w i r unser Verhalten so einrichten können, daß die Ergebnisse unseres Handelns unseren Zwecken entsprechen. Man kann auch hier anleitende Regeln aufstellen, wie — gewisse Ziele vorausgesetzt — i m Rahmen der Institutionen zweckmäßig („strategisch wirkungsvoll") vorgegangen werden soll oder kann. Die Behandlung von Spielregeln als Normen — wie ich dies eben getan habe —, w i r d bei vielen Zweifel hervorrufen. Wenn ich etwas verspreche, habe ich infolge des üblichen »promising game' und seiner normativen Regeln die Pflicht, eine entsprechende Leistung zu erbringen. Wenn ich Staatsbürger eines gewissen Staates bin und ein gewisses Alter erreicht habe, b i n ich stellungspflichtig. Ich habe aber nicht die Pflicht, Schach zu spielen, und kein Staatsorgan w i r d eingreifen, wenn ich beim Schachspielen meinen Springer diagonal verschiebe. Man w i r d höchstens sagen, daß ich die Regeln des Schachspiels nicht beherrsche, daß ich zu schwindeln versuche, oder daß ich eigentlich nicht Schach spiele. Dies ist jedoch alles nicht entscheidend. Der gesellschaftliche Status der Spiele ist kein rechtlicher Zwangsstatus, es gibt also keine staatlichen Sanktionen bei Verletzung der Spielregeln. Der Eint r i t t ins Spiel ist frei, aber i m Rahmen jedes Spiels gibt es Normen, durch die das Spiel als Handlungssystem konstituiert wird. Daß ich aufhöre, Schach zu spielen, wenn ich m i t dem Springer diagonal ziehe, ist zwar wahr — dies gehört i n den Bereich der mißglückten Akte, ebenso wie es m i r mißlingen kann zu testieren, wenn ich vergesse das holographe Testament zu unterzeichnen. Das Wesen der Institutionen hätte ich natürlich genauso gut an rechtlichen Institutionen oder anderen gesellschaftlichen Institutionen (ζ. B. dem Grüßen) darlegen können. Die Darlegung wäre aber unklarer oder umständlicher geworden, denn ich hätte eine spezifische Institution, d. h. nicht die Ehe als solche, sondern ζ. B. die Institution der Ehe nach gegenwärtigem österreichischem Recht, diskutieren müssen. Das theoretisch Essentielle: definitorische Elemente, Namenszuordnung, Strukturrahmen, und der wesentliche Anteil von normativen Regeln (praktischen Informationen) an der Konstitution gesellschaftlicher, ζ. B. rechtlicher Institutionen, gibt es i n allen Fällen von Institutionen.

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Ota Weinberger 2.3. Die menschliche Welt und ihre

Beschreibung

Für uns Menschen sind Tatsachen nicht nur das physikalische Geschehen und seine Regelmäßigkeiten, die w i r i n nomischen Aussagen über die Natur und über die gesellschaftlichen Vorgänge ausdrücken 35 . Unserem Denken stehen auch »Mögliche Welten* offen, über die w i r ebenso wahre (oder gegebenenfalls falsche) Aussagen machen können, wie über die aktuelle Welt. Es sei m i r hier eine philosophische Nebenbemerkung erlaubt: Ein handelndes Subjekt benötigt ein Denken, das mögliche Welten umfaßt, und nicht auf vergangene, gegenwärtige und zukünftige Tatsachen beschränkt ist. Denn proponierendes Denken ist Denken i m Feld von Möglichkeiten. Unsere Tatsachenwelt ist außerdem eine institutionelle Welt. W i r können nur dann ein B i l d unserer Situation und unserer Handlungsmöglichkeiten sowie Handlungsnotwendigkeiten gewinnen, wenn w i r Institutionen als Tatsachen erfassen. Und das bedeutet nach dem, was ich i m Abschnitt 2.2. über die Beziehung zwischen Institutionen und Regeln gesagt habe, daß Einrichtungen als definitorisch daseiende Muster und deren beobachtbare Realisationen als Realitäten (spezifische Tatsachen) angesehen werden müssen, ebenso wie die normativen Regulative und die expliziten oder impliziten teleologischen Bestimmungen integrierende Bestandteile der Institutionen sind. Gesellschaftliche Realität ist also nicht nur die Gesamtheit der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zustände, Verhaltensweisen und Vorgänge, also nicht nur das, was — wenigstens — prinzipiell durch Beobachtung getestet werden kann, sondern auch real bestehende praktische Informationen, insbesondere institutionalisierte normative Regulative (wie die Rechtsordnungen), die sprachlich formuliert und verstanden, aber nicht direkt beobachtet werden können. Ich möchte hier die Hypothese wagen, ohne sie so ausführlich zu belegen, wie dies erforderlich wäre, (i) daß Sinn durch Institutionen geschaffen w i r d , (ii) daß Sinn i n gewisser Weise mehr ist als bloße Bedeutung, die Zeichen zugeordnet ist und der Designation (dem Hinweis auf bezeichnete oder gemeinte Gegenstände) dient, (iii) daß i n 85 Vgl. O. Weinberger, Tatsachen u n d Tatsachenbeschreibungen. Eine l o gisch-methodologische Überlegung zu einem Grundlagenproblem der Sozialwissenschaft, in: K. Salamun (Hrsg.), Sozialphilosophie als Aufklärung, FS f ü r Ernst Topitsch, Tübingen 1979, S. 173 - 187; ders., Der nomische Allsatz, i n : Grazer Philosophische Studien 4 (1977), S. 3 1 - 4 1 ; ders., Contrary-to-fact and Fact-Transcendent Conditionals. A n A t t e m p t to deal w i t h the logic of fact-transcendent and contrary-to-fact conditionals by means of t r u t h - f u n c tional logic, in: Ratio 16/1 (1974), S. 15 - 32.

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Sinngebilden das schöpferische Element des menschlichen Denkens zur Geltung kommt, welches neue Strukturen und Inhalte der menschlichen Realität schafft. Der Sinn von Äußerungen, Behauptungen, Normen, Zwecken u. ä. oder Einrichtungen w i r d nicht nur dargestellt durch Bedeutungsregeln, sondern ist oft etwas wesentlich Weitreichenderes und Komplexeres, indem die Äußerungen auf Institutionen verweisen. Hierdurch w i r d ein System von Idealentitäten herangezogen, die ein Netz von Strukturen und Relationen zusammen m i t praktischen Informationselementen umfassen. Wenn w i r Begriffe definieren, die irgendwie Institutionen betreffen (ζ. B. ,Geld', ,Pflicht', ,Wert', verschiedene Begriffe von ,gut'), können w i r zwar solche Merkmale zusammenstellen und als Definition vorlegen, die die Klasse der Designata abgrenzen, doch w i r d hierdurch der Sinn (man könnte auch sagen: das Wesen) dieser Begriffe nicht ausgeschöpft. Der — wenn ich das so nennen darf — institutionelle Hintergrund der Begriffe ist prinzipiell der Analyse zugänglich, wenn w i r als Bestimmungsstücke sowohl beobachtbare Tatsachen als auch praktische Informationen heranziehen. Die hier vertretene Auffassung der Institutionen hat m. E. eine wichtige Bedeutung für die jurisprudentielle Einstellung. Sie führt zu einer rational analytischen Jurisprudenz, welche die Vereinfachungen der Frühzeit der Strukturtheorie des Rechts vermeidet. Sie gestattet, strukturelle Bindungen, die teils nicht explizit, aber dennoch als historisch gewachsene Tatsachen vorhanden sind, zu erfassen. Sie stellt uns die Aufgabe, sie durch unsere Analysen, die den normativen und teleologischen Kern der Institutionen zu erforschen haben, gedanklich explizit zu bestimmen. Und schließlich bietet sie uns durch die explizite Darstellung der normativen Sinnstruktur der Institutionen die Möglichkeit, Institutionen zweckmäßig zu gestalten bzw. zu reformieren. Solange man z. B. die Institutionen des Versprechens — als Element der gesellschaftlichen Moral — nur als Sprechaktabfolgen charakterisiert 8 6 , beschreibt und erklärt man sie nur partiell und vom logischkritischen Standpunkt aus sogar täuschend. Wenn man auch den normativen K e r n dieser Institution erfaßt, kann man auch die Institution materiell begründen (die Institution des Versprechens z. B. i m Hinblick auf die Verläßlichkeit menschlicher Interaktion) oder kritisieren (z. B. erwägen, ob bzw. wann Versprechen erst durch Zustimmung des Begünstigten perfekt werden sollen) und gegebenenfalls reformieren. 36

Dies bietet i m wesentlichen die Searlesche Analyse.

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Ota Weinberger 2.4. Gibt es rohe Tatsachen?

MacCormick schreibt i n bewußt überspitzter Formulierung „Nicht die »institutionellen Tatsachen* sind problematisch, sondern die ,rohen Tatsachen' 37 ." Er wollte offenbar durch Hinweis auf die Abhängigkeit der Feststellung roher Tatsachen von Regeln die Scheu vieler Menschen, normative Regeln und Institutionen als Tatsachen anzusehen, überwinden. M i r geht es hier eher darum, zu zeigen, daß Feststellungen roher Tatsachen oft von institutionellen Momenten abhängen, daß es aber dennoch sinnvoll und zweckmäßig ist, zwischen rohen und institutionellen Tatsachen zu unterscheiden. Die Bestimmung von Positionen i m Raum, Längenmessung, Zeitangaben, Masse-(Gewichts-) angaben sind von gewissen Festsetzungen, die als institutionalisiert vorausgesetzt werden, ebenso abhängig, wie die Farbattribute nicht nur von der Organisation unseres Sehapparates — insbesondere von der Tatsache, daß ein kleiner Farbfleck, auch wenn er Licht verschiedener Wellenlänge reflektiert, i n einer einzigen Farbe gesehen w i r d —, sondern auch von den i n der Sprache verankerten Farbkategorien abhängen. Bedeutet dies, daß es eigentlich keine rohen Tatsachen, sondern nur institutionelle gibt? Ich b i n der Meinung, daß eine solche Folgerung nicht begründet ist. Man sollte die Kategorie der rohen Tatsachen aufrecht erhalten — obwohl sie i n — wenn ich das so nennen darf — institutionalisierten Koordinaten und aufgrund von Regeln und Festsetzungen festgestellt werden. Ihre Funktion ist aber die Beschreibung der physikalischen Realität. Außerdem sind sie relativ zu dem, was w i r als ,institutionelle Tatsachen' bezeichnen, wohl unterscheidbar: sie gehören zum Bereich der rein beschreibenden, also der nicht-stellungnehmenden Informationen. 3. Die Struktur des Rechts 3.1. Allgemein: Die Aufgabenstellung der Strukturtheorie des Rechts Ein gewisse analytische Zutrittsweise ist für alle modernen Rechtstheorien — vielleicht m i t Ausnahme der rein realistischen Lehren — charakteristisch. Man stellt sich hierbei die Aufgabe, die Rechtsordnung als gedankliches Gebilde zu beschreiben, die logischen Zusammenhänge klarzustellen und zu zeigen, wie die Rechtsbeziehungen und das gesamte rechtliche Geschehen m i t gedanklichen Relationen und Operationen zusammenhängen. I m Sinne einer Philosophie, die sich der Be37 Siehe D. N. MacCormick, Über analytische Jurisprudenz, S. 124 - 139 dieses Bandes, insbes. S. 134.

Einleitung

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Ziehungen zwischen Sprache, rationalen Operationen und interpersonaler Kommunikation bewußt ist, richtet sich die Analyse auf die sprachlichen Strukturen, i n denen das Recht ausgedrückt werden kann, und die auch die Basis für die Theorie der logischen Beziehungen und Operationen bilden. Dies leistet vor allem die Theorie des Rechtssatzes. A n sie knüpft die Theorie des rechtlichen Normensystems an, i n der vor allem die Probleme der Konsistenz des Normensystems, die Theorie der Normendynamik und jene der Rechtsbeziehungen untersucht werden. Die Strukturtheorie des Rechts stellt diese Probleme i n logisierter Form dar, indem den dynamischen Vorgängen i n der Rechtsordnung rationale Operationen zugeordnet werden, die diesen dynamischen Prozessen entsprechen. Diese Darstellung der Rechtsordnung und der Rechtsprozesse setzt voraus, daß das logisierte B i l d des Rechtslebens als rationale Rekonstruktion verstanden wird, welche die Sinngebilde des Rechts i n der Weise ausdrückt, wie sie sich als Ergebnis der Interpretation zeigen. Sie ist jedoch nicht direkt als Schematisierung der nationalsprachlichen Äußerungen zu verstehen, wie sie i n den Texten der Gesetze, Entscheidungen usw. tatsächlich auftreten. Die Strukturtheorie liefert der Rechtsdogmatik für die Darstellung der Rechtsinhalte Deutungsschemata 38 . Sie bestimmt die Formen, i n denen eine vollständige und logisch adäquate Beschreibung des Rechts — und zwar jedes beliebigen Rechtssystems — gegeben werden kann. Sie behauptet aber nicht, daß die vorgeschlagenen Formen das einzig mögliche Framework zur Darstellung von Rechtssystemen bilden 3 9 . Sie bemüht sich zu zeigen, was man über das Recht wissen muß, u m es inhaltlich voll zu erfassen. Die Strukturtheorie definiert das Ziel der hermeneutisch-dogmatischen Arbeit, verweist die Rechtserkenntnis auf die Theorie der juristischen Hermeneutik, ohne aber selbst die Probleme der Rechtsdeutung zu lösen. Die Theorie des Deutens und die juristische Hermeneutik können allerdings ebenfalls i m Geiste der analytischen Theorie entwickelt werden, doch sind diese Überlegungen nicht als Bestandteil der Strukturtheorie des Rechts anzusehen 40 .

38 Z u dem Terminus ,Deutungsschema 4 vgl. H . Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Auflage, S. 3 f. 39 Dies würde den modernen logischen, sprachtheoretischen u n d philosophischen Konzeptionen widersprechen, denn diese Lehren gehen alle v o m sogenannten Toleranzprinzip aus. Vgl. R. Carnap , Logische Syntax der Sprache, W i e n 19682 (19311), S. 45. 40 Vgl. Ch. Weinberger, Ο. Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979, Kap. I V , S. 159 - 191; D. N. MacCormick, H. L. A . Hart, London 1981, Kap. I I I , S. 29 - 44.

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Ota Weinberger 3.2. Die spezifischen Züge der institutionalistischen Strukturtheorie des Rechts

Der IRP ist insoweit ein Normativismus, als er von der semantischen Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Sätzen ausgeht und das Recht als Idealentität i n der Sphäre der praktischen Information ansiedelt. Das Recht ist ein System von Normen, d. h. von Bedeutungen, die Normsätzen — also einer spezifischen Kategorie von praktischen Sätzen — zugeordnet sind. I n gewisser Weise, die noch näher zu erörtern sein wird, gehören nach Auffassung des IRP auch andere praktische Informationen, insbesondere Zwecke, Wertstandards und Präferenzen, m i t zum Rechtssystem. Etwas ungenau kann man i n der üblichen Sprechweise der Juristen sagen, daß der IRP von der Trennung von Sein und Sollen ausgeht. Der IRP versteht die Zäsur zwischen Sein und Sollen als Unterscheidung von Bedeutungskategorien und meint, daß diese semantische Zäsur nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn weder Sollen aus Sein allein, noch umgekehrt Sein aus Sollen allein ableitbar sind. Zur semantischen Kategorie der Normsätze (Normen) gehören gleichermaßen individuelle wie generelle Normsätze, sowie kategorische und hypothetische Normsätze 41 . Es werden ferner Soll- und Darfsätze unterschieden, und es w i r d eine Theorie des normenlogischen Schlußfolgerns vorausgesetzt. N u r unter diesen Bedingungen kann die Beziehung zwischen Rechtsregel und Entscheidung sowie das ganze System der Normendynamik adäquat dargestellt werden. I n ihrer ersten Entwicklungsphase war die analytische Rechtstheorie bestrebt, ein einheitliches Schema des Rechtssatzes als Grundstruktur für die Darstellung aller generellen Rechtsbestimmungen zu erarbeiten. Meist wurde für diesen Zweck der generell adressierte Bedingungsnormsatz angeboten 42 . W i r befinden uns heute i n einer zweiten Phase der Entwicklung der analytischen Rechtstheorie, i n der w i r uns genötigt sehen, eine gewisse Differenzierung der Rechtssätze i n Betracht zu ziehen. Dies zeigt sich ζ Β. bei Hart i n der Gegenüberstellung von Pflichtregeln (primary rules) und Sekundärregeln, die sozusagen i n einer ande41 Der Terminus ,Norm' leitet sich wahrscheinlich v o n dem Namen eines römischen Feldmeßinstruments ab. Dann bezeichnete er eine Verhaltensregel. I n der modernen Philosophie u n d Sprachtheorie, ebenso w i e i n der modernen Logik dient der Terminus ,Norm' zur Bezeichnung einer semantischen Kategorie. 42 Hans Kelsen hat eine andere F o r m des Rechtssatzes als grundlegend vorgeschlagen, da er voraussetzt, daß jede Rechtsnorm eine Sanktionsnorm sein muß. Z u r K r i t i k dieser Konzeption siehe O. Weinberger, Der Begriff der Sanktion u n d seine Rolle i n der Normenlogik, in: H. Lenk (Hrsg.), N o r menlogik. Grundprobleme der deontischen Logik, München 1974, S. 89 - 111.

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ren Ebene liegen und Bestimmungen über primäre Rechtsregeln enthalten (Erkennungsregeln, Rechtsänderungsregeln, Rechtsprechungsregeln) 43 , bei Kelsen i n Überlegungen über Derogationsnormen 44 . Ich selbst habe nachgewiesen, daß Ermächtigungsnormen gegenüber bedingte Pflichten statuierenden Normen formale Besonderheiten aufweisen 45 . Zum Problem der Differenzierung des Charakters der normativen Regeln gehört auch das wichtige und seit Esser und Dworkin viel diskutierte Problem der Beziehung zwischen Rechtsregeln und Rechtsgrundsätzen 46 . Zwei Grundeinstellungen des IRP zu diesem Problemkreis sind wichtig: (i) Die Ansicht, daß nicht nur die explizit gegebenen Verhaltens- und Ermächtigungsnormen das Rechtssystem bilden, sondern auch der teleologische Hintergrund der Rechtsordnung, das dem Recht zugrundeliegende Zwecksystem, institutionalisierte Gerechtigkeitspostulate und die juristische Doktrin, soweit diese Elemente aufweisbar sind und als Bestandteil der gesellschaftlichen Institutionen des Rechtslebens gelten können. I m Sinne des IRP sind diese Elemente, die i n der Argumentation der Rechtspraxis sehr wohl zur Geltung kommen, keineswegs naturrechtliche Elemente, sondern Konstituenten des institutionell daseienden (d. h.: positiven) Rechts. Dies gilt insbesondere von den Rechtsgrundsätzen, die ich — i m Gegensatz zu D w o r k i n — nicht als Elemente der Moral oder des Naturrechts, sondern als Bestandteile des positiven Rechts ansehe 47 , und von den Gerechtigkeitspostulaten bzw. Vorstellungen über ,gerecht' und »ungerecht', die jede menschliche Gemeinschaft entwickelt. Auch dies sind Bestandteile der institutionellen Realität des Rechtslebens.

43 Vgl. H. L . A . Hart, The Concept of L a w , Oxford 1961, S. 77 ff.; D. N. MacCormick, H. L. A . Hart, Kap. V i l i , I X , S. 92 - 120. 44 H. Kelsen, Derogation, in: ders. f Essays i n Legal and M o r a l Philosophy, hrsg. v o n O. Weinberger, Dordrecht 1973, S. 261 - 275. 45 Das Besondere der Ermächtigungsnormen gegenüber anderen hypothetischen Normsätzen besteht darin, daß der I n h a l t des Nachsatzes des Ermächtigungsnormsatzes m i t dem I n h a l t des bedingenden Willensaktes der N o r m erzeugung übereinstimmt. Vgl. O. Weinberger, Die S t r u k t u r der rechtlichen Normenordnung, i n : G. Winkler (Hrsg.), Rechtstheorie u n d Rechtsinformatik, Wien, New Y o r k 1975, S. 121. 48 Vgl. J. Esser, Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 19642 (19561); R. Dworkin , T a k i n g Rights Seriously, London 1977. 47 Ο. Weinberger, Die Naturrechtskonzeption v o n Ronald D w o r k i n , i n : D. Mayer-Maly / R. M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute u n d morgen, B e r l i n 1983, S. 498 - 515; D. N. MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Oxford 1978, S. 229 - 264; ders., Institutionelle M o r a l u n d die Verfassimg, i n diesem B a n d S. 202 - 221.

3 MacCormick/Weinberger

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Ota Weinberger

(ii) Der IRP ist bestrebt, diese Strukturen und ihre Rolle i n der Rechtspraxis, und zwar vor allem i n der juristischen Argumentation, zu analysieren. Das heißt aber für diese Konzeption gleichzeitig, daß es darum geht, einerseits rationale Bindungen und andererseits Stellen der wertenden Dezision möglichst klar aufzuzeigen. Der IRP ist gleichermaßen von der Existenz logischer Bindungen i m juristischen Denken überzeugt, wie von dem non-kognitivistischen Charakter der Rechtserzeugung. Deswegen ist es ein Postulat des IRP, i n der strukturtheoretischen Analyse des Rechts logische Operationen und Dezisionsmomente i m Rechtsdenken zu trennen und i h r Zusammenspiel aufzuweisen. Das Rechtssystem w i r d als dynamisches System konzipiert, weil es als ein Wesenszug dieses Systems anzusehen ist, daß nicht nur Entscheidungen aufgrund von logischen Zusammenhängen m i t materiellen und formalen (ermächtigenden) Rechtsregeln erzeugt werden, sondern auch die Erzeugung von Rechtsregeln verschiedener Stufe i m System normativ bestimmt ist. Obwohl diese Grundkonzeption der dynamischen Theorie des Rechts i m wesentlichen der Reinen Rechtslehre entstammt 4 8 , unterscheidet sich die Auffassung des IRP wesentlich von der Kelsenschen Konzeption der Rechtsdynamik. Für die Kelsensche A u f fassung der Rechtsdynamik sind folgende zwei Momente wesentlich: (1) Die Dynamik des Rechts w i r d als Vorgang i m Bereich des Normensystems konzipiert und vom beobachtbaren gesellschaftlichen Geschehen möglichst isoliert. Dies geschieht i m Geiste des Reinheitspostulats und w i r d dadurch zustande gebracht, daß Kelsen als eigentlichen Geltungsgrund des Rechts nur die vorgeordnete Norm 4 9 , nicht aber die Willensakte und andere beobachtbare Tatsachen ansieht: Nur die Norm sei ,conditio per quam 4 , die tatsächlichen Vorgänge nur »conditio sine qua non' 5 0 . Eine solche Unterscheidung der Elemente der Begründung ist logisch unhaltbar. Der IRP unterstreicht gerade das Zusammenspiel zwischen gesellschaftlich existenten Normen und beobachtbaren Vorgängen i m gesellschaftlichen Leben, und dieses Zusammenspiel bildet nach dieser Auffassung die Basis der Rechtsdynamik. 48 Vgl. F. Weyr, Die Souveränität der Rechtsordnung, i n : V. Kubeë / Ο. Weinberger (Hrsg.), Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie), W i e n 1980, S. 6 0 - 6 9 ; A . Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, i n : A . Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat u n d Recht, Festschrift f ü r Kelsen, W i e n 1931, S. 252-294; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., W i e n 1960, S. 72 f., S. 196 ff. 49 Manchmal w i r d — i n etwas verwirrender Weise — v o n einer »höheren Norm* als Geltungsgrund gesprochen, was besser zu vermeiden ist, w e i l dieser Terminus i n der Merkl-Kelsenschen Lehre v o m Stufenbau i n anderem Sinne, nämlich definiert durch die derogatorische K r a f t , verwendet w i r d . 50 Vgl. S. 13, F N 4 dieses Bandes.

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Einleitung

(2) Das Rechtssystem als Ganzes w i r d durch die Grundnormvoraussetzung konstituiert. Bekanntlich hat Kelsen den Begriff der Grundnorm i m Laufe der Zeit i n verschiedener Weise charakterisiert; ich muß aber hier nicht auf diese Einzelheiten eingehen und möchte nur jene Momente der Grundnormtheorie anführen, welche die prinzipielle Differenz zwischen der Kelsenschen und meiner Auffassung der Rechtsdynamik manifestieren. Für Kelsen ist die Grundnorm eine hypothetische Annahme, eine A r t axiomatischer Festsetzung, die ähnlich wie Axiome i n der Mathematik oder Logik letzte Begründungsstützen sind 5 1 . Für den IRP ist das Dasein des Rechts — auch wenn die Rechtsnormen als Idealentitäten aufgefaßt werden, die nicht der direkten Beobachtung, sondern nur dem Verstehen zugänglich sind — eine institutionelle Tatsache, etwas, was i n der gesellschaftlichen Realität existent ist. Zwar w i r d auch i n der Reinen Rechtslehre davon gesprochen, daß ein Normensystem nur dann eine geltende Rechtsordnung darstellt, wenn es effektiv (wirksam) ist, doch w i r d außer acht gelassen, daß die Frage der Wirksamkeit nicht „rein", sondern nur durch soziologische Beobachtungen erkannt werden kann. Der IRP unterstreicht hingegen gerade den Umstand, daß das Zusammenwirken von Normensystemen m i t Einrichtungen und gesellschaftlichen Vorgängen, die auch ihre beobachtbare Seite haben, das Essentielle des Daseins eines Rechtssystems bilden 5 2 . 3.3. Institutionen

und die sie bestimmenden

Regeln

Man w i r f t den strukturtheoretisch orientierten Rechtstheorien manchmal vor, daß sie von der eigentlichen juristischen Kernfrage, dem Inhalt des Rechts, ablenken. Ich glaube, daß solche Einwände gegen die analytische Arbeit i n der Rechtstheorie niemals berechtigt sind, denn jede Strukturtheorie muß sich dessen bewußt sein, daß nur eine dogmatisch-inhaltliche Darstellung des Rechts das System juristisch charakterisiert, wobei die Formtheorie nur die Ordnungsprinzipien der Darstellung liefert. Noch weniger berechtigt wären solche Einwände gegenüber dem IRP, hat doch MacCormick schon i n der — wenn ich so sagen 51 I n Kelsens Spätlehre w i r d die Grundnorm als f i k t i v e N o r m bezeichnet, w e i l sie nicht einem Willensakt eines realen Subjekts entspringt. Für die hier diskutierte Frage ist Kelsens späte Konzeption des Normbegriffs nicht relevant. 62 A u f der Basis der Grundnormtheorie könnte eine modifizierte Konzept i o n den Anforderungen des I R P entgegenkommen. M a n müßte die G r u n d n o r m als echte Hypothese i m Sinne der Wissenschaftstheorie ansehen (d.h. als eine auf Bewährung angelegte Annahme) u n d soziologisch testen, ob diese Annahme geeignet ist, ein effektives einheitliches Rechtsnormensystem zu bestimmen; m. a. W.: diese Hypothese müßte an den gesellschaftlichen I n s t i tutionen u n d dem menschlichen Verhalten durch verstehende Beobachtung getestet werden.

*

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Ota Weinberger -

darf — ersten Programmschrift des IRP „Das Recht als institutionelle Tatsache" grundlegende Überlegungen über die inhaltliche Gestaltung des Rechts und über den Inhalt der Regeln, welche rechtliche Institutionen bestimmen, vorgelegt 5 3 . Das Recht ist nicht nur als solches eine institutionelle Tatsache, sondern es besteht auch aus einer Reihe von Institutionen, die — wie MacCormick gezeigt hat — durch Namen der Institutionen und ihrer Elemente sowie durch normative Regeln bestimmt werden. Das Recht ist ein Sinngebilde; es beruht immer auf einer gewissen begrifflichen Konstruktion, der eine Terminologie entspricht, deren Bedeutung eigentlich durch das System der bestimmenden Regeln definiert ist. Man kann hier „Schichten" der Bestimmung der den Institutionen zugeordneten Termini unterscheiden. Man gibt ζ. B. eine kurze Definition von »Eigentum*, juristischer Person', »Strafe', ,Familie' usw., welche die Begriffe so weit charakterisieren, daß klar wird, wovon die Rede ist, wenn diese Termini als Termini eines gewissen Rechtssystems verwendet werden 5 4 . Eine erschöpfende Bestimmung des entsprechenden Begriffs, ζ. B. des Begriffs ,Eigentum' w i r d aber erst durch die Gesamtheit der das Eigentum betreffenden Rechtsnormen der Rechtsordnung erreicht. Man kann die Meinung vertreten, daß eigentlich nur die normative Bestimmung, nicht die begriffliche und terminologische Festsetzung, für den Inhalt der Rechtsordnung entscheidend sei. Für die Determination des Sollens und Dürfens i m Rechtssystem sind — theoretisch gesprochen — tatsächlich bloß die an Bedingungen geknüpften normativen Folgen entscheidend, nicht die Namen der Institutionen. Für die gesamte Pragmatik des juristischen Denkens, das Verstehen des Rechts und die Interpretation ist aber der begriffliche und terminologische Aufbau ganz wichtig. Die Institutionen des Rechts werden nach MacCormick Typen von Regeln bestimmt:

durch drei

58 D. N. MacCormick, L a w as I n s t i t u t i o n a l Fact, Edinburgh 1973, vgl. insbes. S. 5 ff.; deutsch i n diesem Band S. 80 ff. 54 M a n k a n n juristische T e r m i n i — u n d t u t dies i n gewissen Überlegungen tatsächlich — auch i n einem vageren Sinn einführen, nämlich ohne genaue B i n d u n g an eine spezifische Rechtsordnung. »Eigentum', »Familie' usw. sind dann z . B . nicht Institutionen der österreichischen Rechtsordnung oder der sowjetischen Rechtsordnung, sondern eine A r t Familienbegriff, der v e r schiedene, i n gewisser Weise f u n k t i o n e l l analoge, Einrichtungen verschiedener Ordnung bezeichnet. Dies erscheint zweckmäßig — vielleicht sogar notwendig — für rechtsvergleichende Untersuchungen (auch i m historischen V e r lauf ein u n d derselben Rechtsordnung) sowie für die Lösung verschiedener Probleme des internationalen Privatrechts. I n welchem Maße u n d unter w e l chen Bedingungen hierbei begriffliche Präzision erreicht werden kann, ist eine Frage, die den Rahmen dieser Abhandlung überschreitet.

Einleitung

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(i) institutiven Regeln (»institutive rules'), die festlegen, unter welchen Bedingungen ein Fall dieser A r t zustande kommt (diese Regeln haben offenbar gleichzeitig die Rolle der definitorischen Einführung der entsprechenden Begriffe, sozusagen i n der ersten Schicht der Begriffsbestimmung); (ii) Rechtsfolgeregeln (,konsequentielle Regeln', ,consequential rules'), welche die normativen Folgen der Existenz eines Falles der Institution (eventuell unter Heranziehung weiterer, die Rechtsfolgen bestimmender, Umstände) normieren; (iii) Beendigungsregeln (,terminative Regeln', »terminative rules'), die angeben, wie ein bestehender Fall der Institution aufgehoben wird. Es scheint m i r hier wichtig, darauf hinzuweisen, daß der IRP sich dessen bewußt ist, daß m i t der Existenz der Institutionen ein Komplex von gesellschaftlichen Folgeerscheinungen verbunden ist, die durchaus nicht m i t der Darstellung dieser drei Gruppen von Normen erschöpft werden. Die Institutionen verkörpern auch Ziele und Wertstandards, die der betreffenden Institution inhärent sind. Für die involvierten Personen eröffnen sich Handlungsmöglichkeiten, die ohne institutionellen Rahmen gar nicht vorlägen, und es entstehen — oft i m Zusammenhang mit anderen Umständen — Erwartungskonstellationen. Das heißt, der IRP unterstreicht zwar auf der einen Seite den essentiellen Anteil der normativen Regulative an den rechtlichen Institutionen, sieht aber gleichzeitig die Notwendigkeit, das axiologische, soziologische und psychologische Umfeld der Auswirkung von institutionalisierten normativen Regulativen zu untersuchen. 4. Der Streit um das Naturrecht aus der Sidit des Institutionalistischen Rechtspositivismus I n diesem Abschnitt möchte ich kurz meine Einstellung zum Problem des Naturrechts skizzieren und begründen, warum ich meine Aufassung als Positivismus bezeichne, obwohl ich einige, i n positivistischen Lehren häufig vertretene,Thesen ablehne und i n gewissem Sinne eine Position „jenseits von Positivismus und Naturrecht" einzunehmen versucht habe 55 . Diese Einstellung soll aber weder eklektisch noch eine Kompromißlösung sein.

65 Vgl. O. Weinberger, Jenseits v o n Positivismus u n d Naturrecht, ARSP, Supplementa, Vol. 1, Part 1, Contemporary Conceptions of L a w , I X . W e l t kongreß, Basel 1979, S. 43 - 56.

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Ota Weinberger 4.1. Meine Zutrittsweise

zum Streit um das Naturrecht

Eine klare Einstellung zu diesem Meinungsstreit, der als ewiges Problem der Rechtsphilosophie bezeichnet wurde, kann man m. E. nur dann gewinnen, wenn man die Idee des Naturrechts i n jener Perspektive betrachtet, i n der sie für den Rechtsphilosophen, den Politiker, den Rechtsdogmatiker und den praktischen Juristen relevant wird, nämlich: i n ihrer Rolle i n der juristischen Argumentation. Die Frage zu diskutieren, ob es ein Naturrecht gibt oder nicht gibt, d.h. mit anderen Worten, ob notwendige Prinzipien des richtigen Rechts existieren, bleibt für mich solange bedeutungslos, solange das Problem bloß als Existenzfrage diskutiert wird, denn die Behauptung, daß Naturrecht existiere, kann nicht als Argument i m juristischen Diskurs verwendet werden. Nur inhaltlich bestimmte Grundsätze können argumentativ verwertet werden. Nur eine solche Naturrechtslehre, die nicht nur das objektive Dasein des Naturrechts behauptet, sondern die auch die objektive Geltung inhaltlich bestimmter Naturrechtsgrundsätze aufweisen kann, bringt juristisch relevante Argumente und ist diskussionswert. Das rechtsphilosophische Problem des Naturrechts verschiebt sich daher i n meiner Sicht auf eine Erkenntnisfrage: können — und wie können — Prinzipien des Rechts als absolut gültig erkannt werden? Die Frage nach dem Naturrecht bedeutet von diesem Standpunkt aus nichts anderes als die bekannte philosophische Frage „Gibt es eine praktische Erkenntnis"? Naturrecht ist von dieser Warte aus die Auffassung, daß eine objektiv gültige praktische Erkenntnis existiert, d. h. daß objektiv — wenn auch vielleicht nur annähernd — erkannt werden kann, was richtiges Recht ist. Die Verwandtschaft m i t dem Kognitivismusproblem ist manifest. Der Positivismus kann aufgrund dieser Überlegung „negativ" durch die These definiert werden: Es gibt keine praktische Erkenntnis, d. h. keine Möglichkeit, richtiges Recht objektiv zu erkennen. Über die adäquate Interpretation dieser These muß noch näher gesprochen werden. Es ist jedoch naheliegend, daß man m i t einer bloß negativen Begriffsbestimmung nicht ganz zufrieden sein kann, denn, wenn man die Existenz objektiv gegebener und rein kognitiv erfaßbarer Richtigkeitsmaßstäbe der Rechtsbegründung ablehnt, taucht sofort die Frage auf, wodurch denn das Dasein des Rechts, sein Inhalt und seine Begründung konstituiert werden. Der Positivist w i r d i m wesentlichen sagen, daß das Recht durch gesellschaftliche Gegebenheiten und Strukturen sowie durch die Einstellungen und Lebensformen der Menschen i n der Gesellschaft, m. a. W.: durch den Willen der Menschen, bestimmt ist, nicht aber durch vorgegebene Maßstäbe. Auch diese „positive" Charakteristik des Positivismus erfordert eine nähere Erörterung.

Einleitung

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Um zu einem besseren Verständnis des Meinungsstreites zu gelangen, erscheint es wichtig, einige Bemerkungen über die Motive zu machen, die zu der einen oder der anderen Position führen. Dann w i r d es auch nötig sein, sich m i t einer Reihe von Thesen zu befassen, die als Bestandteile der positivistischen bzw. der naturrechtlichen Konzeption angesehen werden. Die Unterschiedlichkeit der Einstellung zu diesen Thesen, die von meinem Standpunkt auch als Nebenthesen erscheinen, hat sogar dazu geführt, daß manche Autoren verschiedene Begriffe von Positivismus resp. von Naturrecht, unterscheiden 56 . I n meiner Perspektive werden die Nebenthesen als gedankliche Ergänzungen zu der Grundproblematik behandelt werden; ich werde vor allem zwei „Nebenfragen" diskutieren, nämlich die Frage der Beziehung zwischen Recht und Moral, und die Frage der außerpositiven Rechtfertigung i n der juristischen Argumentation. 4.2. Was führt die Rechtsphilosophen zum Naturrecht? Es scheint ein Naheverhältnis zwischen religiösen Lehren bzw. religiöser Einstellung der Denker und dem Hang zum Naturrecht zu bestehen. Für den Gläubigen ist es plausibel, daß Gott nicht nur die Welt erschaffen, sondern auch bestimmt hat, was recht und unrecht, was wert und unwert ist. Und da die Religionen Religionsschöpfer, Propheten und heilige Schriften haben, ist es sinnvoll, aus den entsprechenden Informationsquellen auch „objektiv richtige" (höhere, immanente, gottgewollte) Sollensmaßstäbe herauszulesen. Die Bindung zwischen religiösem Weltbild und Naturrecht ist aber m. E. keineswegs so eng, wie es nach diesen Bemerkungen scheinen könnte und wie manche Denker (ζ. B. Kelsen 57 ) behaupten. Die heiligen Quellen geben meist keine eindeutige Bestimmung des Sollens, der objektiven Werte und der richtigen (ΞΞ gottgefälligen) Lebensform, sondern sie stellen nur eine Basis für die Bestimmung des Richtigen dar; die Differenzen der geforderten Lebensauffassungen werden hierdurch weitgehend i n den hermeneutischen Bereich verschoben. Das beweisen sowohl die weit divergierenden Auffassungen verschiedener Religionsgemeinschaften, die von denselben Glaubensquellen ausgehen, als auch die Veränderlichkeit der 56 Vgl. H. L. A. Hart, Der Positivismus u n d die Trennung v o n Recht u n d Moral, i n : N. Hoerster (Hrsg.), Recht u n d Moral, Göttingen 1971, S. 23 (Original: Positivism and the Separation of L a w and Morals, H a r v a r d L a w Rev i e w 71, 1958, S. 593 - 629); A . Aarnio, F o r m and Content i n L a w : Dimensions and Definitions of Legal Positivism, in: ders.: Philosophical Perspectives i n Jurisprudence, A c t a Philos. Fennica, Vol. 36, H e l s i n k i 1983, S. 80; D. N. MacCormick, Recht, M o r a l u n d Positivismus, i n diesem Band S. 156 - 175. 67 Vgl. ζ. Β . H. Kelsen, Naturrechtslehre u n d Rechtspositivismus (1961), i n : H. Klecatsky / R. Marcie / H. Schamheck, Die Wiener rechtstheoretische Schule, W i e n u. a., S. 821.

Ota Weinberger

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Lebenseinstellung i n ein und derselben Religionsgemeinschaft i m Verlauf der geschichtlichen Entwicklung. Viele Theologen und religiös motivierte Rechtsphilosophen versuchen rational zu begründen, was als gut und was als böse zu gelten hat, wobei sie ihre Argumentation nicht — oder wenigstens nicht primär — auf die i n den Glaubensquellen festgehaltenen Entscheidungen stützen 58 . Aus diesen Gründen halte ich die Annahme, die Naturrechtslehren seien ausschließlich durch ein religiöses Weltbild motiviert, für falsch. Der Rechtsphilosoph steht vielmehr vor gewissen Problemen, die er durch die Idee des Naturrechts zu lösen hofft, und zwar vor allem: (a) Wie kann das Recht so aufgefaßt werden, daß es nicht nur Ausdruck der Macht ist? (b) Wie kann entartetes Recht, eine lex iniustissima, ausgeschlossen werden? (c) Wie kann Recht als inhaltlich richtig begründet werden? (d) Wie können Lücken oder Unbestimmtheiten i m Recht entschieden werden? (e) Wie werden?

können

Problemfälle

(hard

cases)

rational

entschieden

Diese und ähnliche Probleme stehen natürlich auch vor den Augen des Rechtspositivisten. Es scheint m i r jedoch i n gewissem Sinne naheliegend, aus einer Naturrechtstheorie Hilfe für ihre Lösung zu erwarten, wenn ich auch meine, daß diese Hoffnung enttäuscht werden wird. 4.3. Was führt die Rechtsphilosophen zum Rechtspositivismus? Ebenso wie die oben erwähnten Probleme, die naturrechtliche Versuche nahelegen, Fragen sind, die von allen, nicht nur den Naturrechtlern, als drängend angesehen werden, erscheinen auch die Ausgangspositionen und Motive des Rechtspositivisten als allgemein einleuchtend. Das Recht ist zweifellos ein Phänomen der sozialen Wirklichkeit, das als Realität erfaßt werden soll. Die Rechtsrealität zu erkennen und als spezifischen Bereich der gesellschaftlichen Realität darzustellen, w i r d i m wesentlichen als die eigentliche Aufgabe der Rechtswissenschaft allgemein — sowohl von Positivisten als auch von Naturrechtlern — anerkannt. Diese kognitive Aufgabenstellung gerät erst dann m i t naturrechtlichen Konzeptionen i n Konflikt, wenn hinzugefügt wird, daß das Erfassen der Rechtsrealität ohne philosophische Spekulation und abgetrennt von Problemen der Rechtfertigung des Inhalts des Rechts geschehen solle, denn die Aufgabe, das Recht als Tatsache bzw. das w i r k 58

Vgl. z. B. J. Finnis, N a t u r a l L a w and Natural Rights, Oxford 1980, S. 44.

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Einleitung

lieh geltende Recht zu erfassen, w i r d jeder Naturrechtler ebenfalls als sein Ziel ansehen. Nur w i r d für den Naturrechtler die Realität des Rechts bestehen (a) aus einer vorgeordneten Sphäre von Naturrechtsprinzipien oder Wertkriterien und (b) aus dem positiven Recht. Durch die Zielsetzung, die Realität des Rechts zu erfassen, w i r d das Naturrecht nicht ausgeschlossen, sondern nur durch die antispekulative Einstellung des Rechtspositivisten und die Voraussetzung, daß der gültige Rechtsinhalt stets gesellschaftlich bedingt ist, d.h. dem menschlichen Wollen entstammt und nicht spekulativen Vernunftprinzipien oder einer absoluten Wertsphäre. 4.4. Typologie

der rechtspositivistischen

der naturrechtlichen

und

Lehren

Die Adäquatheit einer Typologie hängt von den Zwecken ab, die sie verfolgt. Für den Zweck meiner Überlegungen, die dazu dienen, den IRP i n Gegenüberstellung zu anderen Lehrmeinungen zu charakterisieren, scheint es angemessen, die Typologie der rechtspositivistischen Systeme vor allem danach durchzuführen, was sie als den Gegenstand des positiven Daseins des Rechts ansehen. Demnach ist die Existenz des Rechts ein Dasein von Normen (normativistischer Rechtspositivismus), oder ein Dasein gesellschaftlicher Einrichtungen des Rechts, so wie sie der Beobachtung zugänglich sind, nämlich i n ihrem Bestand und ihrer Funktionsweise (realistischer Rechtspositivismus). I n gewissem Sinne bildet der IRP einen dritten Typus, indem er Rechtsnormen als den Gegenstand ansieht, dessen Dasein als Tatsache erfaßt wird, aber gleichzeitig die institutionalistische Normenontologie vertritt, dergemäß das reale Dasein von normativen Regulativen i n deren Beziehung zu beobachtbaren gesellschaftlichen Einrichtungen und Vorgängen besteht und eine Tatsache sui generis ist. Eine analoge Einteilung der Naturrechtslehren kommt kaum i n Frage, denn sie beziehen sich immer auf die präpositive Existenz von Normen oder/und Werten. I m einzelnen w i r d die Positivität des Rechts auf verschiedene Momente gestützt, wodurch ein ganzes Spektrum verschiedener Auffassungen m i t unterschiedlichen Konsequenzen für die Rechtstheorie und die juristische Methodenlehre entsteht. Der historische Rechtspositivismus anerkennt als daseiendes Recht nur das, was historisch gewachsen ist und daher als soziale und kulturelle Realität feststellbar ist. I n soziologischer Sicht kann das Recht als Produkt sozialer Prozesse und Machtkonstellationen positivistisch verstanden werden. I n unserem Jahrhundert scheinen m i r zwei weitere Elemente für die Charakteristik der Spielarten des Rechtspositivismus wichtig: (i) Unter dem Einfluß des

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philosophischen Neopositivismus und seiner Verifikationstheorie des Sinns wurden von manchen Autoren (vor allem von Hägerström) n u r Behauptungen, nicht aber Normen, als sinnvoll angesehen; die Rechtserkenntnis w u r d e daher als rein beschreibend und prognostisch aufgefaßt. Diese, die Sinnhaftigkeit des Normativen leugnenden, Konzeptionen sind heute k a u m mehr aktuell. Die prognostische Konzeption lebt aber ζ. B. bei dem noch immer sehr einflußreichen Alf Ross 59 weiter. Eine gewisse Reminiszenz des rein beschreibenden Rechtsrealismus ist vielleicht die i n den skandinavischen Ländern vertretene Rechtsquellend o k t r i n (A. Peczenik eo), dergemäß die Tradition der Richter und Staatsorgane darüber entscheidet, was als „Rechtsquelle" i n diesem spezifischen Sinne, d. h. als Argument i n der Entscheidungsbegründung verwendet werden muß, soll oder kann. Vom normativistischen Positivismus w i r d der Unterschied zwischen Rechtserzeugung, die durch ermächtigte Willensakte zustandekommt, und Rechtserkenntnis unterstrichen. Die Reine Rechtslehre, eine der wichtigsten positivistischen Lehren, geht weiter i n der Richtung zu einem dezisionistischen Voluntarismus. Geltendes Recht w i r d als Folge von rechtsetzenden Willensakten angesehen. De-lege-ferenda-Überlegungen werden aus der Jurisprudenz ausgeschlossen. Dadurch w i r d auch ein Teil der zu Fallösungen führenden Analysen ausgeklammert. I m Sinne der Reinen Rechtslehre darf der interpretierende und der sich m i t Kasuistik befassende Rechtswissenschaftler n u r die möglichen A l t e r nativen der Deutung (bzw. der Entscheidung) anführen, aber keine Präferenzanalysen de lege ferenda (bzw. de sententia ferenda) anstellen. I n seiner Spätlehre geht Kelsen u m einen wesentlichen u n d sehr problematischen Schritt weiter. Er betrachtet die positive Rechtsnorm nicht n u r als durch Willensakte gesetzt (und deutet die Positivität als ,positum'), sondern (a) definiert die Norm als Sinn tatsächlicher W i l lensakte, und (b) betrachtet als Norm n u r das, was Inhalt eines Willensaktes ist oder war, nicht aber die logischen Folgen der normativen A k t inhalte, w e i l er — eben wegen dieser Bindung der Norm an den Normsetzungsakt — Normenfolgerungen als ein Ding der Unmöglichkeit ausschließt 61 . 69

A . Ross, On L a w and Justice, London 1958. Vgl. z.B. A . Peczenik, The Structure of a Legal System, Rechtstheorie Bd. 6 (1975), S. 1 - 16. 61 Siehe H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, posthum hrsg. v o n K. Ringhofer u n d R. Walter, W i e n 1979, sowie meine K r i t i k i n : O. Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz u n d E t h i k , B e r l i n 1981. Die strikte Bindung des Daseins der N o r m an den normsetzenden Willensakt gleichen Inhalts habe ich »Setzungspositivismus 4 genannt. Siehe O. Weinberger, Z u r Idee des Institutionalistischen Rechtspositivismus. Gleichzeitig eine Auseinandersetzung m i t Hans Kelsens Setzungspositivismus, in: Kelsen et le 60

Einleitung

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Die Typologie der Naturrechtslehren w i r d — soweit ich die Literatur überschaue — weniger diskutiert als jene der positivistischen Auffassung; sie ergibt sich meist nur als Komplement einer Typologie des Positivismus. Von zwei Gesichtspunkten aus möchte ich die typologische Betrachtung der Naturrechtslehren durchführen. (a) Die Naturrechtslehren unterscheiden sich nach der Relevanz, die der Naturrechtserkenntnis zugeschrieben wird. Das Spektrum reicht von dem Versuch, das Dasein des Rechts und rechtlicher Institutionen zu rechtfertigen, über die Auffassung, daß der Inhalt des Rechts durch die immanenten Grundwerte und die präpositiven Maßstäbe richtigen Rechts gerechtfertigt werden kann und muß, bis zur sozusagen „schwachen" Konzeption des Naturrechts, dergemäß die Konstitution des Rechts und der Geltungsgrund des Rechts durch soziale Strukturen und Prozesse bestimmt sind, die Naturrechtsgrundsätze jedoch Grenzen und Filter jedes möglichen Rechts bilden. Es scheint heute eine Tendenz zu schwachen Konzeptionen des Naturrechts zu bestehen. (b) Es werden ferner die Quellen der Naturrechtserkenntnis verschieden konzipiert: vom Glauben an absolute Werte über Intuition, Wesensschau, praktische Vernunft oder kontrakttheoretische Argumentationen, spannt sich der Bogen der naturrechtlichen Versuche. M i r scheint es unbestreitbar, daß Wertüberzeugungen bestehen, doch scheinen m i r die Begründungen, daß es sich u m objektiv gültige Werte und Kriterien handle, — soweit die Kriterien nicht rein formal und daher wertneutral sind —, nicht überzeugend. Die Grenze zwischen ,naturnotwendig' und »überzeugend, weil i n einer historischen, soziologischen und ideologischen Situation akzeptiert' ist unbestimmbar. Dem Meinungsstreit „Naturrecht-Positivismus" entsprechen divergierende methodologische Konzeptionen, welche hauptsächlich die Beziehung zwischen Moral und Recht sowie die Rolle des Wertens bei der Bestimmung der Geltung des Rechts und der Rechtfertigung von j u r i stischen Entscheidungen betreffen. Für den Naturrechtler ist das moralische Werten ein integrierender Bestandteil des Rechts: das Recht hat moralische Funktionen bei der Konstitution der Gesellschaft, und moralische Momente bestimmen die positivisme juridique, Revue internationale de philosophie, 1981, S. 487 - 506. Logische Beziehungen u n d logisches Folgern betreffen niemals — weder i m kognitiven (rein beschreibenden) noch i m praktischen (ζ. B. normativen) Bereich — psychische A k t e oder Sprechakte, sondern nicht-psychologistisch konzipierte Gedanken bzw. deren sprachliche Ausdrücke. Daher impliziert die dem Setzungspositivismus zugrundeliegende Normenontologie, nämlich die begriffliche B i n d u n g der N o r m an den A k t , dessen Sinn sie ist, den N o r menirrationalismus (d.h. die Unmöglichkeit normenlogischer Beziehungen u n d Inferenzen). Das Remedium ist einfach: m a n muß die inadäquate Definit i o n der N o r m revidieren.

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juristischen Dezisionen dort, wo sie dem Ermessen anheimgestellt sind. Der Positivist unterstreicht dagegen die prinzipielle Unabhängigkeit von Recht und Moral als zweier selbständiger Normensysteme, so daß Moralprinzipien i m Recht nur dann zur Geltung kommen, wenn die Rechtsordnung auf sie verweist. Verwandt m i t der Auffassung von der immanenten Präsenz der Moral i m Recht ist die Konzeption, dergemäß Recht und Moral koordinierte Bereiche der praktischen Vernunft sind, weil beide auf regelgerechtes und richtiges Verhalten gerichtet sind und beide — wenn auch etwas unterschiedlich — rationaler Rechtfertigung unterliegen. Es w i r d noch zu prüfen sein, ob bzw. unter welchen weiteren Voraussetzungen diese Meinung als Naturrechtslehre zu verstehen ist. M i t Recht wurde von verschiedenen Autoren die Meinung vertreten, daß der Positivismus zur formalen Geltungsbegründung aufgrund von Ermächtigungszusammenhängen tendiert, während die naturrechtlichen Rechtfertigungen i n wesentlicher Weise auf Wertungen aufbauen 62 . M. E. ist es nicht so sehr die Frage, ob Prinzipien und Wertungen i n die juristische Argumentation aufgenommen werden, denn auch i n positivistischen Argumentationen treten Wertungen auf, sondern entscheidend ist, wie diese Wertungen interpretiert werden. Werden sie als auf kognitiv vorgegebenen Maßstäben beruhend angesehen, dann bewegen w i r uns i m Bereich des Naturrechts; betrachtet man sie aber als aktuelle Stellungnahmen unter gewissen akzeptierten — d. h. als relevant angesehenen — Gesichtspunkten, dann ist dies eine non-kognitivistische und positivistische Konzeption. 4.5. Fragwürdige

Thesen beider

Parteien

Ich glaube, gezeigt zu haben, daß beide Parteien i n gewisser Weise plausible Ausgangspositionen einnehmen und ziemlich anerkennenswerte Motive für ihre Standpunkte haben. Nun möchte ich aber zeigen, daß beide Parteien oft auch sehr problematische Thesen vertreten. I m Lager der Positivisten hört man oft Thesen, die ich nun i n idealtypischer (d. h. gleichzeitig: simplifizierter) Formulierung darstellen und kritisieren möchte: a) Nach positivistischer Auffassung kann der Gesetzgeber alles Beliebige anordnen 63 . Die W i l l k ü r des Gesetzgebers erscheint nur dadurch 62 Vgl. ζ. Β . A . Aarnio, op. cit., S. 92; ders. / R. Alexy / A . Peczenik, G r u n d lagen der juristischen Argumentation, i n : W. Krawietz / R. Alexy, Metatheorie juristischer Argumentation, B e r l i n 1983, S. 21. (Die Passage stammt aus der Feder v o n A . Peczenik.) 63 Vgl. ζ. Β . H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., Leipzig, W i e n 1934, S. 63.

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begrenzt, daß logische Inkonsistenz seiner Anordnungen ausgeschlossen wird; doch auch diese Einschränkung w i r d nicht immer vorausgesetzt 64 . Die These von der Beliebigkeit des Rechtsinhalts hat m. E. nichts m i t der positivistischen Auffassung zu tun. Wenn man behauptet, daß das, was der institutionalisierte Gesetzgeber anordnet, rechtens ist, impliziert dies nicht, daß er alles Beliebige als rechtens (richtig i n seinem System) anordnen kann, denn das seine normenerzeugenden Akte unabhängig von vorgegebenen Richtigkeitskriterien gültiges Recht schaffen, bedeutet nicht, daß i h m ein unbegrenzter Spielraum für sein Entscheiden zur Verfügung steht. Es mag anthropologische oder soziale Grenzen der Möglichkeiten geben, die w i r vielleicht gar nicht kennen, ohne daß dies der positivistischen Position widersprechen würde. b) Die Vorstellung, daß positives Recht Menschenwerk, ein Produkt der menschlichen Gesellschaft und durch menschliche Willensakte bestimmt ist, führt die Rechtspositivisten oft zur Behauptung, daß Recht durch explizite Willensakte, und nur i n dieser Weise, erzeugt werde. ,Ius positivum' w i r d als ,ius positum' gedeutet. Ermächtigte, explizite Willsensakte werden als die ausschließlichen Quellen des Rechts angesehen. So plausibel diese Auffassung auf den ersten Blick h i n erscheinen mag, sie ist auch von der Warte des Rechtspositivismus unrichtig. Zur Realität des Rechts gehört auch der i n der Gesellschaft und i n den Rechtsinstitutionen verankerte Hintergrund von Zwecken, Wertstandards, allgemeinen Prinzipien und Ideen, die das Rechtsleben, und zwar von der Interpretation bis zum Ermessen bei den Rechtsentscheidungen, mitbestimmen. Wenn man diese Elemente nicht als zum positiven Recht gehörig ansieht, verstümmelt man die nach rationaler Begründung strebende Jurisprudenz und Rechtspraxis und ersetzt sie durch reine W i l l k ü r oder/und man deutet diese Elemente der juristischen Überlegungen als Heranziehen von Naturrecht 6 5 . (c) Der Setzungspositivismus als Theorie, welche die kritisierte Auffassung auf die Spitze treibt (und — wie ich meine — ad absurdum führt) bindet das Dasein jeder einzelnen Norm Ν an einen Setzungsakt vom Inhalt JV66. Hier t r i t t zur problematischen Einschränkung der 64 M i t Recht sagt Kelsen, daß unverträgliche Rechtsnormen g ü l t i g entstehen können. Solche K o n f l i k t e h ä l t er für unzweckmäßig, aber nicht für logische Mängel des Systems. U n d darin liegt m. E. gerade der prinzipielle Fehler seiner Auffassung. 85 Vgl. ζ. B. die naturrechtliche Deutung v o n Rechtsprinzipien bei D w o r k i n . R. Dworkin , T a k i n g Rights Seriously, London 1977. Z u r K r i t i k dieses Aspektes der sonst verdienstvollen Analyse der Rechtsprinzipien bei D w o r k i n siehe: O. Weinberger, Die Naturrechtskonzeption v o n Ronald D w o r k i n , i n : D. May er Maly / P. M . Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute u n d morgen, Berl i n 1983, S. 497-515; D. N. MacCormick, Legal Right and Political Democracy, Oxford 1982, Kap. V I I , S. 126 - 153.

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Rechtsrealität auf durch ausdrückliche Willensakte gesetzte Normen eine zweifelhafte Konzeption des Wesens der Kommunikation und der logischen Operationen hinzu, was zu solchen Absurditäten führt, wie zur These, daß aus einer allgemeinen Norm keine individuelle Norm folge 67 . (d) Von manchen Rechtspositivisten w i r d die an und für sich wichtige Unterscheidung von De-lege-lata- und De-lege-ferenda-Überlegungen dazu benützt, die Jurisprudenz auf De-lege-lata-Analysen einzuschränken, obwohl rechtspolitische Überlegungen zweifellos zum Rechtsdenken und zum Rechtsleben gehören. Natürlich hat die Jurisprudenz als Wissenschaft nicht die Aufgabe, rechtspolitische Entscheidungen zu treffen, doch hat sie die Struktur der rational-rechtspolitischen Argumentation zu untersuchen und die möglichen Argumente aufzufinden und kritisch zu analysieren. Der Non-Kognitivismus w i r d fälschlich als Unmöglichkeit gedeutet, rationale Wertüberlegungen anzustellen, das Werten auf Erkenntnisse, insbesondere auf Folgenanalysen und die Untersuchung rationaler Zusammenhänge zwischen mehreren wertenden Stellungnahmen, zu stützen. (e) Die Rolle des Wertens w i r d von beiden Parteien oft falsch eingeschätzt: die Positivisten meinen, daß Werte einfach Dezisionen seien, die prinzipiell außerrational und unkritisierbar sind. I n Wirklichkeit sind Wertdiskussionen auch auf dem Boden des Non-Kognitivismus möglich, und zwar i m wesentlichen i n zweierlei Weise: (a) durch Analyse der sachlichen Zusammenhänge zwischen relevanten Tatsachen und durch Analyse der Folgen unserer Handlungen; (b) durch Prüfung der inneren Konsequenz unserer Stellungnahmen und Wertungen 6 8 . A u f der anderen Seite vertreten auch die Naturrechtler häufig zu starke Behauptungen, die m i r problematisch erscheinen. α) Sie setzen nicht nur voraus daß Wertstandards objektiv gegeben sind, sondern auch, daß die richtigen Werturteile und das objektiv richtige Sollen durch sie rational determiniert sind. I n Wirklichkeit sind die Grundwerte und Wertungsstandards nicht objektiv auf weisbar. Und auch wenn mehrere Subjekte eine gewisse Menge von Wertungskriterien 68

Vgl. O. Weinberger, Z u r Idee eines Institutionalistischen Hechtspositivismus, a.a.O., insbes. S. 491 - 501. 87 O. Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz u n d E t h i k , a.a.O.; ders., Kelsens These v o n der Unanwendbarkeit logischer Regeln auf Normen, i n : Die Reine Rechtslehre i n wissenschaftlicher Diskussion, Wien 1982, S. 108 - 121. 88 Diese sehr allgemeine These möchte ich wenigstens durch ein Beispiel illustrieren: W e n n ich nach ein u n d demselben K r i t e r i u m a dem b vorziehe, u n d b dem c, nicht aber a dem c, dann erscheint die rationale Folgerichtigkeit meiner Präferenzen i n Frage gestellt.

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akzeptieren, ist — was viel zuwenig beachtet w i r d — die resultierende Wertung nicht eindeutig bestimmt, weil die Gewichtung der Wertkriterien bei den verschiedenen Subjekten variieren kann und dann verschiedene Präferenzen konstituiert. ß) Wenn man die Naturrechtsprinzipien als das Moralische i m Recht konzipiert, setzt man oft implizit voraus, es existiere eine einzige gültige Konzeption der Moral. Meines Erachtens sind jedoch die moralischen Auffassungen verschiedener Personen ebenso verschieden, wie die rechtlichen Auffassungen unterschiedlich sind. Die moralischen Meinungsdivergenzen sind ebensowenig durch rein kognitive Analysen entscheidbar wie die Unterschiede der rechtlichen Auffassungen. γ) I n der sozialen Realität des Rechtslebens (ζ. B. bei der Tätigkeit des Richters) besteht zweifellos ein Zusammenspiel moralischer und rechtlicher Überlegungen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich der Richter fragt, wie er seine Ermessensentscheidungen treffen soll, oder wenn er sich selbst prüft, ob er unvoreingenommen und fair vorgeht. Die Tatsache, daß das persönliche Ethos der Menschen i n die Prozesse des Rechtslebens eingreift, bedeutet jedoch nicht, daß die Moral ein Bestandteil des Rechts ist. δ) Es ist sicherlich angemessen, eine vernünftige Rechtfertigung der Rechtsmeinungen und Rechtsentscheidungen zu fordern. Es scheint m i r jedoch problematisch, wenn man die Geltung der Rechtsnormen von einer moralischen Wertung oder von einer Wertung aufgrund von Naturrechtsprinzipien abhängig macht. Wer könnte dazu kompetent sein, formal gültig entstandene Rechtsnormen aufgrund seiner Wertung für ungültig zu erklären? Wer weiß, daß seine persönliche Wertung, nicht aber jene des Gesetzgebers, die richtige ist? Ich kenne und verstehe natürlich die Motive, die zu dieser Auffassung führen. Es ist vor allem das Bestreben, die lex iniustissima auszuschließen. Das traurige Phänomen der möglichen Entartung des Rechts kann meines Erachtens durch Naturrechtsmetaphysik nicht bewältigt werden. Die historische Erfahrung zeigt uns auch, daß Rechtssysteme m i t solchen Entartungserscheinungen ihre Praxis auf pseudowissenschaftliche Lehren und problematische philosophische Konzeptionen zu stützen pflegen. ε) Es w i r d oft angenommen, der Positivismus tendiere dazu, das Werten aus dem juristischen Denken auszuschließen und habe daher keine Möglichkeit, die Willkürlichkeit der Macht zu verhindern. Solche Vorwürfe treffen nur einige Positivisten, keineswegs aber das Wesen des Rechtspositivismus selbst. Es läßt sich nicht a priori oder durch begriffliche Festsetzungen verhindern, daß Macht entartet und daß ungerechtes Recht oder moralisch

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zutiefst verwerfliche Normen mittels des staatlichen Machtapparates durchgesetzt werden (ζ. B. Folter, Schauprozesse, Vernichtungslager u. ä.). Ich verstehe sehr gut, daß viele dazu neigen, i n solchen Fällen zwar von Machtausübung, aber nicht vom Recht zu sprechen, denn der Terminus ,Recht' w i r d i n der Umgangssprache nicht wertfrei verwendet, sondern i n Verbindung m i t der wertenden Konnotation des gesellschaftlichen Placet zum vorgeschriebenen Inhalt. Und dies sollte wohl auch so bleiben, denn normale Rechtssysteme treten m i t dem Anspruch auf, daß ihre Gebote und Verbote gesellschaftlich gerechtfertigt sind. Dennoch meine ich, daß der Rechtstheoretiker m i t einem wertfreien Begriff des Rechts (der Rechtsordnung) arbeiten und ,ungerechtes Recht', »unmoralisches Recht' u. ä. nicht als contradictio i n adjectu ansehen sollte, denn dies ist eine notwendige Bedingung dafür, daß man die institutionell existente Realität i n jedem Fall darstellen kann. Wenn der Rechtsphilosoph durch sein Verdikt ungerechte Normen und Rechtsinstitutionen als Non-Recht disqualifizieren würde (vorausgesetzt er hätte absolute Entscheidungskriterien zur Verfügung), so hätte sein Spruch kaum die Kraft, die Gesellschaft vor der Entartung des Rechts zu schützen. Es ist nämlich für die entarteten Systeme gerade charakteristisch, daß sie Machtsysteme aufbauen und sie ideologisch i n einer solchen Weise untermauern, daß jede rationale K r i t i k unwirksam wird. Man muß unterstreichen, daß es zum Wesen jedes Rechtssystems gehört, gesellschaftlich gerechtfertigtes Sollen zu konstituieren. Vorauszusetzen, Macht sei de facto nur dann rechtserzeugend, wenn sie den Naturrechtsprinzipien nicht widerspricht, ist meines Erachtens eher gefährlich als nützlich, weil eine scheinbare metaphysische Kontrolle an die Stelle gesellschaftskritischer Kontrolle und organisatorischer Vorsicht gesetzt wird. Macht ist jedenfalls als Basis des Rechts relevant, und sie umfaßt dabei auch die Kompetenz zu Wertentscheidungen. Neben politischer Wachsamkeit gegen die Entartung des Rechts kann der Rechtsphilosoph zweierlei machen: a) Organisationsformen suchen, welche die Gefahr der Entartung des Rechts minimieren, und b) den Diskurs über Machtund Gerechtigkeitsfragen wachhalten und so das Bewußtsein stärken, daß Machtpositionen eher gesellschaftliche Kompetenz und Aufgaben darstellen sollten, denn eine Legitimation zur Machtausübung ohne Rechtfertigungspflicht. ζ) Philosophen und Rechtsphilosophen sprechen i m Geiste Kants vom Bereich der praktischen Vernunft, der den Bereich des Rechts und der Moral umfaßt. Die praktische Vernunft w i r d hierbei i n gewisser Weise als Fähigkeit aufgefaßt, ein materielles Sollensapriori zu erfassen.

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Meines Erachtens ist die Vernunft — sei sie theoretische oder praktische Vernunft —, wenn man diese Sprechweise wählt, ein System von Strukturen und Gedankenoperationen, gültig für den Bereich der Erkenntnis und die Analyse des Sollens, aber die praktische Vernunft ist ebenso wenig eine Quelle für die Bestimmung des inhaltlich objektiv richtigen Sollens, wie die theoretische Vernunft keine Physik oder Biologie liefert. 4.6. Warum

ich mich für einen Rechtspositivisten

halte

Trotz der oben vorgebrachten Einwände gegen eine Reihe von Thesen, die m i t der positivistischen Position verbunden zu werden pflegen, halte ich meine Auffassung dennoch für eine rechtspositivistische Lehre. Zur Begründung dieser Meinung möchte ich nun noch einiges anführen: (i) Von der institutionalistischen Position aus gesehen ist das Recht eine soziale Tatsache und sein Inhalt ein Produkt gesellschaftlicher Strukturen und menschlichen Wollens. (ii) Ich glaube zwar an die Möglichkeit und gesellschaftliche Nützlichkeit rationaler und erfahrungsgestützter Wertdiskussionen und rechtspolitischer Argumentationen, doch halte ich weder die Wertstandards noch die Präferenzen für objektive Erkenntnisse: es gibt m. E. keine praktische Erkenntnis, keine inhaltlich bestimmende praktische Vernunft. I m Gegensatz zu dieser Auffassung sind Naturrechtslehren immer i n gewisser Weise kognitivistisch eingestellt. (ii) Es mag unabdingbare Werte geben; es mag, insbesondere aus biologischen oder/und anthropologischen Gründen, der Spielraum der für Menschen akzeptablen Werte und Sollensinhalte nicht unbegrenzt sein. Es gibt aber zweifellos auch historisch, k u l t u r e l l und durch subjektive Einstellungen bedingte Wertauffassungen. Die Grenze zwischen „naturnotwendigen" und bloß de facto gegebenen Wertüberzeugungen halte ich für prinzipiell unbestimmbar. (iv) Dem Menschen stehen — i m Vergleich zu anderen Lebewesen — relativ große Spielräume für die Gestaltung der gesellschaftlichen und persönlichen Lebensformen zur Verfügung (Plastizitätsthese 69 ). Durch die Annahme, gewisse Werte und Gesellschaftsstrukturen seien „naturnotwendig" — obwohl w i r nach (iii) die Grenzen des Unabdingbaren nicht bestimmen können — w i r d unser Gesichtsfeld bezüglich der Spielräume für die Gestaltung unseres Lebens sowie die entsprechenden Wertungen und Sollensregeln eingeschränkt. Es scheint m i r äußerst 69 Vgl. A . Gehlen, Der Mensch. Seine Natur u n d seine Stellung i n der Welt, B o n n 1955.

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wichtig, dies zu vermeiden: w i r brauchen ein möglichst weites und offenes Deliberationsfeld. (v) Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Argumentieren m i t Naturrecht, m i t naturnotwendigem, als objektiv richtig erkanntem, Sollen eine Sicherheit vortäuscht, die — kritisch betrachtet — gar nicht besteht. ^ (vi) Jeder Mensch und jede Gemeinschaft hat gewisse Wert- und Gerechtigkeitsüberzeugungen (Wertthese). Ich zweifle daran, daß die Wertüberzeugungen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können (Wertrelativismus und -Pluralismus). Annäherung der Standpunkte und praktische Kompromisse sind natürlich möglich. (vii) Auch wenn man annimmt, daß „naturgegebene" Grundwerte vorausgesetzt (oder akzeptiert) werden müssen, werden zwar Gesichtspunkte der Betrachtung, aber noch lange kein kognitiv bestimmtes universelles Präferenzensystem konstituiert 7 0 . (viii) Das Rechtsleben ist für die Mitglieder der Gesellschaft ein Zusammenspiel rechtlicher und moralischer Momente. Das Rechtssystem muß aber als selbständiges, von der Moral unterschiedenes Normensystem angesehen werden, das nur dort Normen der gesellschaftlichen Moral heranzieht, wo auf diese verwiesen wird. Die üblicherweise mit dem Naturrecht verbundene These vom inneren Zusammenhang zwischen Recht und Moral akzeptiere ich nicht. Die Funktion der Rechtsordnung bringt es allerdings mit sich, daß jeder Bürger oder Funktionär des Rechtsstabs i n seinem Entscheiden und dem rechtlich relevanten Handeln sein Ethos i n das Rechtsleben einbringt. Die moralische Qualität des Rechtsinhalts darf aber m. E. nicht als Bedingung der Geltung des Rechts angesehen werden. Als Mensch, der i n einer Rechtsordnung lebt, handelt man — und soll man — als moralisches Subjekt handeln: es gilt hier die moralische Forderung des moralischen Wegs i m Rahmen des institutionalisierten Rechts. 5. Abschließende Anmerkungen 5.1. Zur

Institutionentheorie

Die Begriffe »Institution', ,Institutionalisierung 1 u. ä. spielen i n der Soziologie, Rechtstheorie, Linguistik und anderen Disziplinen eine bedeutende Rolle; sie sind kein Novum von Searle oder von MacCormicks 70 E i n universelles Präferenzsystem liegt genau dann vor, w e n n v o n beliebigen Objekten A , Β des Universums bestimmt ist, ob A dem Β , Β dem A v o r gezogen w i r d , oder ob A u n d Β gleichwertig sind (oder ob sie v o m Standp u n k t des betreffenden Systems nicht w e r t h a f t sind).

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oder meiner Rechtstheorie. Für den Begriff der Institutionen ist immer das Moment der inneren Beziehung und funktionalen Abhängigkeit zwischen menschlichen, insbesondere gesellschaftlichen Realitäten und realen Gedankensystemen kennzeichnend 71 . Der IRP ist aber keine soziologische Institutionentheorie, sondern eine Theorie des Rechts als eines gesellschaftlich realen Normensystems. Die Soziologie der Institutionen ist sozusagen eine Nachbartheorie des IRP. Zwischen beiden Lehren bestehen gewisse Brücken; es verbindet sie die Auffassung, daß zwischen sozialer Realität und gesellschaftlich existenten Gedankengebilden eine innere Wesensbeziehung besteht, ferner die prinzipiell handlungstheoretische Betrachtungsweise. A n dieser Stelle kann ich mich nicht näher mit der Beziehung zwischen dem IRP und den Institutionentheorien befassen; einige A n merkungen zu Maurice Haurious juristischer Theorie der Institutionen scheinen jedoch erforderlich. Gemeinsam ist der Hauriouschen Lehre und dem IRP die Erkenntnis der Bindung zwischen Ideellem und Sozial-Realem. Die Realitäten des Rechts, nämlich die Institutionen — Sach-Institutionen und PersonenInstitutionen — sind für Hauriou die eigentlichen Elemente des Rechts. „Institutionen entstehen, leben und sterben nach den Regeln des Rechts. Sie entstehen durch Gründungsvorgänge, die ihnen ihre Rechtsgrundlage vermitteln und damit ihren Fortbestand sichern. Sie leben i m Objektiven wie i m Subjektiven dank wiederholter Rechtsakte von Regierung und Verwaltung, welche nach einem vorgeschriebenen Verfahren erlassen werden. Schließlich sterben sie auf Grund rechtlicher Auflösungs- oder Aufhebungsverfügungen 72 ." Die Leitidee ist für Hauriou jenes Moment, welches die Institution als funktionierende und relativ stabile soziale Realität schafft und zu diesem Zweck Macht installiert. Die organisierte Macht, die der Leitidee dient, w i r d durch diese gerechtfertigt und ist die Quelle des Gemeinschaftsbewußtseins i n der Gesellschaft. Die Macht unter der Leitidee stellt das Schöpferische 71 Unter einem realen Gedankensystem verstehe ich ein verstehbares — u n d wenigstens p a r t i e l l sprachlich darstellbares System, das m i t der beobachtbaren W i r k l i c h k e i t korreliert u n d deswegen als i n der Zeit bestehend aufgefaßt werden kann, zum Unterschied von jenen Gedankensystemen, die i n rein sprachlich-rational-logischer Perspektive betrachtet werden, nicht aber als etwas, das i n der Zeit als psychische oder soziale Realität vorhanden ist. 72 M . Hauriou, Die Theorie der I n s t i t u t i o n u n d der Gründung (Essay über den sozialen Vitalismus), i n : R. Schnur (Hrsg.), Die Theorie der Institution, B e r l i n 1965, S. 35. Der I R P unterstreicht insbesondere den Sollenscharakter des Rechts u n d die Tatsache, daß praktische Informationen institutionenkonstituierend sind, während Hauriou eine Idee, v o n der nicht ganz k l a r ist, ob er sie als p r a k tische Information ansieht, u n d die i h r dienende organisierende Macht i n den Vordergrund stellt.



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i n der Gesellschaft dar. Nicht die Rechtsnormen schaffen die Institutionen, sondern die Institutionen schaffen dank ihrer Führungsmacht das Recht. Leitideen sind nicht Funktionen des gesellschaftlichen Bedürfnisses. „ I n Wirklichkeit kann man Ideen gar nicht erschaffen, man kann nur auf sie stoßen 73 ." Diese These zeigt, daß die Leitideen für den Autor i n gewisser Weise mystischen Charakter haben. Der Unterschied der Problemstellung und der Auffassung Haurious gegenüber dem IRP ist offensichtlich. Der IRP stellt nicht primär die Frage nach den die Institutionen konstituierenden Kräften, sondern er befaßt sich m i t dem Problem der Rechtsnormenontologie. Normen — zusammen m i t anderen praktischen Informationen: Werten, Zielen usw. — und beobachtbares Verhalten sowie beobachtbare Einrichtungen sind für den IRP zwei Seiten einer Münze: es gibt sie nur zusammen. Leitideen sind ideale Kräfte, die an der Konstitution von Macht und Organisation beteiligt sind. Der Begriff der idée directrice weist m i t Recht auf das Geistig-Schöpferische i n der Konstitution der Gesellschaft hin. Die Leitidee ist jedoch insoweit eine etwas undurchsichtige spekulative Vorstellung als sie als eine Entität angesehen wird, die Zwecke und Ziele sowie gesellschaftliche Funktionen transzendiert. Sie soll Macht primär und über ihre Zweckfunktionen hinausgehend philosophisch legitimieren. Der IRP betrachtet dagegen die normativen Regulative sowie die Zwecksysteme i n der Gesellschaft auf der einen Seite und die Macht auf der anderen als ineinander greifende Faktoren, bei denen man von einer Priorität kaum sprechen kann. Ich möchte weder die Macht als das allein Schöpferische i n der Gesellschaft ansehen, noch mittels der Leitideen das gesellschaftliche Sein und die Institution erklären und rechtfertigen, sondern ich versuche, die Sphäre der den Institutionen zugrundeliegenden normativen Regeln, Ziele und Werte aus den Bedürfnissen der Gesellschaft, aus i n der Gesellschaft bestehenden Konstellationen und aus gesellschaftlich schöpferischen Gedanken verstehend zu rekonstruieren. Dem IRP sind die Elemente des Sozialvitalismus, die w i r bei Hauriou vorfinden, fremd. Ich betrachte die Gesellschaft nicht als mehr oder weniger passives Milieu, das allein durch schöpferische Macht und Ideen geformt wird. Die Hauriousche Konzeption der idée de l'oeuvre à réaliser enthält insoweit einen wichtigen Kerngedanken, als sie zum Ausdruck bringt, daß i n den Institutionen schöpferische Konstruktion zur Geltung kommt. Ich kann ihr aber i n zwei Punkten nicht zustimmen: a) i n der Auffassung, daß es sich hier nicht u m bedürfnisabhängige und gesellschaftlich bedingte Zwecktätigkeit handelt, und b) i n der vitalistisch-idealistischen Vorstellung, Macht und Ideologie seien dem gesell73

M . Hauriou, a.a.O., S. 39.

Einleitung

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schaftlich Funktionalen übergeordnet und bedingten primär das gesellschaftliche Geschehen. Für den IRP sind die Normen-, Zweck- und Wertsysteme der sozialen Realität nicht vorgegebene rechtfertigende und organisierende Kräfte, wie die Leitideen Haurious, sondern Systeme der Deliberation und Lenkung, die sich i n gesellschaftlicher A k t i o n und Interaktion konstituieren. Der IRP ist ein Normativismus i n institutionalistischer Perspektive, nicht ein Vitalismus der Macht und Ideen, wie die Hauriousche Lehre. Die Funktion des „zu schaffenden Werkes" bei Hauriou steht allerdings i n einer gewissen Verwandtschaftsbeziehung zur handlungsrelativen Betrachtungsweise des IRP. Die Leitideen müßten jedoch Schöpfungen und nicht Vorgefundenes sein. 5.2. Zur juristischen

Methodenlehre

Die ontologische Grundauffassung des IRP impliziert gewisse Konsequenzen für die juristische Methodenlehre, auf die ich hier nur i n kurzen Anmerkungen hinweisen kann. Der IRP unterstreicht die Rolle der normativen Regeln als Basis der juristischen Entscheidungsbegründung und weist auch auf die Gerechtigkeitsanalyse als Element der Entscheidungsfindung h i n 7 4 . Die Regel- und Generalisierungsfeindlichkeit verschiedener regelskeptizistischer Lehren w i r d vom IRP nicht geteilt. Er nimmt natürlich nicht an, daß die juristischen Entscheidungen einfach durch Subsumtion unter normative Regeln determiniert seien. Die Auffassung des IRP, dergemäß nicht nur Verhaltens- und Ermächtigungsregeln, sondern auch Rechtsprinzipien, ein rechtliches Zweckund Wertesystem sowie die institutionalisierte juristische Methodologie Bestandteil der Rechtswirklichkeit sind, bietet die Möglichkeit einer analytischen Klärung und strukturellen Darstellung aller argumentativen Determinanten von Rechtsentscheidungen. Ich b i n aber davon überzeugt, daß ohne Generalisieren und Vergleichen von Falltypen eine rationale juristische Analyse unmöglich ist. Vergleichende und generalisierende Betrachtungen bedeuten aber i m wesentlichen eine regelorientierte Methode. Der IRP ist eine analytische Rechtstheorie der zweiten Entwicklungsphase, i n der den Unterschiedlichkeiten der Strukturen erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet wird. Nicht nur die Eigentümlichkeit der Normentstehung aufgrund von Ermächtigungsbeziehungen und die Besonderheit der Argumentationen mittels Rechtsgrundsätzen und relativen Wertungen, sind Bestandteile der Rechtfertigung juristischer Ent74 O. Weinberger, Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie. Skizze einer handlungstheoretischen u n d non-kognitivistischen Gerechtigkeitslehre, i n : I. Tammelo / A . Aarnio (Hrsg.), Z u m Fortschritt v o n Theorie u n d Technik i n Recht u n d E t h i k , Rechtstheorie, Beiheft 3, 1981, S. 307 - 330; D. N. MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Oxford 1978.

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Ota Weinberger

Scheidungen, sondern auch die rechtspolitische Analyse, die Beachtung von »policies4 i m Sinne von Dworkin , haben als Elemente der Rechtfertigung von Entscheidungen zu gelten. Das Schlagwort von »social engineering' findet i m Rahmen der Methodologie des IRP durchaus einen Platz. Von institutionalistischer Warte müssen bei der Analyse methodologischer Probleme immer nicht nur die normativen Relationen, sondern auch die beobachtbaren Tatsachen ins Auge gefaßt werden. Die offene Struktur des Rechts 75 besteht nicht nur darin, daß die rechtlichen Bestimmungen normativ und semantisch offen sind, sondern auch darin, daß das Feld der normierten Realitäten Züge aufweisen kann oder solche technische oder gesellschaftliche Veränderungen eintreten können, welche normativ offene Situationen schaffen. Daher zeigen sich solche Probleme wie die Frage der Billigkeitsentscheidungen oder der Rechtslücken auf dem Boden des IRP i n klarerem Licht als i n den traditionellen rechtsphilosophischen Konzeptionen 76 . Wenn der IRP die Geltung des Rechts durch die Beziehungen der Normen zu beobachtbaren Vorgängen i n der Gesellschaft expliziert, läßt er keineswegs außer acht — wenn ich auch darüber bisher wenig gesprochen habe —, daß die Beantwortung der Frage, was gültiges Recht ist, zwar von Stammbaumrelationen abhängt, aber gleichzeitig auch von dem Ergebnis der hermeneutischen Analyse. Es handelt sich nämlich nicht nur darum, festzustellen, welche rechtserzeugenden Akte gültig sind, sondern auch u m den Sinn der gültigen Quelle. Der IRP rekurriert also auch auf eine analytische Theorie der Hermeneutik, welche er aber bisher nur sehr fragmentarisch behandelt hat 7 7 . Diese Hermeneutik w i r d die Prozesse des Verstehens und Deutens als allgemeine Bestandteile der Kommunikation mittels pragmatischer Sprachen auffassen 78 . Die Konstitution des Sinnes sprachlicher Äußerungen w i r d gemäß der institutionalistischen Konzeption als das Zusammenwirken folgender drei Faktoren aufzufassen sein: faktischer Regelmäßigkeiten der Sprachgewohnheiten und des Verhaltens, der Auswirkung von 75 Vgl. H. L. A . Hart, The Concept of L a w , London 1961, S. 120 ff.; D. N. MacCormick, H. L . A . Hart, Kap. X , S. 121 - 133. 76 Diese Fragen w u r d e n v o m I R P bisher n u r sehr flüchtig behandelt. Vgl. O. Weinberger, Einzelfallgerechtigkeit. E i n Beitrag zum Studium der logischen Bedingungen der Gerechtigkeit, i n : M . Fischer / R. Jakob / E. Mock / H. Schreiner (Hrsg.), Dimensionen des Rechts, Gedächtnisschrift f ü r René Marcie, B e r l i n 1974, S. 409 - 439. 77 Vgl. Ο. Weinberger, Logische Analyse als Basis der juristischen A r g u mentation, in: W. Krawietz / R. Alexy (Hrsg.), Metatheorie juristischer A r g u mentation, B e r l i n 1983, S. 225 ff. 78 Vgl. Ch. Weinberger / O. Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979, Kap. I V ; D. N. MacCormick, H. L. A . Hart, Kap. I I - I V , S. 20 - 54.

Einleitung

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dressurartigen Prozessen und des Daseins institutionalisierter Sinnregeln m i t partiell normativem Charakter. Der IRP betrachtet die Theorie der rechtspolitischen Argumentation — wenigstens ihre strukturtheoretischen Aspekte — und die Gesetzgebungslehre als wichtige Bestandteile der juristischen Methodenlehre. Rechtserkenntnis ist i m Sinne des IRP weder ein bloß verstehendes und ordnendes Erfassen des normativen Sinngehalts der Rechtsordnung, noch eine bloße Beschreibung der sozialen Realität und der Erkenntnis ihrer Gesetzmäßigkeiten. Rechtserkenntnis ist sowohl Verstehen des normativen Sinngehalts der Rechtsordnung, als auch Erkenntnis der zugehörigen gesellschaftlichen Wirkung: das Recht w i r d als Institution erfaßt, und zur Rechtserkenntnis gehört die Erkenntnis dieser, mit dem normativen Regulativ des Rechts korrelierenden, Institutionen. Institutionen sind natürlich Elemente der sozialen Wirklichkeit, aber das soziale Geschehen und die Einrichtung der Gesellschaft sind nach institutionalistischer Auffassung nur als Realität soziologisch und funktional erfaßbar, wenn beobachtbares Verhalten der Menschen i n Relation zu den entsprechenden Systemen von praktischen Informationen (Normen, Rechte, Werte, Zwecke) gedeutet wird. 5.3. Zur Gerechtigheitstheorie Die Einstellung des IRP zur Gerechtigkeitstheorie beruht auf folgenden Thesen: (i) Es kann nicht die Aufgabe der Gerechtigkeitstheorie sein, rhetorische Scheinargumente für politische Plädoyers bereitzustellen. (ii) Es ist nicht die Aufgabe der Gerechtigkeitstheorie, sozialpolitische Programme zu erstellen, denn Gerechtigkeit ist nicht — oder wenigstens nicht nur — die erste Tugend sozialer Institutionen, und es ist nicht ihre Aufgabe, ein Idealbild der besten sozialen Güterverteilung i n der Gesellschaft philosophisch zu fundieren 7 9 . (iii) Gerechtigkeitsfragen stehen immer i m Handlungskontext; es geht daher immer u m eine Bestimmung der Handlung durch Utilitätsüberlegung und durch Gerechtigkeitskritik. (iv) Die Gerechtigkeitstheorie des IRP ist eine positivistische Konzeption insoweit, als sie nicht voraussetzt, daß die Analysen des Rechtsphilosophen über gerecht und ungerecht rein kognitiv und m i t absoluter Geltung entscheiden können; ferner darin, daß sie zeigt, daß auch ohne 79 Anders z. B. J. Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t / M . 1975, Kap. 1/Nr. 1 u n d 2.

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kognitivistische Metaphysik gewisse Gerechtigkeitspostulate gut begründbar sind und daß eine rationale De-lege-ferenda-Diskussion durchführbar ist. (v) Das Prinzip der formalen Gleichheit (als Instrument der transparenten Wertanalyse), das Postulat der wahren Tatsachenfeststellung als Basis der juristischen Entscheidungen, das Postulat der angemessenen Differenziertheit des rechtlichen Sollens und der Ausgewogenheit der Rollenspiele i n der Gesellschaft sowie das Postulat der Realisation, demgemäß das, was als gerecht erkannt, auch i n die Tat umgesetzt werden soll, sind wohl für Positivisten gleichermaßen plausibel wie für Naturrechtler 8 0 . (vi) Auch gewisse prozessuale Forderungen, die empirisch als Optimierungsinstrumente begründbar sind, können als Gerechtigkeitspostulate gelten, ohne daß hierbei die Frage des Naturrechts aufgeworfen wird. (vii) Die Wertthese, nämlich die als empirisch gesichert angesehene Behauptung, daß jeder Mensch und jede Gemeinschaft Wertüberzeugungen besitzt, bildet eine non-kognitivistische, aber funktionierende Basis der inhaltlichen Gerechtigkeitsanalysen. Die Wertüberzeugungen sind brauchbare Argumente, wenn sie auch — zum Unterschied von der naturrechtlichen Konzeption — selbst hinterfragbar und aufgrund von Erfahrung und Analysen reformierbar sind 8 1 .

80 O. Weinberger, rie, i n : W. Krawietz mokratietheorie bei 81 Siehe S. 53, F N

Rechtspositivismus, Demokratie u n d Gerechtigkeitstheo/ E. Topitsch / P. Koller (Hrsg.), Ideologiekritik u n d DeHans Kelsen, Rechtstheorie, Beiheft 4 (1982), S. 501 - 523. 74.

Ein Postskriptum zu Weinbergers Einleitung Selbst wenn zwei Theorien, welche von verschiedenen philosophischen Ausgangspunkten herkommen, schließlich zu weitreichender Übereinstimmung i n den Ergebnissen gelangen, so ist es doch nicht verwunderlich, wenn einige Unterschiede verbleiben. So ist es auch i m gegenständlichen Fall. Weinbergers Einleitung entwickelt brillant eine klare Sicht der grundlegenden Voraussetzungen und Implikationen unserer gemeinsamen Arbeit, wofür ich u m so mehr dankbar bin, als seine Auffassung dieser Fragen bei weitem genereller, umfassender und abstrakter ist, als ich sie jetzt darlegen könnte. Gleichwohl verbleiben einige Punkte, bezüglich welcher ich, wenn auch nur vorläufig, zu anderer Meinung neige als mein Koautor. I n dieser kurzen Anmerkung w i r d es hinreichen, lediglich eine oder zwei Divergenzen zu erwähnen. Meine i m vorliegenden Band enthaltenen Aufsätze entwickeln die entsprechenden Punkte ohnedies etwas detaillierter. Wie Weinberger halte ich es für nötig, die Rechtstheorie „jenseits von Positivismus und Naturrechtslehre" zu entwickeln. Aber ich b i n zu etwas anderen Ansichten als er über den gegenwärtigen Stand dieser traditionellen Divergenz der Auffassungen gelangt. Der von uns beiden vertretene hermeneutische Zugang zur Rechtserkenntnis führt nach meiner Meinung zu einer substantiellen Aufhebung der K l u f t zwischen vertretbaren Formen des modernen Rechtspositivismus und den schwächeren (somit leichter zu verteidigenden) Formen der Naturrechtslehre (vgl. „Recht, Moral und Positivismus", S. 156 ff.). Meine Argumentation setzt also hier weder eine kognitivistische noch eine non-kognitivistische Theorie der Ethik voraus, noch folgt eine solche aus ihr. Was die Möglichkeit anbelangt, daß moralischen Urteilen objektive Wahrheit oder Falschheit zukommen könnte, meine ich i n Übereinstimmung m i t Weinberger, daß es Rationalitätserfordernisse gibt, welche i n gleicher Weise auf praktische wie auf theoretische Urteile anwendbar sind. Daraus folgt zumindest die Möglichkeit, daß manche praktische Urteile — nämlich jene, die als solche irrational sind oder die rational nicht gerechtfertigt werden können — objektiv falsch sind. Daraus folgt aber wiederum nicht, daß w i r allein auf der Grundlage reiner Rationalität i n der Lage wären, eine vollständige Menge objektiv korrekter mora-

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lischer Prinzipien zu konstruieren (vgl. „Die Grenzen der Rationalität i m Rechtsdenken", S. 222 ff.). Die vollständige Rechtfertigung einer Menge von Prinzipien oder Urteilen der Moral muß stets von irgendwelchen Wertvoraussetzungen abhängen, welche selbst nicht argumentativ rechtfertigbar sind. Dadurch dürfte der moralische Diskurs jedoch nicht i n eine grundlegend andere Situation geraten als irgend eine andere Form des Diskurses. Denn i n jedem Diskurs — der theoretische eingeschlossen — müssen irgendwelche Voraussetzungen gemacht werden. Konklusionen sind nur innerhalb von gedanklichen Rahmenwerken begründbar, welche aber — da sie i m wesentlichen Konstrukte sind — ihrerseits nicht i n derselben Weise gerechtfertigt werden können. A l l e unsere individuellen Wahrheiten und individuellen Auffassungen von Tatsachen oder Rechten sind somit i n gewissem Grade hypothetisch oder von Voraussetzungen abhängig. Wenn w i r für Urteile der Moral nur auf der Grundlage gewisser Wertvoraussetzungen Wahrheit beanspruchen können, so stellt diese hypothetische Qualität unserer Wahrheitsansprüche kein fundamental anderes Merkmal der moralischen oder praktischen Sphäre dar. Was anders ist, ist der Charakter der Voraussetzungen, nicht die Notwendigkeit, Voraussetzungen zu machen. Ob diese Auffassung nun kognitivistisch oder non-kognitivistisch ist, kann ich nicht sagen; ich vermute vielmehr, daß der traditionelle Streit u m den Kognitivismus einen anderen Bezugskern hatte als die gegenwärtige Debatte. Freilich, wenn der Kognitivismus einen Glauben an ein spezielles Vermögen der „Intuition", welche unsere moralischen Wahrnehmungen garantieren sollte, benötigt, dann b i n ich kein Kognitivist. Aber wenn der NonKognitivismus den Glauben erfordert, daß keinem Moralurteil ein Wahrheitswert zukommen könne, dann b i n ich auch kein Non-Kognitivist. Die Auffassung, daß keinerlei Wahrheiten unabhängig von gewissen theoretischen Voraussetzungen gelten, eingeschlossen Voraussetzungen über die Zulässigkeit und Relevanz von Begründungen, ist auch jene Auffassung, die mich dazu führte, die Kategorie der ,rohen Tatsachen' als problematisch zu bezeichnen. Vielleicht ist das — wie Weinberger sagt — eine Übertreibung. Gleichwohl scheint es aber der Fall zu sein, daß die Kategorie der ,rohen Tatsachen' selbst diskurs-relativ ist, also nicht etwas, das für alle Zwecke absolut gegeben ist. Und das Gleiche, meine ich, t r i f f t auch auf die K l u f t zwischen Sein und Sollen zu. Bezüglich der genannten und vielleicht auch einiger weiterer Punkte unterscheiden sich mein Koautor und ich zumindest i n der Betonung. Aber diese Unterschiede sind von weitaus geringerer Bedeutung als unsere Gemeinsamkeiten. Wenn w i r eine Auffassung vom Recht als

E i n Postskriptum zu Weinbergers Einleitung

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,institutioneller Tatsache' vorschlagen, so glaube ich, daß w i r eine Theorie vorlegen, welche zeigt, warum es der Fall sein kann, daß die Existenz und Bedeutung von Gesetzen oft k l a r und unkontrovers sein kann, während zugleich bezüglich der damit eng verbundenen Materien (oder selbst Hintergrundvoraussetzungen) der Gerechtigkeit und Moral hitzige Kontroversen geführt werden. W i r stimmen hinsichtlich des Tatsachencharakters des Rechts überein; w i r stimmen überein, daß die Tatsächlichkeit des Rechts die moralische Frage der Legitimität und des verpflichtenden Charakters des Rechts offen läßt; und w i r stimmen schließlich darin überein, daß diese Punkte von Relevanz sind für generelle Problemstellungen der Metaphysik, der Sprachphilosophie und der praktischen Philosophie. Diese und andere Punkte der Übereinstimmung lassen die verbleibenden Kontroversen innerhalb des IRP als geringfügig erscheinen. D . Neil

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Die Norm als Gedanke und Realität Vorwort Das Thema der folgenden Untersuchungen gehört zu den Grundlagenproblemen der Rechtstheorie, der Normenlogik und aller Normenwissenschaften. Warum grübelt man über solche Fragen, sagen w i r über philosophische Grundpfeiler der Wissenschaften, nach, ist es doch aus der Erfahrung bekannt, daß i n solchen Fragen Meinungsverschiedenheiten und Positionsunterschiede bestehen und trotz aller Bemühungen wohl i n hohem Grade bestehen bleiben? Ist dieses geistige Bemühen nicht i m vorhinein zur Ergebnislosigkeit verurteilt, wenn man kaum erwarten kann, allgemein akzeptierte und ein für allemal unstrittige Erkenntnisse zu gewinnen? Ist es nicht vernünftiger, sich ganz und ausschließlich den Spezialdisziplinen zu widmen, wo handgreifliche und direkt verwertbare Erkenntnisse erzielt werden können? Ich glaube, daß so eine, dem grübelndem Philosophieren feindliche Einstellung ganz verfehlt und auch für die Entwicklung der einzelnen Speziaiwissenschaften hemmend wäre. Der menschliche Geist ist philosophisch, er w i l l verstehen, erfassen und die Fundamente kennen, sowie die erkenntnistheoretischen und methodologischen Zusammenhänge, i n denen sein Fachgebiet steht, überschauen. Es ist besser, divergente Positionen ausdrücklich zu formulieren, als auf dem ungeklärten Boden der verschiedenen Positionen stehenzubleiben. Die Diskussion der Grundlagenfragen gibt ein B i l d der unterschiedlichen Positionen und liefert, zusammen m i t der Analyse der Konsequenzen für die spezialwissenschaftlichen Auffassungen, ein B i l d der Berechtigung dieser oder jener Grundeinstellungen. Die Lösung der Probleme der Fachdisziplinen und die Meinungsdivergenzen i n Einzelfragen hängen weitgehend m i t den philosophischen Grundlagen der verschiedenen Konzeptionen zusammen. Es ist unzweifelhaft, daß die Diskussion der Grundlagenfragen neue — manchmal fruchtbare — Aspekte aufdeckt und daß man sich gelegentlich doch i n einigen Fragen einigt. Ich vertrete die These, daß der Mechanismus der wissenschaftlichen Arbeit auf einem Zusammenspiel von philosophischer Grundlagenforschung und spezialwissenschaftlicher Forschung beruht.

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Meine Behauptungen mögen als Diskussionsthesen aufgefaßt werden, auch dort, wo ich sie der Kürze halber apodiktisch formulieren werde. Sie mögen als Ergebnisse des philosophischen Suchens, als wahrheitsstrebig, nicht als sichere und unstrittige Erkenntnisse verstanden werden. Meine Überlegungen werden das Wesen der Norm, genauer gesagt den ontologischen Status der Norm, betreffen— wie dies schon der Titel des Aufsatzes genügend klar andeutet —, darüber hinaus möchte ich zeigen, wie meine Auffassung der zwei Aspekte der Norm — ihrer Idealität als Gedankengebilde und ihrer gesellschaftlichen Realität — auch das Wesen und das Feld der Fragestellungen der Rechtswissenschaften bestimmt: die juristische Erkenntnis ist normologische Analyse ebenso wie Erkenntnis der soziologischen Realität des rechtlichen Sollens. Meine Untersuchungen sollen auch klarmachen, was für eine Rolle ich der Normenlogik und der modernen logischen Analyse i m Gebiet der Rechtstheorie und i n den rechtsdogmatischen Disziplinen zuschreibe. 1. Basis und Ziel der ontologischen Wesensbestimmung der Norm Die ontologische Wesensbestimmung der Norm stützt sich naturgemäß auf die Betrachtung der Rolle der Normen i n den normativen Gebieten, insbesondere i m Gebiet des Rechts, der Moral, der Sitte und der wissenschaftlichen Ethik. Ich möchte aber eine so allgemeine A u f fassung der Norm bringen, welche auch das Gebiet des Befehlens von Person zu Person, ζ. B. vom Vater zum Sohn, und intrasubjektives Normdenken und -wirken, sagen w i r das Feld des autonomen Sollens, mitumfaßt. Besonderheiten der verschiedenen Fälle und die verschiedenen Eigentümlichkeiten der einzelnen Normgebiete können als hinzutretende Momente oder Modifikationen erfaßt werden. Der Zweck meiner ontologischen Untersuchungen über die Norm liegt i n dem Bestreben zu erklären, wie die normenlogische Analyse m i t dem Erfassen der Rechtswirklichkeit — oder den i m Leben tatsächlich auftretenden Normensystemen — zusammenspielt. Die Klärung dieser Frage bildet nämlich den Ausgangspunkt einer philosophisch und logisch-methodologisch einwandfreien Normenlogik ebenso wie die gedankliche Basis einer wissenschaftlich begründeten und effektiven Anwendung der Normenlogik — und der logischen Analyse überhaupt — i n den Normengebieten der Praxis. 2. Die Idealität der Norm Die Norm ist keine materielle Entität, nichts, was direkt oder indirekt, etwa m i t Hilfe von Instrumenten, wahrgenommen werden könnte. Die

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Norm ist zwar offenbar m i t dem Verhalten von Personen gekoppelt, sie bezieht sich auf das Verhalten von Menschen. Das Handeln und Unterlassen der Menschen ist normrelevant. Das Dasein der Normen, das Sollen als Inhalt des Bewußtseins beeinflußt das menschliche Verhalten. Die Regelmäßigkeiten des menschlichen Gebarens sind sicherlich Momente, die für die Entstehung von Normen nicht irrelevant sind 1 . Es ist aber zu unterstreichen, daß aus dem Verhalten selbst die Norm niemals erkannt werden kann. Die Norm ist ein Gedanke, i n dem Sinne wie dieser Terminus gebraucht wird, wenn man die Logik als Gedankenanalyse bezeichnet. Also ein Gedanke i m objektiven Sinne, unter Abstraktion von seelischen Vorgängen (deren Inhalte Gedanken i m objektiven Sinne sein können). Immer und überall, wo richtige logische Analyse betrieben wurde, geschah dies als Studium der Beziehungen zwischen Gedanken i m objektiven Sinne (oder zwischen sprachlichen Ausdrücken dieser Gedanken), aber wenigstens seit Husserls „Logischen Untersuchungen" (1900 - 1901) ist es klar, daß logische Beziehungen nur unter Abstraktion von psychischen Akten studiert werden können. Dies gilt für alle denkbaren Gebiete der logischen Untersuchung, für das Feld der Normen ebenso wie für die Aussagen. Dies wurde aber gerade beim Studium der Normen gelegentlich mißachtet. Die Vorstellung, daß das Sollen von der Willenseinstellung und Willensaktivität gewisser Subjekte abhängt, hat einige Denker dazu verführt, die Normen als Willensakte oder · als Inhalt von Willensakten anzusehen. Die Voluntarität der Normen äußert sich i n ihrer Eigenart — insbesondere den Aussagen gegenüber —, sie ändert aber nichts daran, daß diese spezifischen Gedanken logisch als objektive Gedanken, losgelöst von psychischen Akten, erfaßt werden müssen, und daß nur so eine Theorie der normenlogischen Beziehungen Zustandekommen kann. Die Norm ist sprachlich ausdrückbar, i n einer natürlichen oder i n einer adäquaten Kunstsprache. Es kann aber sehr wohl ein Sollen (eine Norm) bestehen, welche nicht ausdrücklich formuliert ist (ζ. B. Gewohnheitsrecht, welches i m Rechtsbewußtsein lebt, aber gegebenenfalls niemals und nirgends ausdrücklich formuliert wurde). Es muß grundsätzlich vorausgesetzt werden, daß eine Norm — wenn sie klar erfaßt ist — immer sprachlich ausgedrückt werden kann. Der Normgedanke i n sprachlicher Formulierung ist ein Kommunikat, das intersubjektiv übermittelt werden kann. Das praktische Wirken der Normen hängt meist — insbesondere wenn es sich u m heteronomes Sollen handelt — m i t intersubjektiver Mitteilung von Normen zusam1 Regelmäßigkeit des Verhaltens bedeutet aber noch keineswegs Gesolltheit.

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men. Die Normenkommunikation ist ein Prozeß, an dem i n der Regel verschiedene Personen teilnehmen und der mittels sprachlicher Ausdrücke vollzogen w i r d ; Ziel ist, daß der Mitteilungsempfänger die Norm versteht. Das Verstehen von Normen ist weitgehend analog dem Verstehen von indikativen Kommunikaten. Wenn die Kommunikation perfekt ist und ihr Ziel v o l l erfüllt, muß Übereinstimmung bestehen zwischen dem abgesandten Normgedanken, der vom normsetzenden Subjekt geäußert wurde, und dem Normgedanken, wie i h n der Nachrichtenempfänger verstanden hat. Empfänger kann hierbei jedermann sein, der den Normsatz (die sprachliche Äußerung der Norm) aufnimmt und versteht. Der Normgedanke i m Geiste des Befehlenden, i m Geiste des Normadressaten, des Pflicht- oder Rechtssubjektes und des bloßen Normbetrachters (ζ. B. Rechtsgelehrten) muß als derselbe Gedanke m i t denselben logischen Beziehungen angesehen werden. Verwirrend und die normenlogische Analyse störend ist jede Unterscheidung zwischen dem Normgedanken (und Normsatz) auf verschiedenen Seiten des Kommunikationskanals, sei es die Unterscheidung des Befehls i m Munde des Gesetzgebers und auf der Seite der Normadressaten nach der Zweiseitentheorie von K. Englis 2 oder die Unterscheidung der Rechtssprache und der Juristensprache i m Sinne von B. Wróblewski 3. Der Normsatz, als adäquater sprachlicher Ausdruck der Norm, ist als sinnvoller Satz anzusehen, der an und für sich verstehbar ist. Er ist als selbständiger Satz sinnvoll, nicht nur i m Zusammenhang m i t der Begründung der Norm — wie F. Kaufmann 4 meint — oder bloß als verkürzter Ausdruck eines Motivationszusammenhanges — i m Sinne von H. G. Bohnert 5 oder ähnlicher Lehren, die leugnen, daß Normen ein selbständiger Sinn zukomme. I m Bereich der Normen bestehen logische Beziehungen und Zusammenhänge, welche durch formale Regeln bestimmt werden können. Die logischen Konsequenzen aus Normen (gegebenenfalls aus Normen und Tatsachenfeststellungen) gelten immer zusammen mit der Geltung der als Prämissen gesetzten Normen. Hier zeigt sich eine wichtige Brücke zwischen der Norm i n gedanklich-logischer Betrachtung und der Norm als Realität, wie ich unten noch näher ausführen werde. 2

K. EngliS, Die Lehre v o n der Denkordnung, W i e n 1961, S. 42 ff. B. Wróblewski , Jçzyk p r a w n y i prawniczy (Rechtssprache u n d Juristensprache), K r a k a u 1948. 4 F. Kaufmann, Juristischer u n d soziologischer Rechtsbegriff, in: A . Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat u n d Recht, W i e n 1931. 5 H . G. Bohnert, The Semiotic Status of Commands, Philosophy of Science, Vol. 12, 1945, S. 302 - 315. 8

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Ota Weinberger 3. Die Eigenart des Normgedankens

Die Eigenart des Normgedankens gegenüber anderen Gedankentypen kann durch eine Sprachanalyse herausgearbeitet werden, indem man sich der einzelnen Momente dieser Besonderheit bewußt wird, oder sie kann aus der eigentümlichen pragmatischen Funktion der Normsätze — insbesondere i m Vergleich m i t der pragmatischen Funktion der Aussagesätze — herausgelesen werden. I n der systematischen Darlegung der Normenlogik zeigt sich die Eigenart der Norm vor allem darin, daß der Normsatz (oder der normsatzbildende Operator) als primitiver Begriff genommen w i r d und daß solche grundlegenden Festsetzungen eingeführt werden, welche die logische Eigentümlichkeit der Normsätze gegenüber anderen Sätzen des Systems sicherstellen. Ich glaube, daß man die die logisch-semantische Eigenart der Norm garantierenden Konstruktionspostulate für die Normenlogik i m wesentlichen folgendermaßen ausdrücken kann: (1) Der Normsatz ist i m System der Normenlogik ein vom Aussagesatz der Bedeutung nach unterschiedener Satz. Er kann nicht gleichbedeutend durch einen Aussagesatz wiedergegeben werden. Daher sind die Leerstellen der normenlogischen Formeln je nach dem semantischen Charakter differenziert, d.h. i m wesentlichen: i m System sind Normleerstellen und Aussageleerstellen (Normsatzvariable, Aussagesatzvariable) wohl zu unterscheiden. (2) Die Folgerungsbeziehungen und Folgerungsregeln sind so zu bestimmen, daß i m System aus rein aussagenden Prämissen kein Normsatz ableitbar ist (Poincarésches Postulat*), oder Kelsens Grundsatz „Aus Sein folgt nicht Sollen" 7 . Ebenso ist die umgekehrte Forderung zu stellen: (3) Enthalten die Prämissen nur Normsätze, aber keinen Aussagesatz, kann keine Aussagefolgerung abgeleitet werden 8 . Die Postulate 1 bis 3 erscheinen für die logische (syntaktisch-semantische) Unterscheidung der Normsätze notwendig, ob sie auch hinreichend sind, kann ich nicht m i t Sicherheit sagen. Das Studium der Pragmatik der Normen als Begründung der semantischen Eigenart der Normen zeigt, daß das richtige Erfassen der ideellen Natur der Normen m i t ihrer realen Wirkungsweise zusammen6 H. Poincaré, Letzte Gedanken (deutsche Übersetzung v o n K. Lichtenecker), Leipzig 1913. 7 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., W i e n 1960, S. 5. 8 Vgl. O. Weinberger, Philosophische Studien zur Logik, Prag 1964, S. 29.

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hängt. Sie erhellt aus der Rolle der Norm i n der Realität des menschlichen Lebens und Wirkens. Diese Überlegungen sind natürlich keine Beweise i m streng technischen Sinne, sondern sie dienen zum Plausibelmachen unserer semantischen Konzeption der Norm. W i r sind uns i n der Praxis der Eigentümlichkeit des Sinns von Sollen gegenüber rein beschreibenden Gedanken unmittelbar bewußt. I n der menschlichen Praxis — sowohl i m gesellschaftlichen Kontakt zwischen Menschen, gegebenenfalls zwischen dem Individuum und verschiedenen Gruppen, als auch i n der individuellen ethischen Erwägung — besteht ein klares Bewußtsein, daß Sollgedanken Sinngebilde sind, die von anderen Gedankenarten verschieden sind. Die Sprache und ihre Theorie, die Grammatik, unterscheiden entsprechend dem Bewußtsein der semantischen Eigenart der Normen Normsätze (Befehlsätze, Ausdrücke von Normen) von Aussagesätzen. Der Gebrauch von Sprachausdrücken spielt i m Leben der Menschen eine unterschiedliche Rolle — verschieden je nach dem Sinne der Ausdrücke und je nach der Situation, i n der sie angewendet werden. Die primäre Funktion des Normsatzes ist die Bestimmung der Handlungsweise, die Motivation des Handelnden, die Koordination der Verhaltensweisen der Menschen i n der Gesellschaft, die Schaffung von Ordnungen i n menschlichen Gruppen; sekundär ist die Norm oder das Normensystem auch Wertungsmaßstab (mit der Orientierung, daß Erfüllen der Norm als gut, Nicht-Erfüllen als schlecht gewertet wird). Es ist zwar unleugbar, daß i n gewissen Situationen bestimmte Aussagen ebenfalls motivierend w i r k e n können. Wenn der Mitfahrer dem Wagenlenker sagt „Du fährst auf die Hauptstraße", kann dies eine sehr ähnliche motivierende Funktion haben wie die normative Aufforderung „Gib den Fahrzeugen auf der Straße, auf die du fahren wirst, den Vorrang". Der Unterschied läßt sich aber dennoch behavioristisch feststellen. Die Aussage muß nämlich gar nicht diese Motivationsrolle haben, sie kann auch zu anderem Verhalten motivieren, wenn eine andere Zieleinstellung besteht. Wenn man ζ. B. irgendwo anhalten w i l l , ζ. B. u m Einkäufe zu machen, kann sie dazu motivieren, lieber auf der Nebenstraße zu parken, oder sie kann dazu anregen, auf der Hauptstraße schneller weiter zu fahren. Sie kann aber auch ohne motivierenden Einfluß bleiben, wenn diese Mitteilung nur besagt, daß die gesuchte Hauptstraße endlich erreicht wurde. Der Normsatz dagegen gibt durch seine Bedeutung direkt an, zu welchem Verhalten er anregen w i l l . 5 MacCormick / Weinberger

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Aus der Aussage ist wohl selbst keine Werteinstellung ablesbar, aus dem Normsatz jedoch immer. Es bestehen wesentliche gnoseologische Unterschiede, wie eine Norm erfaßt w i r d und wie man zu Aussageerkenntnissen kommen kann. Die Norm kann nicht durch bloße Beobachtung der äußeren Realität erkannt werden. Wenn w i r ζ. B. sehen, daß der A dem Β einen bestimmten Geldbetrag übergibt, kann daraus nicht erkannt werden, ob er dadurch seine Pflicht erfüllt (ζ. B. eine Schuld bezahlt) oder verletzt (ζ. B. eine Bestechung vollbringt) oder ob seine Handlung rechtlich irrelevant ist. Die Aussage kann direkt als A b b i l d der Wirklichkeit gnoseologisch begründet sein. Die Norm ist nur dann begründet, wenn etwas auf Grund eines Normensystems als gesollt erfaßt wird. I n der Sache selbst steckt nie ihr Gesollt- oder Nicht-Gesolltsein; dies folgt nur aus dem Normensystem, von dem man ausgeht. 4. Die Norm als Realität Man kann Idealität und Realität i n einer solchen Weise einander begrifflich gegenüberstellen, daß es grundsätzlich — gleichsam ex definitione — sinnlos wäre, von der Realität irgendwelcher Gedanken, also auch von der Realität der Norm (des Sollens) zu sprechen. Dies ist ζ. B. dann der Fall, wenn man die Realität m i t materiellem Sein gleichsetzt, d. h. als real das und nur das bezeichnet, was sinnlich wahrnehmbar ist oder mit Hilfe physikalischer Instrumente wahrnehmbar gemacht werden kann. Da aber auch den sogenannten Idealentitäten i n gewissem Sinne Existenz oder Nicht-Existenz zugeschrieben werden kann, scheint es zweckmäßig, auch von der Realität idealer Entitäten zu sprechen, d. h. den Begriff des Realen so weit zu fassen, daß es sinnvoll wird, von der Realität ideeller Entitäten zu sprechen. Daß dies zweckmäßig ist, erhellt daraus, daß das Sein der Idealentitäten durchaus nicht ohne Zusammenhang m i t dem materiellen Sein ist. Ich glaube, daß die Anknüpfungspunkte zwischen ideellem Sein und der materiellen Realität i n zwei Momenten zu finden sind: i n den sogenannten Akten, d. h. materiell tatsächlichen Vorgängen von ideellem Inhalt (psychischen Akten, Erkenntnisakten, Willensakten) und i n der Tatsache, daß nicht nur materiellem Sein, sondern Idealentitäten zeitliche Koordinaten, d. h. eine zeitliche Bestimmung ihres Daseins, sinnv o l l zugesprochen werden können. N i m m t man diese Terminologie an und w i l l man nicht i n phantastische metaphysische Spekulationen verfallen, sondern am Boden des

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klaren wissenschaftlichen Denkens bleiben, dann muß man das materiell-reale Sein von der ideell-seienden Realität absondern. Als real bezeichnen w i r alles, was Dasein i n der Zeit hat, wobei die Erkenntnisgründe und Daseinskriterien i n den einzelnen Sphären der Realität verschieden sein werden. Wenn es u m materielles Realsein geht, w i r d sich die Erkenntnis letztlich auf Sinneserfahrung stützen; wenn es sich u m Idealentitäten handelt, w i r d ihr Realsein einerseits durch die Bindung zur Sphäre der materiellen Realität begründet erscheinen, andererseits durch die Momente bedingt, die gestatten, die Idealentität als Bestandteil realen Geschehens, als etwas i n der Zeit Daseiendes zu erfassen. Es w i r d vielleicht manchen Denkern scheinen, daß diese Konzeption der Realität, dergemäß auch Idealentitäten reales Dasein zukommt, idealistisch sei oder zum Idealismus hinführe. Meines Erachtens wäre es ein grundlegender Irrtum, m i t dem Begriff des Realseins von Idealentitäten solche Implikationen zu verbinden. Erstens ist die Weite des Realitätsbegriffs Konventionssache. Zweitens ist die materielle Realität auf dem Boden der hier akzeptierten Terminologie ebenso scharf hervorgehoben und von den Idealentitäten getrennt, wie wenn man nur das Materielle als real bezeichnet. Drittens — und das ist wohl das Wichtigste — ermöglicht diese Konzeption die funktionalen Beziehungen zwischen der materiellen Realität und den Idealentitäten zu verstehen, die Einordnung der zum Sein der Menschen und der Gesellschaft gehörenden Idealentitäten i n das Ganze des Daseins durchzuführen und Ideales und Materielles nicht auseinanderzureißen, sondern in ihren Wechselbeziehungen zu studieren. Gedankliche Entitäten können i n verschiedenem Sinne betrachtet werden. Ich kann ζ. B. eine Aussage rein als Gedankenstruktur und Bedeutungsgebilde auffassen und logisch analysieren. I n dieser Betrachtungsebene kann ich ζ. B. Widersprüche zwischen Gedanken (zwischen den sie ausdrückenden Sätzen) feststellen, oder Folgerungen aus Prämissen (Annahmen) ziehen. Ich kann die Aussagen oder Aussagesätze als Ausdruck von Erkenntnisakten (als subjektgebundene Erkenntnisse) nehmen, oder als Ausdruck von Erkenntnissen (im objektiven Sinne) über gewisse Sachgebiete verstehen. Fassen w i r Aussagesätze als Ausdruck der Erkenntnis gewisser Subjekte oder der Wissenschaft als solcher auf, dann kann ihnen eine zeitliche Bestimmung zugesprochen werden (abgesehen von den zeitlichen Bestimmungen des erkannten Vorgangs). Analoges gilt bei den Normen. Normsätze können auf rein logischer Ebene betrachtet werden, wenn w i r sie bloß als sinnvolle Äußerungen auffassen. W i r können sie als gesetzt verstehen, als Ausdruck des Wol5*

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lens gewisser Subjekte (psychophysischer Personen, ζ. B. als Befehl des Vaters) oder als Willensäußerung begrifflich konstitutierter Normsetzungsinstanzen (als Schöpfungsakte von staatlichen Rechtsnormen). I n diesem Sinne w i r d es dann berechtigt sein, von der Realität der Normen zu sprechen. Da dies eine Zentralfrage meiner Untersuchung ist, werde ich hier etwas mehr auf Details eingehen müssen, u m die A r t e n des Realseins der Norm und die Kriterien, wann man Normen Realität zuerkennt, zu erläutern. Wenn ich vom Dasein oder vom Realsein der Norm spreche, geht es nicht u m den A k t , durch den die Norm gesetzt wird, nicht u m das Dasein einer Äußerung, welche die Norm ausdrückt, nicht u m das Wissen und Gebaren der Menschen, welche sich mehr oder weniger nach der Norm richten. Der Setzungsakt, der relevante Wille, der ein Sollen konstituiert, ist wohl unzweifelhaft eine Tatsache; er ist der Grund für die Entstehung der Norm und ein Anzeichen für ihre Existenz, aber nicht identisch m i t der gesetzten Norm selbst. Dies ist schon aus der Tatsache ersichtlich, daß der setzende Willensakt andere zeitliche Koordinaten hat als die gesetzte Norm. Der Normsetzungsakt hat i n der normologischen Analyse den Charakter eines Zeitpunktes, die gesetzte Norm hat i h r Dasein i n einem Zeitintervall, das m i t dem Zeitpunkt der Normsetzung beginnt. Noch wichtiger ist die Tatsache, daß der A k t als solcher nicht i n die logischen Beziehungen eintritt, sondern nur die Norm, die durch den A k t konstituiert wurde. Die Norm führt zu Folgerungen, die immer zusammen m i t der Norm gelten, obwohl die Folgerungen nicht Inhalt des Aktes sind. Ebenso ist das Dasein des Normausdrucks nicht m i t der Realität der Norm — ich könnte vielleicht sagen: der Realgeltung der Norm — zu verwechseln, denn die Norm kann real gelten, ohne ausdrücklich formuliert zu sein (Gewohnheitsrecht), und der Ausdruck kann da sein, ohne zu gelten. I n gewissem Faktenkontext kann natürlich eine Normäußerung als Anzeichen des Daseins real geltender Normen verstanden werden. Auch das Verhalten der Normadressaten kann unter gewissen Umständen über das Dasein von Normen, über i h r Wirken oder NichtWirken Aufschluß geben, doch ist das Verhalten der Subjekte nicht mit dem Realdasein der Norm gleichzusetzen, kann es doch — wenn die Norm real gilt — normgemäß oder normwidrig sein, ohne daß diese entgegengesetzten Verhaltensalternativen das Dasein der Norm selbst bestimmen würden. Die Realität der Norm erscheint pragmatisch i n folgenden Momenten: Die Norm lebt i n der Sphäre des menschlichen Bewußtseins: Es gibt so etwas wie ein Sollerlebnis, das Bewußtsein, daß etwas gesollt ist.

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Die Sitte, das Recht und andere Normensysteme werden von den Trägern dieser Systeme (nicht nur von den normsetzenden Organen) als gesollt erlebt (gewollt). Daneben gibt es Sollwissen, ζ. B. das Wissen über das Sollen i m Sinne einer gewissen Ordnung, wobei dieses Sollen nicht notwendigerweise auch vom betrachtenden Subjekt akzeptiert und gewollt werden muß. Das Sollen kann also i n zweierlei Weise einen Inhalt des Bewußtseins bilden: als Soll-Erlebnis, als Wollen des Gesollten, oder als Soll-Wissen, als Wissen, daß ein Sollen i n einer menschlichen Gruppe gilt, wobei das Subjekt dieses Gesollte gegebenenfalls selbst nicht w i l l . Die Norm w i r k t als motivierendes Moment auf das menschliche Verhalten ein. Wie dies vor sich geht, ist durchaus nicht einfach. Es ist ein m i t dem menschlichen Dasein verbundener eigentümlicher Prozeß, der mehrschichtig verläuft. Das Normbewußtsein enthält Schemata von Verhaltensweisen, welche die Tendenz haben, sich i m Verhalten des einzelnen durchzusetzen, teils weil sie willentlich akzeptiert werden, teils aufgrund der Nachahmungstendenz i n der menschlichen Gesellschaft, teils infolge von Zwangsandrohung bei Normverletzung, und wohl noch auf andere Weise. Die Auswirkung real geltender Normen auf das menschliche Verhalten i n der Gesellschaft darf nicht auf die Frage der Erfüllung der Norm beschränkt werden. Die normativen Bestimmungen haben weitreichende sekundäre Einwirkungen auf das Gebaren des einzelnen und auf das Verhalten der Gesellschaft. Es sind nicht nur die wirtschaftlichen Bestimmungen, wie etwa die Festsetzung des Zinsfußes, die Einführung von Steuern, normative Eingriffe i n den Markt, welche verzweigte gesellschaftliche Auswirkungen m i t sich führen, die durchaus nicht bloß zwischen den Polen Normerfüllung und Normverletzung betrachtet werden dürfen, wenn man die gesellschaftliche Auswirkung der Norm i m Ganzen erkennen w i l l . Grundsätzlich muß überall mit verschiedenartiger Auswirkung der Norm gerechnet werden. Es ist Aufgabe der Rechtssoziologie, diese Auswirkungen zu registrieren. I n vielen Normenbereichen — am deutlichsten wohl i m Gebiet des Rechts — hängt das reale Dasein der Norm eng m i t der Existenz von gesellschaftlichen Institutionen, wie Verwaltungsbehörden, Gerichten, gesetzgebenden Organen usw., zusammen, deren Funktionieren der soziologischen Beobachtung zugänglich ist. Das direkt beobachtbare Funktionieren und Wirken des Staatsapparates, das auch i n sinnlich wahrnehmbaren Vorgängen besteht, ist sicherlich ein wesentlicher Grund für die Erkenntnis des Realseins des Rechts. Das gesellschaftliche Realsein der Normen — nicht nur der Rechtsnormen, bei denen dieses Moment sehr ausgeprägt ist — zeigt sich auch

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klar i n der Tatsache, daß normgemäßes und normwidriges Verhalten positive oder negative gesellschaftliche Folgen zeitigt. Die Gesellschaft (der Normschöpfer) reagiert auf Überschreitungen der Norm; es treten Unrechtsfolgen auf, die i m voraus normativ bestimmt sein können (ζ. B. Sanktionen i m juristischen Sinne), oder die nicht normativ geregelt sind. Diese gleichsam diffusen, nicht ausdrücklich bestimmten Folgen der Normübertretung sind die vorherrschenden Unrechtsfolgen i n den Systemen der Moral und der Sitte. Sie kommen aber auch i m Rechtsleben vor. Ζ. B. schlechte Erfüllung der beruflichen Pflichten eines Beamten pflegt auch dann, wenn es sich nicht u m direkt strafbare Fälle handelt, diffuse Sanktionen hervorzurufen, d.h. für den Säumigen Nachteile zur Folge zu haben, wie etwa Ausbleiben der Beförderung i m Dienst u. ä. Pflichtgemäßes Handeln hat dagegen meist Folgen, welche als erwünscht angesehen werden. Sie können normativ ausdrücklich bestimmt sein oder nur unbestimmte Vorteilchancen sein 9 .

5. Die Rechtsordnung in gedanklicher und realer Perspektive Die Ontologie der Normen, i h r ideeller und realer Aspekt, bestimmt die Betrachtungsweise der Rechtsordnung. Das Verstehen des Rechtsgeschehens als Rechtsdynamik ist eine Verknüpfung der Analyse der gedanklichen Beziehungen i m Rechtssystem mit der Frage des Realseins der rechtlichen Ordnung. Aufgabe der Rechtswissenschaft ist es, das Rechtsleben dadurch zu erfassen, daß die normenlogischen Zusammenhänge zwischen den Rechtsakten und den Rechtsnormen verschiedener Schichten erkannt werden und daß die Normen und ihre normenlogischen Beziehungen als gesellschaftlich real, d . h . als positives Recht erfaßt werden. Die Theorie der Rechtsdynamik ist ein Versuch, das gesamte Rechtsgeschehen i n logisierter Abbildung zu verstehen und darzustellen. I n der rechtsdynamischen Betrachtung w i r d die Geltung des Rechts aus den logischen Zusammenhängen i m Rechtssystem bestimmt und eine Rechtserkenntnis i n zeitlichen Koordinaten ermöglicht. Die Geltungsbegründung fußt auf der normenlogischen Beziehung, deren Prämissen die Normen der Rechtsordnung und die relevanten Tatsachenfeststellungen sind. 9 Viele Juristen sehen n u r die verschiedenen A r t e n v o n Sanktionen (also die Unrechtsfolgen) als motivierende Kräfte. Ich glaube, dies f ü h r t zu einem sehr bedauerlichen Mißverstehen des Rechts. Das Recht ist durchaus nicht n u r repressiv motivierend. Seine H a u p t f u n k t i o n ist lenkend u n d organisierend u n d hierzu taugt die positive M o t i v a t i o n oft besser als Zwangsmaßnahmen.

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Die Form des logisierten Bildes des Rechtsgeschehens läßt sich i n folgendem einfachen Grundschema darstellen, welches aber je nach der Anwendungsschicht nicht unwesentlich modifiziert werden muß: Rechtsregel Tatsachenfeststellung Rechtsfolge Dieses Schema ist — i n der den einzelnen Gebieten entsprechenden Ausgestaltung — ein normenlogisches Folgerungsschema. Es dient zur Ableitung der Rechtsfolgen, d. h. i n der Rechtspraxis zur gedanklichen Gewinnung der abgeleiteten Norm (ζ. B. der richterlichen Entscheidung) ebenso wie zur Begründung der Geltung von generellen Rechtsregeln, welche i n der durch die Verfassung normierten Weise entstehen. Das oben angeführte Schema erfordert wohl i n erster Linie eine Spaltung, j e nachdem ob die abgeleitete Norm automatisch aus der Rechtsregel und den relevanten Tatsachenfeststellungen entspringt, oder ob hier normbildende Willensakte m i t i m Spiel sind. Der erste Fall ist der logischen Struktur nach viel einfacher; der zweite ist interessanter, denn er umfaßt so wichtige Fälle wie die Gesetzgebung, das Rechtsgeschäft und die Rechtsentscheidungen. Ich kann mich hier nicht m i t allen Einzelheiten und Problemen der auf Willensakte bezogenen sekundären Normentstehung befassen. Ich möchte hier nur auf zwei Besonderheiten dieser logischen Beziehungen hinweisen: a) Der Inhalt der tatsächlich vorsichgegangenen Willensakte bestimmt hier den Inhalt der normativen Folgerungen, b) Es kommt hier ein Ineinandergreifen der inhaltlichen Bestimmungen aus verschiedenen Normenschichten zustande, die zusammen den Inhalt der abgeleiteten Norm — wenigstens rahmenhaft — determinieren. Die logisierte Betrachtung des Rechtsgeschehens ist i m wesentlichen eine Anwendung der ideellen Analyse des Rechts zur Beschreibung der rechtlichen Wirklichkeit. I n diesem B i l d treten neben Normsätzen, die die Normenordnung ausdrücken, Tatsachenfeststellungen auf, welche die subsumierbaren Sachverhalte anführen (inklusive der relevanten Willensakte) und den Kontakt der Normendynamik m i t dertysozialen Wirklichkeit auf allen Stufen des Rechtsgeschehens vermitteln. Die logisierte Beschreibung des Rechts beruht darauf, daß eine grundlegende Verknüpfung zwischen der normativ-gedanklichen Einheit der Rechtsordnung und der gesellschaftlichen Realität besteht. Es muß diese Ordnung als gesellschaftlich reales positives Recht, d. h. als System m i t Faktizität, erkannt werden. Die Begründung der Faktizität kann wissenschaftlich strittig sein; es kann als Streitfrage betrachtet werden, welches die relevanten Kriterien der Faktizität sind: Ist es

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das Rechtsbewußtsein i n der Gesellschaft oder der Wille der normsetzenden Instanzen oder das Wollen der Rechtsgenossen? Ist es die W i r k samkeit der Rechtsordnung auf das Gebaren der Menschen i n der Rechtsgemeinschaft oder die Anerkennung des rechtlichen Sollens durch die Gemeinschaft oder die Unterwerfung der Pflichtsubjekte unter die Rechtsordnung? Ist es die Tatsache, daß Rechts- oder Unrechtsfolgen mit großer Wahrscheinlichkeit als Folgen der Rechtserfüllung und Rechtsverletzung eintreten, oder ist es das faktische, i m großen und ganzen ordnungsgemäße Funktionieren der Staatsorgane? Jedenfalls sind aber die Momente, welche die Faktizitätsfrage zu beantworten erlauben, Momente des gesellschaftlichen Seins, sozial Tatsächliches, das nicht rein normologisch erkannt werden kann, sondern nur der soziologischen Erkenntnis zugänglich ist. Aufgrund dieser Erwägungen kommen w i r zu einer Konzeption der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis, die fordert, daß notwendigerweise zwei Seiten der Normen erfaßt werden müssen: das gedanklich Logische und das sozial Wirkliche. 6. Der Charakter der Rechtswissenschaften Ein sachliches und ein pragmatisches Moment bestimmen die Rechtswissenschaften. Sachlich w i r d ihr Charakter bestimmt durch die besprochenen zwei Aspekte des Rechts, denen die Erfassungsweisen des Rechts entsprechen. Die Gestaltung der Rechtswissenschaften als Hochschuldisziplinen ist ferner weitgehend durch die praktische Funktion des Rechtsunterrichts an den Universitäten bedingt: das rechtswissenschaftliche Studium muß juristische Praktiker heranbilden. Diese praktische Aufgabe, welche die Jurisprudenz für das Rechtsleben zu erfüllen hat, Beamte, Richter, Rechtsanwälte usw. zu schulen, sie m i t der Materie des Rechtsinhalts bekannt zu machen, führt dazu, daß an den meisten rechtswissenschaftlichen Fakultäten die Rechtsdogmatik als Aufgabenfeld vorherrscht, und zwar i n praktizistischer Absicht und Konzeption. Vom Standpunkt dieses Zieles ist das gedankenanalytische Erfassen der Rechtsnorm — die Auslegung der Rechtsquellen — das Wichtigste, während andere Momente etwas zurücktreten. I n rein wissenschaftlicher Absicht geht aber die Betrachtung tiefer und bietet dann auch eine besser begründete Rechtsdogmatik. W i r d die Rechtswissenschaft als Lehre verstanden, die das Rechtsphänomen erfassen soll, dann w i r d die Analyse des Rechtsinhalts und der logischen Beziehungen i m Rechtssystem zu einem Instrument, welches das Recht und das Rechtsgeschehen gedanklich abbildet; dies leistet die Theorie der Rechtsdynamik, deren K e r n eine Verbindung von Normen und Tatsachen i n deren normologischer Beziehung ist.

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Die Rechtstheorie, welche das Rechtsphänomen erkennen w i l l — und nicht bei Schemata der logischen Beziehungen i n möglichen Systemen stehen bleiben w i l l 1 0 — muß das Realsein des Normensystems i n der sozialen Wirklichkeit studieren. Rechtswissenschaft ist also ohne Betrachtung der sozialen Realität — was dem Daseinsaspekt der Normen entspricht — nicht denkbar. Hauptsächlich unter dem nachhaltigen Einfluß der Reinen Rechtslehre hat i n manchen Kreisen der Rechtstheoretiker — mögen sie auch sonst von Kelsens Konzeptionen weit abgegangen sein — die Meinung festen Fuß gefaßt, daß die juristische Betrachtung des Rechts nur Verstehen und Interpretation des geltenden Rechts ist und daß alle Erwägungen über die sozialen Beziehungen, i n denen das Rechtssystem steht, nicht Gegenstand der Jurisprudenz seien, sondern anderen Wissenschaften, wie ζ. B. der Rechtssoziologie oder der Rechtsgeschichte, zustünden, die dieser Auffassung gemäß als von der Jurisprudenz scharf abgetrennte Wissenschaften angesehen werden. Die begriffliche Gleichsetzung von „juristisch" mit „die Interpretation und Dogmatik des positiven Rechts (unter Ausschluß der Betrachtung der Beziehungen zwischen dem Recht als eines normativen Gedankensystems und der gesellschaftlichen Realität)" halte ich für unzweckmäßig und unhaltbar. Für mich ist jede Betrachtung des Rechts j u r i stisch, welche zum Verständnis des Rechts und zur Erklärung seines Wesens und seiner gesellschaftlichen Rolle führt. Hans Kelsen würde m i r sicherlich Methodensynkretismus vorwerfen — ich glaube jedoch m i t Unrecht. Vorerst muß ich betonen, daß meine Grenzziehung zwischen normenlogischer Analyse und soziologischer Rechtsbetrachtung von der Kelsenschen verschieden ist, und ich muß meine Grenzziehung begründen. Die normologische Rechtsanalyse ist eine logisch-semantische Analyse, i n der die Positivitätsfrage des Systems nicht beurteilt werden kann. Positivität ist ein soziologisches, kein normenlogisches A t t r i b u t eines Normensystems. Eine Lehre vom positiven Recht ist also nicht bloße normologische Analyse, sondern auch ein Erfassen des Normensystems i n seinen gesellschaftlich realen Aspekten. A l l e Kriterien, nach denen erkannt werden kann, ob ein normatives Gedankensystem eine positiv geltende Rechtsordnung ist, sind soziologischer Natur. N i m m t man eine korrekte Abgrenzung der logisch-semantischen Analyse des Rechts von dem Studium seiner gesellschaftlich realen Momente, zu denen die Positivitätsfrage gehört, vor, dann zeigt es sich, 10

Logisch ist n u r das allgemeine formale Schema.

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daß eine Theorie des positiven Rechts ohne Studium der Daseinsaspekte der Norm i n der Gesellschaft nicht möglich ist, denn die Merkmale der positiven Geltung sind soziologische Charakteristiken. Die Eigenart der normologischen Analyse bleibt i n der von m i r vertretenen Konzeption erhalten. Ich habe sie i n allen meinen Arbeiten über Normenlogik und Rechtstheorie eindringlich unterstrichen. Der Vorwurf des Methodensynkretismus t r i f f t mich aus folgenden Gründen nicht. Ich unterscheide scharf — schärfer als Kelsen, der die ihrem Wesen nach soziologische Frage der Positivität (Faktizität) i n die normologische Analyse einschließt — zwischen den normenlogischen Beziehungen und der Frage des gesellschaftlichen Daseins der Normen und des rechtlichen Geschehens. Ich unterscheide zwischen den Betrachtungsweisen des Rechts, indem ich auf rechtsnormologische Fragen nie m i t soziologischen Behauptungen antworte. Ich b i n aber davon überzeugt, daß der Jurist auch solche Fragen stellen muß, welche das gesellschaftliche Dasein des Rechts, seine Wirkungsweise i n der Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Recht und Gesellschaft betreffen. Es sind dies meiner Meinung nach juristische Fragen. Dieser Standpunkt erscheint auch deswegen notwendig, weil die Rechtsdynamik auf allen Stufen m i t dem tatsächlichen Geschehen i n Kontakt steht (vergleiche das oben angeführte Schema, i n dem neben normativen Prämissen immer auch Tatsachenprämissen auftreten). 7. Die Normenlogik als Hilfswissenschaft der Rechtswissenschaften Normenlogische Analysen wurden von verschiedenen formalistisch orientierten Rechtstheorien, insbesondere von der Wiener und Brünner Schule der Reinen Rechtslehre als juristische Theorie par excellence aufgefaßt. Ich sehe die Beziehung zwischen der Normenlogik und den Rechtswissenschaften anders. Die Normenlogik muß als Zweig der Logik i n formaler Allgemeinheit aufgebaut werden, nicht als Teil der Rechtstheorie. Sie bildet die formale Basis der Argumentationen i n allen Normenwissenschaften, nicht nur i n den Rechtswissenschaften. Vom Standpunkt der Rechtswissenschaft aus gesehen erscheint die Normenlogik als grundlegende Hilfswissenschaft, i n ähnlicher Weise, wie die Mathematik für die Physik eine grundlegende Hilfswissenschaft ist. Die Normenlogik greift tief i n die Arbeit des Juristen ein; sie ist vielfach für die Klärung und Lösung rechtswissenschaftlicher Probleme entscheidend. Dies w i r d evident, wenn man bedenkt, was für

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eine zentrale Rolle ζ. B. die Begriffe des Rechtssatzes, der Rechtsdynamik, des Stufenbaues, der Instanzenbeziehungen und der Begründung von Rechtsakten haben, und daß dies alles Begriffe sind, deren Studium von der logischen Analyse wesentlich abhängt. I n der Methode des Aufbaues der Normenlogik gibt es nicht unwesentliche Unterschiede. Die einen versuchen einen rein axiomatischen A u f bau, meist i n Anlehnung an Systeme der Modallogik; andere Forscher versuchen eine Reduktion der normenlogischen Problematik auf die üblichen Formalismen des Aussagengebietes; oder man versucht aufgrund einer kritischen Untersuchung der Denkpraxis i n den normativen Bereichen eine adäquate Normenlogik als rationale Rekonstruktion dieser Denkpraxis zu schaffen. Dies ist i m wesentlichen mein Standpunkt, der auch der Tatsache gerecht wird, daß die Weiterentwicklung der Normenlogik m i t den Problemstellungen der Normenwissenschaften weiter wächst und für diese neuen Aufgaben neue logische Formalismen schaffen muß. Den heutigen Stand der Normenlogik halte ich für unbefriedigend; sie ist eine noch nicht voll entwickelte Lehre. Es werden neue normenlogische Probleme studiert werden müssen; ζ. B. die Theorie der De-lege-ferenda-Erwägung, die Logik der gestuften Normensysteme 11 , usw. Die exakte Analyse der formal-logischen Beziehungen führt auch zur Abhebung jener Teile des juristischen Denkens, die man nach Ch. Perelman als rationale rhetorische Argumentation bezeichnen kann. Die formal-logische Analyse kann die Rolle der Plausibilitätsargumentation i m juristischen Denken anerkennen, denn sie hat nicht die Tendenz, ihre Kompetenz zu überschreiten: eine präzisere logische Untersuchung bestimmt auch genauer den Platz anderer Momente des juristischen Denkens, insbesondere der Plausibilitätsargumentation. Abschließend möchte ich meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß es vielleicht i n erster Linie die Fortschritte i m Bereich der Normenlogik und die moderne Ausgestaltung der logischen Analyse des Rechts sein werden, was die nächsten Schritte und den Charakter der Rechtstheorie bestimmen wird. Die moderne Logik reift langsam zur Bewältigung dieser Aufgaben. Sie w i r d aber nur dann erfolgreich sein, wenn sie die gedankliche Analyse der Normen isoliert durchführen und gleichzeitig auf die Notwendigkeit hinweisen wird, daß das Realsein der Rechtsnormen soziologisch betrachtet werden muß.

11 Die bisherigen Systeme der Normenlogik betrachten die Normen ohne Relevanzschichtenunterscheidung. V o n den wenigen Versuchen, eine Normenhierarchie i n der Normenlogik zu erfassen, können w i r absehen, da sie nicht erfolgreich waren.

D. N E I L M A C C O R M I C K

Das Recht als institutionelle Tatsache 1. Institutionelle Tatsachen und rechtliche Institutionen A l l e Rechtsphilosophen und Rechtsgelehrten legen Wert darauf, das Recht als Tatsache anzusehen, obgleich nur einer von ihnen, nämlich Olivecrona, dies auch i n einem Buchtitel zum Ausdruck gebracht hat. Zwar hat sich nicht jeder selbst als „Realist" bezeichnet, aber bislang hat noch keiner die Absicht geäußert, sich m i t unrealistischer Jurisprudenz beschäftigen zu wollen, und man kann wohl unbesorgt darauf wetten, daß dies auch niemand t u n w i r d — zumindest solange nicht, als unser Gegenstand eine Quelle gewinnträchtiger Beschäftigung bleibt. Das Problem, vor dem w i r alle stehen, ist nicht, ob w i r Realisten sein sollen, sondern wie; nicht, ob w i r das Recht als Tatsache — anstatt als Fiktion — beschreiben sollen, sondern, was als Tatsache, und somit auch, was als tatsachengetreue Beschreibung des Rechts zählt. M i t dem Titel dieses Vortrages habe ich meine Karten auf den Tisch gelegt, wenngleich ich — wegen der Unbestimmtheit des Titels — sie noch nicht aufgedeckt habe. Wenn das Recht überhaupt existiert, dann nicht auf der Ebene roher Sachverhalte und materieller Ereignisse zusammen m i t Schuhen, Schiffen, Siegellack oder auch Kohlköpfen, sondern, eher vergleichbar m i t Königen und anderen Amtsträgern, auf der Ebene institutioneller Tatsachen 1 . Aber diese Feststellung ist gleichzeitig sowohl ein Gemeinplatz (denn jeder sagt, daß das Recht institutionell ist), als auch verwirrend (denn niemand weiß eigentlich, was das bedeutet). Daran w i r d sich auch nichts ändern, solange w i r nicht unsere Begriffe von „Institution" und „institutioneller Tatsache" klären. Fest steht, daß bei der Verwendung solcher Wörter i m Zusammenhang m i t dem Recht zwei völlig ver1 Bezüglich einer philosophischen E r k l ä r u n g der Unterscheidung zwischen ,rohen Tatsachen 4 u n d »institutionellen Tatsachen*, siehe J. Searle, Sprechakte. E i n sprachphilosophischer Essay, F r a n k f u r t 1971, S. 78 - 83. [Anm. d. Übers.: i n der deutschen Übersetzung v o n Searles Buch w i r d ,brute fact* m i t dem Terminus »natürliche Tatsachen' wiedergegeben. Dies erscheint nicht zweckmäßig. Die institutionellen Tatsachen dürfen der Natur u n d dem natürlichen Geschehen nicht als k o n t r ä r gegenübergestellt werden.]

Das Recht als institutionelle Tatsache

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schiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind: ein philosophischer u n d ein soziologischer; beide Gesichtspunkte hängen v o n verschiedenen Bedeutungen der gebrauchten T e r m i n i ab, welche, w i e ich vermute, bei der Erörterung v o n Problemen des Rechts oft mehr oder weniger vermengt worden sind; beide Gesichtspunkte u n d beide A r t e n v o n Bedeutungen sind v o n großer Wichtigkeit für die Rechtstheorie. Gleichw o h l werde ich hier, aus Gründen mangelnder Kompetenz auf dem Gebiet der Soziologie, vorwiegend über den philosophischen Gesichtsp u n k t sprechen. Es gibt mehr Dinge zwischen H i m m e l u n d Erde, als sich Horatios Philosophie träumen ließ; u n d es existieren v i e l mehr Dinge als n u r jene, die i n Begriffen der Physik, Physiologie oder Verhaltenspsychologie abgehandelt werden können. Denken w i r zur Illustration n u r daran, daß bei jeder Fahrt m i t dem Autobus neben dem massiven, physikalischen Körper des Fahrzeuges u n d den handfesten, greifbaren Passagieren, ebenso viele Beförderungsverträge existieren w i e Passagiere. Die Existenz eines Vertrages zwischen jedem Passagier u n d der Edinburgh Corporation ist augenscheinlich keine physikalische oder physiologische Tatsache, u n d offenbar auch keine psychologische. Es mag sein, daß einige Leute i n irgendeinem Autobus wissen oder glauben, daß sie einen Vertrag geschlossen haben, als sie einstiegen u n d den Fahrpreis bezahlten; es ist ziemlich sicher, daß manche davon nichts wissen; u n d es ist ganz plausibel, daß i n manchem Autobus niemand etwas davon weiß oder es glaubt. Aber das Wissen oder die Meinung bestimmter Passagiere oder Buslenker ist v ö l l i g unerheblich für die Feststellung, daß so viele Verträge w i e Passagiere existieren. Woher weiß ich aber, daß zwischen den betroffenen Personen u n d der Corporation ein Vertrag existiert, obgleich einige v o n ihnen davon nichts wissen? Die A n t w o r t ist ebenso k l a r wie einfach: ich kenne das Privatrecht u n d b i n darum bemüht, die Beziehung zwischen dem A u t o busunternehmer u n d den Autobuspassagieren rechtlich zu erfassen. Daß diese Beziehung zwischen den beteiligten Personen aus diesem Blickw i n k e l gesehen werden kann, ist den meisten Leuten gewöhnlich v ö l l i g gleichgültig. A b e r sollte sich ein U n f a l l ereignen u n d ein Passagier verletzt oder sein Eigentum beschädigt werden, u n d sollte er auf den Gedanken kommen, Schadenersatz zu fordern, dann w i r d es für den Erfolg oder Mißerfolg seiner Forderung v o n beträchtlicher Bedeutung sein, ob ein Vertrag existiert hat (wie i n Gore v. Van der Lann2, und, falls dies der Fall ist, welche Bedingungen dieser enthielt (wie i n McCutcheon v. David MacBrayne 3). Was auch i m m e r die zu Schaden ge2

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[1967] 2 Q . B . 31. 1964 S. C. (H. L.) 28.

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kommene oder irgendeine andere Person beim Besteigen des Autobusses tatsächlich gedacht oder beabsichtigt haben mag — für die rechtliche Entscheidung, ob die geschädigte Person einen Anspruch auf eine Entschädigung hat, w i r d es wesentlich sein, ob sie sich i n einer Weise verhalten hat, die geeignet ist, einen Vertrag mit dem Linienunternehmen zu begründen. Die rechtlich banale, i m A l l t a g eher unbedeutsame oder nicht weiter bedachte Tatsache, daß man m i t dem Einsteigen und Bezahlen des Fahrpreises einen Vertrag abschließt, w i r d so zu einer Tatsache von zentraler Bedeutung. Offensichtlich können w i r wissen (und daher auch behaupten), daß durch eine solche Handlung ein Vertrag entsteht. Dieses Wissen w i r d dadurch möglich, daß die fragliche Handlung zu einer Klasse von Handlungen gehört, deren Durchführung rechtlich als vertragsbegründend angesehen wird. Dies ist von Relevanz, weil die Rechtsregeln für die Vertragspartner bestimmte Rechte und Pflichten normieren. Und dies ist wiederum von Bedeutung, weil die Menschen manchmal wünschen, Rechte geltend zu machen oder die Erfüllung von Rechtspflichten zu erzwingen, wofür bestimmte Verfahrensprozeduren durch Rechtsregeln festgelegt sind. Und all dies hängt von der Existenz organisierter Gruppen ab; von den Juristen, Gerichtshöfen, Vollstreckungsbeamten, deren Aufgabe es ist, solche Regeln wirksam zu machen, und deren faktische Vorgangsweise leidlich m i t den geltenden Regeln i m Einklang steht. Die Feststellung, daß als Ergebnis bestimmter Handlungen ein Vertrag zwischen den Parteien besteht, heißt, sich auf einen bestimmten Bezugsrahmen zu berufen, innerhalb dessen jene Handlungen beurteilt werden können, nämlich auf den Bezugsrahmen des Rechtes oder, etwas spezifischer, auf eine Menge von miteinander i n Beziehung stehenden Rechtsregeln. Searle 4 belehrt uns darüber, daß eine Proposition, deren Wahrheit nicht bloß vom Auftreten von Handlungen oder Ereignissen i n der Welt abhängt, sondern auch von der Anwendung von Regeln auf solche Handlungen oder Ereignisse, eine Proposition über institutionelle Tatsachen ist. Somit ist die Existenz eines Vertrages, philosophisch gesehen, etwas Institutionelles. Das gleiche gilt — aus demselben Grund — für die Existenz eines Gesetzes, nachdem es i n beiden Häusern des Parlaments verabschiedet worden ist und die königliche Zustimmung erhalten hat; doch davon später. Irgendwo i n einer platonischen Höhle — gleichsam hinter den institutionellen Tatsachen verborgen — steht die Institution selbst. Searle sagt, daß Institutionen Systeme von Regeln sind, genauer, und mit seinen eigenen Worten, daß sie „Systeme von konstitutiven Regeln" 4 J. Searle, op. cit., S. 80. Vgl. E. Anscombe, O n Brute Facts', Analysis 18, 1958, S. 22 - 25.

Das Recht als institutionelle Tatsache sind 5 . Aber das w i r d sich schwerlich aufrechterhalten lassen, denn etwa i n unserem Beispiel würde dies zu einer Verwechslung zwischen dem Vertragsrecht und der durch das Vertragsrecht geregelten Institution des Vertrages führen. Institutionen (und institutionelle Tatsachen) i m philosophischen Sinne haben zwar augenscheinlich auch etwas mit Regeln zu tun, aber sie sind nicht mit ihnen identisch. Wenn w i r diesen philosophischen Begriff der Institution klären wollen, werden w i r meiner Meinung nach gut daran tun, einen älteren, i n der Rechtssprache wohl etablierten Gebrauch des Terminus »Institution' zu betrachten, nämlich jenen, den Buckland i m Auge hatte, als er sein Buch ,The Main Institutions of Roman Private Law' nannte, oder auch Renner m i t dem Titel seines Buches ,Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre sozialen Funktionen 4 6 . Der Vertrag gehört gewiß zu den Rechtsinstitutionen, und ebenso andere wichtige rechtliche Begriffe, wie Eigentum, trust 7 , Testament, Intestaterbfolge, Körperschaft, Rechtspersönlichkeit, Schadensersatzpflicht, hypothekarische Sicherstellung (einschließlich ,heritable security' i m schottischen, und »mortgage' i m englischen Recht), Ehe, Konkurs, und eine Vielzahl weiterer. Die gegenwärtige Rechtsphilosophie und Jurisprudenz neigen dazu, alle diese Termini i n einen Topf mit der Aufschrift,Rechtsbegriffe' zu werfen, aus dem sie dann gelegentlich zu Lehr- oder Prüfungszwecken hervorgeholt und einer mehr oder minder eingehenden Betrachtung unterzogen werden. Es geht aber i m wesentlichen u m etwas anderes, nämlich u m die Erörterung der Struktur von Rechtssystemen und deren Unterteilung i n verschiedene Typen von Regeln — primäre, sekundäre Regeln, Verhaltens- und Ermächtigungsregeln. Aber — wie ich zeigen werde — sind gerade solche Begriffe, wie die eben aufgezählten, grundlegend für den Versuch, Rechtssysteme als kohärente Mengen von untereinander zusammenhängenden Regeln zu analysieren. Das Verständnis solcher Begriffe stellt einen der Schlüssel dar, die uns den Z u t r i t t zu Problemen der Rechtstheorie eröffnen. Ich w i l l nun darzustellen versuchen, was diese Begriffe gemeinsam haben. Vor allem bezeichnen sie Dinge, welche w i r für rechtliche Zwecke als i n der Zeit existierend ansehen. Verträge, Eigentumsrechte, 5

J. Searle , op. cit., S. 81. [Anm. d. Ubers.: Hier, w i e auch später, w i r d deutlich, daß m i t dem englischen Terminus 'institution' auch das dem deutschen juristischen Sprachgebrauch entsprechende ,Rechtsinstitut', ,Institut' gemeint sein kann. U m jedoch den Sinnzusammenhang nicht an anderer Stelle zu stören, wurde durchgehend »Institution' als Übersetzung gewählt.] 7 [Anm. d. Übers.: Ich belasse i m deutschen Text den Terminus 'trust', w e i l die sich anbietenden deutschen Ausdrücke, etwa .Treuhand', Institutionen bezeichnen, die dem trust nicht genau entsprechen.] 6

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Körperschaften und Ehen haben zeitliche, wenn auch nicht räumliche Existenz. Sie werden durch eine bestimmte Handlung oder ein Ereignis errichtet (oder, wie man sagen könnte, ,instituiert'), und sie existieren solange, bis eine bestimmte andere Handlung oder ein bestimmtes anderes Ereignis stattfindet. Freilich, all dies gilt n u r innerhalb des rechtlichen Rahmens und ist nur für rechtliche Zwecke von Belang und zwar deshalb, weil Rechtspflichten und Rechtsansprüche durch die Existenz von Verträgen, Eigentumsrechten, Körperschaften, Ehen, oder was auch immer, begründet sind. Die Existenz jeder dieser Institutionen ist eine rechtliche Folge des Auftretens bestimmter A r t e n von Handlungen oder Ereignissen, aber jede dieser Institutionen ist auch zugleich eine rechtliche Bedingung für weitere rechtliche Konsequenzen. Diese Konsequenzen sind von solcher A r t , daß Menschen, die sich sonst keinen Deut u m juristische Feinheiten kümmern, ihnen wohl Beachtung schenken angesichts der Ansprüche, die sie gegenüber anderen Personen geltend machen, oder der Pflichten, die sie anderen gegenüber haben, insbesondere, wenn auch nicht nur dann, sobald sie die Durchsetzung ihrer Ansprüche erzwingen wollen oder zur Erfüllung ihrer eigenen Pflichten gezwungen werden. U m diese Erwägungen systematischer zu gestalten, möchte ich nun drei Merkmale nennen, die alle den von m i r genannten Begriffen gleichermaßen zukommen: (1) Für alle diese Begriffe setzt das Recht fest, wann ein Vertrag, ein Eigentumsrecht, ein trust, ein Testament, ein Anrecht auf Intestaterbfolge, eine Körperschaft, eine Rechtspersönlichkeit, eine Repara-

tionspflicht Existenz erlangt 8 . Das bedeutet: das Recht setzt fest, 8 Z u sagen, daß sie alle »Existenz erlangen', mag etwas unbeholfen scheinen. Dem üblichen Sprachgebrauch würde es besser entsprechen, zu sagen, daß Verträge zwischen Parteien abgeschlossen, Eigentumsrechte v o n Personen erworben, Körperschaften gebildet, Testamente vollstreckt u n d Sicherstellungen gewährt werden, etc. Ich hoffe, daß es als vernünftige u n d handliche Generalisierung akzeptabel ist, einfach zu sagen, daß sie »Existenz erlangen 4 . Vorsichtshalber möge aber noch folgendes beachtet werden: Die E x i stenz einiger der genannten Institutionen w i r d stets so aufgefaßt, daß sie jeweils einer bestimmten Person ,zugehören', ζ. B. Eigentumsrechte, Rechte an Sicherstellungen; u n d solche Rechte sind v o n einer Person auf eine andere übertragbar. Bentham darin nachfolgend, schlägt daher Raz vor, daß solche Begriffe i m Lichte v o n ,investitiven', »konstitutiven' u n d »divestitiven' Gesetzen verstanden werden sollten. (J. Raz, The Concept of a Legal System, Oxford 1970, S. 175 - 183.) I m wesentlichen stimme ich i h m zu, doch halte ich es für nützlich, die weitere, i m Text vorgeschlagene Generalisierung vorzunehmen, aufgrund welcher Raz' drei Typen v o n Regeln als Unterklassen der institutiv-konsequentiellen u n d terminativen Klassen verstanden werden können. Die Generalisierung ist notwendig, u m die S t r u k t u r eines Rechtssystems verstehen zu können, w i e ich u n t e n zeigen werde (vgl. S. 83 f.). Der entscheidende P u n k t ist, daß manche Institutionen, oder genauer Einzelfälle v o n ihnen, lediglich i n bezug auf Personen oder zwischen Personen oder als zu ihnen gehörig existieren, während andere einzelne Fälle v o n I n s t i t u t i o -

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daß bei Auftreten einer bestimmten (vielleicht komplexen) Handlung oder eines bestimmten Ereignisses, ein individueller Fall der jeweiligen Institution Existenz erlangt. Somit ist es möglich, die Bedingungen, die für die Existenz eines Falles einer solchen Institution wesentlich sind, i n Form einer eigenen Rechtsregel festzulegen. Als offensichtliches, sich aus den vorhergehenden Erörterungen ergebendes Beispiel, könnte man eine Regel nennen, die festlegt, daß ein gültiger Vertrag Existenz erlangt, wenn zwei oder mehrere Personen eine Ubereinkunft einer bestimmten A r t treffen. Eine solche Regel werde ich »institutive Regel· nennen. (2) Ebenso wie beim Vertrag w i r k t sich die Existenz eines konkreten trust, eines Testaments, eines konkreten Anrechtes auf Intestaterbfolge, etc., dadurch rechtlich aus, daß sie jeweils nicht nur eine, sondern eine ganze Menge weiterer rechtlicher Konsequenzen in Form von Rechten und Ermächtigungen, Pflichten und Haftungen erzeugt. Man kann das Recht, insoweit es diese Konsequenzen in bezug auf eine bestimmte Institution erzeugt, als ein eine Menge von Regeln umfassendes Gebilde ansehen. Diese auf eine Institution bezogene Menge von Regeln bildet eine Klasse, und zwar genau deshalb, weil jede Regel i n die Form „Wenn ein trust existiert, dann . . . " , „Wenn eine testamentarische Verfügung existiert, dann . usw., gebracht werden kann. Allgemein formuliert läßt sich feststellen, daß es zu jeder Institution eine Menge von Regeln gibt, deren Anwendungsbedingung darin besteht, daß ein individueller Fall der Institution existiert. Solche Regeln werde ich ,konsequentielle Regeln 4 nennen. (3) Da jeder Fall einer derartigen Institution durch das Eintreten einer institutiven Handlung oder eines institutiven Ereignisses (d.h.: Handlungen oder Ereignisse, die als i n den Anwendungsbereich einer institutiven Regel fallend betrachtet werden) Existenz erlangt, und da er weiters für eine Zeitperiode, während der er rechtliche Konsequenzen generiert, als existent angesehen wird, muß das Recht auch Bestimmungen für seine Beendigung zu einem gewissen Zeitpunkt enthalten. Und wiederum können bei jeder Institution diese rechtlichen Vorkehrungen zur Beendigung eines Falles als eigene Regeln betrachtet werden. Beispiele hierfür sind die verschiedenen Regeln über Vertragserfüllung, über die Aufhebung eines trust, die Auflösung einer Körperschaft oder die Ehescheidung. Solche Regeln werde ich »terminative Regeln* nennen. nen sozusagen unabhängige Existenz haben, w i e z. B. i m Falle v o n Körperschaften als juristischen Personen, oder überhaupt Gesetze, deren Existenz alle der Rechtssprechung Unterworfenen betrifft. 6 MacCormick / Weinberger

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Ich hoffe, daß man m i r darin zustimmen kann, daß den von m i r genannten Begriffen diese drei Eigenschaften zukommen, denn ich möchte über die bloße Behauptung hinausgehen, daß es möglich ist, rechtliche Bestimmungen über Vertrag, trust oder Testament i n Mengen von institutiven, konsequentiellen und terminativen Regeln zu zerlegen. Meine Behauptung ist vielmehr, daß es unmöglich ist, i n anderer als i n dieser Weise den rechtlichen Gebrauch der Begriffe ,Vertrag 4 , ,trust 4 , »Testament4, usw. zu erklären. Solchen Begriffen kommt — so wie sie von Juristen verwendet werden — eine überaus wichtige Organisationsfunktion bezüglich der Masse des Rechtsmaterials zu. Das entscheidende Moment der Forderung, daß individuelle Fälle solcher Begriffe existieren, liegt darin, daß uns dies die Möglichkeit eröffnet, zwei bei der rekonstruktiven Darstellung des Rechts potentiell konfligierende Ziele miteinander zu versöhnen. Einerseits können w i r das komplizierte Gefüge des Rechtsmaterials i n vergleichsweise einfache Mengen von i n Zusammenhang stehenden Regeln zerlegen; und doch ist es andererseits möglich, dieses Gefüge insgesamt i n organisierter und generalisierter Weise — nicht als bloße Anhäufung einzelner Teile und Stücke — zu behandeln. Der Terminus ,Rechtsinstitution 4 , so wie ich i h n verwenden werde, soll daher i n der Weise verstanden werden, daß er jene rechtlichen Begriffe bezeichnet, die durch Mengen von institutiven, konsequentiellen und terminativen Regeln bestimmt sind, und zwar m i t dem Ergebnis, daß es korrekt ist zu sagen, daß Fälle der Institution während einer Zeitperiode existieren — nämlich vom Eintreten einer institutiven Handlung bzw. eines institutiven Ereignisses an bis zum Eintreten einer terminativen Handlung bzw. eines terminativen Ereignisses. Ich unterscheide also zwischen der Institution (Vertrag, trust, etc.) selbst und individuellen Fällen der Institution (den konkreten Verträgen, den konkreten trusts, usw.). Dies führt zwar zu einer gewissen sprachlichen Schwerfälligkeit, ist aber von wesentlicher Bedeutung, denn es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen der Existenz einer Institution und der Existenz eines individuellen Falles der Institution. Zur Verdeutlichung möchte ich auf die Tatsache hinweisen, daß der trust als Institution i m französischen Recht nicht existiert. Das bedeutet aber nicht bloß, daß es noch niemandem gelungen ist, i n Frankreich einen trust zu errichten. Es bedeutet vielmehr, daß dies niemand t u n kann, weil das französische Recht keine Einrichtungen enthält, durch die irgendeine Handlung die A r t von rechtlichen Konsequenzen hervorbringen kann, welche die spezifischen Eigentümlichkeiten unseres [britischen] ,trust 4 ausmachen. Das französische Recht enthält keine Regeln, die jener A r t von institutiven und konsequentiellen Regeln entsprechen,

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welche i m System des common law oder i n »gemischten4 Rechtssystemen den trust definieren. Die Existenz einer Institution selbst ist relativ zu einem gegebenen Rechtssystem, und sie hängt davon ab, ob das System eine entsprechende Menge von institutiven, konsequentiellen und terminativen Regeln enthält. Ist dies der Fall, so w i r d kraft dieser Regeln durch das Auftreten bestimmter Ereignisse oder die Durchführung bestimmter Handlungen ein Fall der Institution ins Leben gerufen. Daß diese Auffassung nicht wirklichkeitsfremd ist, läßt sich durch Hinweis auf die A r t und Weise illustrieren, wie die Gesetzgebung neue Institutionen innerhalb eines Rechtssystems schaffen kann. Teil I I des Conveyancing

and Feudal

Reform

(Scotland)

Act,

1970

[Schottisches

Grundstückübertragungs- und Lehensreformgesetz] zielt ausdrücklich darauf ab, eine neue rechtliche Institution zu schaffen, nämlich die ,Standard-Sicherstellung 4 [»standard security 4 ] als einzige zulässige Form der hypothekarischen Sicherstellung [»mortgage 4] i m schottischen Recht. Das Gesetz setzt i n Paragraph 9 (1) und (2) folgendes fest: (1) Die Bestimmungen dieses Teiles des Gesetzes dienen dazu, eine neue Form erblicher Sicherstellung an Grundeigentum, die StandardSicherstellung, einzuführen. (2) Es soll ermöglicht werden, i n Übereinstimmung mit der i n Anhang 2 dieses Gesetzes festgelegten Form, über jeden Anspruch, der sich auf Grund und Boden bezieht, eine Standard-Sicherstellung zu errichten und i m Register von Sasines eintragen zu lassen. Die verbleibenden Teile von Paragraph 9 stellen praktisch eine mehr oder minder vollständige Aufzählung der institutiven Regeln der Institution dar. Die Paragraphen 10 bis 33, sowie die Anhänge 3 bis 8 drücken die konsequentiellen Regeln aus, m i t Ausnahme von Paragraph 17 und Anhang 4, Formblatt D und F, welche Bestimmungen über die Auflösung der Standard-Sicherstellung, und somit die terminativen Regeln, enthalten. Von dem Augenblick an, da Teil I I des erwähnten Gesetzes von 1970 Wirksamkeit erlangte, existierte somit i m schottischen Recht eine Institution des Namens ,Standard-Sicherstellung 4 m i t allen den Rechten und Pflichten, wie sie das Gesetz vorsieht. Das Inkrafttreten der institutiven, konsequentiellen und terminativen Regeln w a r hinreichend für ihre Existenz als Institution des schottischen Rechts, und ohne die Einführung m i t Hilfe solcher Regeln hätte der Terminus ,Standard-Sicherstellung 4 i m schottischen Recht einfach nichts bezeichnet (ausgenommen eventuell als Umschreibung für eine der alten, nun hinfälligen Formen der hypothekarischen Sicherstellung). Aber obgleich die Institution 6·

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damals i m Rechtssystem Existenz erlangte, muß eine mehr oder weniger lange Zeitspanne zwischen ihrem Inkrafttreten und jenem Augenblick verstrichen sein, i n dem erstmals tatsächlich eine Standard-Sicherstellung eingeräumt und eingetragen wurde. Die Existenz der Institution muß zeitlich der Existenz ihrer individuellen Fälle vorangehen. Gerade weil es sich hier u m abstrakte institutionelle Begriffe und Tatsachen handelt, muß der Begriff der Institution jedem individuellen Fall, der unter i h n fällt, logisch vorangehen. Wenn ich es richtig sehe, so meinte Piaton, daß die Idee des Bettes logisch der Existenz des einzelnen Bettes vorangehe; dies erschien m i r immer als eine besonders unplausible Auffassung i n bezug auf rohe Tatsachen; aber zumindest die Welt der rechtlichen Institutionen ist eine für Platonisten heile Welt; ob dieser Umstand n u n eine gute oder eine schlechte Werbung für die Welt der Institutionen ist, möchte ich dahingestellt sein lassen, aber es besteht kein Zweifel, daß die Institution als Begriff der Existenz jedes beliebigen ihrer Einzelfälle logisch vorangeht. Wie auch immer, ich hoffe, es ist n u n klar, was ich meine. Damit eine bestimmte Institution i n einem Rechtssystem existiert, muß das System eine institutive Regel für die betreffende Institution beinhalten. Ein Fall der betreffenden Institution existiert nur dann, wenn das entsprechende Ereignis eingetreten ist oder der entsprechende A k t unter richtigen Umständen und i n der richtigen Weise durchgeführt wurde. A l l dies wäre unnütz, wenn das Gesetz nicht verschiedene Konsequenzen festlegen würde, die aus dem Umstand der Existenz eines Einzelfalles der Institution folgen, und es wäre unnötig, die Institution dadurch zu reifizieren, daß man ihr einen Namen gibt, wenn die Konsequenzen nicht i n einem bestimmten Ausmaß komplex wären. Wenn all dies der Fall ist, dann ist es ganz sicher, daß auch ein Verfahren gefunden werden wird, wie Fälle der Institution aufgehoben werden können; das heißt, es werden terminative Regeln eingeführt werden. Wenn es auch weitschweifige Überlegungen waren, die zu dieser Definition führten, so ist es doch wichtig, den Terminus »Institution* klar definiert zu haben. Denn es gibt auch einen anderen Gebrauch dieses Terminus, der gleichfalls i n bezug auf das Recht wichtig ist, aber sich dennoch grundlegend von dem juristischen Begriff der Rechtsinstitution, wie er hier expliziert wurde, unterscheidet. Es gibt bestimmte Arten von sozialen Systemen oder Subsystemen, wie Universitäten, Schulen, Spitäler, Waisenheime, Büchereien, Sportorganisationen, etc., auf welche w i r uns oft als »Institutionen* beziehen. Es sind dies Organisationen, die, auch wenn die beteiligten Personen wechseln, ihre organisatorische Identität bewahren, weil sie jeweils irgendeine Leistung i n organisierter Form erbringen. Ich werde Beispiele dieses Typus »soziale Institutionen*

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nennen 9 . Darunter fallen augenscheinlich die Gerichte, Parlamente, Polizeieinheiten, Einrichtungen des öffentlichen Dienstes und die A n waltskammern. A l l das sind soziale Institutionen, die dazu da sind, rechtliche Aufgaben zu erfüllen, woraus die Gefahr resultiert, sie m i t dem Begriff ,Rechtsinstitution 4 zu verwechseln. Es sollte nun klar sein, was ich meinte, als ich sagte, daß das Recht i n zweierlei Sinn ein institutionelles Phänomen ist. Es ist i n einem soziologischen Sinn institutionell, insoferne es von einer Menge von miteinander zusammenhängenden sozialen Institutionen geschaffen, aufrechterhalten, durchgesetzt und weiterentwickelt wird. I n der englischen Alltagssprache w i r d ,the law 4 auch zur Bezeichnung der Gerichte, des Juristenstandes und der Polizei verwendet. I n einem eher i n akademischen Kreisen gebräuchlichen Sinne bedeutet ,the law 4 die Menge von Regeln und anderen Normen, durch welche diese sozialen Institutionen geregelt und ins Leben gerufen werden. Diese Voraussetzung, daß Institutionen durch Regeln ins Leben gerufen werden, zieht keineswegs notwendig die naive Meinung nach sich, daß sich Richter und Anwälte stets i n solcher Weise verhielten, wie dies die Achtung vor den vorausgesetzten oder ausdrücklich festgesetzten Regeln fordern würde. Vielmehr impliziert sie bloß, daß ein Versäumnis, sich entsprechend zu verhalten, einen Grund für ernste und gerechtfertigte K r i t i k darstellt; jene realistischen Theorien des Rechts, welche die Naivität beklagen, die darin bestünde zu glauben, daß Gerichte i n Übereinstimmung m i t den Regeln handelten, bergen i n sich die Gefahr, der Meinung Vorschub zu leisten, es könne keine rechtliche K r i t i k an den Verfahrensweisen der Gerichte, Anwälte, oder der Polizei geben, sondern nur K r i t i k moralischer oder politischer Natur. Aber man könnte sich fragen, wie denn sinnvoll davon die Rede sein könne, daß ,Rechtsregeln 4 existieren und daß sie als Grundlage der K r i t i k an institutionellen Handlungen dienen können, wenn sie zugleich von Beamten i n Ausübung ihrer Dienstpflichten verletzt werden können. Die A n t w o r t findet sich, wenn w i r unser Augenmerk auf die andere Bedeutung richten, i n der man vom Recht sagen kann, es sei institutionell: die Existenz einer gültigen Rechtsregei ist, wie die eines gültigen Vertrages, eine Frage der institutionellen Tatsachen i m philosophischen Sinn. Nehmen w i r ein auf der Hand liegendes Beispiel: Jeder Student i m ersten Studienjahr weiß, unter welchen Bedingungen ein Gesetz Existenz erlangt, nämlich dann, wenn es i n der vorgesehenen 9 D a r i n manifestiert sich meine Inkompetenz i n Fragen der Soziologie, w e i l ich den Terminus »soziale Institution' i n einer v o n Soziologen nicht geschätzten Weise verwende. Vgl. ζ. B. Alan Wells, Social Institutions, London 1970, insb. K a p i t e l 1, S. 7.

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Weise von beiden Kammern des Parlaments beschlossen wurde und danach die königliche Zustimmung erlangt hat. Ebenso gehört zu den grundlegenden Lehrinhalten, daß ein Gesetz aufhört zu existieren, wenn es, ausdrücklich oder implizit, i n geeigneter Form aufgehoben wurde. Und die Existenz jedes gültigen Gesetzes hat stets zumindest zwei Konsequenzen: jeder Richter hat die Pflicht, dem Wortlaut des Gesetzes Genüge zu tun, und er hat auch die Pflicht, ältere Gesetze, Regeln des common law oder des Gewohnheitsrechts, nicht anzuwenden, wenn sie m i t dem nunmehr gültigen nicht vereinbar sind. Somit finden w i r zumindest i m Falle des gesatzten Rechts die uns nun schon bekannte Trias: institutive Regeln, welche die Kriterien der Existenz eines ,gültigen* Gesetzes festlegen; terminative Regeln, welche die Beendigung seiner Existenz festlegen; und konsequentielle Regeln, welche bestimmen, welche Rechtsfolgen die Existenz eines Gesetzes hat. Der Ausdruck ,ein Gesetz* [englisch: ,α law'] bezieht sich so wie der Ausdruck ,ein Vertrag* auf einen Fall einer rechtlichen Institution. ,Ein Gesetz* ist eine zu einer bestimmten Zeit gültig existierende Regel eines gegebenen Rechtssystems. Es besteht daher die nahezu unwiderstehliche Versuchung, den Begriff »Gesetz* so zu behandeln, als bezeichne er so wie der Begriff ,Vertrag* eine Institution, die durch die relevante Menge von institutiven, konsequentiellen und terminativen Regeln definiert und reguliert ist. Die Versuchung, Recht gleichzusetzen m i t den Kriterien der Gültigkeit einschließlich aller »gültigen Gesetze*, drängt sich auf, doch sollte i h r nicht nachgegeben werden. Denn selbst wenn w i r die Auffassung akzeptieren, daß jene sozialen Institutionen, welche mit dem Verfassen, Erlassen, Novellieren und Exekutieren des Rechts betraut sind, i n ihren Handlungen durch rechtliche Normen geleitet sind und auch geleitet sein sollen, so dürfen w i r deswegen doch nicht annehmen, daß all die i n Frage kommenden Normen Gesetzen darin gleichen, daß sie aufgrund klar ausdrückbarer institutiver Regeln als »gültig* existierend erkannt werden können. Es ist jedenfalls eine Streitfrage, ob es klare Kriterien für die Existenz von Regeln des common law gibt (ζ. B. Kriterien dafür, w o r i n die ,ratio decidendi* eines Falles besteht). Manche Autoren haben tatsächlich die Auffassung vertreten, es sei ein I r r t u m des Positivismus, anzunehmen, daß das common law als ein System von Regeln dargestellt werden könne 1 0 . A fortiori folgt daraus, daß, wenn es überhaupt so etwas wie ein Gewohnheitsrecht gibt, dieses noch schwerer i n den Rahmen der Gültigkeitskriterien einzufügen ist. Professor D w o r k i n hat erst unlängst auf »Rechtsprinzipien* aufmerksam gemacht, welche seiner Ansicht nach 10 Vgl. z . B . A . W. B. Simpson, The Common L a w and Legal Theory, in: Oxford Essays i n Jurisprudence (second series), hrsg. v o n A.W. Β. Simpson, Oxford 1973, pp. 77 - 99.

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nicht so aufgefaßt werden können, als gelten sie aufgrund hinreichender und notwendiger Gültigkeitsbedingungen 11 . Auf einige der hier auftretenden Schwierigkeiten werde ich noch zurückkommen. Ich selbst b i n der Meinung, daß sowohl für den Fall des Gesetzesrechtes (statute law) als auch für den des Präzedenzrechts (case law) hinreichend klare Kriterien der Existenz sowie der Aufhebung von Regeln existieren, und daß die konsequentiellen Pflichten von Richtern und anderen Personen i m Normalfall ebenso klar sind. Darum können w i r einen klaren Begriff der ,Rechtsregel· als eines institutionellen Begriffes i m philosophischen Sinne bilden. Selbst jene, die der Ansicht zuzustimmen zögern, daß Präzedenzfälle klare ,Regeln* etablieren können, müssen dies meiner Meinung nach für das gesatzte Recht auf allen Ebenen der Rechtshierarchie zugestehen. Die Existenz von »Rechtsregeln* als institutionellen Tatsachen ist i m gleichen Maße eines der zentralen Merkmale des Rechtssystems wie auf einer niedrigeren Ebene die Existenz von rechtlichen Institutionen, die durch solche Regeln definiert sind. Dies sind die zentralen Merkmale von Rechtssystemen, aber sie machen nicht alles aus, was zu einem Rechtssystem gehört; w i r dürfen nicht annehmen, daß sie den Begriff des Rechts erschöpfend bestimmen. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen, doch muß ich mich vorher noch m i t einem möglichen Einwand gegen die von m i r vorgelegte These über die Rechtsinstitutionen beschäftigen. 2. Rechtliche Institutionen und die Struktur der Rechtssysteme Gegen das bisher Vorgetragene könnte eingewendet werden, daß es unnütz und verwirrend sei, die zeitliche aber nicht-räumliche Existenz so abstrakter Entitäten, wie es meine ,Rechtsinstitutionen* sind, zu postulieren. Der Einwand könnte unter Hinweis auf das Beispiel des Vertrages folgendermaßen vorgetragen werden: die unterstellte institutive Regel des Vertrages ist i n etwa von der Form ,Wenn zwei oder mehrere Parteien eine Vereinbarung bestimmter A r t treffen und eine Anzahl erforderlicher Umstände vorliegt, dann existiert zwischen ihnen ein gültiger Vertrag*. Weiters w i r d angenommen, daß konsequentielle Regeln vorliegen, die etwa Bestimmungen folgender A r t festlegen: ,Wenn (zwischen bestimmten Parteien) ein gültiger Vertrag existiert, dann hat jede der Parteien die Verpflichtung, vereinbarungsgemäß und nach Maßgabe aller vereinbarten Bedingungen zu handeln*. Aber da 11 Vgl. R. M . Dworkin , Is L a w a System of Rules?, i n : Essays i n Legal P h i losophy, hrsg. v o n R. S. Summers, Oxford 1968, pp. 2 5 - 6 0 ; sowie: Social Rules and Legal Theory, Yale L a w Journal 81 (1972), 855 - 890.

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eine nähere Betrachtung dieser postulierten Regeln zeigt, daß genau derselbe Ausdruck (,ein gültiger Vertrag existiert 1 ) i n der ersten als Konsequenz und i n der zweiten als Implikans aufscheint, können w i r i h n durch eine einfache logische Operation aus beiden Regeln streichen und das ganze i n einer Regel zusammenfassen: ,Wenn zwei oder mehrere Parteien eine Vereinbarung bestimmter A r t treffen und eine Anzahl erforderlicher Umstände vorliegt, dann hat jede der Parteien die Verpflichtung, vereinbarungsgemäß und nach Maßgabe aller vereinbarten Bedingungen zu handeln' 1 2 . A u f diesen Einwand gibt es zunächst eine einfache praktische A n t wort. Juristen und Rechtsgelehrte verwenden institutionelle Begriffe tatsächlich, und zwar offenbar i n der von m i r dargelegten Weise. Sie legen besonderes Augenmerk darauf, wie Verträge, trusts, Testamente oder Körperschaften errichtet oder wie Eigentumsrechte unmittelbar erworben werden. Es läßt sich nicht vermeiden, daß dies i n jedem Fall eine ziemlich komplizierte Angelegenheit ist, weil sie vielerlei Spezifizierungen erfordert hinsichtlich der Typen von Handlungen, welche durchzuführen sind, hinsichtlich der Klasse jener Personen, die zur Ausführung der fraglichen Handlungen legitimiert sind, hinsichtlich der prozeduralen Formalitäten, die allenfalls zu beachten sind, sowie hinsichtlich der Umstände, die für die Gültigkeit der Handlung i n Verbindung m i t jenen Umständen wesentlich sind, die einen scheinbar gültigen A k t ungültig machen würden (wie etwa Nötigung oder Irrtum). Nach Klärung dieser institutiven Bedingungen untersuchen die Juristen sodann all die vielfältigen und komplizierten rechtlichen Konsequenzen, die sich unmittelbar oder unter weiteren Bedingungen ergeben, wann immer ein Fall einer solchen Institution existiert. W i r dürfen nicht vergessen, daß selbst für den vergleichsweise einfachen Fall des Vertrages viel mehr unmittelbare rechtliche Konsequenzen bestehen als bloß die Existenz einer direkten primären Erfüllungspflicht. Nachdem all dies bedacht ist, verbleibt noch die Aufgabe der verschiedenen Formen der Vertragsauflösung, der Liquidierung von trust-Vermögen oder Gesellschaften — alles Aufgaben, die keineswegs unkompliziert oder frei von technischen Details sind. Zu den traditionellen Aufgaben der Rechtstheorie zählt seit jeher die, eine angemessene Darstellung jener Begriffe zu geben, die tatsächlich i n Rechtssystemen verwendet werden. Daher t r i f f t der theoretische Einwand, daß diese Begriffe überflüssig wären, weil das Recht auch ohne sie formuliert werden könnte, i n keiner Weise den K e r n meiner Auffassung, wonach institutionelle Termini, wie sie von Juristen 12 Vgl. für ein ähnliches Argument Alf Ross, T û - T û , 70 H a r v a r d L. R., 812 (1956).

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gebraucht werden, nur als komplexe Mengen von institutiven, konsequentiellen und terminativen Regeln organisierende und verbindende Termini verstanden werden können. Überdies bietet j a gerade die hohe Komplexität des Untersuchungsgegenstandes eine überzeugende praktische Rechtfertigung für den fortgesetzten Gebrauch dieser Terminologie. Obwohl das Vertragsrecht oder das Gesellschaftsrecht, wie sie gegenwärtig dargestellt werden, wohl keine ganz einfachen Materien sind, würden sie doch unvorstellbar kompliziert werden, wenn w i r versuchten, sie ohne die Postulierung der Existenz von Verträgen oder von Körperschaften als Rechtspersonen aufzufassen, welche j a Konsequenzen institutiver Ereignisse sind und die als Bedingungen für eine Folge weiterer rechtlicher Konsequenzen auftreten und bis zum E i n t r i t t eines terminativen Ereignisses wirksam bleiben. Wenn w i r nochmals zu der schematischen Formel zurückkehren, die w i r verwendet haben, u m den Einwand zu erläutern, so zeigt sich, daß w i r das Argument sozusagen umkehren können. Es wäre möglich und theoretisch weiter nicht bedenklich, sich eine Regel von folgender Form vorzustellen: ,Wenn zwei oder mehrere Personen eine Vereinbarung bestimmter A r t treffen und eine Anzahl erforderlicher Umstände vorliegt, dann hat jede der Parteien die Verpflichtung, vereinbarungsgemäß und nach Maßgabe aller vereinbarten Bedingungen zu handeln.* Aber die Verwendung des Begriffes »Vertrag* eröffnet uns die durchaus erwünschte Möglichkeit, diese Regel i n zwei einfachere Einzelregeln zu zerlegen. Es w i r d so die Aufspaltung der normativen Materie i n einfachere Einheiten möglich, was angesichts der Komplexität des »Vertragsrechts* i m ganzen durchaus wünschenwert ist. Dies führt uns weiter zu einer vom Standpunkt der Jurisprudenz aus sehr wichtigen Feststellung: w i r können zwei separate Rechtsregeln formulieren, deren eine ermächtigt, während die andere Rechtspflichten auferlegt. Wenn w i r m i t dem Begriff »Existenz eines gültigen Vertrages* arbeiten, können w i r zwei getrennte Regeln unterscheiden: eine, die eine Klasse von Menschen — nämlich die vertragsfähigen Personen — ermächtigt, durch bestimmte Handlungen einen Vertrag zu erzeugen, und eine andere, die die Vertragspartner m i t primären Rechten und Pflichten aus dem Vertrag ausstattet. Die Auffassung, daß das Recht nur verstanden werden kann, wenn w i r sorgfältig zwischen ermächtigenden und verpflichtenden Regeln unterscheiden, gehört — wie ich unterstreichen möchte — zu den wichtigsten und bekanntesten Thesen der modernen Rechtsphilosophie. Sie ist sowohl i n H. L. A . Harts ,Concept of Law* 1 3 als auch i n Dr. Raz' »Concept of a Legal System* 14 von zentraler Bedeutung. Es handelt sich 13

H. L. A . Hart, The Concept of L a w , Oxford 1961, insb. S. 3 - 6.

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daher zumindest u m eine nicht unwichtige Ergänzung dieser Theorien, wenn man explizit zeigt, daß die Verwendung institutioneller Termini m i t all dem, was das einschließt, wesentlich ist für die Trennung der Elemente des Rechts i n jene beiden Klassen von Regeln. Aber ich meine, daß es sich bei dem von m i r Vorgetragenen u m mehr handelt, als u m eine bloße Ergänzung. Die Theorien von Hart und Raz stehen speziell i n dieser Hinsicht i n Kontrast zu solchen Theorien wie denen von Bentham und Kelsen, die beide i n geringfügig verschiedenen Versionen die Meinung vertreten, daß jede vollständige Rechtsregel (wie Bentham sagt) bzw. jede Rechtsnorm (in Kelsens »statischer Darstellung des Rechts*) notwendigerweise Zwangscharakter hat. Nach Benthams spezifischer Auffassung ist jedes Gesetz eine Willensäußerung des Souveräns, die i n ihrem anweisenden Teil Pflichten, etwas zu t u n oder zu unterlassen, auferlegt. Aber der Befehl (oder der „Auftrag") des Souveräns kann eine bestimmte bedingte Pflicht auferlegen, welche an die Handlung einer m i t dem Souverän nicht identischen Person gebunden ist, wenn der Souverän befiehlt, daß jede Person, sofern sie einen Vertrag m i t einer anderen Person abschließt, diesen einzuhalten habe 1 6 . Obwohl Kelsen den Begriff des Befehles i n dieser Form ablehnt, schlägt er doch vor, Rechtssysteme als »soziale Zwangsordnungen* aufzufassen, und zwar derart, daß i n einer statischen Darstellung des Rechtssystems jede Norm als Ermächtigung eines Staatsorganes zu betrachten ist, eine Sanktion über jede Person zu verhängen, die eine bestimmte näher bezeichnete Handlung vollbringt. Die Ermächtigung zur Sanktionsverhängung kann jedoch von der Erfüllung verschiedenster Bedingungen abhängen. Ein Beispiel hierfür ist die „schematische" Formulierung der Norm betreffend die Rückzahlung von Darlehen: „Wenn zwei Individuen einen Darlehensvertrag abschließen, wenn weiters der Schuldner das Darlehen nicht zeitgerecht zurückzahlt und wenn schließlich der Gläubiger eine Klage gegen den Schuldner einbringt, so soll der Richter eine bestimmte Sanktion über den Schuldner verhängen 16 ." Obgleich Bentham und Kelsen der Ansicht sind und dies für wichtig halten, daß Gesetze Ermächtigungen erteilen, ist es ihrer Auffassung nach nicht notwendig, besondere Gesetze zu fordern, deren einzige normative Funktion die Erteilung rechtlicher Ermächtigungen ist. Ermächtigungen existieren aufgrund von Teilen von Rechtsregeln, die als 14 J. Raz, The Concept of a Legal System, Oxford 19802, insb. S. 4 - 6, 140 bis 165. 15 Vgl. J. Bentham, Of Laws i n General (hrsg. v o n H. L. A . Hart), London 1970, insb. S. 14. 16 Vgl. H. Kelsen, General Theory of L a w and State, New Y o r k 1945, S. 90. Z u m Begriff der ,statischen Darstellung des Rechts* siehe allgemein S. 3 - 109.

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ganze betrachtet immer und wesentlich die Auferlegung (oder den Widerruf) von Pflichten oder die Ermächtigung zur Setzung von Sanktionen enthalten. (Es zeigt sich, daß der zu Beginn dieses Abschnittes genannte mögliche Einwand einem wesentlichen Aspekt von Benthams und Kelsens Auffassung dieses Punktes entspricht.) Ich habe bereits einen praktischen Grund genannt, der gegen Benthams und Kelsens Thesen spricht, nämlich den, daß w i r u m der Einfachheit oder jedenfalls relativen Einfachheit Willen bei der Auslegung oder Anwendung des Rechts die ganze Masse des Rechtsstoffes i n einfache, aber offenbar zusammenhängende Einzelregeln zerlegen müssen; unsere institutionellen Termini ermöglichen uns dies, und zwar jeder Terminus innerhalb seines eigenen Bereiches. H. L. A. Hart wendet sich radikal und tiefschürfend gegen die Bentham / Kelsensche Auffassung, und zwar eher auf dem Niveau der theoretischen Analyse als vom Standpunkt der praktischen Nützlichkeit. Er hält es für einen schweren theoretischen Irrtum, und auch für die Praxis untolerierbar, darauf zu bestehen, daß jede vollständige Rechtsregel Pflichten auferlege oder Sanktionen festsetze, wobei jede Rechtsregel i n der Weise komplex sein kann, daß sie eine Ermächtigung oder Ermächtigungen erteilt aufgrund jener Bedingungen, von denen die Pflichten oder Sanktionen abhängig gemacht werden. Dies bedeutet nach Hart eine Überbetonung einer wichtigen Funktion des Rechts — nämlich seiner Funktion, Pflichten zu generieren — zu Lasten einer anderen Funktion, die für die Rechtsadressaten ebenso wichtig sein kann, und zwar jener, die es manchen Personen ermöglicht, unter bestimmten Umständen Änderungen gewisser rechtlicher Beziehungen willentlich herbeizuführen — kurz gesagt: der ermächtigenden Funktion des Rechts. Betrachten w i r ein Beispiel, das Hart selbst anführt: Das Wills Act [Testamentgesetz] befiehlt weder, noch zwingt es irgendwelche Personen, Testamente abzufassen oder sie gültig abzufassen. Vielmehr eröffnet es den Menschen die Möglichkeit, zu Lebzeiten die Wahl zu treffen, wer nach ihrem Tod i n den Genuß ihres Eigentums gelangen soll, und das Gesetz erzielt dies dadurch, daß es bestimmte rechtliche Konsequenzen an die Handlung der Abfassung eines gültigen Testamentes knüpft. Es gibt den Menschen die Möglichkeit, nach ihrer Wahl entweder durch bestimmte gesetzlich normierte A k t e gewisse Rechtsfolgen zu erzielen, oder ohne ihren Eingriff dem Recht seinen Lauf zu lassen. Ähnliches könnte bezüglich der Ermächtigung gesagt werden, die den Staatsorganen zusteht, allerdings m i t der Einschränkung, daß ihnen die Ausübung der Rechtsmacht unter gewissen Umständen durch das Gesetz als Pflicht auferlegt sein kann. Hart betont besonders die A r t und Weise, i n der die Leute das Recht i n dieser Hinsicht gewöhnlich wahrnehmen: „ M a n denkt und spricht

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über Ermächtigungsregeln anders als über Pflichten statuierende Regeln, und wendet sie i m sozialen Leben anders an; sie werden auch aus anderen Gründen geschätzt. K a n n es überhaupt andere Beweise für den unterschiedlichen Charakter der beiden A r t e n von Regeln geben 17 ?" Diese Begründung seiner theoretischen K r i t i k an Bentham und Kelsen scheint auf schwachen Beinen zu stehen. Denn sie hängt von einer prüfbaren, aber ungeprüften soziologischen Behauptung ab. Tatsächlich ist es doch so, daß w i r bei weitem nicht genug darüber wissen, wie die Leute i m allgemeinen das Recht wahrnehmen, oder inwieweit sie es verstehen. Unser Wissen darüber reicht also keineswegs aus, u m eine theoretische Erklärung der Struktur des Rechts auf eine solche Basis zu gründen. Was w i r als Juristen wissen, ist, wie Rechtsgelehrte das Recht tatsächlich auslegen und wie Juristen m i t dem Recht umgehen. W i r können zeigen, daß sie und auf welche Weise sie institutionelle Begriffe verwenden, u m ihren Stoff zu organisieren und i n handhabbare Einheiten zu zerlegen, und w i r können auch zeigen, daß dies die Herausbildung einer bestimmten Gruppe von Regeln gestattet, deren W i r k u n g darin besteht, den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, rechtliche Wirkungen i m Wege der Durchführung rechtlich normierter Handlungen zu erzielen. Die institutiven und einige terminative Regeln gewisser wichtiger Institutionen, z. B. von Verträgen, Testamenten oder Körperschaften, machen die Existenz wie auch gelegentlich die Beendigung der Existenz der Fälle der betreffenden Institution von der Ausführung eines Willensaktes abhängig. Solche Regeln sind Ermächtigungsregeln; die Ermächtigung, die sie erteilen, ist eine zur Schaffung oder Aufhebung von Fällen der Institution; daß ein regelkonformes Verhalten tatsächlich Rechtsfolgen nach sich zieht, folgt aus der Existenz der konsequentiellen Regeln jener Institutionen. Die juristische Praxis und deren Rechtfertigung aus dem Umstand ihrer Angemessenheit vermittelt somit etwas, das Harts soziologische Argumentation nicht leistet, nämlich eine sichere Grundlage, u m Ermächtigungsregeln als eine Teilklasse der institutiven und terminativen Regeln zu identifizieren. Aber die Tatsache, daß w i r dies nur dadurch erreichen können, daß w i r die institutionsbezogene Terminologie verwenden, macht es entgegen Harts Meinung eher unwahrscheinlich, daß der Laie i m allgemeinen einen klaren Begriff von Ermächtigungsnormen als einer besonderen Klasse von Rechtsregeln hat. Selbst nachdem R. L. Stevenson einen Großteil seiner Rechtskenntnisse vergessen hatte, konnte er sich daran erinnern, daß »stillicide* (das Abtraufen von Wasser auf ein Nachbargrundstück) ebensowenig ein Verbrechen ist wie 17 H. L. A . Hart, The Concept of Law, op. cit., S. 41 [Anm. d. Übers.: Meine Übersetzung.]

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»emphyteusis* (Erbpacht) eine Krankheit. I n dieser Hinsicht können w i r sicher annehmen, daß er einen klaren Vorteil gegenüber dem Mann i m Autobus nach Morningside hatte. Dem Durchschnittsbürger muß der Juristenj argon über trusts und Intestaterbfolge, vielleicht sogar auch über Verträge und Testamente, manchmal merkwürdig und undurchschaubar erscheinen. Studienanfängern der Rechtswissenschaften erscheint er gewiß so. Wenn der Mann i m Bus nach Morningside bei einem Unfall verletzt wird, dann mag er sehr überrascht sein, wenn er hört, daß zwischen i h m und der Transportgesellschaft ein Vertrag besteht, aber dieser Umstand wird, wie die Geheimwissenschaft der ,TicketFälle* überhaupt, sehr wichtig für seinen Anspruch auf Schadenersatz sein. Aus seinem Blickwinkel betrachtet w i r d das ganze Gerede von Verträgen nichts weiter sein als Juristenkauderwelsch, von seinen A n w ä l t e n ex post facto f a b r i z i e r t , u m z u beweisen, quod est

demonstran-

dum, nämlich, daß i h m eine Entschädigung zusteht. Der bestehende rechtliche Bezugsrahmen zwingt die Anwälte, die Angelegenheit so darzulegen, wie sie es tun, aber wer weiß, wie ihre Klienten das alles wahrnehmen? Es kann sein, daß für sie unsere Rechtstechniken nichts weiter sind als Teil eines Verschleierungsprozesses. Was unsere traditionellen Techniken der Interpretation und Ausarbeitung des Rechts sowie des praktischen Umgangs m i t i h m betrifft, so ist keinerlei Selbstzufriedenheit angebracht. W i r dürfen uns nicht m i t apriorischen Annahmen über die Weise, i n der Laien über das Recht sprechen oder denken, zufriedengeben. Wohl scheint es gute praktische Gründe für den juristischen Gebrauch von Institutionen als organisierenden Konzepten zu geben, aber es ist nicht ausgeschlossen, daß andere Formen der Darstellung gefunden werden können, die dem Bedürfnis des Juristen nach Einfachheit und vernünftiger Organisation gleichermaßen entsprechen. Gewiß bedarf es soziologischer Untersuchungen darüber, wie Laien das Recht verstehen und bis zu welchem Grade die Darstellungstechniken eher ein Hindernis als eine Hilfe für das klare Verständnis des Rechts bedeuten. Vielleicht sind sie kein Hindernis, und wenn sie es sind, so werden vielleicht keine praktikablen Möglichkeiten gefunden, sie zu umgehen (wie ich zu glauben geneigt bin). Aber w i r sollten jeden Alternativvorschlag bezüglich der Organisation und Darstellung des Rechts ernsthaft und kritisch i n Erwägung ziehen. Zwei Desiderata sind dabei zu beachten: das Recht sollte für jene, die m i t i h m arbeiten, leicht verständlich und vernünftig organisiert sein; und es sollte auch für alle Nicht-Juristen, deren Leben es j a reguliert, so gut wie nur möglich durchschaubar sein. Gegenwärtig können w i r i n keiner Weise entscheiden, wie weit das zweite Desiderat u m erfüllt ist und wie weit nicht.

D. Neil MacCormick Was ich bisher gesagt habe, deutet an, daß es einen wichtigen Zusammenhang gibt zwischen dem Gebrauch institutioneller Termini und der rechtstheoretischen Auffassung, daß manche Rechtsregeln Ermächtigungsregeln sind. Es w i r d sich als nützlich erweisen, wenn ich versuche, kurz die Natur dieser Verbindung und deren Implikationen anzudeuten. Zwei Punkte sind i n dieser Hinsicht wesentlich: 1. die Annahme wäre falsch, daß jede rechtliche Ermächtigung durch eine eigene Regel erteilt wird; 2. nicht jede institutive oder terminative Regel ist eine Ermächtigungsregel. Z u m ersten Punkt sei die Tatsache angeführt, daß die Zustimmung einer Person zu gewissen Formen des körperlichen Eingriffes durch eine andere Person die W i r k u n g hat, daß dieser Eingriff rechtmäßig w i r d — eine Tatsache, die für viele angenehme private und öffentliche Tätigkeiten rechtlich von wesentlicher Bedeutung ist —, obwohl der betreffende Eingriff ohne Zustimmung zivil- und strafrechtlich rechtsw i d r i g wäre. Dies gilt vom Küssen bis zum Freistilringen. Eine Person, die einem solchen physischen Eingriff ausgesetzt ist, verfügt daher — i n streng technischem Sinn — über eine rechtliche Macht: es hängt rechtlich von ihrer Entscheidung ab, ob die andere Person wegen der Verletzung der Pflicht, von körperlichen Angriffen Abstand zu nehmen, zur Verantwortung gezogen werden kann oder nicht. Durch die Zustimmung verwandelt er oder sie die rechtlich relevante Qualität der Handlung des anderen von einer Pflichtverletzung i n eine rechtmäßige Handlung. Es ist nun zu beachten, daß es absurd wäre anzunehmen, hierbei kämen zwei verschiedene Rechtsregeln zum Tragen, eine, welche die allgemeine Pflicht statuiert, nicht i n die körperliche Integrität anderer Personen einzugreifen, und eine zweite, welche Personen generell ermächtigt, an ihnen bestimmte Formen körperlicher Eingriffe vornehmen zu lassen. Was das Gesetz tatsächlich tut, ist, daß es als allgemeine Pflicht festsetzt, nicht i n die körperliche Integrität anderer Personen einzugreifen, es sei denn, m i t deren Zustimmung. Wenn w i r dafür eine ausdrückliche Regel formulieren wollen, dann müßte diese etwa so lauten: „Niemand darf i n die physische Integrität einer anderen Person eingreifen, es sei denn, daß — und nur insoweit als — die andere Person diesem Eingriff zustimmt." Eine solche Regel ist sowohl pflichtsetzend als auch ermächtigend, und es ist schwer, ja unmöglich, irgendeinen theoretischen oder praktischen Grund dafür anzugeben, warum man sie i n zwei separate Regeln aufspalten sollte, u m ihre pflichtsetzenden und ermächtigenden Teile voneinander zu trennen. Folglich w i r d nicht jede Rechtsmacht durch eine eigene Regel erteilt, q. e. d.

Das echt als institutionelle Tatsache

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Daraus folgt — und damit komme ich zu meinem zweiten Punkt —, daß nicht jede Rechtsvorschrift, derzufolge einer Person eine Rechtsmacht zusteht, notwendigerweise auch eine institutive oder terminative Regel einer bestehenden Institution ist. Oben wurde gezeigt, daß es nur i m Falle der institutiven oder terminativen Regeln, welche Ermächtigungen erteilen, möglich ist, eine Klasse von Regeln zu identifizieren, deren einzige normative Funktion i m Ermächtigen besteht. Es gibt viele rechtliche Institutionen, wie etwa den Vertrag, das Testament, das trust, die Körperschaft, j a auch die Gesetzgebung selbst, deren Fälle nur aufgrund von Willensakten Existenz erlangen; der Zweck institutiver Regeln ist es i n solchen Fällen, den Menschen die wohlerwogene Entscheidung zu ermöglichen, ob sie den rechtlichen Apparat solcherart i n Bewegung setzen wollen, daß die einschlägigen konsequentiellen Regeln zur Wirkung gelangen. (In welchem Ausmaße die Menschen tatsächlich wohlerwogene Entscheidungen treffen, ist, wie ich sagte, eine völlig andere Frage, die einer soziologischen A n t w o r t bedarf.) Jede institutive Regel, die eine solche Entscheidung ermöglicht, und deren Zweck es ist, die bewußte Herbeiführung der gewünschten rechtlichen Konsequenzen zu ermöglichen, ist eine Ermächtigungsregel 18 . Als solche muß sie festlegen, welcher Klasse von Menschen hinsichtlich der jeweiligen Institution die entsprechende rechtliche Fähigkeit, bzw. welcher spezifisch benannten oder genannten Gruppe von Personen die entsprechende Kompetenz zukommt; sie muß die erforderlichen Handlungen sowie gegebenenfalls alle erforderlichen Formalitäten festlegen; und schließlich muß sie die Umstände festlegen, die gegeben sein müssen, u m der Handlung Gültigkeit zu verleihen, wie auch allfällige hindernde Umstände, welche, falls sie gegeben sind, die Handlung ungültig machen. Die allgemeine Form einer institutiven Regel, die eine Rechtsmacht erteilt, kann schematisch folgendermaßen ausgedrückt werden: ,Wenn eine Person, die m i t den Qualifikationen q ausgestattet ist, eine Handlung a auf die Weise ρ ausführt, und wenn die Umstände c vorliegen, dann existiert ein gültiger Fall der Institution I.' Mutatis mutandis gilt das Gesagte auch von den terminativen Regeln, die ermächtigen, und es bestimmt auch die Struktur der ermächtigenden terminativen Regeln. Gewiß aber ist es nicht der Fall, daß jede institutive oder terminative Regel i m dargelegten Sinn eine Ermächtigungsregel ist. Als Beispiel 18 Diesbezüglich b i n ich zum T e i l Dr. Raz' Aufsatz " V o l u n t a r y Obligations and Normative Powers", Aristotelian Society Supplementary Volume X L V I (1972), S. 79 - 102, insb. S. 81, verpflichtet; i m vorliegenden Aufsatz modifiziere ich meine früheren, beim selben Symposium vorgebrachten Auffassungen (a.a.O., S. 77 - 78).

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wäre zu erwähnen, daß die Existenz eines Anrechts auf Intestaterbfolge lediglich vom Eintreten eines Ereignisses abhängt, davon nämlich, daß jemand stirbt, ohne ein gültiges Testament zu hinterlassen, was nicht immer — oder nicht einmal i n der Regel — ein bedachter Willensakt ist. Es wäre ganz entschieden befremdlich, die Gesetzgebung über die Intestatnachfolge als Ermächtigung zu konzipieren, sein Eigentum durch seinen Tod anderen zu übertragen. Gleichfalls wurde schon festgestellt — u m ein anspruchsvolleres Beispiel zu erwähnen —, daß nicht alle Kriterien für die Existenz gültiger Rechtsregeln i n allen Systemen so dargestellt werden können, als ermächtigten sie irgend jemanden zur Gesetzgebung. Die Verfassung einer ehemaligen Kolonie, die nunmehr ein unabhängiger Staat ist, kann festsetzen, daß alle Gesetze des Mutterstaates, die am Unabhängigkeitstag i n Kraft waren, i m neuen Staat als gültige Gesetze i n K r a f t bleiben, bis sie ausdrücklich oder implizit durch neue Gesetzgebung aufgehoben werden. Dies würde ein Gültigkeitskriterium für die Rechtsregeln des neuen Staates darstellen, zugleich aber nicht implizieren, daß irgendein Angehöriger des Mutterstaates nach dem Unabhängigkeitstag i m neuen Staat legislative Macht hätte. Ähnlich verhält es sich auch m i t den Schriften von Lord Stair , die i n Schottland eine zwar untergeordnete, aber autoritative Rechtsquelle darstellen, wie wohl Stair i n Schottland niemals wirkliche Gesetzgebungsmacht hatte. Entsprechendes gilt auch für terminative Regeln. Daß Verträge durch Wegfall der Geschäftsgrundlage erlösdien können, bedeutet gewiß nicht, daß irgend jemand die Befugnis hat, sie auf diese Weise zum Erlöschen zu bringen, denn wenn der Wegfall von i h m selbst herbeigeführt wird, handelt es sich u m keinen Wegfall der Geschäftsgrundlage i m eigentlichen Sinn; daß Ehen durch den Tod eines Ehegatten enden, bedeutet nicht, daß jemandem die Befugnis zukommt, seine Ehe durch Tötung seines Ehegatten zu beenden; und wenn Gesetze durch Nichtanwendung obsolet werden können, so w i r d hierdurch keine Ermächtigung zur Aufhebung durch desuetudo erteilt, obwohl diese Bestimmung dem politischen Kräftespiel i n der Gesellschaft i n kluger Weise Rechnung trägt; usw. Zusammengenommen demonstrieren die beiden eben besprochenen Punkte, daß die einfache Unterscheidung zwischen Regeln, die Ermächtigungen erteilen, und solchen, die Pflichten auferlegen, allein keine zureichende Grundlage für die Erklärung der Struktur von Rechtssystemen ist, denn manche Regeln haben beide Funktionen und andere wiederum keine von beiden. Eine Klasse von rein ermächtigenden Rechtsregeln können w i r nur dann finden, wenn w i r zunächst unsere institutiven und terminativen Regeln identifizieren, und sodann unter-

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scheiden zwischen jenen, die Willensakten Wirksamkeit verleihen, und jenen, die dies nicht tun. Derart könnte sich ein Weg zur Lösung einer Schwierigkeit eröffnen, die verschiedene Kommentatoren von Harts „Der Begriff des Rechts" moniert haben, nämlich daß er die von i h m getroffene Unterscheidung zwischen primären und sekundären Regeln an manchen Stellen jener zwischen pflichtsetzenden und ermächtigenden Regeln gleichsetzt, während an anderen Stellen deutlich wird, daß nicht alle Sekundärregeln als Ermächtigungsregeln verstanden werden können. Ich möchte m i t dem gebotenen Respekt zu bedenken geben, ob es nicht vorteilhafter wäre, den Begriff der Sekundärregel so zu definieren, daß er die gesamte Gruppe der von m i r als ,institutiv 4 und ,terminativ 4 bezeichneten Regeln der Institutionen umfassen würde. U m aber allfällige Mißverständnisse zu vermeiden, muß ich hier sogleich hinzufügen, daß ich nicht jede ,konsequentielle Regel4 jeder Institution als pflichtsetzende Regel verstehe. Betrachten w i r den Fall, daß jemand Eigentümer eines Grundstückes ist; eine der Folgen, daß er Eigentümer des Grundstückes ist, besteht darin, daß i h m die Rechtsmacht zusteht, es zu verpfänden oder ein Servitut — wie ζ. B. ein Wegerecht für den Eigentümer des Nachbargrundstücks — zu errichten. Dies w i r d durch Regeln ermöglicht, welche bezüglich des Eigentums konsequentiell, hingegen bezüglich des Pfandrechts oder des Servituts institutiv sind. Man kann viele ähnliche Beispiele finden, und sie zeigen alle, wie Institutionen i n komplexe Ketten zusammengeschlossen sind, fast biologischen Molekülen vergleichbar. Eine Aufgabe — vielleicht die Aufgabe — der analytischen Rechtsphilosophie ist es, die Struktur rechtlicher Systeme zu erklären. Zu diesem Unternehmen gehört es wesentlich, die Unterscheidungen und Beziehungen zwischen verschiedenen Typen von Regeln deutlich zu machen. Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen Regeln, die ermächtigen, und solchen, die das nicht tun. N u n glaube ich nicht, daß diese Unterscheidung ohne Bezugnahme auf den Begriff der Rechtsinstitutionen i n dem von m i r vorgeschlagenen Sinn zufriedenstellend oder klar getroffen werden kann, und ich meine, daß eine Bezugnahme auf diesen Begriff auch andere und gleichfalls wichtige Unterscheidungen und Beziehungen zu klären erlaubt. Mehr noch: Würden w i r uns damit zufrieden geben, den Begriff des Rechts so darzulegen, als umfasse er eine Menge von Regeln, die i n der Zeit als „gültige" Rechtsregeln existieren, dann würde uns dies zu der Auffassung führen, daß das Recht wesentlich ein institutioneller Begriff i m philosophischen Sinn sei, der als Menge von institutiven Regeln (,Erkennungsregeln 4 , die nicht alle Ermächtigungsregeln sind), konsequentiellen Regeln und terminativen Regeln verstanden werden müßte. Ich habe schon ange7 MacCormick / Weinberger

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merkt, daß ich diese Auffassung für untragbar halte. Einen der Gründe dafür, warum ich sie für falsch halte, werde ich n u n darzulegen versuchen, und zwar indem ich die Frage diskutieren werde, m i t welchem Bestimmtheitsgrad institutive Regeln festgelegt werden können. 3. Das Transzendieren von institutionellen Tatsachen Es besteht die Gefahr, daß die von m i r i n den vorangegangenen beiden Abschnitten dargelegte Auffassung so verstanden werden könnte, als glaubte ich an einen formalistischen Himmel von Institutionen, die jede ein Paket von Regeln umfassen würde, welche alle Rechtsfragen säuberlich lösen könnten. Das wäre freilich ein höchst unrealistischer Glaube, und ich vertrete i h n auch nicht. Gleichwohl meine ich, daß niemand, der sich ernsthaft m i t dem Thema beschäftigt, die Wichtigkeit institutioneller Begriffe wie Vertrag, trust, Ehe, Körperschaft, Testament, Übereignung, etc. für das Funktionieren des Rechts i n Abrede stellen könnte. Wenn dem so ist, dann muß es eine gewisse Übereinstimmung darüber geben, wie unter jene Begriffe fallende Fälle Zustandekommen. Es muß einige allgemein akzeptierte Kriterien dafür geben, wann ein Vertrag, ein trust usw. existiert, und ebenso Übereinstimmung über die Konsequenzen aus der Existenz rechtlicher Institutionen bestehen, wie auch darüber, i n welcher Weise sie aufgegeben werden können. Die zur Diskussion stehende Frage betrifft somit die Klarheit und Selbstständigkeit der Regeln, nicht aber die Möglichkeit, die relevanten institutiven, konsequentiellen und terminativen Regeln m i t nicht allzu großer Vagheit und Offenheit der Struktur festzusetzen. Welchen Grad der Klarheit von Rechtsregeln sollen w i r voraussetzen? Die elementare A n t w o r t lautet: da das Recht vom Menschen und für den Menschen geschaffen wurde und nicht der Mensch vom und für das Recht, soll dieses so klar sein, wie es für die Menschen nützlich ist, und nicht klarer. Von grundlegender Bedeutung scheint somit nicht zu sein, daß die Kriterien für die Existenz der einzelnen Fälle von Institutionen i n jedem Fall absolut klar und unelastisch sein müssen, sondern daß sie dies hinsichtlich mancher Fälle sein sollten. Menschen, die i n ehrlicher Absicht und mit gebührender Sorgfalt den Versuch unternehmen, Häuser zu mieten und zu kaufen, zu heiraten oder Gesellschaften zu errichten, sollten i n praktisch allen Fällen i n der Lage sein, i h r Vorhaben ohne die geringste Wahrscheinlichkeit eines Fehlschlages zu realisieren. Dies bedeutet ζ. B. für institutive Regeln, daß sie zumindest — und vielleicht auch höchstens — klar machen müssen, worin die normalerweise notwendigen Bedingungen bestehen, u m

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einen Mietvertrag zu vereinbaren oder eine Übereignung zu vollziehen, eine Ehe zu schließen oder eine Gesellschaft zu gründen; und ebenso sollten zumindest für diese zentralen Fälle des Rechtslebens die wesentlichsten Konsequenzen k l a r sein. Betrachten w i r den konkreten Fall eines Mannes, der ein Haus kauft. Jedermann weiß, daß sowohl i n Schottland als auch i n England Verträge über den Kauf und Verkauf von Liegenschaften schriftlich abgeschlossen oder zumindest schriftlich beurkundet werden müssen — eine wesentliche Voraussetzung, die ich als ,prozedurale Formalität 4 bezeichnet habe —, und selbst nachdem ein gültiger und angemessen beurkundeter Vertrag errichtet ist, muß ein formaler Übereignungsakt durchgeführt werden, u m den Käufer v o l l zum rechtlichen Eigentümer des Hauses zu machen. Es gibt also für den ehrlichen, nach Eigentum strebenden Bürger Schritte, welche ihn, wenn er sie unternimmt, ein unbestreitbares legales Eigentum an dem Haus erlangen lassen; Schritte, die jeder Rechtsanwalt auswendig kennt. Keinesfalls kann ein Käufer scheitern, wenn er alle diese Schritte unternimmt. Was aber, wenn er das nicht tut? Was geschieht, wenn er als ehrlicher, aber irregeleiteter Laie die Gebühren für die Liegenschaftsübertragung sparen w i l l und i m Wirtshaus m i t dem Verkäufer mündlich vereinbart, das Haus für £ 10 000 zu kaufen, an Ort und Stelle einen gültigen Scheck über diese Summe ausstellt, am nächsten Tag einzieht und sogleich das Haus zu renovieren beginnt — dies alles m i t Wissen und Zustimmung des Verkäufers? Oberflächlich betrachtet, hat er nicht einmal einen gültigen (oder, i n England, einen durchsetzbaren) Vertrag über den Kauf des Hauses, geschweige denn, daß er zum Eigentümer des Hauses geworden wäre. Aber so einfach ist das nicht; denn sowohl i n Schottland als auch i n England haben die Gerichte Möglichkeiten gefunden, trotz des Beglaubigungsgesetzes [Authentication Acts] und der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften [des Statute of Frauds] solch ehrlicher Einfalt wenig stens teilweise zu Hilfe zu kommen. Dem dringenden Bedürfnis nach Gerechtigkeit und fairen Geschäften Rechnung tragend, haben die Gerichte i n Schottland durch den Grundsatz des rei interventus und i n England durch den Grundsatz der teilweisen Erfüllung i n gutem Glaub e n [part

performance

in equity ] die gesetzlich v o r g e s c h r i e b e n e n F o r -

malitäten teilweise umgangen, und zwar i n einer Weise, die durch den Zweck, dem jene Maßnahmen dienen, vollkommen gerechtfertigt ist. Wenn der Fall so liegt, wie ich i h n geschildert habe, werden schottische wie englische Gerichte zumindest hinsichtlich der ursprünglichen Vertragspartner, ein Urteil auf genaue Vertragserfüllung [decree of specific implement ; 7*

decree of specific performance]

aussprechen, e i n U r t e i l , das

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den Verkäufer zwingt, die Übereinkunft dadurch einzuhalten, daß er die formgerechte Übereignung durchführt 1 9 . Wie kann ich m i t diesem Fall fertig werden? Eine simple, aber bloß zum Teil korrekte A n t w o r t besteht i n dem Hinweis darauf, daß diese Grundsätze genau bestimmte Ausnahmen von den formalen Gültigkeitsbedingungen der zur Diskussion stehenden Klasse von Verträgen geschaffen haben. Diese A n t w o r t ist jedoch zu simpel, und sei es n u r deshalb, weil Entscheidungen neueren Datums i n beiden Systemen 20 die Auffassung nahelegen, daß die beiden Grundsätze sowie die ihnen zugrundeliegenden Prinzipien i n keiner Weise ihre Rolle verloren haben. W i r können und sollten den gegenwärtig geltenden Bereich von Ausnahmen klarlegen, aber es wäre töricht, dabei anzunehmen, daß dieser Bereich nicht schon morgen erweitert (oder auch eingeengt) werden könnte. Das Recht ist hier, wie i n sovielen Bereichen, für manche Fälle jenseits wahrscheinlicher oder legitimer Änderungen k l a r festgelegt, während es für manche andere Fälle der Erweiterung oder selbst der Einengung zugänglich ist. Man kann die hier zu Tage tretende Schwierigkeit vermeiden, indem w i r von unserem Schema 21 ,Wenn eine Person, die m i t den Qualifikationen q ausgestattet ist, eine Handlung a auf diese Weise ρ ausführt, und wenn die Umstände c vorliegen, dann existiert ein gültiger Fall der Institution I nicht fordern, daß es m i t der Präzision des Logikers als eine ,dann und nur dann . . /-Regel, die notwendige und hinreichende Bedingungen festlegt, anzusehen ist. Jene Regel sollte vielmehr so gelesen werden, daß sie bestimmt, was w i r als ,gemeinhin notwendige* oder ,erwartungsgemäß notwendige 1 Bedingungen der Gültigkeit bezeichnen können. Diese Bestimmungen sind für die Gültigkeit notwendig, außer i n solchen Fällen, für welche gezeigt werden kann, daß es gerechtfertigt ist, auf ihre Anwendung wegen schwerwiegender, auf rechtlichen Prinzipien beruhender Argumente zu verzichten oder hinsichtlich einiger von diesen Bestimmungen Ausnahmen zu machen, und daß keine ähnlich schwerwiegenden Gegenargumente gegen ein solches Vorgehen vorgebracht werden können. Ebenso, wie w i r nicht sicher sein können — und auch nicht sicher zu sein brauchen —, daß die von uns als notwendig festgelegten Gültigkeitsbedingungen i n allen Fällen fraglos notwendig sind, ebenso kön19 I m schottischen Recht k ö n n t e n unter Umständen gewisse schriftliche Unterlagen über das Geschäft erforderlich sein. 20 Ζ. B. i n Schottland Errol v. Walker [1966] S. C. 93, u n d i n England Wäkeham v. Mackenzie [1968], 2. A l l E. R. 783. 21 Siehe oben, S. 95.

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nen w i r auch nicht sicher sei, daß sie i n jedem Fall hinreichend sind. Der alte New Yorker Fall Rîggs v. Palmer 22, der von Professor Dwork i n 2 3 den britischen Rechtsgelehrten bekanntgemacht wurde, liefert ein zur Vorsicht mahnendes Beispiel. Der verstorbene Erblasser hatte ein Testament i n Übereinstimmung m i t allen Vorschriften des Erbrechtsgesetzes [Wills Acts] abgefaßt, und zwar zum Zeitpunkt der Abfassung volljährig und geistig gesund. Der Beklagte, nach dem Testament seines Großvaters der Haupterbe, brachte vor, daß aus dem Gesetz notwendig folge, er habe nach dem unbestreitbar gültigen Testament ein unaufhebbares Recht auf die Erbschaft. Die souveräne Geltung des Rechts stünde auf dem Spiel, meinte er. Der einzige Haken an diesem anscheinend wohlformulierten, klipp und klaren Argument war nur die Tatsache, daß die Ursache für den Tod des Erblassers der Umstand war, daß er vom Beklagten ermordet wurde. A u f diesen Umstand wiederum verwiesen die Kläger vor Gericht zur Begründung ihres Begehrens, das Testament nicht zu vollstrecken. Das Gericht entschied schließlich m i t Mehrheitsbeschluß, daß das Testament unter diesen Umständen nicht als gültig zugunsten des Beklagten anzusehen sei. Als Urteilsbegründung verwies es auf das i m common law geltende Prinzip „Niemand darf aus betrügerischen Handlungen Nutzen ziehen, oder aus seinem Delikt Vorteil gewinnen, oder auf sein eigenes Unrecht Ansprüche gründen, oder Eigentum durch Verbrechen erwerben." Die Existenz dieses etablierten Prinzips des common law rechtfertigte es, die Ermordung des Erblassers durch den Beklagten als Anfechtungsgrund des augenscheinlich gültigen Testaments gelten zu lassen, obwohl keine entsprechende Klausel Bestandteil des gesatzten Rechts war. Dies ist also ein konverser Fall zu dem des Hauskaufes, bei dem die Gerichte unter Rückgriff auf bestimmte Prinzipien manche Verträge als gültig oder durchsetzbar behandelt haben, obgleich diese nicht den statuierten Formalerfordernissen entsprachen. I m Fall Riggs w i r d ein sich auf Prinzipien stützendes Argument dafür verwendet, u m eine entgegengesetzte Folgerung zu rechtfertigen, nämlich diejenige, daß ein Testament ungültig sein könne, obwohl es alle ausdrücklichen rechtlichen Erfordernisse erfüllt. Dabei handelt es sich keineswegs u m einen Einzelfall. U m nur einen Rechtszweig zu erwähnen: das Verwaltungsrecht strotzt geradezu von Fällen, i n denen Entscheidungen, die von den zuständigen Organen i n Übereinstimmung m i t allen ausdrücklich gesetzlich statuierten Erfordernissen gefällt worden waren, vom Gericht wegen irgendeines Mangels i n den Umständen oder der A r t und Weise des Zustandekommens der Entscheidung aufgehoben wurden, und zwar 22

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115 Ν . Y . 506, 22 Ν . E. 188 (1889).

Op. cit., S. 11, η. 2.

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unter Hinweis auf allgemeine Rechtsprinzipien. So w u r d e i m Falle Malloch v. Aberdeen Corporation 24 die Entlassung eines Lehrers durch die Erziehungsbehörde v o n Aberdeen wegen seiner Weigerung, dem General Teaching Council for Scotland beizutreten, f ü r nichtig erklärt, u n d zwar aufgrund des Umstandes, daß er weder angehört, noch i h m die Möglichkeit gegeben worden sei, seine Sicht der Sachlage v o r dem Ausschuß f ü r das Erziehungswesen [education committee] darzulegen, während die Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit forderten, daß er anzuhören gewesen wäre, bevor eine gültige Entscheidung über seine Entlassung hätte gefällt werden dürfen. Diese Prinzipien, so wurde ausgeführt, müßten als Prinzipien verstanden werden, welche die ausdrücklichen Bestimmungen der relevanten Gesetzgebung näher bestimmen (dies auch aus dem Grund, w e i l verschiedene ausdrückliche Gesetzesbestimmungen n u r dann als konsistent erscheinen, w e n n m a n v o n dem Grundsatz ausgeht, daß Lehrer i n Disziplinarverfahren, die sie selbst betreffen, anzuhören sind). Die Feststellung ist w o h l k a u m übertrieben, daß die ganze richterliche Kontrolle der Tätigkeit der V e r w a l tungsbehörden i n der richterlichen Ausarbeitung u n d A n w e n d u n g allgemeiner Rechtsprinzipien besteht, die als Rechtfertigung eines offenen Bereiches v o n Ausnahmen namhaft gemacht werden können, die i n den gesatzten i n s t i t u t i v e n Regeln der Verwaltungspraxis, der Entscheidung u n d der Gesetzgebung impliziert sind. Diese Unabgeschlossenheit des Bereiches der Ausnahmen, die durch den Hinweis auf natürliche Rechtsprinzipien, auf Ermessensmißbrauch usw. gerechtfertigt werden, ist n u n jener Faktor, der jeden Versuch scheitern läßt, die ausdrücklichen i n s t i t u t i v e n Regeln so darzustellen, als enthielten sie notwendige u n d hinreichende Bedingungen f ü r gültige Rechtssprechung der Gerichte oder anderer Instanzen. Selbst w e n n w i r f ü r jede bestehende I n s t i t u t i o n der V e r w a l t u n g die gesetzlichen Bestimmungen niederschreiben würden, einschließlich a l l jener Ausnahmen, welche bisher v o n den Gerichten i n diesen oder analogen Fällen getroffen wurden, könnten w i r nicht darauf vertrauen, daß es uns gelänge, die hinreichenden Bedingungen f ü r die Gültigkeit einer E n t scheidung oder eines Aktes einer delegierten Normsetzung aufzulisten. Wer hätte w o h l i n v o l l e m Vertrauen bezüglich der apellationsgerichtlichen Entscheidung i m Falle Anisminic v . Foreign Compensation Commission 25 vorausgesagt, daß es f ü r ein Gericht möglich wäre, die E n t scheidung der Kommission f ü r nichtig zu erklären m i t der Begründung, sie sei ungültig, w e i l die Kommission irrelevante Fragen i n Erwägung gezogen habe? Oder auch, daß es so einfach sein könnte, auf diese Weise 24 25

1971 S. L. T. 245; [1971] 2 A l l e E. R. 1278. [1969] 2 A . C. 147.

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dem Paragraph 4 des Foreign Compensation Act, 1950, auszuweichen, welcher festlegt: „Entscheidungen der Kommission über alle Anträge, die i m Sinne dieses Gesetzes an sie gerichtet werden, können vor k e i nem Gerichtshof angefochten werden?" Sicherlich nicht der parlamentarische Gesetzgeber. Die wesenhafte Unabgeschlossenheit des Bereiches solcher auf allgemeinen Prinzipien beruhenden Ausnahmen beschränkt sich n u n aber keineswegs auf Angelegenheiten des öffentlichen Rechts. E i n Beispiel ist i m englischen Recht die E n t w i c k l u n g der Lehre v o n der schuldlosen Angabe unrichtiger Tatsachen als Nichtigkeitsgrund, der die A n u l l i e rung v o n Verträgen rechtfertigt, oder auch für Schottland die parallele Entwicklung einer ähnlichen Rechtsdoktrin, die unter den umfassenderen Begriff des »Irrtums* subsumiert w i r d . Analoge Beispiele sind die kürzlich erfolgten Erweiterungen des Begriffes des grundlegenden I r r tums [fundamental mistake] i m englischen Recht 2 6 , oder die hauptsächlich auf Lord Denning 27 zurückgehende Entwicklung des Begriffs des ,Billigkeitsirrtums* [mistake in equity]. U n d es wäre töricht anzunehmen, daß die Kategorien des wesentlichen I r r t u m s [essential error] i m schottischen Recht endgültig abgeschlossen waren. Wenn w i r uns dem Fall der terminativen Regeln zuwenden, u n d die E n t w i c k l u n g des Begriffs der Vereitelung oder des (nach w i e v o r augenscheinlich u n v o l l ständigen) Begriffes des wesentlichen Vertragsbruches verfolgen, so können w i r feststellen, daß es an keinem P u n k t i n der E n t w i c k l u n g dieser Gedanken, deren Entwicklung auch noch weiter gehen w i r d , möglich gewesen wäre, m i t Sicherheit präzise notwendige u n d h i n r e i chende Bedingungen für die Vertragsbeendigung anzugeben. Es ergibt sich somit, daß keine auch noch so detaillierte Formulierung der institutiven Regeln einer I n s t i t u t i o n so verstanden werden kann, als stelle sie eine vollständige Aufzählung der hinreichenden Bedingungen für die gültige Entstehung eines Falles der I n s t i t u t i o n dar; ebensowenig wie die Bedingungen angegeben werden können, die alle i n allen Fällen notwendig wären. Jede solche Formulierung einer Regel muß m i t dem Vorbehalt der Möglichkeit weiterer Ausnahmen gelesen werden; w e n n w i r realistisch bleiben wollen, müssen w i r sie i m Lichte relevanter u n d bereits etablierter sowie möglicher neuer Rechtsprinzipien lesen, die auf Vorstellungen über den Zweck der jeweiligen I n s t i t u t i o n i m K o n t e x t sich stets wandelnder sozialer Bedingungen u n d Werte beruhen. Es k a n n keine endgültige Formulierung solcher Regeln geben. Wenn w i r uns nochmals unserer Formel zuwenden: 26

Vgl. Magee v. Pennine Insurance Co. Ltd. [1969] 2 Q. B. 507. Vgl. G. C. Cheshire / C. M . Fifoot / M. P. Furmston, The L a w of Contract, London 198110, S. 226 - 228. 27

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,Wenn eine Person, die m i t den Qualifikationen q ausgestattet ist, eine Handlung a auf die Weise ρ ausführt, u n d w e n n die Umstände c vorliegen, dann existiert ein gültiger F a l l der I n s t i t u t i o n Γ , so müssen w i r einsehen, daß die Bedingungen der Gültigkeit, die anscheinend durch eine solche Regel festgelegt werden, niemals mehr als mutmaßlich hinreichend sein können. Insbesondere müssen w i r , w e n n w i r die erforderlichen Umstände bedenken, darauf achten, daß sie stets ein Postulat des NichtVorliegens von Nichtigkeitsgründen — w i e Betrug, Nötigung, I r r t u m usw. — einschließen. A b e r es gibt keinen G r u n d zu der Annahme, daß die Klassen der Nichtigkeitsgründe jemals abgeschlossen sind. Es ist i m m e r möglich, daß die Gerichte einen i n s t i t u t i v e n A k t aufgrund eines Faktors f ü r nichtig erklären, v o n dem bis dahin nicht festgelegt war, daß i h m diese W i r k u n g zukommt. Z u r E r k l ä r u n g des Begriffes der »mutmaßlich hinreichenden' Bedingungen ist folgendes zu sagen: Insoweit zu einem bestimmten Z e i t p u n k t das statute oder das common law klare Erfordernisse f ü r die Gültigkeit eines Rechtsaktes festlegt, soll jeder A k t , der diesen Erfordernissen entspricht, als g ü l t i g angenommen werden, soferne er nicht i n Frage gestellt w i r d ; eine solche Infragestellung muß sich entweder auf die Behauptung stützen, daß die rechtlichen Erfordernisse nicht „ w i r k l i c h " e r f ü l l t seien, d. h. enger oder weiter als bisher definiert werden sollten (vgl. Magee v. Pennine Insurance), oder darauf, daß das Vorliegen eines weiteren Umstandes die G ü l t i g k e i t des Aktes oder der I n s t i t u t i o n nicht i g mache (vgl. Riggs v. Palmer). Die Last, ein solches Verfahren i n Gang zu setzen, obliegt zumeist jener Partei, welche die Existenz des Vertrages, Testamentes, u. ä., bestreiten w i l l , u n d ebenso trägt sie faktisch auch zunächst die Beweislast. Mutmaßlich hinreichende Bedingungen sind n u r dann u n d soweit hinreichend, als sie nicht aufgrund einer anderen Interpretation oder wegen der Anerkennung neuer auf Prinzipien gestützter Nichtigkeitsgründe bestritten werden. Somit behaupte ich, daß die i n s t i t u t i v e n Regeln i n der Weise aufzufassen sind, daß sie üblicherweise notwendige u n d mutmaßlich h i n reichende Bedingungen f ü r die Existenz oder gültige Erzeugung eines spezifischen Falles einer I n s t i t u t i o n festlegen. Sicherlich garantieren die so konzipierten Regeln ein solches Maß an Gewißheit f ü r die Organisation einer komplexen Gesellschaft, das notwendig ist oder wenigstens wünschenswert erscheint. Diese Auffassung der Regeln gewährleistet meiner Ansicht nach auch die erforderliche F l e x i b i l i t ä t u n d Fähigkeit der Anpassung des Rechts an die sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen u n d Werte, w i e dies f ü r ein

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Rechtssystem ebenso notwendig ist wie Bestimmtheit der Normen. Vor allem aber scheint meine Auffassung den Tatsachen zu entsprechen, daß Begriffe wie trust, Testament, Vertrag, Gesellschaft, usw. i m Recht eine einigermaßen k l a r umrissene Bedeutung haben; daß Menschen, die sorgfältig zu Werke gehen, i n der Tat unanfechtbare Fälle der betreffenden Institutionen errichten können, obwohl gleichzeitig zu jedem Zeitpunkt i n vielen Bereichen des Rechts ein bemerkenswerter Grad an Flexibilität und Unvorhersehbarkeit besteht. Tatsächlich gibt es keinen Rechtsbereich, für den w i r letzteres jemals m i t Sicherheit ausschließen können. Aber wenn w i r nach allem, was ich zu zeigen versucht habe, sehen, wie die notwendige Flexibilität des Rechts von der Erarbeitung und Anerkennung neuer politischer Argumente und Prinzipien abhängt, dann sehen w i r zugleich, daß der Begriff des Rechts nicht einfach als institutioneller Begriff i m philosophischen Sinn festgesetzt werden kann, der lediglich die Gültigkeitskriterien und die dadurch gültigen Regeln bestimmt. W i r verfügen weder über Gültigkeitskriterien für Rechtsprinzipien, noch verfügen w i r daher über eine Unterscheidung zwischen gültigen und ungültigen Rechtsprinzipien. Es besteht sicherlich eine Beziehung zwischen Rechtsprinzipien und Rechtsregeln bzw. Institutionen. Prinzipien drücken die zugrundeliegenden Zwecke detaillierter Regeln und spezifischer Institutionen i n dem Sinne aus, daß sie diese als konsistente, kohärente und erwünschte Ziele rational erscheinen lassen. Somit stellen die Rechtsprinzipien jenen Schnittpunkt dar, an dem Regeln und Werte zusammentreffen. Sehen w i r zu, wie man die Existenz eines Prinzips i n einem Rechtssystem behaupten kann! Ziehen w i r nochmals das von Professor Dwork i n entlehnte Beispiel heran, und fragen w i r uns, wie es kommt, daß das Prinzip „Niemand darf aus seinem Delikt Vorteil ziehen" i n einem bestimmten Rechtssystem zu einer bestimmten Zeit tatsächlich als Prinzip Geltung hat oder auf vernünftige Weise als geltend ausgewiesen werden kann. Dazu müssen — so scheint es — wenigstens zwei Bedingungen erfüllt sein: 1. daß die Personen, deren Aufgabe es ist, das Rechtssystem i n Gang zu halten, es für ein erstrebenswertes Ziel ansehen, den Mißbrauch des Rechts zu verhindern, der dadurch entsteht, daß ein ungerechtfertigter Vorteil aus scheinbaren Rechtsgründen erlangt werden könnte; 2. daß es innerhalb des Rechtssystems einige Rechtsregeln gibt, die bewirken, daß einzelne Individuen davon abgehalten werden, unter spezifischen Umständen rechtliche Vorteile durch unehrliche M i t t e l zu erlangen. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, dann ist die Behauptung vernünftig, daß das Rechtssystem das betreffende Prinzip anerkennt. Durch diese Behauptung bringt man zum Aus-

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druck, daß eine spezifische Form einer rationalen Beziehung zwischen den ins Auge gefaßten Regeln besteht, nämlich daß sie darauf abzielen, denselben Zweck zu erfüllen, und zugleich statuiert man eine Norm, die durch ihren generellen Charakter die Aufstellung neuer Regeln oder neuer Ausnahmen von etablierten Regeln i n neuen Zusammenhängen rechtfertigen kann. Das geschah gewiß i m Fall Riggs v. Palmer; es mag hier auch nützlich sein, auf ein anderes Beispiel zu verweisen, nämlich das Argument, welches Lord A t k i n i m Fall Donoghue v. Stevenson 28 verwendet hat, u m das »neighbour principle* als generelle Grundlage der deliktischen Haftung auch für fahrlässige Handlungen zu begründen. So betrachtet ist die Behauptung richtig, daß allgemeine Rechtsprinzipien die Zwecke von Rechtsregeln und rechtlichen Institutionen betreffen. W i r können aber die Wirkungsweise von Zwecken und Werten i m Recht nicht erörtern, ohne zugleich auch den anderen Sinn, i n dem das Recht institutionell ist und den ich den soziologischen Sinn genannt habe, ins Auge zu fassen. Regeln als solche verfolgen keinen Zweck, es sei denn i n dem Sinn, daß die Menschen ihnen Zwecke zuschreiben. Die Möglichkeit, dies zu tun, hängt von der Funktionsweise der m i t dem Recht beschäftigten sozialen Institutionen ab, und davon, daß sie institutionelle Zwecke und Werte haben, die nicht notwendig identisch sind m i t den individuellen Zwecken und Werten der einzelnen beteiligten Personen. Hinsichtlich der Gesetzgebung ist die Entscheidung, welche Politik durch welche legislativen M i t t e l zu verfolgen ist, gewiß i n erster Linie Sache der Parlamente und Regierungen. Aber die Funktion, das angemessene, harmonische und sachgerechte Funktionieren des Rechts i n der konkreten Anwendung zu sichern, ist Aufgabe der Gerichte par excellence; sie w i r d — je nach deren Eigenart — von Rechtspraktikern und akademischen Juristen unterstützt und begünstigt, wie auch — i n etwas diffuserer Weise — von Rechts- und Sozialphilosophen sowie Forschern aus den verschiedenen Disziplinen. A u f diese Weise läßt sich das Recht selbst i m Bereich seiner rein normativen Sinndimension nicht i n die Grenzen des Bereiches gültiger Regeln bannen. Die Regeln als institutionelle Tatsachen machen nicht das ganze Recht aus, obgleich sie, zumindest i n entwickelten Systemen, ein einzigartig gewichtiger Teil davon sind. Es scheint somit klar, daß die A r t , i n der die generellen Prinzipien den Regeln übergeordnet sind und diese dadurch zu einem kohärenten Ganzen zusammenfassen sowie Erweiterungen oder Neuerungen i n anderen Bereichen rechtfertigen, nur erklärbar ist, wenn w i r ein umfassendes Verständnis für die Wirkungsweise der sozialen Institutionen 28

1932 S. C. (H. L.) 31, 43 - 46; [1932] A . C. 562, 578 - 583.

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erwerben, denen die Aufgabe zukommt, das Recht zu schöpfen, aufrechtzuerhalten, zu interpretieren, anzuwenden und durchzusetzen. A n dieser Stelle mag der Philosoph immer noch Fragen stellen, aber u m sie zu beantworten, w i r d er entweder selbst Soziologe werden oder warten müssen, bis seine Kollegen von der Soziologie i h m die Antworten geben. Das zweite Verfahren scheint das angemessenere, das bescheidenere zu sein, und u m bescheiden zu sein, werde ich mich einstweilen m i t einer bescheidenen Schlußfolgerung zufriedengeben: viele wichtige Elemente des Rechts können m i t Gewinn als institutionelle Tatsachen i m philosophischen Sinn angesehen werden, aber w i r können nicht das ganze Recht i n diese Kategorie zwängen; i n mancher Hinsicht kann es nur als institutionelles Phänomen i m soziologischen Sinn verstanden werden. Die Jurisprudenz ist ein gemeinsames Abenteuer von Juristen, Philosophen und Soziologen — und so muß es auch bleiben.

OTA WEINBERGER

Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen Eine logisch-methodologische Überlegung zu einem Grundlagenproblem der Sozialwissenschaften 1. Problemstellung Wenn man i m Kontext gesellschaftswissenschaftlicher, historischer oder geisteswissenschaftlicher Überlegungen den Begriff der Tatsache analysiert, dann hat man gewöhnlich solche Fragen i m Sinne, wie „Was ist ein historisches Faktum?" 1 , „Was sind soziale Tatsachen?". Hierbei geht es i m wesentlichen u m die für die Methodologie der Geschichtsund Sozialwissenschaften wichtige Frage der Relevanz der verschiedenen Momente des Geschehens für die Charakterisierung des untersuchten historischen, sozialen oder geistigen Phänomens. Probleme dieser A r t sind aber nicht der Gegenstand dieser Untersuchung. Es geht hier nicht u m die Gewichtung verschiedener Tatsacheninformationen für das adäquate Erfassen von sozialen und historischen Phänomenen, sondern u m eine logische und erkenntnistheoretische Betrachtung über die Struktur von Tatsachen sowie über die Formen und Methoden ihrer Beschreibung. Unsere Problematik ist fundamentaler als die Frage der Bestimmung der Relevanz von Tatsacheninformationen i m Rahmen gegebener gesellschaftswissenschaftlicher oder historiographischer Problemstellungen, denn es muß offenbar erst geklärt werden, was Tatsachen sind und wie sie beschrieben werden können, bevor man die Frage nach ihre Relevanz stellen kann. Ich werde versuchen darzulegen, welche Strukturen Tatsachen haben können, wie diese Strukturen bestimmt werden und durch welche A r t e n von Beschreibungen sie wissenschaftlich dargestellt werden können. Es geht m i r also u m die Frage eines adäquaten Frameworks für Tatsachenbeschreibungen 2 . Es ist mein Anliegen, eine gewisse metho1 Z u m Problem der historischen Fakten siehe ζ. Β . K . Acham, Analytische Geschichtsphilosophie, Freiburg, München 1974, insbes. S. 45 ff. 2 Ich w i l l m i t meinen Darlegungen keineswegs behaupten, daß es genau ein solches Framework gibt. Es ist m. E. durchaus sinnvoll, i m Sinne v o n Stephan Körner verschiedene Rahmen der empirischen Erfahrung zuzulassen, doch glaube ich, daß gewisse fundamentale Differenzierungen, die durch

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dologische und beschreibungstechnische Typologie der Tatsachen vorzulegen und erkenntnistheoretisch plausibel zu machen. A m zweckmäßigsten erscheint mir, i m Rahmen dieser Untersuchungen von einer Unterscheidung auszugehen, die i m wesentlichen der SearZeschen Unterscheidung zwischen ,brute facts* (,rohen Tatsachen1) und institutional facts* (institutionellen Tatsachen*) entspricht 3 . I m einzelnen werde ich meine Überlegungen i n folgender Weise gliedern: Rohe Tatsachen und deren Beschreibung (Abschnitt 2) Menschenabhängige Tatsachen und ihre Beschreibung (Abschnitt 3) Typologie der praktischen Sätze und Begriffe (Abschnitt 4) Konsequenzen für die methodologische Grundauffassung der Gesellschaftswissenschaften (Abschnitt 5). 2. Rohe Tatsachen und ihre Beschreibung Ich muß mit einer terminologischen Anmerkung beginnen: Searle spricht von ,brute facts*, denen er die »institutional facts* gegenüberstellt. Der deutsche Ubersetzer übersetzt diese Termini m i t »natürliche Tatsachen* und »institutionelle Tatsachen*. Ich möchte den Ausdruck »natürliche Tatsachen* meiden, u m nicht die anderen Tatsachen als unnatürlich oder als nicht zur natürlichen Welt gehörig hinzustellen. M i r geht es i m Gegenteil darum, zu unterstreichen, daß das Menschliche, Institutionelle und das Psychische als Bestandteile der natürlichen realen Welt aufzufassen sind. Ich bleibe daher bei der wörtlichen Übersetzung ,rohe Tatsachen*. Da ,rohe Tatsache* bisher kaum als Terminus der deutschen Umgangs- oder Wissenschaftssprache verwendet wird, kann diese Bezeichnung als philosophischer Fachausdruck eingeführt werden. Der gegenübergestellte Begriff institutionelle Tatsachen* ist für meine Darlegungen zu eng. Es geht m i r nicht nur u m solche Tatsachen, die i n einer gesellschaftlichen Gruppe institutionalisiert sind, sondern auch u m die Rudimente, die zu Institutionen werden können, und u m alles, was als Gegenstand unserer Betrachtung i n praktischer Perspektive steht, das heißt, was handlungs-, zweck- oder wertbezogen ist. Ich spreche i n Ermangelung eines besseren Terminus von ,menschdie Gegenüberstellung v o n rohen Tatsachen u n d menschlichen Tatsachen ausgedrückt werden, i n einer gewissen — eventuell modifizierten — Weise auch bei der W a h l eines anderen Frameworks erhalten bleiben. Vgl. St. Körner, Erfahrung u n d Theorie, F r a n k f u r t / M . 1970; ders., Categorial Frameworks, Oxford 1974. 3 J. R. Searle, Speech Acts. A n Essay i n the Philosophy of Language, Cambridge 1969; deutsch: ders., Sprechakte. E i n sprachphilosophischer Essay, F r a n k f u r t / M . 1971.

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abhängigen Tatsachen*; gelegentlich werde ich auch den Searleschen Terminus verwenden, nämlich dort, wo keine Gefahr besteht, daß er zu eng gedeutet werden könnte. E i n Gegenstand (ein System) kann dadurch beschrieben werden, daß die Teile angegeben werden, aus denen der Gegenstand besteht (resp. dadurch, daß die Elemente angegeben werden, die das System bilden). Den Teilen oder Elementen können Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie charakterisieren und von anderen A r t e n von Gegenständen unterscheiden. Da die Bestimmung, was Gegenstand und was Teil ist, als relativ anzusehen ist, kann natürlich auch der Gegenstand (oder das System) durch Eigenschaftszuschreibung charakterisiert werden. Diese Eigenschaften können als extensionale oder intensionale Bestimmung verstanden werden. Die extensional gedeuteten Eigenschaften E i und E2 sind genau dann identisch, wenn jedem Gegenstand, dem E i zukommt, auch E2 zukommt, und jedem Gegenstand, dem E i nicht zukommt, auch E2 nicht zukommt. Die Erkenntnis der extensionalen Identität von Eigenschaften ist von unserem Wissen abhängig. Die Feststellung, daß die Eigenschaft »ein-gleichseitiges-Dreieck-sein* extensional identisch ist m i t ,ein-gleichwinkeliges-Dreieck-sein', ist von unserem geometrischen Wissen abhängig. Das intensionale Verständnis der Eigenschaften ist der gewöhnlichen Erkenntnissituation näher: w i r erfassen — ζ. B. durch unsere Sinne — Gegenstand A und Gegenstand Β (gegebenenfalls: ein und denselben Gegenstand, sagen w i r A , i n zwei verschiedenen Zeitpunkten) als i n einer gewissen Eigenschaft E i als gleich, wenn w i r A und Β nach dem Merkmal E i nicht unterscheiden können. Stellen w i r aber fest, daß A die Eigenschaft E i hat, Β die Eigenschaft E2 — ζ. B.: daß das Dreieck A gleichseitig ist, das Dreieck Β gleichwinkelig — dann bleiben E i und E2 verschiedene Eigenschaften, weil sie unterschiedliche Erkenntniskriterien angeben, auch dann, wenn es sich zeigt, daß sie extensional identisch sind. Da es für die Wissenschaftssprache erforderlich ist, auch über mögliche Welten zu sprechen, wobei i n manchen von ihnen extensionale Übereinstimmung der Eigenschaften E i und E2 bestehen und i n anderen nicht bestehen kann, scheint es erforderlich, den Eigenschaftsbegriff primär intensional zu fassen 4. Unser praktisches Denken macht Sachverhaltsbeschreibungen erforderlich, die eine Beschreibung von Dingen i n der positiv gegebenen 4 W o m i t aber nicht ausgeschlossen werden soll, daß die intensional aufgefaßten Eigenschaften eventuell extensional — z . B . durch Heranziehung des Begriffs eines Systems möglicher Welten — expliziert werden können.

Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen Welt überschreiten. Insbesondere gilt dies von teleologischen Überlegungen, i n denen w i r alternative Möglichkeiten i n Erwägung ziehen müssen. M i t den angeführten M i t t e l n kann eine Bestandsbeschreibung gegeben werden, eine Abbildung also, die w i r als Report über eine beobachtete oder beobachtbare Entität (einen Gegenstand, ein System) verstehen. Tatsachenbeschreibung ist nicht nur abbildende Bestandsdarstellung: sie w i r d durch Einbeziehen der Zeitdimension eine Beschreibung von Vorgängen (Zustandsabfolgen). I m Prinzip handelt es sich immer u m den Übergang des Gegenstandes, seiner Teile (des Systems, seiner Elemente) vom Zustand Z i zu einem Zustand Z2 i m Verlaufe der Zeit von i i zu Î2. Die Beschreibung von Vorgängen hängt also von der Zeitkoordinate ab, die durch die Zeitskala gegeben ist. Die Darstellung der Vorgänge, d. h. die Veränderung eines Gegenstandes oder Systems, kann aufgrund einer kontinuierlichen oder aufgrund einer diskontinuierlichen Zeitskala beschrieben werden. Die diskontinuierliche Skala kann beliebig verfeinert werden und es läßt sich immer eine solche verfeinerte Skala finden, die verschiedene Einteilungen zusammenfaßt. Empirisch ist die Zustandsabfolge (Trajektorie) i n der Regel eine diskontinuierliche Trajektorie, die durch vorausgesetzte Interpolation als Beschreibung eines kontinuierlichen Ablaufs angesehen w i r d 5 . Man kann noch gewisse andere Eigenschaften der Trajektorien angeben, ζ. B. Zyklizität, Diskontinuität, u. a. Die bisher angeführten Deskriptionen umfassen eigentlich alles, was als positiv bestehend beschrieben werden kann. Es besteht aber kein Zweifel, daß über einen Gegentand (ein System) sehr viel mehr gesagt werden kann, und daß man — wenn man Wissenschaft betreiben und solches Wissen erlangen w i l l , an dem man sein Handeln orientieren kann, — über die Wirklichkeit mehr aussagen muß. Das Verhalten der Gegenstände oder untersuchter Systeme ist abhängig von Umständen und von Einwirkungen auf diese Gegenstände (Systeme). Es ist eine Charakteristik des betrachteten Gegenstandes, wenn gesagt wird, wie er sich verhält, wenn die Umstände abgewandelt werden. W i r beschreiben also die materiale Wirklichkeit nicht nur durch die Darstellung der wirklichen — vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen — Zustandsabläufe, sondern auch durch die Angabe von Möglichkeiten, die w i r m i t Hilfe von Dispositionsprädikaten ausdrücken. 5 Diskontinuität des Verhaltens k a n n durch den Nachweis der Existenz interpolierter Zeitpunkte, denen die interpolierte Veränderung nicht entspricht, nachgewiesen werden.

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Wenn w i r auf einen Gegenstand durch verschiedene Inputs einwirken, kann sich seine Verhaltenstrajektorie je nach dem Input i n verschiedene Wege gabeln. Die alternativen (möglichen) Verhaltensweisen des Gegenstandes charakterisieren ihn, sie können als seine Eigenschaften angesehen werden. Wenn ich einen Eisenstab habe und von i h m sage, daß ich, wenn ich an einem Ende eine Stromquelle anschließe, den Strom am anderen Ende ableiten kann, habe ich eine Beschreibung des Eisenstabes — und zwar über sein potentielles Verhalten — gegeben, auch wenn dieser Stab niemals an eine Stromquelle angeschlossen wurde (noch werden wird). Diese Eigenschaft unterscheidet i h n ζ. B. von einem Glasstab, der den Strom nicht leitet. Die Möglichkeiten der Entwicklung des Gegenstandes (Systems) sind also als seine Eigenschaften anzusehen. Aussagen über Möglichkeiten des Gegenstandes (Systems), die i n der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft bestehen, sind seine Eigenschaften, mögen die Umstände des Wirklichwerdens dieser Verhaltenstrajektorie eintreten (eingetreten sein) oder nicht. Es ist hier nicht der Ort, die Struktur der Dispositionsprädikate und die m i t den Possibilitätsaussagen (Dispositionsaussagen) verbundenen methodologischen Probleme — ζ. B. die Frage der Erkenntnisgrundlage und der Wahrheitsbedingungen oder die logische Struktur solcher Aussagesätze — i m einzelnen zu diskutieren. Es genügt uns zu unterstreichen, daß solche Prädikationen Beschreibungen wirklicher Gegenstände (Systeme) sind; w i r sprechen dabei also über materiale Tatsachen, aber nicht über Tatsachen i m positivistischen Sinne des faktischen Geschehens. Wenn man die Tatsachen i m positivistischen Sinne versteht, sind diese Erkenntnisse fakten-(wirklichkeits-)transzendent. U m die Verwendung des Wortes ,Tatsache4 i n zweierlei Bedeutung zu vermeiden, nämlich: (a) Tatsache als wahrer Sachverhalt, (b) Tatsache als Sachverhalt, der unter gewissen Umständen wahr wird, können w i r übereinkommen, alles, was als Charakteristik der wirklichen Welt dient, als Tatsachenbeschreibung anzusehen; dementsprechend ist eine Tatsache das gegenständliche Pendant jeder wahren Tatsachenbeschreibung, auch jener, die bedingte Sachverhalte beschreibt. Neben den wirklichen Zuständen und Vorgängen — ihre Gesamtheit bildet die (materiale) Welt (die Wirklichkeit) — gibt es faktentranszendente Tatsachen. Die Kenntnis dieser Tatsachen ist essentiell für unser Wissen über die Welt und unsere praktische Orientierung i n der Welt. I n gewisser Weise verwandt m i t den Dispositionsprädikaten sind stochastische Eigenschaften, die w i r Gegenständen (Klassen von Gegenständen) zuschreiben, wie etwa m i t der Behauptung „Die Halbwertszeit von 2 3 8 U beträgt 4,49.10® Jahre".

Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen Zur Beschreibung von rohen Tatsachen gehören auch nomische Aussagen. Sie sagen etwas aus über Verhaltenstrajektorien, indem sie m i t nomischer Allgemeinheit an gewisse A r t e n von Ausgangsbedingungen die Nachfolge von Zuständen knüpfen, ggf. auch das nomisch notwendige Zusammenbestehen von Eigenschaften (Zuständen) zum Ausdruck bringen. Die nomische Aussage ist eine empirisch motivierte und empirisch bewährte Setzung einer Wesensrelation zwischen Zuständen von Gegenständen (Systemen) 6 ; die nomische Aussage charakterisiert die Wirklichkeit generell, und damit auch den einzelnen Gegenstand oder das betrachtete System. Die nomische Aussage ist erfahrungs- und faktentranszendent 7 , doch ist sie gleichzeitig eine Tatsachenbeschreibung. Sie drückt eine Tatsache aus; man kann sagen: eine Wesenstatsache der materialen Wirklichkeit, wobei die Bezeichnung dieser Tatsache als Wesenstatsache m. E. nichts anderes besagt, als daß durch die Setzung der Gesetzesaussage m i t nomischer Allgemeingültigkeit ihre bestimmende Kraft für die gedankliche Konstruktion empirisch möglicher Welten gegeben wird. Empirisch möglich erscheinen nur jene Systeme von Sachverhaltsbeschreibungen, i n denen die nomischen Aussagen i n der realen Welt wahr sind. Wenn w i r ein wissenschaftliches Gesetz anwenden wollen, müssen w i r den Gegenstand, auf den w i r es anwenden, als ein solches Objekt erkennen, das die Subsumtionskriterien erfüllt. Dies geschieht i m Prinzip durch Wahrnehmungen, die w i r von dem Gegenstand haben. Wenn w i r ζ. B. einen Eisenstab vor uns haben, erkennen w i r i h n als solchen nach der Farbe, dem spezifischen Gewicht usw. Erst dann, wenn w i r durch Beobachtungen festgestellt haben, daß es ein Eisenstab ist, können w i r auf diesen Gegenstand das Gesetz anwenden, daß Eisen ein guter Leiter des elektrischen Stromes ist. Es kann nun der Fall eintreten, daß die möglichen Verhaltensweisen des Gegenstandes i n der Zukunft abhängig sind von vergangenen Zuständen des Gegenstandes, und von Einflüssen, die auf i h n eingewirkt haben, ohne daß sich die i m Augenblick direkt beobachtbaren Eigenschaften geändert hätten. Der Eisenstab könnte ζ. B. magnetisiert worden sein, was seine weitere Verhaltensweise ändert, ohne daß w i r es i h m direkt ansehen. Es gibt viel Fälle, wo frühere Einflüsse die zukünftige Verhaltensweise eines Gegenstandes oder Systems verändern, ohne daß es ihre β Vgl. N. Rescher, Lawfulness as Mind-dependent, i n : ders. (Hrsg.), Essays i n Honor of Carl G. Hempel, Dordrecht 1969, S. 178 - 197. 7 Vgl. Ο. Weinberger , Der nomische Allsatz, i n : Grazer Philosophische Studien 4 (1977), S. 31 - 42; ders., K o n t r a f a k t u a l i t ä t u n d Faktentranszendenz. V e r such, die L o g i k der faktentranszendenten u n d kontrafaktualen Bedingungssätze m i t den M i t t e l n der extensionalen L o g i k zu behandeln, i n : Ratio, Bd. 16 (1974), S. 13 - 28; ders., Faktentranszendente Argumentation, i n : Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, V I / 2 (1975), S. 235 - 251.

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jetzige Erscheinungsweise erkennbar verändert. Diese Konstellation des Objekts (Systems) und der Möglichkeiten, es zu erfassen und sein Verhalten zu prognostizieren, nennt man ,Gedächtnis4. Es bedeutet eine gewisse Komplikation der empirischen Erkenntnis, denn i n solchen Fällen sind die Bedingungen, an die die Kausalfolgen anknüpfen, nicht i n dem Zeitpunkt der Beobachtung gegeben, sondern eine Reihe von Prozessen der Vergangenheit t r i t t als bestimmendes Moment der Kausalfolge auf. Ich möchte unterstreichen, daß das Gedächtnis i n dem oben angegebenen Sinne zwar ein breites Anwendungsfeld i n der Psychologie, i n der Soziologie sowie i n Gebieten des Geistes und der K u l t u r hat, doch ist es prinzipiell bloß eine Modifikation der allgemeinen Beschreibungs- und Bestimmungsweise von realen Systemen, und kommt daher auch als Charakteristik physikalischer Systeme vor.

3. Menschabhängige Tatsachen und ihre Beschreibung Menschabhängige Tatsachen sind Tatsachen, wie das Bestehen des Staates, der Religion, der Kirche, von gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen, von Lebensgewohnheiten, der Wissenschaften, ferner mehr oder minder stabilisierte gesellschaftliche oder individuelle Verhaltensmuster u. ä. Zu den menschabhängigen Tatsachen gehören auch das Wissen, die Kulturtatsachen usw. Ich behaupte nun, daß zu einer angemessenen Beschreibung der menschabhängigen Tatsachen die Mittel der Darstellung roher Tatsachen, die ich i m Abschnitt 2 beschrieben habe, nicht hinreichen. Zur Darstellung institutioneller Tatsachen ist es unerläßlich, praktische Begriffe heranzuziehen: den Begriff der Handlung, den Begriff der praktischen Sätze (in Gegenüberstellung zu den Aussagesätzen), die es ermöglichen, Sollenscharakteristiken, Wertcharakteristiken und teleologische Relationen auszudrücken. Daß die institutionellen oder menschabhängigen Tatsachen Besonderheiten gegenüber den rohen Tatsachen darstellen, entspringt der Eigenart des Menschen, ein handelndes Wesen zu sein, und der Tatsache, daß er ein Zoon politikon ist, das i n Gemeinschaften lebt und m i t seinen Mitmenschen kooperiert. Da Handeln und Kooperieren von Informationsverarbeitungsprozessen abhängen, müssen institutionelle Tatsachen als Rahmen des menschlichen Lebens bestehen, und sie umfassen neben rohen Tatsacheninformationen notwendigerweise auch Sollund Wert-Informationen.

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Es gilt nun zu beweisen, daß Beschreibungen von der A r t , wie ich sie für die Charakterisierung der rohen Tatsachen angeführt habe, die institutionellen Tatsachen nicht vollständig charakterisieren können. Meine These lautet: Durch Beobachtung des Verhaltens der Menschen i n einer Institution — ζ. B. i m Staat, i n der Familie, bei einem Spiel — kann keine vollständige Charakteristik der Institution gewonnen werden. Nehmen w i r als Beispiel das Schachspiel. Durch beliebige ausgedehnte Beobachtung von Schachspielern kann man zwar Verhaltensregularitäten i n der Tätigkeit des Schachspielens erkennen und als Verhaltensgesetze ausdrücken, die teils deterministischen, teils stochastischen Charakter haben werden. W i r können aber nicht alle normativ gegebenen Possibilitäten des Schachspiels erkennen, wenn einige Möglichkeiten von den Spielern niemals durchgeführt werden, ζ. B. weil sie strategisch äußerst ungünstig sind. W i r können behavioristisch nicht erkennen, ob ein Spieler einen unerlaubten Zug macht, oder ob i n der gegebenen Stellung (und vielleicht nur i n dieser) z.B. m i t dem Rössel auch ein Sprung über zwei Felder nach vorne und zwei Felder zur Seite zulässig ist, denn daß alle anderen Spieler i n derselben Situation einen anderen Zug gemacht haben, könnte ζ. B. durch die Tatsache verursacht sein, daß sie den besonderen Rösselzug für strategisch ungünstig angesehen haben. Überhaupt besteht keine Möglichkeit, zwischen unzulässigen Zügen und strategisch ungangbaren Zügen ohne normative Regulative zu unterscheiden. Man kann allein aus dem Verhalten der Spieler nicht erkennen, was beim Schachspiel als „Gewinnen" angestrebt wird. Analog gilt für alle institutionellen Tatsachen, daß sie nicht ohne normative Bestimmungen vollständig charakterisiert werden können. Es genügt zur Charakteristik von Institutionen und von menschlichem Verhalten i n ihnen nicht, Verhaltenstrajektorien und Regularitäten anzugeben, man muß auch Soll-Charakteristiken heranziehen 8 . Die normativen Regeln, die zur Charakteristik institutioneller Tatsachen herangezogen werden, müssen nicht explizit formuliert sein; sie sind es zwar meist, nämlich beim ius scriptum und auch beim Gewohnheitsrecht, soweit es i n der Entscheidungspraxis oder i n der Jurisprudenz ausdrücklich dargestellt ist. Sie müssen aber nicht bewußt und artikuliert bestehen. Es genügt, wenn sie als Regeln m i t Sollenscharakter tatsächlich wirken, d. h. wenn das entsprechende Verhalten als gesolltes Verhalten angesehen wird. Die rechtswissenschaftliche Erkenntnis muß auch diese nur implizit bestehenden Regeln i n sprachlicher Formulierung darstellen. 8 Ich lasse die Frage ausdrücklich offen, ob dieses begriffliche Instrument a r i u m für die Darstellung aller menschabhängigen Tatsachen hinreichend ist.



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Wenn meiner These über die institutionellen Tatsachen zugestimmt wird, muß der nächste Schritt die Einführung einer gnoseologisch differenzierten Semantik als Basis der Beschreibung menschabhängiger Tatsachen sein. I n dieser Semantik unterscheidet man theoretische (rein beschreibende) und praktische Sätze. Entsprechend der Unterscheidung von Satzkategorien w i r d man auch deskriptive und praktische Begriffe unterscheiden. Die philosophische Analyse w i r d von dem Postulat ausgehen, daß der gnoseologisch-semantische Charakter jedes Satzes, jedes Teilsatzes, jedes Begriffes und jedes Begriffselementes klar bestimmt werden muß. 4. Typologie der praktischen Sätze und Begriffe Es gibt zweifellos Gegenstände und Begriffe, i n denen beschreibende und praktische Elemente verknüpft sind, ebenso wie es Sprechakte gibt, i n denen eine Äußerung gleichzeitig beschreibende und auffordernde, ggf. wertende Funktion hat. Aufgabe der Analyse ist es, diese Komponenten analytisch zu trennen und die Verschiedenheit der gedanklichen Zusammenhänge je nach dem semantischen Charakter der Elemente klar darzustellen. Es werden verschiedene A r t e n praktischer Sätze eingeführt und dieser Artunterscheidung entsprechend verschiedene formale Systeme von gedanklichen Beziehungen entwickelt werden. Ich denke insbesondere an (1) die Normsätze, (2) die Wertsätze, und zwar die einstelligen und die zweistelligen Wertsätze (diese sind Präferenz- und Wertgleichheitssätze), (3) die Forderungssätze. Diesen Satzarten entsprechen folgende logische Theorien: (1') die Normenlogik, (2') die formale Axiologie und die Präferenzlogiken, (3') die formale Teleologie. Es ist wichtig, k l a r zwischen den A r t e n der praktischen Sätze und der ihnen entsprechenden Begriffe (Prädikate) zu unterscheiden. Die Unterscheidung ist notwendig, obwohl zwischen den praktischen Sätzen verschiedener A r t und den zugehörigen Theorien gewisse Beziehungen bestehen. I n der Praxis w i r d diese Unterscheidung aber leider wegen der noch recht mangelhaften Entwicklung dieser Disziplinen oft vernachlässigt. Man darf z.B. nicht eine Sollensbestimmung m i t einer Wertprädikation gleichsetzen, denn eine Norm (ein Sollsatz) hat nicht die gleiche Bedeutung wie ein Wertsatz; und die logischen Beziehungen und Operationen, die Gegenstand der Normenlogik sind, sind andere als jene, die von der formalen Axiologie dargelegt werden. Analoges gilt für die Beziehung zwischen Normenlogik und Teleologie, sowie für jene zwischen Axiologie und Teleologie.

Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen Wenn m a n von praktischen Bestimmungen als Charakteristiken institutioneller Tatsachen spricht, taucht das Problem auf, i n welcher Weise diese Bestimmungen tatsächlich sind; das heißt: i n welcher Weise Normen, Werte u n d Ziele (Zwecke) reale Tatsachen sind, i n welcher Weise u n d i n welchem Sinne ihnen Existenz (Dasein) zukommt, u n d i n welcher Weise i h r Dasein erkannt o d e r / u n d getestet werden kann. Rohe Tatsachen sind genau dann w i r k l i c h (existent, da), w e n n den entsprechenden Sachverhalt darstellende Aussagesatz w a h r Wenn es sich u m materiale Tatsachen handelt, k a n n m a n sagen, sie genau dann bestehen, w e n n sie i n Raum u n d Zeit existieren, w e n n die Sachverhaltsbeschreibung dem Phänomen i n Raum u n d entspricht.

der ist. daß d.h. Zeit

Bei Bestimmungen praktischen Charakters ist das Realsein (ebenso wie bei geistigen Phänomenen — der d r i t t e n Welt Karl R. Poppers oder des geistigen Seins bei Nicolai Hartmann ö) ein Dasein nicht i m Raum, sondern bloß i n der Z e i t 1 0 . Praktische Charakteristiken sind keine beobachtbaren Eigenschaften von realen Gegenständen oder Systemen. W i r können sie nicht durch unsere Sinne wahrnehmen, w i e etwa die Farbe, die Härte oder die F o r m v o n Gegenständen. W i r können sie auch nicht m i t physikalischen Instrumenten feststellen oder messen. Praktische Bestimmungen sind gedanklich-inhaltlicher Natur, sie können nicht gezeigt (d. h. ostensiv verständlich gemacht werden), sondern sie müssen verstanden werden. Es t r i t t hier also i m m e r ein hermeneutisches Problem auf. Es sind dann zwei A r t e n zu unterscheiden, über Normen, Werte u n d Zwecke zu sprechen: m a n spricht über sie rein als Sinngebilde — so wie m a n z. B. über Propositionen oder Begriffe als Idealentitäten sprechen k a n n —, oder m a n spricht über Normen, Werte u n d Zwecke als Tatsachen, d. h. als reale Charakteristik v o n daseienden Gegenständen (Personen) oder Systemen 1 1 . W i l l man v o n menschabhängigen Tatsachen sprechen — u n d dies ist für die Sozialwissenschaften, für die Geschichts- u n d Geisteswissenschaften unerläßlich —, dann darf m a n den Begriff der Existenz (des 9 K. R. Popper, Objective Knowledge. A n Evolutionary Approach, Oxford 1973, Kap. 4: On the Theory of the Objective Mind. N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, B e r l i n 1933, S. 15 ff., 66 ff., 175 ff. 10 Vgl. N. Hartmann, a.a.O., S. 85 ff. et passim; ders., Der Aufbau der realen Welt, B e r l i n 1940, S. 62 f. et passim. 11 Vgl. O. Weinberger, Die N o r m als Gedanke u n d Realität, in: Österr. Zeitschrift für öffentl. Recht 20 (1970), S. 203 - 216. Abgedruckt i n diesem Band S. 60 - 75.

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Daseins) nicht so fassen, daß ex definitione Existenz nur materialen Gegenständen zugesprochen werden kann. (Dies wäre dann der Fall, wenn man Dasein m i t materiellem Sein gleichsetzen und physikalische Beobachtbarkeit als ausschließliches Daseinskriterium festlegen würde 1 2 .) W i r fassen also den Begriff des Daseins (und der Realität) so, daß auch Idealentitäten Dasein zugesprochen werden kann, wenn sie als seiend i n der Zeit betrachtet werden und wenn sie i n Wirkungszusammenhängen m i t der materialen Realität stehen. Als real bezeichnen w i r alles, was Dasein i n der Zeit hat, wobei die Erkenntnisgründe und Daseinskriterien i n den einzelnen Sphären der Realität verschieden sein werden. Wenn es u m materielles Realsein geht, w i r d sich die Erkenntnis letztlich auf Sinneserfahrung stützen, wenn ideelle Gegenstände betrachtet werden, w i r d i h r Realsein durch die Bindung an die Sphäre der materiellen Realität begründet sein und durch die Tatsache, daß die Idealentitäten als Bestandteil des realen Geschehens, als etwas i n der Zeit Daseiendes erfaßt werden. Es könnte vielleicht der Eindruck entstehen, daß diese Konzeption der Realität, die auch den Idealentitäten reales Dasein zuspricht, eine idealistische Auffassung sei oder wenigstens zum Idealismus hinführe. Dies ist meines Erachtens keineswegs der Fall. Es ist nicht allein entscheidend, ob man einen weiteren oder engeren Realitätsbegriff einführt — dies ist weitgehend Konventionssache —, sondern entscheidend sind die weiteren Festsetzungen, die m i t dieser Begriffsapparatur verbunden werden. A u f dem Böden der von m i r akzeptierten Terminologie w i r d die materielle Realität von den Idealentitäten genauso scharf getrennt, wie bei einer Terminologie, die nur das Materielle als Realität ansieht. Der begriffliche Rahmen, von dem ich ausgehe, ermöglicht es, die verschiedenen Beziehungen und Zusammenhänge zwischen materieller Realität und gedanklichen Entitäten besser i n den Griff zu bekommen. Gerade der Umstand, daß man das reale Dasein der Idealentitäten an die Zusammenhänge m i t materiellen und beobachtbaren Vorgängen knüpft, gestattet uns, einerseits die Idealentitäten als unleugbare Gegebenheiten zu verstehen und sie andererseits als W i r k lichkeiten aufzufassen, ohne dazu verleitet zu werden, sie platonisierend zu konzipieren. Idealentitäten als Bestandteile der Tatsachenwelt des Menschen und der menschlichen Gesellschaft sind unabdingbar, wenn w i r das Wesen des Menschen, der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Einrichtungen verstehen wollen. Wenn w i r Ideales und Materiales nicht durch eine absolute K l u f t trennen, sondern i n ihren Wechsel12 Die begriffliche Einschränkung auf Beobachtbares könnte bei zu enger Deutung auch i n der Physik wegen der bekannten Rolle der Konstruktbegriffe auf Schwierigkeiten stoßen.

Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen beziehungen studieren, so führt dies sicherlich nicht zu einem spekulativen Idealismus, sondern zu einer realistischen Weltauffassung. Idealentitäten, wie: Begriffe, Propositionen, Normen, Werte, Zwecke, können dann als gedankliche Inhalte mit gewisser Struktur betrachtet werden — i n dieser Perspektive sind auch die logischen Beziehungen und Operationen zu untersuchen —, oder man betrachtet i h r Realsein. I n diesem Falle sind sie mit materiellen Gegenständen und Systemen verknüpft: sie sind Bestimmungsstücke der Vorgänge und daher Tatsachen. Die Verbindung zwischen ideellem Sein und der materiellen Realität w i r d vor allem durch zwei A r t e n von Verbindungsgliedern geschaffen: (a) durch die sogenannten Akte, d. h. tatsächlich beobachtbare Vorgänge, die gleichzeitig durch ihren ideellen Inhalt charakterisiert sind: hierher gehören psychische A k t e (Erkenntnisakte, Willensakte) und Akte, deren Charakter durch institutionalisierte Regulative bestimmt wird, insbesondere Rechtsakte u. ä.; (b) durch solche beobachtbare Relationen, die es ermöglichen, nicht nur materiellen Gegenständen, sondern auch Idealentitäten zeitliche Koordinaten zuzusprechen, d. h. ihr Dasein auch zeitlich zu determinieren. I m einzelnen ist der Wirklichkeitsbezug der Normen, Werte und Zwecke verschieden. Immer ist es jedoch möglich, wenn Normen, Werte oder Zwecke (Zwecksysteme) als Tatsachen auftreten, ihnen zeitliche Koordinaten zuzuordnen und Entstehungs- oder/und Wirkungsbeziehungen zwischen diesen Idealentitäten und materiell-realen Vorgängen aufzuweisen. Was heißt gesellschaftliche Existenz oder reales Dasein von Normen? Die Existenz der Normen ist durch die Verflechtung m i t beobachtbaren Realitäten, gesellschaftlichen Einrichtungen, dem Verhalten der Menschen und der Existenz entsprechender Bewußtseinsakte gegeben, aber das Realsein der Normen, i n dem Sinne, i n dem ich vom gesellschaftlichen Dasein der Normen spreche, ist von diesen beobachtbaren Realitäten verschieden: die gesellschaftliche Norm ist eine an und für sich verstehbare Idealentität. Setzungsakte, ζ. B. Befehlsakte oder A k t e der rechtlichen Normerzeugung, sind etwas anderes als die kreierte Norm. Die durch Willensakte erzeugte Norm ist ein selbständiger Gegenstand. Sie hat andere zeitliche Bestimmungen: der Erzeugungsakt kann als punktuell angesehen werden oder er hat wenigstens einen zeitlichen Endpunkt, die entstandene Norm gilt für ein darauffolgendes Zeitintervall. Die Norm kann zwar als Sinn des Aktes angesehen werden und stellt deswegen eine Individualisierung des Aktes dar, der zwar ein beobachtbarer Vorgang ist, aber gleichzeitig als A k t i n d i v i d u u m nicht nur durch das Geschehen und seine zeitlichen Koordinaten, sondern

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auch durch den nur dem Verstehen zugänglichen Sinn charakterisiert ist. Nur i m Bereich der gedanklichen Gegenstände, nicht i m Bereich der Kreations- oder Denkakte, ebensowenig wie i m Bereich der Sprechakte gelten logische Beziehungen und Operationen. Die Norm als Idealentität ist natürlich auch nicht identisch m i t dem sprachlichen Träger, den entsprechenden Sätzen, oder m i t den Sprechakten, i n denen die Sätze geäußert werden. I m Bereich des Rechts bedeutet dies, daß das reale Dasein der Rechtsnorm nicht an den Gesetzestext gebunden ist; die Norm kann auch ohne ausdrücklich vorliegende sprachliche Formulierung gesellschaftlich existent sein. Auch dort, wo eine authentische Formulierung gegeben ist, ζ. B. bei Gesetzen i m modernen Staat, stellt nicht dieser Text allein die Rechtsnorm dar, sondern die gesellschaftlich geltende Norm ist das Ergebnis der Interpretation des Textes. Die Norm ist auch nicht verkörpert i m Verhalten der Adressaten der normativen Bestimmungen oder jener Subjekte, die die Normen anwenden, ζ. B. bei Nichterfüllung Strafe setzen oder Exekution einleiten. A l l e diese Tatsachen des menschlichen Verhaltens stehen zwar i n Korrelation zur realen Existenz der Norm, das Dasein der Norm ist aber von dieser Einbettung i n Verhaltenszusammenhänge verschieden. Die Existenz und das W i r k e n der Normen hängt natürlich m i t Momenten des Bewußtseins und der Anerkennung zusammen. Die Existenz der Norm ist jedoch keineswegs als Dasein i m Bewußtsein oder als Realität der Anerkennung zu verstehen. Dies zeigt sich unter anderem auch darin, daß diese begleitenden Momente — Normbewußtsein und Anerkennung i n der Gesellschaft — weitgehend variieren können, ohne daß die gesellschaftliche Norm als gedanklicher Gegenstand verändert wird. Eine Reihe von Beziehungen können als Symptome des Daseins von Normen gelten, sozusagen als empirischer Erkenntnisgrund, warum man i n einer gewissen Situation Normen oder ein Normensystem als real ansieht. Die wichtigsten Momente, die hier zur Geltung kommen, sind wohl: (a) Das Bewußtsein der Rechtsgenossen, einerseits Sollerlebnisse des Pflichtbewußtseins, Anerkennung des Normensystems, die Tatsache, daß gewisse Subjekte das Sollen i n i h r Wollen aufnehmen oder sich wenigstens den Sollbestimmungen beugen, andererseits Wissen über das Sollen i n einer gewissen Gemeinschaft als Erkenntnis eines externen Beobachters. (b) Das Wirken der Norm als handlungsbestimmendes Moment, als Motiv. Die Wirkungsweise ist verschiedenartig und komplex, sie kann Motivation zur Befolgung sein; sie bildet Rahmen für mögliches Handeln, sie führt zum Aufbau von Institutionen und kann unter gewissen Umständen zur Umgehung oder zu Delikten führen.

Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen (c) Die motivatorische W i r k u n g der Normen w i r d häufig durch normative Motivatoren verstärkt: positiv i n Form von Belohnungen, als motivierende Folgemaßnahmen bei Rechtserfüllung, oder als negativer Motivator, das heißt als Strafe oder Exekution bei Nichterfüllung der Pflicht 1 3 . Es scheint, daß i n der Praxis jedes nicht rein autonome Normenregulativ m i t Motivatoren verbunden ist, meist m i t Sanktionen, d. h. angedrohten Unrechtsfolgen. Die Sanktionen sind i m Rechtsstaat normiert und vorbestimmt; daneben sind gesellschaftliche Regulative auch m i t Sanktionen verbunden, die nicht i m voraus normativ festgelegt sind. Obwohl für den Bereich des Rechts die normierten Strafen vorherrschen, sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß auch hier nicht-vorbestimmte Sanktionen — ich würde sie diffuse Sanktionen nennen — existieren. Wo mangelnde Pflichterfüllung besteht, die gegebenenfalls nicht direkt strafbar ist, können auch i m Rechtsleben Nachteile drohen, z.B. Ausbleiben der Beförderung, Versetzungen u. ä. Bei gewählten Funktionären und politischen Mandataren, sind zukünftige Wahlen ebenfalls als indirekte Motivatoren anzusehen. (d) Die Existenz von Institutionen verschiedener A r t , wie Staatsorgane oder andere gesellschaftliche Einrichtungen, deren Funktionieren an die Beziehung zu normativen Regulativen gebunden ist, stellen markante Momente dar, aus denen das gesellschaftliche Realsein der Normensysteme abgelesen werden kann. (e) Die Institutionen und deren Strukturierung durch normative Regulative greifen tief i n die Lebensformen und die gewöhnliche Sprache ein, so daß w i r uns oft gar nicht bewußt werden, daß sie m i t der Realität dieser Sollordnungen zusammenhängen und durch sie konstituiert werden. Wer denkt etwa daran, wenn er von Geld oder einer Fahrkarte spricht oder wenn er Zeitangaben macht, daß diese Begriffe und Behauptungen i n ihrem Sinngehalt von der realen Existenz normativer Bestimmungen abhängen. Wertbestimmungen charakterisieren Einstellungen einzelner Menschen und gesellschaftlicher Gruppen. Sie sind Tatsachen, die sich i m Wahlverhalten der Menschen äußern. Wertungen und Wertentscheidungen spielen eine wesentliche Rolle i m Zusammenhang sowohl m i t normativen Prozessen als auch m i t Zweck-Mittel-Erwägungen und Entscheidungen aufgrund teleologischer Analysen 1 4 . 15 Viele Juristen sehen n u r die verschiedenen A r t e n v o n Sanktionen (also die Unrechtsfolgen) als motivierende Kräfte. Ich glaube, dies f ü h r t zu einem sehr bedauerlichen Mißverstehen des Rechts. Das Recht ist durchaus nicht n u r repressiv motivierend. Seine H a u p t f u n k t i o n ist lenkend u n d organisierend, u n d hierzu taugt die positive M o t i v a t i o n oft besser als Zwangsmaßnahmen.

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Wertbestimmungen sind genau dann Tatsachen, wenn sie als Charakteristiken von bestehenden Einstellungen und als Determinanten von individuellen oder gesellschaftlichen Vorgängen fungieren. Zwecke sind Tatsachen, wenn Zwecksysteme als Charakteristiken handelnder Menschen oder sozialer Gebilde verwendet werden. Sie können methodologisch gesehen i n zweierlei Funktion auftreten: als handlungslenkende teleologische Überlegung oder als Deutungsschema der Motivexplikation 1 5 . I n beiden Anwendungen sind diese Bestimmungen Elemente von Tatsachenbeschreibungen.

5. Konsequenzen für die methodologische Grundauffassung der Gesellschaftswissenschaften Die Auffassung, daß die Gesamtheit der wissenschaftlichen Erkenntnis als Beschreibung roher Tatsachen gegeben werden kann oder/und muß, w i r d als ,methodologischer Monismus* bezeichnet. Er muß voraussetzen, daß auch die menschabhängigen Tatsachen i m Prinzip auf rohe Tatsachen reduzierbar sind, und daß diese Reduktion von der Wissenschaft wenigstens als Ideal anzustreben ist. Die These, die ich hier vertreten habe, daß die für rohe Tatsachen angemessenen M i t t e l der Beschreibung für Charakterisierung menschabhängiger Tatsachen prinzipiell unzureichend sind, weil hier auch praktische (normative, axiologische und teleologische) Bestimmungen erforderlich sind, führt i n der Wissenschaftsmethodologie zum Pluralismus. Wo Handlungen, Normen, Werte, Zwecke oder teleologische Beziehungen analysiert werden, also i n menschabhängigen Tatsachenbereichen, ist eine andere Bestimmungsweise von Tatsachen erforderlich als die Beschreibungen von rohen Tatsachen. Unsere Überlegungen führen also zu der Konsequenz, daß die Wissenschaftsmethodologie pluralistisch zu konzipieren ist.

14 Vgl. O. Weinberger , Rechtslogik, Wien, New Y o r k 1970, S. 291 - 306; ferner: Ch. Weinberger / Ο. Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, M ü n chen 1979, insbes. Kap. 8 u n d 9. 15 Vgl. O. Weinberger, Rationales u n d irrationales Handeln, i n : F. KauZbach /W. Krawietz (Hrsg.), Recht u n d Gesellschaft, Festschrift f ü r H. Schelsky, B e r l i n 1978, S. 721 - 744.

Tatsachen und Tatsachenbeschreibungen Anmerkung Der methodologische Pluralismus ist nicht identisch m i t methodologischen Reinheitsforderungen vom Typus der Kelsenschen Reinen Rechtslehre 1 6 . Aus der pluralistischen Konzeption der Methodologie folgt nicht, daß irgendeine Wissenschaft — etwa die Rechtswissenschaft — auf der Basis einer reinen Methodologie aufgebaut werden muß. Die Reinheitsforderung setzt allerdings eine pluralistische Methodologie voraus. Menschabhängige Tatsachen können nicht ohne praktische Begriffe adäquat beschrieben werden. M. E. müssen verschiedene Typen rationaler Beziehungen „rein" dargestellt werden — ζ. B. als Normenlogiken, als formale Teleologie —, doch ist es von der Problemsituation und der A r t der Frage abhängig, wie sie anzuwenden sind. Es gibt Problemstellungen, i n denen ein einziger Typus rationaler Beziehungen die Beantwortungsweise bestimmt, es gibt aber auch Fragestellungen, bei deren adäquater Beantwortung verschiedene Bestimmungsweisen ineinandergreifen. So ist z.B. das Rechtssystem als Normensystem aufzufassen, das auf einem teleologischen Hintergrund aufgebaut ist, der i n entscheidender Weise bei der Interpretation zur Geltung kommt.

16 Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., S. 1 et passim; ferner: F. Weyr, Teorie prâva (Rechtstheorie), Prag 1936.

D. N E I L M A C C O R M I C K

Über analytische Jurisprudenz Einleitung Die analytische Jurisprudenz ist eine wissenschaftliche Disziplin, die darauf abzielt, analytische Rechtskonzeptionen zu erarbeiten. Definitionsgemäß erfordert eine analytische Untersuchung ein Analysandum, etwas, das analytisch erklärt werden soll und von dem angenommen wird, daß es unabhängig von der Untersuchung selbst existiert. I m Falle des Rechts ist, bzw. umfaßt, der Untersuchungsgegenstand die menschliche soziale A k t i v i t ä t , welche eine normative Ordnung der Gesellschaft festsetzt und i n gewissem Ausmaß etabliert. Diese A k t i v i t ä t w i r d von mit Bewußtsein ausgestatteten rationalen Akteuren getragen, deren A k t i v i t ä t durch Bezugnahme auf ein begriffliches Rahmenwerk strukturiert ist, dessen relevante Begriffe rechtliche Begriffe sind, wenngleich es sich dabei keineswegs u m ausschließlich rechtliche Begriffe handelt. Deswegen besteht die Möglichkeit, daß die Erkenntnisse und Theorien der analytischen — oder anderer — Rechtstheoretiker i n die Rechtspraxis und i n das rechtliche Geschehen einfließen oder sie wenigstens beeinflussen. Prinzipiell ist dennoch die Analyse von der analysierten Tätigkeit verschieden und unterscheidbar. (Man vergleiche die A r t und Weise, wie die Wissenschaftstheorie von der Tätigkeit des Naturwissenschaftlers abgehoben ist, obgleich sie die Arbeit der Wissenschaftler dadurch beeinflussen kann, daß sie deren Verständnis bezüglich ihrer eigenen A k t i v i t ä t verfeinert oder verändert.) Das Wichtigste ist vielleicht, daß die Methode der Analyse durch das geleitet sein muß, was dem Gegenstand der Analyse angemessen ist. Von dem Wert der Anwendung der analytischen Philosophie auf das Recht überzeugt zu sein, bedeutet nicht, daß man glaubt, dies sei der einzig wichtige oder relevante Bezug der Philosophie zum Recht. Die bedeutendsten analytischen Rechtstheoretiker haben durch ihre Argumente bezüglich der Erfordernisse der Gerechtigkeit und des gerechten Rechts auch signifikante Beiträge zur normativen Philosophie des Rechts und der Politik geleistet Kritische Arbeiten und Schriften wie

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die v o n HumeBentham 2, Austin 3, Kelsen 4, H a r f 5 u n d anderen sind dafür Beispiele. A b e r alle diese A u t o r e n w ü r d e n — so meine ich — die Auffassung vertreten, daß eine wirksame K r i t i k v o n bestehenden rechtlichen u n d politischen Einrichtungen das Verständnis des Rechts sowie rechtlicher u n d politischer Institutionen erfordert, was v o n den kritischen Betrachtungen über das Recht verschieden ist u n d unterschieden werden muß. Meiner Auffassung nach ist das richtig. Die erste Aufgabe der Rechtsphilosophie ist es, das Recht zu verstehen; die dafür angemessene Methode ist die Analyse der Funktionen des Rechts. M a n mag jedoch die Meinung vertreten — u n d i n der Tat w u r d e sie auch schon vertreten —, daß, w e i l Rechtsordnungen Ideologien enthalten, ein rein analytischer Zugang zur Rechtstheorie den Philosophen dazu führt, die herrschenden Verhältnisse, das heißt den bestehenden Staat, w i r k s a m zu legitimieren. Somit wäre die analytische Jurisprudenz nicht jene politisch neutrale A k t i v i t ä t , f ü r welche sie sich ausgibt, sondern nichts weiter als eine n u r schwach verschleierte Dienerin der Ideologie. Karl-Ludwig Kunz f ü h r t dazu aus: „Die analytische Rechtstheorie k a n n das Recht, welches i h r e n Gegenstandsbereich ausmacht, daher überhaupt nicht erkennen; sie ist i n diesem Sinne eine „Rechts"-theorie ohne Recht. Z w a r sucht die analytische Rechtstheorie dieser A p o r i e zu entgehen, indem sie die obj e k t i v e Erkennbarkeit des Rechts auch ohne wertbeziehende Stellungnahme zu der m i t i h m denknotwendig verbundenen Sachrichtigkeitsintention postuliert; was solchermaßen erkannt w i r d , ist freilich nicht Recht, sondern eine inhaltlich beliebige staatliche Gewaltausübung, die — u n d h i e r i n besteht das Problematische — v o n der Theorie als Recht ausgegeben w i r d . Die v o n der analytischen Rechtstheorie beanspruchte vermeintlich wissenschaftlich objektive Untersuchung des Rechts ist also i n Wahrheit eine parteinehmende Bestätigung j e d weder noch so verwerflichen staatlichen Gewaltausübung als Recht; i n dieser legitimierenden Bestätigung bloßer W i l l k ü r als Recht gipfelt die Fragwürdigkeit des analytischen Modells der Rechtstheorie, eine 1

Vgl. z. B. D. Hume f Essays Moral, Political and Literary, London 1963. Vgl. z.B. J. Bentham, A n Introduction to the Principles of Morals and Legislation (Hrsg. J. H. Burns u n d H. L. Α . Hart , London 1970). 3 Vgl. z . B . die Vorlesungen I I I - V von: The Province of Jurisprudence Determined (Hrsg. H. L. A . Hart, London 1954); vgl. ebenso E. Ruben, John Austin's Political Pamphlets 1824 - 1859, i n : Perspectives i n Jurisprudence (Hrsg. E. Attwooll, Glasgow 1977); W. Löwenhaupt, Politischer Utilitarismus u n d Bürgerliches Rechtsdenken, B e r l i n 1972. 4 Vgl. ζ. Β . H. Kelsen, What is Justice?, Berkeley 1957. 5 Vgl. z. B. H. L. A . Hart , Law, Liberty and Morality, Oxford 1963; The Morality of the Criminal Law, Oxford 1965; Punishment and Responsibility, Oxford 1968. 2

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Fragwürdigkeit, die meines Erachtens zu einer prinzipiellen Ablehnung der analytisch konzipierten Rechtstheorie zwingt" 6 . Niemand sollte die Gefahr bestreiten, daß die analytische Jurisprudenz zu einem bloßen Rechtfertigungsinstrument der bestehenden Staatsgewalt degenerieren kann. Was ich aber bestreite, ist, daß dies ein notwendiges Merkmal dieser A r t von Untersuchungen wäre. Die Gründe, warum ich das bestreite, müssen jedoch i n den Ergebnissen und nicht i n den Ausgangspunkten dieser Vorlesung zutage treten. U m zu diesen Ergebnissen zu gelangen, werde ich i m folgenden vier Themen behandeln. Zunächst werde ich einige Schwierigkeiten aufzeigen, welche i n der Auffassung enthalten sind, daß die analytische Jurisprudenz sich auf die Erkenntnis des Rechts als solchen bezieht. Zweitens werde ich die These vorlegen, daß Rechtserkenntnis das Verständnis von sogenannten institutionellen Tatsachen einschließt. D r i t tens werde ich mich m i t dem Einwand auseinandersetzen, daß es solche Tatsachen nicht geben könne. Und schließlich werde ich darlegen, welche Methoden der analytischen Untersuchung dem Gegenstand der Jurisprudenz angemessen sind, und die Frage stellen, ob diese Methoden notwendigerweise m i t einem ideologischen oder politischen Engagement für das analysierte System verknüpft sind. 1. Das Problem des Rechtswissens Wenn ich der analytischen Aufgabe der Rechtstheorie eine bevorzugte Stelle einräume, dann finde ich mich i m großen und ganzen m i t einer Auffassung i n Übereinstimmung, die unlängst von meinem Kollegen Richard Tur 7 i n einem A r t i k e l geäußert wurde, i n dem er die Meinung vertrat, daß es die primäre Rolle der Jurisprudenz sei, eine Erkenntnistheorie des Rechts, d . h . eine Theorie der Rechtserkenntnis, zu liefern. A l l e möglichen Menschen, vom Polizisten bis zur Prostituierten oder zum Professor, kennen das Recht. Aber — wodurch w i r d solches Wissen ermöglicht? Was konstituiert ein Wissen vom Recht? Die Behauptung, daß es Wissen über das Recht gibt, ist allerdings eine starke Behauptung. Wissen hat propositionalen Charakter und ich kann nur wissen, daß p, wenn ρ wahr ist. Somit kommt die Behauptung, daß es Wissen über das Recht gibt, der Behauptung gleich, daß es zumindest einige wahre Aussagen gibt, die rechtliche Aussagen sind — 6 K.-L. Kunz, Die Analytische Rechtstheorie: Eine ,Rechts'-theorie ohne Recht?, B e r l i n 1977, S. 12 - 13. 7 R. H. S. Tur, W h a t is Jurisprudence, i n : Philosophical Quarterly 1978, S. 149 -161; bezüglich Turs Bemerkungen über »Analytische Jurisprudenz* vgl. S. 152.

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Rechtssätze, w i e Kelsen sie nannte. M a n beachte, daß dies rechtliche Aussagen u n d nicht Aussagen über das Recht sind 7 a . Es mag scheinen, daß dies zu einer A r t v o n K o n t r a d i k t i o n führt. Denn der Begriff der »Tatsache4 hat auch etwas m i t Aussagen zu tun. Wenn ρ w a h r ist, dann ist es eine Tatsache, daß p. W e i l die Behauptung, daß es Rechtswissen gibt oder geben kann, impliziert, daß es wahre rechtliche Aussagen geben kann, impliziert sie auch, daß es rechtliche Tatsachen gibt. Dies ist eine der m e r k w ü r d i g e n Folgerungen, v o n denen es zunächst gleichermaßen unbefriedigend zu sein scheint, sie abzulehnen wie sie zu akzeptieren. Viele v o n uns, die w i r an diesem Weltkongreß teilnehmen, leben von dem Beruf eines Rechtlehrers. W i r behaupten, daß w i r den Studenten nützliches Wissen vermitteln. W i r unterziehen sie Prüfungen, welche sie nicht bestehen, w e n n i h r Rechtswissen unzureichend ist. Wenn es keine rechtlichen Tatsachen gibt, dann sind w i r schuldig, i n einem atemberaubenden u n d gigantischen Ausmaß Betrug zu begehen 8 . W i r müssen aber v o n unseren Interessen absehen u n d entschlossen danach streben, Verständnis zu gewinnen. Wenn es keine rechtlichen Tatsachen gibt, so ist es unsere Pflicht, dies f r e i m ü t i g zu bekennen, unseren Kongreß aufzulösen u n d nach Hause zurückzukehren, u m uns den Staatsanwälten zu stellen, indem w i r frei u n d offen den Schwindel eingestehen, an dem w i r alle beteiligt waren. Die Verlegenheit, i n die w i r geraten, w e n n w i r die andere Folgerung akzeptieren, nämlich die, daß es rechtliche Tatsachen gibt, ist v o n anderer A r t . Sie setzt uns nicht dem V o r w u r f der Betrügerei aus, sondern dem V o r w u r f der intellektuellen V e r w i r r u n g . Denn w i r d nicht allgemein anerkannt, daß Gesetze normativ sind, j a daß Gesetze Normen sind? Es ist doch ein grundlegender A r t i k e l des analytischen Glaubensbekenntnisses, daß Normen keine Tatsachen sind; daß Normen ein Sollen, devoir

être , ought ausdrücken, welches s t r e n g v o m Sein, être , is

zu unterscheiden ist. Einer der Auswege aus diesem Rätsel ist jener v o n Karl Olivecrona 9. I n seinem Buch „ L a w as Fact" hat er uns versichert, daß es rechtliche 7a I n der frühen Terminologie Kelsens (ζ. B. i n den Hauptproblemen) sind Rechtssätze tatsächliche Sätze des Rechts, d . h . Sätze, die rechtliches Sollen ausdrücken. I n Kelsens Terminologie der 2. A u f l . der Reinen Rechtslehre stellt Kelsen dem Begriff »Rechtsnorm 1 als Satz des Rechts den Begriff »Rechtssatz1 entgegen, u n d zwar ausdrücklich i n der Bedeutung »Aussagesatz über das Recht 1 . Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 73 ff. 8 Vgl. R. H. S. Tur, op. cit., S. 157 - 159; sowie D. N. MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Oxford 1978, S. 271. 9 Vgl. Κ . Olivecrona, L a w as Fact, London 19391; London 19712. Die 2. A u f lage ist eine i n wesentlicher Hinsicht neue Arbeit.

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Tatsachen gibt, wenn sie auch nicht die angeblichen Tatsachen der Rechtsdogmatik sind. Es gibt m i t Hilfe der physikalischen Wissenschaften und der Verhaltenspsychologie erklärbare Tatsachen der menschlichen Psychologie und der sozialen Existenz, welche uns Verständnis dafür gewinnen lassen, wie die ihrem Wesen nach nicht-referentielle Sprache des »normativen Rechts' i n menschlichen Gemeinschaften i n einer Weise verwendet wird, die relativen Frieden und Ordnung i n die Angelegenheiten der Menschen bringt. Es gibt keine anderen Tatsachen als jene, welche m i t Hilfe der physikalischen Wissenschaften und der Verhaltenspsychologie erklärbar sind. Somit ist das sogenannte Rechtswissen viel eingeschränkter als w i r uns gerne einbilden. Es ist Wissen über die A r t , i n der die Menschen auf die Symbole der Legalität reagieren, nicht Wissen vom Recht oder innerhalb des Rechts oder der Legalität selbst. Darüberhinaus gibt es nichts zu wissen. Ein anderer Ausweg aus dem Rätsel ist jener von Hans Kelsen 10, der von Olivecrona scharf kritisiert wurde 1 1 . Es ist ein Kantianischer Weg, der damit verbunden ist, durch transzendentale Erwägungen ein organisierendes Prinzip der Erkenntnis des Rechts zu postulieren, welches scharf und eindeutig unterschieden ist von jenen Kategorien oder organisierenden Prinzipien, die der Erkenntnis i n den Naturwissenschaften angemessen sind. Das Prinzip der Zurechnung leistet für die Rechtswissenschaft, was das Kausalprinzip für die Naturwissenschaft leistet. Keines der beiden Prinzipien ist durch die Erfahrung gegeben, und ihre Gültigkeit hängt nicht von der Abwägung empirischer Beweise ab. Jedes ist vielmehr i n seinem entsprechenden Bereich eine Bedingung der Möglichkeit solcher Erfahrung, wie w i r sie haben. Jedes w i r d bei der Gewinnung von Erfahrung vorausgesetzt, und ist nicht i n i h r gegeben. ,Sollen' ist eine Kategorie der Erkenntnis, nicht bloß ein modales Hilfszeitwort. Bei Konfrontation dieser Meinungen neige ich, wie sich zeigen wird, eher der Auffassung von Kelsen als der von Olivecrona zu, obgleich ich keineswegs uneingeschränkter Kelsenianer bin. Die von m i r erhobene Frage nach der Möglichkeit der Existenz von Rechtswissen und somit von rechtlichen Tatsachen, ist i n erster, wenn auch nicht i n letzter Konsequenz durch weitere Untersuchungen des Begriffes »Tatsache4 lösbar. Dem wende ich mich nunmehr zu.

10 Vgl. ζ. Β . H. Kelsen, General Theory of L a w and State, New Y o r k 1961, S. 162 -164; The Pure Theory of Law, Berkeley and Los Angeles 1967, 1. K a pitel; deutsch: Reine Rechtslehre, W i e n I960 2 . 11 K. Olivecrona, op. cit., 1. Aufl., S. 18.

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2. Rechtliche Tatsachen sind institutionelle Tatsachen Selbst wenn ich die Cartesische Methode des Zweifeins an allem, woran man zweifeln kann, anwende, gibt es wenige Tatsachen, derer ich m i r sicherer b i n als der, daß ich i m Augenblick am Weltkongreß der I V R teilnehme und einen Vortrag halte. Ich weiß sehr wohl, daß dieser Kongreß für die Zeit vom 27. August bis 31. August 1979 angesetzt ist und daß er verschiedene Sitzungen, einschließlich dieser, umfassen wird. Als Jurist habe ich einen besseren Grund dafür, diese Behauptungen aufzustellen, als für andere Behauptungen, die ich auch für wahr halte und die ich zu meinem Wissen rechne. Ich weiß, und Sie wissen es auch, daß schon Menschen auf dem Mond gewesen sind. Aber wenn überhaupt, so waren gewiß nur wenige von uns direkte Augenzeugen einer der Mondlandungen. W i r haben nur vom Hörensagen davon Kenntnis — unterstützt durch unsere Leichtgläubigkeit gegenüber den Nachrichten, die w i r durch das Fernsehen beziehen. Ich bemerke keinerlei Anzeichen eines Protests gegen die Ansicht, daß dies eine Sitzung des IVR-Kongresses ist und daß ich autorisiert bin, hier als Sprecher aufzutreten. Ich nehme somit an, daß auch andere die Wahrheit meiner Behauptung akzeptieren. Entweder ist es eine Tatsache, daß w i r alle an einer solchen Sitzung teilnehmen, oder w i r alle leiden an einer kollektiven Wahnvorstellung größten Ausmaßes. Aber was berechtigt uns, dies für wahr zu halten? Ist es etwa eine durch die physikalischen Wissenschaften bestätigte Tatsache? Gewiß nicht. Daß w i r es glauben, läßt sich, wenn nötig, durch psychologische Untersuchungen bestätigen. Daß unser Glaube wahr ist, ist hingegen keine Sache der Psychologie, jedenfalls nicht direkt. Was all dies hier zu einer Sitzung des IVR-Kongresses macht, ist die Tatsache, daß sie gültig und i n Übereinstimmung mit den Satzungen der Vereinigung einberufen wurde, welche uns alle überdies als M i t glieder der Vereinigung qualifizieren. Dies ist nicht bloß deshalb ein Kongreß, w e i l eine große Anzahl weiser Mitglieder der Species homo sapiens m i t einer Vielzahl von Flugzeugen, Zügen, Autos, etc. hierher transportiert wurden, und i n diesem Gebäude zusammengekommen sind. A l l dies wäre kausal erklärbar, aber die kausalen Erklärungen und Darstellungen ergeben zusammengenommen noch immer nicht die Wahrheit, daß dies eine Kongreßsitzung ist. Es ist notwendig, aber nicht hinreichend, daß sich hier menschliche Wesen versammelt haben und jetzt meinen Worten lauschen — und als Folge davon leiden müssen oder vielleicht i n manchen Fällen Freude empfinden. Nur wenn w i r die Satzungen und Regeln der Vereinigung als Interpretationsschema anwenden, und nur unter der Voraussetzung, daß es für das Verhalten 9 MacCormick /Weinberger

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von uns allen oder der meisten von uns neben einer kausalen auch eine Zweck-Erklärung gibt, welche die Absicht umfaßt, hier als Teilnehmer entsprechend den einschlägigen Satzungen und Regeln anwesend zu sein, können w i r den Schluß ziehen und begründen, daß es sich hier u m das handelt, wofür w i r es halten: eine Kongreßsitzung. Somit ist die Tatsache, der w i r gegenüberstehen, nicht rein physikalischer Natur, nicht eine natürliche Tatsache unseres physischen Universums. Es ist vielmehr eine Tatsache, die sich aus der Interpretation physikalischer und psychologischer Ereignisse i m Lichte einer Menge operativer menschlicher Regeln ergibt, nämlich der Satzungen und Regeln dieser Vereinigung. Solche Tatsachen gehören zur Klasse der »institutionellen Tatsachen4, wenn ich mich eines etablierten philosophischen Wortgebrauches bedienen darf 1 2 . Die meisten Tatsachen, die der Mehrzahl von uns bekannt sind — wie etwa die Tatsache, daß jeder i n diesem Saal entweder verheiratet oder ledig ist, oder die Tatsache, daß Herr Nixon zweimal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde und daß er bisher der einzige Präsident war, der von seinem A m t zurückgetreten ist — sind Tatsachen dieser Art:,institutionelle Tatsachen4, wie ich sie nenne. Und das gleiche gilt von unserem Wissen über das Recht 13 . Es ist wahr, daß nahezu jeder hier einen Vertrag mit einem Hotel i n Basel hat über die Bereitstellung von Zimmer und Verpflegung gegen Bezahlung. Es ist wahr, daß nahezu jeder hier einen gültigen Vertrag m i t einem Reisebüro über seine Heimreise hat. Das bedeutet, daß von verschiedenen Menschen verschiedene Handlungen durchgeführt wurden, welche, wenn w i r sie unter Bezugnahme auf verschiedene Rechtsregeln interpretieren, den Abschluß von Verträgen bedeuten. Und die meisten der so entstandenen Verträge sind noch i n Geltung. Sie sind weder gegenstandslos geworden, noch i n irgendeiner anderen Weise aufgehoben worden. Mehr noch: die Rechtsregeln selbst, nach denen diese Handlungen als vertragsbegründend gelten, sind ihrerseits i n ähnlicher Weise erklärbar. Insbesondere i m Fall von Ländern, i n denen ein kodifiziertes Vertragsrecht existiert, können w i r feststellen, an welchem Tag und durch welchen Vorgang die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen Existenz 12 Vgl. G. Ε. M . Anscombe, On B r u t e Facts, i n : Analysis 18 (1958); J. Searle, Speech Acts, Cambridge 1969, S. 5 0 - 5 3 ; deutsch: Sprechakte, F r a n k f u r t 1971; D. N. MacCormick, L a w as Institutional Fact, Edinburgh 1973, sowie (1974) 90 L. Q. R. 102; deutsch: Recht als institutionelle Tatsache, i n diesem Band S. 76 - 107. 13 Dies w i r d näher erörtert i n meinem V o r t r a g „Das Recht als i n s t i t u t i o nelle Tatsache", S. 76 - 107 dieses Bandes.

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erlangten. Solche Gesetze bleiben i n Kraft, es kommt ihnen solange Dasein zu, bis sie aufgehoben werden, und sie wurden bislang nicht aufgehoben. D e r Code Civil

u n d das Bürgerliche

Gesetzbuch

gehören

zu den großartigen Tatsachen der neueren europäischen Geschichte. Wirklich abgeschlossene Verträge sind i n ganz anderer Weise von Bedeutung, als bloß fiktive (hypothetisch gedachte) 14 oder i n anderer Weise nicht-tatsächliche Verträge. Wenn w i r k l i c h ein Vertrag zwischen m i r und einem bestimmten Hotel besteht, dann hat jeder von uns beiden bestimmte Rechte. Wenn einer davon es verabsäumt, die Ansprüche des anderen zu erfüllen, so hat er die Pflicht, Schadenersatz zu leisten. Wenn er dies nicht tut, setzt er sich einer gerichtlichen Klage und gegebenenfalls dem Gerichtsurteil aus, daß er verpflichtet ist, Schadenersatz zu leisten. Erfolgt die Leistung noch immer nicht, so kann eine Form der Zwangsexekution durch dazu autorisierte Beamte durchgeführt werden. Verträge sind somit Tatsachen m i t normativer Wirkung, die letztlich die Autorisierung zu Zwangsakten einschließen. Nicht weniger klar ist, daß gültige, i n Kraft befindliche Gesetze normative W i r kung haben. Ich werde später noch auf den Begriff der normativen Wirkung zurückkommen. I m Augenblick möchte ich nur meine Absicht betonen, darzutun, daß solche Tatsachen m i t den Gründen zusammenhängen, welche die Menschen für ihre Handlungen haben; mehr noch: sie gehören zur Kategorie der Standardgründe für Handlungen und für die Beurteilung von Handlungen. Der Umstand, daß es einen Vertrag gibt, nach dem ich verpflichtet bin, mich i n bestimmter Weise zu verhalten, und ein Gesetz, das mich dazu anhält, solche Verträge einzuhalten, liefert m i r jedenfalls einen guten Grund dafür, das zu tun, wozu ich mich vertraglich verplichtet habe. Tatsächlich gibt es, wie Joseph Raz bemerkt hat 1 5 , einen Gesichtspunkt, nämlich den rechtlichen, von dem aus diese Gründe alles aus der Überlegung ausschließen, was sonst als starker Grund, sich anders zu verhalten, gelten würde. Aber wie es sich damit auch immer verhalten mag — könnte nun nicht jemand einwenden, daß ich, wenn ich die Existenz von Verträgen, Satzungen und anderen derartigen »rechtlichen Institutionen' postuliere, 14 Ich meine h i e r m i t nicht sogenannte ,rechtliche Fiktionen 4 (vgl. hierzu L. L. Fuller , Legal Fictions, Stanford 1967). I m Sinne v o n Benthams 'Theory of Fictions' (Hrsg. C. Κ . Ogden, London 1951) ist m e i n Begriff der .institutionellen Tatsache' eine »Fiktion', aber das ist ein unpraktischer Wortgebrauch, w e i l er uns zu ungeschickten Unterscheidungsversuchen führt zwischen realen ,Fiktionen', w i e z . B . meinem Anstellungsvertrag m i t der Universität E d i n burgh, u n d f i k t i v e n »Fiktionen', w i e dem berühmten Vertrag zwischen Shylock u n d dem K a u f m a n n i n Shakespeares »Kaufmann v o n Venedig'. 15 Vgl. J. Raz, Practical Reason and Norms, London 1975; insbesondere Abschnitt 1.2 u n d 2.3.

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unnötig und grundlos die Klasse der »Tatsachen* erweitere? Hat nicht Alf Ross dargelegt, daß solche Wörter keine »semantische Bezeichnungsfunktion 4 haben, weil sie bloße ,Τΰ-Τΰ'-Wörter sind, die dazu dienen, bedingende Tatsachen m i t bedingten Konsequenzen zu verbinden 1 6 ? Der eine Satz: ,Wenn Menschen eine Übereinkunft bestimmter A r t unter bestimmten Umständen durch bestimmte Handlungen treffen, dann muß jeder i n der vereinbarten Weise handeln 4 sagt genau soviel aus wie die folgenden zwei Sätze: ,Wenn Menschen eine Übereinkunft bestimmter A r t unter bestimmten Umständen durch bestimmte Handlungen treffen, dann existiert zwischen ihnen ein Vertrag. Und wenn zwischen bestimmten Menschen ein Vertrag existiert, dann muß jeder i n der vereinbarten Weise handeln.' Warum sollten also Theoretiker solche angebliche »Tatsachen' erfinden, deren einzige Funktion darin bestünde, einen Satz i n zwei Sätze umformulieren zu können 1 7 ? Die A n t w o r t darauf ist, daß es keineswegs der Theoretiker ist, der diese Tatsachen erfindet. Er lebt i n einer Welt, i n der Juristen und Laien gleichermaßen getrost von Verträgen, Hypotheken, trusts, Körperschaften, etc. sprechen, und sagen, daß sie existieren, daß sie zeitlich andauern und daß sie für das Verhalten von Menschen i n Raum und Zeit von Belang sind. Mehr noch: Wie ich andernorts ausgeführt habe 1 8 , scheinen diese postulierten ,institutionellen Tatsachen' eine entscheidende Rolle dabei zu spielen, wie Juristen und andere i h r Verständnis rechtlicher Angelegenheiten konstruieren. Aber dann können zwei weitere damit verbundene Einwände vorgebracht werden: Zunächst kann gesagt werden, daß die Aufgabe des Philosophen nicht darin besteht, lediglich die Verwirrungen und Inkohärenzen, j a die Fehler des Alltagsdenkens nachzubilden und zu wiederholen. (Ist das übrigens nicht der Standardeinwand gegen analytische Untersuchungen, insbesondere gegen ihre moderne Variante, die „linguistische Analyse" 19 ?) Es mag j a sein — w i r d man fortfahren —, daß die Philosophen diese Scheintatsachen nicht erfunden haben; aber die philosophische Aufgabe besteht doch darin, den Schein aufzudecken, und nicht, I r r tümer aufrechtzuerhalten. Zweitens w i r d man einwenden, daß diese Scheinbarkeit i n dieser Erörterung kraß zutage t r i t t . Ich war bestrebt, eine Erklärung dafür zu geben, wie es „Wissen" i n und von normativen Einrichtungen von der A r t des Rechts geben kann. Als Erklärung habe ich den Begriff der ,institutionellen Tatsache' eingeführt, aber n u n stellt sich heraus, 16 17 18 19

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

A . Ross, ,Tû-Tû', H a r v a r d L a w Review 66 (1956 - 57). D. N. MacCormick, Das Recht als institutionelle Tatsache, op. cit. ebd. E. Gellner, Words and Things, London 19802.

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daß dies »Tatsachen4 einer solchen A r t sind, die sich aus der Interpretation von Ereignissen unter Bezugnahme auf eine normative Ordnung als Interpretationsschema ergeben. Das Argument scheint zirkulär (circulus vitiosus). Es scheint, daß w i r , dem Rat der ,skandinavischen Realisten 4 folgend, den Begriff der ,Tatsache4 nur für jene wirklichen Tatsachen reservieren sollten, die existieren, nämlich die Tatsachen der physikalischen Wissenschaften und der Verhaltenspsychologie; und dementsprechend sollten w i r den Anspruch aufgeben, daß Rechtswissen möglich sei. 3· Der problematische Charakter der rohen Tatsachen Hier ist der Punkt, wo ich zum Gegenangriff schreite. Worin besteht denn die Beglaubigung für solche ontologischen Behauptungen wie die, daß es eine Ordnung der realen Tatsachen — der ,rohen Tatsachen 4 , wie man sagt 20 — gibt, welche w i r als das kennen, was sie sind, nämlich als unbezweifelbare Mitglieder der physikalischen Welt? I n einer Versammlung wie dieser ist es anschaulich, darauf hinzuweisen, daß ontologische Grundsätze recht gut als das wissenschaftliche Analogon zum Beweisrecht zu verstehen sind. Sie liefern Regeln für die Zulässigkeit von wissenschaftlichen Tatsachenfeststellungen; Regeln darüber, was als Explanans für die Explananda der Einzelwissenschaften zugelassen werden darf. Als solche können sie kontrovers sein — ich erinnere daran, daß es einst eine hitzige Debatte darüber gab, ob unsichtbare Partikel reale Entitäten oder bloß logische Konstrukte seien 21 . Wie bei allen normativen Systemen sind auch die Regeln der Zulässigkeit wissenschaftlicher Tatsachenfeststellungen sowohl hinsichtlich ihrer inneren Konsistenz und Kohärenz prüfbar, als auch hinsichtlich der Folgen ihrer Akzeptierung 2 2 . Der Erfolg der modernen physikalischen Wissenschaften (der nicht nur dadurch bestätigt wird, daß sie uns die Kapazität gegeben haben, die gesamte lebendige Schöpfung, uns selbst eingeschlossen, zu vernichten) ist ein eindrucksvoller kausaler Beweis der Adäquatheit der ontologischen Lehrsätze und der dazu gehörigen Beweisregeln, auf welche sich diese Wissenschaften stützen. Aber es ist ein eklatantes non sequitur, anzunehmen, daß dieselben Beweisregeln für Untersuchungen i m sozialen Gebiet gelten oder angewandt werden sollten. 20

Vgl. G. E. M . Anscombe, op. cit. Vgl. z . B . die Diskussion zu Ernst Machs Auffassungen i n J. Losee, A Historical Introduction to the Philosophy of Science, London 1972, Kap. 11. 22 Vgl. D. N. MacCormick , Legal Reasoning and Legal Theory, op. cit., Kap. 5 u n d 10. 21

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Mein Anliegen ist es, zu behaupten, daß es keineswegs als befremdlich anzusehen ist, wenn man sagt, daß rechtliche Tatsachen oder andere institutionelle Tatsachen durch Regeln bestimmt sind. Was i n einem gewissen Feld der A k t i v i t ä t oder Forschung als Tatsache zulässig ist, hängt nicht nur davon ab, was real geschieht, sondern auch von den Regeln, denen diese A k t i v i t ä t oder Forschung unterworfen ist. Die Vernunft fordert, daß w i r nicht etwa m i t einer stets für alle Zwecke identischen Menge von Regeln operieren, von der Physik bis zur Jurisprudenz, sondern daß w i r eine gegenseitige Angemessenheit von Regeln und Untersuchungen sicherstellen — wobei es unser Ziel sein muß, eine A r t „Überlegungsgleichgewicht", wie John Rawls dies i n einem anderen Kontext genannt hat 2 3 , zwischen den Prinzipien der Untersuchung und den uninstruierten ,Intuitionen 4 über den Gegenstand herzustellen. Wenn es sich so verhält, dann haben w i r als Philosophen und Juristen die Pflicht, nicht leichtfertig a priori die ,Tatsachen4 des alltäglichen oder des üblichen rechtlichen Diskurses als bloße Scheintatsachen beiseite zu schieben. Wenn w i r auch dem philosophisch unbelehrten Common Sense der Juristen und Laien nicht zubilligen wollen, der Weisheit letzter Schluß zu sein, so sollten w i r dennoch danach trachten, die impliziten Ontologien, die i n den von uns implizit angewandten Prinzipien der Zulässigkeit von »Tatsachen4 i n verschiedenen Aktivitätsbereichen enthalten sind, zu analysieren und zu erläutern. Somit habe ich das Paradoxon wieder an meine fiktiven Opponenten zurückgereicht. Wenn sich ihr Einwand gegen meine Auffassung richtet, daß es durch Normen definierte Tatsachen gibt, dann lautet meine Antwort: zeigt m i r eine Tatsache, die nicht i n solcher Weise definiert ist. Nicht die »institutionellen Tatsachen4 sind problematisch, sondern die »rohen Tatsachen4.

4. Wir brauchen eine hermeneutische Methode Dies führt mich wieder zurück zu meinem persönlichen Grund, warum ich die analytische Rechtsphilosophie nicht als eine trockene Übung i n intellektueller Pedanterie, sondern als fundamentales und aufregendes Unterfangen der Forschung auffasse. Unser Verständnis des menschlichen Verstehens hängt letztlich von unserer Fähigkeit ab, die Stellung 23

Vgl. J. Rawls , A Theory of Justice, Oxford 1972, deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t 1975, S. 38 f., sowie A n m . 7, S. 38: Rawls' H i n weis auf N. Goodman, Fact, Fiction, and Forecast, Cambridge, Mass. 1955; deutsch: Tatsache, F i k t i o n , Voraussage, F r a n k f u r t 1975, zeigt die A n w e n d b a r keit des »Überlegungsgleichgewichtes 4 auch außerhalb der E t h i k .

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des Menschen i n normativen Ordnungen zu begreifen, was — da es entscheidend für den Begriff der zulässigen Tatsachen ist — nicht n u r für juristisches Wissen, sondern f ü r jedes Wissen grundlegende Bedeutung hat. Freilich ist das uns speziell interessierende Gebiet das des Rechtswissens; aber hier liegt die N o r m a t i v i t ä t unseres Gegenstandes offen zutage, u n d w i r arbeiten an seinem Verständnis m i t dem außerordentlichen Vorteil, daß w i r von einer zweieinhalbtausendjährigen Geschichte des Theoretisierens zehren u n d sie reflektieren können. Ich w i l l hier keineswegs die Dualität von »Sollen* u n d »Sein4, ,ought' u n d ,is', ,devoir être ' u n d ,être ( leugnen. Aber ich behaupte den Primat von ,Sollen',,ought', fdevoir être'. U m den Bereich des ,Seins' relativ zu irgendeiner A k t i v i t ä t oder Untersuchung zu definieren, müssen w i r , w i e bei allen solchen Definitionen, auf das ,Sollen' zurückgreifen. Daß hier eine Relativität vorliegt ist wichtig, w i r d aber w e n i g beachtet. W i r alle wissen, daß i n der Rechtspraxis die Frage, was als ,vernünftiges' Verhalten gilt, eine Tatsachenfrage i s t 2 4 ; u n d w i r wissen gleichfalls, daß sich aus dem B l i c k w i n k e l der Moralphilosophie die Frage, welches Verhalten »vernünftig' ist, eine Teilfrage des Problems ist, w i e w i r uns verhalten sollen. Vielleicht haben w i r es versäumt, aus diesen trivialen, einander gegenübergestellten Feststellungen die naheliegende generalisierte Folgerung zu ziehen, nämlich die der kontextuellen Relativität der Grenze zwischen Sein u n d Sollen. U n d w i r haben vielleicht auch verabsäumt, die weitere relevante Folgerung zu ziehen, daß für jede Untersuchung die folgende Frage grundlegend ist: was soll für die Zwecke dieser Untersuchung als »Tatsache' zugelassen werden? Eine klassische, aber häufig mißverstandene Manifestation dieser Wahrheiten findet sich i n H. L. A. Harts Theorie der ,Erkennungsregel' 2 5 . Es gibt — sagt er — einen Blickwinkel, nämlich den des externen Beobachters, v o n dem aus sich die Grundregel jedes funktionierenden rechtlichen Systems einfach als existierende soziale Tatsache präsentiert. Daß die höheren Beamten einer Rechtsordnung — oder wenigstens sie — i m großen u n d ganzen es als ihre Pflicht ansehen, jene Rechtsregeln anzuwenden, die gewisse Erkennungsregeln erfüllen, u n d zwar über eine längere Zeitspanne hindurch, u n d daß die A k t e u n d E n t 24 Dies betrifft vielleicht eine Eigenheit von Common-Law -Systemen. Aber alle Rechtssysteme ziehen für verschiedene Zwecke verschiedene Trennungs4 4 linien zwischen »Tatsachenfragen und »Rechtsfragen . Vgl. D. N. MacCormick, Legal Reasoning, op. cit., S. 86 - 97. 25 H. L. A . Hart, The Concept of Law, Oxford 1961; deutsch: Der Begriff des Rechts, Frankfurt 1973, Kapitel 6.

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Scheidungen, die sie nach diesen Regeln treffen, allgemein respektiert werden, dies sind die Gründe für die Behauptung, daß eine ,Erkennungsregel· und das Rechtssystem, welches durch sie bestimmt wird, existieren. Aber der Blickwinkel des externen Beobachters ist nicht der einzig mögliche. A n anderem Ort habe ich ausgeführt 26 : „Hart behauptet tatsächlich, daß die Existenz einer Erkennungsregel, vom Blickwinkel eines Beobachters aus gesehen, eine — wenn auch komplexe — »soziale Tatsache* sei. Daraus folgt aber nicht, daß die Regel i n ihrem »internen Aspekt', so wie sie sich jenen darbietet, für welche sie als Handelnde innerhalb des Rechtssystems normative Kraft hat, nichts weiter ist als eine »soziale Tatsache'." Man darf nicht glauben, daß nur externe Beobachter Existenzbehauptungen über das Recht fällen können. Richter stehen auch der Staatsverfassung als existierender Institution gegenüber. Entscheidend ist, daß sie für sie gleichzeitig auch normative Kraft hat. Sie betrachten sie nicht bloß als eine Aussage über mögliche Verhaltensmuster, welche i n ihrem Land zufällig mehr oder minder verbreitet auftreten, sondern als eine Aussage über mögliche Verhaltensmuster, welche verwirklicht werden sollen. Dies setzt eine gewisse willensmäßige Bindung, ein w i l lensmäßiges Engagement auf ihrer Seite voraus, sowie die kognitive Leistung des Verstehens des Inhalts; und sie setzen auch eine gemeinsame Verpflichtung für sich und andere i n ähnlichen Fällen voraus. Aus ihrem Blickwinkel sind und sollen die relevanten verfassungsmäßigen Kriterien die vorherrschenden Kriterien der Legalität sein, ebenso wie leitende Kriterien für die Wahl von Entscheidungsgründen i n allen jenen Fällen, welche zu entscheiden sie nur dann berechtigt sind, wenn diese Kriterien gelten. Der von Hart so genannte externe Beobachter, der versteht, daß dasjenige, was existiert, ein Rechtssystem ist, teilt als solcher nicht das volitive Engagement des aktiven Teilnehmers; aber er versteht notwendig ein solches Engagement oder eine solche Bindung i n der richtigen Weise. Wie ich andernorts 27 ausgeführt habe, kann seine Position nur ,volitiv extern', nicht aber »kognitiv extern' sein. Institutionelle Tatsachen üben auf jene eine normative Wirkung aus, die an dem normativen System teilnehmen; gerade darin besteht ihre Tatsächlichkeit. Sie können als solche nur von jemandem verstanden werden, der wenigstens versteht, was es heißt, i n irgendeinen Fall oder i n irgendwelchen Fällen willentlich Normsubjekt zu sein, auch wenn er außerhalb des von 26 27

D. N. MacCormick, Legal Reasoning, op. cit., S. 139. Vgl. a.a.O., S. 275 - 292.

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i h m untersuchten Normensystems steht und es ohne daraus folgende Verpflichtung betrachtet. Somit ergibt sich, daß die Erkenntnis und Analyse einer bestimmten Rechtsordnung keine Anerkennung oder Verpflichtung impliziert oder m i t sich bringt. Der Umstand, daß das Recht selbst Ideologie i n sich schließt, verpflichtet die analytische Jurisprudenz weder dazu, diese Ideologie anzuerkennen noch sie abzulehnen. Diesbezüglich teile ich nicht die oben zitierte Auffassung von Kunz. Das Analysandum der analytischen Jurisprudenz sind Rechtsordnungen, wie sie durch Handlungen, Worte und Gedanken der durch sie verpflichteten Teilnehmer konstituiert werden. Rechtswissen ist Wissen davon, welches für den verpflichteten Teilnehmer die Normen der Ordnung sind, und Wissen von den institutionellen Tatsachen, die durch die Interpretation von natürlichen Ereignissen i n den durch die Normen angebotenen Schemata konstituiert werden. Die dem Verständnis dieses Gegenstandes angemessene Methode w i r d durch den Gegenstand selbst bestimmt. Peter Hacker hat dies jüngst i n einem Aufsatz zu Ehren von H. L. A. Hart so ausgedrückt 28 : „ . . . die Beschreibung von spezifisch menschlichen Phänomenen muß ein Verständnis der beschriebenen Situation m i t einschließen, so, wie sie vom Handelnden, dessen Verhalten erklärt oder verstanden werden soll, wahrgenommen wird." Und dies, sagt er, ist „eines der hervorragenden Themen der Hermeneutik". Gewiß ist es ein ,hermeneutischer' Zugang i n diesem Sinne, den w i r auf dem Gebiet der Forschung i m Bereich der analytischen Jurisprudenz benötigen. Obgleich die »Wahrnehmung', die ein Handelnder bezüglich einer Situation hat, psychologische Bedingungen mit einschließt, wie Olivecrona und Ross meinen, ist die Methode der Verhaltenspsychologie als einer Naturwissenschaft dafür ungeeignet, die Natur der Normativität als eines Elementes in unserem Bewußtsein aufzudecken. Jeder Versuch, die Jurisprudenz auf einen Zweig der Verhaltenspsychologie zu reduzieren, ist somit zum Scheitern verurteilt. Kelsens Bestehen auf der ,Reinheit' der Methode führte i h n zu dem richtigen Standpunkt, kausal- oder verhaltenswissenschaftlich konzipierte psychologische oder soziologische Zugänge als der »Rechtswissenschaft' fremd zurückzuweisen. Aber er geht meiner Auffassung nach darin fehl, auch den hermeneutischen Zugang als i n ähnlicher Weise methodisch fremd zurückzuweisen. (Es ist nicht sicher, daß er i h n zurückweist, aber es ist sicher, daß er i h n nicht i n ausreichendem Maße zur 28 P. M . S. Hacker, Hart's Philosophy of Law, i n : Law, M o r a l i t y and Society (Hrsg. P. M . S. Hacker u n d J. Raz, Oxford 1977), S. 9.

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Geltung kommen läßt 2 9 .) Insoweit es allen Begründungen i n j u r i s t i schen Überlegungen vorangehende Voraussetzungen gibt, betreffen diese die Möglichkeit intentionaler u n d zweckgerichteter Handlungen vernünftiger Akteure, ebenso wie die Unmöglichkeit solche Handlungen, zu denen auch die normgelenkten gehören, rein nach dem Kausalprinzip zu erklären. Es gibt keine spezielle Kategorie des »Sollens4, vielmehr gehört die E r k l ä r u n g des ,Sollens 4 zum Verständnis von intentionalen und teleologischen Handlungen rationaler Akteure. Ich habe hier versucht, die Meinung zu bekämpfen, daß dies notwendig m i t einem »unwissenschaftlichen 4 Zugang verbunden sei — einem Zugang, der i n dem Sinne ,metaphysisch 4 wäre, i n dem das Wort auf eine Mißachtung v o n Tatsachen hinweist. Die Naturwissenschaften selbst sind intentionale und teleologische Aktivitäten, welche, w i e gesagt, notwendig m i t der Anwendung von Normen darüber verbunden sind, was als Tatsachenfeststellung zulässig ist u n d was als Tatsache zählt. Gewiß, diese Normen leiten uns an, n u r bestimmte Klassen von physikalischen Ereignissen an sich zu beachten, während die institutionellen Tatsachen des Rechts aus der Interpretation von Handlungen und Ereignissen unter Bezugnahme auf weitere wesentliche Verhaltensnormen resultieren. Aber das ist nur dann schwer zu verstehen, wenn die Natur der Normativität nicht verstanden w i r d ; u n d wenn sie nicht verstanden w i r d , dann ist auch die Naturwissenschaft unverständlich. U m die Natur der Normativität zu verstehen, müssen w i r die Natur der rationalen Handlung verstehen. Somit stellt der Bereich der praktischen Vernunft, insbesondere wo sie sich i n rechtlicher A k t i v i t ä t manifestiert, einen würdigen Gegenstand für die Forschungen der analytischen Jurisprudenz dar. Ich nehme es beinahe für eine Bestätigung der von m i r vorgetragenen Argumentation, daß heute i n so vielen Ländern so v i e l faszinierende A r b e i t i n dieser Richtung geleistet w i r d . Ich denke dabei an die fortgesetzte meisterhafte Leistung von Chaim Perelman 30, daran, daß Josef Esser 31 u n d Robert Alexy 32 die Grenzen unseres Begriffes davon, was i m Recht vernünftig u n d akzeptierbar ist, ausweiten, und auch an den Versuch des letzteren, dies alles i n ein Schema genereller Prinzipien der praktischen Vernunft einzubetten. Ich denke an 29 Ob solche Wissenschaften zurecht so aufgefaßt werden, ist freilich seinerseits wiederum kontrovers. Vgl. jedoch Kelsen, op. cit., supra η. 10. M a n beachte auch, daß Kelsen selbst Normen so versteht, daß sie Schemata f ü r die Deutung v o n Handlungen abgeben, u n d daß er also den ,hermeneutischen' Zugang, w i e er hier charakterisiert w i r d , i n gewisser Weise anerkennt. 30 Vgl. z.B. Ch. Perelman, Logique Juridique: Nouvelle Rhétorique, Paris 1976. 31 Vgl. z.B. J. Esser , Vorverständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung, Frankfurt 1972. 32 R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt 1978.

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Joseph Raz' »Practical Reason and Norms' 3 3 , an Ronald Dworkins ,Taking Rights Seriously' 3 4 , sowie an die Bücher von W. D. Lamont ss und J. M . Finnis 36, welche i m Manuskript zu lesen ich das Privileg hatte. Leider bedeutet all dies n u r eine schwache Bestätigung meiner Argumentation, w e i l ich damit lediglich eingestehe, daß ich mich nur dafür interessiere, was mich interessiert, u n d daß ich mich bei der Auswahl meines Lesestoffes sträflich selektiv verhalte. Ich befürchte, n u r eine grobe Skizze einer bestimmten Auffassung der analytischen Jurisprudenz gegeben zu haben. Auch habe ich keine v o l l ständige Analytische Rechtskonzeption dargelegt. Jedenfalls w ü r d e ich mich freuen, Sie davon überzeugt zu haben, daß die Ausarbeitung analytischer Konzeptionen des Rechts keinen unwürdigen Forschungsgegenstand darstellt. U n d ich freue mich darüber, daß es m i r (jedenfalls zu meiner eigenen Zufriedenheit) aufgrund meines Beweises der Möglichkeit von juristischem Wissen gelungen ist, das von m i r beschworene Gespenst einer sofortigen Kongreßauflösung zu bannen. Dies freut mich u m so mehr, als es m i r die Möglichkeit sichert, v i e l bessere, bemerkenswertere und originellere Vorträge als diesen hier anzuhören und zu diskutieren 3 7 .

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J. Raz, cit. sup. η . 15. R. Dworkin, T a k i n g Rights Seriously, London 1977. 35 W. D. Lamont, L a w and the M o r a l Order, Aberdeen 1981. 36 J. M . Finnis , Natural L a w and Natural Right, Oxford 1980. 37 F ü r K r i t i k u n d Anregungen schulde ich meinen Kollegen Z. Bankowski und R. Tur Dank. XV. Twining, dem ich gleichfalls danke, hat mich zu diesen Überlegungen angeregt. 84

OTA WEINBERGER

Jenseits von Positivismus und Naturrecht 0. Problemsituation und Aufgabenstellung W i r pflegen rechtsphilosophische Lehren als positivistisch oder naturrechtlich zu charakterisieren. Diese weitverbreitete Einteilung ist — auch wenn sie nur als eine erste und grobe Bestimmung gemeint ist — ein Beleg dafür, daß die rechtspositivistische und die naturrechtliche Konzeption als grundlegende idealtypisch entgegengesetzte Lehrmeinungen angesehen werden. Es mag daher vielleicht verwegen anmuten, wenn ich m i r erlaube, ein Plädoyer für eine rechtsphilosophische A u f fassung vorzulegen, die man m i t dem Schlagwort „Jenseits von Positivismus und Naturrecht" bezeichnen kann. I n Wirklichkeit ist dieser Standpunkt viel weniger revolutionär als es auf den ersten Blick scheint. Es gibt nämlich i n der heutigen Rechtsphilosophie zwischen Positivismus und Naturrechtslehren nicht unwesentliche Annäherungstendenzen. Sie entspringen nicht der Bestrebung nach eklektischen Kompromissen, sondern sie sind durch zwei Umstände bedingt: Die Problemsituation i n der Jurisprudenz stellt alle Forscher vor die gleichen Aufgaben und Probleme, so daß die Gesichtspunkte der gegnerischen Positionen beachtet werden müssen, wenn man den rechtlichen Phänomenen und seiner Aufgabe, eine rechtsphilosophische Lehrmeinung überzeugend zu begründen, gerecht werden w i l l . I n der zeitgenössischen Rechtstheorie w i r d das Begründungs- und Argumentationsproblem i n den Mittelpunkt des Interesses gerückt, wodurch die Streitfrage „Positivismus oder Naturrechtslehre" i n einem ganz anderen Lichte erscheint und eine Perspektive entsteht, i n der man m i t einem bloßen Bekenntnis zum Positivismus oder Naturrecht nicht weiterkommt. Sowohl der Charakter der positivistischen als auch jener der naturrechtlichen Lehren hat sich verändert. Die Positivisten werden vorsichtiger bei der Formulierung ihrer Thesen und offener bei der Bestimmung des Forschungsprogrammes der Jurisprudenz. Die modernen Naturrechtslehren treten nicht mehr als apodiktische Glaubenssysteme auf, sondern als rational argumentierende wissenschaftliche Theorien, und

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zwar auch dann, wenn der Autor durch Glaubenseinstellungen motiviert ist. Auch die meisten Naturrechtler sind sich heute dessen bewußt, daß der springende Punkt nicht die These von der Existenz immanenter Werte und der praktischen Erkenntnis ist, sondern allein die Frage, wie immanente Rechtsgrundsätze bewiesen bzw. begründet werden können. Außerdem scheint m i r die Tendenz zu bestehen, nur „schwache" Naturrechtssysteme aufzustellen 1 . Als schwache Naturrechtslehren bezeichne ich jene Lehren, die anerkennen, daß es die Hauptaufgabe der Jurisprudenz ist, das faktisch geltende Rechtssystem zu untersuchen, und bei denen Überlegungen über das Naturrecht bloß folgende A u f gaben haben: (a) sie dienen der inhaltlichen Rechtfertigung des Rechts, (b) sie versuchen die Verbindlichkeit der Rechtspflichten auch moralisch zu begründen, (c) sie wollen die Grundzüge der materiellen Gerechtigkeit aufweisen und (d) eine Stütze für die Lösung rechtlicher Problemfälle anbieten. Die schwachen Naturrechtslehren setzen nicht voraus, daß das geltende Recht aus den naturrechtlichen Prinzipien abgeleitet werden könnte, oder daß positiv entstandene Rechtssätze wegen ihrer Unverträglichkeit m i t den Naturrechtsprinzipien einfach als ungültig anzusehen seien. I n dieser historisch gegebenen rechtsphilosophischen Situation ist es m. E. nützlich, eine Position jenseits von Positivismus und Natur recht zu suchen. M i t diesem Schlagwort soll nicht die Differenz der ontologischen Voraussetzungen und die methodologischen Unterschiede zwischen Rechtspositivisten und Naturrechtlern geleugnet, sondern bloß die Irrelevanz dieser Unterschiede für die inhaltliche Rechtsbegründung behauptet werden. Da ich i m wesentlichen von einer Position ausgehe, die man nach traditioneller Terminologie als positivistisch bezeichnen würde, werde ich diese Aufgabe i n folgender Weise zu lösen suchen: (i) Die rechtspositivistische Konzeption möchte ich kritisch und i n etwas abgeschwächter Konzeption darstellen und hierbei unhaltbare Schlagworte vermeiden. (ii) Ich werde mich bemühen, ein möglichst breites Verständnis für die Motive der Naturrechtler aufzubringen. (iii) Die relevanten Probleme werde ich erkenntniskritisch und m i t Beachtung der Argumentationsstrukturen untersuchen, denn gerade dieses Moment läßt m. E. die Differenzen der Positionen dahinschwinden. 1 O. Weinberger, Über schwache Naturrechtslehren, in: H. Miehsler u . a . (Hrsg.), lus Humanitatis, FS f ü r A l f r e d Verdross zum 90. Geburtstag, B e r l i n 1980, S. 321 - 339.

142

Ota Weinberger

Aus dieser Aufgabenstellung ergibt sich folgende S t r u k t u r meiner Darlegungen: 1. Das Recht als institutionelle Tatsache u n d die Grundlagen rechtswissenschaftlichen Methode

der

2. Kritische Betrachtungen über den Begriff des Rechtspositivismus 3. Sachliche Gründe für eine naturrechtliche Auffassung 4. Braucht man für die inhaltliche Rechtsbegründung die Idee des Naturrechts? 5. Die Rolle des analytischen Zutrittes zur Rechtstheorie bei der A u f lösung des Streites zwischen Rechtspositivisten u n d Naturrechtlern

1. Das Recht als institutionelle Tatsache und die Grundlage der rechtswissenschaftlichen Methode Das Recht ist eine gesellschaftliche Tatsache; w e r ein Rechtssystem erkennen w i l l , möchte Aufschluß über eine gesellschaftliche Realität erhalten. Das Recht ist jedoch eine Tatsache besonderer A r t : ein institutionelles F a k t u m i m Sinne v o n Searle 2. Fakten dieser A r t können — zum Unterschied zu den sogenannten ,rohen Tatsachen 4 — nicht durch bloße Sachverhaltsbeschreibungen u n d Behauptungen über kausal-notwendige Regelmäßigkeiten des realen Geschehens hinreichend u n d adäquat beschrieben werden. Z u r Darstellung institutioneller Tatsachen ist es unerläßlich, praktische Begriffe heranzuziehen: den Begriff der Handlung (oder der Absicht), den Begriff der praktischen Sätze (in Gegenüberstellung zu den Aussagesätzen), denn n u r mittels solcher Sätze ist es möglich, Sollen, Wertungen u n d teleologische Relationen auszudrücken 3 . 2 Vgl. J. R. Searle , Speech Acts. A n Essay i n the Philosophy of Language, Cambridge 1960; deutsch: ders., Sprechakte. E i n sprachphilosophischer Essay, Frankfurt 1971. Searle hebt zwar die Besonderheit der institutionellen Fakten gegenüber den rohen Tatsachen hervor, er dürfte sich aber des normat i v e n (praktischen) Charakters der institutionellen Fakten nicht v o l l bewußt gewesen sein. Sonst hätte er nämlich erkannt, daß sein v i e l diskutierter Beweis, daß Sollen aus Sein gefolgert werden kann, aufgegeben werden muß. Wenn „versprechen" ein institutionelles F a k t u m ist (vgl. op. cit., S. 264 ff.), dann muß eine tiefengrammatikalische Analyse die S t r u k t u r dieser Prämisse aufdecken und zeigen, daß der rationale K e r n dieser institutionellen T a t sache i n der Geltung der generellen N o r m „Jedes Subjekt x , das einem Subj e k t y verspricht, ζ zu tun, soll ζ t u n " besteht. Dann w i r d nicht bewiesen, daß Sollen aus Sein gefolgert werden kann, da j a eine Soll-Prämisse implizit vorausgesetzt w i r d . 8 O. Weinberger, Tatsachen u n d Tatsachenbeschreibungen, in: K . Salamun (Hrsg.), Sozialphilosophie als Aufklärung, FS für Ernst Topitsch, Tübingen 1979, S. 173 - 187. I n diesem Bande S. 108 - 123.

Jenseits von Positivismus und Naturrecht

143

Institutionelle Tatsachen — w i e ζ. B. das Rechtssystem — sind i n eigenartiger Weise komplexe Tatsachen: sie sind normative Sinngebilde und bestehen gleichzeitig

als gesellschaftliche

Realitäten.

M a n erkennt

sie nur dann, wenn man sie als normative Sinngebilde versteht und gleichzeitig als Bestandteile der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt. Als normatives Sinngebilde ist das Recht Gegenstand der hermeneutischen Analyse. Das reale Bestehen des Rechtssystems liegt i n einer Menge verschiedener Umstände: das Recht besteht i m Bewußtsein der Menschen, greift i n Verhaltens- und Erwartungszusammenhänge ein und steht i n Relationen zu gesellschaftlichen Einrichtungen und beobachtbaren Vorgängen 4 . Dam Sinn nach ist das Rechtssystem ein Normensystem, dessen Struktur prinzipiell normenlogisch erfaßt werden kann und das auf teleologischen und wertorientierten Fundamenten steht. Die Rechtserkenntnis ist deswegen ein Erfassen des Sollgehaltes der Rechtsordnung und der Rechtsvorgänge als normativer institutionell verankerter Tatsachen. Dieser doppelte Aspekt der Rechtserkenntnis — das Erfassen des nor mativen Sinnes und die Erkenntnis des Realseins des Rechts — ist für die Jurisprudenz gleichermaßen wesentlich.

Die Reine Rechtslehre hat den interessanten Versuch unternommen,

das Recht und das rechtliche Geschehen als Dynamik i m Bereich der Normen zu erklären. Dies erreicht Kelsen i n seiner Theorie der Rechtsdynamik dadurch, daß er den die Entstehung bedingenden Normsatz als conditio per quam u n d als eigentlichen Geltungsgrund der abgeleiteten

Norm, die Aussage über die die Schlußfolgerung bedingende Tatsache aber bloß als conditio sine qua non charakterisiert. Geltungsgrund der

Norm ist für Kelsen nur die bedingende Norm, nicht auch die die Entstehung bedingenden Tatsachen 5 . Eine solche Unterscheidung von conditio per quam und conditio sine qua non m i t der Konsequenz, die con4 O. Weinberger, Die N o r m als Gedanke u n d Realität, ÖZÖR 20 (1970), S. 203 - 216, wiederveröffentlicht i n : ders., Logische Analyse i n der Jurisprudenz, B e r l i n 1979, S. 93 - 110; wiederabgedruckt i n diesem Band S. 60 - 75. 5 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., W i e n 1960, S. 196 f.: „Allerdings bildet i n dem Syllogismus, dessen Obersatz der die höhere N o r m aussagende Soll-Satz ist: m a n soll den Geboten Gottes (oder den Geboten seines Sohnes) gehorchen, u n d dessen Schlußsatz der die niedere N o r m aussagende Soll-Satz ist: m a n soll den Zehn Geboten (oder dem Gebot, seine Feinde zu lieben) gehorchen, der eine Seins-Tatsache feststellende Satz: Gott hat die Zehn Gebote erlassen (oder der Sohn Gottes hat befohlen, die Feinde zu lieben) als U n t e r satz ein wesentliches Glied. Obersatz u n d Untersatz sind beide Bedingungen des Schlußsatzes. A b e r n u r der Obersatz, der ein Soll-Satz ist, ist conditio per quam i m Verhältnis zum Schlußsatz, der auch ein Soll-Satz ist; das heißt, die i m Obersatz ausgesagte N o r m ist der Geltungsgrund der i m Schlußsatz ausgesagten Norm. Der als Untersatz fungierende Seins-Satz ist n u r conditio sine qua non i m Verhältnis zum Schlußsatz; das heißt: die i m Untersatz festgestellte Seins-Tatsache ist nicht der Geltungsgrund der i m Schlußsatz ausgesagten Norm."

144

Ota Weinberger

ditio sine qua non nicht als Bestandteil der Geltungsbegründung anzusehen, ist logisch nicht vertretbar. Der Versuch der Reinen Rechtslehre, das Rechtssystem unter Abstraktion vom tatsächlichen Geschehen zu erfassen, scheitert an zwei Umständen: 1. an der Tatsache, daß die Geltung eines Rechtssystems i n der gesellschaftlichen Realität (seine Faktizität) immer von Tatsachen abhängt, die nur durch soziologische Beobachtung erkannt werden können; 2. an der Tatsache, daß die Rechtsdynamik durch zwei Faktoren bedingt ist: durch das institutionelle Bestehen von Rechtsnormen, die die Bedingungen für die Entstehung neuer Normen enthalten, und durch ein tatsächliches Geschehen, nämlich die Erfüllung der Bedingungen für die Entstehung von Normen. Die Rechtserkenntnis sucht das bestehende Recht zu erfassen und zu analysieren. Dies w i r d kaum bestritten. Die Divergenz der Meinungen besteht i n der unterschiedlichen Bestimmung dessen, was als Bereich des Rechts anzusehen ist. Gehören zum Recht bloß explizite Verhaltensnormen oder auch nur implizit gegebene Rechtsgrundsätze? Umfaßt der Bereich des Rechts auch immanente Grundsätze? M i t anderen Worten: Gibt es überpositive Rechtsgrundsätze, die unabhängig von positivem Recht gelten und als Richtigkeitsmaßstäbe des positiven Rechts verwendet werden können? A u f diese Frage werde ich später zurückkommen. Hier möchte ich nur drei grundlegende methodologische Voraussetzungen anführen, von denen ich i n meinen Überlegungen ausgehen werde: (i) Die These des Non-Kognitivismus: Informative Normsätze können nicht durch Erkenntnisse, d. h. durch Erfahrung und rationale Analyse, allein begründet werden; ihre Begründung hängt immer auch von Stellungnahmen gewisser Subjekte ab 6 . Stellungnahmen sind daher immer systemrelativ, abhängig vom Wollen der betreffenden Subjekte. (ii) Das normenlogische Positivitätspostulat: Es ist nur dann sinnvoll, von Normen oder normativen Grundsätzen zu sprechen, wenn i h r Inhalt sprachlich explizit dargestellt werden kann 7 . (Das bedeutet nicht, daß β Die Beschränkung auf informative Normsätze führe ich deswegen ein, w e i l es möglich ist, informationsleere Normsätze [wie z . B . Normsätze v o n der F o r m ,Wenn , ( p A - i p), dann soll q sein'] als Bestandteil jedes N o r m systems anzusehen — analog w i e m a n Tautologien als Bestandteile jeder Theorie ansehen kann. Vgl. O. Weinherger, E x falso quodlibet i n der deskriptiven u n d i n der präskriptiven Sprache, Rechtstheorie, Bd. 6/1, 1975, S. 17 - 32. 7 Die Bezeichnung dieses Postulates r ü h r t daher, daß sprachliche F o r m u lierbarkeit Voraussetzung jeder normenlogischen Analyse ist. Das Postulat allein f ü h r t zu keiner Begründung des Rechtspositivismus. Es disqualifiziert n u r die bloße Behauptung, daß immanente Rechtsgrundsätze existieren, als wissenschaftlich bedeutungslos, w e n n der I n h a l t der Grundsätze nicht ausdrücklich dargestellt w i r d .

Jenseits von Positivismus und Naturrecht

145

jeder normative I n h a l t i n sprachlicher Formulierung gegeben sein muß, sondern bloß, daß der Soll-Inhalt prinzipiell sprachlich formuliert w e r den k a n n u n d daß er n u r i n einer solchen Formulierung der wissenschaftlichen Analyse zugängig ist.) (iii) Überlegungen

de lege lata und

Überlegungen

de lege ferenda:

Für die Methodologie der Jurisprudenz ist die Unterscheidung v o n Ü b e r l e g u n g e n u n d A r g u m e n t a t i o n e n de lege lata u n d de lege ferenda

grundlegend, nicht n u r deswegen, w e i l es eine ganz andere Frage ist, was — i m Sinne eines gegeben Hechtssystems — sein soll, u n d was — nach gewissen K r i t e r i e n — sein sollte, sondern auch deswegen, w e i l für beide A r t e n der Betrachtung grundsätzlich unterschiedliche Argumentationsstrukturen relevant sind. De-lege-lata-Argumentationen fassen die Rechtssätze als Prämissen auf, aus denen — i n der Regel zusammen m i t Tatsachen feststellenden Sätzen — normenlogisch deduziert w i r d . De-lege-ferenda-Argumentationen haben i m wesentlichen die S t r u k t u r v o n teleologischen Analysen. Ich möchte unterstreichen, daß meiner Meinung nach die De-legeferenda-Argumentationen ebenso Bestandteil der Jurisprudenz sind w i e die Untersuchungen de lege lata. Die Metatheorie des juristischen Denkens muß daher neben der Theorie der normativen Satzstrukturen u n d der Deduktion auch eine Theorie der S t r u k t u r der inhaltlichen Normbegründung umfassen 8 . V o n diesem Standpunkt aus erscheinen die i n haltliche Rechtsbegründung u n d die Analyse von Gerechtigkeitsproblemen als natürliche Bestandteile der juristischen Aufgabenstellung. Daß auch v o n der Rechtspraxis eine materielle Gerechtigkeitslehre erwartet w i r d , spricht ebenfalls für diese Auffassung. 2. Kritische Betrachtungen über den Begriff des Rechtspositivismus Der Versuch, den Begriff des Rechtspositivismus zu bestimmen, stößt auf nicht unwesentliche Schwierigkeiten. M a n könnte meinen, daß diese Begriffsbestimmung den gemeinsamen K e r n der verschiedenen positivistischen Rechtslehren herausheben sollte. Der Versuch, dies zu realisieren, müßte von der Klasse der positivistischen Lehren ausgehen u n d durch eine Begriffsanalyse die gemeinsamen Merkmale der Elemente dieser Klasse auffinden. Eine solche Überlegung bewegt sich jedoch i m Kreise, da die Bestimmung der Klasse positivistischer Theorien die Kenntnis der entscheidenden Merkmale des Rechtspositivismus voraussetzen müßte; sie ist also methodologisch undurchführbar. 8

Vgl. O. Weinberger, Z w e i Gebiete der Sollsatzlogik, in: ders., Studien zur Normenlogik (tschechisch), Rozpravy Ceskoslovenské akademie vëd, Jg. 70, H. 1, 1960; ferner: ders. t Studien zur Normenlogik u n d Rechtsinformatik, Berl i n 1974, S. 17 ff. 10 MacCormick/Weinberger

146

Ota Weinberger

Es ist überhaupt fraglich, ob es eine Klasse gemeinsamer Merkmale aller positivistischen Lehren gibt. Es besteht zwischen diesen Lehren eher bloß eine Familienähnlichkeit i m Sinne von Ludwig Wittgenstein. Man kann die Aufgabe, den Positivismus zu definieren, auch nicht dadurch bewältigen, daß man A r t e n oder Typen von rechtspositivistischen Lehren unterscheidet und dieser Unterscheidung entsprechend mehrere verschiedene Begriffe des Positivismus definiert 9 . Man müßte nämlich begründen, w a r u m diese verschiedenen Typen von Rechtslehren dem gemeinsamen Oberbegriff untergeordnet werden, und dies kann nur durch eine Definition des allgemeinen Positivismusbegriffes geschehen. Vermutlich erschwert auch die Tatsache, daß der Rechtspositivismus häufig als abhängig vom philosophischen Positivismus angesehen wird, die Erklärung des Begriffes ,Rechtspositivismus' 10 . Meiner Ansicht nach ist nämlich diese Abhängigkeit des Begriffes »Rechtspositivismus' vom philosophischen Positivismus nur eine partielle. Der Rechtspositivismus geht mit dem philosophischen Positivismus n u r insoweit konform, als er der Wissenschaft die Aufgabe der Realitätserkenntnis stellt, er rezipiert aber nicht — oder wenigstens nicht immer — die methodologischen Vorstellungen des philosophischen Positivismus. Ich werde hier — was für die Zwecke meiner Überlegungen hinreichend ist — den Rechtspositivismus dadurch charakterisieren, daß ich seine Einstellung zum Recht als Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis bestimme und die der positivistischen Sicht entsprechende Aufgabenstellung der Rechtswissenschaft darlege. Diese indirekte Begriffsexplikation des Rechtspositivismus besteht aus einer positiven und einer negativen Charakteristik. D i e positive Bestimmung des Rechtspositivismus k a n n folgendermaß e n ausgedrückt w e r d e n : Der Rechtspositivismus geht von der Voraussetzung aus, daß das Recht ein konstitutives Element der gesellschaftlichen Realität ist, m i t a n d e r e n W o r t e n : daß es als institutionelles Faktum besteht, welches von der Rechtswissenschaft erfaßt und erklärt werden soll. Die Rechtserkenntnis wird als Erkenntnis einer sozialen

Realität aufgefaßt. Sie ist daher — auch wenn sie einen spezifischen normativen Gegenstand hat und verstehende Erkenntnis ist — von Erfahrung abhängig. I n Gegenüberstellung zu den Naturrechtslehren kann folgende negative Bestimmung

des Rechtspositivismus

gegeben w e r d e n : Der

Rechts-

9 Vgl. z. B. H. L. A . Hart, Positivism and the Separation of L a w and Morals, i n : R. M. Dworkin , The Philosophy of L a w , Oxford 1977, S. 18, F N 1. 10 Vgl. z. B. W. Ott, Der Rechtspositivismus, B e r l i n 1976, S. 111.

147

Jenseits von Positivismus und Naturrecht positivist voraus,

setzt

keine

vorgegebenen

die unabhängig

Richtigkeitsmaßstäbe

von Institutionen

und

des Rechts

menschlichem

Wollen

gelten würden. Er macht auch keine solchen metaphysischen Voraussetzungen, aus denen Richtigkeitsmaßstäbe abgeleitet oder begründet werden könnten. Der Rechtspositivist ist davon überzeugt, daß es keine praktische Erkenntnis gibt, d. h. er leugnet die Möglichkeit, rein kognit i v Grundsätze des richtigen Rechts zu gewinnen: Normen und Werte können nicht ohne Stellungnahmen,

also nicht rein kognitiv,

begründet

werden.

M i t dieser positivistischen Einstellung können recht verschiedene methodologische Konzeptionen verbunden werden. Die wichtigste typologische Differenzierung der rechtspositivistischen Lehren l i e g t d a r i n , daß die e i n e n das Recht primär als normativ-gedanklichen

wohl Ge-

genstand betrachten, der verstehend erfaßt werden muß, die anderen primär

das faktische

rechtliche

Geschehen

als G e g e n s t a n d d e r Rechts-

erkenntnis ins Auge fassen. Dem entspricht die typologische Unterscheid u n g d e r normativistischen u n d d e r realistischen rechtspositivistischen Lehren.

b z w . d e r soziologischen

Hier taucht die Frage auf, wie weit der Bereich des positiven Rechts reicht. Jedenfalls gehören zu diesem Bereich die Gesamtheit der generellen Normen und die von ihnen abgeleiteten sekundären Normen: Rechtspflichten,

Ansprüche

u n d Rechtsbeziehungen

aller A r t . Z u dem

System des positiven Rechts gehört auch die Judikatur, mag sie Rechtsquelle sein oder nur i n anderer Weise zum Rechtsleben gehören und durch Argumente oder Autorität auf die Entscheidungspraxis einwirken. Zu den positiv institutionalisierten Momenten des Rechts als einer gesellschaftlichen Realität gehört auch die Rechtswissenschaft und die gesellschaftlich verankerte Interpretationsmethodik. Zum System des positiven Rechts gehören auch die Rechtsgrundsätze und der teleologische Hintergrund der Rechtsordnung, die teils als rationale Abstraktionsprodukte aus geltenden Rechtsvorschriften, teils als institutionalisiertes Vorwissen des Juristen i n Erscheinung treten. Man könnte zwar einwenden, daß i n diesem Falle wegen des Mangels einer expliziten formalen Quelle unseres Wissens über Rechtsgrundsätze und Zwecke der rechtlichen Institutionen ein gewisses Moment der Ungewißheit auftreten kann; dennoch b i n ich der Meinung, daß man auch diese Elemente des Rechtslebens — da sie i n der Tat wirksam sind — als Bestandteile der rechtlichen Realität ansehen muß. Man sagt manchmal, daß nach rechtspositivistischer Auffassung jeder beliebige Inhalt gültiges Recht sein kann, wenn er i m entsprechenden Verfahren als Recht gesetzt wird. Es ist wohl richtig, daß nach positivistischer Auffassung die möglichen Rechtsinhalte außer dem K r i t e r i u m 10·

148

Ota Weinberger

der logischen Konsistenz keinen Richtigkeitsmaßstäben unterworfen sind. Die These von der Beliebigkeit des Rechtsinhaltes darf aber nicht so gedeutet werden, als verträte der Rechtspositivismus die Meinung, i m Bereich der Rechtssetzung bestehe freie W i l l k ü r . I m Gegenteil, m i t dem Rechtspositivismus ist die Behauptung verträglich, daß die Bestimmung des Inhaltes von Rechtsvorschriften ebenso wie die des Inhaltes von Entscheidungen ein Ergebnis wertender Überlegungen und — wenigstens relativ zu gewissen Voraussetzungen — begründbar ist. — Der Inhalt des Rechtssystems ist auch i n dem Sinne nicht beliebig, daß das Rechtssystem i n Anbetracht der anthropologischen Struktur der Gesellschaft und der Rolle des Rechts i n der Gesellschaft gewisse Funktionen erfüllen muß und daher immer gewisse inhaltliche Züge aufweist. Der Rechtspositivist schließt gar nicht die Möglichkeit aus, daß das menschliche Wesen oder (und) die menschliche Gesellschaft von der A r t sein mögen, daß gewisse Sollinhalte niemals akzeptabel sein können. Wenn es jedoch solche anthropologische Schranken für die Inhalte möglichen Rechts geben sollte, können w i r sie nicht erkennen, denn w i r wissen nie, ob das, was w i r i n einer gewissen gesellschaftlichen Situation als notwendigerweise gesollt erleben, unabhängig von subjektiven und historisch-kulturell bedingten Einstellungen objektiv gesollt ist. Man kann dies auch so ausdrücken: Nach positivistischer Konzeption sind Stellungnahmen nicht objektivierbar; w i r können aber nicht behaupten, daß jede logisch denkbare Werteinstellung auch anthropologisch möglich ist, d. h. dem Wesen des Menschen entspricht. I n diesem Zusammenhang ist es interessant Harts Lehre vom M i n i malgehalt an Naturrecht zu analysieren. Wenn H. L. A . Hart aus Überlegungen über die anthropologische Rolle des Rechts Postulate über einen Minimalgehalt der Rechtsordnung an Naturrecht aufstellt 1 1 , kann i h m insoweit recht gegeben werden, als jedes Rechtssystem als institutionelles Gebilde gewisse inhaltliche Merkmale aufweisen muß. Diese inhaltlichen Bestimmungen können aber m. E. nicht als Naturrecht angesehen werden, sondern sie sind definierende Merkmale des Rechtsbegriffes, die dann zur Geltung kommen, wenn man das Recht nicht nur strukturell, sondern auch vom Standpunkt seiner gesellschaftlichen Funktionen betrachtet 12 . Man versteht den Rechtspositivismus oft i n dem Sinne, daß er die Lehre sei, dergemäß gültige Rechtsnormen genau jene Normen seien, die i n der durch die Verfassung (oder die Grundnorm) vorgeschriebenen Form kreiert wurden. Die Beschränkung der gültigen Rechtsinhalte auf das explizit i n Rechtsquellenform gesetze Sollen ist insoweit von 11 12

H. L. A . Hart, The Concept of Law, Oxford 1961, S. 189 - 195. Siehe O. Weinberger , Über schwache Naturrechtslehren, a.a.O.

Jenseits von Positivismus und Naturrecht

149

großem Wert für die analytische Rechtsbetrachtung, als es einen verhältnismäßig einfachen Weg zur logisierten u n d idealisierten Rekonstruktion des Rechtssystems vorzeichnet. Die offene S t r u k t u r des Rechtssystems u n d die praktische Notwendigkeit, möglichst v i e l i n h a l t liche Determination zu gewinnen, sprechen jedoch dafür, auch jene t a t sächlich vorhandenen u n d wirksamen Elemente als positive Bestandteile des Rechtssystems anzusehen, die aus dem System erschlossen oder als institutionalisiertes Vorwissen aufgedeckt werden können (wie Rechtsgrundsätze, der teleologische Hintergrund des Rechts usw.). F ü r die analytische Rechtstheorie bedeutet dies: Die rationale Rekonstruktion des Rechtssystems, welche die analytische Rechtslehre anstrebt, muß dazu übergehen, auch komplizierte Strukturen ins Auge zu fassen, die mit der Existenz von positiven Rechtsgrundsätzen und des teleologischen Hintergrundes des Rechtssystems verbunden sind. D a d u r c h w i r d

aber diese Theorie auch methodologisch ergiebiger.

3. Sachliche Gründe für eine naturrechtliche Auffassung Es besteht die Möglichkeit, Naturrechtskonzeptionen auf religiösen Glauben zu stützen u n d dementsprechend die religiösen Quellen als Begründung präpositiver Rechtsgrundsätze u n d Gerechtigkeitsmaßstäbe anzusehen. Ich sehe jedoch v o n dieser Motivation des Naturrechts ab u n d beschränke mich auf die Betrachtung jener Momente, die als rein wissenschaftliche Gründe f ü r naturrechtliche Konzeptionen angeführt werden können. Die Bemühungen mancher Naturrechtler, das Dasein des Rechts u n d der rechtlichen I n s t i t u t i o n zu rechtfertigen, ist f ü r unsere Betrachtungen k a u m v o n Bedeutung. Wenn vorausgesetzt w i r d , daß eine n a t u r rechtliche Begründung des rechtlichen Sollens dazu erforderlich ist, daß Rechtspflichten nicht n u r als erzwungenes Sollen, sondern gleichzeitig als moralisch verbindlich gelten können, so erscheint m i r auch diese Frage für uns n u r i n d i r e k t v o n Bedeutung, denn es handelt sich hier u m die moralische Einstellung zum Recht, also u m ein spezielles Problem der E t h i k . V o m rechtstheoretischen Standpunkt ist bloß die Frage relevant, ob Rechtspflichten n u r dann bestehen, w e n n pflichtwidriges Verhalten m i t rechtlichen Sanktionen bedroht w i r d . M. E. setzen auch leges imperfectae Rechtspflichten. Es gibt — soziologisch gesehen — viele Momente, die zur Einhaltung sanktionsloser Rechtspflichten führen. Sachlich scheinen m i r folgende drei Gründe als Motive für die Annahme einer Naturrechtslehre v o n entscheidender Relevanz zu sein:

Ota Weinberger

150 Α. die Begründung

richtigen

Rechts;

B. der Wunsch, das Recht nicht nur als Konsequenz

der Macht

aufzu-

fassen; C. das Bestreben,

eine Hilfe

bei der Lösung von Problemfällen

anzu-

bieten.

Ad A: Es ist verlockend, eine wissenschaftliche Methode zu suchen, nach der richtiges Recht erkannt werden könnte. Immanente Rechtsgrundsätze könnte man — w e n n sie objektiv auf weisbar wären — zur Begründung der Rechtssetzung sowie der Entscheidung, insbesondere beim Ausfüllen v o n Ermessensrahmen u n d Rechtslücken, verwenden, ebenso wie als K r i t e r i e n f ü r die Ablehnung v o n unmoralischem Recht von der A r t des nazistischen Systems oder von Systemen, die Schauprozesse organisieren. Es ist jedoch f ü r die Argumentation i n diesen Fällen bedeutungslos, w e n n behauptet w i r d , daß es solche Grundsätze des richtigen Rechts gibt, solange k e i n überzeugendes Verfahren zur inhaltlichen Bestimm u n g dieser Grundsätze zur Verfügung steht. Als Quellen der Begründung kommen hier die Vernunft, die I n t u i t i o n u n d die Erfahrung i n Frage. Die Vernunft im logischen Sinne kann als Instrument der Gedankentransformation und der relativen Begründung keine inhaltlichen Richtigkeitsmaßstäbe liefern.

W i r haben zweifellos ein intuitives Rechtsbewußtsein, doch bleibt die Frage offen — u n d m. E. prinzipiell unbeantwortbar —, ob das, was uns i n t u i t i v als w e r t v o l l u n d richtig erscheint, absolut (bzw. objektiv) richtig ist oder uns n u r i n unserer historisch u n d gesellschaftlich determinierten Lebenssituation als richtig erscheint. Für unsere juristischen Argumentationen sind die tatsächlichen Überzeugungen (und gegebenenfalls Konsens in diesen Fragen) eine hinreichende Basis. W e n n m a n

m i t der bestehenden i n t u i t i v e n Überzeugung argumentiert u n d diese Überzeugungen nicht als Naturrecht deutet, dann spricht man ihnen weder absolute noch objektive Geltung zu; sie bleiben also kritisierbar, u n d es w i r d i m Gegenteil m i t der Möglichkeit einer Revision sowie ideologiekritischer Hinterfragung gerechnet. Jene Rechtspositivisten, die i h r Augenmerk auf die materielle Rechtsbegründung richten, arbeiten natürlich m i t empirischen Erkenntnissen als Argumenten. Sie untersuchen die „ N a t u r der Sache", d . h . sie v e r suchen, die möglichen Normierungen i n dem gegebenen Tatsachenrahmen festzustellen; sie versuchen, die soziologischen u n d psychologischen Tatsachen u n d Relationen i n Betracht zu ziehen. Z u m Unterschied v o n

Jenseits von Positivismus und Naturrecht

151

den naturrechtlich argumentierenden Forschern erwarten sie von der Erfahrung keine Entscheidung, was als „richtiges" Recht gesetzt werden soll, also keine „praktische Erkenntnis", sondern sie streben bloß eine sachlich fundierte und — wenn sie Demokraten sind — konsensfähige, normsetzende Dezision an. Ad Β: Wenn man von der rein positivistischen Setzung und der Durchsetzung des Rechts ausgeht, scheint das Recht eine bloße Funktion der Macht zu sein. Es ist nicht nur eine Folge der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes »Recht*, daß w i r das Recht nicht als willkürliche Setzung der Machthaber auffassen wollen, sondern als ein gesellschaftliches normatives System, das auch funktionell und wertmäßig begründet ist. Von diesem Gesichtspunkt aus scheinen die Naturrechtslehren eine akzeptablere Konzeption als der Positivismus zu sein. Nun kann aber auch der Positivist die Tatsache anerkennen, daß jedes Rechtssystem als gesellschaftliche Institution das vorgeschriebene Sollen nicht w i l l k ü r l i c h setzt, sondern als moralisch und gesellschaftlichfunktional begründet hinstellt. Dies ist für die Funktion und die Durchführung des rechtlichen Sollens — auch soziologisch betrachtet — von wesentlicher Bedeutung. Es ist zwar zu fordern, daß das Recht einen moralisch akzeptablen Inhalt habe, und nicht nur ein Produkt der Macht sei; es wäre aber verfehlt, faktisch geltendes Recht, welches durch Macht gesetzt und durchgesetzt wird, nicht als Recht anzuerkennen, weil es gewisse moralische Postulate verletzt. Unsere Erkenntnisaufgabe, das wirkliche Recht festzustellen, zwingt uns, auch unmoralisches Recht als Recht zu verstehen. Diese Erkenntnis impliziert aber nicht, daß w i r uns i n diesem Falle — moralisch gesehen — dem Recht entsprechend verhalten sollen. Wenn man keine naturrechtlichen Suppositionen macht, bleibt uns als moralischen Personen die Entscheidung offen, ob w i r dem Recht gemäß handeln sollen, auch dann, wenn die Moral i m Prinzip fordert, das Recht zu akzeptieren und einzuhalten. Für entartetes (unmoralisches) Recht gilt kein solches moralisches Postulat! Abgesehen von den Beweisschwierigkeiten, vor die der Naturrechtler gestellt ist, wenn er immanente Rechtsgrundsätze beweisen soll, ist vom pragmatischen Standpunkt aus nicht zu erwarten, daß der unmoralische Gesetzgeber sich durch die naturrechtlichen Überlegungen von seiner Machtausübung und von Gewalttaten abhalten ließe. Gegen reine Gewaltherrschaft können theoretische Überlegungen wenig ausrichten. Die entarteten Systeme verstehen es i m Gegenteil, eine rechtfertigende Ideologie für Greueltaten plausibel zu machen (manchmal auch m i t naturrechtlicher Argumentation). Deswegen halte ich auch i n diesem

152

Ota Weinberger

Punkt eine positivistische Auffassung für adäquater, wenn sie die Tatsache nicht übersieht, daß i n jeder Gesellschaft ein Gerechtigkeitsbewußtsein besteht, was i n der Regel zur Folge hat, daß das Recht nicht allein durch Macht konstituiert wird, sondern auch auf gesellschaftlich-funktionaler Begründung beruht. Ad C: Der Jurist i n der Praxis erwartet von der Rechtstheorie und von der Rechtsphilosophie eine Unterstützung bei der Lösung von Problemfällen (hard cases). Wenn man Rechtsgrundsätze, den teleologischen Hintergrund des Rechtssystems und die institutionalisierte Vorgangsweise der juristischen Hermeneutik als Bestandteil der positiven Rechtswirklichkeit ansieht, dann dürfte der Naturrechtler zur Lösung von Problemfällen kaum mehr zu bieten haben als der Positivist. Während beim Naturrechtler die Tendenz besteht, die herangezogenen Argumentationsmittel als immanent gültig aufzufassen, besteht beim Positivisten die Tendenz, die Argumente seiner inhaltlichen Rechtsbegründungen durch Analyse, Wertung und Konsensüberlegungen zu stützen. 4. Braucht man für die inhaltliche Rechtsbegründung die Idee des Naturrechts? Wenn die Idee des Naturrechts i n der Jurisprudenz eine pragmatische Rolle spielen soll, dann vor allem i n materiellen Argumentationen de lege ferenda. Es muß nun kritisch geprüft werden, ob die Idee des Naturrechts für diese Argumentationen w i r k l i c h von Bedeutung ist. Die bloße metaphysisch-ontologische Behauptung, daß absolute bzw. objektive Werte oder immanente Rechtsgrundsätze existieren 1 3 , ist für diese Argumentation irrelevant, denn aus einer solchen Existenzthese läßt sich kein Argument für oder gegen eine vorgeschlagene Normierung gewinnen. Nur wenn inhaltlich bestimmte Grundsätze als objektiv gültig bewiesen wären, könnten daraus rechtspolitische Folgerungen abgeleitet werden. I n bezug auf diese Fragestellung möchte ich die folgenden Thesen vertreten: a) Jeder einzelne und jede Gesellschaft anerkennen gewisse Sollensgrundsätze als i n t u i t i v evident. Wahrscheinlich divergieren jedoch die 13 A l s absolut bezeichnen w i r Werte oder normative Grundsätze, w e n n w i r sie als vorgegeben u n d als m i t Notwendigkeit ewig g ü l t i g ansehen; objektiv gültig sind sie jedoch auch dann, w e n n sie zwar nicht ewig gültig, aber i n der gegebenen Situation als richtig erkennbar sind. Immanente Geltung k a n n absolute oder objektive Geltung sein.

Jenseits von Positivismus und Naturrecht

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Wertvorstellungen der einzelnen Personen bzw. Gruppen nicht unwesentlich. b) Es läßt sich nicht beweisen, daß das, was als i n t u i t i v wertvoll erlebt wird, objektiv wertvoll ist. Selbst wenn es sinnvoll ist, von objektiven Werten zu sprechen, bleibt die Grenze zwischen subjektiver Wertevidenz und objektiver Wertgeltung nicht erkennbar. c) Die gegebene Werteinteilung, die i n t u i t i v erlebt w i r d oder die i n einer gewissen historischen und sozialen Situation als maßgeblich erscheint, kann analysiert, gegebenenfalls kritisiert und verändert werden. Dabei treten Wertungen, die gleichzeitig von verschiedenen Gesichtspunkten und Zielsetzungen ausgehen, sowie Analysen der zu erwartenden Folgen, die wiederum gewertet werden, auf. Wesentlich ist, daß hier wiederholt Stellung genommen wird, daß hierbei zu kognit i v erarbeiteten Alternativen und Konsequenzen Stellung bezogen w i r d und daß dieser ganze Prozeß eine kritisch läuternde Funktion hat 1 4 . d) Für die rechtspolitische Argumentation ist es nicht erforderlich, von immanent gültigen Wertungen auszugehen. Wertüberzeugungen erfüllen dieselbe Funktion. Es besteht n u r der Unterschied, daß Wertüberzeugungen als Stützen und Ausgangspunkte der Argumentationen hinterfragt und aufgrund von Analysen geläutert werden können. Wenn man jedoch diese Argumente als immanent gültig hinstellt, dann erscheint die kritische Analyse und der Versuch, adäquatere Wertungen zu erlangen, fehl am Platz. Außer eines gewissen Immunisierungseffektes, der m i t der Bezeichnung als Naturrecht verbunden zu sein pflegt, hat die Wertüberzeugung dieselbe Rolle i n der Argumentation wie absolute Werte oder immanente Rechtsgrundsätze. e) Zweckanalysen und die Abwägung der Folgen rechtlicher Maßnahmen sind die entscheidenden Argumentationsstrukturen de lege ferenda, mag man die Wertungen als immanent gültig oder als faktische Wertüberzeugungen und Stellungnahmen ansehen. Naturrechtliche Voraussetzungen sind also für Überlegungen de lege ferenda nicht erforderlich. Der Positivist kann auch Anleitungen geben, die zu brauchbaren Delege-ferenda-Argumentationen führen. Es ist i n diesem Rahmen nicht möglich, ein System solcher Anleitungen zu entwickeln. Sie werden m i t manchen Analysen der Naturrechtler eine gewisse Ähnlichkeit haben, sich jedoch von diesen prinzipiell dadurch unterscheiden, daß die Argumentation nicht als praktische Erkenntnis, sondern als Argumentation 14 John Rawls 9 Idee u n d Methode des Überlegungsgleichgewichts stellt i m wesentlichen eine solche Analyse dar. Vgl. J. Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t a. M . 1975.

Ota Weinberger

154

konstruiert ist, i n der intuitive Überzeugungen und subjektive Wertungen eine Holle spielen. Ich führe nur zwei Methoden als Beispiele an: (i) Die Methode

der schwachen

(selbstverständlichen)

Voraussetzun-

gen. Man kann ohne Naturrecht gewisse allgemeine Prinzipien des Rechts i n sehr überzeugender Weise dadurch begründen, daß man von allgemein anerkannten und sozusagen selbstverständlichen Prämissen ausgeht. Ich habe ζ. B. i n einer früheren Arbeit zu zeigen versucht 15 , daß aus der wohl selbstverständlichen Voraussetzung, daß die menschliche Gesellschaft sprachliche Kommunikation braucht, und aus grundlegenden informationstheoretischen Erkenntnissen gewisse Folgerungen über das Postulat der Wahrheit abgeleitet werden können. (ii) Die

Methode

der

konsensstrebigen

Analysen.

Im

Geiste

einer

demokratischen Weltanschauung kann man Überlegungen über verschiedene Normierungsmöglichkeiten anstellen, die die Konsensfindung unterstützen. Wenn es gelingt, zu zeigen, daß die Meinungsverschiedenheiten teils Tatsachenvoraussetzungen betreffen, teils aber Wertungsdifferenzen sind, w i r d die Wahrscheinlichkeit des Konsensfindens erhöht. Wie insbesondere Stevenson gezeigt hat, sind die Meinungsverschiedenheiten i n praktischen Fragen teils durch Unterschiede der Tatsachenvoraussetzungen, teils durch Wertungsdifferenzen verursacht 16 . Werden diese beiden Gruppen von Gründen getrennt untersucht, so können empirische Methoden zur Untersuchung der Tatsachenvoraussetzung angewandt werden. Auch über die eventuell divergierenden Wertestandards und Präferenzen kann diskutiert werden. Jedenfalls ist es wahrscheinlich, daß eine zu den Quellen der Meinungsverschiedenheiten zurückschreitende Analyse Möglichkeiten des Konsensfindens eröffnet. Natürlich spielen i m Prozeß des Konsenssuchens auch die Interessen der verschiedenen Gruppen und Personen eine wichtige Rolle. Wenn auf verschiedenen Seiten der Wille zum Konsens besteht, können auch Kompromisse erreicht werden, durch die divergierende Interessen ausgeglichen werden. Erkenntnisse über die soziale Realität und ihre Gesetzmäßigkeiten können zu Rate gezogen werden. I m Rechtsleben und i m politischen Leben geht es nicht nur darum, Konsensmöglichkeiten zu suchen und zu schaffen, sondern oft auch darum, konsensfähige Lösungen, die den Interessen verschiedener Parteien entsprechen, zu finden, d. h. eigentlich, sie zu erfinden. 16 Vgl. O. Weinberger, Wahrheit, Recht u n d Moral, Rechtstheorie, Bd. 1, H. 2, 1970, S. 129 - 146; wiederveröffentlicht i n : ders., Logische Analyse i n der Jurisprudenz, B e r l i n 1979, S. 127 - 145. 18 Vgl. z . B . Ch. L. Stevenson, The Nature of Ethical Disagreement, i n : H. Feigl / W. Seilars (Hrsg.), Readings i n Philosophical Analysis, New Y o r k 1949, S. 587 - 593.

Jenseits von Positivismus und Naturrecht

155

5. Die Bolle des analytischen Zutrittes zur Rechtstheorie bei der Auflösung des Streites zwischen Rechtspositivisten und Naturrechtlern Die analytische Jurisprudenz hat die Aufmerksamkeit der Rechtswissenschaftler auf die Strukturprobleme des Rechts und auf die logische Analyse der juristischen Argumentationen hingelenkt. Durch die vorliegenden Überlegungen wollte ich nachweisen, daß die erkenntniskritische Analyse der juristischen Argumentation einen Standpunkt rechtfertigt, den ich als „jenseits von Positivismus und Naturrecht" bezeichnet habe. Es hat sich nämlich gezeigt, daß i n den eigentlichen Argumentationsstrukturen die naturrechtlichen Voraussetzungen nicht zur Geltung kommen und daß materiellrechtliche Begründungen und Gerechtigkeitsanalysen auch auf der Basis einer rechtspositivistischen Konzeption aufgebaut werden können. I n dieser Weise werden Scheinargumente, die i n metaphysischen Systemen des Naturrechts nicht selten sind, vermieden, und dennoch eine praktikable Anleitung zu inhaltlich-wertenden Argumentationen gegeben. Als zwei wichtige Formen solcher Argumentationen habe ich die Begründung aus selbstverständlichen Argumenten und Analysen, die zu Konsens führen sollen, angeführt. Ich b i n allerdings zu einer etwas vorsichtigeren Bestimmung des Begriffes ,Rechtspositivismus 4 gekommen, dergemäß die Gesamtheit der institutionell bestehenden Rechtswirklichkeit als positives Recht angesehen wird. Diese Auffassung bedeutet eine Verbindung des analytischen und des realistisch-soziologischen Rechtspositivismus. Trotzdem w i r d ein Methodensynkretismus 17 vermieden, denn nach meiner A u f fassung w i r d der Typus der Methode durch die A r t der Problemstellung bestimmt. Der analytische Z u t r i t t bringt also auch i n diesem Bereich eine intellektuell befriedigende Lösung, und zwar nicht nur weil er zum besseren Verständnis der Argumentationen führt, sondern auch deswegen, weil er uns erlaubt, die unbegründbare These von der Existenz absoluter bzw. objektiver Werte oder Rechtsgrundsätze zu vermeiden, und dennoch eine Theorie des inhaltlichen Argumentierens ohne metaphysische Voraussetzungen anzubieten. Es verschwindet zwar der Schein der absoluten Gewißheit; an seine Stelle t r i t t Plausibilität und demokratisches Suchen nach Konsens.

17

Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., W i e n 1960, S. 1.

D. N E I L M A C C O R M I C K

Recht, Moral und Positivismus 1. Eine Art des Positivismus „Die Existenz des Rechts ist eine Sache; sein Wert oder Unwert eine andere" 1 . Keiner der Aussprüche John Austins macht uns i n einfacherer Weise auf diese offenkundige Tatsache aufmerksam als dieser. W i r können tagelang über den Wert oder Unwert des Einkommensteuergesetzes oder der neuesten Ergüsse der Gewerkschaftsgesetzgebung streiten. Daß es sich dabei aber u m Gesetze handelt, ist kein Gegenstand längerer oder unentscheidbarer Debatten. Manche mögen, was die Einkommensteuer betrifft, Robert Nozick zustimmen. Sie mögen der Auffassung sein, daß eine vom Staat auferlegte Einkommensteuer der Sklaverei gleichkommt. Das Individuum, das dazu gezwungen wird, zwei Fünftel seines Einkommens an Steuer zu zahlen, arbeitet zwei Tage pro Woche als Sklave, w e i l i h m an diesen Tagen die Früchte seiner Arbeit zwangsweise entzogen und an andere i n bar oder i n Sachwerten verteilt werden 2 . Sicherlich können aber selbst jene, die dieser eleganten Sophisterei zustimmen, nicht leugnen, daß es hier, dort und überall Einkommensteuergesetze gibt. Ist denn das nicht gerade der wahre K e r n ihrer Beschwerde? Es gibt Gesetze, welche die Bürger zivilisierter Staaten tatsächlich versklaven. Diese Gesetze beeinträchtigen die moralischen Rechte von Individuen. Daher sind die Gesetze moralisch verwerflich und ungerecht. Sie sollten daher abgeschafft werden, mitsamt dem ganzen Staatsapparat, der aus seinen Palästen i n Whitehall vertrieben und auf den i h m zustehenden Platz i n der Hütte des Nachtwächters verwiesen werden sollte. A u f der anderen Seite der politischen Bühne mögen sich manche der Auffassung von M a r x 3 anschließen, daß unsere Jurisprudenz nichts wei1 J. Austin, The Province of Jurisprudence Determined (hrsg. v o n H. L. Α . Hart), London 1954, S. 184 - 185. 2 Vgl. R. Nozick , Anarchie Staat Utopia, München 1976, S. 159 - 162. F ü r eine K r i t i k an Nozicks diesbezüglicher Auffassung siehe H. L . A . Hart, Between U t i l i t y and Rights, i n : A . Ryan (Hrsg.), The Idea of Freedom, Oxford 1979, S. 77 - 98.

Recht, Moral und Positivismus

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ter sei als das Interesse einer Klasse, das als Recht gewaltsam durchgesetzt w i r d ; und unser Recht sei nichts anderes, als die Maske für die Ausbeutung einer Klasse durch eine andere. Das Problem ist nicht, daß verwerfliche und drückende Gesetze nicht existieren, sondern daß sie existieren. Als ein aus diesem Blickwinkel aktuelles Beispiel könnten die von der gegenwärtigen Regierung beantragten Novellen des Gewerkschaftsgesetzes genannt werden. Kurzum, es mag sein, daß die Leute existierende Gesetze als ungerecht angreifen. Obwohl sie hinsichtlich der Postulate der Gerechtigkeit verschiedener Meinung sind, kommen sie leicht hinsichtlich der Frage überein, welche Gesetze existieren. Da dies klar ist, ist ebenso klar, daß es eine Möglichkeit geben muß, die Existenz des Rechts ganz unabhängig von jeder Theorie der Gerechtigkeit zu bestimmen und zu rechtfertigen. Gesetze existieren nicht aufgrund des Umstandes, daß sie gerecht sind, und sie hören nicht auf zu existieren, wenn sie ungerecht sind. Gerechtigkeit ist freilich nicht der einzige moralische Wert oder die einzige Tugend. Aber alle moralischen Werte und Tugenden scheinen so ziemlich i n gleicher Weise wie Fragen der Gerechtigkeit bestreitbar zu sein und auch bestritten zu werden. Das bestehende Recht gerät stets als aus diesem oder jenem Blickwinkel schlechtes Recht unter moralische K r i t i k . Aber die K r i t i k beanstandet, daß es so ist, wie es nicht sein sollte. Würde es nicht existieren, wäre es ein Nichts, so hätte die K r i t i k gar keinen Gegenstand. Welches Gesetz besteht, ist, selbst i n strittigen Fällen, weniger strittig, als ob und warum es schlecht ist bzw. gut. Es fällt somit nicht schwer zu sagen, warum dem Ausspruch Austins, daß die Existenz des Gesetzes eine andere Frage ist als die seines moralischen Wertes oder Unwertes, der Klang einer evidenten Wahrheit zukommt. Der Theaterkritiker braucht Theaterstücke, damit er sie seiner beißenden K r i t i k unterwerfen kann. Ebenso braucht der Rechtskritiker Rechtsgesetze, ehe er sich an deren K r i t i k machen kann. Der Umstand, daß Rechtskritiker bei ihrer Beschäftigung m i t dem Recht an moralische Werte appellieren können und dies auch tun, zeigt somit auf, daß die Existenz des Rechts nicht davon abhängt, ob es eben diese moralischen Werte bereits erfüllt. Wenn die Existenz des Rechts nicht darauf gestützt wird, daß es gewisse moralische Werte erfüllt, so ist die halbe Aufgabe, einen bestimmten Zugang zum Verständnis der rechtlichen Ordnung zu gewin8

Vgl. K . Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, M E W , Bd. 4, B e r l i n 1974, K a p i t e l I I : „Eure Ideen selbst sind Erzeugnisse der bürgerlichen Produktions- u n d Eigentumsverhältnisse, w i e euer Recht n u r der zum Gesetz erhobene W i l l e eurer Klasse i s t . . . " .

158

D. Neil MacCormick

nen, bereits erfüllt. Diese Zurtrittsweise w i r d i m Fachjargon ,Rechtspositivismus 4 genannt. Wie bei allen Etiketten für alle Denkschulen i n allen Disziplinen, ist auch die Anwendung des Etiketts ,Rechtspositivismus 4 etwas vage. Für meine Zwecke werde ich jedoch nur jemandem eine Mitgliedskarte für den K l u b der Positivisten ausstellen, wenn er sich zu folgendem ersten Lehrsatz bekennt: (i) Die Existenz von Gesetzen hängt nicht davon ab, daß sie irgendwelche, auf alle Rechtssysteme universell anwendbare moralische Werte erfüllen. Dieser vorangestellte erste Lehrsatz ist ein A r t i k e l des Unglaubens. Der Grund, warum diese etwas negative These als Merkmal des ,Positivismus 4 gilt, ist selbstverständlich etymologischer Natur. »Positives Recht4 bedeutet i n der Juristensprache festgesetztes [posited] Recht, das Recht, welches von menschlichen Autoritäten i n menschlichen Gemeinschaften etabliert und aufrechterhalten wird. Positives Recht — lateinisch ius positivum — unterscheidet sich somit vom Naturrecht (ins naturale), unter welchem eine Menge von moralisch verpflichtenden Normen zu verstehen ist, die unabhängig davon gelten, ob sie von irgendeinem Menschen festgesetzt worden sind. Während alle Denker auf den Gebieten der Politik und des Rechts, angefangen bei Aristoteles bis h i n zu Stair 4 , Erskine 5 , Montesquieu 6 und Blackstone 7 , verschiedene Varianten der Auffassung vertraten, daß die Existenz und Gültigkeit des positiven Rechts immer i n irgendeiner Weise i m Naturrecht wurzelt, wobei die moralischen Normen — unabhängig von einer Etablierung durch den Menschen — die Menschen von Natur aus binden, zielte Benthams Revolution des Rechtsdenkens darauf ab, diese Doktrin der natürlichen moralischen Normen einschließlich der m i t ihnen einhergehenden oder von ihnen abgeleiteten natürlichen Rechte, zu demontieren und als trügerisch zu entlarven. Wenn man bestreitet, daß die Geltung des positiven Rechts von moralischen Vorbedingungen abhängt, führt dies zur weiteren These, daß positives, vom Menschen festgesetztes Recht das einzig w i r k l i c h normative Recht ist, das existiert 8 . Und diese Feststellung verleiht dem Positivismus sein 4

Vgl. James, Viscount Stair, Institutions of the L a w of Scotland, 2. Aufl., Edinburgh 1688; hrsg. v o n D. M. Walker, Edinburgh 1981, insb. I. i. 6 Vgl. J. Erskine, Principles of the L a w of Scotland, 1. Aufl., Edinburgh 1759; A n Institute of the L a w of Scotland, 1. Aufl., E d i n b u r g h 1776, insb. I. i. β Vgl. Montesquieu, De l'Esprit des lois, Genf 1748; deutsch: V o m Geist der Gesetze, Tübingen 1951; Bd. I , K a p i t e l 1. 7 Vgl. W. Blackstone, Commentaries on the Laws of England, 1. A u f l . 1765, insb. Einleitung. 8 Benthams erste veröffentlichte K r i t i k der Naturrechtsdoktrin w a r sein " A Fragment on Government", 1. A u f l . 1776, n u n neu herausgegeben v o n

Recht, Moral und Positivismus

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Anrecht, ein vollwertiger „Ismus" zu sein, ebenso, wie sie die „Positivität" dieses „Ismus" rechtfertigt. W i r können somit zu unserem ersten Lehrsatz, der zur Klubmitgliedschaft berechtigt, einen zweiten hinzufügen: (ii) Die Existenz von Gesetzen hängt davon ab, daß sie durch Entscheidungen von Menschen i n der Gesellschaft festgesetzt werden. Raz und Hart haben diese These als die Doktrin von den sozialen Wurzeln des Rechts bezeichnet 9 . Auch ich werde hier diesen Terminus verwenden. Die frühen englischen Positivisten gaben diesem Lehrsatz eine besondere Interpretation. Für sie waren die Entscheidungen, durch welche Gesetze statuiert wurden, Entscheidungen eines Souveräns oder der von i h m delegierten Instanzen; diese Entscheidungen galten als Befehle an die Untertanen des Souveräns 10 . Dies war keineswegs eine neue Auffassung. Schrieb doch schon 1759 der schottische Naturrechtler John Erskine als ersten Satz seiner „Principles of the Law of Scotland" 1 1 : „Das Gesetz ist der eine allgemeine Lebensregel für seine Untertanen enthaltende Befehl des Souveräns." Bentham und seine Anhänger haben die Auffassung, daß Gesetze Befehle des Souveräns sind, nicht erfunden (ebensowenig wie übrigens Erskine). Sie haben i n Wirklichkeit nur die Auffassung beseitigt, daß ein Souverän i n irgendeinem Sinn oder i n irgendeinem Grade seine Position der Autorität einem übergeordneten Naturrecht verdanke. Vielmehr übernahmen sie von David Hume die Meinung, daß politische Institutionen aus sozialer Gepflogenheit, Brauch und Gewohnheit entspringen 12 . Sukzessive kommt es dazu, daß manchen Menschen von J. Burns u n d H. L. A . Hart, zusammen m i t dem posthum veröffentlichten "Comment on the Commentaries" (London 1977). Eine gute Darstellung der Geschichte der positivistischen Revolution des Rechtsdenkens findet sich i n K. Olivecrona, L a w as Fact, 2. Aufl., London 1971, K a p i t e l 1. 9 Vgl. J. Raz, The A u t h o r i t y of L a w , Oxford 1979, K a p i t e l 4; H. L. A . Hart hat diese Terminologie i n bislang unpublizierten Vorlesungen übernommen. 10 Vgl. J. Bentham, Fragment, op. cit., Abschnitte 1 2 - 1 9 ; sowie J. Austin, op. cit., K a p i t e l 1. 11 J. Erskine, op. cit.; oder auch J. Erskine, Principles, 1. Aufl., J. Rankine, Edinburgh 1890, S. 1; ebenso J. Erskine, Institute, op. cit., I . i. 2: „Gesetz k a n n definiert werden: der eine gemeinsame Lebensregel für seine Untertanen enthaltende Befehl des Souveräns, der deren Gehorsam fordert. Unter Souverän ist die höchste Macht zu verstehen, ob sie n u n i n die Hand eines einzelnen oder mehrerer gegeben ist." Vgl. auch I. i. 19 über die logische Unbeschränkbarkeit der Macht des Souveräns, u n d I. i. 43 über die These, daß „das ungeschriebene Recht jenes ist, das ohne ausdrückliche Satzung durch die oberste Macht seine K r a f t aus i h r e r stillschweigenden Zustimmung herleitet" (meine Hervorhebung). Vgl. dazu J. Austin u n d J. Bentham, cit. infra., η . 13. 12 Vgl. D. Hume, A n Enquiry concerning the Principles of Morals (Hume's Enquiries), 3. Aufl., hrsg. v o n Selby-Bigge u n d Nidditch, deutsch: Eine U n t e r -

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D. Neil MacCormick

anderen Menschen gewohnheitsmäßig Gehorsam geleistet w i r d . Manche v o n den Menschen, denen v o n anderen gewohnheitsmäßig Gehorsam geleistet w i r d , gehorchen selbst wiederum gewohnheitsmäßig anderen. A b e r einige wenige von jenen, denen gewohnheitsmäßig gehorcht w i r d , gehorchen selbst niemand anderem. Diese wenigen sind Souveräne, u n d alle, die ihnen direkt oder i n d i r e k t gewohnheitsmäßig gehorchen, sind Untertanen. Souveräne Staaten — unabhängige politische Gesellschaften, w i e Bentham u n d A u s t i n sie nannten — sind die sozialen Gruppierungen, welche Souveräne u n d deren Untertanen umfassen 13 . Diese Interpretation der D o k t r i n v o n den sozialen Wurzeln des Rechts hat sich jedoch als fragwürdig herausgestellt, und so haben zeitgenössische Positivisten versucht, sie i n verschiedener Weise zu verbessern. F ü r den fruchtbarsten diesbezüglichen Versuch halte ich jenen v o n H. L . A . Hart. Die Schwierigkeit besteht n u r darin, daß, je mehr man versucht, der v o n H a r t i n seinem Buch „Der Begriff des Rechts" 1 4 aufgezeigten L i n i e zu folgen, umso deutlicher ein Unbehagen bezüglich des ersten Lehrsatzes, des Lehrsatzes v o n der moralischen Unabhängigkeit des positiven Rechts, aufkommt. I m Verlaufe meiner jüngsten Beschäftigung m i t Harts Rechtstheorie w u r d e ich m i r i n zunehmendem Maße dieses Unbehagens bewußt. I m weiteren Verlauf dieser A r b e i t geht es m i r darum, die N a t u r u n d den Charakter des Problems, w i e ich es sehe, zu erklären. 2. Reditsregeln und die interne Betrachtungsweise I m Z e n t r u m v o n Harts K r i t i k an Austins u n d auch Benthams Rechtstheorie steht seine Zurückweisung v o n deren Vertrauen auf die .Gehorsamsbereitschaft* der Untertanen gegenüber i h r e m Souverän. Die A r t u n d Weise, w i e diese A u t o r e n über diese Bereitschaft sprechen, zeige deutlich — meint H a r t —, daß sie lediglich auf eine externe, behavioristische Beschreibung der menschlichen Verhaltensregularitäten abzielen. Das unter normativen Gesetzen stehende Leben sei aber m i t diesen Begriffen nicht e r k l ä r b a r 1 5 , denn das Recht umfasse „generelle Regeln, suchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 1972, Abschn. I I I ; eine k o m plexere Version dieser D o k t r i n findet sich i n seinem Treatise of H u m a n Nature, 2. Aufl., hrsg. v o n Selby-Bigge u n d Nidditch, Oxford 1978, deutsch: E i n Traktat über die menschliche Natur, Hamburg 1973, Buch I I I , T e i l I I . 13 Vgl. J. Bentham, Fragment, op. cit., Kapitel 1; J. Bentham, Of Laws i n General (hrsg. v o n J. Burns u n d H. L. A . Hart, London 1970, Kapitel 1 u n d 2), geben eine detailliertere Darlegung der Souveränität; vgl. auch J. Austin, Province, op. cit., Kapitel 1 u n d 6. 14 H. L. Α . Hart , The Concept of Law, Oxford 1961; deutsch: Der Begriff des Hechts, Frankfurt 1973; insb. Kapitel 1 bis 6. 15 Vgl. H. L. A . Hart, a.a.O., S. 22 - 25, 83 - 90, 345.

echt, Moral und Positivismus

161

Standards und Prinzipien" 1 6 , und Regeln etc. können durch externe behavioristische Erklärungen begrifflich nicht erfaßt werden. Die Stärke von Harts Argument für diese Frage möchte ich an einem bekannten Beispiel von i h m demonstrieren. W i r entdecken durch Beobachtung, daß 99 Prozent der Autofahrer ihre Fahrzeuge anhalten, wenn die Ampeln auf Rot geschaltet werden. Zugleich zeigen uns die Beobachtungen, daß 95 Prozent der Autofahrer das Autoradio angestellt haben, wenn sie vor Ampeln anhalten. Hier liegen zwei Gewohnheiten vor — eine Gewohnheit, das Auto anzuhalten, und eine Gewohnheit, das Autoradio spielen zu lassen. W i r wissen aber alle, daß nur eine Regel vorliegt, und zwar die Regel, daß man vor einer auf Rot gestellten Ampel anhalten muß. Es gilt aber keine Regel, daß man das Autoradio spielen lassen muß, wenn man bei Rot anhält. Woher wissen w i r nun, daß i m einen Fall eine Regel existiert, nicht aber i m anderen? Keinesfalls aus rein externer statistischer Beobachtung. W i r wissen es, weil w i r selbst Teilnehmer an den einschlägigen sozialen Praktiken und keine Marsmenschen sind. W i r können das Problem nur lösen, wenn w i r aufhören, uns als Marsmenschen auszugeben oder wie reine Verhaltenswissenschaftler vorzugehen. W i r müssen an der Praxis teilnehmen, oder uns durch Einfühlung an die Stelle von Teilnehmern setzen, u m diese i n anderer Weise unerklärbaren Dinge erfassen zu können. A n dieser Stelle ist eine kurze Abschweifung angebracht: Verhaltenswissenschaftler, die sich mit dem Verhalten von Tieren beschäftigen, bemühen sich darum, die Tiere nicht i n anthropomorpher Weise zu sehen. W i r registrieren, wie viele Versuche die Ratte unternimmt, u m durch das Labyrinth zum Futter zu finden, und wie lange die Ratte braucht, u m ein Verhaltensmuster zu entwickeln, das sie ohne Umweg zum Futter führt. W i r ziehen nicht i n Erwägung, ob die Ratte denkt, sie konditioniere den menschlichen Experimentator darauf, sie m i t Futter zu versorgen, und noch viel weniger erwägen w i r , ob sie eifrig ausrechnet, wie lange der Experimentator braucht, u m ein zufriedenstellendes Verhaltensmuster der Futterversorgung am Ende des Labyrinths zu entwickeln. Ratten sind keine Menschen, folglich sollten w i r über sie nicht anthropomorph denken oder sprechen. Harts Protest gegen die von i h m ,extern' genannten Analysen oder Beschreibungen von rechtlichen oder anderen sozialen Regeln ist dagegen gerichtet, solche verhaltenswissenschaftlichen Protokolle i n unserem Zusammenhang anzuwenden 1 7 . Menschen sind Menschen, und es ist daher notwendig, über sie anthropomorph zu denken und zu sprechen. 16 17

H. L. A . Hart, a.a.O., S. 173. H. L. A . Hart, a.a.O., S. 127 - 131.

11 MacCormick/Weinberger

162

D. Neil MacCormick

K o n k r e t bedeutet all dies, daß w i r jeder Beschreibung von bloßen Regularitäten des menschlichen Verhaltens eine Untersuchung darüber hinzufügen müssen, welche Einstellung die Menschen zueinander einnehmen. Das Abweichen v o n gewissen Verhaltensmustern r u f t bei den Menschen kritische Einstellung hervor, manchmal auch selbstkritische. Die Menschen verfügen über eine Menge v o n besonderen Sprachformen, die zum Ausdruck v o n Einstellungen dienen — Wörter w i e ,soir, ,muß 4 , »sollte1, »richtig 4 , »unrichtig 4 . Die Menschen reagieren m i t Besorgnis oder Entrüstung, w e n n jemand bei Rot über die Kreuzung fährt. Sie sagen, er hätte das nicht t u n sollen, oder er w a r i m Unrecht, oder ähnliches. A l l dies subsumiert H a r t unter den Begriff einer »kritisch-reflektierenden Einstellung 4 zu Verhaltensmustern, welche für die Gruppenmitglieder allgemeine Standards bilden. Die kritisch-reflektierende Einstellung w i r d auch durch die Äußerung von K r i t i k an Abweichungen v o m Verhaltensmuster bekundet, sowie durch weitverbreitete (aber nicht notwendig allgemeine) Anerkennung der K r i t i k gerechtfertigt 1 8 . Wie ich i m Anhang zu meinem Buch Legal Reasoning and Legal Theory 10 ausgeführt habe, umfaßt die Einstellung v o n jemandem, der diese interne Betrachtungsweise einnimmt, notwendig sowohl kognitive als auch v o l i t i v e Elemente. Unter den kognitiven Elementen verstehe ich die Fähigkeit, ,Verhaltensmuster 4 [patterns of conduct '] überhaupt zu begreifen — d. h., die Fähigkeit, nicht bloß einzelne konkrete Ereignisse, sondern eher generelle u n d abstrakte Beziehungen zwischen Handlungen u n d Umständen zu erfassen. U m beim angeführten Beispiel zu bleiben: w i r müssen die Fähigkeit haben, Begriffe für solche Muster zu bilden (was nicht unbedingt die entsprechenden Worte erfordert), w i e „Fahrer, die ihre Autos vor rotem Licht der Ampel, welches i n ihre Richtung leuchtet, anhalten". Unter dem v o l i t i v e n Element verstehe ich eine gewisse andauernde Präferenz, eine beständige willenhafte Neigung dazu, i n der entsprechenden Weise zu handeln, w a n n immer die relevanten Umstände realisiert sind. Was aus alldem zu folgen scheint, u n d was Hart selbst nicht bemerkt hat u n d vielleicht auch ablehnen w ü r d e 2 0 , ist, daß es f ü r all jene, die solche Präferenzen haben, einen W e r t oder Werte geben muß, auf denen ihre Präferenzen beruhen. I m Zusammenhang m i t dem A n h a l t e n vor rot leuchtenden Verkehrsampeln geht es vielleicht u m den W e r t der körperlichen Sicherheit. I n anderen Fällen mag es sein, daß die Beobachtung einer Regel, w i e etwa der Regel, nicht zu lügen, eher selbst als 18

H. L. A . Hart, a.a.O., S. 83 - 87, 123 - 141. D. N. MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Oxford 1978, S. 275 - 292. Eine etwas andere Auffassung findet sich i n J. W. Harris, L a w and Legal Science, Oxford 1979, S. 52 - 63. 20 Vgl. H. L. A . Hart, op. cit., S. 279 - 280. 19

Recht, Moral und Positivismus

163

Wert angesehen wird, denn als bloßes Instrument zur Erlangung eines anderen Wertes. Ganz generell gilt, daß überall, wo Präferenzen vorliegen, auch Werte existieren 21 . A n zwei Stellen seiner Argumentation t r i t t dieses implizite Element der Hartschen Doktrin i n signifikanter Weise hervor. Zunächst dort, wo er versucht, die Natur jener Klasse von Regeln zu erhellen, auf welche Pflichten gegründet sind. Er führt aus, daß manche Regeln als wichtig angesehen werden, weil ihre Befolgung wesentliche oder hoch bewertete Bedingungen des sozialen Lebens sichert. Diese Regeln werden auch durch starken sozialen Druck unterstützt, welcher nach Harts Auffassung sowohl den Appell an das individuelle Gewissen als auch den Rückgriff auf Zwang oder sogar formelle Sanktionen einschließt. Die Bemühung, solchen Regeln gerecht zu werden, kann uns sogar zu einem Konflikt zwischen unseren momentanen Einzelwünschen und der Erfüllung der Anforderungen der Regel führen. So weisen ζ. B. i n Gesellschaften wie der unseren Regeln, die das Lügen oder Betrügen verbieten, Regeln gegen die Anwendung physischer Gewalt und gegen den Bruch von Versprechen folgende Eigenschaften auf: sie werden als wichtig wahrgenommen; sie sind m i t starkem sozialem Druck verbunden; und sie stehen potentiell m i t dem unmittelbaren Eigeninteresse i n Konflikt 22. Solche Regeln sind nach Hart Pflichtregeln. Es ist Pflicht, nicht zu lügen oder zu betrügen, anderen gegenüber keine körperliche Gewalt anzuwenden und Versprechen einzuhalten. Hier liegt ein Unterschied vor gegenüber anderen Arten von normativen Regeln darüber, was die Menschen t u n sollen, wie etwa der Regel, grammatisch richtig zu sprechen, oder vor dem Toast auf die Königin nicht zu rauchen. Für Hart liegt die theoretische Bedeutsamkeit von all dem darin, daß das Recht m i t der Moral, zum Unterschied von allen anderen Regelsystemen, ein Merkmal gemeinsam hat: es handelt von Pflichten. Es gibt rechtliche sowie moralische Erfordernisse, durch welche das Verhalten der freien Wahl entzogen wird. Das ,Gesolltsein 4 von Erfordernissen oder Pflichten ist stärker als ζ. B. das ,Gesolltsein 4 von Sprachregeln, Spielregeln oder Regeln der Etikette. Der zweite Punkt, auf den ich i n diesem Zusammenhang hinweisen möchte, ist die implizite Bezugnahme von Harts Regel-Theorie auf Werte: Auch i n seinem Buch „Der Begriff des Rechts" unterstreicht 21 Vgl. jedoch H. L. A . Hart, ebd. Die bloße Tatsache, daß verschiedene Menschen die gleiche Präferenz für ein bestimmtes Verhaltensmuster zeigen, impliziert nicht, daß sie alle denselben G r u n d für ihre Präferenz haben, noch daß sie dieselben zugrundeliegenden Werte vertreten. 22 H. L. A . Hart, a.a.O., S. 83 - 85.

11*

164

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Hart die Rolle der Wichtigkeit, welche gewissen Regeln für das gesellschaftliche Leben (oder für manche seiner Aspekte) zugeschrieben wird. Dies betrachtet er (zusammen mit drei weiteren, i m gegenwärtigen Zusammenhang irrelevanten Merkmalen) als Charakteristikum der Moral, welches sie eben von guten Manieren, der Etikette, u. ä. unterscheidet 23 . Für Hart ist somit entscheidend, daß manche Regeln vom internen Standpunkt aus wichtiger sind als andere. Dies gilt für seine Erläuterung des Charakters rechtlicher und moralischer ,Pf lichten'; und es gilt für seine Ausführungen zum Phänomen der Moral. Pflichten hängen — zumindest teilweise — davon ab, wie wichtig die entsprechenden Regeln sind. Beachten w i r nun, welche Folgen dies hat. Die Stufung der Wichtigkeit führt zu einer Rangordnung der Werte. Folglich kann Hart meine Behauptung, daß Regeln, vom internen Blickwinkel aus gesehen, entweder Werte konstituieren müssen oder ihnen zur Grundlage dienen, nicht leugnen. Denn dies ist ein unabdingbarer Bestandteil seiner Theorie. Zu beachten ist auch, daß es der Grad der relativen Wichtigkeit ist, der es uns nach der Hartschen Theorie ermöglicht, gewisse Werte als moralische Werte zu definieren. Aber wenn dem so ist, dann kann wohl nicht geleugnet werden, daß bestimmte rechtliche Regeln auf solchen Werten beruhen, die zugleich moralische Werte sind. Denn das Recht statuiert Pflichten, und zwar durch Regeln; und die Regeln, welche Pflichten auferlegen, sind (nach Harts Theorie) jene, welche wichtige Werte konstituieren oder sie stützen. Harts Theorie der Regeln wurde mehrfach kritisiert. Es wurde von .Raz24, Guest 25 und anderen zu Recht bemerkt, daß Hart zu sehr auf soziale Praktiken Nachdruck legt. Zu Recht w i r d — beispielsweise von Dworkin — festgestellt, daß Hart die Rolle von Prinzipien und anderen Standards neben jener von Regeln i n rechtlichen Systemen ignoriert oder unterschätzt 26 . Meiner Ansicht nach könnte eine Weiterentwicklung seiner Theorie, welche der notwendigen Beziehung zwischen Regeln und Werten Rechnung trägt, beiden Einwänden weitgehend entgehen 27 . Zumindest sollte klar sein, daß Harts Theorie der Regeln weder Werte-los noch — aus diesem Grunde — wertlos ist. 28

H. L. A . Hart,, a.a.O., S. 231 - 254, insb. 239 - 241. J. Raz, Practical Reason and Norms, London 1975, S. 49 - 58. 25 St. Guest, Legal Education and Legal Theory, Current Legal Problems, 1979, S. 179 - 197. 28 R. Dworkin, T a k i n g Rights Seriously, London 1977, K a p i t e l 2 u n d 4. Natürlich k r i t i s i e r t D w o r k i n auch Harts Praxis-Theorie der Regeln, vgl. ebd., K a p i t e l 3. 24

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Kehren w i r von dieser Abschweifung wieder zurück, so läßt sich nun vielleicht erkennen, auf welches Problem meine Interpretation von Hart zusteuert. Hart hält es für nötig, Austin und Bentham deshalb zu korrigieren, weil sie eine rein externe, behavioristische Sicht des Rechts einnehmen. Er übertreibt vielleicht das Ausmaß, i n dem sie tatsächlich eine solche Sichtweise hatten. Aber er hat gewiß damit recht, daß jede ,externe 4 Analyse des Rechts völlig inadäquat ist. Je genauer w i r aber den »internen Gesichtspunkt 4 , wie er i n seiner Funktion als Kernpunkt der Theorie der Regeln von Hart charakterisiert wird, überprüfen, und je mehr w i r den Implikationen dessen, was Hart sagt, nachgehen, desto deutlicher t r i t t zutage, daß Regeln i n Werten wurzeln. Kann Hart dann aber dem von m i r formulierten ersten Grundsatz der Positivisten zustimmen? Ist er w i r k l i c h der Meinung: ,Die Existenz von Gesetzen hängt nicht davon ab, daß sie irgendwelche bestimmte, auf alle Rechtssysteme universell anwendbare moralische Werte erfüllen 4 ? Dies ist zu bezweifeln, wenn Regeln unvermeidlich i n Werten w u r zeln und wenn kein aufweisbarer Unterschied zwischen den Werten hinter rechtlichen Regeln und solchen hinter moralischen Regeln besteht. I m Fall der Pflichtregeln sind die fraglichen Werte einfach jene, die relativ wichtig sind; und i n Harts Moraltheorie sind die wichtigen Werte eo ipso moralische Werte. 3. Der hermeneutische Zugang zur Rechtstheorie U m diese Zweifel aufzulösen, müssen w i r zweierlei tun. Erstens müssen w i r uns an die Position erinnern, welche Hart implizit dem Juristen und dem Rechtstheoretiker zuschreibt. Zweitens müssen w i r uns daran erinnern, wie Hart die wesentlichen Merkmale eines entwickelten rechtlichen Systems beschreibt. Zum ersten: Hart besteht darauf, daß bei der Beschreibung von Regeln der interne Gesichtspunkt i n Betracht zu ziehen ist. W i r dürfen nicht vergessen, daß, wann immer Menschen über Regeln verfügen, sie Einstellungen gegenüber dem eigenen sowie dem Verhalten anderer einnehmen. Sie müssen ernsthafte Präferenzen haben für die Beachtung bestimmter Verhaltensmuster i n bestimmten typischen Situationen. Aber muß der Theoretiker dieselbe Einstellung einnehmen, dieselbe Präferenz haben, u m beschreiben zu können, was es bedeutet, daß eine Regel existiert, oder u m eine bestimmte Regel beschreiben zu können, 27 Vgl. D. N. MacCormick, H. L. A . Hart, London 1981, insb. K a p i t e l 3 - 5 ; vgl. auch D. N. MacCormick, Legal Reasoning, op. cit., K a p i t e l 7 u n d 9.

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wie etwa: ,Halte immer an vor roten Verkehrsampeln 4 , oder: ,Wenn man m i t anderen ernsthaft spricht, darf man sie nicht täuschen 428 ? Die Antwort auf diese Frage ist eindeutig negativ. Selbst ein Mann aus Yorkshire kann die Regel oder die Konvention des Menschen aus dem Süden [Großbritanniens] verstehen und erklären, daß der Schläger [beim Kricketspiel], wenn er weiß, daß er ,out4 ist, abtreten muß, ohne zuvor auf die Entscheidung des Schiedsrichters zu warten. Selbst ein Schotte ist i n der Lage, die Regeln einer so bizarren Praktik wie der des Kricketspiels zu verstehen und zu beschreiben. Es mag i n der Welt manch einen geben, der Shylocks Verständnis der feineren Formen der musikalischen Künste teilt: „Es gibt der Leute, die k e i n schmatzend Ferkel Ausstehen können; manche werden toll, W e n n sie 'ne Katze sehen; noch andre können, W e n n die Sackpfeife durch die Nase singt, V o r A n t e i z den U r i n nicht bei sich halten." [Der K a u f m a n n v o n Venedig; 4. Aufzug/1. Szene; Übers.: A . W . v o n Schlegel]

Aber selbst so abseitige Gemüter können verstehen, daß es Tonkunst ist, die durchaus strengen musikalischen Konventionen unterliegt, welcher sich der Dudelsackbläser widmet. Ebenso verhält es sich m i t dem Theoretiker des Rechts oder der Sozialmoral. Er kann verstehen, und versteht auch i n der Tat, ohne hierdurch verpflichtet zu sein. Freilich, hätte er keinerlei eigene Wertbindungen zu gewissen Regeln und Prinzipien, die i h n i n bestimmten Zusammenhängen verpflichten, so könnte er i n keiner Weise verstehen, was es für einen anderen bedeutet, die Autorität von Regeln oder Prinzipien anzuerkennen. Aber wenn er so wäre, so wäre er (wie Aristoteles sagt 29 ) entweder über- oder untermenschlich. Vorausgesetzt, er ist ein Mensch, so ist er i n der Lage, die Praktiken und Einstellungen anderer Menschen, deren Menschsein voraussetzend, zu interpretieren. Folglich kann er zum Beispiel Regeln erklären, welche Rassendiskriminierung fordern, oder ein Eheverbot zwischen verschiedenen Rassen aussprechen, obgleich er selbst (so wie ich) solche Regeln für abscheulich hält. Er ist als Theoretiker tatsächlich i n der Lage, i n allgemeinen Begriffen zu erklären, was die Existenzbedingungen irgendwelcher Regeln i n irgendwelchen Gesellschaften sind. Er versucht dabei, die Situa28 J. Raz schlägt i n 'Practical Reason', op. cit., S. 170 - 177, eine weitere Differenzierung der »Gesichtspunkte* für solche Zwecke w i e die hier behandelten vor. Vgl. J. Finnis, N a t u r a l L a w and N a t u r a l Rights, Oxford 1979, S. 235 - 237, 239 - 242 sowie 235, w o die Verpflichtung an Raz angemerkt ist. 29 Aristoteles, P o l i t i k , I. Buch (übersetzt u n d hrsg. v o n O. Gigon), Zürich 1955 u n d 1971, S. 49.

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tion ,vom internen B l i c k w i n k e l her 4 zu verstehen, u n d zwar gegebenenfalls selbst dann, w e n n er die jeweils betrachteten Werte gänzlich ablehnt. M a n beachte, daß die Stellung des Theoretikers v o n der A r t ist, daß er außerhalb jeder besonderen Praxis steht, außer jener des Theoretisierens. A b e r es handelt sich nicht u m jene radikal-externe behavioristischen Position, welche H a r t zurecht zurückweist, w e i l sie den Humanwissenschaften, wie der Jurisprudenz oder der Moraltheorie, nicht angemessen ist. W i r müssen n u n ein Versäumnis Harts nachholen u n d dieser theoretischen Position einen Namen geben. Z u m Glück bietet sich einer an, der allerdings i n der philosophischen T r a d i t i o n Kontinentaleuropas bekannter ist als i n der anglo-amerikanischen Welt. Der Theoretiker, welcher i n der von H a r t vorgeschriebenen Weise theoretisiert, betreibt Hermeneutik 30. Hacker hat angemerkt, daß Harts besonderes Verdienst als Rechtstheoretiker d a r i n liegt, die hermeneutische Methode i n unsere Jurisprudenz eingeführt zu haben 3 1 . Ich stimme diesbezüglich m i t H a k ker vollständig überein u n d behandle diese Angelegenheit detaillierter i n meinem Buch über H a r t 3 1 a . Für die hermeneutische Methode ist kennzeichnend, daß sie von der Position des i n der sozialen W i r k l i c h k e i t Handelnden relativ losgelöst ist, zugleich aber die Interpretation aus seiner Sicht durchführt. Wenn w i r nach dieser Methode vorgehen, erkennen w i r die enge Verbindung zwischen den Regeln, welche die Menschen i n sozialen Gruppen beachten, u n d den Einstellungen, welche sie auf der Grundlage der von ihnen vertretenen Werte einnehmen. W i r selbst vertreten aber nicht notwendig dieselben Werte. Soviel über die Position Harts als Rechtstheoretiker. Doch n u n zu meinem zweiten Punkt, nämlich einigen Anmerkungen zu den v o n H a r t vorgeschlagenen Unterscheidungsmerkmalen zwischen rechtlicher u n d moralischer Ordnung. Erinnern w i r uns daran, daß H a r t nicht allen menschlichen Gesellschaften diese Differenzierung zuschreibt. Gesellschaften, die w i r gewöhnlich als p r i m i t i v ansehen, verfügen nicht immer über spezialisierte Einrichtungen der Legislative, Rechtsprechung u n d Exekutive, die so wichtige Merkmale der modernen Gesellschaften sind. Solche Gesellschaften organisieren sich nach Harts Auffassung lediglich m i t Hilfe 80 Hinsichtlich einer Diskussion dieses philosophischen Zuganges siehe Z. Bauman, Hermeneutics and Social Science, London 1978, u n d D. N. MacCormich, H. L. A . Hart, op. cit., Kapitel 3. 81 P. M. S. Hacker, Hart's Philosophy of Law, i n : P. M . S. Hacker / J. Raz (Hrsg.), Morality, and Society, Oxford 1977, Kapitel 1, ins. S. 12 f. 81a D. Ν. MacCormick, H. L. A . Hart, London 1981.

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von primären Pflichtregeln, die zumindest jene fundamentalen gesellschaftlichen Erfordernisse abdecken, die von Hart als „Minimalgehalt des Naturrechts" bezeichnet werden. Dieser besteht zumindest i n dem Verbot der Anwendung körperlicher Gewalt gegen Rechtsgenossen, dem Betrugsverbot und aus Normen gegen Eingriffe i n die bestehende Eigentumsordnung. Er kann aber auch mehr umfassen 32 . Unter diesen primitiven sozialen Verhältnissen kann man nicht sinnvoll Recht von Moral oder Moral von Recht trennen (oder vielleicht auch keines von beiden von der Religion). Es können sich auch spezialisierte Praktiken der Streitbeilegung entwickeln, sowie eine Institutionalisierung von Einrichtungen zur Lösung von Streitfällen, einschließlich — i m Laufe der Zeit (eher später, als man erwarten würde) — institutionalisierter Durchsetzungsinstanzen für autoritative Entscheidungen über die Streitlösungen. Es können sich Praktiken und Prozeduren sowie, i m Laufe der Zeit, institutionalisierte Einrichtungen entwickeln, u m autoritativ die Regeln der Streitlösungen selbst festzusetzen oder (späterhin) diese zu ändern. I m Verlaufe einer solchen Entwicklung entsteht ein spezialisiertes System von Regeln 33 . Dieses spezialisierte System bedarf als Kernstück einer bestimmten Anerkennung der Pflicht durch jene, die mit der Aufgabe der Streitlösung oder des Urteilens betraut sind. Sie müssen sich selbst als an die Pflicht gebunden betrachten, gewisse Regeln und Verhaltensstandards bei ihren Urteilen anzuwenden. Wie selbst noch heute bei internationalen Gerichtshöfen werden die gebräuchlichen Standards der Gemeinschaft zunächst das hauptsächlich oder einzig leitende K r i t e r i u m dieser Pflicht sein, zusammen m i t solchen Vereinbarungen, die den gebräuchlichen Standards entsprechend verbindlich sind. Die Entscheidungen der entscheidungsbefugten Personen werden i n der Folge notwendigerweise zur speziellen autoritativen Quelle der Erkenntnis jener Regeln und Maßstäbe, welche für die Rechtsanwendung verbindlich sind. Und genau diese Idee der Institutionalisierung von Prozeduren zur Festsetzung oder — i m Laufe der Zeit — selbst zur Änderung der Regeln einer Gemeinschaft, impliziert eine für alle Richter (entscheidungsbefugten Organe) verbindliche Pflicht, die Regeln so anzuwenden, wie sie festgesetzt oder geändert wurden. Eine derartige Darstellung 3 4 könnte i n der Tat historisch überzeugender wirken als alles, was Hart zur Beschreibung des Entstehens eines spezialisierten Rechtssystems durch ,Vereinigung von primären und 82 33 34

Vgl. H. L. A . Hart, op. cit., K a p i t e l 5. Ebd. Vgl. D. N. MacCormick, H. L. A . Hart, op. cit., K a p i t e l 9.

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sekundären Regeln' vorgebracht hat. Freilich k a n n das Endprodukt durchaus überzeugend mittels der Hartschen Begriffe beschrieben w e r den. W a n n immer es ein auch n u r m i n i m a l formalisiertes System der Rechtsprechung zur Lösung von Streitfällen gibt, das über bloße Schlichtung ad hoc oder V e r m i t t l u n g hinausgeht, muß es das geben, was H a r t eine ,Erkennungsregel' [rule of recognition /35 nennt. Das heißt, es muß die allgemein vertretene Auffassung herrschen, daß Richter die Pflicht haben, Streitfälle nach ganz bestimmten Regeln u n d Standards — u n d nicht anderen — zu entscheiden. Sobald gewissen artmäßig bestimmten Personen die richterliche A u t o r i t ä t zugeschrieben w i r d , k a n n dieser Umstand der generellen A u t o r i sierung i n Form der Hartschen ,Entscheidungsregeln' [rules of adjudication] repräsentiert werden. Eine solche Regel ermächtigt gerade die betreffenden Personen, Streitfälle autoritativ zu entscheiden 86 . Immer, wenn es anerkannte Prozesse zur Festsetzung v o n Regeln oder ihrer Änderung gibt, gelten folgende zwei Behauptungen: (i) V o n jenen Personen, die diese Rechtserzeugungsprozesse durchführen, k a n n gesagt werden, daß sie eine durch eine Hartsche »Änderungsregel' [rule of changey37 erteilte Macht ausüben, u n d (ii) die Erkennungsregel muß jenen Regeln, die durch diese legislativen Prozesse geschaffen oder deklariert wurden, den besonderen Status einer für rechtliche Entscheidungen anwendbaren u n d bindenden N o r m geben. Demnach ist es offensichtlich, daß jene Regeln u n d Maßstäbe einen besonderen systematischen Charakter aufweisen, die zur Gruppe der Erkennungsregeln, der Entscheidungsregeln u n d Änderungsregeln gehören zusammen m i t allen anderen Regeln u n d Maßstäben beliebiger A r t , welche die Erkennungsregel für den Richter als verbindlich erklärt. Sie bilden insgesamt ein Rechtssystem. Insoweit diese Regeln i n einer Gemeinschaft als verbindlich betrachtet werden u n d insoweit sie durch einen geeigneten Prozeß auch gegen jene, die sich ihnen widersetzen, durchgesetzt werden, konstituieren sie i n jener Gemeinschaft (wie w i r sagen) das geltende Recht. E i n solches System mag (wie H a r t meint) hinsichtlich seiner Sicherheit, Effizienz u n d Anwendbarkeit klare Vorteile gegenüber der u n 86 H. L. A . Hart, op. cit., S. 135- 137, 142- 155; sowie J. Raz, Practical Reason, op. cit., S. 146 - 148. 88 H. L. A . Hart, op. cit., S. 138 - 139. 87 Ebd.

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differenzierten Normenordnung der primitiven Gemeinschaft haben. Aber wie alle Vorteile haben auch diese ihren Preis. Als Bub spielte ich oft und m i t viel Freude Fußball, wo immer sich ein halbwegs ebener Grasflecken i m Highland-Dorf anbot. (Ich wage allerdings nicht, diesen Flecken den Ehrentitel eines Rasens sensu anglicano zu verleihen.) Schiedsrichter hatten w i r keinen, auch dürften unserer Regeln einigermaßen von denen der FA [Football Association] abgewichen sein, und es bestand stets die Gefahr, daß der Balleigentümer sich — samt Ball — entrüstet davonmachte, wenn seine Seite angeblich das Opfer eines besonders groben unbestraften Fouls wurde. Aber i m großen und ganzen konnten w i r die Spiele zu Ende führen, weil jeder den bindenden Charakter wenigstens derselben allgemeinen Regeln anerkannte. Spiele von professionellen Spielern m i t offiziellen Schiedsrichtern und nach den von der FA etablierten Regeln laufen anders ab. Die Spieler spielen eher nach der Pfeife des Schiedsrichters als nach den Regeln. Das Spiel ist möglich, ob nun die Spieler versuchen, sich entsprechend den anerkannten Regeln zu disziplinieren oder nicht. Das gleiche gilt i n Gesellschaften m i t Rechtssystemen. Die Bürger brauchen nicht die Regeln selbst zu billigen. Beamte und jene, die aus den Regeln Vorteil ziehen, können aufgrund ihrer gemeinsamen Macht eine soziale Ordnung i n hinreichendem Maße aufrechterhalten, obwohl die übrigen dem Recht völlig indifferent gegenüberstehen mögen, ohne Gefahr, daß ernste gesellschaftliche Unordnung entstünde. Umgekehrt brauchen sich die Beamten und jene, die sie unterstützen, nicht darum zu bemühen, einen echten sozialen Konsens herbeizuführen, solange es ihnen nur gelingt, i h r System aufrechtzuerhalten. A u f diese oder ähnliche Weise kann der Fall eintreten, daß die Regeln des Rechtssystems und die allgemeinen moralischen Standards der Gemeinschaft oder (etwas realistischer) verschiedener Gruppen und Gruppierungen innerhalb des Staates deutlich auseinanderklaffen. Was die Leute als Recht ansehen und was sie als Moral ansehen, muß sich nicht weitgehend decken, geschweige denn identisch sein. I n der Tat stellt sich dann die Frage, ob, oder inwieweit, das Recht der Moral entsprechen sollte, und zugleich, ob es eine moralische Verpflichtung der Individuen gibt, sich gesetzeskonform zu verhalten. Damit kann ich meine Betrachtungen über die beiden Punkte als beendet ansehen, durch die Hart sich als Positivist auszuweisen sucht, nämlich seine Auffassung des Rechtstheoretikers als eines hermeneutischen Betrachters und seine Abtrennung und Unterscheidung der Rechtsordnung gegenüber der Moralordnung.

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Der erste dieser Punkte zeigt, daß der Theoretiker oder Jurist, der das Recht zu verstehen sucht, nicht selbst an die Werte der Rechts- oder Moralordnung, welche er darstellen oder beschreiben möchte, gebunden zu sein braucht. Der zweite Punkt zeigt, daß aus der Sicht des Bürgers die Ansprüche seiner Moral von denen des Rechts, wie es i n der Sicht des Staatsapparates erscheint, abweichen, ja sogar mit ihnen i n Konflikt geraten können. Zusammengenommen scheinen die beiden Punkte anzuzeigen, daß jeder Versuch, das Recht auf eine bestimmte Menge von moralischen Prinzipien zu gründen, die auf alle Rechtssysteme umfassend anwendbar wären, aussichtslos ist. Es besteht doch tatsächlich ein Chaos von miteinander unvereinbaren Moralsystemen und Moralphilosophien. Demgegenüber haben w i r zumindest relative Klarheit darüber, welche die Gesetze des Vereinigten Königreiches von Großbritannien, der USA, der UdSSR, der Südafrikanischen Republik, etc. sind. Selbst wenn diese Gesetze i n Wertsystemen oder Ideologien wurzeln, so scheint es doch leichter das Wesen der Gesetze darzulegen, als darzulegen, welche die allgemein verbindlichen Moralprinzipien sind, denen Gesetze entsprechen müssen. Ja mehr noch: die Konzeption, nach der die Gesetze aktuell existierende, dem hermeneutischen Verstehen und Erklären zugängliche Merkmale menschlicher Gesellschaften sind, räumt dem Juristen auch die Rolle des Moralkritikers ein. Welche Gesetze da oder dort existieren, ist nach Gültigkeitskriterien feststellbar, die i n dem betreffenden System gelten. Welche Gesetze existieren sollten, ist hingegen eine Frage der kritischen Moralbetrachtung. Bücher, wie Harts „Law, Liberty and M o r a l i t y " 3 8 , „The Morality of the Criminal L a w " 3 9 und i n gewissem Grade selbst sein „Punishment and Responsibility" 4 0 sind hinlänglich lebendige Zeugnisse für diesen Umstand. Ein Positivist solcher Prägung zu sein, bedeutet weder die Erhabenheit des Rechts über moralischen Erwägungen zu behaupten, noch es als moralisch indifferentes Phänomen zu behandeln. Vielmehr bedeutet es, das Recht als eine Form sozialer Praxis oder eine A r t sozialer Institution darzustellen, welche der permanenten moralischen K r i t i k zu unterwerfen sind — eine K r i t i k , die auf Prinzipien einer aufgeklärten Moral (was immer sie sei) beruht, Prinzipien, welche so radikal von den existierenden rechtlichen Prinzipien und Werten abweichen können, wie Harts Liberalismus von der konservativen Moral eines Lord Simonds 41 oder selbst eines Lord Devlin 4 2 . 88

H. L. Α . Hart , L a w , L i b e r t y and M o r a l i t y , London 1963. H. L. Α . Hart , The M o r a l i t y of the C r i m i n a l L a w , Jerusalem u n d L o n don 1965. 40 H. L. A . Hart, Punishment and Responsibility, Oxford 1968. 39

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D. Neil MacCormick 4. Die Konvergenz von Positivismus und Naturrecht

Aus diesen Erwägungen, welche einerseits die Rechtstheorie als einen Zweig der Hermeneutik und andererseits die differenzierte Strukt u r der Rechtsordnung betreffen, lassen sich zwei Folgerungen ziehen, und zwar eine unwichtige und eine wichtige. Die unwichtige (weil Etiketten immer mehr oder weniger unwichtig sind) ist die, daß der hermeneutische Theoretiker vom Stile Harts doch gewissermaßen ein Rechtspositivist bleibt. Die wichtige Folgerung ist, daß ein Positivismus von dieser A r t eine äußerst glaubwürdige Doktrin ist. Sie beruht auf der i n letzter Konsequenz gegebenen Souveränität des individuellen moralischen Gewissens, auf dem Anrecht, etabliertes Recht wegen seiner Ungerechtigkeit — jenseits aller Fragen der formalen Gültigkeit oder Ungültigkeit — zu kritisieren, auf dem Anspruch, zwischen Gehorsam und Ungehorsam selbst abwägen zu dürfen, und schließlich auf dem Recht, j a der Pflicht, Widerstand gegen Ungerechtigkeit zu leisten, selbst wenn diese i m Namen des Rechts befohlen wird. Diese Implikationen einer solchen A r t des Positivismus scheinen m i r ungemein zustimmungswürdig zu sein. Gleichwohl verbleibt m i r ein letzter Rest von Unbehagen. Natürlich haben w i r die offenkundigen Tatsachen des Rechts anzuerkennen, natürlich haben w i r anzuerkennen, daß die innerhalb eines Rechtssystems durchgeführten Operationen primär die internen Gültigkeitskriterien des Systems beachten müssen. Auch wenn eine nach gültigem Recht zu entrichtende Steuer m i r oder dir oder dem Finanzamt oder einem Richter des Kanzleigerichts eine ungerechte Forderung zu sein scheint, so ist sie doch dem Gesetz nach zu entrichten. Wenn eine Steuerfreistellung, so wie die des Lord Vestey 43 , eine himmelschreiende Ungerechtigkeit zu sein scheint, so dreht sich gleichwohl die rechtliche Frage u m die Gültigkeit und nicht u m die Gerechtigkeit einer solchen Freistellung, ausgenommen soweit Gerechtigkeitserwägungen für die Interpretation des Steuergesetzes relevant sind. Die Frage der Steuergerechtigkeit ist eine Angelegenheit der kritischen Moralerwägung, nicht der Interpretation des Rechts. I n dieser Hinsicht steht das Steuergesetz auf gleicher Ebene mit den Fragen der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Gesetze gegen Obszönität, Blasphemie oder Verschwörungen. Gesetze können bestehen und doch nicht gut sein; und für die Zwecke von Anwälten und Beamten der Rechtsprechung ist es i n Beachtung der Rolle, die sie spielen, ge41 Vgl. die Aussprüche v o n L o r d Simonds i n Shaw v. DPP [1962] A C 220, insb. 268, u n d dessen K r i t i k i n H. L. A . Hart, Law, L i b e r t y and M o r a l i t y , op. cit. 42 Vgl. P. Devlin , The Enforcement of Morals, London 1965. 43 Vgl. Vestey v. IRC [1979] 4 A l l ER 976.

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boten, daß sie das bestehende Recht ermitteln und anwenden, unabhängig davon, ob sie es für gut halten. Aber bei aller Spezialisierung des Rechts, bleibt die Frage seiner Verbindlichkeit der springende Punkt. Das Hartsche Recht ist eine Vereinigung von sekundären und primären Regeln — primären Pflichtregeln. Hier könnte man streiten über Harts Verwendungsweise des Terminus »Pflicht 4, den er i n umfassendem Sinne verwendet. Ich würde die Sache eher so sehen: die grundlegendsten Gesetze sind jene, welche kategorische Forderungen an Personen stellen. Diese Forderungen sind i n genau dem Sinn kategorisch, daß ihre Verletzung als Unrecht stigmatisiert wird. Manche dieser Rechtswidrigkeiten sind Vergehen oder Verbrechen, die durch Geldstrafen oder durch Gefängnisstrafen bis zur Dauer eines Drittels eines Menschenlebens geahndet werden. Manche Rechtswidrigkeiten sind Pflichtverletzungen, die eine Verpflichtung zur Entschädigung oder Wiedergutmachung nach sich ziehen. Somit umfaßt das Gesetz auch eine Ordnung von Rechten, welche von Individuen, wenn notwendig m i t Zwang, j a selbst unter Assistenz der öffentlichen Vollzugsgewalt, gegen jeden anderen geltend gemacht werden können 4 4 . Natürlich hängt die Widerrechtlichkeit gewisser Verhaltensweisen von der Geltung gewisser primärer Rechtsregeln ab, ebenso wie der Rechtscharakter gewisser Ansprüche. Aber dieser formale Aspekt der Primärregeln beseitigt keineswegs Harts ursprüngliche Grundkonzeption von »Pflicht 4 oder »Unrecht 4, noch macht er diese hinfällig. A n seiner diesbezüglichen Argumentation läßt sich i m Detail vieles aussetzen. Gleichwohl hat er gewiß i m großen und ganzen recht, wenn er darlegt, daß ein spezifisches Merkmal von Verpflichtungen i m gesamten Bereich des Normativen die Wichtigkeit der zugrundeliegenden Werte ist, u m die es jeweils geht. Dies ist und bleibt das tatsächlich Zwingende an dem intern legitimen und kohärenten Gebrauch der begrifflichen Merkmale der Rechtsgeltung. Vielleicht ist es wahr, daß ein Rechtssystem, wie angeblich das britische, die Festlegung der Gesetzgebung absolut endgültig machen kann, soweit diese die niedergelegten Primärregeln betrifft (vorausgesetzt, alle prozeduralen Erfordernisse werden bei der Setzung beachtet). Aber selbst dieser Umstand ermöglicht es nicht, daß die Gesetzgebung sinnvoll alles Beliebige, ohne Beachtung irgendwelcher vernünftiger Werturteile, zur Pflicht erheben kann. Was der Gesetzgeber festlegen kann, unterliegt hinsichtlich seiner Ernsthaftigkeit wichtigen Einschränkungen. 44 F ü r nähere Ausführungen zu diesem Vorschlag vgl. D. N. H. L. A . Hart, op. cit., K a p i t e l 5.

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Betrachten w i r das oben erwähnte Beispiel des Gewerkschaftsgesetzes. Viele meinen heute, daß die jüngste Gesetzgebung ungerecht sei. Aber gewiß muß angenommen werden, daß jene, die es ernsthaft und aus aufweisbar guten Gründen niedergelegt haben, es für gerecht hielten. Bestimmte A r t e n der Aufstellung von Streikposten zu Straftaten oder zu zivilrechtlichen Delikten zu machen, kommt der Auffassung gleich, daß ein solches Verhalten m i t wichtigen Werten unverträglich sei. Warum das so ist, läßt sich aus folgender Erwägung ersehen: Wäre es nicht so absurd, daß man es praktisch — wenn auch nicht i n streng logischem Sinne — selbstwidersprüchlich nennen müßte, wenn das Parlament ein Gesetz beschließen würde m i t dem Titel „Gesetz zur ungerechten Einschränkung des Aufstellens von Streikposten, 1970" oder „Gesetz zur ungerechten Besteuerung der Reichen"? Und warum wäre das absurd? Doch wohl deshalb, weil jene, welche die Macht und Verfügungsgewalt innerhalb eines Rechtssystems ausüben, stets zumindest vorgeben müssen, auf der Grundlage ernsthaft vertretener und ernsthaft erwogener Werte zu handeln 4 5 ! Ist dies nicht genau der Punkt, welcher der kritischen Moralbetrachtung die kritische Schärfe verleiht? Wenn ungerechte Gesetze gemacht werden, so ist dies nicht nur i n einem allgemeinen Sinn moralisch beklagenswert. Es hat vielmehr jenen beklagenswerten Charakter, den w i r etwa auch der Perversion eines Treueverhältnisses zuschreiben. Den Hintergrund der Schmähung, die w i r über einen ungerechten Gesetzgeber — insbesondere den ungerechten Gesetzgeber, dessen ungerechte Gesetze gültig sind — ergehen lassen, bildet vielleicht der Gedanke, daß „ . . . ein ungerechtes Gesetz . . . eine Korruption der Legalität i s t " 4 6 . Und dies ist, wie ich anmerken möchte, nicht der Ausspruch eines Positivisten, sondern der des größten Naturrechtlers, des Heiligen Thomas von Aquin. Wie aber sind w i r zu diesem Urteil gelangt? W i r gelangten dazu, indem w i r lediglich den Implikationen von Harts hermeneutischer Analyse des Rechts folgten. Wenn dieses ,Urteil· richtig ist, so finde ich mich beinahe i n einem Boot m i t der Auffassung von Finnis 4 7 . W i r können Karikaturen oder 45 Vgl. R. A . Duff , Legal Obligation and the M o r a l Nature of Law, i n : Jur. Rev. 1980, S. 6 1 - 8 7 , insb. 7 9 - 8 6 . Ich b i n dieser A r b e i t sehr verpflichtet, ebenso w i e der v o n J. Finnis, N a t u r a l Rights, Oxford 1979. 46 Thomas v. Aquin, Summa Theologiae, I - I I , q. 95, a. 2 c: „si vero i n aliquo a lege n a t u r a l i discordet, i a m n o n e r i t lex, sed legis corruptio". 47 Dargelegt i n J. Finnis, N a t u r a l L a w , op. cit., K a p i t e l 12. Dr. Finnis betont, S. 363 - 366, zu Recht, daß Thomas' berühmter Ausspruch über die »Korr u p t i o n des Rechts 1 durch ungerechte Gesetzgebung i m Sinne einer U n t e r suchung zu interpretieren ist, welche nach der Kembedeutung des Begriffes des Rechts fragt. U n t e r Voraussetzung dieser ungemein überzeugenden I n t e r -

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Idealtypen von sogenannten rechtspositivistischen oder naturrechtlichen Theorien herstellen. Aber w i r betrügen uns selbst, wenn w i r annehmen, daß heutzutage noch eine scharfe Trennungslinie zwischen diesen beiden Konzeptionen verbleibt. Die am besten entwickelten Formen des Positivismus führen i n entscheidender Hinsicht zu ganz ähnlichen Folgerungen wie jenen, welche aus den glaubwürdigeren Varianten des Naturrechtsdenkens abgeleitet werden können, wenn w i r die Gedankengänge nur genug rigoros fortführen. Das bedeutet nun keineswegs, daß nicht noch wichtige Fragen strittig bleiben: Sind jene Werte, welche die die Regierungsmacht Ausübenden beachten sollen, objektive Wahrheiten? Oder müssen sie so verstanden werden, daß es für sie keine weitere Prüfung gibt, welche über die der ideologischen Konsistenz hinausgeht? I n welcher Beziehung stehen sie zu jenen Werten, welche von kritischen Moraltheoretikern ins Spiel gebracht werden? W i r müssen die Schlußfolgerung ziehen, daß diese wichtigen Fragen i n der Jurisprudenz nicht ignoriert werden dürfen, sondern daß sie den Brennpunkt der Diskussion darstellen sollen, anstelle von Scheingefechten über die obsolete Frage, ob ungerechte Gesetze formalrechtliche Gültigkeit genießen können 4 8 .

pretation v o n Thomas, die auch v o n Duff, op. cit., vertreten w i r d , dürfen w i r Thomas nicht unterstellen, er behaupte, daß »Gerechtigkeit* eine Gültigkeitsbedingung einer Rechtsnorm sei. 48 Dieser Aufsatz entspricht dem T e x t einer special lecture i n laws, welche ich am 10. November 1980 am Kings's College, London, gehalten habe. N u r kleine Änderungen w u r d e n angebracht, u m dem Unterschied zwischen geschriebenem u n d gesprochenem W o r t Rechnung zu tragen. F ü r die Einladung u n d die Gastfreundlichkeit b i n ich zu Dank verpflichtet: der University of London, der King's Faculty of Laws u n d insbesondere Prof. A . G. Guest sowie H e r r n J. M . Thomson.

OTA WEINBERGER

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie Skizze einer handlungstheoretischen und non-kognitivistischen Gerechtigkeitslehre Ich möchte einige Voraussetzungen diskutieren und einige Thesen begründen, die m i r dazu geeignet erscheinen, eine spezifische Konzeption der Gerechtigkeit zu bestimmen. Ich. nenne diese Auffassung ,analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie' oder kurz »dialektische Gerechtigkeitslehre', wobei der Terminus ,dialektisch' i n einem noch näher zu erklärenden, nicht-hegelianischen Sinne zu verstehen ist. 1. Abschnitt: Die Theorie der Gerechtigkeit versucht, objektive K r i terien der Gerechtigkeit anzugeben (und dadurch den Begriff der Gerechtigkeit zu definieren), indem sie diese Prinzipien entweder als formale Kriterien, oder als materiales, i n t u i t i v evidentes Apriori, oder als anthropologische Gegebenheit oder als religiöse Glaubenssätze hinstellt. Der objektiven Bestimmung von »gerecht' und »ungerecht' dienen auch die utilitaristischen Theorien ebenso wie die Rawlssche Kontrakttheorie. Der strenge Rechtspositivismus läßt dagegen eine Gerechtigkeitsfrage nur relativ zu einem positiv gegebenen Normensystem zu. 2. Abschnitt: Gerechtigkeitspostulate müssen als Determinanten des Entscheidens und Handelns, also als Elemente der praktischen Argumentation verstanden werden. 3. Abschnitt: Ich gehe von einer non-kognitivistischen Konzeption der praktischen Argumentation aus: es gibt praktisches Denken und Argumentieren, aber keine praktische Erkenntnis. 4. Abschnitt: Die praktische Argumentation kann auf Struktursysteme des rationalen Operierens (Normenlogik, formale Teleologie, Axiologie, Präferenzlogik,...) gestützt werden. 5. Abschnitt: Ich gehe von einer formalistisch-teleologischen Handlungstheorie aus. A u f der Basis der so konzipierten Struktur des Handelns läßt sich die anthropologische Funktion von Vorsätzen, Werten sowie von autonomen und heteronomen Normen erklären.

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

177

6. Abschnitt: Handlungs- und Wertentscheidungen sind durch ein komplexes Zusammenspiel von Utilitätsüberlegungen, normativen Regeln, Wertentscheidungen (und gegebenenfalls irrationalen Determinanten) bestimmt. 7. Abschnitt: Das Problem der Gerechtigkeit liegt i m Schnittpunkt von Moral, Recht und Politik. Moral, Recht und Politik sind i n gewissem Sinne komplementär; sie betreffen die Beziehungen des Individuums zu seinen Mitmenschen und zur Gemeinschaft. Gerechtigkeitspostulate bestimmen, wie die Verhaltensweisen und Positionen der Personen gestaltet sein sollen. 8. Abschnitt: Der Non-Kognitivismus schließt die Existenz immanenter Gerechtigkeitsprinzipien, nicht jedoch rationale Argumentationen i m Bereich der Gerechtigkeitsanalysen aus. Er braucht für die praktische Argumentation überzeugende Argumente, die weder rein formal noch empirisch-kognitiv sein können. Die Existenz i n t u i t i v gültiger Gerechtigkeitsüberzeugungen bei jedem Menschen und i n sozialen Gruppen jeder A r t ist eine anthropologische Tatsache. 9. Abschnitt: Da die Gerechtigkeitsüberzeugungen und die Gerechtigkeitsurteile immer Gegenstand der Analyse sind und i n rationalen Erwägungen entwickelt und begründet werden, bemüht sich die Gerechtigkeitslehre, Theorien und Methoden der materialen Begründung des Sollens darzulegen, ζ. B. (a) die Methode der „selbstverständlichen" Voraussetzung, (b) die Analyse der Ausgewogenheit des Rollenspiels, (c) das Prinzip der Gegenseitigkeit aufgrund faktischer oder vertraglicher Partnerschaft, (d) konsenssuchende Analysen, u. ä. 10. Abschnitt: Ich bezeichne die Gerechtigkeitsüberlegung als dialektische Analysen, weil sie zwar rationale und i m Prinzip formal darstellbare Vorgänge (Informationsverarbeitung) sind, aber nicht i n Form einer Deduktionskette von festgesetzen Prämissen zur Konklusion dargestellt werden können. Die Überlegung ist oft mehrwegig; sie enthält vergleichende Wertung und Wertentscheidungen, rationale und empirische Bewährungsprozesse. Die Gerechtigkeitsüberlegung strebt ein Gleichgewicht zwischen traditionsbestimmter moralischer Intuition und K r i t i k an.

12 MacCormick/ Weinberger

Ota Weinberger

178

1. Die Problemsituation in der Gerechtigkeitstheorie Die philosophischen Gerechtigkeitslehren wollen objektiv begründen, was als gerecht anzusehen ist; m i t anderen Worten: sie bestimmen die Prinzipien der Gerechtigkeit oder ein solches grundlegendes Prinzip, aus dem die übrigen ableitbar sein sollen. Die Objektivität der Begründung — aus der folgt, daß universelle Anerkennung der Prinzipien gefordert werden muß, — w i r d i n verschiedener Weise zu erreichen versucht. (i) Gerechtigkeit als formales Prinzip Das Postulat der Gerechtigkeit w i r d als formales Prinzip

aufgefaßt,

das wie jedes formale Prinzip objektive und universelle Gültigkeit hat. Von dieser A r t sind insbesondere folgende Theorien: der Versuch, Gerechtigkeit auf Gleichheit zurückzuführen Kantsche Lehre v o m kategorischen Imperativ

1

(Piaton, Aristoteles); die u n d eine Reihe v e r w a n d -

ter Lehren; das Prinzip der formalen Gerechtigkeit, wenn es als Kriter i u m der Gerechtigkeit angesehen wird, wie ζ. B. i n der Perelmanschen Konzeption, dergemäß Personen der gleichen Kategorie gleich zu behandeln sind 2 . Hierher gehört auch das Postulat der Universalisierbarkeit des Sollens 3 . Die an Aristoteles anknüpfende Lehre unterscheidet zwischen iustitia commutativa ,

iustitia

distributiva

u n d iustitia

retributiva . I m Geiste des

Aristoteles w i r d angenommen, alle diese Formen der Gerechtigkeit seien i n gewisser Weise auf Gleichheiten, also auf formale Relationen, reduzierbar. Ich habe den Eindruck, daß u n t e r der Bezeichnung fiustitia tativa ΐ Verschiedenes zusammengefaßt w i r d :

commu-

(a) das Postulat der Gleichwertigkeit gegenseitiger Leistungen,

1 Gemeint ist natürlich die erste Formulierung des kategorischen Imperativs („Handle n u r nach derjenigen Maxime, durch die d u zugleich w o l l e n kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde"; I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B A 52), nicht die m i t i h r nicht äquivalente zweite Formulierung („Handle so, daß d u die Menschheit, sowohl i n deiner Person, als i n der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als M i t t e l brauchest."; I. Kant, a.a.O., B A 66 f.). Die zweite Formulierung ist eine i n h a l t l i c h bestimmende Regel, i n der eine solche Zweckeinstellung, die allein als eine moralische gelten kann, postuliert w i r d . 2 Ch. Perelman, Uber die Gerechtigkeit, München 1967, S. 28: „Die formale oder abstrakte Gerechtigkeit läßt sich demnach definieren als ein Handlungsprinzip, nach welchem die Wesen derselben Wesenskategorie auf dieselbe A r t u n d Weise behandelt werden müssen." 8 Vgl. R. M. Hare, Freedom and Reason, London, Oxford, New Y o r k 1967 (19631).

179

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

(b) das Prinzip der Gegenseitigkeit i n zwischenmenschlichen Beziehungen, (c) das Postulat der formalen Gleichheit des Sollens. Zu (a): Es ist eine Frage des Charakters der Rollenbeziehung der Beteiligten, ob Gleichwertigkeit der Leistungen zu fordern ist. Wenn dies d e r F a l l ist, d a n n ist d i e Gleichwertigkeit risch feststellbare

Beziehung

der Leistungen

zwischen den Leistungen,

keine

empi-

sondern ein rela-

tives Werturteil.

Zu(b): Gegenseitigkeit der menschlichen Beziehungen ist ein Strebensziel der demokratischen Lebensauffassung, aber kein universelles Gerechtigkeitsprinzip, denn es gilt nur für jene Beziehungen, die w i r partnerschaftlich gestalten wollen. Zu(c):

Formal

gleiche

Beurteilung

ist w o h l

eine

allgemeingültige

Forderung der Gerechtigkeit. Für die Beantwortung der Frage, was i n concreto gerecht ist, bleibt jedoch die Entscheidung offen, welches die Kriterien der Gleichheit sind und welche Sollfolgen für den Falltypus gerecht (das heißt hier: angemessen) sind. Die Verteilungsgerechtigkeit kann sicherlich nicht auf Gleichheit reduziert werden. Es gilt nicht, daß gleiche Teile für jeden Teilnehmer an einem gemeinsamen Unternehmen immer die gerechte Lösung wäre. Auch proportionale Gleichheit — ζ. B. „bei n-facher Leistung n-facher Lohn" — ist kein universell gültiger Maßstab. Die Kriterien können umstritten sein (soll proportional nach Leistung, Anstrengung oder Ergebnis entlohnt werden?). Es können modifizierende Momente zur Geltung kommen. Die zur Verteilung führende Überlegung ist auch insoweit komplex, als nebeneinander verschiedene Kriterien anzuwenden sind, so daß die Entscheidung über die gerechte Verteilung von gewichtenden Wertentscheidungen abhängig ist. Die gerechte Strafe kann sicherlich nicht durch eine einfache Gleichheitsrelation bestimmt werden, denn Strafe ist sicherlich nicht nur — ja nicht einmal i n erster Linie — als Kompensation des Delikts aufzufassen. Neben den drei erwähnten Formen der Gerechtigkeit (iustitia commutativa, distributiva und retributiva) w i r d heute oft von Verfahrensgerechtigkeit gesprochen; sie w i r d jedoch nicht auf die Idee der Gleichheit zurückgeführt. Die Verfahrensgerechtigkeit liefert keine direkte Bestimmung darüber, was als inhaltlich gerecht anzusehen ist. Sie stützt sich auf die Hypothese, daß gewisse Verfahrensformen zu materiell gerechten Lösungen führen, oder — wenigstens — daß angemessene Verfahrensformen die Wahrscheinlichkeit gerechter Lösungen wesent12*

Ota Weinberger

180

lieh erhöhen. Von der Frage, inwieweit diese Hypothese empirisch belegt ist, können w i r hier absehen. Die Verfahrensgerechtigkeit hat noch einen anderen Aspekt, der vom Standpunkt der Gerechtigkeit bedeutsam ist. Die moderne Gesellschaft braucht normierte Verfahrensformen — seien sie kodifiziert oder gewohnheitsrechtlich festgelegt —, u m einerseits die Wahrscheinlichkeit angemessener Entscheidungen zu maximieren und u m andererseits Gleichheit der Subjekte i m Verfahren zu garantieren. (Bewußte) Abweichung von den Verfahrensregeln indiziert eine unobjektive Einstellung der zur Entscheidung berufenen Instanzen. I m Rahmen demokratischer Systeme w i r d auf die Verfahrensgerechtigkeit besonderes Gewicht gelegt. Wenn ich aufgefordert bin, nach jener Maxime zu handeln, von der ich w i l l , sie gelte als allgemeines Gesetz, dann werde ich dazu angehalten, meine moralische Betrachtung als generelle Schau zu gestalten, ich habe aber durch dieses Postulat des kategorischen Imperativs kein Wertkriterium der Gerechtigkeit erhalten, sondern nur ein Schema für die formal universelle Anwendung meiner Wert- und Präferenzmaßstäbe. Und Gerechtigkeit ist gegenüber Wertüberzeugungen und subjektiven Maßstäben nicht indifferent. Das Prinzip

der formalen

Gleichheit

— so w i c h t i g es ist — ist n u r

ein Instrument zur Gewinnung der Transparenz der materiellen Gerechtigkeitswertung. Die Bestimmung der relevanten Kategorienmerkmale und der zugeordneten Sollfolgen ist offen; sie muß wertend als gerecht oder ungerecht beurteilt werden. Das Universalisierbarkeitsprinzip ist verwandt m i t dem Prinzip der formalen Gleichheit. Es ist m. E. nicht zweckmäßig, wie Hare es tut, den Begriff des Sollens definitorisch an die Universalisierbarkeit zu binden 4 . Universalisierbarkeit der moralischen oder rechtlichen Entscheidung zu fordern, bedeutet nichts anderes, als eine Strukturbedingung für Wertentscheidungen zu setzen, der man durch Auffindung differenzierender Umstände, die immer vorhanden sind, gerecht werden kann. Das Prinzip ist also kein Mittel des moralischen Entscheidens, sondern bietet bloß eine Strukturierung der Entscheidungsüberlegung. Hinsichtlich aller Versuche, die Gerechtigkeit rein formal zu bestimmen, muß kritisch festgestellt werden, daß rein formale Postulate ex definitione inhaltsleer und wertneutral sind, so daß sie allein prinzipiell keine Entscheidung über gerecht oder ungerecht liefern können.

4

R. M . Hare , The Language of Morals, London, Oxford, New Y o r k 19703 (19521), S. 191 f.; ders., Freedom and Reason, S. 90 f. et passim; ders., M o r a l T h i n k i n g . Its Levels, Method, and Point, Oxford 1981.

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

181

(ii) Gerechtigkeit als materiales A p r i o r i Es w i r d die Existenz inhaltlicher Gerechtigkeitsprinzipien als materiales Apriori vorausgesetzt, das durch Intuition oder/und Analyse aufgedeckt werden kann. Die Existenz apriorischer inhaltlicher Gerechtigkeitsprinzipien halte ich für eine wissenschaftlich inakzeptable Voraussetzung, die auch für die Gerechtigkeitsargumentation kaum verwertbar ist. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß w i r evidente Gerechtigkeitswertungen intuit i v erleben. Die Tatsache, daß w i r etwas i n t u i t i v als gewiß erleben, bedeutet keineswegs, daß dieser Inhalt objektiv richtig ist und daß er nicht durch Analyse oder/und spätere Erfahrung i n Frage gestellt werden kann. Die Gerechtigkeitsintuition kann zwar als Tatsache i n Argumentationen verwertet werden (vgl. Abschnitt V I I I ) , sie ist aber nicht fähig, apriorische inhaltliche Gerechtigkeitsprinzipien zu begründen. Religiös orientierte Denker betrachten die Gerechtigkeitsprinzipien als dem Menschen von Gott vorgegeben, also auch als a priori daseiend. Was als gerecht zu gelten hat, w i r d nach dieser Auffassung durch das Glaubenssystem bestimmt, das dem Menschen durch Offenbarung oder durch andere religiöse Erfahrung zugänglich ist. (iii) Anthropologisch gegebene Gerechtigkeitsprinzipien Manche Autoren leiten aus dem Wesen des Menschen Prinzipien ab, die bestimmen, was objektiv als gerecht gelten muß, weil diese Prinzipien als Implikationen von anthropologischen Konstanten selbst anthropologisch notwendige

Sollensgrundsätze

sind.

Es ist ein grundlegendes anthropologisches Merkmal des Menschen, daß er i n der Gestaltung seiner Verhaltensweisen und der persönlichen sowie gesellschaftlichen Lebensformen weitgehend frei ist. Die Gestaltung des Lebens, und noch mehr des Zusammenlebens, ist weitgehend von unserer Vorstellungswelt und Ideologie abhängig. Daraus folgt, daß es zwar anthropologisch notwendige Sollensregulative und Gerechtigkeitsüberzeugungen m i t gewissen notwendigen Funktionen gibt, doch bleibt die Bestimmung des objektiv richtigen (gerechten) Sollens i n diesem Rahmen weitgehend freigestellt und bietet reichlich Alternativen für Dezisionen. (iv) Die utilitaristischen Gerechtigkeitskriterien Von anderer A r t ist das utilitaristische Prinzip, demgemäß das moralisch Gute (das Gerechte) das ist, was den größten Nutzen für die größte Anzahl von Menschen mit sich bringt. Abgesehen von den

182

Ota Weinberger

Schwierigkeiten des Vergleichs von Nutzen und Schaden bei verschiedenen Subjekten, gibt es offensichtlich Handlungen und Entscheidungen, die jeder Gerechtigkeitsintuition widersprechen, aber utilitaristisch gerechtfertigt werden können. Den Utilitarismus als Gerechtigkeitstheorie aufzufassen, ist auch deswegen problematisch, weil das utilitaristische Prinzip es nicht gestattet, einen Unterschied zwischen dem Aspekt des Gerechten und der sonst allgemein nützlichen Entscheidung zu machen. Es mag ζ. B. gut und utilitaristisch begründbar sein, einen Kanal zu bauen, doch ist es keine Frage der Gerechtigkeit, sondern des zweckmäßigen Wirtschaftens, ob man so ein Projekt realisiert oder nicht. (v) Gerechtigkeit als Fairneß Zu den klassischen Gerechtigkeitstheorien gehört heute auch schon Rawls ' Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß, dergemäß das Problem der gesellschaftlichen Verteilung den Kern jedweder Gerechtigkeit b i l det und die durch eine Entscheidungsüberlegung i n einer durch Postulate definierten Situation, der Urposition, begründet wird. Rawls stellt seine Lehre als Kontrakttheorie dar, w e i l seiner Meinung nach unter den gegebenen Voraussetzungen jeder den Gerechtigkeitsprinzipien zustimmen müßte 5 . Die ganze Gerechtigkeitsanalyse w i r d als gedanklicher Prozeß aufgefaßt, i n dem ein Überlegungs-Gleichgewicht zwischen den wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen und Prinzipien, die i m Urzustand akzeptiert werden müßten, angestrebt wird. Die unter der Annahme des Urzustands entwickelten Prinzipien sind deswegen gerecht, weil sie von gleichen moralischen Subjekten unter Ausschluß willkürlicher Zufälligkeiten und verzeichnender gesellschaftlicher Kräfte gewonnen werden. Das Argumentationsmodell, wie es i n dem Begriff der Urposition zum Ausdruck kommt, statuiert gewisse Voraussetzungen der Gerechtigkeitsanalyse: vernünftige Menschen, die nicht Liebe oder Haß bewegt, sondern die nur i h r Bestes suchen. Es w i r d ferner eine Gesellschaft m i t folgenden Eigenschaften vorausgesetzt: (a) I n der Gesellschaft herrscht ein solches Ausmaß an materieller Knappheit, daß zur Befriedigung der Bedürfnisse der Mitglieder der Gesellschaft Kooperation erforderlich ist, und daß andererseits Chancen bestehen, daß die Kooperation zur Förderung der Bedürfnisbefriedigung erfolgreich sein kann. 5 Vgl. J. Rawls , A Theory of Justice, London, Oxford, New Y o r k 1971, deutsche Übersetzung des revidierten Textes v o n H. Vetter, Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t a. M. 1975. Z u m Problem des f i k t i v e n Konsenses dieser A r t siehe O. Weinherger, Die Rolle des Konsenses i n der Wissenschaft, i m Recht u n d i n der P o l i t i k , in: Rechtstheorie, Beiheft 2,1981, S. 147 - 165.

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

183

(b) Die Gesellschaft ist wohlgeordnet, worunter Rawls die Tatsache versteht, daß jeder einzelne die Grundsätze der Gerechtigkeit kennt, sie anerkennt, von seinen Mitmenschen dasselbe weiß, und daß jeder sich nach ihnen tatsächlich richtet und weiß, daß die anderen sich ebenfalls nach ihnen richten. (c) Jedermann hat grundlegende Bestrebungen und Interessen und anerkennt dies auch für jeden anderen; deswegen ist es berechtigt, die Institutionen so zu gestalten, daß gegenseitige Ansprüche berücksichtigt werden. Die Entscheidung für Gerechtigkeitsgrundsätze w i r d unter dem Schleier des Nicht-Wissens getroffen. Die Überlegung i n der Urposition w i r d unter der Voraussetzung durchgeführt, daß die Teilnehmer die Positionen, die sie faktisch i n der Welt einnehmen werden, nicht kennen; diese Voraussetzung soll die Überlegungen von den subjektiven Interessen loslösen und unparteiisch gestalten. Der Schleier des NichtWissens ist sehr dicht, er umfaßt alles Individuelle: soziale Stellung, Klasse, Rasse, Geschlecht, Vorliebe, Charakter, Fähigkeiten, die historische Position usw. Es w i r d volle Kenntnis der Natur- und Gesellschaftsgesetze vorausgesetzt. Die Mitglieder der Gesellschaft sind freie und gleiche Individuen, die die Freiheit der anderen ebenso achten wie die eigene; sie sind ausschließlich vom individuellen Selbstinteresse geleitet und kennen keinen Neid. Die zur Wahl der Gerechtigkeitsprinzipien führende Analyse umfaßt bei Rawls auch einige methodologische Beschränkungen: Es werden Analysen über die Wahrscheinlichkeit, daß das Subjekt diese oder jene Position i n der Gesellschaft einnehmen w i r d oder i n welcher historischen Epoche man leben wird, ebenso wie Wahrscheinlichkeitsüberlegungen über den Erfolg des Handelns ausgeschlossen. Begabung, Fertigkeiten oder Leistung werden nicht als Argumente der Verteilungsdifferenzierung herangezogen. Unter diesen Voraussetzungen würde man sich nach Rawls für folgendes Prinzip der Gerechtigkeit entscheiden: 1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das m i t dem gleichen System für alle anderen verträglich ist — Grundsatz der größtmöglichen Freiheit. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (α) sie zu jedermanns Vorteil dienen — das Unterschiedsprinzip, und (ß) sie mit Positionen und Ä m t e r n verbunden sind, die jedem offen stehen — Grundsatz der fairen Chancengleichheit. Der erste Grundsatz ist immer vorgeordnet (lexikalisch, wie Rawls sagt).

184

Ota Weinberger

Die Idee des Schleiers des Nicht-Wissens ist ein ausgezeichnetes Modell der unbeteiligten und unparteiischen Beurteilung, doch macht sie meines Erachtens eine Entscheidungsanalyse unmöglich, da sie bei Rawls auch die Interessen, Ziele und Präferenzen umfaßt. Da jedwedes Wählen und Entscheiden von Zielen oder/und Präferenzen abhängt, müßte man voraussetzen, daß ein unpersönliches, sozusagen objektives Präferenzsystem nach Ausschaltung der persönlichen Einstellungen übrig bleibt, das für die Gerechtigkeitsüberlegung relevant ist. Ein solches unparteiisches Präferenzsystem ist kaum bestimmbar, und daher das Wählen unter dem Schleier des Nicht-Wissens — wenn überhaupt möglich — nicht klar bestimmt. W i r können hier von der problematischen Begründung der Lehre 6 absehen und fragen, ob die Prinzipien selbst brauchbare Gerechtigkeitskriterien darstellen. Ich meine, daß dies nicht der Fall ist: Das Problem der Gerechtigkeit sollte meines Erachtens nicht auf Gesellschaften eines gewissen ökonomischen Niveaus beschränkt werden. (Zwischen Häftlingen i m nazistischen K Z gibt es auch Gerechtigkeitsprobleme.) Auch ich werte Freiheit als der Gleichheit vorgeordnet, doch keineswegs i n der Weise, wie es Rawls sieht: sowohl Freiheit als auch Gleichheit sind Bündel verschiedener Postulate und eine generelle Vorrangstellung der Freiheiten löst das Problem nicht, unter anderem deswegen, weil Freiheiten untereinander i n Konflikt geraten können. Zu fragen, wann Ungleichverteilung gerecht ist, ohne zu fragen, wann und warum wer mehr und wer weniger bekommen soll, geht meines Erachtens an dem Gerechtigkeitsproblem vorbei. Es erscheint m i r auch problematisch, den Maßstab der Gerechtigkeit überhaupt durch eine Utilitätsentscheidung (in einer fiktiven Situation) bestimmen zu wollen 7 . (vi) Gerechtigkeit nach Maßgabe einer Normenordnung Die traditionelle positivistische Lehre reduziert das Gerechtigkeitsproblem auf die Übereinstimmung des Handelns m i t der positiven Norm bzw. auf das formal gleiche Entscheiden nach geltenden Normen. Diese Übereinstimmung (d.h. die Subsumtion) ist objektiv feststellbar, der Inhalt der Norm w i r d weder gewertet noch begründet, sondern als 6 Ich habe die Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien durch das Modell der Urposition u n d den f i k t i v e n K o n t r a k t als Illusion bezeichnet. Siehe O. Weinberger, Begründung oder Illusion. Erkenntniskritische Gedanken zu John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit, Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 31/Heft 2, 1977, S. 234 - 250; wiederabgedruckt i n : ders., Logische A n a l y sen i n der Jurisprudenz, B e r l i n 1979, S. 195 - 216. 7 Trotz meiner kritischen Einstellung zu Rawls unterschätze ich keineswegs die Bedeutung seiner Lehre, insbesondere der Idee des Schleiers des NichtWissens, seiner Überlegungen betreffend das Überlegungs-Gleichgewicht u n d seiner Hinweise auf die Bedeutung der Verfahrensgerechtigkeit.

185

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

soziale Gegebenheit hingenommen. Durch Relativierung i n bezug auf das positive System w i r d das Problem der Gerechtigkeit objektiviert, der eigentlich materiale Kern der Gerechtigkeitsanalyse w i r d aber aus der Überlegung ausgeklammert. I m ganzen k a n n m a n die traditionellen Gerechtigkeitstheorien i n folgender Weise charakterisieren. Sie stellen das Gerechtigkeitsurteil als objektive

Erkenntnis

hin: entweder

welche praktische

Erkenntnis

aussetzt,

Sollensprinzipien

wonach

[(iv)]; oder

durch

Überzeugung,

oder einen religionsartigen

[ ( i ) - ( i i i ) u n d (v)]; oder aufgrund kalküls

aus naturrechtlicher dem

Menschen

eines objektiv

Relativierung

auf

Glauben

vorgegeben

gedeuteten

ein positives

vorsind

UtilitätsSollsystem

[(vi)]. 2. Gerechtigkeitspostulate als Handlungsdeterminanten Während die traditionellen Gerechtigkeitstheorien sich bloß mit dem Suchen nach Gerechtigkeitsprinzipien und deren Begründung befassen, sehe ich das Problem primär i n einer anderen Perspektive. Ich frage mich, welche Rolle spielen Gerechtigkeitsüberlegungen als determinierende Momente des menschlichen Handelns, u n d z w a r s o w o h l i m V e r -

halten des einzelnen als auch i n gesellschaftlichen Relationen. Meine Überlegungen über Gerechtigkeit sollen daher eine verstehende Beschreibung des Suchens nach Gerechtigkeit als eines wesentlichen Faktors der Lenkung des individuellen und gemeinschaftlichen Verhaltens liefern. Gleichzeitig muß ich erklären, wie Gerechtigkeitsanalysen und Vorsätze sowie Normen überhaupt i n die Bestimmung der Handlung eingreifen, und diese Erklärung muß aufgrund einer Theorie des Handelns dargestellt werden. Ich gehe v o n einer formalistisch-finalistischen

Handlungstheorie

aus,

deren grundlegende Konzeption ich schon an verschiedenen Stellen skizziert habe 8 . Meine Betrachtungsweise tionstheoretisch ausgerichtet

der Gerechtigkeitsfrage wird argumentasein; soziologisch i s t sie n u r i n s o w e i t , als

die Tatsache des Daseins von Grundsätzen der Gerechtigkeit i m individuellen und gesellschaftlichen Bewußtsein beachtet und die zwischen8 Vgl. O. Weinberger, Rationales u n d irrationales Handeln, i n : Recht u n d Gesellschaft. Festschrift f ü r H e l m u t Schelsky zum 65. Geburtstag, hrsg. v o n F. Kaulbach u n d W. Krawietz, B e r l i n 1978, S. 721 - 744; ders., Handeln u n d Schließen. Überlegungen zum Begriff der praktischen Inferenz, i n : The L a w between M o r a l i t y and Politics, hrsg. v o n F. van Dun, Philosophica 23, 1979 (1), S. 5 - 36; Ch. Weinberger / O. Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979, Kap. 8; O. Weinberger , Studien zur formal-finalistischen Handlungstheorie, Beiträge zur allgemeinen Rechts- u n d Staatslehre, Bd. 5, Bern, F r a n k f u r t a. M. 1983.

Ota Weinberger

186

menschlichen Beziehungen, die Gegenstand der Gerechtigkeitswertung sind, ins Auge gefaßt werden. Ich werde mich aber nicht mit jenen Fragen befassen, die i n den Bereich der Moralsoziologie fallen, denn es geht m i r hier weder u m die Feststellung der Gerechtigkeitsvorstellung als eines Bestandteils der moralischen Überzeugungen der Menschen noch u m Beobachtung des Verhältnisses zwischen faktischem Verhalten der einzelnen und von Gruppen i n Relation zu den moralischen Überzeugungen. M i t dieser handlungs- und argumentationstheoretischen Betrachtungsweise verbindet sich meine non-kognitivistische, rechtspositivistische und wertrelativistische

Auffassung

der praktischen

Sphäre,

durch die

jede Form praktischer Erkenntnis (im naturrechtlichen Sinne) ausgeschlossen wird. Gerade auf dieser Basis — nicht durch naturrechtliche oder pseudoformale Argumentation — kann eine effektive Theorie der materiellen Gerechtigkeitsanalysen erstellt werden, die einerseits die Realität des menschlichen Lebens erfaßt und andererseits das Element des Moralischen i n unserem individuellen und gemeinschaftlichen Dasein unterstreicht, ohne i n metaphysische Spekulation zu verfallen.

3. Der non-kognitive Charakter der praktischen Argumentation Der Non-Kognitivismus i n der praktischen Philosophie beruht einerseits auf einer gewissen anthropologischen Konzeption, andererseits auf der ihr entsprechenden erkenntnismäßig differenzierten Semantik. Der Mensch w i r d als handelndes Wesen aufgefaßt, dessen Denken und Erkennen i m Prinzip der Praxis, d. h. der Bestimmung und Lenkung des H a n d e l n s , d i e n t (anthropologisches Denken

Primat

ist Informationsverarbeitung,

der Praxis). die ein Instrument

der

Er-

kenntnisgewinnung und der Verwertung von Erkenntnissen i m Kontext der Handlungslenkung ist; d. h. Denken ist ein Prozeß, der eine wesentliche Rolle i n der Struktur der Handlungsdeliberation und Lenkung spielt. Die dieser anthropologischen Konzeption entsprechende Semantik geht von einer grundlegenden kategorialen Unterscheidung theoretischer (rein beschreibender)

u n d praktischer

Sätze aus

(erkenntnismäßig

differenzierte Semantik). Die theoretischen Sätze sind Instrumente der Tatsachenbeschreibung, der Darstellung von Erkenntnissen, Annahmen, Hypothesen, Voraussetzungen und Prognosen ebenso wie der Darstellung logischer Beziehungen (logisch gültige und analytische Sätze). Die wichtigsten praktischen Sätze sind Normsätze (Soll- und Darfsätze), Wunschsätze und Wertsätze.

187

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

M i t dieser Konzeption der Semantik verbindet die analytische Philosophie das Postulat der gnoseologisch-methodologischen Bestimmtheit der Sätze und Begriffe: die Sätze sind i n der rationalen Rekonstruktion

so darzustellen, daß von jedem Satz und jedem Teilsatz bestimmt ist, ob er als praktischer oder theoretischer Satz zu verstehen ist. Ebenso ist die Begriffsapparatur der Sprache auf ihren erkenntnismäßig semantischen Charakter h i n zu bestimmen. Dies schließt jedoch nicht aus, daß es auch solche Termini gibt, die gemischten Charakter haben, so daß i n ihren Definitionen beschreibende und praktische Termini (bzw. Sätze) verwendet werden müssen. M i t der kategorialen Zäsur zwischen theoretischen und praktischen Sätzen verbinden sich die metalogischen Postulate der Unableitbarkeit:

(i) Sind alle Prämissen Aussagesätze, kann kein (informativer) Normsatz gefolgert werden. (ii) Sind alle Prämissen Normsätze, kann kein (informativer) sagesatz gefolgert werden 9 .

Aus-

Die These des Non-Kognitivismus geht über die Unableitbarkeitspostulate hinaus. Sie behauptet nicht nur, daß deduktiv keine informativen praktischen Sätze aus rein beschreibenden (Erkenntnisse ausdrückenden) Prämissen gewonnen werden können, sondern hält es überhaupt für unmöglich, informative praktische Sätze rein kognitiv zu begründen, d. h. ohne solche Argumente, die auch Stellungnahmen enth a l t e n . Der Non-Kognitivismus schließt also nicht nur deduktive Begründungen praktischer Sätze rein kognitiver Art aus, sondern auch alle anderen rein kognitiven Wege des Begründens solcher Sätze ( i n d u k -

tive Methoden, die Methode der Hypothesenbildung und Bewährung). Der

Non-Kognitivismus

führt

aber

keineswegs

zu einem

Normen-

irrationalismus, demgemäß es keine logischen Beziehungen zwischen Normen gibt und der die Möglichkeit normenlogischen Folgerns leugn e t (Jorgen Jorgensen,

Karel

Englis, Hans Kelsen

i n der „ A l l g e m e i n e n

Theorie der Normen" 1 0 ). 9 Die Einschränkung der Unableitbarkeitspostulate auf informative K o n klusionen erscheint deswegen notwendig, w e i l analytisch gültige Aussagesätze Folgerungen jeder beliebigen Prämissenklasse sind. Analoges gilt auch v o n solchen Normsätzen, die informationsleer sind, w i e z. B. der Sollsatz v o n der S t r u k t u r ,Wenn (ρ Λ - . ρ), dann soll q sein'. Näheres über meine A u f fassung des normenlogischen Folgerns enthält das Buch Ch. Weinberger/ Ο. Weinberger, Logik, Semantik, Hermeneutik, München 1979. 10 J. Jorgensen, Imperatives and Logic, Erkenntnis, Bd. 7, 1937 - 1938, S. 288-296; K. Englië, Die Lehre v o n der Denkordnung, W i e n 1961; ders., Die N o r m ist k e i n Urteil, A R S P L, 1964, S. 305 - 316; H. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Hrsg. K. Ringhof er, R. Walter, W i e n 1979; vgl. auch: O. Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz u n d E t h i k . Eine

Ota Weinberger

188

M i t dem Non-Kognitivismus ist auch die Meinung verträglich, daß die materiale Begründung des Sollens rational strukturiert ist und daß eine Theorie der inhaltlichen Sollensbegründung erstellt werden kann. Eine wichtige Konsequenz des Non-Kognitivismus für die praktische A r g u m e n t a t i o n ist es, daß jede praktische Weise materiell

stellungnehmende

Begründung

Argumente

benötigt.

in

irgendeiner

Diese P r ä m i s -

sen der Argumentation können aus der Intuition, aus Konsens, aus vertraglicher Ubereinkunft und aus ähnlichen Quellen gewonnen werden. Es können die Folgen möglicher Handlungen oder Maßnahmen kognit i v bestimmt werden; durch Stellungnahme zur Handlung und zu ihren Folgen ist ein wertender Rückschluß auf die Erwünschtheit oder Unerwünschtheit der Handlung möglich. Für die non-kognitivistische Konzeption erscheinen tentative Begründungsverfahren sinnvoll, bei denen praktische Voraussetzungen hypothetisch gesetzt werden, deren Konsequenzen i n Zusammenhang m i t empirischen Erkenntnissen abgeleitet und gewertet werden. Die Ergebnisse verschiedener hypothetischer Voraussetzungen können i n relativer Wertung konfrontiert werden und bilden so eine Basis für rationale Entscheidungen zwischen verschieden hypothetisch bestehenden Möglichkeiten des Verhaltens oder von Handlungsprogrammen. I n der Argumentation, durch die Sollen oder Wertungen begründet werden, treten immer praktische Sätze als Argumente und Stellungnahmen auf, die i n rational bestimmten Beziehungen stehen. Meist werden neben stellungnehmenden Prämissen auch Erkenntnisse als Argumente auftreten. Diese Begründungen sind also rationale Argumentationen — doch immer relativ zu Klassen von Prämissen, die auch nicht-kognitive Elemente enthalten —, so daß es i m ganzen keine praktische Erkenntnis, d.h. keine rein kognitive Begründung praktischer Sätze, gibt. 4. Strukturtheorien des praktischen Denkens Denken ist Operieren, Verarbeitung von Informationen nach gewissen Regeln. Diese Regeln sind von der A r t , daß sie beim Folgern wahrheits- bzw. geltungskonservierend sind. Die Regeln können, müssen aber nicht, explizit bewußt sein. I n der logischen Theorie werden sie explizit dargestellt. Auseinandersetzung m i t Hans Kelsens Theorie der Normen, B e r l i n 1981; ders., Kelsens These v o n der Unableitbarkeit logischer Regeln auf Normen, i n : Die Reine Rechtslehre i n wissenschaftlicher Diskussion, W i e n 1982, S. 108 -121.

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

189

Es ist prinzipiell verfehlt — und zwar auch für den rein aussagenden Bereich —, Denken als eine A r t des Erkennens aufzufassen. Auch i m rein aussagenden Bereich ist das Denken formales Operieren und nur relativ objektiv; das heißt: objektive Geltung hat die Beziehung zwischen den Prämissen und der Schlußfolgerung, aber die Prämissen müssen nicht objektiv fundiert sein. Das Folgern i n der deskriptiven Sprache stellt sicher, daß die Schlußfolgerungen wahr sind, wenn alle Prämissen wahr sind. Diese Beziehung ist eine sprachlich-logische Beziehung und vollkommen unabhängig von der tatsächlichen Wahrheit oder Unwahrheit der Prämissen. Das Ergebnis der Denkoperationen i n der deskriptiven Sprache stellt nicht immer Erkenntnisse dar. Es gibt indikative Gedankenoperationen, deren Prämissen Annahmen, kontrafaktuale oder unwahre Sätze sind, ferner Überlegungen über mögliche Welten. Die Folgerungsrelationen gelten auch für diese Fälle, bei denen die Operationen nicht zu Tatsachenerkenntnissen führen, sondern nur zur Erkenntnis der zu den Prämissen relativen Wahrheitsbeziehung. Der Geltung von Folgerungsrelationen m i t normativen Gliedern steht keineswegs i m Weg, daß die normativen Prämissen durch Willensakte oder gesellschaftliche Institutionalisierung gesetzt sind, so daß die Prämissen nicht als objektiv i n der äußeren Wirklichkeit fundiert angesehen werden können. Es ist daher möglich — und für die Zwecke der praktischen Philosophie (im weiten Sinne des Wortes) erforderlich —, Strukturtheorien der rationalen Operationen des praktischen Denkens zu entwickeln. Die praktische Argumentation kann sich dann auf solche Systeme stützen. Die wichtigsten Systeme dieser A r t sind: die Normenlogik, die formale Teleologie, die formale Axiologie und Logiken der relativen Wertsätze (Präferenzlogiken). Es soll nicht verschwiegen werden, daß der Aufbau dieser Logiksysteme sowie die Erklärung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Systemen noch umstritten sind, doch sind sie prinzipiell als Grundlagensysteme der praktischen Argumentation anzusehen; die Probleme, die m i t ihrer Erstellung verbunden sind, signalisieren die Tatsache, daß diese wissenschaftlichen Disziplinen sich noch i n einem frühen Stadium ihrer Entwicklung befinden. 5. Die Funktion von Vorsätzen, Normen und Werten Ich vertrete eine formal-finalistische Handlungstheorie. Eine Handlung ist ein intentionales Verhalten. Ohne teleologische Begriffe kann der Handlungsbegriff nicht angemessen erklärt werden; die kausalistischen Erklärungen der Handlung sind Scheinerklärungen, weil sie den

190

Ota Weinberger

Begriff der Ursache so weit fassen, daß nicht nur beobachtbare bedingende Sachverhalte, sondern auch Motive, die Informationscharakter haben, als Ursachen gedeutet werden. Meine Auffassung der Handlung bezeichne ich als ,/ormaZ-finalistische Theorie' zur Unterscheidung von anderen finalistischen (intentionalistischen) Handlungstheorien, weil ich die teleologischen Beziehungen als formales System darstelle (formale Teleologie), auf dem die Handlungstheorie aufgebaut w i r d 1 1 ; die formale Teleologie selbst w i r d i n nicht-psychologistischer Weise begründet. Aufgrund dieser Konzeption können zwei methodologisch grundverschiedene Betrachtungsweisen der Handlung unterschieden werden: (a) die Handlungsdeliberation, welche eine Ziel-Mittel-Analyse (eine Entscheidungsanalyse) umfaßt, die zu einer Wahl bzw. zu einer Entscheidung über Handlungsprogramme führt; (b) die Motivinterpretation, welche aus der beobachteten Handlungsweise des Subjekts, aus der Situation und aus Informationen über das Kausal wissen des Handelnden die Motive der Handlung ( = die Zielbasis der Handlung) zu bestimmen sucht. I m Rahmen dieser Theorie ist es auch möglich, die Existenz und W i r kungsweise von Vorsatz, Lernen, Normen und Werten sowie von irrationalen Handlungsdeterminanten zu explizieren. Das menschliche Handeln erreicht große Komplexität. Es w i r d nicht nur als Entscheidung über Einzelakte konstituiert, sondern häufig als Überlegung über Handlungsprogramme von verschiedener Struktur und Komplexität 1 2 . Aus verschiedenen Gründen sind Fixierungen der Absicht und von Teilprogrammen notwendig, da sie die Effektivität des Handelns wesentlich erhöhen. Das Feld dessen, was durch unser Handeln überhaupt erreichbar ist, wächst dadurch außerordentlich an, daß fixierte Absichten den Charakter von Lernen und Training annehmen können. Außerdem sind Fixierungen von Teilprogrammen erforderlich, die es ermöglichen, die Deliberation zu verkürzen und zu vereinfachen. Die aus der Erfahrung bekannte Tatsache, daß die Handlung nicht nur als Ergebnis der Entscheidungs- und Wahloperationen aufgrund eines gegebenen Zwecksystems und der relativen Wertung des Handelnden bestimmt ist, sondern daß auch m i t dem Wirken von Normen und normativen Regulativen als Handlungsdeterminanten gerechnet werden muß, läßt sich i m Rahmen der formal-finalistischen Handlungs11 Vgl. hierzu u n d zum nachfolgenden: O. Weinberger , Rationales u n d irrationales Handeln, a.a.O. 12 Vgl. Ch. Weinberger / O. Weinberger, Teleonomie u n d formale Teleologie, i n : Logik, E t h i k u n d Sprache, FS für Rudolf Freundlich, Wien, München 1981, S. 252 - 265.

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

191

theorien erklären. Der Mensch steht i m praktischen Leben i n Beziehung zu anderen Menschen und verschiedenen Gruppen. Hierdurch w i r d ein Zusammenspiel des Verhaltens und der Lebensformen erforderlich. Normative Regulative, und zwar sowohl autonome Normen als auch äußere (heteronome) Normensysteme, beeinflussen das menschliche Handeln und konstituieren ein Zusammenspiel des menschlichen Verhaltens. Die autonome Norm ist als fixierte Absicht anzusehen: sie erhöht das Handlungspotential des Menschen und sie w i r d oft m i t Rücksicht auf den Mitmenschen bzw. die Gemeinschaft vom handelnden Subjekt festgesetzt (Normen der autonomen Moral). Heteronome Regulative sind Handlungsdeterminanten, die von einem äußeren System i n die Bestimmung der Handlung eingreifen. Es kommt also eine gewisse Interferenz zwischen dem System des Handelnden und einem äußeren System, das meist die Aufgabe der koordinierenden Lenkung hat, zustande. Heteronome Regulative haben ihre eigene rational-teleologische Struktur. I m Kontext der Handlungsbestimmung des heteronomen unterworfenen Subjekts haben sie die Rolle von Bedingungen des Handelns (das Subjekt kann ζ. B. heiraten, weil der normativ-institutionelle Rahmen der Ehe da ist) oder/und die Rolle fixierter Blöcke der Handlungsdetermination (z.B. der Bürger schickt seine Kinder zur Schule, weil das heteronome Rechtssystem Schulpflicht festgesetzt hat). Sie sind i n De-lege-lata-Perspektive zu betrachten. Bei Überlegungen über das System selbst können Fragen der inhaltlichen Gestaltung des Normensystems untersucht werden (Überlegungen vom Typus de lege ferenda). Auch irrationale Handlungsdeterminanten — ζ. B. pathologische fixe Ideen — können i m Rahmen dieser Theorie gedeutet werden. I m Bereich der normativen Handlungsdetermination ist eine rationale Hinterfragung der Berechtigung des Norminhalts prinzipiell möglich; irrationale Determinanten können solchen rationalen Analysen nur unter besonderen Bedingungen zugänglich gemacht werden. 6. Gerechtigkeitspostulate im Kontext des Entscheidens Die Gerechtigkeitstheorie findet ihre Anwendung beim handlungslenkenden Entscheiden und bei der Wertung von Handlungen oder bei der Beurteilung handelnder Personen. Die Wertung und die Entscheidung treten immer i m Kontext von Handlungsdeliberationen auf, die von einem die Strebungen und Wünsche des Subjekts darstellenden Zwecksystem gelenkt werden. Wenn w i r die Analysen, welche auf eine Opti-

192

Ota Weinberger

mierung des Handelns unter dem Gesichtspunkt des dem Subjekt eigenen Zwecksystems und seiner Wertpräferenzen gerichtet sind, als Utili tätsüberlegungen bezeichnen, dann kann man sagen: sowohl in individueller

Perspektive

der Gerechtigkeit

als auch in gesellschaftlicher immer

und mit der Auswirkung

im Zusammenspiel normativer

mit

Sicht

treten

Fragen

Utilitätsüberlegungen

Systeme auf. Das S u b j e k t , das ge-

recht sein w i l l , schaltet Gerechtigkeitsüberlegungen i n die handlungslenkenden Deliberation ein, die jedoch immer auch Utilitätsanalyse ist. Die Rücksicht auf Normen und Gerechtigkeitsprinzipien bedeutet eine a-limine-Einschränkung der möglichen Mittel auf die akzeptablen (moralisch bzw. rechtlich zulässigen) Mittel.

Man kann die Meinung vertreten, daß Postulate der Gerechtigkeit i n der Handlungsentscheidung Utilitätsüberlegungen prinzipiell vorgeordnet sein müssen. Meines Erachtens ist es jedoch fraglich, ob die Gerechtigkeitspostulate auf jeden Fall den Utilitätsüberlegungen absolut vorgeordnet sind. Inwieweit sie es sind, scheint m i r eine Frage des persönlichen Ethos zu sein. De facto — also soziologisch betrachtet — ist die absolute Priorität der moralischen oder rechtlichen Gerechtigkeitsprinzipien keine Tatsache. Der Umstand, daß die Erfüllung der Gerechtigkeitspostulate — insbesondere i m Bereich der Verteilungsgerechtigkeit — ein Ideal ist, dem man sich nur nähern kann, spricht dafür, daß relative Abwägungen zwischen Gerechtigkeits- und Utilitätsüberlegungen wenigstens an gewissen Stellen auch moralisch durchaus vertretbar sind, u m so mehr, als die Utilitätsanalysen durchaus nicht rein egoistisch sein müssen. Die formalen Minimalpostulate der Gerechtigkeit, formale Gleichheit des Wertens und Entscheidens sowie Wahrheit der zugrunde gelegten Tatsachenfeststellungen,

sind immer

als absolut

gültige

Voraussetzun-

gen anzusehen, die niemals i n abwägende Deliberation und Konkurrenz mit irgendwelchen Utilitätspostulaten treten können. 7. Gerechtigkeit in Ethik, Jurisprudenz und politischer Theorie Das Problem der Gerechtigkeit ist ebenso eine Frage der Moral wie des Rechts und der Politik. Einerseits ist das moralische Problem der Gerechtigkeit zum rechtlichen und politischen komplementär, andererseits betrachten die Ethik, die Jurisprudenz und die politische Theorie die Fragen der Gerechtigkeit i n unterschiedlicher Perspektive. Die Moral ist ein persönliches, autonomes, aber auf den Mitmenschen und die Gesellschaft gerichtetes und interpersonal koordiniertes System. I n der Sicht der Moraltheorie geht es daher u m die an den einzelnen

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

193

gerichtete Forderung, gerecht zu handeln, sein Leben gerecht einzurichten und seine Utilitätsüberlegungen den Gerechtigkeitspostulaten anzupassen. Das Recht ist ein gesellschaftliches Normensystem m i t Zwangsgeltung, das m i t einem Organisationssystem gekoppelt ist, welches unter anderem der Durchsetzung des rechtlichen Sollens dient. Das Recht konstituiert einen gesellschaftlichen Rahmen des individuellen sowie des kollektiven Handelns, der — inhaltlich gesehen — darauf gerichtet ist, die freie moralische Persönlichkeit des einzelnen zu schützen und das gesellschaftliche Zusammenleben zu regeln. Gerechtigkeit ist hier einerseits m i t dem Postulat der Gleichheit vor dem Recht, also der normgemäßen Realisation des Rechts befaßt, andererseits muß es inhaltlich die Möglichkeit des gerechten und freien moralischen Lebens gewährleisten. Darin liegt die Komplementarität von Recht und Moral. Die Maßstäbe der Moral sind strenger als jene des Rechts, wie oft betont wird. Das Recht schützt nur einen Ausschnitt des Moralischen, nur das, was gesellschaftlich besonders schwerwiegend ist. Wichtiger ist meines Erachtens die unterschiedliche A r t der Fragestellung und der Sichtweise. I n der moralischen Überlegung geht es vor allem u m die Frage „Wie soll ich handeln, u m nicht ungerecht zu sein?" Entscheidend ist hier der Wille, gerecht zu sein. Wertungen des Verhaltens anderer sind von untergeordneter Bedeutung und nur insoweit Gegenstand der moralischen Überlegung, als mein Handeln und meine Lebensform vom Zusammenleben m i t den Mitmenschen und deren Verhalten — sowie deren moralischer Verläßlichkeit — abhängt. Bei der rechtlichen Gerechtigkeitsanalyse geht es u m wertend objektivierende Betrachtungen zwischenmenschlicher Relationen, sozusagen u m den Schiedsspruch über Institutionen, Verhalten, Leistungen und Rollen. Die politische Theorie untersucht die Frage des interpersonalen Zusammenlebens, studiert die funktionellen Zusammenhänge verschiedener Faktoren des gesellschaftlichen Lebens und betrachtet die Lebensformen des einzelnen und der Gesellschaft als Problem der sozialen Optimierung. Die Frage der Gerechtigkeit ist hier auf die Bestimmung der gerechten Gesellschaftsform gerichtet. 8. Der Charakter der Gereditigkeitsargumentation vom Standpunkt des Non-Kognitivimus Gerechtigkeit hat i n allen drei Bereichen — i n der Moral, i m Recht und i n der Politik — etwas m i t Richtigkeit des Handelns zu tun, und zwar m i t Richtigkeit i m Hinblick auf die Position der Mitmenschen, der Partner und der Gemeinschaft. Es ist jedoch nicht alles, was die Rich13 MacCormick/Weinberger

Ota Weinberger

194

tigkeit (Optimalität) des Entscheiden und Handelns betrifft, als Gerechtigkeitsproblem anzusehen. Als gerecht gilt nur die zwischenmenschliche Richtigkeit, nicht die Optimalität vom Standpunkt der U t i l i t ä t s ü b e r l e g u n g . Es ist charakteristisch sellschaftswesen

und für die Kultur,

Gerechtigkeitspostulate

des Handelns

für

den Menschen

daß es neben Utilität

als

Ge-

des Handelns

gibt

Nun muß gefragt werden, wie für materiell richtiges Sollen argumentiert werden kann. Der Non-Kognitivismus lehnt sowohl die Existenz absoluter Werte als auch die Geltung apriorischer Gerechtigkeitsprinzipien ab und schließt jede A r t der praktischen Erkenntnis, durch die objektive Werte oder richtige Sollprinzipien rein kognitiv begründet werden könnten, aus. Praktische Erkenntnis ist deswegen unmöglich, weil sie entweder rein formal sein müßte, dann könnte sie aber laut Voraussetzung keine inhaltliche Sollensbestimmung darbieten, oder sie müßte inhaltlicher A r t sein, dann müßte sie empirisch sein, hätte also den Charakter von Tatsachenerkenntnissen, nicht den Sinn von Sollensprinzipien. Die Gerechtigkeitsgrundsätze müßten von Utilitätsüberlegungen begrifflich abgetrennt werden, denn sie sind zwar Elemente der Handlungsdeliberation, aber Momente, die i n anderen Begründungszusammenhängen stehen, als es die Abhängigkeit vom Zwecksystem der U t i l i tätsüberlegungen ist 1 8 . Da nach non-kognitivistischer Auffassung jede praktische Argumentation stellungnehmende Argumente braucht, muß die Frage geklärt werden, woher diese zu nehmen sind. Ich b i n der Meinung, daß dies durch i n t u i t i v gegebene Wertprämissen und durch unsere Fähigkeit, i n t u i t i v zu Gerechtigkeitsfragen Stellung zu nehmen, geleistet wird. Die Existenz als evident erlebter und intuitiv gewisser Wertungen sowie intuitiv gültiger Gerechtigkeitsurteile (sc. i m psychologischen Sinne) halte ich für eine gesicherte anthropologische Tatsache.

Durch unsere Intuition werden zwar Wert- und Gerechtigkeitsüberzeugungen i n die Gerechtigkeitsanalyse eingebracht, die als Argumente der praktischen Argumentation verwendet werden können, doch ist diese Intuition kein Weg, u m zur Erkenntnis absoluter Werte oder materialer Gerechtigkeitsgrundsätze (im naturrechtlichen Sinn) zu gel a n g e n . Die erlebte

Intuition

ist keine geeignete

Quelle

für eine

objek-

tive praktische Erkenntnis. Sie ist auch keineswegs eine absolute Konstante, obwohl sie erlebnismäßig oft m i t der Überzeugung der Notwendigkeit verbunden ist. 13

Wie diese exakt durchzuführen ist, k a n n ich nicht sagen.

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

195

Die Gerechtigkeitsintuition ist — wie die intuitive Gewißheit überhaupt — weitgehend abhängig von rationaler Analyse und gedanklichen Konstruktionen. Die i n t u i t i v bestehende Gerechtigkeitsüberzeugung kann einem Prozeß der Analyse und gegebenenfalls der Revision unterworfen werden, und zwar i n einer Weise, die Rawls m i t dem Terminus ,ÜberlegungsGleichgewicht' bezeichnet hat 1 4 . Die intuitiven Gerechtigkeitsvorstellungen werden auf ihre Konsistenz h i n geprüft, und die faktischen Konsequenzen der postulierten Verhaltensweisen werden ins Auge gefaßt und gewertet. Dies kann zur Modifikation der ursprünglichen Postulate führen oder zur Erstellung neuer ausgewogener Lösungen, die verschiedene Postulate relativ optimal erfüllen. I n historischer und soziologischer Perspektive erscheint die Gerechtigkeitsintuition durch geschichtliche, ideologische und soziale Momente bedingt. Sie ist bei verschiedenen Personen i n verschiedenen Gruppen inhaltlich verschieden. Keinesfalls — d. h. auch wenn meine Behauptung über die faktischen Divergenzen nicht ganz stimmen sollte und es gewisse aus anthropologischen Gründen unabdingbare Züge des Rechtsgefühls geben sollte — ist das intuitive Evidenzerlebnis kein Beleg für die absolute (von unserer Einstellung unabhängige) Geltung der entsprechenden Gerechtigkeitsprinzipien. Es gibt keine materialen Gerechtigkeitsprinzipien a priori, die bloß aufgedeckt werden müßten, sondern die philosophische Analyse führt nicht nur zur Klärung und zur rationalen Konstruktion unserer Gerechtigkeitsintuition, sie kann auch zur Revision oder Modifikation bisheriger Konzeptionen führen. 9. Rationale Methoden der materialen praktischen Argumentation Die von m i r vorgeschlagene Konzeption der Gerechtigkeit geht von der tatsächlichen Existenz intuitiver Gerechtigkeitsüberzeugungen aus, die nicht als apriorische bzw. anthropologische Konstanten angesehen werden, sondern die durch rationale Analysen und Begründungen gestützt werden. Diese Position impliziert die Bemühung, Methoden der praktischen Argumentation zu entwickeln. Die rein formalen Grundsätze der Gerechtigkeit liefern ex definitione keine inhaltliche Bestimmung der Gerechtigkeitsurteile. Sie bilden nur formale Rahmen für materiale Gerechtigkeitserwägungen. Für die Begründung von Gerechtigkeitsurteilen müssen explizite oder implizite inhaltliche Gerechtigkeitspostulate herangezogen werden, und für die Durchführung von Gerechtigkeitsanalysen sind immer Wertentscheidungen erforderlich. 14

Vgl. J. Rawls , a.a.O., S. 38 f., 68 ff.

Ota Weinberger

196 A u c h die inhaltlichen verböte,

Gleichheit

Gleichheitspostulate,

nach

die w i r i n

Gerechtigkeitsmaßstäben

Diskriminations-

u n d Postulate

des

sozialen Ausgleichs einteilen können, geben nur Gesichtspunkte und Relationen von gewissen rationalen Strukturen an, die für die Gerechtigkeitsüberlegung maßgebend sind, sie stellen aber keine Basis für eine rationale Bestimmung des Gerechtigkeitsurteils zur Verfügung, das h e i ß t : im

Rahmen

immer noch abhängig

dieser

Prinzipien

von wertenden

bleibt

das

Gerechtigkeitsurteil

Dezisionen.

Die Notwendigkeit relativ wertender Dezisionen i n der Gerechtigkeitsüberlegung geht auch aus der Tatsache hervor, daß nebeneinander mehrere Postulate gelten, die jedes für sich i n konkreten Fällen unterschiedliche und gegebenenfalls einander widersprechende Urteile begründen würden. Die Gerechtigkeitsüberlegung durch ein einziges Grundprinzip zu bestimmen, welches diese wertenden Abwägungen ersetzen würde, scheint m i r unmöglich. Es wurde zwar versucht, ein einziges Grundprinzip vorzuschlagen — ζ. B. christliche Nächstenliebe —, doch zeigt sich bei kritischer Prüfung, (1) daß die Gerechtigkeitsurteile aus diesem einzigen Grundprinzip ohne weitere Voraussetzungen und ohne Dezisionen nicht begründbar sind und (2) daß die Menge der verschiedenen Prinzipien, die das Urteil über Gerechtigkeitsfragen bestimmen, aus dem vorausgesetzten Grundprinzip allein — d. h. ohne weitere Prämissen — logisch nicht ableitbar sind. (a) Die Methode der „selbstverständlichen" Voraussetzungen Die Prämissen, welche als Argumente der Argumentation verwendet werden können, sind selbst i n verschiedenem Maße gewiß. Ein Weg, die materielle praktische Argumentation allgemein überzeugend zu machen, ist es, sozusagen selbstverständliche Voraussetzungen anzunehmen. Wenn w i r ζ. B. für das Postulat der Wahrhaftigkeit argumentieren wollen, können w i r davon ausgehen, daß der Mensch i n einer Kommunikationsgemeinschaft leben muß (eine kaum Zweifeln ausgesetzte „selbstverständliche" Prämisse), und aufgrund informationstheoretischer Erkenntnisse können w i r dann zeigen, daß dies nur dann möglich ist, wenn Wahrhaftigkeit vorherrscht 1 5 .

1δ Vgl. O. Weinberger, Wahrheit, Recht u n d Moral. Eine Analyse auf k o m munikationstheoretischer Grundlage, Rechtstheorie 1,1970, S. 129 - 146.

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

197

(b) Die Analyse der Ausgewogenheit des Rollenspiels Gerechtigkeit betrifft interpersonale Beziehungen oder Beziehungen zwischen Gruppen. Die Beziehungen zwischen Menschen, die i n gewisser Weise zusammenleben und zusammenarbeiten, mögen sie gemeinsame, komplementäre oder miteinander unverträgliche Ziele verfolgen 16 , sind sehr verschiedener A r t . Man kann diese Relation sehr allgemein als Rollenspiel charakterisieren. I n einer arbeitsteiligen und sozial differenzierten Gesellschaft gibt es eine Fülle verschiedener Rollentypen. Sie sind einerseits inhaltlich verschieden entsprechend der Funktion, die sie i n einem gewissen institutionellen Rahmen haben, andererseits unterscheiden sie sich nach ihrer Entstehungsweise: (a) sie sind institutionell vorgegeben, (b) sie werden durch explizite oder stillschweigende Konvention zwischen den Beteiligten konstituiert, oder (c) sie sind eine Mischform aus (a) und (b). Die Rollenverteilung kann partnerschaftlich (äqual), protektionistisch, durch Macht aufoktroyiert oder i n Relation zu einem Gemeinschaftssystem dienend konzipiert sein. Jede Rollenbeziehung besteht nicht nur i n einem faktisch koordinierten Handeln, sondern sie ist auch m i t einem System von Normen verbunden, sowie m i t Erwartungskonstellationen bei den Beteiligten. Die Bewertung der Aufgaben, Rechte und Erwartungen bietet ein breites Feld von Gerechtigkeitsüberlegungen. Einerseits geht es u m die Ausgewogenheit des Rollenspiels, andererseits u m die Erfüllung konsensual übernommener Rollenverpflichtungen. Es mag schwierig sein, allgemeine Kriterien der Ausgewogenheit der Rollen anzugeben, die Diskussion dieser Frage ist aber sicherlich ein entscheidendes Moment der sozialen Gerechtigkeitsanalysen. Probleme der Ausgewogenheit des Rollenspiels müssen i n verschiedenen Ebenen diskutiert werden, ebenso bei der Beurteilung einzelner konkreter Relationen wie bei allgemeinen Analysen der Gesellschaftsstruktur. Die Frage der Ausgewogenheit bezieht sich auf viele und sehr verschiedenartige Faktoren, vor allem wohl auf Leistungen und Gegenleistungen. Es geht meist nicht u m gleiche Leistungen i m strengen Sinne 18

Gemeinsame Ziele verfolgen z . B . Ehepartner i n der Kindererziehung oder i n der Sicherstellung der ökonomischen Grundlage des Haushalts. K o m plementäre Ziele verfolgen z . B . Lehrer u n d Schüler oder Spielpartner. Die Ziele der Menschen, die einander i n verschiedenen Rollen gegenübertreten, sind oft entgegengesetzt, dennoch k a n n das Rollenspiel v o n beiden Parteien angestrebt werden. Vgl. die Beziehung zwischen Käufer u n d Verkäufer: bezüglich des Preises sind ihre Ziele gegenläufig, an der Geschäftsbeziehung sind sie beide interessiert.

Ota Weinberger

198

(daß Partner einander die gleichen Leistungen erbringen, z.B. daß zwei Sportler einander gegenseitig massieren), sondern u m eine gewisse A r t von Gleichwertigkeit der Leistungen (wie z.B. beim K a u f - V e r kauf, wo Ware und Preis einander entsprechen sollen), oft auch nur u m gleiche Bereitschaft zur Leistung (Unterstützung und Hilfe zwischen Freunden). Die Beurteilung der Ausgewogenheit ist ein Werturteil, das weitgehend von den Lebensformen der Gesellschaft abhängt. Es können aber auch veränderte Werterwägungen auftreten. Gerade dort, wo sich die Lebensformen ändern, und dort, wo die Rollen durch Übereinkunft festgelegt werden, w i r d die sorgfältige Analyse der gerechten Ausgewogenheit des Rollenspiels wichtig. Ausgewogenheit bedeutet nicht immer Wertgleichheit — wie dies i n bezug auf rein ökonomische Leistungen der Fall ist —, sondern oft eine Wertung, die die spezifische gesellschaftliche Struktur des Rollenspiels zu berücksichtigen hat. Das Rollenspiel zwischen Eltern und Kindern muß der gesellschaftlichen Funktion nach, und nicht als Relation der Wertgleichheit der Leistungen als gut oder schlecht ausgewogen beurteilt werden. (c) Das Prinzip der Gegenseitigkeit i n partnerschaftlichen Beziehungen Der demokratischen Weltanschauung entspricht es, i m Gesellschaftsleben zu partnerschaftlichen Beziehungen zu tendieren. Hier gelten dann verschiedene Formen der Gegenseitigkeit, wodurch Maßstäbe für die Bestimmung von »gerecht* und ,ungerecht' konstituiert werden. Diese

Gegenseitigkeit

bedeutet

nicht

immer

nur

gleiches

Verhalten

(ζ. B. gegenseitige Informationsverpflichtungen), sondern oft eine unbestimmtere Form der Gegenseitigkeit (Gegenseitigkeit der Unterstützung von Ehepartnern). I n Beziehungen, i n denen Gegenseitigkeit relevant ist, hat dieses Prinzip nicht nur die Funktion des wichtigsten Kriteriums der Gerechtigkeit, sondern es ist auch ein ganz wichtiges Moment, das die partnerschaftliche Institution zusammenhält. (d) Konsens und Gerechtigkeit Der demokratischen Weltanschauung entspricht die Meinung, daß jene Beziehungen und Normen, die von den Beteiligten gutgeheißen werden, für sie als gerechter anzusehen sind als solche Beziehungen, die dem Willen der Beteiligten nicht entsprechen. Deswegen sind Untersuchungen über mögliche Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, u m konsensfähige Lösungen zu finden, Elemente der praktischen Argumentation, die nicht nur zweckmäßige Institutionen schafft, sondern auch solche, die unseren Gerechtigkeitsintuitionen besser entsprechen.

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

199

Eine besondere Rolle hat der Mensch als Organ einer Korporation oder als politischer oder Gemeinschaftsfunktionär. Es ist i n der Regel eine übernommene Rolle, die die Verpflichtung impliziert, als Organ t ä t i g z u sein, d. h . gemäß den Zwecken

der Korporation

oder

Gemein-

schaft zu handeln. Diese Rolle für seine eigenen Zwecke zu mißbrauchen, erscheint i m höchsten Maße verwerflich (vielleicht gerade deswegen, weil es de facto oft sehr gut möglich ist). Die angeführten Argumentationsmethoden sind natürlich nur als Beispiele anzusehen, nicht als eine systematische Theorie der praktischen Argumentation. Eine systematische und erschöpfende Anleitung des praktischen Argumentierens kann meines Erachtens gar nicht existieren; jedenfalls können diese Argumentationen nicht algorithmisiert werden. Von einer gewissen Bedeutung für die Auffindung von Gerechtigkeitsprinzipien kann auch die Forschung der Sozialpsychologie sein, die Tatsachen des Gerechtigkeitssinns aufzuzeigen sucht. Eine argumentative Gerechtigkeitstheorie, u m die es m i r i n meinen Überlegungen geht, kann die sozialpsychologischen Forschungsergebnisse eher heuristisch verwerten, denn als Kriterien anwenden. Folgende Bemerkung scheint m i r nicht unwichtig: W i r empfinden es als gerecht, daß der moralisch-korrekt Handelnde erfolgreich ist und i m Leben besser abschneidet als der Unmoralische 17 . Dies führt zu folgendem Problem: Rücksicht auf Moral und Gerechtigkeit bedeutet immer eine gewisse Einschränkung der möglichen M i t t e l und Methoden des Handelns auf die rechtlich und moralisch zulässigen. M i t einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist deswegen der gerechte Mann i m Nachteil gegenüber dem skrupellosen. Es muß daher ein Postulat der Gerechtigkeit sein, daß dieser Nachteil der Einschränkung der M i t t e l und Methoden infolge moralischer Rücksichten durch andere Vorteile für den Gerechten kompensiert werde. Dem Gerechten w i r d der Vorteil zuteil, daß er von der Gemeinschaft akzeptiert wird, und er kann i m Vertrauen auf Gegenseitigkeitsrelationen i n den zwischenmenschlichen Beziehungen leben. Die Organisation der Gesellschaft muß das korrekte und verdienstvolle Verhalten favorisieren.

17 Vgl. hierzu Kants Idee des höchsten Guts. F ü r Kant ist die Verbindung v o n M o r a l u n d Glückseligkeit ein Postulat des Glaubens u n d der Hoffnung. M i r scheint es angemessener, ein analoges Postulat des gerechten Handelns zu vertreten u n d es als Z i e l einer gerechten Gesellschaftsorganisation anzusehen: es ist zu wünschen, daß gerechtes u n d moralisches Handeln wenigstens m i t einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem vorteilhafteren Lebensweg führen möge als schlechtes Verhalten.

200

Ota Weinberger 10. Der dialektische Charakter der praktischen Argumentation

Das auf der logischen Deduktion aufgebaute Beweisen und Begründen hat i m wesentlichen folgende Form: (i) Es werden Argumente als Prämissen festgesetzt (als axiomatische Voraussetzungen oder als Sätze, die empirische Erkenntnisse ausdrükken), und (ii) aus diesen Prämissen w i r d die These logisch abgeleitet. Die These ist daher wegen der Wahrheit der Prämissen aufgrund der logischen Beziehung zwischen den Prämissen und der Konklusion als wahr (gegebenenfalls als wahrscheinlich, wenn es u m wahrscheinliche Argumente geht) bewiesen. I m Bereich des induktiven Begründens w i r d i m wesentlichen derselbe logische Apparat der Deduktion verwendet. Die Behauptung w i r d als Hypothese H gesetzt. Feststellungen über einzelne subsumierbare Fälle m i t beobachtbaren, der Hypothese H nicht entsprechenden Folgen ergeben die Schlußfolgerung - ι H, d. h. eine Widerlegung der vorausgesetzten Hypothese. Entscheidend für die induktive Begründung ist die empirische Bewährung der Hypothese, die eine über das logische Deduzieren hinausgehende methodologische Problematik darstellt. Die praktische Argumentation kann i n der Regel nicht als eine einzige Kette dargestellt werden, die m i t den vorausgesetzten Argumenten beginnt und durch logische Deduktion zur These gelangt. Wenn w i r Gedankengänge und Begründungsstrukturen, die nicht i n Form einer „Prämissen-Konklusion"-Kette dargestellt werden können, als ,dialektische Argumentationen 4 bezeichnen 18 , dann ist die praktische materiale Argumentation eine dialektische Argumentation. I n diesem Sinne von dialektischer Argumentation zu sprechen, hat mit den hegelianischen Konzeptionen der Dialektik nichts zu tun, sondern es handelt sich u m eine rational-analytische Konzeption, die den komplexen und mehrwegigen rationalen Überlegungen gerecht werden w i l l und anerkennt, daß i n gewissen Problemsituationen rationale Analysen m i t Entscheidungen gekoppelt sein können. Bei diesem Begriff der dialektischen Argumentation w i r d keine Existenz negativer Entitäten, keine Negation der Negation, keine dialektische Trias oder ähnliches, und keine »dialektische Logik 4 vorausgesetzt, was für die von Hegel inspirierte Dialektik charakteristisch ist. 18 Vgl. O. Weinberger, D i a l e k t i k u n d philosophische Analyse, in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. v o n E. Topitsch unter M i t a r b e i t v o n P. Payer , 10. Aufl., K ö l n , B e r l i n 1980, S. 278 - 309.

Analytisch-dialektische Gerechtigkeitstheorie

201

Eine ganze Reihe von Umständen führt dazu, daß die Gerechtigkeitsanalysen zwar rational strukturiert, aber dialektisch und m i t wertenden Stellungnahmen durchsetzt sind: (i) I n der handlungslenkenden Überlegung treten Gerechtigkeitspostulate immer neben Utilitätsüberlegungen auf: es geht also nicht nur u m gerecht oder ungerecht, sondern i n der Regel darum, gerechte und zweckgerechte Wege zu finden. (ii) Unsere Gerechtigkeitsintuition umfaßt eine unreduzierbare Pluralität von Gerechtigkeitspostulaten, die nur durch wertende Gegenüberstellung und aufgrund von Dezisionen eine Resultante ergeben. (iii) Die Folgenanalysen sowie die Erwägung möglicher Handlungsalternativen haben häufig den Charakter mehrwegiger und tentativer Ketten, deren Ergebnisse nach Utilität und Gerechtigkeitsmaßstäben gewertet werden. (iv) Da der moderne Mensch i n einer Menge von Rollenspielen lebt, w i r d die für i h n relevante Entscheidungssituation oft äußerst komplex sein und aus verschiedenen Ketten bestehen, so daß die Handlungsentscheidung nur durch wertende Gewichtung bestimmt werden kann (ζ. B. durch Vorreihung gewisser Rollen). (v) Zu unserer intuitiven Vorstellung einer gerechten Welt gehört es auch, daß w i r eine Welt suchen, i n der der gerechte und moralische Mann besser dasteht als der ungerechte. W i r können daher die moti vatorische Funktion der normativen Regelung i n den Gerechtigkeitsüberlegungen nicht außer acht lassen (anders Rawls). (vi) Die Gerechtigkeitspostulate selbst sind keine fixen Prämissen, sondern durch Überlegungen, die zu einem Überlegungsgleichgewicht führen sollen, hinterfragbar. Es kann die Frage gestellt werden, ob es möglich ist, auch diese komplexe mehrwegige und m i t Wertentscheidungen durchsetzte Gerechtigkeitsanalyse durch ein umfassendes Regelsystem zu bestimmen. Es lassen sich meines Erachtens zwar gewisse Regeln angeben, jedoch keine Regeln, welche die Gerechtigkeitsüberlegung algorithmisierbar machen würden. Die dialektische Konzeption der Gerechtigkeit führt zu einer solchen Auffassung, i n der der Mensch keine fixen und objektiv gesicherten Gerechtigkeitsurteile zur Verfügung hat, sondern immer nur auf der Suche nach Gerechtigkeit ist. Gerechtigkeitsurteile sind keine Tatsachenfeststellungen, die einfach Übereinstimmung von Handlungen, menschlichen Einstellungen oder Institutionen m i t gewissen Maßstäben konstatieren könnten. Gerechtigkeit ist keine Tatsache, sondern eine Aufgabe: eine Aufgabe für unsere Vernunft und für unser Herz.

D. N E I L M A C C O R M I C K

Institutionelle Moral und die Verfassung 1. Einleitung Es ist offenkundig, daß jede allgemeine Rechtstheorie eine angemessene Erklärung des Wesens der grundlegenden Teile der Rechtssysteme enthalten muß. Das heißt, sie muß das Wesen der Verfassungen und des Verfassungsrechtes erhellen und dabei eine befriedigende Darstellung jener rechtlichen Entscheidungsgründe geben, auf die man sich bei der Rechtfertigung von Entscheidungen i n verfassungsrechtlichen Fällen beruft. Es handelt sich also u m die wichtige Frage, ob positivistische Rechtstheorien eine befriedigende Deutung dieser Phänomene liefern können und auch tatsächlich liefern. Sie wurde unlängst von Ronald Dworkin aufgeworfen, der die Meinung vertritt, daß der Rechtspositivismus derartiges nicht zu leisten imstande ist. Ich werde i m vorliegenden Aufsatz diese Frage diskutieren, indem ich zunächst einige Erwägungen anstelle, welche Dworkins Auffassung attraktiv erscheinen lassen; sodann werde ich die Umrisse der Dworkinschen Theorie skizzieren; drittens werde ich theoretische und juristische Auffassungsweisen i n der britischen Rechtslehre und Rechtspraxis untersuchen, welche Dworkins Theorie stützen; viertens werde ich jedoch zeigen, daß es zentrale Elemente der positivistischen Analysen des Rechts gibt, die keineswegs i n der Weise untergraben werden, wie dies Dworkins Darlegungen nahelegen; und schließlich werde ich wenigstens i n groben Umrissen darlegen, was m i r ein angemessener weiterführender Weg zu sein scheint. 2. Positivismus und das Problem des Rechtsirrtums Dworkins Problem ist, wie ich erinnern darf, das folgende: i m Verfassungsrecht — wenn auch nicht nur dort — sind rechtliche Argumentationen nahezu immer so formuliert, daß sie Argumentationen über Grundprinzipien umfassen 1 . Man kommt m i t ausdrücklich gesatzten Regeln nicht aus, wenn es u m Streitfälle geht, die grundlegende Verfassungsrechte von Individuen und/oder Grundbefugnisse von Staats1

R. Dworkin , T a k i n g Rights Seriously, London 1977, Kap. 2 u n d 4.

Institutionelle Moral und die Verfassung

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Organen betreffen. Diese Grundsätze liegen i n gewisser Weise hinter der materiellen Verfassung, u m Kelsens nützliche Phrase 2 (wenn auch etwas aus dem Kontext gerissen) zu verwenden; sie können daher auch nicht einfach dadurch als rechtlich identifiziert werden, daß man sich auf eine Kelsensche Grundnorm oder eine Hartsche Erkennungsregel stützt, welche die Gültigkeit rechtlicher Regeln begründet. Auch w i r d es nicht hinreichen, einfach zu sagen, daß die Prinzipien des Verfassungsrechts lediglich sehr allgemeine Regeln sind, welche von Richtern beim Entscheiden von verfassungsrechtlichen Fällen angewendet werden. Denn dies würde unter anderem jene Schwierigkeit wieder hervorbringen, welche ich ,Paradox des Realismus' nennen möchte, jenes Paradoxon, das H. L. A. Hart i m Kapitel 7 seines Buches „Der Begriff des Rechts" 3 aus seiner Auffassung der realistischen Jurisprudenz herleitete. Es besteht darin, daß einerseits die Verfassung definiert ist als die Gesamtheit der Grundprinzipien, welche die Richter anwenden, während andererseits die Richter als jene Personen angesehen werden, die ein A m t innehaben, welches durch die Verfassung definiert ist 4 — es fragt sich also, was nun wodurch definiert wird. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß diese Auffassung jede Form von ,Irrtumstheorie' bezüglich der juristischen Interpretation von Prinzipien des Verfassungsrechtes ausschließt 5 . Wenn die Verfassung nur das ist, wovon die Richter sagen, es sei die Verfassung, dann kann es keinen richterlichen I r r t u m bezüglich der Verfassung geben. So konnten ζ. B. amerikanische Richter des neunzehnten Jahrhunderts, wenn sie urteilten, daß die Verfassung i n den Vereinigten Staaten frei geborenen Schwarzen kein Bürgerrecht zuspreche 6, rechtlich nicht falsch geurteilt haben. Und den britischen Richtern des zwanzigsten Jahrhunderts, die i m Hinblick auf Gesetze, welche rückwirkend britische Untertanen eines erworbenen Aufenthaltsrechtes i m Vereinigten Königreich beraubten, die Meinung vertraten, diese Gesetze könnten und müßten 2 H. Kelsen, General Theory of L a w and State, Cambridge/Mass. 1945, S. 124. 8 H. L. A . Hart, Der Begriff des Rechts, F r a n k f u r t 1973, S. 190 - 191. Bezüglich einiger Zweifel an Harts Einschätzung dieses Paradoxons vgl. D. N. MacCormick, H. L. A . Hart, London 1981, S. 122 - 123. 4 F ü r einige Vorschläge zur Lösung dieser Schwierigkeit D. N. MacCormick, H. L . A . Hart, op. cit., S. 108 - 120. 5 Natürlich k a n n es auch nach Harts Auffassung geschehen, daß einzelne Richter gelegentlich v o n ihrer durch die ,Erkennungsregel· gegebenen Pflicht abweichen. Daß i n einer Gruppe eine Regel besteht, bedeutet nicht, daß k e i n Gruppenmitglied diese jemals brechen könnte — ganz i m Gegenteil. Insoweit schließt der Hartsche Positivismus keineswegs die Möglichkeit aus, daß gelegentlich Fehlentscheidungen durch falsche A n w e n d u n g bestimmter Erkennungskriterien auftreten können. 6 Vgl. ζ. B. Dred Scott v. Sanford 60 U. S. (19 How.) 393 (1857).

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i m wörtlichen Sinn angewendet werden 7 , konnte auch kein Rechtsirrtum unterlaufen sein. Wer auch immer m i t solchen Entscheidungen nicht einverstanden ist, kann dieser Auffassung zufolge eine Änderung des Gesetzes verlangen, aber eine Argumentation, dergemäß richterliche Entscheidungen einen Rechtsirrtum beinhalten könnten, wäre logisch absurd. Gegen diese Auffassung führte D w o r k i n einen wirkungsvollen A n griff 8 , indem er ausführte, daß w i r alle manchmal die Meinung vertreten wollen, daß die Verfassung nicht w i r k l i c h beinhalte, was die Richter irrtümlicherweise als ihre Bedeutung ausgegeben haben, und daß solche Irrtümer über Prinzipien dadurch berichtigt werden sollten, daß das wahre Rechtsverständnis wiederhergestellt wird, nicht dadurch, daß neue Prinzipien statuiert werden. Handelte es sich bei der allgemeinen Enttäuschung, als das House of Lords i m Fall Knüller v. D. P. P. 9 die i m Fall Shaw v. D. P. P. 1 0 ausgedrückte Rechtsmeinung nicht revidierte, bloß u m eine Enttäuschung darüber, daß die Lords es verabsäumten, den verfassungswidrig vagen Verbrechenstatbestand der Verschwörung gegen die öffentliche Moral, durch Rechtsänderung zu beseitigen — einen Tatbestand, den sie eine Dekade vorher legislativ erzeugt hatten? Oder handelte es sich darum, daß sie die Gelegenheit versäumten, eine vernünftige Auffassung der Rechte des Bürgers gegenüber dem Strafgesetz wiederherzustellen? Ist es denn schlechthin unmöglich, daß dem westdeutschen Bundesverfassungsgerichtshof ein Rechtsirrtum, ein I r r t u m bezüglich rechtlicher Prinzipien, unterlief, als er i n den frühen Siebziger jähren die sogenannten „Radikalen-Erlässe" für verfassungsgemäß erklärte? Und waren juristische Stellungnahmen, welche diese Entscheidungen als i r r i g bezeichneten, von vorneherein inadäquat 11 ? 7

Azam v. Home Secretary [1974] A . C. 18. Z u r »Fehlertheorie 4 vgl. R. Dworkin , op. cit., S. 118 - 123. Während es m i r w i c h t i g erscheint, die Möglichkeit des richterlichen I r r t u m s anzuerkennen u n d zu verstehen, glaube ich persönlich nicht, daß dies ein Beweis dafür wäre, daß es i n schwierigen Fällen i m m e r eine einzige „richtige" Entscheidung gibt. Der Umstand, daß eine Entscheidung stets durch vernünftige u n d gültige Argumente unterstützt oder stützbar sein muß, besagt keineswegs, daß i n jedem F a l l n u r eine mögliche Entscheidung auf diese Weise begründet sein kann. Vgl. m e i n Buch über Hart, op. cit., S. 130, sowie D. N. MacCormick, Legal Reasoning and Practical Reason, i n : Midwest Studies i n Philosophy, V I I (1982), S. 271. 9 [1962] A . C . 223. I n diesem F a l l wurde entschieden, daß das englische Strafrecht einen Tatbestand der »Verschwörung zur K o r r u m p i e r u n g der öffentlichen Moral 4 kennt. 10 [1973] A . C. 435. O b w o h l die frühere Entscheidung heftig k r i t i s i e r t w o r den w a r , lehnte das House of Lords es ab, diese außer K r a f t zu setzen. 11 Diesbezügliche schriftliche Äußerungen u n d weitere Zitate finden sich i n R. Dreier, Recht - M o r a l - Ideologie, F r a n k f u r t 1981, S. 146 - 179; darin werden diskutiert: B V e r w G E 47, 330 (6. Feb. 1975), BVerfGE 39, 334 (22. M a i 1975), sowie N J W 1976, S. 1708. 8

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Gewiß beweist der Umstand, daß w i r durch solche Fragen i n Zweifel versetzt werden, nicht die Falschheit der Kelsenschen, Hartschen oder anderer positivistischer Rechtstheorien. Es mag sein, daß w i r unzufrieden oder unglücklich sind, wenn w i r bemerken, daß Argumente, die w i r gerne vorbringen würden, untragbar sind. Es ist jedoch die Aufgabe der Philosophie, populäre Irrtümer zu wiederlegen, und nicht, sie zu stützen. Der Positivismus fungiert i n dieser Hinsicht selbst als ,Irrtumstheorie 4 gegenüber dem Alltagsdiskurs, denn er deckt Irrtümer i n A l l tagsüberzeugungen und i n der Alltagsrhetorik auf. Herr Ken Livingstone, Leiter des Greater London Council, mag behaupten, daß das House of Lords i m Fall,Fares Fair' 1 2 das Recht falsch interpretiert habe, als es entschied, daß das Greater London Council, welches verpflichtet ist, i n London für ein „ökonomisches" System des öffentlichen Verkehrs zu sorgen, hierdurch rechtlich ermächtigt sei, durch Subventionierung aus lokalen Steuereinnahmen für billige Fahrpreise auf den Linien der London Transport zu sorgen. Aber aus positivistischer Sicht mißinterpretiert Herr Livingstone selbst zwar nicht den Text des Gesetzes, wohl aber den Begriff des Rechts, wenn er solche Behauptungen aufstellt. Das Recht ist heute nun einmal so wie es ist, und Argumente für seine Änderung sollten nicht als Argumente getarnt werden, daß das Recht in Wirklichkeit ohnedies schon immer so gewesen sei. Gleichwohl wäre es befriedigender, wenn w i r eine Theorie finden könnten, welche es ermöglichen würde, dem Paradox des Realismus auszuweichen und die Möglichkeit des richterlichen Irrtums wieder i n Betracht zu ziehen. 3. Theorie der institutionellen Moral Ich hoffe, daß diese einführenden Bemerkungen nahegelegt — wenngleich auch nicht bewiesen — haben, daß es dafürsteht, neuerlich das Wesen der Verfassung zu untersuchen, und sich zu bemühen, eine befriedigendere Verfassungstheorie zu entwickeln. D w o r k i n beansprucht, eine solche Theorie vorgelegt zu haben. Er behauptet, daß die Natur des Rechts genau durch jene A r t von Fällen enthüllt wird, bei denen w i r nach den hinter der Verfassung liegenden Prinzipien forschen müssen, u m die richtige A n t w o r t auf die Frage nach den Rechtsansprüchen des Bürgers geben zu können. Er vertritt die Auffassung, daß w i r einer Moraltheorie bedürfen, die uns sagt, wozu die Verfassung dient und wovon sie handelt, einer Moraltheorie, welche jene gesellschaftsbildenden Bedingungen darlegt, die i n der Verfassung dieses oder jenes Staa12 Vgl. Bromley London Borough Council v. Greater London Council [1982] 1; A l l E. R. 129.

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tes wirksam werden. Eine solche Moraltheorie i m Dworkinschen Sinn muß i m wesentlichen aus einer Theorie darüber erwachsen, w o r i n jene Rechte bestehen, welche i n ideal-moralischem Sinn allen Menschen sowohl i m Verkehr untereinander als auch m i t den sie regierenden Autoritäten zukommen. A u f diesem Niveau des rein und ideal Ethischen gehören jedoch die behaupteten Rechte nicht eo ipso zur Verfassung, denn es handelt sich bei ihnen u m das, was D w o r k i n „Hintergrundrechte" nennt. Damit diese i m eigentlich rechtlichen Bereich verankert und dadurch für die Lösung von Rechtsproblemen direkt relevant werden können, muß die ideale Moraltheorie transformiert werden i n eine Theorie darüber, was man ,institutionelle Moral· nennen könnte 1 3 . Die institutionelle Moral hat zwei Dimensionen: A u f der einen Seite soll sie so gut wie möglich m i t den tatsächlichen rechtlichen und politischen Einrichtungen der jeweils betrachteten Gesellschaft zusammenstimmen. Andererseits — soweit dies m i t dem genannten Erfordernis der ,Stimmigkeit' verträglich ist — sollte sie so gut wie möglich unserem Ideal von fundierender politischer Moral nahekommen. Sie umfaßt eine Menge von Prinzipien, welche so angelegt sind, daß sie den gegebenen politischen Institutionen einen möglichst guten moralischen Sinn verleihen. Institutionelle Moral ist somit relativierte Idealmoral — relativiert i n bezug auf eine bestimmte Menge politischer Institutionen 1 4 . Es ist vielleicht eine offene Frage, ob eine solche Theorie eventuell nur auf Länder m i t gesatzter Verfassung, wie z. B. die USA, zutrifft. Man könnte nämlich einwenden, daß sie auf das Vereinigte Königreich nicht anwendbar sei. Dieser Einwand ist aber nicht so treffend, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. W i r können jedenfalls diesen Ideen, obwohl D w o r k i n sich fast ausschließlich m i t Verfassungsfragen der Vereinigten Staaten befaßt hat, durch den Hinweis eine spezifisch britische Wendung geben, daß sich schwerlich ein besseres konkretes Beispiel einer m i t der von D w o r k i n verwandten theoretischen Untersuchung f i n d e n l ä ß t , als Diceys Constitution" 15.

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„Introduction

to the Study

of the Law

of the

Vgl. R. Dworkin , op. cit., S. 101 -105. Es ist gewiß nicht unangemessen, die Dworkinschen ,institutionellen Rechte* einer »institutionellen Moral* zuzurechnen, obgleich D w o r k i n selbst, S. 126, den Terminus »konstitutionelle Moral 4 vorzieht. 14 Vgl. a.a.O., S. 106 - 107. 15 Hrsg. E. C. S. Wade, 10. Aufl., London 1968.

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4. Institutionelle Moral und die britische Verfassungstheorie Ich möchte noch ein wenig bei dieser Bemerkung über Dicey verweilen. Denn es wäre zumindest interessant, wenn sich der klassische englische Text über die britische Verfassung als etwas herausteilen würde, das i n gewisser Weise schon vor D w o r k i n Dworkinianisch war. Und tatsächlich denke ich, daß dies der Fall ist. Erinnern w i r uns i n einem sehr kurzen Uberblick an die Struktur von Diceys Werk. Die ganze Darstellung der Verfassung stützt er auf zwei Prinzipien, nämlich das der Gesetzgebungshoheit des Parlaments und das der ,Rule of Law* [Doktrin der Herrschaft des Rechts], wobei das letztere überraschenderweise so dargestellt ist, daß es unter anderem folgendes impliziert 1 6 : „Die ,Rule of Law* kann schließlich als eine Formel verwendet werden, u m die Tatsache zum Ausdruck zu bringen, daß bei uns das Verfassungsrecht, also die Gesamtheit der Regeln, welche i n anderen Ländern einen natürlichen Teil der gesatzten Verfassung darstellen, nicht Quelle, sondern Konsequenz der individuellen Rechte ist, wie sie von den Gerichten definiert und durchgesetzt werden, kurz: daß die Prinzipien des Privatrechts bei uns durch die Verfahren der Gerichte und des Parlaments so umfassend wirksam sind, daß sie die Position der Krone und ihrer Diener bestimmen; somit ist die Verfassung das Ergebnis aus den allgemein gültigen Rechtsnormen des Landes." A n die so verstandene Doktrin der Herrschaft des Rechts knüpfte Dicey die Diskussion der Rechte auf persönliche Freiheit sowie auf Vereins« und Versammlungsfreiheit 1 7 . Diceys Konzeption der ,Rule of Law* hat gewiß etwas von der ,These vom Bestehen der Rechte* (,rights thesis*) an sich. Ohne Zweifel fallen Diceys Thesen über die ,Rule of Law* genau unter den Dworkinschen Begriff der institutionellen Moral. Mehr noch, selbst i n ihrem Inhalt bestehen Parallelen zwischen seiner und Dworkins These vom Bestehen der Rechte (»rights thesis*); und das ist noch nicht alles. Dicey verstand die Souveränität des Parlaments als eine rein rechtliche Doktrin, und unterschied sie daher von der Grundlage, auf der sie beruht, nämlich der politischen Oberhoheit der Wählerschaft. Aber dann könnte schon die Notwendigkeit der strengen Formalität der Erzeugung der vom Parlament erlassenen Gesetze als einzig zulässiger Form der Ausübung der Gesetzgebungshoheit dargestellt werden als faktische Einschränkung des reinen Majoritätsprinzips der politischen Souveränität. Gleichwohl vermochte Dicey mittels subtiler Rhetorik le 17

A.a.O., S. 203. A.a.O., S. 206 - 283.

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zumindest sich selbst davon zu überzeugen, daß die beiden Grundprinzipien der Verfassung eher zueinander komplementär sind, als daß sie miteinander i n K o n f l i k t stünden 1 8 . „ A u f jedem Weg gelangen w i r zum selben Ergebnis, nämlich, daß die Parlamentshoheit seit jeher der ,Rule of Law* Vorrang einräumte, und daß die allgemein gültigen Rechtsnormen des Landes sowohl die Ausübung der Parlamentshoheit hervorrufen, als auch dazu führen, daß diese i m Geiste der Legalität ausgeübt wird." Ich darf die Parallele zwischen zwei sehr verschiedenen Denkern nicht überbetonen. Es erscheint m i r jedoch faszinierend, daß, ebenso wie D w o r k i n die auf dem Begriff der ,Freiheit als Unabhängigkeit 4 (,liberty as independence 4 ) 19 beruhende ,These vom Bestehen der Rechte4 aufstellt, u m sie als Bollwerk gegen das Regieren bloß nach dem Majoritätsprinzip einzusetzen, auch für Dicey die i m Common Law wurzelnde ,Rule of Law 4 oder der ,Idee der Legalität 4 (,spirit of legality 4 ) als Kontrollinstrument gegen eine bloße Mehrheitsherrschaft der Wähler funktionierte. Dies war genau deshalb der Fall, weil Mehrheitsentscheidungen durch das Common Law-Prinzip der Parlamentshoheit gefiltert wurden, und umgekehrt die Ergebnisse der parlamentarischen Gesetzgebungstätigkeit ihrerseits durch die an die Common-Law-Begriffe der individuellen Rechte und der ,Rule of Law 4 gebundenen Urteile der Richter gefiltert wurden. Und obgleich Dicey i n hinreichendem Ausmaß Austinianer war, u m glattwegs jede Vermengung von Rechtlichem und lediglich Moralischem abzulehnen, läßt sich schwerlich leugnen, daß seine Theorie der ,Rule of Law 4 i n einer tiefen Bindung an eine bestimmte Hintergrundmoral wurzelte. Dies geht zum Beispiel deutlich aus folgender Stelle i n der Einleitung zur zweiten Auflage seines Buches „Law and Opinion 4 4 2 0 hervor, i n welcher er das Erziehungsgesetz über die Versorgung m i t Mahlzeiten [Education (Provision of Meals) Act 1906] kritisiert: „Niemand kann leugnen, daß ein hungernder Knabe schwerlich vom Versuch profitieren wird, i h n die Regeln der A r i t h m e t i k zu lehren. Daraus folgt jedoch nicht notwendig, daß deswegen die Ortsbehörde jedes hungrige K i n d i n der Schule m i t einer Mahlzeit versorgen muß; und noch viel weniger scheint es moralisch richtig, daß ein Vater, der zuerst sein K i n d hungern läßt und dann den rechtens von i h m geforderten Preis für die Mahlzeit nicht bezahlt, welche auf Kosten des Steuerzahlers seinem K i n d verabreicht wurde, nach dem Gesetz von 18

A.a.O., S. 414. R. Dworkin , op. cit., Kap. 11, insb. S. 263. 20 Α . V. Dicey , Lectures on the Relation between L a w and Public Opinion i n England during the Nineteenth Century, 2. Aufl., 1914, S. 1. 19

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1906 sein Wahlrecht für die Parlamentswahlen behalten sollte. W a r u m ein Mann, der zuerst seine Pflicht als Vater vernachlässigt u n d dann den Staat betrügt, seine vollen politischen Rechte behalten sollte, das ist eine Frage, die leichter zu stellen als zu beantworten ist." Ob der Hintergrundmoral, die hier zum Tragen kommt, auch D w o r k i n zustimmen würde, das ist eine Frage, die sich zu leicht beantworten läßt, als daß es sich lohnte, sie überhaupt zu stellen. A b e r daraus ergibt sich k e i n vernünftiger E i n w a n d dagegen, Diceys W e r k als relevantes Beispiel zur Illustration von D w o r k i n s Sichtweise heranzuziehen. Denn D w o r k i n beansprucht j a nicht, daß Fragen der Moral leicht zu lösen oder gar u n s t r i t t i g wären. E r behauptet bloß, daß das Rechtssystem über den Bereich der v o n der Rechtspraxis bestimmten Regeln i n den Bereich der institutionellen M o r a l hineinreicht, die am besten den Sinn u n d Zweck der bestehenden politischen Institutionen abbildet. So betrachtet könnte es tatsächlich der F a l l sein, daß sich Diceys Sicht der ,Rule of L a w ' seinerzeit nicht bloß als eine bestimmte Theorie der institutionellen Moral der britischen Verfassung u m die Jahrhundertwende eignete, sondern daß sie sogar eine Annäherung an die bestmögliche, sozusagen an eine ,Herkules-Theorie* war. Vielleicht w a r Diceys Theorie selbst f ü r jene Zeit allzu i n d i v i d u a l i stisch-utilitaristisch, u m ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Vielleicht beachtete er — w i e Sir Ivor Jennings 21 sagte — „nicht hinreichend die Machtfunktionen der Behörden. E r schien der Auffassung zu sein, daß die britische Verfassung fast ausschließlich m i t den individuellen Rechtten der Bürger befaßt sei". Somit nahm er einen selbst für seine Zeit zu einseitigen Standpunkt gegenüber seinem Gegenstand ein, insbesondere insoferne er es verabsäumte, die Ähnlichkeiten u n d U n t e r schiede zwischen »administrative law* u n d ,droit administratif* zu erfassen. Gewiß, die Theorie Diceys wurde v o n Jennings so gründlich kritisiert, daß sie i n einigen der führenden modernen Lehrbücher des Verfassungsrechts 22 zu den entlarvten I r r t ü m e r n gezählt w i r d . Ob es allerdings den modernen Büchern gelungen ist, eine bessere oder v e r nünftigere Theorie an die Stelle der widerlegten Lehre v o n der institutionellen Moral, w i e sie v o n Dicey vertreten wurde, zu setzen, ist wiederum eine Frage, die leichter zu stellen, als zu beantworten ist. Ob das Projekt, die Verfassung m i t Hilfe einer kohärenten D o k t r i n der institutionellen M o r a l zu interpretieren, vernünftigerweise fallen zu lassen ist oder nicht, ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. 21

W. Ivor Jennings , The L a w and the Constitution, London 1933, S. 45. Vgl. insb. S. A . de Smith , Constitutional and Administrative Law, 4. Aufl., hrsg. v o n Η. Street u n d R. Brazier, Harmondsworth 1981, S. 30. 22

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U m i n dieser Frage voranzukommen, werde ich mich n u n von der Vergangenheit der Gegenwart, und von dem Recht i n den Rechtstexten dem Recht i n der sozialen Realität zuwenden. Belegen die verfassungsrechtlichen Fälle oder die Lehrbücher des Verfassungsrechts die Notwendigkeit von institutionellen Theorien? Handelt es sich dabei u m einen Bedarf, der spezifisch ist für Länder wie die Vereinigten Staaten oder die Bundesrepublik Deutschland, welche i n ihrer Verfassung ausdrücklich Begriffe der Grundrechte u n d des rechtsstaatlichen Verfahrens oder der Rechtsstaatlichkeit 23 beinhalten? Oder ist er allgemein u n d t r i f f t auch für das Vereinigte Königreich zu? Was mich betrifft, so b i n ich sicher, daß das letztere zutrifft, u n d ich möchte dies am Beispiel des Falles Gouriet v. Union of Post Office Workers 24 illustrieren. Wie erinnerlich, vertraten Lord Denning u n d Lawton L. J. i m Fall Gouriet vor dem Appellationsgericht die Auffassung, daß es i m Ermessen des Gerichtshofes stehe, auf Verlangen einer Privatperson h i n eine Verfügung [ injunction ] gegen die Verletzung öffentlicher Rechte zu erlassen, auch dann, w e n n der Kronanwalt seine Zustimmung dazu verweigert, i n seinem Namen eine entsprechende i m öffentlichen Interesse liegende privatrechtliche Klage [ relator action] zu erheben, soferne die Zustimmungsverweigerung durch den K r o n anwalt unbegründet erscheint. Lord Denning betrachtete es als grundlegende Frage, welche die Pflicht des Gerichts betrifft, die ,Rule of Law* zur Geltung zu bringen: „Wie hoch auch immer D u stehen magst, das Recht steht über D i r " 2 5 , hielt er dem Kronanwalt entgegen. Aber das House of Lords vertrat nicht weniger emphatisch die gegenteilige A u f fassung; Lord Wilberforce führte aus 2 6 : „Das Recht des Kronanwalts, vor dem Zivilgericht Maßnahmen zur Prävention von Rechtsverletzungen zu suchen, ist ein Teil oder Aspekt seiner generellen Machtbefugnis, i m öffentlichen Interesse öffentliche Rechte durchzusetzen. Die Unterscheidung zwischen öffentlichen Rechten, welche der Kronanwalt, nicht aber die Privatperson (soferne keine speziellen Interessen vorliegen), durchzusetzen suchen kann, u n d privaten Rechten, ist i n unserem Recht grundlegend. Diese Unterscheidung zu zerstören, wie dies die Rechtsbeistände von H e r r n Gouriet unumwunden von uns fordern, bedeutet nicht eine Entwick28 Vgl. Grundgesetz, A r t . 28, wonach die Länderverfassungen den grundlegenden Prinzipien des republikanisch-demokratischen u n d sozialen Rechtsstaates i m Sinne des Grundgesetzes entsprechen müssen, sowie die A r t i k e l 1 - 1 9 über die Grundrechte. 24 [1978] A . C. 435 (H. L.); [1977] Q. B. 729 (C. Α.). 25 [1977] Q. B. 729, 762. 26 [1978] A . C. 435, 482.

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lung des Rechts, sondern die Vernichtung einer seiner tragenden Säulen." Die A r t u n d Weise, wie sich hier die Richter befugt ansahen, k o n k u r rierende Auffassungen von Verfassungsprinzipien herauszuarbeiten, legt den Gedanken nahe, daß auch i m Vereinigten Königreich — nicht weniger als i n den Vereinigten Staaten oder i n der Bundesrepublik Deutschland — der Bedarf besteht, i n schwierigen Fällen auf das Niveau der Verfassungstheorie vorzudringen, u m Fragen über das Verhältnis von privaten Rechten u n d öffentlicher Machtbefugnis zu lösen. Dasselbe gilt i m umgekehrten Sinn auch für die kürzlich ergangene schottische Entscheidung 27 , wonach i m schottischen Recht einer Privatperson ein Rechtsanspruch auf private Verfolgung verbleibt, selbst für den Fall, daß der Generalstaatsanwalt, der i m Normalfall allein bei Strafrechtsfällen die Rechte der Öffentlichkeit geltend macht, entweder es ablehnt, eine Strafverfolgung einzuleiten, oder sich selbst außerstandegesetzt hat, eine Strafverfolgung fortzusetzen; i n einem solchen F a l l muß freilich der Privatkläger — so wie i n diesem Fall, bei dem das Opfer einer Vergewaltigung den Vergewaltiger klagte — nachweisen, daß das behauptete Verbrechen eine direkte Störung ihrer oder seiner rechtmäßigen Interessen bedeutet, u m eine Ladung zur Einleitung eines Strafverfahrens e r w i r k e n zu können. Solche Fälle, insbesondere der Fall Gouriet 28, erinnern uns an das Gewicht eines auch gegen D w o r k i n gültigen Argumentes, welches Jennings gegen Dicey vorgetragen hat: eine Verfassungstheorie, welche sich ausschließlich auf Rechte konzentriert, aber jene Prinzipien und Regeln, durch welche die Machtbefugnisse geregelt sind, ignoriert, ist parteiisch und einseitig. Dieses Argument, scheint m i r , k a n n man auch gegen Dworkins spezifische Konzeption der institutionellen Moral benützen. Rechte sind gewiß nicht alles, was zu einer vernünftigen Verfassungstheorie oder institutionellen Moral gehört. Auch halte ich es nicht für befriedigend, zu behaupten — wie dies D w o r k i n erst jüngst tat —, daß eine Rechte negierende Argumentation ebenso seine These v o m Bestehen der Rechte erfüllt w i e eine Rechte behauptende Argumentation 2 9 . Es folgt daraus auch nicht, daß jede Argumentation, welche die richtige Interpretation des Ausmaßes der Kompetenz etwa des Kronanwalts oder des Generalstaatsanwalts betrifft, eine Argumen27 Vgl. X v. Sweeney , 1982 S. S. C. R. 161. Z u diesem Fall gehört eine ausgedehnte Diskussion über die Rechte v o n Verbrechensopfern, ohne die Z u stimmung des Generalstaatsanwalts eine Strafverfolgung zu betreiben, u n d ebenso über die Rechte des Beklagten, nicht schikanös behandelt zu werden. 28 [1978] A . C. 435; zustimmend [1977] Q. B. 729. 29 R. Dworkin , op. cit., S. 295 - 297.

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tation nach politischen Kriterien sei (Dworkin spricht — i n seiner eigentümlichen Verwendungsweise des Terminus — von „policy") 3 0 . Es existieren i n der Tat Prinzipien des öffentlichen Rechts, welche öffentliche Machtbefugnisse betreffen, und die Kategorie der ,Prinzipien' sollte somit wesentlich weiter gefaßt werden, als dies Dworkin tut. Es ist eine wichtige Aufgabe der Öffentlichrechtler und Rechtstheoretiker, Prinzipien der vernünftigen Vorgangsweise bei der Verfolgung der Ziele der staatlichen Politik zu erstellen 31 . „Policy" („politische K r i t e rien") den Prinzipien definitorisch gegenüberzustellen, ist ein ernster I r r t u m und stellt einen unverkennbaren Mangel der Dworkinschen Theorie dar. Man beachte übrigens, daß die Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Rechten, wie sie i m Fall Gouriet verwendet wurde, zwar tatsächlich sehr wichtig, aber für D w o r k i n keine Hilfe ist, weil nach seiner ausdrücklichen Auffassung öffentliche Rechte nicht als Rechte i n seinem Sinne gelten, insbesondere nicht soweit es u m seine These vom Bestehen der Rechte geht 3 2 . Gleichwohl bedeutet all dies eher ein Bekritteln von Randbereichen der Dworkinschen Theorie als eine Frontalattacke. Denn man kann einige Elemente seiner idiosynkratischen Definitionen von »Prinzipien 4 , »Rechten* und »Moral*, wie sie i n seine — von i h m als für jede Rechtsordnung entscheidend angesehenen — Forderungen bezüglich der institutionellen Moral eingebaut sind, zurückweisen, ohne dadurch die wichtige und, wie sich zeigte, sehr plausible Behauptung zurückzuweisen oder gar zu widerlegen, daß die institutionelle Moral offensichtlich für alle Erörterungen schwieriger Probleme des Verfassungsrechts unerläßlich ist. Wo es Verfassungsrecht gibt, muß es auch eine Verfassungstheorie geben; und Verfassungstheorie wurzelt notwendig i n der Vision vom Verfassungsstaat, der eine moralische Ordnung darstellt oder zu sein trachtet. Die Dworkinsche Theorie ist somit, grob betrachtet, höchst plausibel und enthält einige profunde Konsequenzen für das öffentliche Recht i n Lehre und Forschung. Sie sollte so etwas wie Diceys Konzeption der Verfassung Wiederaufleben lassen, auch wenn es uns offenbar notwendig erscheint, viele Details von Diceys Auffassungen fallenzulassen. (Abgesehen von allen anderen Problemen schlittert Diceys Werk zu oft i n die Beschreibung der Verfassung eines imaginären, »England* genannten, Staates, anstatt sich nüchtern an die reale rechtliche Entität 80 Z u r Definition v o n 'policy* vgl. a.a.O., S. 8 2 - 8 3 ; dazu kritische Einwände i n D. N. MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, Oxford 1978, S. 259 - 264. 81 Vgl. D. N. MacCormick, O n Reasonableness, i n : Ch. Perelman (Hrsg.), Notions de Contenu Variable, Brüssel 1983. 82 R. Dworkin, op. cit., S. 353 - 355.

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des »Vereinigten Königreichs* zu halten. Die Korrektur dieses Irrtums hat wichtige Konsequenzen. Denn das Vereinigte Königreich erlangte — wie offenkundig und bekannt — durch ein spezifisches und datierbares Gesetz Existenz, welches i n einer offenbar konstituierenden U r kunde enthalten ist, nämlich i n den Unionsartikeln von 1706; diese wurden unter bestimmten Umständen dadurch i n Wirkung gesetzt, daß sie die Gesetzgebung der aufgehobenen englischen und schottischen Parlamente ermöglichten 83 . Manche von uns bedauern die Aufhebung dieser Parlamente: aber w i r sollten deshalb nicht so tun, als wäre dies nie geschehen, und daher ist die Frage, warum so viel britische Verfassungsliteratur von der verwirrten und falschen Auffassung ausgeht, daß das Vereinigte Königreich nie eine geschriebene Verfassung gehabt hätte, eine Frage, die — u m diese hübsche Redensart wieder ins Spiel zu bringen — leichter gestellt, als beantwortet ist. Aber hier weiche ich — vielleicht sogar bis zur Irrelevanz für unsere Erwägungen — vom Thema ab.) Rekapitulieren w i r das bisher Gesagte. Erstens: Dworkins Position erweist sich vorerst insoferne als attraktiv, als sie die Möglichkeit des richterlichen Verfassungsirrtums zuläßt. Zweitens: Dworkins Position läßt dies zu, weil sie eine Theorie der Verfassung als Teilstück der institutionellen Moral präsentiert. Drittens: Die britische Verfassungsliteratur wie die von Dicey sowie Fälle wie der von Gouriet beweisen und exemplifizieren die Relevanz der ersten beiden Punkte auch für britische Verhältnisse. M i t Besorgnis müssen w i r somit feststellen, daß uns der sichere Boden des Vorurteils unter den Füßen wegzugleiten droht 3 4 . 5. Positivistische Voraussetzungen der institutionellen Moral I n dieser mißlichen Lage stellt sich jenen von uns, welche — wenn auch nur i n eingeschränktem Maße — dem Rechtspositivismus anhängen, ein Problem. Denn wenn sich so viel zugunsten der Dworkinschen Argumentation anführen läßt, dann muß es doch scheinen, daß der Positivismus tatsächlich nicht imstande ist, das Wesen einer Verfassung zu erhellen, und er somit als Rechtstheorie ungeeignet ist. 83 Vgl. D. N. MacCormick, Does the United K i n g d o m have a Constitution? Reflections of MacCormick v. Lord Advocate (1978) 29 Ν . I . L. Q. 1; ebenso P. H. Scott , 1707: The U n i o n of England and Scotland, Edinburgh 1979; sowie Dicey, Introduction, op. cit., S. 69, bezüglich der Anerkennung, daß beide ehemaligen Parlamente durch die U n i o n aufgelöst wurden. 84 Diese Phrase entnehme ich J. L . Austin, Philosophical Papers, hrsg. v o n J. O. Urmson u n d G. J. Warnock, Oxford 1961, S. 228: „Soweit sind w i r forsch vorangeschritten, i m Gefühl, daß uns der sichere Boden des Vorurteils unter den Füßen weggleitet, was zwar i m m e r recht erheiternd ist, aber was dann?"

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Ist dem w i r k l i c h so? Eine bis jetzt v o n uns unbeachtet gelassene Frage ist hier v o n entscheidender Bedeutung. Wenn w i r sie m i t mehr rhetorischer K r a f t als grammatischer Eleganz stellen, so lautet sie: Wovon ist denn die institutionelle M o r a l eine Moral? Die Frage scheint sich selbst zu beantworten: die institutionelle M o r a l ist die Moral der politisch-rechtlichen Institutionen der betreffenden staatlich organisierten Gesellschaft; das heißt, sie ist die Menge aller moralischen Grundsätze u n d Prinzipien, welche am besten den aktuell bestehenden Institutionen entsprechen u n d zugleich möglichst wenig der idealen Hintergrundmoral darüber widerstreiten, w i e das Leben v o n I n d i v i duen i n einer organisierten Gesellschaft gestaltet sein soll. Ich möchte betonen, daß dies nicht bloß meine A n t w o r t ist: es ist vielmehr meine Reformulierung v o n Dworkins A n t w o r t 3 5 . Als seine A n t w o r t legt sie aber die schwache Stelle seiner allgemeinen Rechtstheorie frei. Denn diese A n t w o r t f ü h r t allein aus logischen Gründen zu einer offenkundigen u n d unvermeidlichen Konsequenz: Wenn w i r uns auf bestimmte Institutionen beziehen müssen, u m aus der Hintergrundmoral eine, Menge v o n Prinzipien herausfiltern zu können, welche auf diese Institutionen i n dem Sinne »passen*, daß sie diese möglichst gut rechtfertigen, dann folgt aus all dem, daß ein Verfahren zur Identifizierung der Institutionen existieren muß, welches v o n der Hintergrundmoral u n d a fortiori auch v o n der institutionellen M o r a l unabhängig ist. Diesen P u n k t möchte ich zuerst durch eine Analogie u n d dann durch direkte Erörterung klarstellen: (i) Setzen w i r voraus, daß w i r k e i n angemessenes Verständnis der impressionistischen Malerei gewinnen können, ohne jene ästhetische Theorie zu verstehen, welche den künstlerischen A k t i v i t ä t e n v o n Monet u n d seinen Kollegen Sinn verlieh; aber da es sich u m die Theorie dieser Gemälde handelt, muß ich über ein Verfahren verfügen, welches m i r unabhängig v o n meinem Verständnis jener ästhetischen Theorie erlaubt festzustellen, was diese impressionistischen B i l d e r sind, (ii) Setzen w i r voraus, daß der F a l l Gouriet 36 i n entscheidender Hinsicht m i t einer D o k t r i n oder einer Menge v o n P r i n zipien zu t u n hat, welche die Ermächtigung des Kronanwalts betreffen, öffentliche Rechte durchzusetzen oder deren Durchsetzung zu überwachen; aber dies setzt voraus, daß w i r wissen, was ein K r o n a n w a l t ist u n d welche Funktionen er innehat, unabhängig v o n unserem Verständnis der Prinzipien, welche die Ausübung dieser Funktionen regulieren. W i r können das A m t des Kronanwalts nicht aus einer Hintergrund35 Vgl. R. Dworkin , op. cit., Kap. 4; ich weise nochmals darauf hin, daß D w o r k i n v o n »institutionellen Rechten', aber »konstitutioneller Moral 4 spricht; ich meine, daß er den weiteren Begriff der »institutionellen Moral 4 benötigt, u m alles zu umfassen, w o v o n er spricht u n d sprechen muß. 36 [1978] A . C. 435.

Institutionelle Moral und die Verfassung

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moral ableiten, sei diese auch noch so umfassend u n d detailliert; es muß ein solches A m t bereits existieren, ehe die Hintergrundmoral zur Geltung kommen k a n n u n d eine institutionelle Theorie der Machtbefugnisse des Amtsträgers — sowie ihrer Grenzen — entstehen kann. Dies ist n u n nicht bloß eine ziemlich selbstverständliche Feststellung. Sie w i r d von D w o r k i n selbst getroffen, w e n n auch n u r nebenbei u n d ohne detailliertere Diskussion i h r e r Implikationen. Es obliegt m i r also, die ipsissima verba aus „Taking Rights Seriously "37

zu z i t i e r e n :

„Institutionelle Rechte können i n Institutionen v o n sehr verschiedenem Charakter angetroffen werden. . . . I m Falle des Schachspieles sind die institutionellen Rechte durch konstitutive und regulative Regeln festgelegt, welche spezifisch zum Spiel oder einem bestimmten Turnier gehören. Schach ist i n diesem Sinne eine autonome Institution. . . . Aber Gesetzgebung ist i n diesem Sinn n u r teilweise autonom. Es gibt spezielle konstitutive und regulative Regeln, welche definieren, was eine gesetzgebende Körperschaft ist, wer i h r angehört, w i e sie abstimmt, u n d daß sie nicht eine Religion gründen kann. A b e r diese Regeln, die eindeutig Regeln der Gesetzgebung sind, reichen schwerlich dazu aus, zu bestimmen, daß ein Bürger ein institutionelles Recht darauf hat, daß ein bestimmtes Gesetz erlassen w i r d . . . Die entscheidende Wendung i n dem zitierten Absatz sind die Worte „konstitutive u n d regulative Regeln". Diese Wendung erinnert an John Rawls* 8, John Searle 39 u n d verschiedene andere Autoren, v o n welchen konstitutive u n d regulative Regeln zur E r k l ä r u n g postuliert worden sind, wie soziale Institutionen oder P r a k t i k e n funktionieren. E i n gerne zitiertes Beispiel für konstitutive u n d regulative Regeln dieser A r t bietet die I n s t i t u t i o n des Versprechens. Der Umstand, daß eine soziale Verpflichtung zur Einhaltung v o n Versprechen besteht, setzt notwendig irgendeine Methode voraus, welche zu entscheiden erlaubt, was überhaupt als Versprechen g i l t — ohne eine solche Methode hätte der Begriff der Verpflichtung, Versprechen einzuhalten, gar keine Basis. Die Feststellung, was als Versprechen gilt, hängt somit v o n der A n w e n d u n g einer konstitutiven Regel ab, etwa: „Es g i l t als Versprechen, w e n n eine Person sowohl die Absicht, eine bestimmte Handlung zu setzen, als auch die Absicht, sich zur Ausführung dieser Handlung gegenüber einer anderen Person zu verpflichten, k u n d gibt." Ich möchte mich nicht damit 37

R. Dworkin, op. cit., S. 101; meine Hervorhebung. J. Rawls, T w o Concepts of Rules, in: P. Foot (Hrsg.), Theories of Ethics, Oxford 1967, S. 144, insb. S. 145 - 153. 89 J. Searle, Sprechakte. E i n sprachphilosophischer Essay, Frankfurt 1971, S.54 - 68, definiert u n d elaboriert die Unterscheidung zwischen ,konstitutiven 1 und regulativen* Regeln. 88

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aufhalten, die Adäquatheit dieser Formulierung zu erörtern (sie ist gewiß nicht mehr als nur ein grober Versuch): für unsere Zwecke genügt es festzustellen, daß uns jede solche konstitutive Regel ein Gültigkeitsk r i t e r i u m liefert — aufgrund solcher Regeln gelten manche Äußerungen als gültige Versprechen und andere nicht. W i r können dies vergleichen m i t der mehr formalisierten Situation i m Recht, etwa bei der Entstehung von Verträgen oder auch bezüglich der Möglichkeit, Gültiges von Ungültigem bei angeblichen oder behaupteten vertraglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. I n beiden Fällen gibt es regulative Regeln, denen zufolge gültige Versprechen bzw. gültige Verträge eingehalten werden müssen. Wenn aber Dworkins Beobachtungen bezüglich konstitutiver und regulativer Regeln i n diesem Sinne gemeint sind (und das scheint m i r die einzig angemessene und vernünftige Interpretation zu sein), dann führt uns dies geradewegs wieder zurück zu Kelsens Ermächtigungsnormen 4 0 , welche die Schaffung anderer, verpflichtender Normen rechtfertigen, oder — noch klarer — zu Harts Primärregeln, welche Anforderungen an das Verhalten oder Verpflichtungen festsetzen, und Sekundärregeln, welche festlegen, was i n einem System als gültige Verhaltensregeln gilt (Erkennungsregeln), sowie was als gültige Rechtserzeugung oder Rechtsanwendung gilt (Änderungs- bzw. Entscheidungsregeln) 41 . Die Bezugnahme auf konstitutive und regulative Regeln ist som i t nichts anderes als die i n anderen Worten ausgedrückte Bezugnahme auf primäre und sekundäre Regeln. Die Theorien der regulativen und konstitutiven Regeln — jedenfalls bei Rawls und Searle, die wahrscheinlich auch die Quellen der Dworkinschen Auffassung sind — stellen sogar ganz entschieden die Existenz solcher Regeln als i n der Praxis und Gewohnheit der Mitglieder weltanschaulicher Gemeinschaften oder sozialer Gruppen verankert dar 4 2 . Da nun ein Teil der Dworkinschen K r i t i k an Harts Theorie der Regeln i n dem Einwand besteht, daß Praktiken nicht i n der Weise Regeln begründen, wie Hart es behauptet 4 8 , verbleibt eine entscheidende Leerstelle i m Kern von Dworkins Theorie. Wenn die Theorie der gesellschaftlichen Praktiken als Basis der Existenz der Regeln nicht geeignet ist, eine tragfähige Theorie der Primärund Sekundärregeln zu begründen, dann ist auch eine Theorie der konstitutiven und regulativen Regeln nicht besser gestellt. Es muß also zumindest diese Leerstelle durch eine bessere Theorie der Regeln abgedeckt werden, doch ist keine solche i n Sicht. 40 41 42 43

Vgl. H. Kelsen, op. cit., S. 90 - 92. Vgl. H. L . Α . Hart, op. cit., S. 131 - 141. Vgl. Anmerkungen 38 u n d 39 oben. JR. Dworkin , op. cit., Kap. 3.

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I n diesem Zusammenhang muß ich auch die Theorien von Austin u n d Bentham wegen ihres Bezugs zum vorliegenden Gegenstand erwähnen. Ohne Zweifel ist jedem die Bemerkung Austins i n Erinnerung, daß das Verfassungsrecht i n W i r k l i c h k e i t zu einem großen Teil nichts weiter als positive Moral sei 4 4 . Damit meinte er, daß die Regeln, welche die Zusammensetzung u n d Existenz eines obersten Gesetzgebungsorgans bestimmen, nicht Gesetze sein können, die ihrerseits von diesem Organ erlassen sind. Wenigstens einige von ihnen müssen eher auf Gewohnheit und Übung beruhen als auf der Anordnung oder — u m Benthams neutraleren Terminus zu verwenden — auf der Mandatsausübung [, mandate'] 45 des Souveräns. Wie w i r aus Austins späteren Schriften, insbesondere seinem „Plea for the Constitution "4β, wissen, w a r er bestimmt der Meinung, daß jede entwickeltere Verfassung, u m zu überdauern, von der Aufrechterhaltung einer solchen Sitte u n d Übung abhänge, bis sich aus dem natürlichen Verlauf der Dinge ergibt, daß sie zu einer (mehr oder minder unreflektierten) Gewohnheit werden. So gesehen scheinen sich die Theorien von A u s t i n und Hart eher i n t e r m i nologischer als i n inhaltlicher Hinsicht zu unterscheiden. Was die Terminologie anbelangt, so dürfen w i r Austin, der solche Regeln als Regeln der positiven Moral anstatt als Rechtsregeln bezeichnet, nicht mehr folgen. Aber selbst wenn w i r die T e r m i n i ablehnen, so bleibt doch folgendes festzuhalten: die Regeln der positiven Moral entstammen essent i e l l der Gewohnheit u n d nicht der Satzung; es ergibt sich somit dem Inhalt und der W i r k u n g nach wiederum eine i n der sozialen Praxis wurzelnde Menge von primären und sekundären Regeln, die bestimmen, wer berechtigt ist, verbindliche Rechtsregeln ausdrücklich zu erlassen, und auch bestimmen, daß die Menschen die verbindlich erlassenen Rechtsregeln befolgen müssen. 6. Praktische Vernunft und verfassungskonstituierende Gewohnheit Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, die wichtigen Unterschiede der allgemeinen Methode u n d auch einzelner Analysen zwischen Kelsens, Harts und Austins Rechtstheorien trivialisieren oder herunterspielen zu wollen. Worauf es m i r ankommt, ist lediglich zu betonen, daß jeder von diesen Autoren auf seine Weise eine Frage zu beantworten 44 J. Austin, The Province of Jurisprudence Determined, Hrsg. H. L. Α . Hart, London 1954, Kap. 6. 45 J. Bentham, Of Laws i n General, Hrsg. H. L. A . Hart, London 1970, Kap. 1, S. 13 - 14. 48 J. Austin, Plea for the Constitution, London 1859. A u s t i n betont hier die Wichtigkeit der Hochachtung vor einer Verfassungstradition; seine Konzept i o n des Verfassungsrechts als »positive Moral* vorausgesetzt, ist dies für i h n eine ganz natürliche Auffassung.

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sucht, auf die m a n auch eine A n t w o r t finden muß, w e n n m a n der Dworkinschen Theorie eine sinnvolle Deutung geben möchte. Die Frage ist die, wie man die Existenz u n d Identität jener Institutionen, deren politische Rechtfertigung v o n der Dworkinschen institutionellen M o r a l geliefert werden soll, erklären u n d begründen kann. Eine damit v e r bundene u n d k a u m weniger entscheidende Frage ist, w i e man die i n jeder Rechtsordnung bestehenden systeminternen Zusammenhänge der zahlreichen Institutionen erklären u n d begründen kann. Ich möchte wiederholen, daß die Theorie der institutionellen M o r a l zur Beantwort u n g dieser Fragen nicht herangezogen werden kann, w e i l diese Theorie bereits eine A n t w o r t auf diese Frage voraussetzt. W e n n m a n versucht, diese A n t w o r t mittels der Begriffe der konstitutiven u n d regulativen Regeln zu formulieren, dann werden w i r gleichsam wieder auf die analytischen M i t t e l der positivistischen Rechtstheorie zurückverwiesen; gleichwohl können w i r gegebenenfalls die Analyse durchzuführen wünschen, ohne das positivistische Postulat einer strengen begrifflichen Unterscheidung zwischen dem Rechtlichen u n d dem Moralischen anzuerkennen. Meine andernorts 4 7 eingehend dargelegte These, welche ich hier n u r kurz wiederholen kann, ist die, daß der w o h l fruchtbarste Weg einer positivistischen Analyse d a r i n besteht, Harts Richtung weiter zu v e r folgen u n d zu entwickeln, u n d zwar insbesondere hinsichtlich dessen, was m a n die v o n i h m verwendete ,hermeneutische' Methode nennen möchte. Das bedeutet aber freilich nicht, daß man deshalb alle H a r t schen Folgerungen bezüglich der p r i m ä r e n Pflichtregeln sowie der sekundären Erkennungs-, Entscheidungs- u n d Änderungsregeln akzeptieren müßte. Eine Frage, die beispielsweise der A u f k l ä r u n g bedarf, ist die nach der vermutlich existierenden Beziehung zwischen der Erkennungsregel u n d der Verfassung. V o n manchen w i r d die Erkennungsregel m i t der V e r fassung identifiziert. Eine ,geschriebene' Verfassung, w i e die der V e r einigten Staaten oder der Bundesrepublik Deutschland, k a n n schwerlich selbst als Erkennungsregel aufgefaßt werden. Denn i n solchen Ländern ist es, w i e der US-Gerichtspräsident John Marshall 48 bemerkte, die erste u n d oberste Pflicht der Richter, die Verfassung aufrechtzuerhalten u n d i h r W i r k u n g zu verschaffen; es ist die Verfassung selbst, die als oberste Instanz verbindlichen Rechts erkannt werden muß. Sie w i r d daher aufgrund der Erkennungsregel erkannt, u n d ist somit m i t i h r nicht identisch 4 9 . Wenn sie als verbindlich vorausgesetzt w i r d , liefert sie sodann 47 48 49

D. N. MacCormick, H. L. A . Hart, op. cit. Marbury v. Madison (1803) 1 Cranch 137,178. D. N. MacCormick, op. cit., S. 110 - 111.

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weitere, aber untergeordnete Kriterien für die Erkenntnis der für Bürger und Gerichte verbindlichen Gesetze. Der dauernde Bestand, wenn auch offenbar nicht die Genesis einer solchen Verfassungsordnung beruht auf der Gewohnheit; das heißt, auf der Gewohnheit, daß alle Rechtsangelegenheiten letztlich verfassungsmäßig und der Verfassungsurkunde entsprechend behandelt werden. Gewohnheit i n diesem Sinne kann nicht auf bloße Tatsachen oder Tatsachenkomplexe reduziert werden, soweit man diese rein von außen betrachtet, wie dies ζ. B. i n der frühen behavioristischen Definition Benthams geschieht, wo er die Gewohnheit als „Ansammlung von Handlungen" („an assamblage of acts") bezeichnet. Es handelt sich hier nicht u m ein »Sein4, wie es der Beobachter sieht, das durch irgendeinen mysteriösen Prozeß i n das ,Sollen* des Teilnehmers verwandelt würde. Gewohnheit ist nach meiner Auffassung des Terminus ein Produkt der menschlichen praktischen Vernunft, die dazu angewendet wird, das erforderliche stabile Rahmenwerk für die praktische Koexistenz einer Gemeinschaft zu liefern 5 0 . Es kommt dadurch zustande, daß die praktischen Urteile i n einer Gemeinschaft geteilt werden, die bestimmen, wie und i n welchen Grenzen („Rechte") die Koexistenz und die Entscheidungspraxis durchgeführt werden sollen. E i n solcher Konsensus ist niemals und nirgends vollständig; er ist immer i n gewissem Maße labil, und manchmal w i r d der Dissens erst durch Krieg entschieden — wie ζ. B. i n den Vereinigten Staaten 1861. Die Gewohnheit der einen Person kann für eine andere Person Zwang bedeuten; Zwang gegenüber dieser Person muß nicht immer unvernünftig sein, doch ist er dies häufig; je verdorbener und perverser die Urteile der praktischen Vernunft sind, wie sie i n der herrschenden Gewohnheit verankert und aufgrund dieser Gewohnheit wirksam sind, u m so weniger vernünftig erscheint die Zustimmung auf Seiten der Beherrschten. Die Gewohnheit, dergemäß die Pflicht besteht, einer bestimmten U r kunde die Wirkung zuzugestehen, daß sie sowohl die politischen Machtbefugnisse i n einer Gesellschaft, als auch deren Grenzen festlegt, konstituiert diese Gesellschaft als politische Gesellschaft oder als Staat und umgrenzt damit zugleich den Bereich jener Argumentationen, auf die man sich berechtigterweise bei der Ausübung von Staatsfunktionen berufen kann oder durch die die Ausübung dieser Funktionen i m Rahmen der Verfassung legitimiert werden können. I m Falle, daß man die Staatsfunktionen selbst — oder einige von ihnen — als der bloßen Gewohnheit entstammend ansieht, wie man dies häufig aber irrtümlich für das Vereinigte Königreich annimmt, ist die Erklärung des Wesens der Verfassung zwar etwas unklarer, aber i m Prinzip die gleiche: 50

Vgl. J. Finnis, N a t u r a l L a w and N a t u r a l Rights, Oxford 1980, S. 238 - 245.

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die gewohnheitliche Gepflogenheit besteht sozusagen darin, die Setzung der Gesetze durch die Königin i m Parlament [enactment by the Queen in Parliament] als dasjenige zu betrachten, was von Zeit zu Zeit sowohl die Regeln für die Ausübung von politischer Macht festlegt, einschließlich der für die Zusammensetzung des Parlaments verbindlichen Normen, als auch jene Regeln, welche die Ausübung der politischen Macht begrenzen, jedoch unter Ausschluß solcher Normen, die darauf abzielen würden, den Handlungsspielraum oder die Zusammensetzung des Parlaments für die Zukunft zu beschränken. Welche weiteren Regeln über Autorität und ihre Grenzen w i r als verfassungsmäßig* ansehen werden, w i r d dann von der Beurteilung des Inhalts der gesatzten Verfassung abhängen, und vielleicht noch mehr von den Theorien, welche ihrer Formulierung zugrunde gelegt wurden. Es w i r d auch sehr viel von fachlichen Gewohnheiten der Verfassungsrechtler abhängen, die vor allem i n Lehrbüchern und Abhandlungen dargestellt sind. ,Vom internen Standpunkt aus* ist die Gewohnheit — wie ich die Sache verstehe — die fundamentale Grundlage jeder stabilen und dauerhaften Verfassung, und sie kann als Ausübung der praktischen Vernunft durch viele verschiedene Personen angesehen werden; diese Personen anerkennen die Zuteilung der Autorität zur Regelung, Entscheidung und öffentlichen Verwaltung i n der integralen Gemeinschaft, welcher sich diese Personen zugehörig fühlen. Einer der Werte, dem eine solche Anerkennung dient, ist — allgemein gesprochen — der der Ordnung gegenüber dem Chaos, wobei die jeweils i n Betracht gezogene Ordnung nicht selten auch dem privaten Interesse derjenigen am meisten dient, die i h r am eifrigsten zustimmen. Gewohnheit der hier betrachteten A r t ist selbst nicht so sehr ein Hort von Regeln als vielmehr einerseits etwas, das die Regeln legitimiert, welche von den dazu Ermächtigten aufgestellt oder präzisiert werden, und andererseits eine Sammlung von praktischen Einstellungen gegenüber Verhaltensstandards, die durch Richter, Gesetzgeber und Rechtsgelehrte als Regeln so gut wie möglich explizit formuliert werden. Der springende Punkt dessen, was D w o r k i n institutionelle Moral nennt, ist folglich der, daß der Entwurf einer institutionellen Moral einen Versuch darstellt, praktische Gepflogenheiten der erwähnten A r t als genau durchformulierte Menge von Prinzipien auszuarbeiten. Es ist eine wichtige Aufgabe für Rechtstheoretiker und Verfassungsjuristen, dies alles i m Detail zu klären, und damit zugleich das analytische Werk jener Rechtsdenker weiterzuführen, die sich selbst als Positivisten ansahen und solche Analysen als die einzig beachtenswerte Aufgabe einer wissenschaftlichen Rechtstheorie auffaßten. Es handelt sich dabei auch u m eine unerläßliche Vorarbeit, soll das Versprechen einer allgemeinen Rechtstheorie, welches i n Pro-

Institutionelle Moral und die Verfassung

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fessor Dworkins überaus anregender K r i t i k der alten und seinen Prolegomena zu einer neuen Jurisprudenz enthalten ist, eingelöst werden. Ich habe i n dieser Arbeit versucht, den Schnittpunkt zweier Unternehmungen aufzuzeigen. A u f der einen Seite existieren Arbeiten, die darauf abzielen, die strukturellen und systematischen Merkmale des Rechts auf dem Niveau der Institutionen und Regeln aufzudecken. A u f der anderen Seite stand die Behauptung, daß das Rechtsleben i n dem permanenten Versuch besteht, jenen praktischen moralischen Imperativen zu genügen, welche i n den rechtlichen Institutionen und Rechtsregeln implizit enthalten sind. Dieser Schnittpunkt liegt i n der von m i r geforderten Anerkennung der Gewohnheit als von den Beteiligten geteilter praktischer Vernunft, welche — bei aller Einsicht i n das Erfordernis, Macht und damit Gesetzgebungshoheit zu übertragen — dennoch ihren allgemeinen Geltungsanspruch bewahrt: diesem Anspruch zufolge gilt es, Prinzipien zur Geltung zu bringen, nach denen w i r unser Leben führen sollen, und unter deren respektvoller Beachtung w i r von jenen regiert werden sollen, die durch die Verfassung legitimierte Kompetenzen innehaben. Was ich als Schlußfolgerung anbiete ist somit, daß man auf die positivistischen Erörterungen von Verfassungsnormen weder verzichten kann, noch kann man sich schon m i t ihnen allein als i n sich vollständig zufrieden geben. Andererseits stellt sich aber auch heraus, daß Dworkins machtvoller Alternativvorschlag nicht zur Zurückweisung der positivistisch-analytischen Forschung führt, sondern selbst einer Vervollständigung durch diese bedarf.

D. N E I L M A C C O R M I C K

Die Grenzen der Rationalität im Rechtsdenken 1. Einführung John Rawls 1 versichert uns i n seiner geschliffenen Sprache, daß die Gerechtigkeit die erste Tugend sozialer Systeme sei, so, w i e die W a h r heit die erste Tugend v o n Gedankensystemen. Ich werde m i r erlauben, diese Behauptung i n beiderlei Hinsicht zu bestreiten. Wenn w i r unter der ersten Tugend die grundlegendste verstehen wollen, so müssen w i r zu dem Ergebnis kommen, daß die erste Tugend sowohl von sozialen Systemen, welche unser praktisches Leben i n der Gemeinschaft bestimmen, als auch von Gedankensystemen (Schemata der spekulativen Reflexion u n d des Diskurses) die Rationalität ist. Es mag sein, daß auch ohne Rationalität eine gewisse A r t v o n Praxis existiert, aber ohne Rationalität w i r d sie unsystematisch bleiben. Oder ist Rationalität vielleicht gar keine Tugend? Ist sie vielleicht bloß eine dem Menschen zugehörige Tatsache, aber weder ein Ziel, das w i r k u l t i v i e r e n sollen, noch ein Standard für die Beurteilung menschlicher Handlungen u n d des menschlichen Diskurses? Diese Fragen beantworten sich selbst. F ü r alle jene, welche die Pflege der Rationalität als an u n d für sich wertvolles Ziel betrachten u n d als etwas, was sie an i h r e n Mitmenschen schätzen, ist Rationalität offenbar eine Tugend. N u r an jene, die so denken, richtet sich die vorliegende A r b e i t . Niemand anderer w ü r d e es i m geringsten der Mühe w e r t finden, sie zu lesen; u n d sollte die v o n m i r ins Auge gefaßte Leserschaft am Ende befinden, daß ihre Mühe vergeudet worden ist, so ist dies ein Risiko, das ich auf mich nehmen muß, w e n n ich meine Erwägungen i h r e r kritischen Bew e r t u n g unterbreite. Würde aber diese A r b e i t bloß als »rational 4 u n d nichts weiter bewertet, so wäre dies wenig Anlaß dafür, daß i h r A u t o r m i t sich selbst zufrieden sein könnte. Technische Kompetenz ist f ü r den Musiker eine erste Tugend, ohne welche höhere Tugenden, w i e Ausdruck i n Interpretation u n d Vortrag, nie zur Entfaltung kommen könnten. Ebenso verhält es sich m i t dem 1 Vgl. J. Rawls , A Theory of Justice, Oxford 1972; deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t 1975, S. 19.

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Praktiker oder auch dem Denker. Ohne Rationalität kann es keine Weisheit oder Brillianz der Erkenntnis geben. Die erste Tugend ist eine Voraussetzung für den Forschritt zu höheren Tugenden; die erste Tugend aber ist nur eine beschränkte Tugend. Der Musiker, der bloß über technische Kompetenz verfügt, der Praktiker oder Theoretiker, der bloß rational ist, verdient und erntet vielleicht etwas Lob, aber kein großes Lob. Es liegt i n der Natur von ersten Tugenden, daß sie beschränkte Tugenden sind — so beschränkt sogar, daß w i r gelegentlich ihre grundlegende Wichtigkeit übersehen mögen. Doch machen w i r weder diesen Fehler, noch den entgegengesetzten, nämlich vorauszusetzen, daß die erste Tugend sich über die anderen erstrecke oder sie umfasse! Hinsichtlich der i n der vorliegenden Arbeit angesprochenen Materie könnten w i r eher versucht sein, den zweiten der genannten Irrtümer zu begehen. So kann ich — insbesondere i n Gegenwart von Professor Dreier — nicht u m h i n zu bemerken, daß zumindest seit Kant i n allen Zweigen der praktischen Philosophie die Neigung besteht, all die Besonderheiten menschlicher A k t i v i t ä t dem Bereich der praktischen Rationalität oder der praktischen Vernunft (wobei freilich diese beiden Begriffe nicht als identisch angesehen werden dürfen) unterzuordnen 2 . Persönlich bevorzuge ich allerdings eine etwas eingeschränktere Konzeption der Rolle der Rationalität i n der Praxis. Es w i r d nun meine Aufgabe sein, diese eingeschränktere Konzeption darzulegen und zu rechtfertigen, sowie die Relevanz dieser Darlegung und Rechtfertigung für den speziellen Fall des Rechtsdenkens auf zuweisen. Dabei werde ich nach althergebrachter Weise vom Allgemeinen zum Speziellen voranschreiten: zunächst werde ich mich m i t der praktischen Rationalität i m allgemeinen, und (kurz) m i t deren Verhältnis zur theoretischen Rationalität beschäftigen. Sodann möchte ich diese Erwägungen hinsichtlich ihrer Relevanz für das Rechtsdenken zur Anwendung bringen. 2. Anmerkungen über die praktische Rationalität Als Ausgangspunkt für diesen Abschnitt wähle ich eine frei adaptierte Version der Typologie der Rationalität von Max Weber (welche jüngst eine deutlich erkennbare Parallele i n den Arbeiten von Robert Summers gefunden hat), u m die Bedingungen der praktischen Rationalität näher zu beleuchten 3 . Die grundlegendste Bedingung der Ratio2 Vgl. D. Dreier, Recht - M o r a l - Ideologie, F r a n k f u r t 1981. Ich möchte j e doch offen u n d dankbar feststellen, daß die endgültige Fassung meines A u f satzes der K r i t i k v o n Dreier an einer früheren Version v i e l verdankt. 3 Vgl. M . Rheinstein, M a x Weber on L a w i n Economy and Society, Cambridge, Mass. 1954, S. 1 - 3 ; vgl. auch R. S. Summers, T w o Types of Substantive Reasons: the Core of a Theory of Common L a w Justification, Cornell

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nalität des Handelns ist: jede Handlung oder Unterlassung einer Handlung muß durch den Hinweis auf einen Handlungsgrund gerechtfertigt werden können. Diese Bedingung kann auf zwei — prima facie unterschiedliche — Weisen erfüllt sein: eine Handlung oder Unterlassung kann entweder ohne Bezug auf irgendeinen vorschwebenden Zweck als an sich richtig oder an sich gut betrachtet werden (in diesem Fall ist sie ,wertrational·) oder eine Handlung oder Unterlassung kann so aufgefaßt werden, daß sie darauf abzielt, einen bestimmten Zweck zu erfüllen oder eine bestimmte Wirkung zustandezubringen (dann ist sie ,ζ weckrational·). Wenn ich mein Verhalten so deute, daß ich diese Arbeit einfach schreibe, u m ein Versprechen zu halten, dann betrachte ich mich als jemanden, der ohne dabei auf irgendwelche sonstige Konsequenzen oder Ergebnisse abzielend richtig handelt, und dieses Handeln ist ,wertrational·. Verstehe ich mich hingegen so, daß ich die Arbeit schreibe, u m meine wissenschaftliche Reputation zu fördern, dann ist meine Handlung rational, genauer: zweckrational, vorausgesetzt, es besteht die Wahrscheinlichkeit, daß sie meine Reputation fördern w i r d und daß ich dies auch wünsche. Wie das Beispiel zeigt, müssen diese beiden A r t e n oder Aspekte der Rationalität nicht notwendig zueinander i n Widerstreit stehen, denn sie können beide durch ein und dieselbe Handlung verwirklicht werden. Ich kann mich bei einer Handlung als jemanden betrachten, der sowohl etwas tut, das an sich richtig (oder gut) ist, als auch etwas, das darauf abzielt, eines meiner Handlungsziele zu erreichen. Freilich kann i n anderen Fällen ein Konflikt zwischen Wertrationalität und Zweckrationalität bestehen, wie zum Beispiel immer dann, wenn als Bedingung für die Erfüllung eines bestehenden Zweckes die Durchführung einer solchen Handlung erforderlich ist, die ich für falsch oder schlecht halte. I n einem solchen Fall muß ich zwischen Handlungsgründen wählen, was eine Entscheidung zwischen Zweckgründen und Wertgründen erfordert. Aber auch zwischen meinen verschiedenen Zwecken können Konflikte auftreten (mein Ziel, die Arbeit noch heute fertigzustellen, kann m i t meinem Ziel, früh zu Bett zu gehen i n Konflikt geraten), oder auch zwischen rivalisierenden Gründen für die Richtigkeit einer Handlung (der Richtigkeitsgrund, meine Versprechen einzuhalten und diese Arbeit zu L a w Review 63 (1978), S. 707. Summers' Unterscheidung zwischen »Richtigkeitsgründen 4 u n d ,Zielgründen 4 stellt — obgleich sie unabhängig v o n Weber u n d für andere Zwecke entwickelt wurde — eine interessante Parallele zu Webers Typen ,Wertrationalität 4 u n d ,Zweckrationalität 4 dar. O b w o h l ich mich an die traditionelle Webersche Terminologie halte u n d sie i n der v o r liegenden A r b e i t wegen ihres ausdrücklichen Bezuges auf »Rationalität 4 der Summerschen vorziehe, glaube ich, daß die Webersche Unterscheidung k l a rer ausgedrückt werden könnte, w e n n m a n — i n A n l e h n i m g an Summers' Terminologie — v o n »Richtigkeitsrationalität 4 [rightness rationality] u n d , Z i e l rationalität 4 [goal rationality] sprechen würde.

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schreiben, steht unter Umständen i n Widerstreit m i t dem Richtigkeitsgrund, einen angemessenen Teil meiner Zeit erholsam m i t meiner Familie zu verbringen). Aus all dem scheint sich die unbefriedigende Folgerung zu ergeben, daß i m Falle solcher Konflikte ein und dieselbe Handlung sowohl rational als auch irrational sein könnte, je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt man sie betrachtet. Eine Möglichkeit, diese Folgerung zu vermeiden, wäre folgende Festsetzung: eine Handlung soll als rational gelten, wenn der Handelnde irgendeinen Grund für ihre Durchführung hat und sie aus diesem Grunde durchführt, obgleich er auch einen Grund hat, die Handlung nicht durchzuführen und sich auch dieses, der Handlung entgegensprechenden Grundes bewußt ist. Diese Festsetzung führt aber zu einem neuen Problem. Denn die Wahl, gemäß Grund gi zu handeln und den entgegengesetzten Grund