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German Pages 339 [340] Year 2002
Ulrike Kleemeier Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges
POLITISCHE IDEEN
Band 16
Herausgegeben von Herfried Münkler
Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint. Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.
Ulrike Kleemeier
Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges Platon - Hobbes - Clausewitz
^ ^
Akademie Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Clausewitz-Gesellschaft.
ISBN 3-05-003730-X
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Julia Brauch, Berlin Druck: Primus Solvere, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Für Konrad
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
9
1.
Einleitung
13
2.
Krieg und Krieger in Piatons Politela
51
2.1.
Einleitung
51
2.2.
Ursprung und Bewertung des Krieges
58
2.2.1. 2.2.2. 2.3.
Der Ursprung des Krieges Die Bewertung des Krieges Krieg und Gerechtigkeit
58 68 71
2.3.1. 2.3.2. 2.3.3. 2.4.
Krieg und Schädigung Die Gerechtigkeit in der Polis Die Gerechtigkeit in der Einzelseele Die Wächter
71 74 81 89
2.4.1. 2.4.1.1. 2.4.1.2. 2.4.2. 2.4.2.1. 2.4.2.2. 2.5.
Die Eigenschaften der Wächter Die philosophische Natur Die Tapferkeit Erziehung und Lebensweise der Wächter Erziehung Lebensweise Krieg und Feindschaft
89 89 94 100 100 103 109
3.
Krieg und Militär in Hobbes' Leviathan
125
3.1.
Einleitung
125
3.2.
Krieg und Naturzustand
129
3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.3.
Der Kriegsbegriff Kriegsursachen Wege aus dem Naturzustand Krieg und Naturgesetze
129 136 147 153
3.3.1. 3.3.2. 3.3.3.
Der Status der Naturgesetze Friedensgebot und Kriegführungsrecht Das Gebot zum Verzicht auf das Kriegsrecht und das Gerechtigkeitsgebot
154 158 164
8
3.3.4. 3.4. 3.5. 3.5.1. 3.5.2. 3.5.3. 3.6. 3.6.1. 3.6.2.
INHALT
Die weiteren Naturgesetze
169
Der Staat durch Aneignung oder der Fall des Eroberungskrieges
180
Aufruhr und Bürgerkrieg
190
Bürgerkrieg, Staatenkrieg und der Krieg des Naturzustandes Spezifika des Bürgerkrieges Bürgerkriegspräventionsstrategien Soldat und Militär
190 192 197 204
Status und Organisationsform des Militärs Soldat und Selbsterhaltung
204 207
4.
Die Theorie des Krieges bei Clausewitz
214
4.1.
Einleitung
214
4.2.
Krieg und Kampf: Kriegsbegriffe bei Clausewitz
218
4.2.1. 4.2.2. 4.3. 4.3.1. 4.3.2. 4.3.3. 4.3.3.1. 4.3.3.2. 4.3.3.3. 4.3.3.4. 4.3.3.5. 4.4. 4.4.1. 4.4.2. 4.4.2.1. 4.4.2.2.
5.
Begriff und reiner Begriff des Krieges Der Status des reinen Kriegsbegriffs Krieg, Friktion und moralische Größen Clausewitz' Theorie der Friktion als eine Theorie menschlicher Schwäche und Größe Clausewitz und Machiavelli Die einzelnen moralischen Größen Der kriegerische Genius Mut gegen körperliche Gefahr Takt des Urteils und Entschlossenheit Die Gemütsstärke Vier Gemütskonstitutionen Krieg und Politik Variationen der Krieg/Politik-Formel Politik und Ehre: Der junge Clausewitz Der Charakter der Bekenntnisdenkschrift Die politische Tendenz der Bekenntnisdenkschrift
Philosophie des Krieges bei Piaton, Hobbes und Clausewitz - ein Vergleich
218 231 244 244 250 259 260 261 264 270 272 275 276 285 285 289
301
Abkürzungsverzeichnis
318
Literaturverzeichnis
319
Personenregister
335
Vorwort „Gefühlskälte ist kein Kennzeichen von Vernunft. (...) Um vernünftig reagieren zu können, muß man zunächst einmal ansprechbar sein, „bewegt" werden können; und das Gegenteil solcher Ansprechbarkeit des Gemüts ist nicht die sogenannte Vernunft, sondern entweder Gefühlskälte - gemeinhin ein pathologisches Phänomen - oder Sentimentalität, also eine Gefühlsperversion." (Hannah Arendt)
Der Krieg ist das Gebiet des gewaltsamen kollektiven Kampfes. Als solcher ist er ein Gebiet menschlichen Handelns und Leidens unter extremen Bedingungen. Dementsprechend befinden sich die an ihm direkt oder indirekt beteiligten Menschen in extremen Gefühlslagen. Sie empfinden äußerste Ausprägungen von Furcht, Tapferkeit, Ehrgefühl, Leidenschaft für eine Sache, Machtstreben, Mitleid, Trauer, Schmerz, Haß, Wut, Rache etc. Manchmal empfinden sie auch kaum noch Emotionen, doch tritt dieser Zustand nur deshalb ein, weil sie sich vor den äußersten Formen von Affektivität schützen müssen. Grundlegend ist also in jedem Fall die positive Ausformung der emotionalen Extreme. All die genannten Affekte können in Kriegssituationen vorkommen, und einige von ihnen, wie etwa die Furcht und ihr Gegenstück, die Tapferkeit, sind wohl aus keinem Krieg wegzudenken. Deshalb schließt jede umfassende wissenschaftliche Forschung über das Phänomen des Krieges auch und wesentlich eine Konfrontation mit intensivsten menschlichen Emotionen ein. Es gehört zu den Aufgaben des Forschers, diese Emotionen ernst zu nehmen und sich von ihnen berühren zu lassen. Zumindest gilt dieses für eine philosophisch orientierte Untersuchung, als die sich das vorliegende Buch versteht. Einzelwissenschaftliche Analysen zu Problemen von Krieg und Militär können häufig den menschlichen Affektbereich aussparen, weil dieser dort nicht beschreibungsrelevant wird. In der Natur philosophischer Forschung liegt es jedoch, daß sie sich ihrem jeweiligen Objektbereich nur als einer Ganzheit nähern kann. Sie erhebt hierdurch keinen höheren Geltungsanspruch als die Einzelwissenschaften, sondern sie kann buchstäblich nicht anders als sich von einem ganzheitlichen Interesse leiten zu lassen. Im Mittelpunkt des ganzen Objektbereichs Krieg stehen jedoch Menschen im emotionalen Ausnahmezustand. Philosophische Forschung über Krieg kann sich deshalb keineswegs an dem Projekt einer sog. „reinen", d. h. affektfreien Wissenschaft orientieren, die auf der systematischen Ignoranz von Emotionen sowohl bei den Subjekten als auch den Objekten der Forschung beruht. Dieses Programm liegt ausgesprochen oder unausgesprochen so mancher Wissenschaftsauffassung zugrunde. Es beruht grundsätzlich auf einer Selbsttäuschung, und seine Vertreter sind paradoxerweise nur deshalb oft zu großen Leistungen fähig, weil sie sich so fundamental über sich selbst täuschen. Jede wissenschaftliche Forschung, selbst wenn sie sich nur vermittelt auf den Menschen bezieht, setzt eine rege Anteilnahme an menschlichen Angelegenheiten voraus, ohne die sich die wissenschaftlichen Elementarbedürfnisse nach Verstehen und Erklären gar nicht bemerkbar machen würden. Ursprung und Charakter dieser Bedürfnisse sind in hohem Maße emotionaler Art, und sie begleiten jeden Forschungsprozeß von seinem Anfang bis zu seinem Ende. Im Hinblick auf den Forschungsgegenstand Krieg, dem auch
10
VORWORT
noch eine hohe Affektintensität als Wesensmerkmal eingeschrieben ist, erweist sich das Modell der „reinen" Wissenschaft jedoch als besonders unangemessen. Wenn bei aller Kritik am Mythos der puren Sachlichkeit dennoch in diesem Buch die Rede von dem Erfordernis wissenschaftlicher Distanz zum Thema Krieg ist, so ist hier der Ort, deutlich darauf hinzuweisen, daß wissenschaftliche Distanz und Gleichgültigkeit bzw. Gefühllosigkeit nicht identisch sind. Tatsächlich ist Abstand von unmittelbarer Verstrickung in die jeweiligen Forschungsbereiche eines der Lebenselixiere der Wissenschaft, ohne das diese ihre klassischen Funktionen der Systematisierung, Präzisierung, Ursachenerklärung etc. nicht ausüben kann. Doch die Distanz des Wissenschaftlers setzt affektive Beweglichkeit voraus und schließt sie ein. In unserem Fall bedeutet solche Beweglichkeit die Empfänglichkeit für die Gefühle von Menschen in der Grenzsituation des Krieges, ohne die in diesem Feld Verstehen und Erklären nicht möglich sind. Man kann im theoretischen Umgang mit Krieg jedoch andere und sogar noch gravierendere Fehler begehen als diejenigen, die sich aus der Vorstellung von der ,.reinen" Ratio ergeben. Jene Vorstellung ist zwar falsch, aber dennoch (oder gerade deshalb) kann man auf ihrer Grundlage in einem begrenzten Rahmen konstruktive Forschung betreiben. Eben dieses ist dort nicht möglich, wo das Denken über den Krieg zwar gerade nicht die Ausblendung von Affekten anstrebt, dafür aber von inadäquaten Umgangsweisen mit ihnen geprägt ist. Solche unangemessenen Formen sind hauptsächlich Sentimentalität, Heroisierung und Moralisierung. Sentimentalität, sofern sie sich auf den Krieg bezieht, äußert sich in Klage und Anklage, in der Zurschaustellung von „Betroffenheit" durch die Schrecken des Krieges und der „Identifizierung" mit den Opfern von Kriegen. Häufig verbindet sie sich mit einem radikalen Pazifismus. Aus der reichhaltigen Palette von Emotionen, die Menschen im Krieg empfinden können, nimmt sie nur die Affekte des Leidens wahr, und sie appelliert entsprechend in zentraler Weise an einen bestimmten Affekt: das Mitleid. Überaus wirksame Kategorien wie Ehre und Tapferkeit werden von sentimentalen Denkweisen entweder nicht berücksichtigt, oder sie gelten als ausschließlich gefährlich. Deshalb erscheint der Soldat schlimmstenfalls als ein (potentielles) Mordwerkzeug oder bestenfalls selbst als ein (potentielles) Opfer der jeweils feindlichen Gewalt. Diese Perspektive ist extrem realitätsverzerrend, weil sie ein Zerrbild des Soldaten zeichnet. Sie ist auch an mindestens einem Punkt verlogen: Spätestens dort, wo Soldaten auch in Kriegssituationen zu ihrem Beruf und ihrer Tätigkeit stehen, sich selbst also weder als Verbrecher noch als reine Gewaltopfer begreifen wollen, schlägt das vorgeblich umfassende Mitgefühl mit allen vom Krieg betroffenen Menschen in offene Aggressivität um. Übrig bleibt dann noch das Mitleid mit den geschädigten Zivilbevölkerungen, und auch dieses wird da zur Fassade, wo es in Wirklichkeit nur einer Kriegspartei zugute kommt. Parteilichkeit ist an sich nicht problematisch, und sie ist in irgendeiner Form allen Emotionen inhärent, doch sie wird dann zum Problem, wenn sie sich hinter der Maske eines umgreifenden Mitgefühls verbirgt. Es ist zu betonen, daß sich Sentimentalität wesentlich von der Motivation jener Menschen unterscheidet, die in Kriegslagen ihre aktive und konkrete Hilfe auch Angehörigen eines feindlichen Kollektivs zur Verfügung stellen, obwohl sie hierzu nicht verpflichtet sind und durch ihr Handeln oft ein hohes Risiko eingehen. Hiervon gibt es in allen Kriegen viele beeindruckende Beispiele. Die Heroisierung ist nicht weniger realitätsfremd als die Sentimentalität und kommt ähnlich gefühlsbetont daher wie diese, doch ist sie gleichzeitig mit einem Pathos der Härte ver-
VORWORT
knüpft, das der sentimentalen Vorstellungswelt fremd ist. Sie setzt nicht auf Mitleid, sondern primär und einseitig auf die Grundemotionen des Ehrgefühls und der Tapferkeit, die darüber hinaus noch auf fragwürdige Weise verstanden werden. Kriegerische Taten und manchmal der Krieg überhaupt werden glorifiziert. In der Tradition der Ideen hat sich das heroisierende Schema oft mit bellizistischen Denkweisen verbunden, kann aber auch unabhängig davon vorkommen. Es ist in unseren Tagen weit weniger verbreitet als der Modus der Sentimentalität. Heroisierende Ansätze ignorieren meist die Tatsache, daß Furcht und Tapferkeit zusammengehören, daß nämlich Tapferkeit stets eine Überwindung von Furcht voraussetzt, und daß im Kampf zwischen beiden häufig die Furcht die Oberhand behält. Statt dessen ist in ihnen von Furcht gar nicht erst die Rede. Auch blenden sie weitgehend aus, daß Krieg von vielen Menschen überhaupt nicht als „Bewährungsprobe" empfunden wird und wurde, sondern ausschließlich als ein Raum des Schreckens und der Ohnmacht. Insbesondere das Leid der nicht kämpfenden Zivilbevölkerung ist für heroische Kriegsbilder nur schwer integrierbar, und hier liegt möglicherweise der Hauptgrund dafür, warum heroisierende Vorstellungen aus dem gegenwärtigen Denken über Krieg fast verschwunden sind. Moralisierende Haltungen orientieren sich, obwohl sie oft mit rationalen Argumentationsgebäuden einhergehen, ebenfalls an einem Grundaffekt, und zwar an dem des Gerechtigkeitsempfindens. Auf der Ebene der Ideen finden sie ihren Ausdruck häufig in bestimmten (nicht in allen) Theorien des gerechten Krieges. In moralisierenden Zusammenhängen werden die im Krieg möglichen Affekte ausdrücklich oder unausdrücklich nach dem Kriterium ihrer „Legitimität" hierarchisiert. So gilt etwa von zwei genau analogen kriegerischen Handlungen die eine als tapfer und ehrenvoll, die andere nicht, je nachdem ob sie von der „gerechten" Seite ausgeübt wird oder nicht. Sogar offen rechtswidrige Aktionen können mit einem Glorienschein versehen werden, sofern sie nur auf einer „gerechten" Grundmotivation beruhen, während selbst rechtskonforme Akte der „ungerechten" Partei als unmoralisch wahrgenommen werden. Das Leid, das im Kriege grundsätzlich über Menschen gebracht wird, erscheint im einen Fall als unvermeidliche Tragödie oder gar als verdientes Unglück, im anderen als Folge von Unrecht oder Verbrechen. Während der Heroismus zumindest im Prinzip auch das „Heldentum" des Gegners anerkennen kann und die Sentimentalität sich jedenfalls scheinbar in einem allumfassenden Mitleid ergeht, ist das Grundprinzip der Moralisierung ganz offen das Messen mit zweierlei Maß. Auf moralisierende Ansätze stößt man (leider) auch in neueren kriegstheoretischen Entwürfen. Wo sie in vollem Umfang in der politischen und militärischen Praxis wirksam werden können, ist ihre Folge immer eine Ausweitung und Intensivierung der kriegerischen Gewalt. Jede auch noch so kühle kriegs- oder militärtheoretische Einzeluntersuchung ist besser als eine kriegstheoretische Gesamtkonzeption, die sich von Sentimentalität, Heroisierung oder Moralisierung leiten läßt. Diese drei Grundhaltungen nehmen den Krieg überhaupt und insbesondere die in ihm vorkommenden menschlichen Emotionen durch einen Filter wahr, weil in den Köpfen und Gemütern ihrer jeweiligen Vertreter offenbar nur wenige Dinge gleichzeitig und gleichberechtigt Platz haben. Je mehr sie in einzelnen Affekten schwelgen, desto unberührbarer zeigen sie sich durch andere. Wo der Mythos der reinen Sachlichkeit gegen solche Tendenzen schützen kann, erfüllt er eine sinnvolle Funktion. Die hier vorliegende Arbeit versucht, einen Weg jenseits von pseudowissenschaftlicher Gleichgültigkeit und falschem Umgang mit Emotionalität zu gehen. Über den Verlauf dieses
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VORWORT
Weges und seine drei Stationen, die kriegstheoretischen Entwürfe von Piaton, Hobbes und Clausewitz, wird eine Lektüre dieses Buches Aufschluß geben. Diese Untersuchung ist eine überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Jahre 2001 von dem Fachbereich 8 - Geschichte/Philosophie - der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen wurde. Verschiedene Personen und Institutionen haben zur Entstehung des Buches beigetragen. Zunächst danke ich meinen Gutachtern Adolf Köhnken, Herfried Münkler, Rosemarie Rheinwald, Ludwig Siep und Hans Ulrich Thamer. Von ihrer fachlichen Kompetenz und fundierten Kritik konnte ich sehr profitieren. Wichtige Anregungen, Informationen, gute Ratschläge und andere Formen inhaltlicher Unterstützung kamen auch von Matthias Baltes, Frank Becker, Jürgen Frese, Waltraud Frese, Gottfried Greiner, Christian von Gyldenfeldt, Kai Haas, Thomas Heerich, Andreas Herberg-Rothe, Dieter Janssen, Oliver Kerst, Manfred Lauermann, Andreas Maase, Barbara Merker, Christian Millotat, Sibille Mischer, Matthias Paul, Michael Quante, Nico Strobach, Andreas Vieth, Manfred Walther, Marcus Willaschek und Silja Wönecky. Insbesondere Waltraud und Jürgen Frese haben den gesamten Arbeitsprozeß in stetiger und umfassender Hilfsbereitschaft begleitet und waren unersetzlich. Der Clausewitz-Gesellschaft e. V . danke ich nicht nur für einen großzügigen finanziellen Beitrag, der das Erscheinen dieses Buches überhaupt erst ermöglicht hat, sondern auch für die vielen intensiven Gespräche mit militärischen Experten, die ich auf Tagungen der Gesellschaft führen konnte. Ohne den regelmäßigen Gedankenaustausch mit Soldaten wäre vor allem der Clausewitz-Teil dieser Arbeit nicht das geworden, was er ist. Dankend zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das Internationale Clausewitz-Zentrum an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, das mir im Rahmen eines Workshops zum Thema „Clausewitz und die Zukunft von Krieg und Militär" die Gelegenheit gab, Teile meiner Forschungsergebnisse zur öffentlichen Diskussion zu stellen. Herfried Münkler ist für sein besonderes Interesse an meiner Arbeit zu danken und für die Bereitschaft, dieses Buch in die Reihe Politische Ideen des Akademie Verlages aufzunehmen. Julia Brauch danke ich für ihre umfangreiche und kompetente Lektorentätigkeit bei der Herstellung der endgültigen Fassung des Manuskriptes. Für eine besonders unverzichtbare Hilfeleistung möchte ich meiner Mutter und allen anderem Mitgliedern meiner Familie danken, die sich mit Kinderbetreuung befaßten, damit ich die Zeit zum Arbeiten finden konnte.
Ulrike Kleemeier
Münster, im September 2 0 0 2
1. Einleitung
In der Geschichte der Philosophie sind die sogenannten „großen" Philosophen, die sich nicht in irgendeiner Form zum Thema Krieg geäußert haben, in der Minderheit. Aristoteles ζ. B. machte sich intensive Gedanken über den Begriff der Tapferkeit und darüber, wie man eine Polis effektiv verteidigen kann. Über Piatons Ort in der Kriegstheorie werden wir in dieser Arbeit noch einiges erfahren. Cicero formulierte in seinen Schriften die römische Auffassung vom bellum iustum aus. Augustinus konnte in dieser Hinsicht an Cicero anknüpfen und Thomas von Aquin an Augustinus. 1 Betrachtungen zum Verhältnis von Krieg und Politik bilden das Herzstück von Machiavellis politischer Theorie. 2 Hobbes machte das Modell eines allumfassenden Krieges, nämlich des bellum omnium contra omnes, zum Ausgangspunkt seiner politischen Theorie. 3 Leibniz entwickelte noch eigenhändig einen Kreuzzugsplan. 4 Spinoza befaßte sich bis ins Detail mit der Frage der Bedeutung und Organisation von Streitkräften. 5 Für Rousseau war die Frage der Qualität von Heeren eine äußerst wichtige. 6 Kant war nicht nur der Autor des Traktats zum ewigen Frieden, sondern er vertrat auch bestimmte Ansichten über die Rolle und Funktion des Krieges in der Entwicklung des Menschengeschlechts, und ähnliches gilt für Hegel. 7 Fichte hat mehrfach und eindringlich zur Frage des Krieges Stellung genommen. 8 Marx und Engels, besonders letzterer, spürten dai sozioökonomischen Bedingungen von Kriegen nach, und Engels war ein dezidierter Verfechter der allgemeinen Wehrpflicht. 9
Zu Cicero, Augustinus und Aquinas siehe den knappen Abriß über die Entwicklung der bellum iustum-Lehre weiter unten in dieser Einleitung. Zu Machiavelli siehe das Kapitel „Clausewitz und Machiavelli" ab S . 2 5 0 . Vgl. auch Kleemeier: Krieg und Politik bei Machiavelli. Zu Hobbes' Kriegstheorie siehe den gesamten dritten Teil dieser Studie, hier vor allem die Kapitel „Der Kriegsbegriff' ab S. 129 sowie „Wege aus dem Naturzustand" ab S. 1 4 7 . Siehe hierzu Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 1 7 0 . 5
Vgl. Spinoza: Politischer Traktat, Kap.VI, § 1 0 , S . 7 5 ; Kap.VI, § 3 1 , S . 8 9 ; Kap.VII, § § 7 - 8 , S. 103; Kap. VII, § 1 2 , S. 107; Kap.VII, § 1 7 , S. 113; Kap. VII, § § 2 2 - 2 3 , S . 1 1 7 f . ; Kap.VII, § 2 8 , S . 1 2 7 ; K a p . V i l i , § 9 , S . 1 4 3 f . ; K a p . V i l i , § 3 1 , S . 1 6 7 f . ; Kap.IX, §7, S . 1 9 7 . Vgl. dazu Rousseau: V o m Gesellschaftsvertrag, 3. Buch, 15. Kap., S. 102; 4. Buch, 4. Kap., S. 1 2 5 f . ; 4. Buch, 8. Kap., S . 1 4 8 f f . Zu Kant und Hegel im Vergleich siehe Siep: Kant and Hegel on Peace and International Law. Zu Fichte vgl. das Kapitel „Die politische Tendenz der Bekenntnisdenkschrift" ab S . 2 8 9 . Zu Fichtes Philosophie des Krieges siehe auch Münkler: „Wer nicht sterben kann, wer will denn den zwingen". Zu Engels kriegs- und militärgeschichtlichen Auffassungen siehe Engels: Ausgewählte militärische Schriften.
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EINLEITUNG
Es gibt also eine lange philosophische Tradition des Nachdenkens über Krieg, die allerdings in ganz unterschiedliche Stränge und Standpunkte ausdifferenziert werden muß. An diese Traditionslinie will die vorliegende Arbeit anknüpfen. Es bietet sich an, gleich zu Beginn ein Raster von Fragen und Problemen vorzustellen, aus deren Perspektive man sich auch philosophisch dem Thema Krieg nähern kann, und die in dieser Studie in der ein oder anderen Weise eine Rolle spielen werden. Genannt seien die folgenden, zu einem großen Teil eng ineinander greifenden Problemfelder: -
Der Begriff des Krieges Kriegsursachen Kriegsprävention Krieg und Gerechtigkeit/Krieg und Recht: Kriegslegitimationen (ius ad bellum) innere Kriegsbegrenzung (ius in bello) Krieg und Politik Bürgerkrieg Kriegerische Tugenden bzw. Kompetenzen
-
-
sowie
In einem gewissen Sinne läßt sich wohl kein Thema dieser Liste sinnvoll erörtern, ohne dabei wesentlich den Bezug auf Frieden mitzudenken. Es scheint einen breiten Konsens darüber zu geben, daß Kriege überhaupt nur deshalb geführt werden, weil alle Parteien einen Zustand des Friedens herstellen oder wiederherstellen wollen, wie immer auch dieser konzipiert sein mag. 10 Um einen augustinischen Gedanken aufzugreifen: Jedermann erstrebt durch Kriegführung Frieden zumindest im Sinne eines Zustandes, der seinen eigenen Wünschen entspricht, möge es sich dabei auch um einen Frieden handeln, der anderen als höchst „ungerecht" erscheint." Aus einer solchen Perspektive kann es sich auch beim theoretischen Gegenstand Krieg nur um einen von abgeleitetem Interesse handeln. Wer über Krieg forscht, muß sich darüber im klaren sein, daß er sich mit etwas befaßt, was längerfristig nur Mittel, nicht Zweck menschlichen Strebens und Handelns sein kann. 12 Dieses schließt nicht aus, daß man
Bei näherer Hinsicht sind in diesen Konsens auch bellizistische Autoren und Positionen eingeschlossen. D i e Wertschätzung, die diese dem Krieg entgegenbringen, beruht nämlich im Kern darauf, daß sie ihn als eine Ausnahmesituation ansehen, die in der Lage ist, den Menschen über den „banalen Alltag" hinauszuführen. Eben dieses bedeutet aber, daß auch sie den Frieden als den Normalzustand wünschen, könnte doch der Krieg andernfalls niemals die an ihn gerichteten Entgrenzungserwartungen erfüllen. 1
'
12
Vgl. Augustinus: V o m Gottesstaat, B d . 2 , 19.Buch, Kap. 1 1 - 1 4 , S . 5 4 6 f f „ bes. S. 5 4 7 ff. Es sollte an dieser Stelle allerdings erwähnt werden, daß nicht alle Autoren die Einschätzung teilen, daß Krieg begrifflich durch die Zweck/Mittel-Relation zu fassen ist. S o behauptet der Militärhistoriker van Creveld etwa, daß der Krieg generell einem Spiel vergleichbar oder s o gar mit einem solchen zu identifizieren sei, also mit einer Tätigkeit, die man um ihrer s e l b s t willen verrichtet. Siehe van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S . 2 5 2 . Für van Creveld ist e s eine „Tatsache, daß der Krieg höchsten Genuß bereiten kann" ( S . 2 4 1 ) . Seiner Meinung nach übt die vom Kampf ausgehende Gefahr eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Kriegführenden aus, und je größer diese sei, desto besser (vgl. S . 2 4 3 ) . Van Creveld erklärt die Existenz des Krieges buchstäblich daraus, daß Männer eine tiefe Freude am Kampf empfinden (vgl. S.322). Eine Position wie diejenige van Crevelds sieht sich mit gravierenden Schwierigkeiten konfrontiert. Beispielsweise kann man auf ihrer Grundlage kaum erklären, warum in
15
sich intensiv dem Instrument des Krieges und all seinen Facetten zuwendet. Im Gegenteil: gerade wer an Frieden interessiert ist, wird dem gewaltsamen Konflikt nicht seine Aufmerksamkeit versagen können, denn dieser ist das, was sich hartnäckig zwischen Wunsch und Realität schiebt. Auch wird solche Aufmerksamkeit nicht dauerhaft solche Formen annehmen können, die Max Weber mittels des Ausdrucks „Gesinnungsethik" klassifizierte, 13 also etwa die Gestalt von Protest und Abscheubekundung. Solche Verhaltensweisen zerstören jene Distanz, die dringend erforderlich ist, um sich einem Gegenstand gedanklich zu nähern und sich über ihn Wissen und Kenntnisse anzueignen. Das Denken über den Krieg ist notwendig, auch und besonders für diejenigen, die ihn möglichst verhindern oder im Falle seines Eintretens wenigstens so schnell wie möglich beilegen wollen. Auf der Grundlage dieser Bemerkungen könnte es zunächst scheinen, als seien alle der obigen Problemstellungen ebensogut unter Rubriken wie „Friedenstheorie" oder „Friedensforschung" abzuhandeln. Tatsächlich sind die Grenzen zwischen einer Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg und demjenigen des Friedens äußerst fließend. Dennoch soll an dieser Stelle bestimmten Erwartungen vorgebeugt werden, die bei der weiteren Lektüre dieser Arbeit ohnehin enttäuscht würden. Allen erwähnten Fragestellungen ist gemeinsam, daß sie mit Bezug auf den Fall des (gewaltsamen) Konfliktes formuliert sind. Ausgangspunkt ist der problematische Fall, nicht umgekehrt der als Norm oder Ideal erwünschte Zustand. Dieser Zugriff ist bewußt gewählt und hat natürlich Konsequenzen für die Gestaltung der Untersuchung. So wird es an einigen Stellen ausführlich um den Begriff des Krieges gehen, aber nur sekundär um denjenigen des Friedens. Wer an einem positiven Begriff des Friedens interessiert ist, unter Frieden also mehr und anderes verstehen will als die Abwesenheit von Krieg, wird hier zwar Denkansätze finden, doch im großen und ganzen liegt der Schwerpunkt auf der Klärung des Kriegsbegriffs bzw. auf Versuchen solcher Klärung. Ähnlich verhält es sich mit den Begriffen Feindschaft und Freundschaft. Häufiger werden verschiedene Konzepte und Grade von Feindschaft im Zentrum des Interesses stehen. Wer hieraus Schlußfolgerungen über die andere Seite derselben Münze, über Freundschaft, ziehen will, wird vielleicht nicht leer ausgehen, doch liegt dort eben nicht der Akzent der Überlegungen. Umgreifende theoretische Friedensmodelle etwa im Sinne einer Weltfriedensordnung werden in dieser Schrift nicht systematisch zur Diskussion stehen oder gar eigenständig entwickelt. In einer anderen Hinsicht geht die Arbeit sicher über das übliche Spektrum von Friedenstheorien hinaus. Sehr ernst werden wir nämlich die Herausforderungen nehmen, mit denen Kriegs- und Kampfsituationen die unmittelbar an ihnen beteiligten Menschen konfrontieren. Damit steht die Frage nach den Tugenden und Kompetenzen des Waffenträgers zu nicht unwesentlichen Teilen im
bewaffneten Konflikten immer wieder versucht wird, die Soldaten vor allzu gefährlichen Einsätzen zu schützen. Wäre der Kampf ein inneres Bedürfnis, so müßte die größtmögliche Gefahr geradezu gesucht werden. Genau dies wollen, zumindest in westlichen Zivilisationen, o f t weder Soldaten noch Politiker, und man zieht statt dessen den begrenzten Einsatz vor. Unverständlich werden auch Kriege zwischen extrem ungleichen Gegnern. Würde der Krieg generell als ein Spiel gedacht, so müßte jede Partei ein Interesse an einem ungefähr gleich starken Gegner haben, doch dies ist offenkundig nicht immer der Fall. Ebenso unverständlich wird die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen. Tatsächlich werden diese deshalb e n t w i c k e l t , weil man durch Abschreckung den tatsächlichen Kampf verhindern will. 13
Siehe Weber: Politik als Beruf, S . 3 2 8 f f .
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EINLEITUNG
Blickpunkt der A u f m e r k s a m k e i t . Es handelt sich hier u m einen Gegenstand, o h n e dessen Berücksichtigung eine Untersuchung z u m T h e m a Krieg schlicht unvollständig wäre. Für eine d e m A n a l y s e o b j e k t Krieg g e w i d m e t e Studie ist die Orientierung an den soeben skizzierten Schwerpunkten vermutlich zwingend. Eine Arbeit, welche die Akzente umkehren wollte, müßte in der Tat anders vorgehen und sich einer anderen Autorenauswahl bedienen als ich. D e n n o c h ist zu betonen, daß es sich bei Krieg und Frieden und den j e w e i l s damit assoziierten Begriffen u m ein Beziehungssystem handelt, innerhalb dessen man keine A u s s a g e über ein einzelnes Beziehungsglied m a c h e n kann, die nicht K o n s e q u e n z e n f ü r das g e s a m t e Netz hätte. Ich kehre nun mit einigen einführenden Bemerkungen zu der obigen T h e m e n l i s t e zurück. Die F r a g e nach d e m Begriff des Krieges oder auch die nach der Bedeutung des Ausdrucks „Krieg" wurde und wird in der wissenschaftlichen und theoretischen Auseinandersetzung äußerst unterschiedlich beantwortet. Einen ansatzweisen Überblick über die Vielfalt m ö g e n die folgenden Bestimmungsversuche geben: a)
Krieg ist ein Rechtszustand, in dem sich miteinander (gewaltsam) kämpfende Personen befinden. (Grotius) 1 4
b)
Krieg ist ein zwischenstaatlicher Zustand, in d e m die Geltung des normalen Völkerrechts suspendiert ist. (Berber)
c)
K r i e g ist ein A k t der G e w a l t , u m d e m G e g n e r unseren W i l l e n a u f z u z w i n g e n . (Clausewitz)' 6
d)
K r i e g ist ein Z e i t r a u m d e r w e c h s e l s e i t i g b e k a n n t e n B e r e i t s c h a f t zu
(gewaltsamen)
Kampfhandlungen. (Hobbes) e)
Krieg ist eine menschliche F o r m der Zwischengruppen-Aggression u m Land und Naturgüter. (Eibl-Eibesfeldt) 1 8
Begriffsgeschichtlich gesehen ist die wissenschaftlich dominante Bedeutung von „Krieg" diejenige, die sich in (a) niederschlägt. Der semantische Gehalt von „ K r i e g " entspricht hier demjenigen des lateinischen A u s d r u c k s „ b e l l u m " , f ü r den eben die Z u o r d n u n g von Krieg und Recht spezifisch ist, die den Krieg ganz allgemein als einen Rechtsstreit erscheinen läßt. In dieser Tradition steht auch der Völkerrechtler Friedrich Berber, der die unter (b) aufgeführte Festlegung im Jahre 1962 formuliert hat. Zu dem Kriegsbegriff von Grotius gibt es jedoch (mindestens) zwei bedeutende Unterschiede: Erstens erscheint K r i e g als ein Z u s t a n d , der an Staaten g e b u n d e n ist. Z w e i t e n s k o m m t eine ausdrückliche B e z u g n a h m e auf G e w a l t nicht vor. D i e Clausewitzsche B e s t i m m u n g unter (c), die wir später noch sehr viel genauer analysieren und vor allem ergänzen werden, sieht das A u s ü b e n von Gewalt im Sinne von Kampf offenbar als wesentlich f ü r den Krieg an. A u ß e r d e m k o m m t der Begriff der Handlung, des Aktes, vor, und derjenige des Willens. Dagegen fehlen rechtliche Konnotationen und interessanterweise auch Bezüge auf die Organisationsform des Staates. In der unter (d) wiedergegebenen
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16 17 18
Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Erstes Buch, 1. Kap., §11, S.47. Siehe Berber: Lehrbuch des Völkerrechts, Zweiter Band, S.3. Vgl. Clausewitz: Vom Kriege I, 1, S. 191 f. Vgl. Hobbes: Leviathan. The English Works, Vol. III, Ch. 13, S. 112f. Vgl. Eibl-Eibesfeldt: Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung, S . 2 2 5 .
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Erläuterung von Hobbes, die wir ebenfalls noch näher untersuchen werden, wird das Vorliegen von Krieg nicht an faktische Gewaltausübung gebunden, wohl aber an die Existenz einer permanenten wechselseitigen Bedrohung mit Gewalt. Außerdem spielt hier der Begriff der Ausdehnung in der Zeit eine gewisse Rolle. Die Erklärung (e) von Eibl-Eibesfeldt stammt aus dem Bereich der Verhaltensforschung. Hier wird statt des Ausdrucks „Gewalt" der noch viel breitere Terminus „Aggression" gebraucht; außerdem sind in diesem Kriegsbegriff sehr spezifische Vorstellungen darüber enthalten, worum es in Kriegen gehen kann. Diesen unterschiedlichen Begriffserklärungen muß hinzugefügt werden, daß es Konnotationen von „Krieg" gibt, die sich einfach nicht in die Form einer „Definition" bringen lassen, sich aber sehr wohl im Reden über Krieg niederschlagen. So steht neben dem juridischen Inhalt von „bellum" auch die durch den Ausdruck „werre" überlieferte Bedeutung,19 der seinerseits von dem althochdeutschen „werran" abstammt. Dieses Wort „werre", aus dessen latinisierter Form „guerra" sich etwa das französische „guerre" und das englische „war" ableiten, hat wesentlich auch den Sinn von Verwirrung bzw. Unordnung. Dieser Bedeutungsgehalt differiert vollkommen von dem durch „bellum" vermittelten, doch wo immer wir uns mit Zeugnissen von direkt oder indirekt durch Krieg betroffenen Menschen befassen, stoßen wir auf die in „werre" enthaltene Bedeutungsperspektive, auf die Schilderung von gänzlich unüberschaubaren Situationen und den hierdurch in Menschen ausgelösten Emotionen, die häufig mit Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins identisch sind. Welche Bedeutungen der Ausdruck „Krieg" annimmt, hängt offensichtlich sehr stark von verschiedenen Faktoren ab, so etwa von der Profession, dem Fachgebiet und dem Grad sowie der Qualität der persönlichen Betroffenheit der Personen, die sich theoretisch oder praktisch mit Krieg auseinandersetzen. Eines jedoch läßt sich aus den meisten der oben angeführten Bestimmungsversuchen nicht eliminieren: der Bezug auf physische Gewalt in Form des Kampfes. Dieser ist deutlich bei Clausewitz, fehlt aber auch bei Hobbes nicht, obwohl dieser die Bedrohung mit gewaltsamem Kampf akzentuiert, wodurch eben die genannte Bezugnahme wesentlich erhalten bleibt. Grotius legt zwar den Schwerpunkt auf den Zustand der sich im gewaltsamen Rechtsstreit befindenden Personen, trennt diesen jedoch nicht von Gewalt ab. Eibl-Eibesfeldt operiert zwar mit dem Aggressionsbegriff, aber die extreme Form von Aggression zwischen Gruppen ist ein wechselseitiger (physischer) Gewaltakt, weshalb auch dort die Gewalt und der Kampf als Orientierungspunkte erhalten bleiben. Einzig die moderne völkerrechtliche Festlegung des Kriegsbegriffs durch Berber verzichtet auf eine gewaltbezogene Terminologie. Dieser Verzicht ist natürlich bewußt geleistet worden. Ein (Staaten-)Krieg im völkerrechtlichen Sinn liegt dann vor, wenn folgende Situation gegeben ist: Es gibt eine formelle, einseitige, empfangsbedürftige Kriegserklärung eines Staates an einen anderen Staat, die bedingt oder unbedingt sein kann, oder aber es werden Feindseligkeiten eröffnet, die nach dem Willen mindestens einer Seite des Konflikts nach Kriegsrecht ausgetragen werden sollen. 20 Nach dieser juristischen Bestimmung kann es durchaus Sachlagen geben, die den Kriegsbegriff erfüllen, aber durch die völlige Abwesenheit von Gewaltakten gekennzeichnet
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Siehe hierzu Janssen: Artikel „Krieg", S . 5 6 7 . Vgl. Berber: Lehrbuch des Völkerrechts, S . 8 9 f .
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EINLEITUNG
sind,21 umgekehrt jedoch auch Konflikte, die sich durch ein hohes Maß an Gewaltanwendung auszeichnen und dennoch nicht mittels des Terminus „Krieg" klassifiziert werden können. 22 Hiermit hängt es zusammen, daß in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg der Begriff des Krieges im Völkerrecht weitgehend durch den Begriff des internationalen bewaffneten Konfliktes verdrängt worden ist.23 Das Motiv hierfür war u. a. das Bestreben, die Anwendung der „kriegsrechtlichen" Völkerrechtsvorschriften auch auf solche gewaltsamen zwischenstaatlichen Konflikte zu gewährleisten, die nicht durch die Termini „Krieg" oder „Kriegszustand" gefaßt werden können. Ein internationaler bewaffneter Konflikt liegt dann vor, wenn eine staatliche Konfliktpartei Waffengewalt gegen einen völkerrechtlich geschützten Bereich einer anderen staatlichen Konfliktpartei einsetzt. 24 An dieser juristischen Begrifflichkeit ist in unserem Rahmen hauptsächlich der Umstand verblüffend, daß es auf ihrer Grundlage gewaltfreie und kampflose Kriege im Sinne von Kriegszuständen geben kann. Bei näherer Hinsicht stellt sich jedoch heraus, daß auch hier die gewaltsame Auseinandersetzung als letzter Bezugspunkt erhalten bleibt. So beruht selbst eine niemals durch faktische Gewaltakte eingelöste Kriegserklärung noch auf der Drohung mit Gewalt, d. h. mit dem Einsatz der bewaffneten Macht, so weit entfernt und unrealistisch die Drohung auch sein mag. In diesem Punkt unterscheidet sich der unter b) vorgestellte völkerrechtliche Kriegsbegriff gar nicht von etwa dem Hobbesschen Kriegsverständnis, obwohl Berber wohlweislich die Verwendung von Ausdrücken wie „Gewalt" oder „Kampf' unterläßt. Der Begriff des bewaffneten Konfliktes enthält dann endgültig die tatsächliche Ausübung von Gewalt als Merkmal. Wir werden und können uns der modernen völkerrechtlichen Terminologie im Zusammenhang dieser Arbeit nicht anpassen und werden auch dort von Krieg reden, wo es um gedachte oder faktische Auseinandersetzungen geht, die heute vom juristischen Standpunkt aus wohl als bewaffnete Konflikte klassifiziert würden. Der formal verengte Kriegsbegriff ist für unsere Zwecke zu beschränkt, weil er weite Teile der ideengeschichtlich, aber auch alltagsweltlich überlieferten Konnotationen von „Krieg" ausspart. Bisher haben wir anhand unserer Auswahl von Kriegsbegriffen herausgefunden, daß es einen Verweisungszusammenhang zwischen Krieg und Gewalt im Sinne von Kampf gibt. In der Tat wird Kampf m allen mir bekannten Konzeptionen als ein wesentliches Merkmal des Kriegsbegriffs gedacht. Mit dem Merkmal der Gewalt verhält es sich nicht ganz so offenkundig. Unter physischer Gewalt25 verstehen wir heute in der Regel, daß einem Menschen von
So erklärten in beiden Weltkriegen einige südamerikanische Staaten dem Deutschen Reich den Krieg, doch hatte dies keinen einzigen militärischen Gewaltakt zur Folge. Siehe dazu Berber, ebd., S. 3 Fn. Hierzu zählen innerstaatliche gewaltsame Auseinandersetzungen, aber auch viele zwischenstaatliche Konflikte, darunter ζ. B. die 1937 zwischen China und Japan entstandenen Feindseligkeiten. Vgl. hierzu Berber, ebd., S. 3 Fn. Zum Begriff und zum Recht des internationalen bewaffneten Konfliktes siehe Ipsen: Völkerrecht, S. 1062 ff. Als „international" werden durch das gegenwärtige Völkerrecht jedoch auch Befreiungskriege eingestuft, also solche, die von einer Seite in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts stattfinden, d. h. sich gegen Kolonialherrschaft, Fremdbesetzung oder rassistisches Regimes wenden. Siehe hierzu Ipsen: Völkerrecht, S. 1067 f. Wenn hier und im folgenden von Gewalt die Rede ist, dann ist damit grundsätzlich die physische Gewalt gemeint. Dies schließt natürlich keineswegs aus, daß auch in mittels physischer
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einem anderen mittels physischer Kraft ein fremder Wille aufgezwungen wird, der sich darüber hinaus auf Ziele richtet, die für jenen Menschen existentiell schädigend sind. Gewalthandlungen sind also solche, die Zwang und Schädigung einschließen. Nun kann man argumentieren, daß Krieg zwar Kampf in Form des Austausche physischer Kraft sei, aber eben nicht Gewalt in dem erläuterten Sinn, da die Gegner einander aus freier Übereinkunft bekämpfen, wodurch die Elemente des Zwangs und der Schädigung verschwinden. Krieg wäre somit, obwohl in ihm offenkundig getötet und verwundet wird, eine Kampfaktion, aber keine Gewalthandlung. Tatsächlich wird eine solche Position von van Creveld vertreten.26 Die ihr zugrundeliegende Argumentation ist jedoch ein abstrakter Sophismus. Ein Soldat, der im Kampfeinsatz (vielleicht tödlich) verwundet wird, erleidet hierdurch Zwang und umfassende Schädigung, und er empfindet dieses auch so. Er hat sich dazu verpflichtet, Verwundung oder Tötung notfalls hinzunehmen, aber er hat sich nicht dazu verpflichtet, diese „freiwillig" hinzunehmen. Die erstere Verpflichtung ist ein Teil der soldatischen Pflicht zur Tapferkeit. Die zweite Verpflichtung ist offenkundig absurd. Sie würde in der Tat Tötungsund Verwundungshandlungen im bewaffneten Konflikt ihren Gewaltcharakter nehmen, aber sie würde gleichzeitig auch die soldatische Tapferkeit in nichts auflösen, denn diese besteht gerade nicht darin, irgendetwas „freiwillig" zu erleiden, sondern sie besteht unter anderem und wesentlich in der Bereitschaft, Dinge zu opfern, die Menschen niemals „freiwillig" opfern. Es handelt sich um eine Bereitschaft, unter bestimmten extremen Umständen, von denen jeder hofft, daß sie nicht eintreten, Gewalt zu ertragen. Sofern diese Bereitschaft nicht erzwungen wurde, wie es in der Geschichte oft geschehen ist, beruht sie auf der Auffassung, daß es schlimmere Dinge gibt als solche Opfer. Philosophisch ist es eine offene Frage, ob es aus der Sicht des einzelnen Individuums tatsächlich Schlimmeres geben kann. Menschen, die im Krieg kämpfen, sind jedenfalls in ihrer großen Mehrheit gewöhnliche Menschen in dem Sinne, daß sie Schmerz und Tod und besonders den gewaltsamen Tod fürchten. Tapferkeit gibt es überhaupt nur, weil diese existentielle Furcht existiert. Tapferkeit ist immer Bewährung angesichts des Furchtbaren. Es ist erst die spezifische Verbindung von Krieg und Gewalt, die in der Lage ist, diese existentielle Dimension des Krieges einzufangen. Richtig ist allerdings, daß es manche Kriegsauffassungen gibt, die es als sinnvoll erscheinen lassen, in gewisser Weise zwischen Krieg und Gewalt zu trennen. Dieses gilt ζ. B. für Piatons Kriegsauffassung, die wir noch kennenlemen werden, trifft aber auch hier nur partiell zu und hängt mir sehr spezifischen Prämissen der platonischen Philosophie zusammen. In aller Regel haben Menschen in der europäischen Ideengeschichte stets zum Ausdruck gebracht, daß Menschen in Kriegssituationen Furchtbares tun und Furchtbares erleiden, und zwar auch dort,
Gewalt ausgetragenen Konflikten seelische Faktoren eine erhebliche und vielleicht sogar die entscheidende Rolle spielen. Vgl. van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S . 2 7 9 . Hier heißt es: „Sofern Krieg vor allem andern aus dem Kämpfen besteht - mit anderen Worten, einem freiwilligen Umgang mit Gefahr - , ist er nicht die Fortsetzung der Politik, sondern des Sports." Der Autor beruft sich zur Illustration seines Standpunktes, daß Krieg und Gewalt verschiedene Phänomene seien, auch auf die griechische Mythologie, die seiner Meinung nach in Pallas Athene und Ares zwei Göttergestalten kannte, von denen die eine für den „eigentlichen" Krieg, die andere aber für Gewalt stehe (vgl. van Creveld, ebd., S . 1 4 3 ) . Bezeichnenderweise hält van Creveld die Unterscheidung von Krieg und Gewalt dann selbst nicht konsequent durch. So liest man auf S. 179: „Im Krieg ist es das Ziel der Strategie, Gewalt mit Gewalt zu überwinden (...)".
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wo ein Wort fehlte, das der Semantik unseres Ausdrucks „Gewalt" genau entsprach. Dem widerspricht es auch nicht, daß das Wort „Krieg" und verwandte Wörter aus anderen Sprachen manchmal zur Klassifizierung solcher Konflikte gebraucht wurden und werden, in denen es nicht einmal zu physischem Kraftaufwand, geschweige denn zur Gewaltanwendung kommt. (Piaton ζ. B. redet sogar von einem innerseelischen Krieg!). Abgesehen davon, daß wir uns diesen Verwendungsweisen hier nicht anschließen werden, ist zu beachten, daß es sich dabei um übertragene Redeweisen handelt, in denen der Kriegsbegriff eine metaphernähnliche Rolle spielt. Wir werden also von einem Minimalbegriff des Krieges als gewaltsamem Kampf ausgehen. Hierauf läßt sich aufbauen. Ein umfassend adäquater Kriegsbegriff sollte meiner Ansicht nach mindestens die folgenden Kriterien erfüllen: a) b) c)
Er sollte so beschaffen sein, daß man mit seiner Hilfe Krieg von Frieden abgrenzen kann; er sollte so weit sein, daß man unter ihn auch bestimmte gewaltsame Konflikte subsumieren kann, die häufig als Bürgerkriege klassifiziert werden; er sollte dagegen so eng sein, daß man durch ihn das Phänomen des Krieges von in mancher Hinsicht verwandten Erscheinungen unterscheiden kann, ζ. B. von gewissen einseitigen kollektiven Gewaltaktionen einerseits, von bestimmten sportlichen Wettkämpfen andererseits.
Gegen jeden dieser Kriterienvorschläge lassen sich zunächst Einwände erheben. So kann man etwa in bezug auf a) argumentieren, daß es in der Realität oft keine klaren Grenzlinien zwischen Krieg und Frieden gibt, so daß jede definitorische Abgrenzung künstlich erscheinen muß. Dieser Einwand beruht jedoch auf einer gewissen Zirkularität. Die Feststellung, daß in der Realität die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen können, setzt offenkundig voraus, daß man sich vorher einen klaren Begriff von Krieg und Frieden gemacht hat, denn sonst könnte man nicht wissen, daß sich Grenzen verwischen. Generell läßt sich aus dem Umstand, daß in der Wirklichkeit häufig Mischformen zwischen verschiedenen Phänomenen vorkommen, kein plausibles Argument gegen möglichst präzise Abgrenzungen auf der begrifflichen Ebene konstruieren. Im Gegenteil: begriffliche Klarheit ist die Grundlage, auf der wir Mischtypen als solche überhaupt wahrnehmen können. In unserem Fall, dem Kriegsbegriff, wird sich eine genaue Eingrenzung nur über das Merkmal der Anwendung (kollektiver und organisierter) Gewalt in Form des Kampfes herstellen lassen. Mancher wird auch gegen (c) einwenden, daß sich hier in der Wirklichkeit ebenfalls keine klaren Unterscheidungen ziehen lassen. Gewiß ist es wahr, daß es in vielen Prozessen, die wir mittels des Ausdrucks „Krieg" klassifizieren, zu äußerst einseitigen Gewaltaktionen kommt, und je schwächer eine Seite ist, desto mehr nähert sich der ganze Prozeß einer einseitigen Handlung an. Dennoch gehören Kampfund Streit zu den klassischen Konnotationen des Kriegsbegriffs. Zum Kämpfen und Streiten bedarf es jedoch mindestens zweier Parteien, weshalb denn Krieg auch immer (ausdrücklich oder unausdrücklich) als eine wechselseitige Handlung begriffen worden ist, wie sehr auch diese Wechselseitigkeit im Verlaufe eines Krieges abhanden kommt oder abhanden zu kommen scheint. Diesen Aspekt der Wechselwirkung gilt es bei jedem Bestimmungsversuch des Kriegsbegriffs zu bewahren. Auf der anderen Seite ist es sicher auch richtig, daß jene Ereignisse, die als Kriege aufgefaßt worden
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sind, Wettkampf- und Spielelemente aufweisen, wie sie auch in bestimmten Bereichen des Sports üblich sind. Wer deshalb, wie van Creveld, meint, Krieg sei in seiner Gesamtheit nicht genau von Sport und Spiel zu unterscheiden, täuscht sich jedoch. Er blendet Perspektiven aus, die in unserem Denken und Reden über Krieg enthalten sind. Zu diesen gehört zunächst die unauflösliche Verknüpfung von Krieg mit Gewalt, aber auch der Umstand, daß der im Krieg ausgeübten Gewalt eine übergeordnete Willensabsicht zugrunde liegt, die über den Sieg hinaus reicht und durch diesen erst durchgesetzt werden soll, eine Zweck-Mittel-Relation, die so etwa im Sport nicht zu finden ist. Ganz bestimmt blendet diese Denkweise schließlich die Sicht derjenigen aus, die nicht unmittelbar Krieg führen, aber dennoch nicht weniger seine Opfer sind, denn diese erleben in aller Regel nicht dessen Spieldimension, sondern ausschließlich dessen blutig ernste Seite. Diese Menschen sind nicht „Spieler", weil sie nicht kämpfen, aber sie sind auch nicht „Zuschauer", weil und insofern sie betroffen sind. Tatsächlich versagt im Hinblick auf sie die Analogie zwischen Krieg und Spiel vollständig. Dennoch ist nicht einzusehen, warum diese Personengruppen nicht Gegenstand kriegstheoretischer Überlegungen sein sollten. Gegen b) wird mancher einwenden, daß jene Konflikte, die wir als „Bürgerkriege" bezeichnen, gerade aus dem eigentlichen Kriegsbegriff ausgeschlossen werden sollten. Er könnte diese Auffassung ζ. B. aus einem juridischen Standpunkt herleiten, daraus, daß Krieg im Sinne von bellum ein Rechtsstreit ist, wogegen in Bürgerkriegen das Recht im Sinne von positiv geltenden Gesetzen meistens gerade aufgelöst ist. Diese Position kann schon deshalb nicht allgemein einleuchten, weil sie von einem rein legalistischen Rechtsbegriff ausgeht und jede Berufung auf so etwas wie Naturrecht ausschließt. Sie kann aber auch deswegen nicht überzeugen, weil der juridische Blick auf Krieg ohnehin ein eingeschränkter ist. So ist beispielsweise jene Ebene von Krieg, die traditionell durch den Ausdruck „werra" vermittelt wird, gerade in den sog. Bürgerkriegen höchst präsent. Wenn man an einem Kriegsbegriff interessiert ist, der möglichst viel von der Tradition des Denkens über Krieg aufbewahrt, dann sollte man diesen so konstruieren, daß gewaltsame Auseinandersetzungen der erwähnten Art unter ihn subsumierbar sind. Es bleibt dennoch festzuhalten, daß die Frage, wie ich auf genau die oben vorgestellten Kriterien komme, begründet ist. Vor allem handelt es sich im Kern um eine philosophische Frage, denn sie führt uns mitten in das Problem hinein, wie Begriffe überhaupt gebildet werden bzw. gebildet werden sollten. In bezug auf das Beispiel des Kriegsbegriffs sollen zu diesem Problemkomplex einige Gesichtspunkte skizziert werden. Wir haben grundsätzlich die Möglichkeit, die Bedeutung eines Ausdrucks mittels einer Bedeutungsfestsetzung, klassischerweise „Nominaldefinition" genannt, zu bestimmen. 27 Solche Festsetzungen führen einfach für einen bestimmten Terminus einen alternativen Ausdruck ein. Sie sind im Prinzip völlig willkürlich. Nach dem Festsetzungsverfahren könnten wir den Ausdruck „Krieg" dadurch definieren, daß wir irgendein beliebiges Wort als Definiens für ihn einführen. Offenkundig ist diese Methode für einen so traditionsbelasteten Term wie „Krieg" absurd. Definitionen können auch die Form von empirischen Analysen annehmen. 28 Solche Analysen beziehen sich nicht auf sprachliche Ausdrücke, sondern auf empirische Phänomene und
Siehe hierzu Hempel: Grundzüge der Begriffsbildung in S. 1 4 f f . 28
Vgl. hierzu Hempel, ebd., S . 1 8 f .
der empirischen
Wissenschaft,
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EINLEITUNG
bestimmen notwendige und hinreichende Bedingungen für die Realisierung des betreffenden Phänomens. Im Falle des Ausdrucks „Krieg" ist jedoch das Mißliche, daß es keinen Gegenstand und keine Eigenschaft gibt, der oder die unmittelbar durch empirische Analyse faßbar wäre. Mit anderen Worten: „Krieg" ist kein Beobachtungsterminus, sondern vielmehr ist das, was als Krieg klassifiziert wird, in hohem Maße von sprachlich-semantischen Zusammenhängen abhängig. Es gibt keinen Sachverhalt Krieg jenseits solcher Kontexte. Eine dritte Definitionsoption ist diejenige der Bedeutungsanalyse.29 Analysen dieser Art sollen die in einer Sprache übliche Bedeutung eines Ausdrucks aufdecken. Der Versuch einer Anwendung dieser Methode auf den Ausdruck „Krieg" wird zu sehr vielen verschiedenen miteinander nicht unbedingt kohärenten Bedeutungsanalysen führen, was unbefriedigend ist. Ein viertes Verfahren ist von Carnap unter dem Begriff der Explikation erfaßt worden. 30 Explikationen haben die Aufgabe, Ausdrücke zu präzisieren, deren Bedeutung in Umgangssprachen und auch in Wissenschaftssprachen mehr oder weniger vage ist. Genauer gesagt ist ihre Funktion eine doppelte: sie sollen einerseits eine Rekonstruktion eines großen Teils dessen erlauben, was normalerweise mit den zu explizierenden Termini ausgedrückt wird, aber auf eine präzise und konsistente Weise. Explikationen sind mehr als reine deskriptive Analysen; sie leisten etwas Neues, indem sie für einen Ausdruck eine klare und einheitliche Bedeutung vorschlagen, die ihr bisheriger Gebrauch vermissen ließ. Dennoch orientieren sie sich an üblichen Verwendungen des betreffenden Terminus. Explikationen sollen, so kann man den Grundgedanken dieses Verfahrens zusammenfassen, einen idealisierten Gebrauch eines Ausdrucks ermöglichen, gleichzeitig aber möglichst viel von dessen gängigem Gebrauch aufbewahren. Hinsichtlich des Terminus „Krieg" ist die Anwendung einer Explikationsmethode, oft auch als Verfahren „rationaler Rekonstruktion" bezeichnet, die einzige, die ich mir als fruchtbar vorstellen kann. Dabei versteht es sich von selbst, daß die Explikation solcher Ausdrücke wie „Krieg", „Frieden", aber auch „Staat" oder „Politik" die Ebene der historischen Semantik dieser Terme einbeziehen muß, ihren Ausgangspunkt also nicht etwa nur bei der Sprache des modernen Völkerrechts, aber auch nicht nur bei der modernen Alltagssprache suchen kann. Die von mir oben aufgestellten Kriterien sind nun als Minimalvorschläge zu verstehen, die als Fundament einer adäquaten Explikation des Ausdrucks „Krieg" bzw. des entsprechenden Begriffs dienen könnten. 31 Auf ihrer Basis läßt sich vielleicht ein Kriegsbegriff entwickeln,
29 30 1
Vgl. Hempel, ebd., S . 1 8 f f . Siehe Hempel, ebd., S . 2 0 f f . Es ist nicht entscheidend, ob man sich vornimmt, den Ausdruck „Krieg" oder den Begriff Krieg zu definieren, sondern nur eine Frage der Perspektive. Zwar sind Ausdrücke sprachliche Entitäten, Begriffe jedoch nicht, aber jede Definition eines Begriffsausdrucks läßt sich in die Definition eines Begriffs umformen, und umgekehrt. Wenn wir die Bedeutung eines Begriffswortes festlegen, so legen wir damit auch den entsprechenden Begriff fest, und vice versa. Jede der obigen Bestimmungen a) bis e) ließe sich z . B . leicht in eine ausdrucksbezogene Formulierung übertragen. Allerdings dürfte man dann nicht, wie fast alle in dieser Arbeit behandelten Autoren, mit dem Ausdruck „Krieg" bzw. „der Krieg" arbeiten, denn es gibt nicht den Krieg, wie es die Venus gibt, sondern es gibt viele verschiedene Kriege. Angemessen wäre der prädikative Ausdruck „x ist ein Krieg". Genau genommen müßte z.B. der Definitionsvorschlag a) transformiert werden in (a)* „x ist ein Krieg" sei synonym mit „x ist ein Rechtszustand, in dem sich miteinander kämpfende Menschen befinden". Oder: (a) ~ χ ist ein Krieg = Df.: χ ist ein Rechtszustand, in dem sich miteinander kämpfende Menschen befinden. - Die
23 der einerseits weit genug ist, um große Teile des überlieferten und auch heute noch präsenten semantischen Gehalts von „Krieg" zu konservieren, andererseits aber eng genug, um den Begriff des Krieges von verwandten, aber dennoch konnotationsverschiedenen Begriffen abgrenzen zu können. Mit dem zweiten Thema der Kriegsursachen befinden wir uns, philosophisch betrachtet, auf einem ganz anderen Gebiet. Der mit dem Kriegsbegriff assoziierte Problemkreis berührt Fragen sowohl der Begriffsgeschichte als auch der allgemeinen Begriffstheorie, die am ehesten als erkenntnistheoretische einzustufen sind. Auf den ersten Blick hat der Bereich der Kriegsursachen in einer philosophisch orientierten Arbeit nichts zu suchen, denn es gibt sehr viele verschieden geartete Kriege, und es läßt sich mit Gründen argumentieren, daß die diesbezüglichen Ursachenforschungen an die Einzelwissenschaften wie etwa Geschichte und Politikwissenschaft zu delegieren seien. Die philosophische Frage kann nur lauten, ob es allgemeine Faktoren gibt, die immer wieder zu Kriegen führen oder gar führen müssen. Thukydides, an den sich Hobbes in dieser Hinsicht später anlehnen sollte, nennt in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges drei solche Faktoren bzw. legt die Berufung auf sie den Athenern in den Mund: Furcht, Ehre und Vorteil.32 Im Anschluß an Thukydides bzw. an seine Darstellung der athenischen Position im Vorfeld des Peloponnesischen Krieges können wir sagen, daß Menschen aus Furcht Krieg führen, weil sie sich um ihre Sicherheit sorgen, aus Ehre, weil sie danach streben, von anderen anerkannt zu werden, und aus Vorteil, weil sie sich Güter irgendwelcher Art aneignen wollen, die andere besitzen. Alle drei Elemente können natürlich zusammenspielen. Thukydides und mit ihm Hobbes waren der Meinung, daß Sicherheitsstreben, Ehrstreben und Vorteilsstreben fest in der Natur des Menschen verankert seien. Wenn man diese Meinung teilt, wird man die Schlußfolgerung ziehen müssen, daß Tendenzen zum Konflikt und der Extremform des Konfliktes, dem Krieg, in der menschlichen Natur angelegt sind. Nicht jeder teilt diese Auffassung. So kann man der Ansicht sein, daß Menschen nicht in den Krieg ziehen, weil sie sich von sich aus fürchten, sondern weil sie sich in Situationen befinden, in denen sie sich fürchten müssen; nicht von sich aus einen Krieg um Anerkennung führen, sondern weil sie in Lagen sind, in denen ihr Wert als Individuum oder Angehöriger einer Gemeinschaft in Frage gestellt wird; nicht darum, weil sie na-
erste Variante führt einen Ausdruck ein, die zweite den korrespondierenden Begriff, und beide Versionen sind im Prinzip austauschbar. Formale Betrachtungen dieser Art sind jedoch im Rahmen dieser Arbeit nur marginal interessant. So werden wir uns z.B. damit abfinden, daß die meisten Autoren bedenkenlos von dem Krieg sprechen. Tatsächlich wird durch diese Redeweise meist auch eine bestimmte Intuition zum Ausdruck gebracht, und zwar die Auffassung, daß es so etwas wie ein „Wesen" oder eine „Substanz" gibt, was alle einzelnen Kriege miteinander verbindet. Man kann sich im übrigen dieser Ausdrucksweise selbst kaum entziehen. Vgl. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, I, 75-76. Der Kontext ist der einer Rede athenischer Gesandter vor Spartanern, in der die Athener ihre Art der Herrschaft rechtfertigen. Es geht, genau genommen, bei Furcht, Ehre und Vorteil also nicht nur um Kriegsursachen, sondern um die Legitimation einer bei Athens Nachbarn nicht gerade beliebten Politik. Die Athener argumentieren, daß Furcht, Ehre und Vorteil sie dazu gezwungen hätten, ihre Herrschaft in der jetzigen Weise zu gestalten. Man könne ihnen dieses nicht zum Vorwurf machen, denn es liege in der menschlichen Natur, und jeder andere hätte an Athens Stelle genauso gehandelt. Natürlich zielen die Athener auch auf eine Rechtfertigung von Gewalt, die sie zur Stabilisierung ihrer Herrschaft angewendet haben.
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türlicherweise miteinander konkurrieren, sondern weil sie sich in künstlich produzierten Situationen der Knappheit befinden, während sie von sich aus viel eher zur Kooperation bereit wären. Hierauf kann man erwidern, daß es zu den erwähnten Situationen gar nicht erst käme, wenn Menschen sie nicht herbeiführen würden. Dem läßt sich wiederum entgegnen, daß es im allgemeinen nur wenige Menschen sind, die solche Strukturen produzieren, denen sich dann die breite Mehrheit nur gezwungenermaßen fügt. Diese Diskussion, die endlos fortsetzbar ist, entbehrt in gewisser Hinsicht der Substanz. Beide Positionen sind sich ähnlicher als es scheinen mag. Sie teilen die Annahme, daß Menschen in der freien Wahl ihrer Handlungsmöglichkeiten beschränkt sind. Im einen Fall ist es die menschliche Natur, die determinierend auf Handlungen einwirkt, im anderen Fall sind es bestimmte soziale Strukturen. Ein weiterer wichtiger Punkt liegt darin, daß auch der Sozialtheoretiker des Krieges, von dem hier die Rede ist, letztlich auf anthropologische Grundannahmen verwiesen ist, wenn und insofern er Unterscheidungen trifft zwischen Verhältnissen, in denen Menschen sich selbst „entfremdet" sind und solchen, in denen sie dies nicht waren oder wären. Solche Differenzierungen setzen, so scheint es, gewisse Hypothesen über eine menschliche Substanz voraus, von der nicht einzusehen ist, warum sie nicht als „menschliche Natur" bezeichnet weiden sollte. 33 Die Unterscheidung zwischen „Naturtheoretikern" und „Sozialtheoretikem" ist also unangemessen, und wir haben es lediglich mit verschiedenen Auffassungen über das Verhältnis zwischen Krieg und menschlicher Natur zu tun. Nach der einen Vorstellungsart ist Krieg im allgemeinen ein pathologisches Phänomen, ein Ereignis, das eine Abweichung von dem darstellt, was Menschen „eigentlich" sind, und nach dem anderen Modell erscheint er als eine mögliche Konsequenz dessen, was im Menschen angelegt ist. Man kann gegen die für diese Debatte charakteristische Argumentation einwenden, daß in ihr fälschlicherweise versucht wird, menschliches Handeln in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu beschreiben und zu erklären. Jemand, der diesen Einwand erhebt, wird den Ausdruck „Kriegsursachen" generell ablehnen und statt dessen von Motiven sprechen. Er wird behaupten, daß Kriege Ereignisse sind, die nicht kausalen oder auch nur kausalähnlichen Bedingungen unterliegen. Vertreter dieser Kritik stellen sich auf den Standpunkt, daß Menschen keine Objekte irgendwelcher wie auch immer spezifizierten Verhältnisse sind, sondern eine Vielfalt von Gestaltungs- und Einwirkungsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen haben. Kriege können auf der Grundlage einer solchen Auffassung niemals als Wirkungen quasi-physikalischer Prozesse erscheinen, sondern nur als Resultate menschlicher Entscheidungen und Handlungen. Aus dieser Perspektive muß man dann in der Tat strikt zwischen Ursachen und Motiven unterscheiden. Es ist wichtig zu sehen, daß auch diese Auffassung von einem bestimmten Menschenbild ausgeht, von dem Gedanken, daß Menschen im Unterschied zu anderen Lebewesen und zu Gegenständen der unbelebten Natur über Handlungsfreiheit verfügen. Ich meine, daß die grobe Skizze dieser drei Positionen gezeigt hat, daß eine philosophische Untersuchung über Kriegsursachen bzw. Kriegsmotive auf anthropologische Grundannahmen nicht wird verzichten können. Eine solche Untersuchung ist im Kern immer auch
Die Berufung auf Natur ist allerdings heute nicht überall beliebt. Für eine scharfe Kritik an Argumenten, die ihre Überzeugungskraft in irgendeiner Form aus Natur herleiten wollen, siehe etwa Mainusch: Natur als Ideologie. Für eine andere Haltung gegenüber „Naturargumenten" vgl. Siep: Natur als Norm?
25 ein Stück philosophischer Anthropologie. Nun scheint mir die ursprünglich von Thukydides stammende Einteilung in Furcht, Ehre und Vorteil ein höchst überzeugendes Raster zur genealogischen Klassifizierung von Kriegen zu sein, ganz unabhängig davon, ob man diese Faktoren als Erstursachen, als Zweitursachen oder ausschließlich als Motive begreift. Tatsächlich ist es meiner Meinung nach schwierig, einen Krieg zu finden, dessen Genese sich nicht maßgeblich durch mindestens eines dieser drei Elemente beschreiben ließe, wobei in sehr vielen Fällen eine Kombination vorliegen dürfte. Schaut man sich das Raster näher an, so läßt es sich auf einen Faktor reduzieren, auf den der Furcht. Thukydides faßt in dem oben erwähnten Zusammenhang die Furcht als die Angst eines Gemeinwesens vor dem eigenen Untergang auf. Auf der Ebene des Individuums entspräche dem die Furcht vor dem Verlust der physischen Existenz. Auch das Streben nach Ehre gründet sich letztlich aber auf eine Spielart der Furcht, die man als die Furcht vor dem Verlust der moralischen Existenz fassen kann. Schließlich hat das Vorteilsstreben seine Basis in der Furcht vor dem Verlust der sozioökonomischen Existenz. Alle drei Arten der Furcht können sowohl einzelnen Individuen als auch Gemeinschaften oder Gemeinwesen zugeschrieben werden. Auf der Grundlage dieses Reduktionsvorschlages, der stark Hobbesianische Züge trägt, ist grundsätzlich menschliche Furcht in einer der drei erwähnten Varianten die treibende Kraft des Krieges, ganz unabhängig davon, ob und wie solche Furcht begründet ist. Das Thema Kriegsprävention weist offenkundig enge Zusammenhänge mit dem Problemkreis der Kriegsursachen auf. Welche Meinung man darüber hat, ob überhaupt und wieweit Kriege verhindert werden können, wird in hohem Maße davon abhängen, von welchem Menschenbild man ausgeht. 34 Jemand, der die Ansicht vertritt, Menschen seien von Natur aus eher auf Kooperation und Harmonie angelegt als auf Streit und Konflikt, wird bezüglich dieser Frage optimistischer denken als jemand, der der Auffassung ist, daß im Menschen mindestens genauso starke konfliktuelle wie kooperative Anteile wirksam sind. Beinahe zahllose Vorschläge sind zur Lösung des Problems der Kriegs Verhütung entwickelt worden, von denen hier nur einige genannt seien, wobei wir uns primär auf den Fall des zwischenstaatlichen Krieges beziehen: Verbot der zwischenstaatlichen Anwendung von Gewalt; Schaffung von Möglichkeiten friedlicher Konfliktbeilegung auf internationaler Ebene; Abrüstung und Rüstungskontrolle; wirksame militärische Abschreckung; Einschränkung der einzelstaatlichen Souveränitätsrechte; Einrichtung eines Weltstaates; Abschaffung des Staates; Abschaffung des Privateigentums; Förderung des zwischenstaatlichen Handels; Schaffung verschiedener in sich befriedeter Großräume nach dem Modell etwa einer „pax americana", einer „pax europea" etc. Einige dieser Vorschläge sind bereits realisiert, oder ihre Realisierung ist in vollem Gange, während andere wohl ewig utopisch bleiben werden. Manche Postulate widersprechen sich schlicht, wie etwa dasjenige der Abschaffung des Staates und dasjenige der Einrichtung eines Weltstaates. Diverse der skizzierten Ideen werden uns im Verlauf dieser Arbeit wieder begegnen. Im gegenwärtigen Zusammenhang wollen wir auf eine Problemdimension hinweisen, die tiefer liegt als die Diskussion um einzelne Strategien der Kriegsverhütung. Wenn unsere Überlegung stimmt, daß es immer Furcht in einer ihrer Versionen und zahlreichen
Auf den verweist Ansicht, hat (vgl.
engen Zusammenhang zwischen Kriegsverhinderungsstrategien und A n t h r o p o l o g i e auch Erich Vad. Vgl. Vad: Strategie und Sicherheitspolitik, S. 2 1 ff. Vad vertritt die daß jede Art von Sicherheitspolitik ein bestimmtes Menschenbild zur Voraussetzung S. 2 1 ) .
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EINLEITUNG
Modifikationen ist, die M e n s c h e n z u m Kriege schreiten läßt, dann folgt daraus, daß jedes Friedenssicherungsprogramm es wesentlich mit einem elementaren menschlichen Gefühl, einer Emotion, einer Leidenschaft zu tun hat. W i e auch immer man das Phänomen der Furcht genau klassifizieren mag, in j e d e m Fall gehört Furcht zu einem Bereich menschlichen Erlebens, der als solcher nicht rational ist, w i e w o h l Furcht höchst vernünftig begründet sein kann und auch in der Lage ist, sehr rationale Kalkulationen zu bewirken. Furcht kann den Verstand in hohem Maße aktivieren, aber an sich selbst betrachtet ist und bleibt sie ein Gefühl. Hier handelt es sich um eine wichtige Einsicht, denn aus ihr resultiert, daß solche Kriegsverhinderungsprojekte, die ausschließlich auf Rationalität setzen und diese dann auch noch als Gegenspielerin der Emotionalität begreifen, in der Regel scheitern müssen. D i e Diskussion über das Thema Krieg und Gerechtigkeit bzw. Krieg und Recht ist fast die einzige, die auch unter Philosophen der neueren und neuesten Zeit eine Fortsetzung gefunden hat. 35 W e r auf dieser Ebene über Krieg nachdenkt, befindet sich auf e i n e m Schnittfeld von Moralphilosophie, Ethik und Rechtsphilosophie. A u c h in dieser Arbeit werden die Problemkreise Krieg und Gerechtigkeit und Krieg und Recht an einigen und manchmal zentralen Punkten berührt. Deshalb soll an dieser Stelle ein skizzenhafter Überblick über die Herausbildung verschiedener Versionen der bellum iwsfwm-Lehre gegeben werden. 3 6 D e m Leser mag dieser Abriß als Orientierungshilfe dienen.
Dies gilt vor allem für den angloamerikanischen Raum. Siehe hierzu die vieldiskutierte Studie von Michael Walzer: Just And Unjust Wars. Weitere englischsprachige Untersuchungen: Tucker: The Just War; Ramsey: Just War: Force and Political Responsibility; Melzer: C o n c e p t s of Just War; O'Brien: The Conduct of Just and Limited War; Regan: Just War. - Für eine ideengeschichtliche Studie zu Konzeptionen des gerechten Krieges im Mittelalter vgl. Russell: The Just War in the Middle Ages. - Für den deutschen Sprachraum sind zu nennen: Bahr: Bellum iustum. Die Untersuchung ist historisch orientiert und liefert einen Abriß über die Lehre vom gerechten Krieg vom Mittelalter bis zur Neuzeit. - Steinweg (Red.): Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus; Engelhardt: Die Lehre vom „gerechten Krieg" in der vorreformatorischen Tradition, in: Steinweg (Red.), ebd., S. 72-124. Hier handelt es sich um eine Betrachtung zur moraltheologischen Tradition der Lehre vom gerechten Krieg, die P o s i t i o n e n der katholischen Kirche bis hin zum Vietnamkrieg berücksichtigt. - Kimminich: Der gerechte Krieg im Spiegel des Völkerrechts, in: Steinweg (Red.), ebd., S. 206-223. Kimminich interessiert sich vor allem für die Beziehungen der Theorie des gerechten Krieges zum Völkerrecht, das seiner Meinung nach jedoch jene Lehre überwunden hat. - Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, bes. 240 ff. Der Autor gibt hier einen Überblick über die neuzeitlichen Entwicklungen der Lehre vom gerechten Krieg von Vitoria bis Grotius. - Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, S. 6 9 f f . Carl Schmitt konzentriert sich ebenfalls auf die neuzeitlichen Ausgestaltungen der Theorie des gerechten Krieges. - Wolff: Kriegserklärung und Kriegszustand nach klassischem Völkerrecht, bes. 178 ff. Wolff rekonstruiert, teilweise in kritischer Auseinandersetzung mit Schmitt, die Entwicklung der Kriegsrechtslehre von 1570-1750. - Kurze Überblicke über die Geschichte der Theorie des gerechten Krieges finden sich auch bei Berber: Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. II, S. 2 7 ff., und bei Ipsen: Völkerrecht, S. 16 ff. Für eine sowohl realhistorisch als auch ideengeschichtlich äußerst fundierte Studie vgl. Janssen: Studien zur Theorie des gerechten Krieges in der frühen Neuzeit. Münster 1996. Es handelt sich hierbei um eine leicht veränderte Version von Kleemeier: Krieg, Recht, Gerechtigkeit.
27 Die Lehre vom bellum iustum, vom gerechten Krieg, umfaßt in systematischer Hinsicht zwei Teilkomplexe, zum einen Überlegungen zum ius ad bellum (Recht zum Kriege), zum anderen Ausführungen zum ius in bello (Recht im Kriege). Das Recht zum Kriege befaßt sich mit Fragen der Kriegslegitimation, also mit dem Problem, unter welchen Bedingungen es gerechtfertigt ist, zum Krieg zu schreiten. Dagegen ist der Gegenstand des Rechtes im Kriege die Frage, welche Handlungen gegenüber dem Gegner legitim bzw. illegitim sind, wenn einmal der Kriegszustand ausgebrochen ist. Die Lehre vom gerechten Krieg hat eine lange Tradition, an deren Gestaltung Philosophen, Theologen und Juristen mitgewirkt haben. Diese Tradition reicht bis in die Antike zurück. 37 Der Ausdruck „gerechter Krieg" {polemos dikaios) stammt anscheinend von Aristoteles,38 Bei diesem ist der Gebrauch jener Wendung mit einer aus heutiger Sicht äußerst kruden Auffassung über den Charakter bestimmter Menschengruppen, vor allem der Barbaren, verbunden. Barbaren verglich Aristoteles ausdrücklich mit Tieren, 39 und Kriege gegen Barbaren dienten ihm als Paradebeispiele für von Natur aus gerechte Kriege, da solche Völker seiner Ansicht nach zum Dienen und Beherrschtwerden bestimmt waren.40 Auch aus Piatons Auffassung der Gerechtigkeit können wir eine gewisse Theorie des gerechten Krieges erschließen, obwohl der entsprechende Ausdruck in den platonischen Schriften nicht vorkommt. 41 Cicero bringt dann das römische Konzept des bellum iustum auf den Punkt, 42 wobei er unter dem gedanklichen Einfluß der ethisch-politischen Ideen der Stoa steht, wie sie sich insbesondere im Werk des Panaitios niedergeschlagen haben. 43 Bei Cicero gehen in die Frage der Kriegslegitimation sowohl inhaltliche als auch formale Kriterien ein. Für ihn ist ein Krieg dann gerecht, wenn er auf der Grundlage einer formalen Androhung (denuntiatio) und Erklärung (indictio) erfolgt und wenn er wegen Schadenersatz (repetitio) bzw. Wiedergutmachung geführt wird. 44 Unter Wiedergutmachung fallen dabei sowohl die Abwehr einer feindlichen Ungerechtigkeit als auch die Verteidigung von Bundesgenossen Roms. Manchmal wird Ciceros Theorie des gerechten Krieges so abgehandelt, als ob sie sich in diesen beiden Punkten erschöpfe. Bei
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Ganz sicher ist es falsch, wenn Kimminich behauptet, erst Augustinus habe sich die Frage nach dem gerechten Krieg gestellt. So Kimminich: Der gerechte Krieg im Spiegel des Völkerrechts, S. 107. Die Tradition der Lehre vom gerechten Krieg reicht mindestens bis zu Cicero zurück, der sich ausdrücklich mit der entsprechenden Frage befaßt. Im Grunde läßt sie sich aber, wie wir noch sehen werden, schon bis zu Piaton zurückverfolgen, auch wenn dieser ein sehr eigenes Gerechtigkeitskonzept vertritt und den Terminus „gerechter Krieg" gar nicht gebraucht. So F. H. Russell: The Just War In The Middle Ages, S. 3 f. Vgl. Aristoteles: Politik, 1256b. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 7, 1, 1145 a. Vgl. Aristoteles: Politik, 1, 8, 1256 b.
1,8,
Siehe hierzu das Kapitel über Krieg und Gerechtigkeit ab S. 71 im Platon-Teil dieser Arbeit. Zur römischen Theorie des bellum iustum siehe Albert: Bellum Iustum. Zu Cicero vgl. S. 2 0 ff. Zu Ciceros Rezeption der stoischen politischen Ethik und dessen Ansicht, das frühe Rom habe die stoische Konzeption von Krieg bereits vorweggenommen und praktisch verwirklicht, siehe Cicero: Hampl:De „Stoische Staatsethik" und Frühes Vgl. Re Publica, 3, 23, 35. Siehe auchRom. Cicero: De Officiis, 1, 11, 36.
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EINLEITUNG
näherer Hinsicht ist dies jedoch nicht der Fall. Hinzuzufügen ist, daß Cicero auch die Auffassung vertrat, ein Krieg dürfe nur dann geführt werden, wenn er als Mittel zur Durchsetzung eines (gerechten) Friedens betrachtet werde. 45 Dies ist eine Bedingung, die, streng genommen, in den beiden genannten Kriterien noch nicht enthalten ist. So ist es theoretisch möglich, einen Krieg aus Wiedergutmachungsgründen zu beginnen, dann aber die Absicht, schnellstmöglich den Frieden wiederherzustellen, aus dem Auge zu verlieren. Vor allem aber hat Cicero sich auch recht ausführliche Gedanken über ein ius in bello gemacht. So soll seiner Meinung nach stets bei Rache und Bestrafung Maß gehalten werden.46 Zwischen den Schuldigen und der Menge ist zu unterscheiden. 47 Nicht gerecht ist es, wenn jemand, dem nicht der Status eines miles zukommt, sich im Krieg an Kampfhandlungen beteiligt. 48 Eide und Versprechen sind selbst gegenüber Feinden zu halten, es sei denn, es handelt sich bei ihnen nicht um rechtmäßige Feinde, sondern um Verbrecher. 49 Insgesamt gesehen formuliert Cicero in paradigmatischer Form die Auffassung des Krieges als einer executio iuris, einer (gewaltsamen) Rechtsdurchsetzung. Dieser juridische Inhalt sollte trotz aller Transformationen die Semantik von „bellum" nachhaltig bestimmen. Ein weiteres entscheidendes Kapitel der Lehre vom gerechten Krieg beginnt mit Augustinus.50 Dieser wendet sich gegen die grundsätzliche Ablehnung des Krieges durch die frühen Christen, die sich hierbei auf das Neue Testament beriefen. Augustinus kennt das Kriterium, daß ein Krieg nur dann gerecht ist, wenn er auf Geheiß einer rechtmäßigen Obrigkeit stattfindet.51 Mehr Wert legt er jedoch auf die materialen Seiten der Kriegsgerechtigkeit. Der Sache nach ist ein Krieg nach Augustinus gerecht, wenn durch ihn Unrecht geahndet wird. In diesem Zusammenhang nennt er zwei Fälle, einmal den, daß ein Volk oder ein Gemeinwesen sich weigert, Unrecht wiedergutzumachen, das von seiner Seite ausgegangen ist, und den Fall, daß sich ein Volk oder ein Gemeinwesen weigert zurückzugeben, was durch Unrecht weggenommen wurde. 52 Diese Auffassung einer iusta causa ist extrem interpretationsfähig, je nachdem, was unter Unrecht (iniuria) zu verstehen ist. 53 Die ciceronische Theorie des gerechten Krieges sieht als legitimes Kriegsziel lediglich eine Wiederherstellung des vor dem Kriege herrschenden Zustandes vor. Es geht dort um den Ausgleich eines Schadens, den die gerechte Kriegspartei durch die ungerechte erlitten hat. Dagegen sind die augustinischen Formulierungen so weit, daß als gerecht auch ein Krieg begriffen werden kann, der dazu die-
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Siehe Cicero: De Officiis, 1, 11, 35 sowie 1, 23, 80. Vgl. Cicero, ebd., 1, 11, 34. Vgl. Cicero: ebd., 1, 11, 35 sowie 1, 24, 82. Vgl. Cicero: ebd., 1, 11, 37. Vgl. Cicero: ebd., 3, 29, 107. In bezug auf Augustinus stütze ich mich hauptsächlich auf die Studie von Russell. Siehe F. H. Russell: The Just War In The Middle Ages, S. 1 6ff. Siehe zu Augustinus' Auffassungen zum gerechten Krieg auch Hartigan: Saint Augustine on War and Killing. Vgl. auch Engelhardt: Die Lehre vom „gerechten Krieg" in der katholischen und vorreformatorischen Tradition, bes. 7 4 ff. Er formuliert es in Contra Faustum Manichaeum. Siehe dazu F. H. Russell: The Just War In The Middle Ages, S. 18. So ist es nachzulesen in den Quaestiones in Heptateuchum. Vgl. hierzu F. H. Russell, ebd., S. 1 8 ff. Siehe zu dieser Interpretierbarkeit F. H. Russell, ebd., S. 1 8ff.
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nen soll, etwa die Verletzung einer von Gott geschaffenen Ordnung zu rächen. Unter Unrecht kann hier eben nicht nur der Verstoß gegen einen geltenden Rechtszustand verstanden werden, sondern auch eine Sünde wider Gott. So gesehen kann ein Krieg auch dann gerecht sein, wenn die Rechte der gerechten Partei gar nicht verletzt worden sind. Es reicht aus, wenn die gerechte Seite im Namen einer göttlich moralischen Ordnung agiert. Selbstverständlich ist es dann möglich, daß auch Angriffskriege im Sinne von „militärischen Erstschlägen" gerecht sind. Die Angriffsoption wird auch durch Ciceros Auffassung des gerechten Krieges bei weitem nicht ausgeschlossen, doch Augustins Lehre vom bellum iustum eröffnet darüber hinaus noch die Möglichkeit einer Legitimierung heiliger Kriege, eine Vorstellung, die Ciceros Denken ganz fremd ist. Diese Differenz zwischen der ciceronischen und der (auf bestimmte Weise interpretierten) augustinischen Auffassung des gerechten Krieges ist sehr wichtig, denn sie repräsentiert einen grundsätzlichen Unterschied. Dieser Unterschied liegt in Art und Umfang der durch die jeweilige Konzeption nahegelegten Feinddiskriminierung. Ciceros Konzept des gerechten Krieges erlaubt stets nur eine Diskriminierung des Gegners, die in mehrfacher Hinsicht beschränkt ist. Verurteilt und bekämpft wird der Feind erstens nur aufgrund bestimmter Taten, nicht wegen ihm eigentümlicher Denk- und Existenzweisen. Zweitens müssen sich diese Taten gegen konkret abgrenzbare politische Verbände richten, nicht etwa gegen eine universale moralische Weltordnung oder gegen die „Menschheit". Drittens verfolgt ein gerechter Krieg lediglich die Wiederherstellung des status quo ante bellum, wird also nicht in der Absicht geführt, dem Gegner mehr und anderes aufzuzwingen als die Wiedergutmachung der von ihm begangenen Rechtsverletzung. Mit Augustinus' Theorie dagegen sind eine sehr viel umfassendere Feinddiskriminierung und dementsprechend weiter reichende Kriegsziele vereinbar, und zwar genau dann, wenn der gerechte Krieg mit einem heiligen zusammenfällt. Tritt dieser Fall ein, dann geht es nicht mehr um die Ahndung einzelner Handlungen des Gegners, sondern um dessen gesamte moralische Existenz, die es zu vernichten gilt. Es ist nicht schwierig, sich säkularisierte Varianten solcher Feindkonzepte vorzustellen. Die Unterschiede zwischen Cicero und Augustinus setzen sich auf der Ebene des ius in bello fort. Augustinus war der Meinung, daß bestimmte Haltungen sich im Krieg nicht schickten, und zu diesen zählt er z. B. die Lust zu schaden, grausame Rachgier und Eroberungslust. 54 Es gibt hier zwar gewisse Ähnlichkeiten zu den entsprechenden Ausführungen von Cicero, doch ein genauerer Blick zeigt wesentliche Abweichungen. So ist auffällig, daß Augustinus bei der Darlegung seiner Auffassung darüber, was im Krieg Unrecht ist, fast ausschließlich über Gesinnungen redet, also nicht über konkrete Sachverhalte, die es zu vermeiden gilt, sondern über moralische Absichten. Diese Akzentuierung von Innerlichkeit gibt es bei Cicero nicht. Darüber hinaus fehlt bei Augustinus jede Forderung, die auf eine Unterscheidung zwischen Schuldigen und Unschuldigen zielen würde. Tatsächlich betrachtete Augustinus Kriege grundsätzlich als göttliche Strafaktionen für menschliche Sünden, und solche Aktionen konnten immer sowohl am Krieg Beteiligte als auch Unbeteiligte treffen. Es ist nicht die Aufgabe des miles Christi, diesbezügliche Differenzierungen zu treffen. Aus der augustinischen Perspektive gab es hier gar keinen Widerspruch zu dem christlichen Postulat der Feindesliebe. Er betrachtete es sehr wohl als möglich, seine Feinde zu lieben und gleichzeitig mit äußerster Härte gegen diese vorzugehen, und zwar in deren eigenem Interesse.55 54 55
Vgl. F. H. Russell, ebd., S. 16. Siehe F. H. Russell, ebd., S. 1 7.
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EINLEITUNG
Ein Gesamtbild von Augustinus' Kriegsauffassung ergibt im Vergleich zur römischen Konzeption Ciceros erhebliche Verlagerungen hin zur Entformalisierung, verstärkten Moralisierung und tendenziell auch zur Legitimierung entgrenzter Formen von Kriegführung. 56 Die augustinische Lehre vom gerechten Krieg wird in leicht veränderter Form in dem berühmten Decretum Gracianum (1140) übernommen, wobei hier wieder das Element der obrigkeitlichen Anordnung eine herausragende Rolle spielt. Durch Thomas von Aquin wird dann die mittelalterliche Lehre vom gerechten Krieg systematisiert. 57 Thomas zählt drei Kriterien für einen gerechten Krieg auf: 58 1. 2. 3.
Die auctoritas principis (die alleinige Befugnis eines princeps, tischen Autorität, den Krieg anzuordnen); die iusta causa (gerechte Ursache); die recta intendo (rechte Absicht).
einer übergeordneten poli-
Die erste Bedingung soll ausschließen, daß auch Privatpersonen Krieg führen dürfen. Beim zweiten Kriterium beruft sich Thomas auf Augustinus. Als gerecht faßt er einen Krieg dann auf, wenn in ihm für Ungerechtigkeiten Rache genommen wird. Unter dem dritten Kriterium ist zu verstehen, daß ein Krieg nur mit der Absicht geführt werden darf, den Frieden wiederherzustellen. Der Sache nach sind diese drei Kriterien schon bei Cicero und Augustinus vorhanden, wenn auch nicht so systematisch und getrennt entwickelt. Der ordnende methodische Zugriff sollte jedoch nicht über den hohen Grad an inhaltlicher Unklarheit hinweg täuschen. Die recta intentio ist schlechterdings nicht äußerlich kontrollierbar. Der Begriff der iusta
Es soll an dieser Stelle selbstverständlich nicht der Eindruck erweckt werden, als spiegele die ciceronische Kriegskonzeption in irgendeiner Weise die faktischen Verhältnisse der römischen Kriegführung wider. Cicero selbst hat im Hinblick auf seine eigene spätrepublikanische Zeit die Ansicht vertreten, daß es eine krasse Diskrepanz zwischen den von ihm postulierten ethischen Grundsätzen und der Kriegspraxis gebe. Dafür idealisiert er um so mehr das alte Rom, das seiner Meinung nach die Moralprinzipien der bellum iustum-Lehre vollständig beherzigte. Daß diese Auffassung irrig ist, hat z.B. Hampl auf überzeugende Weise gezeigt. Siehe Hampl: „Stoische Staatsethik" und frühes Rom. Der Autor erwähnt, daß die Römer schon in früheren Jahrhunderten eroberte feindliche Städte zerstören und die Einwohnerschaft in die Sklaverei verkaufen ließen, wobei die Frage, ob sich die betreffenden Kollektive während des Krieges ein besonderes Fehlverhalten zuschulden kommen ließen, gänzlich belanglos war (vgl. S.251). Bedenkenlos seien selbst Bürger verbündeter Städte der Sklaverei ausgeliefert worden (vgl. S.252). Die von Cicero so gepriesene Praxis, ehemalige Feinde in die eigene Bürgerschaft zu integrieren, sei auf reine Nützlichkeitserwägungen zurückzuführen gewesen (vgl. S.252ff.) Hinsichtlich des ius ad bellum sei es zwar ein Grundsatz der römischen Fetialordnung gewesen, nur wegen geschehenen „Unrechts" zum Krieg zu schreiten, doch sei dies nicht Resultat moralischer Überlegungen, sondern der Struktur des römischen Gemeinwesens gewesen, das andere Kriege gar nicht zuließ (vgl. S.269). Darüber hinaus habe es zahlreiche private Fehden und Beutezüge gegeben, die durch einzelne Männer mit ihren Gefolgschaften unternommen wurden und deren Intention keineswegs in „Wiedergutmachung" bestanden habe (vgl. S.264ff.). - Ganz allgemein muß zwischen der Ebene theoretischer Ausführungen und derjenigen empirischer Verhältnisse unterschieden werden, und es ist Vorsicht bei Rückschlüssen von der einen auf die andere Ebene angebracht. Zu Aquinas siehe F. H. Russell, ebd., S . 2 5 8 f f . Vgl. Thomas von Aquino: Summe der Theologie, 40. Untersuchung, Erster Artikel, S. 1 8 8 f .
31 causa bleibt letztlich genauso im dunkeln w i e bei Augustinus. Aquinas hat, wie die mittelalterlichen Moraltheologen überhaupt, sich diesbezüglich kaum um die Aufzählung und Analyse konkreter Fälle bemüht. 59 Höchst umstritten ist, ob es sich bei einer Ungerechtigkeit nur um einen faktischen Rechtsverstoß handeln soll, oder ob hier auch von einer moralischen Schuld im Sinne einer Sünde die Rede ist. Von einer Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg, wie wir sie kennen, fehlt sowohl bei Augustinus als auch bei Thomas jede Spur. 60 Bezeichnend ist, daß selbst die erste und formalste der Bedingungen, das Kriterium der auctoritas principis, unbestimmt bleibt, weil Thomas es offenläßt, was genau unter einem princeps zu verstehen ist. Tatsächlich war die auctoritas-Bedingung ein Reflex der faktischen Rechtspraxis, die auf eine immer stärkere Begrenzung jener Personenkreise zielte, denen ein ius ad bellum zukam, 61 doch war die thomistische Formulierung kaum dazu geeignet, eine solche Beschränkung konkret durchführbar zu machen. Eine neue Phase nimmt die Entwicklung der Theorie des bellum iustum in der spanischen Spätscholastik, welche auf die Herausforderung der spanischen Landnahme in Amerika reagiert. Ein entscheidender Übergang hin zum neuzeitlichen Völkerrecht wird üblicherweise in den Lehren des Dominikanertheologen Francisco de Vitoria gesehen. Dieser brachte in die Debatte um das ius ad bellum vor allem eine wichtige Veränderung ein: die Auffassung eines beidseitig gerechten Krieges (bellum iustum ex utraque parte). Er erkannte an, daß ein Krieg zwar nicht objektiv, wohl aber subjektiv von beiden Seiten gerecht sein könne, und zwar dann, wenn eine Seite sich in einem unvermeidbaren Irrtum über die Gerechtigkeit ihrer Sache befindet, so daß man es ihr nicht vorwerfen kann, einen Krieg begonnen zu haben. 62 Hinsichtlich des ius in bello wird Vitoria im Vergleich zu Augustinus und Thomas relativ konkret, indem er durchaus Handlungen und nicht Absichten oder Gesinnungen anspricht. S o muß z. B. die Anwendung von Gewaltmitteln sich seiner Meinung nach stets nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Ziel und Mittel richten. Selbst ein gerechter Grund ist keine automatische Legitimation für alle Schädigungshandlungen. Feinde dürfen z. B. nicht ohne weiteres vertrieben und ihres Besitzes beraubt werden, es sei denn, dieses ist notwendig, um die zukünftige Sicherheit zu gewährleisten. 63 Vitoria führte erhebliche Einwände gegen bestimmte Rechtfertigungsstrategien der spanischen Conquista ins Feld. Beispielsweise lehnte er die Berufung auf eine natürliche oder moralische Überlegenheit der Spanier gegenüber den „Barbaren" ab. 64 Auch wandte er sich gegen den Weltherrschaftsanspruch von
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Siehe hierzu Janssen: Artikel „Krieg", S. 575. Auch Janssen weist darauf hin, daß man dem Begriff der iusta causa im Mittelalter kaum Aufmerksamkeit gewidmet hat. Engelhardt vertritt die Meinung, daß die gesamte mittelalterliche Tradition bei gerechten Kriegen grundsätzlich das im Auge hatte, was wir als „Angriffskriege" bezeichnen würden. Vgl. Engelhardt: Die Lehre vom „gerechten Krieg" in der vorreformatorischen und katholischen Tradition, S. 77. Vgl. hierzu Janssen: Artikel „Krieg", S. 5 7 2 ff. Vgl. Vitoria: Vorlesungen II, Dritte Abteilung, S . 4 7 1 . Vgl. hierzu Vitoria, ebd., Dritte Abteilung, S. 4 6 9 ff. Selbstverständlich hielt Vitoria am moralischen Primat der christlichen Religion fest. Da die Barbaren seiner Ansicht nach jedoch dumm und einfältig waren (vgl. Vitoria, ebd., Dritte Abteilung, S. 469), konnten diese zunächst nichts dafür, wenn sie nicht sofort bereit waren, die christliche Religion anzunehmen. Es sollte jedoch möglich sein, sie zu missionieren. Die religionsbedingte „Rückständigkeit" stellt sich somit als eine aufhebbare heraus.
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EINLEITUNG
Kaiser und Papst 65 und gegen das Argument, die Indianer würden sich weigern, das katholische Glaubensbekenntnis anzunehmen, was Grund genug dafür sei, sie zu bekriegen. 66 In letzter Instanz liefert er dann aber doch eine Legitimationsgrundlage für die gewaltsamen Aktionen der Spanier. Wenn, so Vitoria, die Indianer den Spaniern das Recht auf freie Glaubensverbreitung und das Recht auf freien Handel bestreiten, dann widerspricht dieses dem göttlich vorgezeichneten Naturrecht, auf dem die natürliche Völkergemeinschaft beruht, und in diesem Fall ist ein Krieg gegen die Indianer gerecht.67 Die Lehren Vitorias sind ein Beispiel dafür, wie man auf subtile und differenzierte Weise mittels der Theorie des gerechten Krieges gewaltsame Eroberungen rechtfertigen konnte. Zu einer weitgehend formalen und legalistischen Betrachtungsweise des bellum iustum kommt es durch den spanischen Niederländer Balthasar de Ayala. Dessen völkerrechtliche Schriften 68 sind wesentlich auch als eine Reaktion auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der spanischen Niederlande aufzufassen, gegen die Ayala Stellung bezog. Nicht zuletzt aus dieser Konfliktlage heraus ist es zu erklären, daß Ayala nur diejenigen Kriege für gerecht erklärt, die zwischen Fürsten bzw. zwischen den Trägern staatlicher souveräner Macht stattfinden. Nur solche Träger sind als iusti hostes anzuerkennen, während alle anderen Gewalttäter als Rebellen gelten, die grundsätzlich nicht als Kriegsgegner auftreten können, sondern nur als Objekte von Strafverfolgung. Durch Ayala wird die Frage der Kriegslegitimation eine ausschließlich formale, die von dem materialen Problem der iusta causa getrennt wird,69 eine Perspektive, die selbst Cicero in dieser Eingeschränktheit nicht vertreten hatte. Aus Ayalas Betrachtungen ergibt sich konsequenterweise die Möglichkeit eines nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv beidseitig gerechten Krieges. Auch gibt es bei Ayala eine enge Verschränkung zwischen dem Problem der Kriegsrechtfertigung und der Frage des ius in bello. Daß ein Krieg dann gerecht ist, wenn er zwischen formal zur Kriegführung befugten Personen ausgetragen wird, heißt eben auch, daß in diesem Fall beide Seiten als Gleiche zu betrachten sind, denen bezüglich ihrer Handlungen im Kriege entsprechend genau die gleichen Rechte und Pflichten zukommen. Es gibt keine Seite, die in irgendeiner Hinsicht moralisch oder rechtlich privilegierter wäre als die andere. Dieses ist in der Tat ein Vorgriff auf das moderne Kriegsvölkerrecht, dessen elementarer Anspruch es ist, für alle beteiligten Konfliktparteien in gleicher Weise zu gelten, unabhängig vom Grund oder der Natur des Konfliktes. Der italienische Völkerrechtler Alberico Gentili liegt mit seinen Auffassungen auf einer sehr ähnlichen Linie wie Ayala. 70 Wie letzterer betont auch Gentiii, daß Krieg ein Kampf zwischen gleichen und gleichberechtigten Feinden ist. Als solche kommen für ihn nur die souveränen Fürsten in Frage. Auch für Gentiii kann es Kriege geben, die von beiden Seiten gerecht sind, und zwar sowohl subjektiv als auch objektiv. Der erste Fall tritt dann ein, 65 66
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Vgl. Vitoria, ebd., Zweite Abteilung, S. 4 0 7 . Vgl. Vitoria, ebd., Zweite Abteilung, S. 409. Zu Vitorias Haltung solchen Argumenten gegenüber vgl. Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 174 f. Zum Recht auf freien Handel vgl. Vitoria, ebd., Dritte Abteilung, S . 4 6 5 ; zum Recht auf freie Glaubensverbreitung vgl. Vitoria, ebd., Dritte Abteilung, S . 4 7 3 f . Siehe zu diesen Punkten auch Grewe, ebd., S. 2 4 2 f. Bei meiner Darstellung Ayalas stütze ich mich hauptsächlich auf das Referat von Grewe. Siehe Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 2 4 5 ff. Siehe bes. zu diesem Punkt Schmitt: Der Nomos der Erde, S. 124 ff. Zu Gentiii siehe Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 2 4 7 ff.
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wenn sich eine oder auch beide Parteien in einem unüberwindlichen Irrtum befinden, wofür schon Vitoria argumentierte. Den zweiten Fall beschreibt Gentiii als einen solchen, in dem beide Seiten versuchen, eine Entscheidung über umstrittene Rechtsansprüche herbeizuführen, woraus eine unklare Rechtslage entsteht. Allerdings kennt Gentiii auch Kriege zwischen Trägern staatlicher Souveränität, die nur von einer Seite aus (material) gerecht sind, und zwar jene, in denen das Unrecht einer Partei gerächt werden soll. Wie man sich jedoch leicht vorstellen kann, ist es äußerst schwierig, in der Praxis zwischen solchen Kriegen zu unterscheiden, bei denen eine Seite klar im Unrecht ist, und solchen, in denen sie einfach einen Rechtsanspruch vertritt, der mit dem der anderen Seite konfligiert. Insgesamt gesehen lassen sich auf der Grundlage von Gentiiis Überlegungen wohl die meisten Kriege, wenn sie denn zwischen souveränen Fürsten stattfinden, als gerecht klassifizieren. Gentiii selbst war der Meinung, daß es in der Natur des Krieges liege, daß beide Seiten sich auf die gerechte Sache beriefen. Gleichzeitig meinte er aber, daß die Menschen fast nie in der Lage seien, hierüber eine adäquate Entscheidung zu treffen. Im Grunde wird durch solche Eingeständnisse die traditionelle Doktrin von der iusta causa vollständig untergraben. Gentiii entwickelte äußerst detaillierte Vorstellungen über ein ius in bello. Zu einem Höhepunkt in der Entwicklung des Völkerrechts kommt es nach einer weitverbreiteten Meinung durch den Niederländer Hugo Grotius.71 Dieser unterschied, wie schon andere vor ihm, zwischen materialer und formaler Gerechtigkeit eines Krieges, eine Unterscheidung, von der dann bei ihm auch die Antwort auf die Frage abhängt, ob ein Krieg von beiden Seiten gerecht sein kann. Als gerechte Kriegsgründe faßt Grotius Verteidigung, Wiedererlangung von Genommenem und Strafe auf. 72 Hinsichtlich dieser iustae causae kann die Gerechtigkeit im Krieg objektiv nur auf einer Seite sein. Anders verhält es sich mit der formalen Ebene. Ein Krieg ist formal gerecht, wenn es sich um ein bellum solenne, einen förmlichen Krieg, handelt, und dieser liegt vor, wenn der Krieg von einem Träger souveräner Gewalt geführt wird und eine Kriegserklärung stattgefunden hat.73 In diesem Rechtswirkungssinn kann dann ein Krieg sehr wohl von beiden Seiten objektiv gerecht sein.74 Die Frage ist, auf welche Dimension der Gerechtigkeit Grotius mehr Gewicht legt. Es stellt sich heraus, daß letztlich die formale Ebene praktisch entscheidend ist. Dieses zeigt sich z. B. an Grotius' Ausführungen zum Status von nicht kriegführenden Parteien. Einerseits sollen diese die (material) ungerechte Seite nicht unterstützen und der gerechten Seite keine Schwierigkeiten bei der Durchsetzung ihrer Ziele bereiten. Andererseits aber bleibt ihnen selbst die Entscheidung darüber überlassen, welche Kriegspartei denn nun die Gerechtigkeit auf ihrer Seite hat.75 Dann ist nicht einzusehen, warum nicht auch die Belligerenten ihr eigenes Urteil über die Gerechtigkeit ihrer Sache treffen sollten. Auch Grotius geht
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Über den Standort von Grotius in der Entwicklung der Rechtstheorie wird viel gestritten. Einige halten Grotius sowohl für den „Vater des Völkerrechts" als auch fur einen Vordenker moderner Rechtspositionen wie etwa des diskriminierenden Kriegsbegriffs. Solche Interpreten haben die Redeweise von einer „Grotian Tradition" im internationalen Recht geprägt. Siehe hierzu z. B. Lauterpacht: The Grotian Tradition in International Law. Kritisch gegenüber Deutungen dieses Typs ist Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 2 2 7 ff.; S. 2 5 8 . Vgl. Grotius: V o m Recht des Krieges und des Friedens. Zweites Buch, 1. Kap., § II, S. 1 3 6 . Vgl. Grotius, ebd., Erstes Buch, 3. Kap., § IV, S. 8 7 . Vgl. Grotius, ebd., Zweites Buch, 23. Kap., § XIII, S. 3 9 5 . Vgl. Grotius, ebd., Drittes Buch, 17. Kap., § III, S. 5 4 4 f.
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EINLEITUNG
also de facto davon aus, daß es keine übergeordnete Instanz gibt, die über die Gerechtigkeit einer causa entscheiden kann. 76 Zwar mag es eine Partei geben, die material objektiv im Recht ist, doch Grotius schien, ähnlich wie Ayala, zu denken, daß den Menschen die Einsicht in solche Objektivität meist nicht möglich ist, und so bleibt denn nur ihr eigenes subjektives Urteil. Im Ergebnis haben wir es also auch nach Grotius im Kriegsfall mit Parteien zu tun, die einander als Gleiche gegenüberstehen, wenn denn die Förmlichkeit des Krieges gesichert ist. Diese Voraussetzung der grundsätzlichen Gleichheit wird auch deutlich an Grotius' ausführlichen Überlegungen zum ius in bello. Beide Parteien haben im Rahmen eines bellum solenne genau die gleichen Rechte und Pflichten, so daß es keinerlei Privilegien für eine bestimmte Seite gibt. Tatsächlich argumentiert Grotius, daß die Gerechtigkeit eines Krieges gar nicht an der Ursache zu messen ist, aus der er entspringt, sondern ausschließlich an der Frage, ob es sich um einen förmlichen Krieg handelt oder nicht. 77 Gehörte Grotius noch dem 17. Jahrhundert an, so verfaßte der Völkerrechtler Emer de Vattel™ seine Werke bereits auf dem Boden des 18. Jahrhunderts, also in einer durch den Westfälischen Frieden geprägten Epoche, in der sich Enttheologisierung und Formalisierung der Kriegslegitimation faktisch weitgehend durchgesetzt hatten. Vattel schließt in seinen völkerrechtlichen Lehren eng an das Naturrechtssystem von Christian Wolff an, als dessen Schüler er gelten kann. Für Wolff war die Frage nach der Kriegsgerechtigkeit auf der Ebene des ius voluntarium, also des positiven Rechtes, das zwischen Staaten aufgrund von wechselseitigem Konsens im Gesellschaftszustand gilt, ohne Bedeutung. Ein zwischenstaatlicher Krieg war seiner Auffassung nach auf dieser Rechtsebene grundsätzlich für beide Seiten gerecht, weil es über den Staaten keinen Richter gibt, der ein Urteil über die Gerechtigkeit des Krieges fällen könnte. Die Frage nach der (materialen) Gerechtigkeit war für Wolff dagegen nur auf der Ebene des Naturrechts, des ius naturale, relevant, also auf einer Rechtsebene, die zwischen den Staaten unabhängig vom positiven Recht gilt. Vattel legt diese Theorie dahingehend aus, daß sich das Naturrecht nur an die Gewissensinstanz der souveränen Herrscher richtet, die demnach autonom über die Gerechtigkeit ihrer Sache entscheiden. Auf der Grundlage des ius voluntarium, des positiven Völkerrechts, kann es nach Vattel kein Urteil über die Gerechtigkeit eines Krieges geben. Hierfür führt er mehrere Gründe an, z. B. den, daß es über den Staaten keinen Richter gibt, aber auch den, daß Frieden unmöglich würde, wenn jedes Resultat eines Krieges immer wieder unter Berufung auf dessen Ungerechtigkeit umgestoßen werden könnte. 79 Tatsächlich verliert bei Vattel die traditionelle Frage nach der iusta causa endgültig jeden praktischen Sinn. Das Problem der Kriegsgerechtigkeit wird de facto zu einem Formproblem, zu der Frage, ob ein gewaltsamer Konflikt zwischen Staaten ausgetragen wird oder nicht. Die Lehre vom gerechten Krieg bringt traditionell diverse Probleme mit sich, die sich etwa folgendermaßen systematisieren lassen: 1.
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Das Vagheitsproblem. Der Begriff einer iusta causa in irgendeinem inhaltlichen Sinn ist notorisch unscharf.
Siehe hierzu auch Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 2 5 6 ff. Vgl. Grotius, ebd., Drittes Buch, 3. Kap., § 1, S. 4 3 9 . Zu Vattel siehe Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 3 3 2 f., S. 4 3 7 ff. Siehe hierzu Grewe, ebd., S. 4 3 8 .
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Das Letztentscheidungsproblem. Wer sollte auf welcher Grundlage über die Gerechtigkeit der Anliegen kriegfiihrender Parteien entscheiden? Das Inkonsistenzproblem. Es ist das vieldiskutierte Problem des beidseitig gerechten Krieges, des bellum iustum ex utraque parte, das die hergebrachte Theorie des bellum iustum an den Rand der Inkonsistenz bringt. Wenn es möglich ist, daß ein Krieg auf irgendeine (nicht rein formal gefaßte) Weise von beiden Seiten gerecht sein kann, dann scheint die Lehre vom gerechten Krieg sich selbst aufzuheben. Das Neutralitätsproblem. Wie kann es auf der Basis der Theorie des gerechten Krieges echte Neutralität in bezug auf einen gewaltsamen Konflikt geben, wenn doch Neutralität Unparteilichkeit erfordert, (materiale) Gerechtigkeit aber gerade zur Parteinahme zwingt? Das Gewaltbegrenzungsproblem. Wie läßt sich verhindern, daß die Kriegspartei, die den gerechten Grund für sich in Anspruch nimmt, sich auch hinsichtlich ihres Verhaltens im Krieg Rechte anmaßt, die sie der anderen nicht zugesteht? Da erfahrungsgemäß alle Seiten die Gerechtigkeit für sich proklamieren, w i e kann eine endlose Eskalationsspirale der Gewalt vermieden werden?
All diese Schwierigkeiten stehen in einem engen Verweisungszusammenhang miteinander. Man hat versucht, sie zu ihrem größten Teil durch eine fortschreitende Formalisierung der Gerechtigkeitsidee zu lösen, ein Programm, bei dem die Ausbildung der Idee politischer Souveränität eine erhebliche Rolle spielte. Im Laufe dieser Entwicklung wurde die Theorie des gerechten Krieges jedoch eines ihrer wesentlichen Standbeine beraubt, der Voraussetzung einer objektiv verbindlichen iusta causa belli.*0 In einem gewissen Sinn sind neuzeitliche Völkerrechtler wie Gentiii oder Vattel überhaupt keine Vertreter der Theorie des gerechten
Keineswegs soll an dieser Stelle behauptet werden, in der Kriegspraxis sei irgendwann auf inhaltliche Kriegslegitimationen von Seiten der beteiligten Parteien verzichtet worden. Im Gegenteil: Auch die souveränen Fürsten des 18. Jahrhunderts beschimpfen im Kriegsfall einander hemmungslos und behaupten weiter, ausschließlich die eigene Sache sei gerecht. Doch wird die Gerechtigkeitsfrage eben konsequent in den Bereich politischer Moral verwiesen und aus der juridischen Beurteilung ausgeklammert. Auch kommt es gerade im 18. Jahrhundert, der Epoche der sog. „Kabinettskriege", nicht zu Versuchen einer umfassenden moralischen Kriminalisierung des Kriegsgegners. Man diffamiert zwar den Gegner, aber nicht in seiner Gesamtheit, sondern als jemanden, der für ganz bestimmte Aktionen verantwortlich ist. Auffällig ist ebenso, daß die Kriegsrechtfertigungen der souveränen Fürsten des 18. Jahrhunderts offen unter dem Motto der staatlichen Selbsterhaltung stehen und nicht etwa übergeordnete religiös-moralische Inhalte bemühen. Typisch sind diesbezüglich die folgenden Worte Friedrichs des Großen aus dem Antimachiavell: „Von allen Kriegen die gerechtesten und unvermeidlichsten sind die Verteidigungskriege, sobald Feindseligkeit ihrer Gegner die Fürsten zu wirksamen Gegenmaßregeln wider ihre Angriffe zwingen und sie Gewalt mit Gewalt abwehren müssen (...) Nicht weniger wohlbegründet als die genannten Kriege sind solche, mit denen ein Herrscher bestimmte Rechte oder bestimmte Ansprüche, die man ihm bestreiten will, behauptet." Zitiert nach Ipsen: Völkerrecht, S. 3 1 f. Zur Geschichte von Kriegslegitimationen vgl. Repgen: Kriegslegitimationen in Alteuropa. Repgen stellt fest, daß vom 12. bis zum 20. Jahrhundert der gemeinsame Nenner aller Kriegsmanifeste das Insistieren auf der ausschließlichen Gerechtigkeit der eigenen Sache sei (vgl. S. 23). Hiermit dürfte er recht haben, doch wurde sich die Völkerrechtstheorie eben dieses Sachverhaltes immer deutlicher bewußt und zog aus ihm relativistische Konsequenzen.
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EINLEITUNG
Krieges mehr, wenn man hierunter hauptsächlich eine Lehre über allgemeingültig verbindliche Kriegslegitimationen versteht. An die Stelle einer solchen Lehre tritt ein formal gefaßtes ius ad bellum, das durch ein im Verlauf der Zeit immer differenzierteres Gebäude des ius in bello seine Ergänzung findet. Schon Gentiii und Grotius entwickeln komplexe Systeme eines ius in bello, doch war ihnen aus zeitbedingten Gründen die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung noch fremd. Diese Differenzierung setzte sich de facto im 18. Jahrhundert durch, und zwar als Folge der Professionalisierung der Streitkräfte, welche die klare Trennung eines „militärischen" von einem „zivilen" Bereich überhaupt erst ermöglichte. Jene Professionalisierung, also die Herausbildung stehender Berufsheere, war ihrerseits erst möglich geworden durch die Erweiterung und Zentralisierung der politischen Macht, die den souveränen Fürstenstaat konstituiert, eine Macht, die sich wesentlich im freien Kriegführungsrecht niederschlug. Tatsächlich bilden politische Souveränität, freies ius ad bellum, militärische Professionalisierung und „Hegung" des Krieges zentrale Knotenpunkte eines Beziehungsnetzes. 81 Zu einer eigentümlichen Wiederbelebung der Theorie des (material) gerechten Krieges kommt es durch die Französische Revolution. 82 Die französischen Revolutionäre fügten der bereits voll ausgebildeten Idee der Souveränität im Grunde nur eine wesentliche Neuerung hinzu, indem sie diese Idee durch den nationalen Gedanken besetzten und ausfüllten. Souveränität kam ihrer Meinung nach nicht den Fürsten zu, sondern den Völkern, und zwar sowohl nach innen als auch nach außen. Auf der inneren Ebene beinhaltete der revolutionäre Souveränitätsbegriff das Recht eines Volkes, über seine Staatsverfassung zu bestimmen, und auf der äußeren Ebene das Recht eines Volkes, darüber zu entscheiden, welchem Staatsverband es überhaupt angehören will. Im Zusammenhang dieses neuen Souveränitätsprinzips, das die hergebrachte monarchische Konzeption sprengte, sind auch die Kriegsvorstellungen der französischen Revolutionstheoretiker zu verstehen. Die Frage nach dem ius ad bellum mußte sich erneut stellen. Dieses war mittlerweile faktisch an formale Qualitäten gebunden, an die Eigenschaft, Inhaber der obersten staatlichen Souveränität zu sein. Nach revolutionären Begriffen sollte solche Autorität den Völkern zustehen, was jedoch eben nicht der Fall war. In dieser Situation war eine Renaissance der Idee objektiv gerechter Kriegsgründe geradezu naheliegend, bot diese doch die Chance eines inhaltlichen Zugriffs auf das Problem der Kriegsle-
Den „gehegten" Krieg in jener Form, in der ihn so mancher souveräne Fürst oder aufklärerische Philosoph stilisierte, hat es sicher nie gegeben. Auch in den „Kabinettskriegen" des 1 8. und 19. Jahrhunderts war die Zivilbevölkerung von der Kriegführung betroffen. Doch es wäre ein Fehler, die grundlegenden Differenzen etwa zu den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts herunterzuspielen. Mit Recht weist z . B . Koselleck darauf hin, daß die optimistischen Hoffnungen mancher Autoren des 18. Jahrhunderts, selbst die Kriege könnten immer mehr beseitigt werden, nicht nur utopische Wunschvorstellungen waren, sondern eben auch Folgen und Symptome einer realen politischen Ordnung. Vgl. Koselleck: Kritik und Krise, S. 38. Selbst ein zeitgenössischer Autor, der den Konstruktcharakter des Begriffs Kabinettskrieg betont, empfiehlt dann doch den modernen Demokratien, das Regelwerk des Kabinettskrieges zu modernisieren und anzuwenden. Vgl. Salewski: Tier aus der Tiefe. Siehe zu diesem Komplex Grewe: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 4 8 5 ff. Vgl. auch Martens: Völkerrechtsvorstellungen der französischen Revolution. Siehe ebenfalls Schnur: Weltfriedensidee und Weltbürgerkrieg.
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gitimation, während die gängige formale Praxis lediglich den politischen Status quo abbildete, der ja aus revolutionärer Sicht zu bekämpfen war. Im Mai 1790 diskutiert man in der französischen Nationalversammlung grundsätzlich das Problem des Rechts zum Kriege. Dabei wird in der heute modern anmutenden Terminologie von „Angriffskrieg" und „Verteidigungskrieg" argumentiert. Gerecht seien Kriege nur in der Form des Verteidigungskrieges, ungerecht aber als Angriffskriege. Das Dekret vom 22. Mai 1790 hält dann fest, daß ausschließlich solche Kriege rechtmäßig seien, die dazu dienten, einen unmittelbar bevorstehenden Angriff abzuwehren, einen Bündnispartner zu unterstützen oder ein eigenes Recht zu bewahren. Diese Darlegung bringt gegenüber bestimmten hergebrachten Vorstellungen über gerechte Kriegsgründe kaum etwas Neues, vor allem nicht größere Klarheit. Man m u ß sich in diesem Z u s a m m e n h a n g verdeutlichen, daß der Ausdruck „Angriffskrieg" {guerre offensive) nicht in unserem heutigen Sinn von „Erstanwendung von Waffengewalt" verwendet wird, sondern daß mit der französischen Konzeption sehr wohl Präventivkriege aller Art und Interventionskriege als vereinbar gedacht werden konnten. Entlarvend ist dann schließlich die französische Kriegspraxis. Der Krieg gegen Österreich von 1792 wird mit der Begründung legitimiert, es handele sich um die Verteidigung eines freien Volkes gegen die ungerechte Aggression eines Monarchen. Als Aggression wird dabei bezeichnenderweise allein die Existenz einer monarchischen Ordnung angesehen. 83 Neu war hieran nicht die Berufung auf Selbstverteidigung, denn diese stellte schon immer den optimalen Fall der Kriegslegitimation dar. Originell war die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht freier Völker in Verbindung mit dem Umstand, daß die Revolutionäre von der für sie selbstverständlichen Voraussetzung ausgingen, diese Völker wollten von sich aus niemals Krieg, sondern immer nur Frieden. Tatsächlich war die Betonung des Friedensgedankens durch die französischen Revolutionäre hervorstechend, 84 doch vor allem stand diese sehr bald in einem eklatanten Widerspruch zum fortschreitenden militärischen Expansionismus der Revolution. Die Revolutionäre versuchten, diese Paradoxie durch einen seinerseits paradoxen Gedanken aufzulösen, letztlich durch die Idee eines Krieges gegen den Krieg, also durch die Vorstellung, die mittels eines Befreiungskrieges erlösten Völker würden dann endgültig den Krieg abschaffen und sich der friedlichen Koexistenz hingeben. 85
Schnur weist richtigerweise darauf hin, daß dieses völkerrechtliche Denken sich nicht nach der Tat, sondern nach dem Tätertypus richtet. Vgl. Schnur: Weltfriedensidee und Weltbürgerkrieg, S. 2 5 . Typisch sind die folgenden Äußerungen Mirabeaus v o m 25. August 1790: „Vielleicht ist der Augenblick nicht mehr fern von uns, w o die Freiheit das M e n s c h e n g e s c h l e c h t von dem Verbrechen des Krieges freisprechen und den allgemeinen Frieden verkündigen wird ( . . . ) Dann werden die Leidenschaften nicht mehr durch blutige Streitigkeiten die Bande der Brüderlichkeit zerreißen." Zitiert nach Ritter: Revolution der Kriegführung und der Kriegspolitik, S. 291. Im Januar 1791 faßt Mirabeau die Perspektive ins Auge, „die Grenzen aller Reiche wegzuwischen, um aus dem Menschengeschlecht eine einzige Familie zu bilden ( . . . ) Dem Frieden einen Altar zu errichten aus allen Werkzeugen der Zerstörung, die Europa bedecken." Zitiert nach Ritter, ebd., & 2 9 1 . Charakteristisch für diese Haltung sind etwa die folgenden Sätze aus einer Rede von Isnard: „Sagen wir Europa, daß, wenn die Kabinette die Könige in einen Krieg gegen die Völker verwickeln, wir die Völker in einen Krieg gegen die Könige verwickeln werden. Sagen wir i h m , daß alle Schlachten, die die Völker sich liefern werden, weil die Tyrannen es so wollen ...
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EINLEITUNG
Das europäische Gebäude eines ius in bello wurde durch die Kriege der Revolution erheblich ins Wanken gebracht, wenn auch nicht vollständig und dauerhaft eingerissen. Die missionarische Vorstellung, den Krieg im Namen aller Völker, also der gesamten Menschheit, zu führen, verband sich mit der Tendenz, den Gegner nicht als einen Gleichen zu betrachten, dem im Kriegsfall nicht weniger Rechte zustehen als einem selbst, sondern vielmehr im Feind einen Verbrecher gegen die Menschheit schlechthin zu sehen. Zwar lag es in der revolutionären Logik, zu differenzieren zwischen den wenigen Verbrechern, den monarchischen Herrschern und deren Verbündeten einerseits und den verführten Völkern andererseits, doch ließ sich in der Kriegspraxis diese Grenze nur schwer ziehen. Ein schlagender Beleg hierfür ist Robespierres Anordnung vom Mai 1793, englisch-hannoveranischen Truppen nicht den Status von Kriegsgefangenen zuzugestehen. Die völkerrechtlichen Vorstellungen der Französischen Revolution sind nicht ohne nachhaltige Wirkungen geblieben, doch konnten sie sich im 19. Jahrhundert nicht durchsetzen, auch wenn zu berücksichtigen ist, daß politisch das Zusammendenken von Krieg und Nation von nun an nicht mehr rückgängig zu machen war. Die Restauration von 1814/15 reetablierte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges die durch den Westfälischen Frieden entstandene Ordnung des ius publicum europaeum. Diese Zeit steht im Grunde gänzlich im Zeichen einer Verfeinerung und Kodifizierung des ius in bello. In jenem Zeitraum entstehen der LieberCode von 1863, die Brüsseler Erklärung von 1874 und vor allem die unter dem Titel „Landkriegsordnung" bekannten Haager Abkommen von 1899 und 1907, die in detaillierter Form Mittel und Methoden der Kriegführung regeln. Mittlerweile ist dieses „Haager Recht" durch die vier Genfer Abkommen von 1949 und die entsprechenden Zusatzprotokolle von 1977 ergänzt worden, die zusammen oft auch als „Genfer Recht" bezeichnet werden und die (im Unterschied zum Haager Recht) unmittelbar dem Schutz von Verwundeten, Kriegsgefangenen und Zivilpersonen dienen. Im 19. Jahrhundert wird das klassische Kriegsvölkerrecht perfektioniert, wogegen das Problem der Gerechtigkeit eines Krieges in noch ausgeprägterer Form als im vorigen Jahrhundert als eine rechtlich belanglose Frage der Moral angesehen wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kommt es zu einer völkerrechtlichen Wende. Erneut wendet sich die Aufmerksamkeit dem ius ad bellum zu. Als wichtige Wegmarken sind die Völkerbundsatzung, vor allem aber der Kellogg-Pakt von 1928 zu nennen. In diesem verzichten die Unterzeichnerstaaten auf den Krieg als Instrument nationaler Politik. Selbstverteidigung mit kriegerischen Mitteln bleibt auch nach dem Kellogg-Pakt erlaubt. Der Angriffskrieg aber wird zu einer rechtswidrigen Handlung, zu einer Völkerrechtsverletzung erklärt. Jedoch enthält der Vertrag keinerlei Vorschriften über kollektive Zwangsmaßnahmen im Sinne von Völkerrechtssanktionen bei Verstoß gegen die Vertragsvorschriften. Noch we(Applaus). Applaudiert nicht, applaudiert nicht, achtet meine Begeisterung, sie ist die Begeisterung der Freiheit! Sagen wir ihm, daß alle Schlachten, die die Völker sich liefern werden, weil die Tyrannen es so wollen, wie die Schläge sind, welche zwei Freunde sich, aufgestachelt von einem heimtückischen Intriganten, in der Dunkelheit zufügen; sobald es heller Tag wird, werfen sie ihre Waffen beiseite, umarmen sich und nehmen Rache an dem, der sie täuschte; ebenso werden die Völker, wenn mitten im Kampf zwischen den feindlichen und unseren Armeen das Licht der Philosophie ihre Augen trifft, sich im Angesicht der entthronten Tyrannen, der getrösteten Erde, des befriedigt zuschauenden Himmels umarmen." Zitiert nach Fehrenbach: Ideologisierung des Krieges und Radikalisierung der Französischen Revolution, S.62.
39 niger scheint es in der Intention der paktschließenden Staaten g e l e g e n zu haben, die für einen e v e n t u e l l e n Vertragsbruch verantwortlichen Personen strafrechtlich zu v e r f o l g e n . 8 6 D e r Kell o g g - P a k t ächtete und verbot d e n A n g r i f f s k r i e g als völkerrechtswidrig, behandelte ihn aber nicht als strafbares Verbrechen. 8 7 S o g a b e s denn i m Zeitraum z w i s c h e n 1928 und 1 9 3 9 klare und gravierende V e r s t ö ß e g e g e n den Vertrag, e t w a d e n italienischen A n g r i f f auf A b e s s i n i e n 1935 und den russischen Einmarsch in Finnland 1939, 8 8 o h n e daß e i n e internationale Strafv e r f o l g u n g der für die Vertragsbrüche verantwortlichen P e r s o n e n k r e i s e stattgefunden hätte oder auch nur ins A u g e gefaßt worden wäre. 8 9 Zu erwähnen ist, daß der K e l l o g g - P a k t militärische G e w a l t nur in F o r m des K r i e g e s diskriminierte. D i e s ist aus völkerrechtlicher Perspektive als e i n klares D e f i z i t zu betrachten, w e i l e s dazu führen konnte, daß militärische Gewaltakte gezielt nicht als „Krieg" deklariert wurden, u m hierdurch das Kriegsverbot des Paktes zu unterlaufen. 9 0 N i c h t nur e i n a l l g e m e i n e s V e r b o t d e s K r i e g e s , s o n d e r n e i n grundsätzliches Verbot der Androhung und A n w e n d u n g v o n (militärischer) G e w a l t bringt erst die UN-Charta v o n 1945 in Art. 2, Z i f f . 4. 9 1 Aufschlußreich sind in diesem Z u s a m m e n h a n g die folgenden Aussagen. Staatssekretär Kellogg am 7. Dezember 1928 vor dem Auswärtigen Ausschuß des amerikanischen Senats: „Wie man annehmen kann, daß für die Vereinigten Staaten eine moralische Verpflichtung bestünde, nach Europa zu gehen, um den Angreifer oder die Kriegspartei zu bestrafen, wo doch im Laufe der Verhandlungen niemals ein solcher Vorschlag gemacht wurde und niemand dem zustimmte und wo eine solche Verpflichtung auch gar nicht besteht - das geht über meinen Verstand. Ich kann es nicht begreifen." Zitiert nach Grewe: Nürnberg als Rechtsfrage, S . 4 2 . - Bericht des Auswärtigen Ausschusses des Senats vom 15. Januar 1929: „Der Ausschuß ist der Ansicht, daß der Vertrag keine Sanktionen vorsieht, weder ausdrücklich noch stillschweigend. Sollte irgendein Signatar des Vertrages oder irgend ein später beigetretener Staat die Bestimmungen desselben verletzten, so besteht auf Seiten der anderen Unterzeichner weder ausdrücklich n o c h stillschweigend irgendeine Verpflichtung oder Verbindlichkeit, Straf- oder Z w a n g s m a ß n a h men gegen den Vertragsbrüchigen Staat zu ergreifen. Die Wirkung der Vertragsverletzung besteht darin, die anderen Unterzeichner des Vertrages von jeder Verpflichtung aus dem Vertrage dem verletzenden Staate gegenüber zu befreien." Zitiert nach Grewe: Nürnberg als Rechtsfrage, S.43. - Staatssekretär Stimson am 8. August 1932 in einer Rede vor dem Council o n Foreign Relations in New York: „Der Briand-Kellog-Pakt sieht keine zwangsmäßigen Sanktionen vor. Er fordert nicht, daß irgend ein Signatar mit Zwangsmaßnahmen vorgeht, falls der Pakt verletzt wird. Er beruht vielmehr auf der Sanktion der öffentlichen Meinung, die zu einer der mächtigsten Sanktionen der Welt gemacht werden kann." Zitiert nach Grewe, ebd., S . 4 3 . 87
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Siehe hierzu Berber: Völkerrecht, Bd.II, S . 3 9 f . ; S . 2 5 7 f f . Vgl. auch Grewe: Nürnberg als Rechtsfrage, S . 3 2 f f „ bes. 3 8 f f . Siehe zu diesen Fällen Grewe, ebd., S . 4 3 f. Vgl. auch Berber, ebd., Bd.II, S . 3 8 . Vgl. hierzu Grewe, ebd., S . 4 3 f . Dieses Problem spielte z . B . 1931 beim japanischen Einmarsch in die Mandschurei eine R o l l e und 1937 im chinesisch-japanischen Konflikt. Siehe hierzu Berber, ebd., S . 3 8 . Von diesem Gewaltverbot gibt es nach der UN-Charta drei Ausnahmen: 1. Es gibt ein Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff. 2. Der Sicherheitsrat hat die Möglichkeit, kollektive Z w a n g s m a ß n a h m e n zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit zu ergreifen. 3. Zugelassen sind auch Zwangsmaßnahmen bei der Ausübung von Sonderrechten g e g e n über ehemaligen „Feindstaaten". Zu den Ausnahmen vom Gewaltverbot siehe Berber, e b d . , S . 4 1 ff. Ipsen: Völkerrecht, S . 9 3 5 .
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EINLEITUNG
In das heutige Völkerrecht sind Elemente und Einflüsse verschiedener Art eingegangen. So hält die UN-Charta, das wichtigste Dokument internationalen Rechts, am Prinzip der Souveränität der Staaten fest, also an einem Grundsatz, der schon die „westfälische" Epoche des Völkerrechts beherrschte.92 Gleichzeitig wird aber das Souveränitätskonzept durch den nationalen Gedanken ausgefüllt, also durch die Vorstellung, daß die Völker die Träger da' staatlichen Souveränität sind. In diesem zentralen Punkt wird an ursprünglich durch die Französische Revolution aufgekommene Ideen angeknüpft. Tatsächlich ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt (noch) keine Völkerrechtsordnung in Sicht, die von der Konzeption des souveränen Nationalstaats als Rechtssubjekt grundsätzlich Abschied nehmen würde und könnte. Der entscheidendste Bruch mit den in der klassischen Epoche des neuzeitlichen Völkerrechts dominanten Vorstellungen liegt in der Zurückweisung des freien Kriegführungsrechts der Staaten. Andererseits hat das moderne Völkerrecht, soweit es sich um das Recht des bewaffneten Konflikts handelt, das klassische Prinzip von der Gleichheit der Konfliktparteien übernommen oder zumindest in der Sache daran angeknüpft. Unabhängig vom Grund des Konfliktes sollen die Schranken des ius in bello für beide Parteien in genau gleicher Weise gelten, so daß jede diesbezügliche Privilegierung einer Seite rechtlich ausgeschlossen ist. Die Lehre vom gerechten Krieg, in welcher Form auch immer, ist nun nach Meinung der überwiegenden Anzahl der heutigen Völkerrechtler juristisch tot, d. h. ohne jede Wirkung auf das Recht und dessen Entwicklung.93 In der Tat verläuft die moderne Differenzierung zwischen Angriff und Verteidigung quer zu der Unterscheidung zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg,94 denn die überlieferten Vorstellungen von (materialer) Kriegsgerechtigkeit, so breit gefächert sie auch sein mögen, haben ihrer Formulierung nach noch niemals die Erstanwendung von Gewalt ausgeschlossen, so wie es das heutige Konzept des bewaffneten Angriffs tut. Vor allem müssen Theorien des gerechten Krieges letztlich dem ius ad bellum einen Vorrang vor dem ius in bello einräumen, der durch das geltende Völkerrecht in keiner Weise gedeckt ist. Dies gilt ganz sicher für solche Ansätze, die davon ausgehen, daß ein Krieg grundsätzlich nur von einer Seite aus einen gerechten Grund haben kann, aber auch für solche, die davon ausgehen, die Gerechtigkeit sei mindestens in manchen Fällen klarerweise nur einer Partei zuzuordnen. Wie wird der Vertreter einer solchen Theorie des gerechten Krieges reagieren, wenn er mit einer faktischen oder gedachten Situation konfrontiert ist, in der die seiner Ansicht nach allein aus gerechtem Grund kämpfende Seite den Sieg der ungerechten Partei nur verhindern kann, indem sie selbst (möglicherweise massive) Verstöße gegen kriegsrechtliche Normen begeht? Bestenfalls wird er Graduierungen und „Güterabwägungen" Vgl. hierzu Eisele: Friedensmissionen der Staatengemeinschaft, hier bes. 6 5 f . Eisele b e t o n t , daß die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen in Art. 2 einen freiwilligen Verzicht auf die Androhung und Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt leisten. Gerade in dieser F r e i w i l l i g keit sei aber eine klare A b s a g e an übernationale Strukturen und an ein G e w a l t m o n o p o l
der
U N O zu sehen. 93
Als repräsentativ für die Auffassung vieler Völkerrechtler können wohl die folgenden Aussagen stehen. Ipsen: Völkerrecht, S . 3 3 : „Unheilvolle Lehren v o m „gerechten" oder „ H e i l i g e n " Krieg sind bis in die Gegenwart hin zu verzeichnen. Mit geltendem Völkerrecht sind sie un94
vereinbar." Siehe zu diesem Punkt auch Berber: Völkerrecht, Bd.II, S . 3 2 . Siehe hierzu auch Scheuner: Krieg als Mittel der Politik im Lichter des Völkerrechts, S. 1 71 f.
41 vornehmen und in deren Rahmen zu etwa folgender Schlußfolgerung gelangen: Wenn der Sieg der ungerechten Partei ein extremes Unrecht bedeuten würde, dann ist es der gerechten Seite in einer Lage wie der skizzierten moralisch erlaubt, kriegsrechtliche Regeln zu brechen, wenn dies denn das einzig taugliche Mittel ist, um den Sieg der „totalen" Ungerechtigkeit abzuwenden. 95 Es ist schwer zu sehen, welcher anderen Argumentationsstrategie er sich bedienen sollte, denn er wird aus seiner Perspektive kaum behaupten können, die gerechte Seite habe sich grundsätzlich an die Vorschriften des Kriegsrechts zu halten, auch wenn sie durch solches Verhalten wahrscheinlich dem „absoluten" Unrecht zu dauerhaftem Erfolg verhilft. Man sieht an dieser Stelle, wie rechtsfremd Theorien des gerechten Krieges sind, in welch modernem Gewand sie auch daherkommen mögen. Sie können buchstäblich eines der bereits erwähnten elementaren Prinzipien des Kriegsvölkerrechts nicht akzeptieren: den Grundsatz, daß im bewaffneten Konflikt die beteiligten Parteien genau die gleichen Rechte und Pflichten haben, unabhängig vom Grund und der Natur des Konfliktes. Zumindest für den „extremen militärischen Notfall" werden solche Lehren Sonderrechte für die aus gerechtem Grund handelnde Partei fordern, Privilegien, die sich im Endergebnis auch gegen das Herzstück des Kriegsvölkerrechts richten, gegen die strikte Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten und den Schutz der letzteren. 96 Durch das Recht des bewaffneten Konfliktes können solche Forderungen (noch) nicht begründet werden, denn dieses steht keines-
Ganz in diesem Sinn argumentiert Michael Walzer, der vielleicht einflußreichste moderne philosophische Theoretiker des gerechten Krieges. Walzer: Just and Unjust Wars, S.323: „What are we to say about those military commanders (or political leaders) who override the rules of war and kill innocent people in a „supreme emergency"? (...) The deliberate killing of the innocent is murder. Sometimes, in conditions of extremity (which I have tried to define and delimit), commanders must commit murder or they must order others to commit it. And then they are murderers, though in a good cause. (...) They have killed unjustly, let us say, for the sake of justice itself, but justice itself requires that unjust killing be condemned. There is obviously no question here of legal punishment, but of some other way of assigning and enforcing blame." Walzer spricht hier über die denkbar gravierendsten Verstöße gegen kriegsrechtliche Normen die es geben kann, über die Massentötung von Nicht-Kombattanten, die in seiner Terminologie „innocent people" heißen. Solche Tötungen sind seiner Meinung nach in bestimmten extremen Notlagen rechtlich gar nicht zu beanstanden und moralisch wenigstens teilweise legitim. Dabei ist eine solche Notlage als eine Situation definiert, in der es gilt, den Sieg einer im höchsten Grade ungerechten Kriegspartei abzuwenden. Allerdings sind Aktionen der erwähnten Art nach Walzers Meinung dennoch Morde und daher ungerecht. Auf der anderen Seite werden sie aber zu dem Zweck durchgeführt, die Gerechtigkeit als solche wiederherzustellen. Man gelangt hier zu dem durch und durch eigentümlichen Begriff eines Mordes mit moralisch guter Absicht. Allerdings gibt es z.B. in Kreisen amerikanischer Militärjuristen bereits Positionen, die darauf hinauslaufen, die genannte Unterscheidung aufzuweichen, indem erwogen wird, ob nicht der rechtlich festgelegte Nicht-Kombattantenstatus der Zivilbevölkerung zum Teil eingeschränkt werden sollte. Als Argument dient hier u.a. die Überlegung, daß im Kosovo-Konflikt weite Teile der serbischen Bevölkerung die verbrecherische Politik ihres Präsidenten durchaus mitgetragen hätten. Siehe dazu Hoch: Krieg und Politik im 21. Jahrhundert, S . U . Der Autor schätzt solche Vorstöße als gefährlich ein.
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EINLEITUNG
w e g s unter d e m grundsätzlichen V o r b e h a l t der „militärischen N o t w e n d i g k e i t " , w i e i m m e r auch dieser Vorbehalt moralisch ergänzt und untermauert werden mag. 9 7 D e r T h e m e n k o m p l e x Krieg und Politik überschneidet sich mit fast allen der bisher umrissenen Felder und stellt dennoch ein eigenständiges Sachgebiet dar. Unter Politik wollen wir hier in etwa mit M a x W e b e r verstehen das „(...) Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt." 98 D e r W e b e r s c h e Politikbegriff ist stark staatszentriert. W e n allein dieses stört, der m a g sich an der sehr ähnlichen Erläuterung von Franz N e u m a n n orientieren: „Politik ist auf Macht und Herrschaft in der Gesellschaft und auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens gerichtetes Verhalten und Handeln von Individuen, Gruppen, Organisationen, Parteien, Klassen, Parlamenten und Regierungen."99 Von diesen Erläuterungen übernehmen wir vor allem den Gedanken, daß es Politik wesentlich mit d e m P h ä n o m e n der Macht zu tun hat, worunter wir wiederum mit M a x W e b e r verstehen: „(...) jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." Ein Begriff von Politik in d i e s e m Sinne eines a m E r w e r b , der S i c h e r u n g und d e m A u s b a u von M a c h t im öffentlichen Bereich ausgerichteten Strebens und H a n d e l n s kann kontrastiert werden mit der aristotelisch-christlichen B e g r i f f s t r a d i t i o n , n a c h d e r p o l i t i s c h e s Handeln grundsätzlich auf d a s G e m e i n w o h l gerichtet ist u n d a n s o n s t e n kein politisches o d e r kein „ w a h r e s " politisches H a n d e l n wäre. M a c h t kann in diese K o n z e p t i o n sehr w o h l integriert werden, aber eben als Mittel politischen Handelns, nicht als dessen eigentlicher Z w e c k . Nach der letzteren Tradition bilden Politik und Ethik eine Einheit, während die machttheoretische Konzeption das Vorhandensein von Politik nicht von b e s t i m m t e n (moralischen) Zwecken abhängig macht. Tatsächlich hat sich das machttheoretische Verständnis von Politik mittlerweile faktisch weitgehend durchgesetzt, wie sich ζ. B. a m Alltagssprachgebrauch zeigt, in d e m wir h ä u f i g und selbstverständlich s o w o h l von „korrupter" oder „verbrecherischer" als auch von „menschenfreundlicher" Politik reden, was symptomatisch d a f ü r ist, daß im Begriff der Politik nicht automatisch der Inhalt von A d j e k t i v e n wie „moralisch g u t " oder „tugendh a f t " mit gedacht wird. V i e l m e h r w e n d e n wir den A u s d r u c k „Politik" auf b e s t i m m t e H a n d lungen unabhängig davon an, welchen Zielen diese dienen oder wie sie sich legitimieren. 1 0 1
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QÛ 100 101
Siehe hierzu Ipsen: Völkerrecht, S. 1053. Ipsen betont an dieser Stelle, daß das Recht des bewaffneten Konfliktes die Einhaltung humanitärer Normen grundsätzlich über das Schädigungsinteresse der Konfliktparteien stellt. Auch die „militärische Notwendigkeit" sei kein Grund, diese Normen zu brechen, so drängend sie auch erscheinen möge. Weber: Politik als Beruf, S.272. Zitiert nach Vollrath: Artikel „Politik", S. 1071. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S.28. Siehe hierzu auch Sellin: Artikel „Politik", S.874.
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Die politische Perspektive auf das Thema Krieg in dem soeben erörterten Sinn ist ein notwendiges Korrektiv zu jeder rechts- oder moraltheoretischen Sichtweise. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein rein rechts- oder moraltheoretischer Ansatz uns nur Antworten auf die Frage geben kann, unter welchen Bedingungen ein Krieg legitim oder legal ist, nicht aber darauf, welche Funktion Krieg schlechthin oder ein bestimmter Krieg im politischen Machtkampf erfüllt. Eben dieses ist die Aufgabe einer politischen Theorie des Krieges, wenn sie denn etwas anderes sein will als eine Theorie darüber, welche Vorstellungen von Legalität oder von Gerechtigkeit oder allgemein von Tugendhaftigkeit in bezug auf Krieg in die Tat umgesetzt werden sollen, wenn sie also von einer Rechts- oder Moraltheorie des Krieges unterschieden sein will. Eine politische Kriegstheorie in diesem Sinn wird, um der berühmten Clausewitzschen Formel vorzugreifen, den Krieg als eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln begreifen, und zwar als die Extremform des politischen Konfliktes schlechthin. Dieses bedeutet nicht, daß politische Theorie des Krieges rechts- und moraltheoretische Kriegskonzeptionen ignorieren muß, sondern sie kann vielmehr aufzeigen, inwiefern diese selbst nicht autonom sind, sondern den Ausdruck politischen Willens und politischer Strukturen darstellen. Politische Theorie kann generell weder Recht noch Moral als in sich geschlossene Systeme betrachten, sondern wird beide auf ihre politischen Bedingtheiten hin untersuchen. Politische Theorie des Krieges ist, um zusammenzufassen, eine auf allgemeinste Begriffe gebrachte Theorie des Extremkonfliktes zwischen Trägern von Machtansprüchen. Dem Thema Bürgerkrieg kommt gegenwärtig deshalb eine besondere Relevanz zu, weil wir es gerade in der aktuellen Situation überaus häufig mit Konflikten zu tun haben, die man dem Typus des Bürgerkrieges zuordnen könnte. Dennoch wird unter Krieg noch immer hauptsächlich eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten verstanden, ein Kriegsverständnis, das sicherlich zu kurz greift. 102 Eine begriffliche Festlegung des Inhalts von „Bürgerkrieg" ist jedoch nicht so einfach, wie es oberflächlich scheinen mag. So sagt uns die erste Intuition, daß ein Bürgerkrieg eine gewaltsame Auseinandersetzung größeren Ausmaßes zwischen Bürgern eines Staates oder allgemein eines politischen Verbandes ist. Doch ist dieses Verständnis bei genauerer Hinsicht viel zu eng, weil es nicht mit der Art übereinstimmt, wie der Terminus „Bürgerkrieg" oft verwendet wird. Beispielsweise war das Ereignis, das unter dem Ausdruck „Spanischer Bürgerkrieg" in die Geschichte eingegangen ist, ein wahrhaft internationaler Konflikt und spielte sich keineswegs ausschließlich zwischen Bürgern des spanischen Staates ab. Falsch ist es auch, den Bürgerkrieg einfach mit einer bestimmten Kampfform zu identifizieren, mit derjenigen des kleinen Krieges. Allein der Russische Bürgerkrieg, in dem sich reguläre Armeen gegenüberstanden, die sich regelrechte Schlachten lieferten, ist ein Gegenbeispiel zu diesem Identifizierungsvorschlag. Ebenso unangemessen ist es, den Ausdruck „Bürgerkrieg" auf solche gewaltsamen Konflikte zu beschränken, die sich
102 Der bewaffnete Konflikt zwischen Staaten ist mittlerweile faktisch die Ausnahme geworden. Siehe hierzu Ipsen: Völkerrecht, S. 1046. Ipsen führt z . B . aus, daß in keinem der 25 bewaffneten Konflikte des Jahres 1997 auf beiden Seiten Staaten als Konfliktparteien beteiligt waren. Zu bewaffneten Auseinandersetzungen nicht oder nicht rein staatlicher Art aus s o z i o l o g i s c h e r Perspektive siehe von Trotha: Formen des Krieges, bes. 8 7 f f . Van Creveld stellt die grundsätzliche These auf, der konventionelle zwischenstaatliche Krieg habe historisch abgedankt und werde zukünftig durch Kriege abgelöst, die von den verschiedensten politischen Organisationen geführt würden. Vgl. van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S. 1 2 f .
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innerhalb der Grenzen eines bestimmten staatlichen Territoriums abspielen. So waren die Kriege der Französischen Revolution der Form nach Kriege zwischen Staaten und trugen dennoch zu einem großen Teil Bürgerkriegscharakter, weil die französische Seite das Bild des inneren Feindes auf den äußeren übertrug. Schließlich scheint es gleichfalls inadäquat zu sein, den Kern von Bürgerkriegen in deren Ideologiehaltigkeit zu sehen, obwohl dieser Aspekt gerade von Hobbes sehr stark gemacht wird und dann speziell für das 20. Jahrhundert auch nicht ganz unzutreffend ist. Doch können etwa die zahlreichen Konflikte innerhalb der römischen Republik kaum als ideologische klassifiziert werden, obwohl sie durchaus unter den Begriff des bellum civile subsumierbar sind. Unter einem Bürgerkrieg wollen wir hier einen gewaltsamen Konflikt innerhalb von politischen Verbänden oder zwischen solchen verstehen, der dadurch charakterisiert ist, daß wenigstens eine Seite die andere in ihrer Ganzheit als verbrecherisch betrachtet, oft weniger in einem strikt legalistischen, sondern eher in einem weiteren gerechtigkeitstheoretischen Sinn von Verbrechen. Auseinandersetzungen dieses Typs stehen also im Zeichen der einseitigen, meist aber wechselseitigen Kriminalisierung.'03 Der Feind wird als „Aufrührer", „Separatist" oder auch als „Verbrecher gegen die Menschheit" oder ähnlich klassifiziert und gilt, da er entsprechend wahrgenommen wird, auf jeden Fall nicht als ein im Prinzip gleichberechtigter Gegner. Dabei wird die Diskriminierung des Feindes so weit getrieben, daß ein Frieden mit ihm nur unter der Voraussetzung der Auslöschung seiner gesamten politischen Existenz vorstellbar wird. Bürgerkriege können demnach als gewalttätige Konflikte aufgefaßt werden, in denen zumindest eine Seite sich nicht wirklich als Partei versteht, sondern den Anspruch erhebt, daß nur die von ihr selbst ausgehende Gewalt „gerechtfertigt" ist, diejenige des Feindes aber nicht, und diesen Anspruch so vorträgt, daß er demjenigen auf Ausübung eines Gewaltmonopols gleichkommt. Unser Bürgerkriegsverständnis deckt einerseits alles ab, was traditionell unter dem Begriff des Bürgerkrieges gefaßt wurde: bis aufs Äußerste gesteigerte Unruhen zwischen Angehörigen bzw. Parteiungen eines Gemeinwesens. Andererseits geht es über die hergebrachte Auffassung des Bürgerkrieges als eines rein inneren Konfliktes hinaus, insofern es erlaubt, unter bestimmten Bedingungen auch Kriege zwischen Gemeinwesen, z. B. Staatenkriege, in gewisser Weise als Bürgerkriege zu begreifen. Deshalb deckt sich auch der hier vorgeschlagene Bürgerkriegsbegriff nicht mit dem Begriff des sog. „low intensity conflict". Letzterer Ausdruck wird zur Bezeichnung solcher gewaltsamen Konflikte gebraucht, die durch das Fehlen des Einsatzes moderner Kollektivwaffen (Panzer, Flugzeuge, Raketen etc.) gekennzeichnet sind.104 Auseinandersetzungen dieses Typs weisen in der Regel alle Eigenschaften auf, die in 103
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In diesem Sinn hält z.B. der Brockhaus 1851 über Bürgerkriege fest, daß „hier ein Teil den andern als Verbrecher zu betrachten (pflegt) und nicht als rechtlichen Feind". Statt soldatischer Pflichtgebote herrsche persönlicher Haß, und alles stehe auf dem Spiel. Zitiert nach Koselleck: Artikel „Revolution", S . 7 7 9 . Der Ausdruck „low intensity conflict" kommt erst in den achtziger Jahren des 2 0 . Jahrhunderts auf. Die durch ihn bezeichneten Konflikte sind eher für die weniger entwickelten Teile dieser Welt charakteristisch. Von den weltweit ca. 160 bewaffneten Konflikten zwischen 1945 und 1990 gehören ungefähr drei Viertel der Kategorie der LICs an. Angesichts der Tatsache, daß diesen Konflikten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges schätzungsweise 2 0 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, grenzt der Ausdruck „low intensity" an einen Zynismus. Zu diesen Informationen über low intensity conflicts vgl. van Creveld: Die Zu-
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unserer Bürgerkriegskonzeption als Merkmale gedacht sind. Dennoch sind sie auf der Grundlage unserer Begrifflichkeit nur Spezialfälle von Bürgerkriegen, welche durchaus zwischen modernen Staaten mittels entsprechend modemer Waffensysteme ausgetragen werden können. Aus demselben Grund eignet sich auch für das Wort Bürgerkrieg" in unserem Gebrauch der Ausdruck „Kleiner Krieg" nicht als Synonym, während dieser die zahlreichen low intensity conflicts der neuesten Geschichte und der Gegenwart vielleicht treffend charakterisiert. Unser erweitertes Begriffsverständnis von Bürgerkrieg trägt dem Umstand Rechnung, daß innere Konflikte bekanntlich häufig über ihre ursprünglichen personalen und territorialen Grenzen hinaus greifen und andererseits äußere Kriege oft so umfassend in die innere Verfaßtheit eines politischen Verbandes eingreifen, daß tendenziell die Gesamtheit der Bürgerschaft vom Krieg betroffen ist. Auf einer bestimmten Ebene bleibt jedoch der Begriff des Bürgerkrieges als einer primär inneren Auseinandersetzung erhalten, insofern mindestens eine Seite den Konflikt als Konfrontation einer Exekutive mit einem Rechtsbrecher auffaßt, denn dieses Selbstverständnis nimmt seinen Ausgang offenkundig vom innenpolitischen Modell eines allgemein akzeptierten Rechtsnormensystems, das im Zweifelsfall von einer dazu befugten Instanz mit Gewalt gegen Verstöße zu verteidigen ist. Bürgerkriege weisen sehr häufig eine Anzahl von spezifischen Merkmalen auf, mit denen wir uns besonders im zweiten Teil dieser Arbeit aus Hobbesscher Perspektive beschäftigen werden. Diese Charakteristika sind u. a.: starke Ideologiehaltigkeit; extreme Diskriminierung des Gegners; entweder gänzliche Abwesenheit von allgemeinverbindlich anerkanntem (positiven!) Recht, insbesondere von Kriegsrecht, oder aber massive Verstöße gegen solche Rechtsvorschriften; Auflösung der Grenzen zwischen „privat" und „öffentlich"; Auflösung der Grenzen zwischen „Zivil" und "Militär". Generell läßt sich zum Komplex Bürgerkrieg sagen, daß in Bürgerkriegen jener Aspekt des Krieges, der durch den Ausdruck „werra" vermittelt wird, in besonders hohem Maße realisiert ist. Bürgerkrieg bedeutet fast immer eine Steigerung von Verwirrung, Unvoraussehbarkeit und der entsprechenden Gefühle von Furcht und Unsicherheit, denn die Sprengung bzw. das Nichtvorhandensein von Grenzen wie etwa derjenigen zwischen zivilem und militärischem Bereich macht es möglich, das mit Krieg notwendig verbundene Übel so weit zu verallgemeinern, daß sich ihm niemand entziehen kann. Der Ausdruck „bellum" mit seiner überlieferten Bedeutung von Rechtsstreit ist auf Bürgerkriege nur begrenzt anwendbar, da hier Recht im Sinne von positiv geltenden Gesetzen entweder aufgehoben ist oder zwar formell existiert, aber weitgehend ignoriert wird, was faktisch auf das gleiche hinausläuft. Überaus häufig sind Bürgerkriege dafür mit bestimmten Varianten der Lehre vom gerechten Krieg verbunden, für die es oft charakteristisch ist, daß der Gedanke der Legitimität gegen denjenigen der Legalität ausgespielt wird, so daß das jeweils eigene Handeln als vielleicht nicht legal, auf jeden Fall aber als gerechtfertigt im Sinne einer dem positiven Recht übergeordneten Doktrin erscheint. Grundsätzlich kann Recht seine Funktion als Ordnungs- und Regelungsfaktor nur als allgemein verbindlich anerkanntes Recht erfüllen, doch eben diese Funktion kommt ihm in Bürgerkriegen nahezu völlig abhanden. Der politische Begriff des Krieges als gewaltsamer Machtkampf trifft auf Bürgerkriege
kunft des Krieges, S . 4 2 f f . , bes. 45; S . 9 4 f f . Siehe auch von Trotha: Formen des Krieges, S . 8 7 f f . Von Trotha benutzt nicht den Ausdruck „low intensity conflict", sondern die Formulierungen „Kleiner Krieg" und „Neo-hobbesscher Krieg", aber er redet über das gleiche Phänomen.
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häufig nur in einem erweiterten Sinn zu, und zwar dann, wenn man unter politischem Handeln mehr versteht als den Versuch, partikuläre Machtinteressen im öffentlichen Bereich durchzusetzen. Das Handeln von Menschen in Bürgerkriegssituationen ist oft nicht auf rational unmittelbar nachvollziehbare Motive zurückzuführen. Es scheint dort weniger um das zu gehen, was wir üblicherweise unter dem Begriff des Interesses zusammenfassen, sondern um etwas, was als fundamentaler empfunden wird: um die Verwirklichung kollektiver und individueller Identität, also um die Voraussetzung dafür, die eigenen Interessen überhaupt definieren zu können. Weniger Interessenkalküle beeinflussen das Handeln, sondern eher allgemeine Gesinnungen, von deren praktischer Umsetzung so etwas wie Identität erwartet wird. Eben hier kann eine philosophische Analyse des Bürgerkriegsphänomens ansetzen; sie ist zu bestimmen als eine politische Philosophie des Zusammenhanges von Macht und Ideologie im gewaltsamen kollektiven Konflikt. Der Themenkomplex kriegerische Tugenden ist von den im Rahmen dieser Arbeit behandelten Bereichen derjenige, der am meisten in das Innere des Krieges hineinführt, geht es doch hier um die Voraussetzungen dafür, wie Handeln im Krieg erfolgreich sein kann. Tugend wollen wir in diesem Zusammenhang zunächst im Sinne des griechischen Begriffs der arete verstehen, der unmittelbar keine moralischen Konnotationen hat, sondern soviel bedeutet wie Tüchtigkeit, Kompetenz, Maximum an Leistungsfähigkeit. Das Thema der kriegerischen Tugenden wird in der gegenwärtigen Diskussion um Krieg beinahe vollständig vernachlässigt. Dies kann nur überraschen, denn es ist solange von ungebrochener Aktualität, wie politische Verbände sich auf die Möglichkeit des gewaltsamen Konfliktes prinzipiell einstellen müssen. Vor allem eine philosophische Untersuchung kann es sich gar nicht leisten, diesen Gegenstand zu ignorieren, denn die Eigenschaft der Tapferkeit zählt bekanntlich zu den klassischen sog. Kardinaltugenden, und sie wurde immer wesentlich auch auf Krieg und Kriegführung bezogen. Eine philosophische Analyse kriegerischer Tugenden kann als Teilstück einer Theorie des Handelns in Grenzsituationen beschrieben werden. Genauer gesagt setzt sie sich damit auseinander, mittels welcher Fähigkeiten sich Menschen in Konfliktlagen behaupten können, die durch wechselseitige Gewaltausübung und Gewaltdrohung gekennzeichnet sind. Hier spielt dann die Kompetenz oder das Kompetenzfeld, das traditionell durch den Ausdruck „Tapferkeit" bezeichnet wird, in der Tat eine zentrale Rolle. Tapferkeit kann vorläufig bestimmt werden als eine Kraft, die in der Lage ist, der in Krisenlagen grundsätzlich gesteigerten Unvoraussehbarkeit der Ereignisse etwas entgegenzusetzen. Ist der Krieg eine Situation, die immer mehr oder weniger im Zeichen von werra steht, so ist die Tapferkeit ein Vermögen, angesichts solch bedrohlichen Chaos Größe zu zeigen. Gleich wie man Tapferkeit im einzelnen begreifen mag, man kann diese Komponente wohl als einen Kernbestandteil aller Tapferkeitsvorstellungen auffassen. Die mit dem Tapferkeitsbegriff assoziierten Merkmale sind keine ideengeschichtlichen Konstanten, sondern teilweise einem manifesten Wandel unterworfen. So wird Tapferkeit in der Tradition sehr häufig mit Fähigkeiten des Aushaltens von gewaltsam zugefügtem Tod und Wunden, des heroischen Verharrens auch in lebensbedrohlichen Situationen, also mit einer gesteigerten Leidensbereitschaft, verbunden. Gerade die Stoa hat das entsprechende Bild des idealen Kriegers stark geprägt.105 Die modernen Vorstellungen von Tapferkeit sind demgegenüber durchzogen von dynamisch-aktivistischen Denkfiguren. Tapferkeit wird verbunden 105
Siehe hierzu Oestreich: Der römische Stozismus und die oranische Heeresreform.
47 mit Tatkraft, Schnelligkeit, Flexibilität, allgemein mit der Fähigkeit, auch gefahrlichste Lagen durch Handeln zu bewältigen. 106 Das Denken über Tapferkeit bewegt sich in Kategorien der vita activa. Obwohl natürlich der zentrale Bestandteil des kompetenten Umgangs mit extremer Gefahr geblieben ist, so haben sich doch viele Vorstellungen darüber verändert, worin genau solche Kompetenz bestehen soll. Tapferkeit ist dabei mehr und anderes geworden als eine Kunst des sich Opferns. Dieser Bestandteil bleibt für ausweglose Lagen erhalten; dennoch zielen neuere Vorstellungen von Tapferkeit eher auf eine Kunst des Überlebens auch in schwierigsten Situationen. Es ist umstritten, ob und wie weit Tapferkeit über den Bereich von Krieg und Kampf hinausgeht, ob sie also als eine rein kriegerische Tugend zu denken ist oder aber als eine umfassende Kompetenz, mittels derer Menschen generell schwierige Lebenssituationen bewältigen, auch wenn diese nicht oder nicht unmittelbar mit Gewalt zu tun haben. Piaton und Aristoteles etwa vertraten bezüglich dieser Frage unterschiedliche Positionen. Während Piaton der Auffassung war, daß ein Mensch tapfer nicht nur im Kriege ist, sondern immer und überall sonst im Leben, wollte Aristoteles die Tapferkeit eher auf den Bereich des Schlachtfeldes beschränkt wissen. 107 Auf der Grundlage des umgreifenden platonischen Tapferkeitskonzeptes kann eine solche Theorie die Rolle einer paradigmatischen Analyse des angemessenen Verhaltens in Grenzsituationen spielen, auf der Basis aristotelischen Denkens eben nicht. Ganz unabhängig davon, wie Piaton die Tapferkeit im einzelnen festlegt, werden wir uns in dieser Beziehung eher der platonischen Position anschließen. Bei der Diskussion um Tapferkeit ist auch zu beachten, daß man es bei diesem Phänomen niemals nur mit rationalen Fähigkeiten und Dispositionen zu tun hat, 108 sondern grundsätzlich und wesentlich mit Affekten, Leidenschaften, Emotionen. Die Bedeutung des menschlichen Emotionsbereichs in Kriegssituationen wird völlig zu Recht auch von so unterschiedlichen Autoren wie van Creveld, Keegan und Sofsky betont. 109 Der Grund für diese gesteigerte Bedeutung ist verhältnismäßig einfach zu beschreiben. Tapferes Handeln setzt stets die Überwindung von Furcht voraus; Furcht aber ist, wie immer sie auch objektiv begründet sein mag, ein Gefühl, und zwar ein äußerst starkes und wirkmächtiges. Soll der Furcht und gar der Todesfurcht etwas ebenso Starkes entgegengesetzt werden, so kann es sich hierbei nicht um eine reine Verstandesqualität handeln, sondern nur um etwas, was ebenfalls dem Gefühlshaushalt entspringt, denn rationale Elemente allein können massive Affekte nicht ausgleichen. Ganz besonders deutlich wird dies, wenn wir es mit starken und kurzfristigen Affekten zu tun haben, wie sie für Situationen unmittelbarer und existentieller Bedrohung 106
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Wir werden diesem Bild von Tapferkeit im Rahmen unserer Untersuchungen zum Komplex Krieg, Friktion und moralische Größen (ab S.243) bei Clausewitz begegnen. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 3, 9, 1115 a. Diese Position findet bei Clausewitz eine Stütze. Zu beachten ist jedoch, daß selbst Piaton die Tapferkeit zwar für eine arete hielt, die stets auf das Vernünftige dienend bezogen sein sollte, sie aber dennoch an sich selbst dem eifrigen und emotionalen Teil der Seele zuordnete. Siehe hierzu das Kapitel über Piatons Tapferkeitsbegriff ab S . 9 4 . Vgl. van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S . 2 3 3 f f . Keegan: Die Kultur des Krieges, S. 1 1 ff. Sofsky: Traktat über die Gewalt, S. 1 37ff. - Bedenklich scheint mir die Tendenz dieser und anderer Autoren zu sein, die Rolle äußerer rationaler Einflußnahme auf Kriegs- und Kampfereignisse völlig herunterzuspielen. Für eine kritische Einschätzung solcher Positionen siehe Herberg-Rothe: Das Rätsel Clausewitz, S . 2 0 I f f .
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typisch sind. Der Verstand als ein Vermögen des Denkens und Schlußfolgerns ist hier weitestgehend hilflos, weil er zu lange Zeit braucht, um seine Funktionen ausüben zu können. Doch auch bei längerfristigen Gefühlen, wie etwa der permanenten Furcht vor einer unkalkulierbaren Bedrohung, die ebenfalls für viele Kriegslagen charakteristisch ist, kann die Ratio allein kein ausreichendes Gegengewicht darstellen, weil sie die Gefahren und gar deren Bewältigung tatsächlich nur in sehr beschränktem Maße kalkulieren kann. Aus diesen Gründen ist eine Theorie der kriegerischen Tugenden immer auch und wesentlich eine Theorie der Geflihle, wobei wir hier den Begriff des Gefühls als einen Oberbegriff für Affekte, Leidenschaften, Instinkte und ähnliches benutzen. Wenn man davon ausgeht, daß Gefühle nicht „dumm" sind, sondern uns vielmehr gerade in Krisenlagen den Weg zu angemessenem Handeln weisen können, so läßt sich mittels eines modischen Ausdrucks die Aufgabe einer solchen Theorie als Untersuchung der Funktionsweisen emotionaler Intelligenz im gewaltsamen Konflikt beschreiben. Zu einer der Konstanten innerhalb des Tapferkeitskonzeptes gehört, daß Tapferkeit in der philosophischen und sonstigen Ideentradition fast immer auch als eine politische oder zumindest politikbezogene Tugend aufgefaßt wird, als eine Kraft, die zum Wohle eines bestimmten Gemeinwesens oder politischen Verbandes oder Kollektivs eingesetzt werden soll. Dabei sollte der Begriff der politischen Tugend keinesfalls moralisch überfrachtet werden, sondern wir wollen die entsprechende Eigenschaft hier ganz im Sinne Montesquieus als eine auf ein spezifisches politisches Wohl gerichtete sittliche Tugend verstehen, die von einer moralischen Tugend wohl zu unterscheiden ist und die selbst subjektives Machtstreben nicht ausschließt, sofern dieses geeignet ist, die Macht des Gemeinwesens oder Verbandes zu fördern. Mit dem Gedanken der Tapferkeit als politischer bzw. politikbezogener Tugend unmittelbar verknüpft ist die Idee des Dienstes und der Pflicht, 110 in deren Zeichen der Waffenträger handeln soll. Es wurde und wird grundsätzlich davon ausgegangen, daß diesem Typus des Waffenträgers pervertierte Formen entsprechen, Personen und Personengruppen, die mit der im Krieg ausgeübten Gewalt etwas anderes bezwecken als den Dienst an einem übergeordneten politischen Wohl, meist irgendeine Art von subjektivem Gewinn wie etwa Geld, rein persönliche Macht oder auch Abenteuer." 1 Beispielhaft zu nennen ist hier etwa die Figur des für Lohn kämpfenden Söldners, der seine Dienste jedem beliebigen Verband oder Kollektiv zur Verfügung stellt. Dieser Typus ist historisch bekanntlich weitverbreitet und auch heute noch präsent, doch die Kritik, die er stets auf sich gezogen hat, ist symptomatisch. Sie zeigt, daß mit dem Krieger, dessen moderne nationalstaatliche Ausprägung der Soldat darstellt, mehr verbunden wird als nur die Idee des Kampfes als solchem. Dieses „mehr" läßt sich im Begriff der Ehre zusammenfassen. Den ehrenhaft handelnden Krieger macht es nicht allein aus, daß er gefährliche Situationen erfolgreich bewältigt, sondern er tut dies auf der Grundlage einer nicht notwendigerweise unpersönlichen, wohl aber personenübergreifenden Bindung. Bindungen dieser Art sind faktisch immer partikuläre gewesen, und zwar selbst dann, wenn sie in einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber universellen Werten bestehen, denn auch solche Werte sind auf ein konkretes politisches Subjekt angewiesen, das sie vertritt und das im Zweifelsfall bereit ist, sie mit Gewalt gegen andere durchzusetzen. Nur im Falle einer
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Dabei kann der Pflichtgedanke im Sinne einer kantischen Moralphilosophie ausgefüllt werden, muß es aber durchaus nicht. Siehe hierzu von Sandrart: Führungsethik und Führungsverantwortung.
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politisch völlig einheitlich normierten Weltgemeinschaft wäre eine Ablösung von einzelnen politischen Trägermächten denkbar, doch in einer solchen Lage wären eben keine Krieger mehr erforderlich, sondern ausschließlich eine Art Polizeiinstitution, der die Aufgabe zukommen würde, die Geltung allgemein akzeptierter Normen gegen einzelne Verstöße zu schützen. Tatsächlich kann rein theoretisch eine Weltpolizei gedacht werden, ein Weltkrieger oder ein Weltsoldat jedoch kaum. Für unseren Zusammenhang ist jedenfalls festzuhalten, daß zum begrifflichen Umfeld von Tapferkeit die Ehre gehört, und diese wiederum ist zu wesentlichen Teilen als eine politische Größe aufzufassen, als die Identifizierung mit dem Dienst an einem Gemeinwesen oder einer Gemeinschaft. 112 Es scheint erst diese Verbindung von Tapferkeit und Ehre zu sein, die traditionell den Glanz des Kriegertums ausgemacht hat. Es versteht sich beinahe von selbst, daß das soeben geschilderte Programm auf Stützpunkte in Form von ausgewählten Autoren angewiesen ist. Die von mir ausgesuchten Theoretiker, deren Auffassungen zum Thema Krieg ich untersuchen möchte, sind Piaton, Hobbes und Clausewitz. Für alle drei Autoren waren konkrete Erfahrungen mit Kriegsereignissen ein zentraler oder zumindest ein bedeutender Ausgangspunkt. Bei Piaton ist hier der Peloponnesische Krieg zu nennen, bei Hobbes der Englische Bürgerkrieg wie auch die konfessionellen Kriege auf dem Kontinent, bei Clausewitz schließlich sowohl die Französischen Revolutionskriege als auch die Napoleonischen Kriege. Der Grad und die Art der Bedeutsamkeit, die dem Kriegsthema zukommt, divergieren zwischen den drei Autoren. Die Relevanz dieses Gegenstandes ist am wenigsten offensichtlich bei Piaton. Wir werden deshalb dort etwas Suchund Sammelarbeit leisten müssen, um dann zeigen zu können, daß die Oberflächenwahrnehmung täuscht und daß dem Kriegsproblem vielmehr ein sehr wichtiger Rang zukommt. Bei Hobbes ist der wesentliche Status aller mit Krieg und Konflikt zusammenhängenden Fragen schlechthin unübersehbar. Für Clausewitz endlich gilt bekannterweise, daß die Auseinandersetzung mit Krieg den Dreh- und Angelpunkt seines Denkens darstellt. Bei der Analyse wende ich mich hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich auf die Hauptwerke der Autoren stützen, also auf die Politeia, den Leviathan und Vom Kriege. Zur Auswahl der drei Autoren führte mich die Überlegung, daß auf jeden Fall eine gewisse systematische Bandbreite im Zugriff auf das Kriegsthema sichergestellt werden sollte. Vor allem sollte jede der oben erwähnten Problemstellungen bei mindestens einem der zu diskutierenden Autoren vorkommen. Tatsächlich gibt es keinen Themenkomplex, der nicht entweder bei Piaton, bei Hobbes oder bei Clausewitz oder bei allen dreien behandelt würde. Hinzu kommt, daß die drei Theoretiker sich längst nicht immer dieselben Fragen stellen noch auf dieselben Fragen ähnliche Antworten geben. Hierdurch kann der Anspruch eingelöst werden, wirklich unterschiedliche Beiträge zur Kriegstheorie vorzustellen. Als erleichternd erweist sich in dieser Hinsicht die 112
Die Ehre des Waffenträgers ist allerdings ein mehrschichtiges Phänomen, innerhalb dessen es Aspekte gibt oder geben kann, die mit dem übergeordneten Politikbezug in Widerstreit geraten können. Als Beispiel wäre etwa die in europäischen Streitkräften einst weitverbreitete Duellpraxis zu nennen. - Keegans These ist es, daß traditionelle primitive Kriegerkulturen, wie etwa die Kosaken, aus sich heraus ganz spezifische und unpolitische Ehrenkodizes entwickelt hätten, die dazu geeignet waren, die Gewalt im Krieg zu begrenzen, wogegen gerade die moderne politische Kriegführung durch vollkommene Entgrenzung der Gewalt g e k e n n z e i c h n e t sei. Vgl. Keegan: Die Kultur des Krieges, S . 5 4 3 f f . Skurrilerweise will Keegan den modernen westlichen Staaten eine Anknüpfung an solche primitiven Formen der Kriegführung empfehlen.
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historische Differenz zwischen den Denkern, denn diese bewahrt davor, bestimmte Problemstellungen oder Positionen allzu leicht für allgemeingültig oder für die einzig möglichen zu halten. Gewährleistet ist somit eine thematische, positionelle und geschichtliche Vielfalt der diskutierten Ansätze. Dabei werden einzelne Faktoren aus Geschichte und Geschichtsforschung, besonders der Ideengeschichte, immer wieder von Belang sein, doch bewegt sich die Arbeit schwerpunktmäßig auf der Ebene der systematischen Interpretation und Analyse. Die Fragestellungen und Auffassungen der drei Autoren werden hier als Beiträge zu einer philosophischen Theorie des Krieges betrachtet. Dies bedeutet, daß deren Anspruch, wahre und konsistente Aussagen zu machen, zu einem großen Teil ernst genommen wird, so wichtig die Ebene der historischen Bedingtheiten vieler Standpunkte auch sein mag. Nicht anvisiert wird eine eigene Kriegstheorie, die aus Versatzstücken platonischer, hobbesianischer und clausewitzianischer Ansätze besteht, doch angestrebt wird eine vergleichende Perspektive. Dabei konzentrieren sich die meisten Vergleiche sinnvollerweise im dritten Teil, dann also, wenn hierfür bereits sichere Grundlagen geschaffen worden sind. Die Untersuchung findet ihren Abschluß in einem zusammenfassenden Gesamtvergleich.
2. Krieg und Krieger in Piatons Politeia
2.1. Einleitung Im folgenden soll Piatons Politeia im Hinblick auf die Kriegsfrage untersucht werden, wobei dieses Thema so weit gefaßt wird, daß darunter auch die besondere Rolle, die Erziehung, die Lebensweise und die Kompetenzen der Kriegerschicht fallen. Es geht also nicht nur um das Phänomen des Krieges im engeren Sinn, sondern darüber hinaus um die Bedeutung des Kriegerstandes im allgemeinen, auch im Frieden. Nun ist zwar in der bisherigen, überaus zahlreichen Literatur zur Politeia der Stand der Wächter {phylakes) untersucht worden, weil deren zentraler Status im Rahmen der Gesamtkonzeption nicht zu übersehen ist; dennoch ist die mit dieser Schicht untrennbar verknüpfte Kriegsthematik stark vernachlässigt worden. Es gibt meines Wissens keinen Text, der sich ausschließlich mit diesem Gegenstand befaßt. 1 Dieser Mangel an Aufmerksamkeit steht nun im krassen Kontrast sowohl zu der historischen Ausgangslage der platonischen Schriften insgesamt sowie insbesondere der Politeia als auch zur inneren Anlage dieses Werkes selbst. Martin Suhr vertritt die Meinung, 2 daß alle Fragen, mit denen sich die platonischen Schriften befassen, ihren Ursprung in den permanenten Kriegen bzw. gewalttätigen Konflikten Athens mit seinen Nachbarn hätten. 3 Diese Auffassung ist vermutlich überspitzt, 4 hat aber einen großen Teil Berechtigung in bezug auf jene Dia-
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in der umfangreichen Bibliographie von Ulrike Zimbrich zu Piatons Staat findet sich z . B . kein einziger Titel, der ausdrücklich dem Thema Krieg bei Piaton gewidmet ist, obwohl die Studie immerhin einen Überblick über 270 Jahre deutschsprachiger Platon-Forschung liefert. Siehe Zimbrich: Bibliographie zu Piatons Staat. Dennoch muß hier selbstverständlich die obige Formulierung „meines Wissens" betont werden. Es soll von meiner Seite aus nicht der Anspruch einer Vertrautheit mit der schier unüberschaubaren Forschungsliteratur zur Politeia und gar zu Piatons Gesamtwerk erhoben werden. Vgl. Suhr: Platon, S. 34. Dennoch nimmt dann das Phänomen des Krieges in Suhrs Analysen zum platonischen Werk keinen sehr breiten Raum ein. So fragt man sich zu Recht, was etwa die höchst abstrakten Themenstellungen des Dialogs Parmenides mit den Kriegen und Konflikten zu tun haben, in die Athen verwickelt war. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, daß das platonische Philosophieren eine Einheit ist, innerhalb derer metaphysische von ethischen und politischen Fragen nicht trennbar sind, dennoch bleibt es dann eine konkrete Aufgabe der Argumentation, Zusammenhänge zu Problemen des Krieges herzustellen. - Zu Suhrs Auffassung gibt es übrigens eine krasse Gegenposition. So schreibt Julia Annas: Politics and Ethics in Plato's Republic, S. 157: „In any case, the political background of Plato's life does not actually shed any light on the Republic. Seldom can a work have owed less to its political context." Die Ansicht von Annas wird
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KRIEG UND KRIEGER IN PLATONS POLITEIA
loge, die Themen der politischen Philosophie und Ethik unmittelbar zum Gegenstand haben. Tatsächlich bildete die unaufhörliche Präsenz von Gewalt und Konflikt eine geschichtliche Herausforderung zur Reflexion, die Piaton in wichtigen Teilen seines Werkes angenommen hat. Speziell die Politela ist auch als eine Antwort auf das Ereignis des Peloponnesischen Krieges zu lesen, als dessen Hauptkontrahenten Athen und Sparta erschienen und in dessen siebenundzwanzigjährigem Verlauf Athen schließlich unterlag. 5 So wenig irgendein großes philosophisches Werk sich in einer bloßen Reaktion auf historische Gegebenheiten erschöpft, so wenig kann diese Ausgangssituation übersehen werden. Daher überrascht es auch nicht, daß kriegsbezogene Probleme in der Politela einen wichtigen Rang einnehmen, so die Fragen nach dem Ursprung von Krieg überhaupt, nach den Möglichkeiten seiner Prävention und Begrenzung, nach dem Verhältnis von innerem und äußerem Krieg, nach der Struktur von Feindschaftsverhältnissen, nach der Ausbildung der Krieger und der arete der Tapferkeit (andreia), nach den Beziehungen zwischen Krieg und Politik. Es gibt kaum eine kriegsrelevante Fragestellung in den Kriegstheorien nach Piaton, die in der Politela nicht im Grundsatz bereits vorliegt; es existieren nur unterschiedlich intensive Ausarbeitungsgrade und natürlich unterschiedliche Antworten. Ein interessanter Hinweis auf den zentralen Status der Kriegsthematik, unter der ich gegenwärtig die soeben aufgezählten Fragen verstehe, ist der Umstand, daß Piaton den gesamten Dialog im Hause des Polemarchos spielen läßt (vgl. Pol. 328b), dessen Name auf den Krieg (polemos) verweist. Polemarchos ist der Sohn des Kephalos, eines reich gewordenen Kaufmanns, der sein ganzes Leben dem Geldverdienen gewidmet hat. In diesem Vater-SohnVerhältnis spiegelt sich bereits die Kriegsursprungstheorie der Politeia, der zufolge die hauptsächliche Ursache von Kriegen in der Besitzgier zu suchen ist (vgl. Pol. 373d). So wie
von mir nicht geteilt, denn sie geht von der Voraussetzung aus, daß politische Bezugnahmen eines Autors sowohl direkt als auch diesem selbst bewußt sein müssen. Zunächst verfügt ein Autor, besonders ein Dramatiker, wie Piaton es war, über zahlreiche Verschlüsselungsmechanismen hinsichtlich der Bezugnahmen auf politische Verhältnisse und Ereignisse. Zweitens kann ein Werk, das zu so wesentlichen Teilen Fragen der politischen Organisation und des sozialen Zusammenlebens gewidmet ist, buchstäblich nicht unabhängig von seinem politischhistorischen Hintergrund gedacht werden. Dies gilt selbst dann, wenn viele Schilderungen faktischer politischer Strukturen inkorrekt oder unvollständig sind, und es gilt auch dann, wenn das Endziel der Untersuchung gar nicht politischer, sondern anderer Natur sein sollte. Die Frage, wie „politisch" Piaton dachte, ist notorisch umstritten, und wir werden ausdrücklich oder unausdrücklich auf sie zurückkommen. Piaton selbst hatte an Feldzügen des Korinthischen Krieges ( 3 9 4 - 3 8 6 ) teilgenommen, der dritten Phase des Peloponnesischen Krieges. Siehe hierzu Suhr: Platon, S.31. Die Politeia spielt möglicherweise um das Jahr 421, dem Jahr des Nikiasfriedens, der den Archidamischen Krieg (431-421), die erste Strecke des großen Ringens, beendete. Vgl. auch hierzu Suhr: Piaton, S.29; S. 117. Die Datierungsfrage wird jedoch unterschiedlich beantwortet und ist fur unseren Zugriff nicht übermäßig relevant.
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Kephalos 6 den Polemarchos zeugte, so (er-)zeugt im allgemeinen das Mehr-haben-wollen, die pleonexia, den Krieg und die Probleme, die er mit sich bringt. Man muß in diesem Zusammenhang einen Gemeinplatz der Platon-Forschung berücksichtigen, und zwar die Tatsache, daß Piaton auch Dramatiker war und es daher hilfreich sein kann, seine Dialoge von ihrer Dramaturgie her zu lesen. Wählt man diesen literarischen Zugriff, so leisten Orte, Zeitpunkte, Namen usw. unter Umständen einen wesentlichen Beitrag zum Werkverständnis. Die Kombination eines so bedeutungsschwangeren Namen wie „Polemarchos" mit dem Faktum, daß Polemarchos der Sohn eines reichen Erwerbstätigen ist und dem Umstand, daß das Gespräch am Wohnort von Vater und Sohn stattfindet, kann dann keineswegs als ein Zufall erscheinen. Offenkundig spielt die Politeia an einem Ort, an dem der Krieg zu Hause ist, und wir können dieses zu Beginn des ersten Buches dargelegte „setting" durchaus als einen Schlüssel betrachten, der uns die Tür zu einem in diesem großen Werk der abendländischen Philosophie zentralen Thema öffnet. Kriegsorientierte Aspekte der Politeia sind nun bisher nicht völlig ignoriert worden, doch sind in der einschlägigen Literatur zwei allzu gegensätzliche Tendenzen auffällig, die m. E. beide zu Fehldeutungen führen. Die eine Strömung, die hauptsächlich mit Popper verbunden ist, zieht in negativ-polemischer Absicht gegen Piatons bzw. die von Piatons Sokrates vertretenen Positionen zu Felde. Der Standardvorwurf ist hier derjenige des „Militarismus" und, wenn nicht dem Wortlaut, so doch wohl der Sache nach, auch derjenige des „Bellizismus". 7 Dieses Vorgehen hat, wie im weiteren zu zeigen ist, selbst dort verzerrende Konsequenzen, wo im Kem manche Dinge richtig gesehen werden. Die entgegengesetzte Tendenz ist stark idealisierend und besteht darin, Piaton als einen Vertreter des Friedens oder gar als einen Protagonisten „pazifistischer" Auffassungen zu betrachten, 8 und auch dieser Ansatz scheint mir unangemessen zu sein. 9
Kephalos, Polemarchos sowie dessen Bruder Lysias waren reale Personen, und das Publikum, für das Piaton schrieb, wußte über die Verhältnisse dieser Familie Bescheid. Nach dem Fall Athens verlor sie ihren Reichtum vollständig; Polemarchos wurde hingerichtet und L y s i a s verbannt. Siehe zu diesen Fakten wie auch zum in der Politeia gezeichneten Bild von Kephalos und Polemarchos Annas: An Introduction to Plato's Republic, S. 1 8 ff. Vgl. auch Lycos: Plato on Justice and Power, S. 21 f f . Siehe hierzu Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, S. 124; S. 324 Fn. Siehe etwa Verdroß-Droßberg: Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie; S. 14; S . 2 2 f . Dieser Autor unterlegt sowohl Piaton als auch Aristoteles die „Idee eines pazifistischen Rechtsstaats" (S. 22) bzw. die „Idee eines pazifistischen Staates ohne Machtzweck" (S. 14). Andererseits sieht der Verfasser, daß Piaton den Krieg keineswegs als solchen ablehnt und betrachtet ihn als Begründer der Theorie des gerechten Krieges (vgl. S. 1 10 f.), was ihn jedoch von seiner pazifistischen Gesamtdeutung nicht abbringt. Siehe auch Maurer: Piatons „Staat" und die Demokratie, S. 6 0 F n . M a u r e r schließt an die Auffassung Verdroß-Droßbergs an und spricht von einem „Platonischen Pazifismus", der dann von Aristoteles weitergeführt werde. Für einen Ansatz, der kriegsorientierte Aspekte der Politeia sehr ernst nimmt, ohne dabei propagandistische Absichten gegenüber Piaton zu verfolgen und ohne andererseits pazifistischen Idealisierungen zu verfallen vgl. Arends: Die Einheit der Polis.
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POUTEIA
Repräsentanten der zuletzt erwähnten Richtung übergehen zumeist stillschweigend oder akzentuieren zumindest nicht genügend, daß die vollkommene Polis10 der Politela eben nicht nur auf einer Philosophen-, sondern in gewisser W e i s e durchaus auch auf einer Kriegerherrschaft beruht. In der besten Polis sollen diejenigen herrschen, die sich s o w o h l im Krieg als auch in der Philosophie als die besten ausgezeichnet haben (vgl. P o l . 543a). Der W e g zum Philosophsein und zur Philosophenherrschaft führt in der Politeia buchstäblich über den Krieg und die Ausbildung zum Krieg. Allen Arbeitsteilungspostulaten zum Trotz wird an einer Stelle gesagt, daß der Herrscher der besten Polis Krieger und Philosoph in einer Person ist (vgl. Pol. 525b). Schon aus rein praktischen Gründen wäre es ja auch unwahrscheinlich, wenn der Philosoph als Herrscher nur seiner Philosophie nachginge und das s o wichtige Kriegswesen vernachlässigte; er könnte auf diese W e i s e seine Herrscherfunktionen gar nicht ausüben." A u s der Sicht von Piaton verschränken sich philosophische und kriegswichtige Fähigkeiten auf e n g e W e i s e . S o heißt es, daß der Wehrmann (phylax) eine philosophische Natur sein muß, u m seine Tätigkeit sinnvoll ausüben zu können (vgl. P o l . 375e/b/410e). Mitten unter den Kriegern befinden sich sogar fast vollständig ausgebildete Dialektiker, denen nur noch der letzte Schritt, die Schau des Guten selbst fehlt, u m in die Klasse der vollk o m m e n e n und wahren Philosophen aufzusteigen (vgl. P o l . 539e/540a). 1 2 Umgekehrt ver-
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Der Ausdruck „Polis" bleibt in meinen Ausführungen unübersetzt. Die Übersetzung mit „Staat" erscheint mir irreführend, obwohl man sich ihrer häufig bedient. Die Griechen kannten keinen Staat im neuzeitlichen Sinn einer von der „Gesellschaft" abgesonderten Instanz, sondern die griechische Polis fiel in hohem Maße mit ihrer Bürgerschaft zusammen. Siehe hierzu Christian Meier: Die politische Identität der Athener, hier bes. 269f. Ebenso irreführend ist die Übertragung von „Polis" mit „Stadt", da wir letzteres Wort in der Regel nicht gebrauchen, um uns damit auf politische Strukturen zu beziehen, ein Bezug, der aber in der Bedeutung von „PoIis" wesentlich enthalten ist. Aus diesen Gründen ist auch folgende Aussage von Julia Annas zur Rolle der Herrscher falsch oder wenigstens irreführend: „Actually Plato has not said in so many words that the Guardians do not share in the warlike role of the Auxiliaries, but it is a fair inference from his insistence that one person do one job that the Guardians proper are thought of as having shared the education described but as thereafter leading a different kind of life suited to rulers." (Annas: An Introduction to Plato's Republic, S. 114) Annas wählt hier den Ausdruck „guardians" („Wächter") für die Herrscher der Polis und den Terminus „auxiliaries" („Wehrmänner") fiir die Gruppe der Krieger. Es ist unrichtig, daß die Herrschenden sich nicht in das Kriegwesen e i n m i s c h e n , sondern das Gegenteil ist der Fall. Sie müssen sich hier einmischen, weil sie für die Ausbildung der Wächter sorgen müssen und weil sie ihnen im Kriegsfall zu sagen haben, was zu tun ist. Deshalb ist es falsch, wenn Olof Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S.217 schreibt: „(...) so bleibt es doch dabei, daß die philosophierenden Regenten keine Wächter sind und die Wächter keine philosophierenden Regenten. Konkret heißt dies, daß die Wächter weder zu den mathematischen Wissenschaften noch zur Dialektik einen Zugang haben; vom Bereich der Ideen im allgemeinen und vom Anblick der Idee des Guten im besonderen sind sie ausgeschlossen." Falsch ist hieran zumindest, daß die Wächter prinzipiell keinen Zugang zu den mathematischen Wissenschaften und der Dialektik haben. Manche Ämter im Kriegswesen sind eben von so ausgebildeten Personen besetzt. Es handelt sich hier um diejenigen, die für eine Zeitlang in die Höhle zurückgeschickt werden.
EINLEITUNG
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fügt der Philosophenherrscher grundsätzlich über denjenigen Teil der arete,13 der zentral durch den Wächterstand repräsentiert wird: die Tapferkeit (andreia). Es gibt nach Sokrates keinen Philosophen, der nicht auch tapfer ist (vgl. Pol. 486b/487a). Philosophische und kriegsrelevante Fähigkeiten gehen in der Politeia eine Fusion ein, die der engen Verflechtung des Wächterstandes mit dem Stand der Philosophenherrscher entspricht. Letztere entwickeln sich als eine Elite aus dem Wächterstand heraus, und ganz allgemein werden beide Schichten nicht strikt voneinander getrennt. Dieses zeigt sich auch auf der Ebene der Terminologie. Wie u. a. Vretska bemerkt,14 wird der Terminus „Wächter" anfangs nur zur Bezeichnung der Krieger gebraucht, dann aber auf die Philosophen des ersten Standes übertragen, und manchmal dient er als Kennzeichnung für beide Stände zusammen. Im folgenden werde ich mich auf die oberste Polis-Schicht mittels der Ausdrücke „Herrscher", „Philosophen" oder „Philosophenherrscher" beziehen und zur Charakterisierung des zweiten Standes die Termini „Wächter" oder „Krieger" gebrauchen.15 Man muß hierbei jedoch stets im Auge behalten, daß dieser Terminologie auf der sachlichen Ebene keine analoge Schärfe entspricht. Krieger sind sowohl die Wächter als auch die Philosophenherrscher. Der Begriff der philosophischen Natur scheint beide Gruppierungen zu umfassen. Die echte Scheide zwischen beiden Schichten liegt im Zugang zur Idee des Guten (agathon), der nur einigen Angehörigen des zweiten Standes möglich ist. So eng nun das Verhältnis zwischen den beiden oberen Ständen auch ist, es wird in der Politeia ein klarer Vorrang für die Philosophie und die Philosophen postuliert, und dieses ist den Vetretem des „Militarismus"-Vorwurfs entgegenzuhalten. Die beste Polis ist nicht dem ähnlich, was wir uns unter einem „Militärregime" denken. Im vollkommenen Gemeinwesen sind die Philosophenherrscher zwar auch Krieger, und zwar die besten, aber sie herrschen als Philosophen und kraft der Philosophie. Dieser Vorrang der Philosophie soll hier keineswegs bestritten werden; vielmehr ist es eine der zu lösenden Aufgaben, den präzisen Sinn des Primats der Philosophie zu untersuchen. Eben hierzu ist es aber erforderlich, den Blick auf die
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Den Ausdruck „arete" habe ich meist uniibersetzt gelassen. Ich verwende ihn stets in dem Sinne von Güte, Tüchtigkeit, Tauglichkeit, Optimum an Leistungsfähigkeit. Siehe hierzu Krämer: Arete bei Piaton und Aristoteles, S . 3 9 F n . Vgl. auch Suhr: Piaton, S . 2 4 f . Schleiermacher überträgt das Wort „arete" mit „Tugend". Diese Übersetzung ist höchst umstritten und wird von vielen Forschern für unangemessen gehalten, weil sie den arefe-Begriff viel zu sehr mit moralischen Konnotationen belastet, die ihm ursprünglich nicht zukommen. Sowohl Piaton als auch Aristoteles sprechen selbstverständlich von der arete eines Messers oder e i n e s Pferdes. Manchmal gebrauche ich im Zusammenhang mit arete auch den Terminus „Eigenschaft". Dieses geschieht jedoch nur der sprachlichen Abwechslung halber. Vgl. Vretska: Einleitung zu Platon, S . 5 8 . Bei der Verwendung von Ausdrücken wie „Soldat", „Militär", „militärisch" etc. ist eher Vorsicht angebracht. Soldaten können die Krieger der besten Polis schon deshalb nicht sein, weil sie für ihre Tätigkeit keinen Sold im Sinne regelmäßiger finanzieller Einkünfte beziehen. Die Herausbildung des Soldaten im Sinne des Angehörigen einer berufsmäßig organisierten staatlichen Streitkraft, im Unterschied sowohl zum Feudalkrieger als auch zum Söldner, ist e i n neuzeitlicher Prozeß, der mit der Entwicklung einer klaren Scheidung zwischen „militärischem" und „zivilem" Bereich einhergeht. Das Substantiv „Militär" bzw. „militaire" bildet sich im Deutschen und Französischen erst im 17./18. Jahrhundert. Siehe hierzu Stumpf: Artikel „Militarismus", S . 2 .
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spezifische Rolle der Krieger und der Kriegsfrage zu richten. Es ist der Leitgedanke dieser Untersuchung, daß der Philosophie und den Philosophen die Funktion zukommt, Kriege soweit wie möglich zu verhindern und Kriege, die zu führen sind, soweit wie möglich „einzuhegen" und zu begrenzen. In der Politeia wird der Versuch einer weitgehenden Verhinderung und Begrenzung von Kriegen gedacht, wobei die Philosophen eine Schlüsselrolle einnehmen. Dieses Programm baut jedoch nicht auf der Forderung nach einer generellen Eliminierung von Krieg und gewaltsamem Konflikt auf, sondern setzt, im Gegenteil, auf eine Funktionalisierung des Krieges und vor allem der Krieger zu Zwecken, die der Kriegführung ursprünglich nicht immanent sind. Anvisiert wird eine langfristige Transformation der Krieger, also der unmittelbaren Subjekte des Krieges, die auf eine vollständige Umkehrung derjenigen Motive und Interessenlagen zielt, die ursprünglich das Phänomen des Krieges entstehen ließen. Dabei sind der Primat der Philosophie, Entökonomisierung, Entprivatisierung, in einem gewissen Sinn Entnaturalisierung des Politischen und Hegung des Krieges unterschiedliche Perspektiven auf diesen Umwandlungsprozeß. Gerade die Analyse der Kriegsthematik wird uns zu dem Ergebnis führen, daß weder der Frieden (eirene), der in Platons Hauptwerk eine so untergeordnete Rolle zu spielen scheint, noch elementare Vorstellungen über „Völkerrecht" 16 aus dem Blickfeld geraten. Keinesfalls handelt es sich bei dem in der Politeia ins Auge gefaßten Projekt jedoch um ein „pazifistisches"; es schließt auf einer gewissen Ebene sogar die Forderung nach verschärfter Feindschaft zwischen Hellenen und Barbaren ein. Dennoch wird man die kriegsbezogenen Positionen der Politeia gegenüber Vorwürfen des „Militarismus" und „Bellizismus" verteidigen können, gerade wenn man sinnvoll vergleichbare neuzeitliche Auffassungen als Kontrastfolie heranzieht. In einem ersten Kapitel werde ich mich mit den Auffassungen über den Ursprung und die Bewertung des Krieges auseinandersetzen, die sich aus den Aussagen von Platons Sokrates ergeben. Letzterer vertritt, so wird sich zeigen, eine dekadenztheoretische Analyse der Kriegsentstehung, die das Phänomen des Krieges auf das Streben nach überflüssigem Besitz und generell auf das Mehr-haben-wollen (pleonexia) zurückführt. Im Zusammenhang mit der Kriegsursachenanalyse ist auch die oft gestellte Frage zu erörtern, ob der Krieg in der Natur des Menschen angelegt ist oder ob es sich u m ein Phänomen handelt, das den Menschen aus politischen, „gesellschaftlichen" oder sonstigen Gründen „aufgepfropft" ist. Im Hinblick auf die Bewertung des Krieges wird sich herausstellen, daß es eine allgemeine und grundsätzliche Diskriminierung des Krieges in Platons Hauptwerk nicht gibt. Unzutreffend ist auch die häufig vertretene Behauptung, die Krieger der besten Polis würden niemals Angriffskriege führen. Die These von der (impliziten) Diskriminierung von Angriffskriegen gehört zu den zahlreichen Idealisierungen, die an Platons Aussagen über den Krieg geknüpft werden. Im zweiten Kapitel werden wir uns mit dem Verhältnis von Krieg und Gerechtigkeit auseinandersetzen und somit versuchen, zwei wichtige Themen zusammenzuführen, die in Platons Werk selbst nirgendwo ausdrücklich verbunden werden. Unser Ausgangspunkt wird ein
Der Ausdruck „Völkerrecht" kann selbstverständlich nicht in seinem modernen Sinn von kodifiziertem Kriegs- und Friedensrecht genommen werden. Bestimmte in der Politeia geäußerte Gedanken nehmen neuzeitliche Kriegsrechtsvorstellungen allerdings bereits v o r w e g ( v g l . Pol. 4 6 9 b - 4 7 1 c ) .
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(scheinbarer) Konflikt sein, der sich aus der Politeia ergibt: ein Konflikt zwischen der von Sokrates in Buch I vertretenen These, daß Gerechtigkeit ein absolutes Schädigungsverbot impliziert, und der offensichtlichen Tatsache, daß auch die vollkommene und gerechteste PoIis Kriege führt und sogar in einer ihrer wesentlichen Dimensionen auf Krieg ausgerichtet ist. Unsere Lösung dieser Schwierigkeit lautet in knapper Form: gerechte Kriege im platonischen Sinn schaden nicht. Mehr noch: die Kriege, die von der vollkommenen Polis ausgehen, sind sogar förderlich, auch für die jeweils bekämpften Feinde. Das dritte Kapitel hat den Stand der Wächter zum Gegenstand und befaßt sich zunächst mit deren von Sokrates geforderten Eigenschaften bzw. Kompetenzen, von denen die wesentlichsten die philosophische Natur einerseits und die Tapferkeit andererseits sind. Hinsichtlich des Postulats der philosophischen Natur für die Krieger oder zumindest für einen Teil von ihnen soll gezeigt werden, daß es sich hierbei nicht um einen scherzhaften Einfall Piatons handelt, wie manchmal behauptet wird, sondern um eine durchaus ernst gemeinte Aussage. In bezug auf die Tapferkeit werde ich die zentralen Merkmale dieser arete, die sich aus der Politeia ergeben, sammeln und untersuchen. Die Semantik von Ausdrücken wie „Tapferkeit", „Mut", „Kühnheit" usw. hat sich im Rahmen neuzeitlicher Entwicklungen erheblich verändert und verschoben, wie gerade der Fall Clausewitz zeigen wird; dennoch läßt sich sagen, daß die platonische Tapferkeitskonzeption in mancher Weise bleibende Standards gesetzt hat, die z. T. auch moderne Streitkräfte auf ihre Fahnen schreiben, meistens ohne sich deren platonischer Ursprünge bewußt zu sein. In einem vierten Kapitel werde ich mich den unterschiedlichen Perspektiven zuwenden, die in der Politeia auf den inneren Krieg einerseits und den äußeren Krieg andererseits entworfen werden. Von absolut entscheidender Bedeutung ist in diesem Kontext die von Sokrates vorgenommene Differenzierung zwischen Hellenen und Barbaren, die in einem engen Sachzusammenhang mit der Unterscheidung von stasis und polemos steht. In Anlehnung an Reinhart Kosellecks Überlegungen zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe' 7 soll das Begriffspaar Hellene!Barbar im Hinblick auf die mit ihm verknüpften verschiedenen Konzepte von Feindschaft untersucht werden. Das vierte Kapitel wird erneut das Thema aufgreifen, das mit den Stichwörtem „Militarismus" und „Bellizismus" verbunden ist. Wir werden versuchen nachzuweisen, daß in der Politeia weder militarismusnoch bellizismusähnliche Positionen zu finden sind.
Siehe Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe.
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2.2. Ursprung und Bewertung des Krieges 2.2.1. Der Ursprung des Krieges Die Entwicklung hin zur besten Polis wird in der Politeia als ein vierstufiger Prozeß konzipiert: 1. 2. 3. 4.
Die gesunde Polis; die „aufgeschwemmte" Polis; Transformationsstadium von der aufgeschwemmten zur besten Polis; die beste Polis.
Dieser Weg soll hier zunächst nur bis zur zweiten Stufe nachvollzogen werden, da dort der Krieg auftritt. Die erste Polis entsteht, weil der einzelne zur Befriedigung seiner Bedürfnisse anderer Menschen bedarf (vgl. Pol. 369b). Diese simple Überlegung von Sokrates ist wichtig, denn sie bedeutet, daß das ursprüngliche Fundament der Polis ökonomischer Art ist. Dem Menschen ist durchaus nicht ein natürlicher Trieb zur Gemeinschaft um der Gemeinschaft willen zu eigen. Auch finden sich keine von Todesfurcht getriebenen Menschen zur Staatsgründung zusammen, um sich vor der gegenseitigen Vernichtung zu schützen, wie Hobbes es später behaupten sollte. Der Grund der Gemeinschaftsbildung ist gemäß der Politeia sowohl unmetaphysisch als auch undramatisch: die Menschen bilden die Polis, weil sie nur im Kollektiv ihre Bedürfnisbefriedigung rationell gestalten können. Das Mittel dieser rationellen Gestaltung ist die Arbeitsteilung. Die allererste Polis ist überhaupt nur als eine Lebensgemeinschaft zum Zweck der Arbeitsteilung definiert (vgl. Pol. 369c), also als eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft. Diese Polis ist zunächst noch notdürftigster Art (vgl. Pol. 369d/e); sie besteht aus vier bis fünf Männern, die in getrennter Form für die Befriedigung der Grundbedürfhisse nach Nahrung, Kleidung, Wohnung sorgen. Allerdings geht dieses Gemeinwesen sehr schnell in ein komplexeres Stadium über, in dem die Arbeitsteilung differenzierter gestaltet wird.1 Bald gibt es in der Polis nicht mehr nur einen Ackersmann, einen Baumeister, einen Weber und einen Schuster, sondern mehr Leute von jeder Sorte; außerdem existieren zusätzlich diverse andere Arten von Handwerkern sowie Seeleute, Händler, Tagelöhner etc. Auch das Geld als Tauschmittel wird eingeführt. Diese Polis ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihr alle genug zum Leben haben, glücklich miteinander sind, ohne inneren und äußeren Krieg zu führen (vgl. Pol. 372c). Luxus gibt es nicht; vielmehr ernährt und kleidet man sich einfach, aber eben hinreichend. Es ist dieses Gemeinwesen, das Sokrates als die „gesunde Polis" kennzeichnet. Die gesunde Polis hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem, was in Platons späterem Dialog Politikos das Zeitalter des Kronos ist. Im Politikos erzählt der Dialogführer, genannt „der Fremde", Man könnte durchaus darüber streiten, ob man es in der Politeia statt mit einer vierstufigen mit einer fünfstufigen Entwicklung zu tun hat, an deren Anfang noch nicht die gesunde, sondern die „notdürftigste" Polis stünde. Diese Überlegung verdanke ich meiner Kollegin Barbara Merker. Mir scheint jedoch, daß der Text die Annahme eines solchen eigenständigen PolisStadiums nicht hergibt. Der Übergang zu einer komplexeren Form von Arbeitsteilung vollzieht sich offenbar so rapide, daß das „notdürftige" Stadium eher als Anfangsstufe der gesunden Polis zu betrachten ist.
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eine mythische Geschichte über Herkunft und Entwicklung des Menschengeschlechts. Unter Kronos, so geht die Erzählung, lebten die Menschen zufrieden, ohne Krieg und Zwiespalt, ohne Verfassung und Gesetze (vgl. Politikos 271e/272a). Dieses hat die gesunde Polis der Politeia mit dem Zeitalter des Kronos gemeinsam. Doch gibt es wichtige Unterschiede. Unter Kronos' Herrschaft arbeiten die Menschen nicht; vielmehr ist das Leben für sie mühelos, weil Kronos sie in jeder Beziehung hütet und umsorgt. So brauchen die Menschen keine Behausung und keine Bekleidung, weil das Klima von göttlicher Seite für sie so eingerichtet ist, daß sie die Zeit im Freien und unbekleidet verbringen können. Auch betreiben sie keinen Ackerbau, sondern haben reichlich genug an dem, was die Natur ihnen zuführt. Die Menschen unter Kronos sind zum Zweck der Befriedigung ihrer Bedürfnisse weder zur Arbeitsteilung noch überhaupt zur Arbeit genötigt. Nach den Maßstäben der Politeia läge im Zeitalter des Kronos gar keine Polis vor, sondern ein vorpolitischer Zustand; man könnte ihn als „paradiesisch" bezeichnen. Die Menschen der gesunden Polis sind jedoch gezwungen zu arbeiten, und es ist nicht die Rede davon, daß ein Gott für sie sorgt. Mehr Ähnlichkeit als mit dem Leben der Menschen unter Kronos, so wie es im Politikos geschildert wird, hat die gesunde Polis mit einer Phase der Entwicklung des Menschengeschlechts, die in Piatons Alterswerk, den Nomoi, als ein Zustand beschrieben wird, der nach einer verheerenden Überschwemmung eintrat (vgl. Nom. 677a). Jene Überschwemmung, so erzählt uns der Athener in den Nomoi, vernichtete einst sämtliche in den Ebenen und am Meer gelegenen Poleis (vgl. Nom. 677c). Nur einige im Gebirge angesiedelten Menschen überleben die Katastrophe (vgl. Nom. 677b). Den wenigen Überlebenden hat die Flut nun eine Menge fruchtbaren Landes hinterlassen. Auf diese Weise wird niemand arm. Andererseits kann auch niemand reich werden, denn die Flut hat alle Metalle so vollständig verschüttet, daß sie nicht wieder zu Tage gefördert werden können, so daß niemand Gold und Silber besitzen kann. Da jeder genug und niemand zu viel hat, existiert kein Grund für Neid und Mißgunst, und es gibt somit keinen Zwiespalt (vgl. Nom. 679b) und wohl auch keinen Krieg. Von den so lebenden Menschen wird in den Nomoi gesagt, daß sie über Tüchtigkeit in höherem Maße verfügten als die vor der Katastrophe existierenden und die heute lebenden Menschen (vgl. Nom. 679d/e). Auch werden sie als einfaltig geschildert, da sie an bestimmten Grundsätzen über Götter und Menschen niemals zweifelten und ihr Leben nach ihnen gestalteten (vgl. Nom. 679c). Gesetze haben diese Menschen nicht, wohl aber eine Art der Verfassung, eine patriarchale Monarchie (vgl. Nom. 680a/b). Im Politikos, in der Politeia und in den Nomoi läßt Piaton die jeweiligen Dialogführer Menschheitszustände beschreiben, die viele Charakteristika miteinander teilen: Abwesenheit von Krieg und Streit, Ausgewogenheit der Lebensverhältnisse, Einfachheit der Sitten und Gebräuche, das Fehlen von Gesetzen. 2 Sie unterscheiden sich mindestens in den folgenden Hinsichten voneinander: Über die Menschen der Kronos-Zeit herrscht ein Gott, während die Menschen in der gesunden Polis der Politeia und in dem postkatastrophalen Zustand der Nomoi zwar Götter verehren, aber es politisch ansonsten nur mit anderen Menschen zu tun ha-
Fiir den in den Nomoi geschilderten postkatastrophalen Zustand gilt das Fehlen von Gesetzen explizit. Bei der im Politikos geschilderten Kronoszeit ist mit Sicherheit von der Abwesenheit irgendeines Rechtswesens auszugehen, da die Menschen unter der direkten Herrschaft eines Gottes keiner Gesetze bedürfen. Für die gesunde Polis der Politeia ist ebenfalls anzunehmen, daß sie nicht über Gesetze verfügt.
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ben. In der Kronos-Zeit gibt es, wie bereits erwähnt, weder Arbeitsteilung noch überhaupt Arbeit. Gemessen an den Kriterien der Politeia liegt dort deshalb überhaupt keine Polis vor, auch wenn im Politikos selbst diese Bezeichnung verwendet wird (vgl. Politikos 275a). Es ist sogar zweifelhaft, ob man den Zustand der Menschen unter der Herrschaft von Kronos auch nur als ein „Gemeinwesen" kennzeichnen kann, zumal es dort weder eine politische Verfassung noch eine häusliche geben soll (vgl. Politikos 271e/272a) und überhaupt nicht von irgendeiner Art der Kooperation zwischen den Menschen die Rede ist. Die Arbeitsteilung wird in den Nomoi nicht akzentuiert, während sie in der Schilderung der Politeia von Anfang an im Mittelpunkt steht. Abgesehen von den einzelnen Unterschieden zwischen den jeweils beschriebenen Zuständen sind die drei Darstellungen auch grundsätzlich verschieden angelegt. Die Erzählung im Politikos ist rein mythischer Art. Der Gesprächsführer des Dialogs bemerkt allerdings bald, daß es ein Fehler gewesen sei, einen Gott statt einen Sterblichen zu untersuchen, wenn man sich für eine gegenwärtige Polis interessiere (vgl. Politikos 275a). Genau genommen kommt im Politikos heraus, daß das Regiment des Kronos überhaupt kein Modell für irgendeine Polis sein kann. Die politike techne wird dort bestimmt als die Kunst der freiwilligen Herdenwartung über freiwillige zweibeinige Lebewesen (vgl. Politikos 276e). In diesem Sinne ist Kronos kein politikos, denn die Menschen, die er hütet, sind viel zu unreflektiert, um sich ihm aus „freiem Willen" zu fügen. So wird denn auch das Regime des Kronos über die Menschen ausdrücklich nicht mit einer Herrschaft von Menschen über Menschen verglichen, sondern mit einer Herrschaft von Menschen über nicht menschliche Lebewesen (vgl. Politikos 27le). Es scheint, als würde der Mythos im Politikos nur erzählt, um alsdann den Bereich des Politischen vom Bereich des Mythologischen abzusondern. Die Erzählung in den Nomoi knüpft ebenfalls an eine Sage an, und zwar an die Geschichte, daß einst eine Überschwemmung den größten Teil des Menschengeschlechts dahingerafft habe. Der Athener macht sich aber dann sehr schnell unabhängig von der Sage und stellt eigene Überlegungen über den Zustand der Menschen nach der Katastrophe an, welche um der Darstellung willen als Faktum vorausgesetzt wird. Die Erzählung dient dazu, einen Zustand ursprünglicher Einheit herauszuarbeiten, in dem Gesetze nicht erforderlich waren. Im Vergleich mit dem Politikos und den Nomoi ist die Darstellung der Politeia gewissermaßen die „reinste", und zwar in zwei entgegengesetzten Richtungen. Zum einen wird hier kein Mythos erzählt, zum anderen wird nicht der Anschein erweckt, als solle eine empirische Entwicklung nachvollzogen werden. Die Bemerkung des Sokrates, man wolle „in Gedanken" von Anfang an eine Polis gründen (vgl. Pol. 369c), zeigt vielmehr an, daß eine systematisch angelegte Konstruktion geplant ist. So ist denn auch in der Politeia nicht die Rede von Menschheitsstufen und Zeitabschnitten wie in den Nomoi, sondern es soll mittels eines Gedankenspiels ein Modellfall geschaffen werden, der als solcher nicht in der Zeit angesiedelt ist. Andererseits entfernt sich die Politeia längst nicht so weit vom Gegebenen wie die Kronos-Sage im Politikos. Die Politeia geht davon aus, daß Menschen arbeiten müssen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und daß eben hierin das ursprüngliche Fundament der PolisBildung zu suchen ist. Dennoch tragen die aus dieser Prämisse entwickelten Gedanken nicht ausdrücklich historisch-empirischen Charakter. Man kann sich allerdings bei allem Mangel an Tatsächlichkeitsanspruch des Eindrucks nicht erwehren, daß in der Politeia dennoch eine
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Art Geschichtsphilosophie vorgetragen wird, denn das Konzept der Entwicklung, des Werdens, des Verfalls und schließlich der Wiederherstellung auf höherer Stufe ist unübersehbar. 3 Gehen wir zum Fortgang des Geschehens in der Politeia zurück. Glaukon macht nach der Schilderung der gesunden Polis durch Sokrates diesem gegenüber die Bemerkung, er habe so etwas ähnliches wie eine „Polis von Schweinen" angelegt (vgl. Pol. 372d) und bezieht sich damit auf die recht einfache Lebensweise der Menschen in diesem Gemeinwesen. Für seinen Geschmack bezeugt der Alltag dieser Menschen offenbar einen Mangel an „Kultur". Sokrates nimmt Glaukons ironischen Kommentar zum Anlaß, im Modell den Schritt von der gesunden zur „üppigen" bzw. „aufgeschwemmten" Polis zu vollziehen (vgl. Pol. 372e). Einigen Menschen, so Sokrates, wird das gesunde und einfache Leben nicht ausreichen, sondern sie werden Dinge fordern, die über das Notwendige hinausgehen, wie z. B. delikatere Nahrung, feine Textilien, Gold, Elfenbein etc. Es entsteht also der Wunsch nach Luxus. Hiermit hängt zusammen, daß die Polis ihren Raum vergrößern muß, denn es entwickelt sich nun eine Nachfrage nach Dienstleistungen verschiedenster Art, die vorher nicht zur Verfügung standen, etwa nach Schauspielern, Dichtern, Tänzern, diversen Unternehmern usw. Auf dieser Stufe der Entwicklung entsteht der Krieg, der von nun an auch in der Politeia, wenn auch nicht immer direkt, so doch indirekt, nämlich über den Stand der Wächter, eine zentrale thematische Rolle spielen wird. Die Polis, die nun ihren Grund und Boden erweitern muß, um ihre sich vermehrenden Bewohner zu ernähren, wird beginnen, gegen ihre Nachbarn Kriege zum Zweck der Landnahme zu führen (vgl. Pol. 373d). Piaton läßt Sokrates in diesem Zusammenhang den Krieg als eine Erscheinung bestimmen, die ihren Ursprung in der Maßlosigkeit hat, vor allem in dem Streben nach unangemessenem Besitz (vgl. Pol. 373d).4 In der gesunden Polis gibt es keinen Angriffskrieg, weil diese sich innerhalb der Grenzen des Notwendigen bewegt und hiermit zufrieden ist. Auch müssen keine Verteidigungskriege geführt werden, da es in einem solchen Gemeinwesen für andere Verbände nichts zu rauben gibt. In der
Zu Piatons Verhältnis zur Geschichte siehe insbesondere Gaiser: Piatons ungeschriebene Lehre, S . 2 7 f f . ; S . 2 8 3 f f . ; S . 3 2 9 f f . Nach Gaiser verfügte Piaton über ein klar ausgeprägtes Geschichtsbild, das sich auf eine spezifische Mischung von theoretisch-spekulativem und empirischem Geschichtsdenken gründet. Die Entwicklung der menschlichen Geschichte werde von Piaton als eine stetige Verschärfung des Prinzipiengegensatzes zwischen Ordnung und Auflösung verstanden. Das platonische Geschichtsdenken sei eingebettet in eine umfassende Seinswissenschaft, in deren Rahmen gerade den Mythen eine präzise geschichtsphilosophische Funktion zukomme. Gaiser ist der Meinung, daß Piaton Geschichte als Wissenschaft überhaupt erst begründet habe, wobei in seinem Ansatz Wissenschaftlichkeit und Dichtung nicht in einem Gegensatzverhältnis zueinander stünden, sondern in einem Verhältnis der Ergänzung. Piaton sei die empirisch orientierte Geschichtsforschung eines Thukydides durchaus nicht fremd gewesen, sondern er überbiete diese bewußt durch ein Fragen, das über die Erscheinungen hinaus reicht. - Zu Piatons Verhältnis zur Geschichte siehe auch Bury: Plato and History. Ganz ähnlich äußert sich Sokrates auch an einer einschlägigen Stelle im Phaidon: „Denn auch Kriege und Unruhen und Schlachten erregt uns nichts anderes als der Leib und seine Begierden. Denn über den Besitz von Geld und Gut entstehen alle Kriege, und dieses müssen wir haben des Leibes wegen, weil wir seiner Pflege dienstbar sind, und daher fehlt es uns an Muße, der Weisheit nachzutrachten, um aller dieser Dinge willen." (Phaid. 66c/d)
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aufgeblähten Polis entsteht neben der inneren Tendenz zur Expansion zwangsläufig auch das Erfordernis der Verteidigungsfähigkeit gegen Übergriffe von außen. Um Sokrates' Erklärung des Kriegsursprungs angemessen zu verstehen, ist es sinnvoll, sich klar zu machen, was in ihr nicht ausgesagt wird. Es ist in der Politeia nicht die Rede von einem naturgegebenen menschlichen Streben nach Macht oder Herrschaft über andere, das zum Kriege führt, noch gar von einem dem Menschen natürlicherweise innewohnenden Trieb zur Gewalttätigkeit. 5 Vielmehr handelt es sich, modern gesprochen, um eine dekadenztheoretische Deutung des Krieges, die diesen auf den Verfall der Zufriedenheit mit einem „gesunden" Zustand zurückführt. Die Theorie der Politeia über den Ursprung des Krieges ist genauso unmartialisch wie die Theorie über den Ursprung der Polis. So wie die Polis aus dem Bedürfnis entsteht, so entsteht der Krieg, wenn sich zusätzlich zu den Bedürfnissen solche Bestrebungen entwickeln, die sich auf überflüssige Dinge richten, also nicht mehr auf Bedürfnissen im eigentlichen Sinn beruhen. 6 Zu den in der Politeia als überflüssig angesehenen Dingen gehören dabei durchaus nicht nur materielle Objekte im eigentlichen Sinn (Lebensmittel, Textilien etc.), sondern auch vieles von dem, was wir als „Kunst" bezeichnen, etwa manche Dichtungen und Schauspiele (vgl. Pol. 373b). Gerade im Vergleich zu gewissen neuzeitlichen Entwicklungen ist es augenfällig, daß in der Politeia Besitzstreben und Erwerbsgeist und die damit zusammenhängende Dekadenz als mit dem Krieg untrennbar verknüpft gedacht werden. Genau in der entgegengesetzten Richtung denkt der um etwa 1800 aufkommende europäische Bellizismus. 7 Bellizistisch inspirierte Autoren teilen überaus häufig mit Platons Sokrates die Auffassung, daß Erwerbsstreben zur Dekadenz führe, wobei letztere dann aber deshalb als schlecht und verderblich bewertet wird, weil sie langfristig kriegsverhindernd wirkt. Sehr ähnlich haben auch manche Gegner des Bellizismus die Lage analysiert, wenn auch unter umgekehrten normativen Vorzeichen. Folgt man letzteren, so ist die kollektive Erwerbsmentalität ebenfalls friedensfördernd und wird darum eben als etwas Positives begriffen. Was für die Bellizisten Dekadenz ist, erscheint hier als Erhöhung und Verfeinerung der Sitten. Bei Kant lassen sich beide Denkstränge bzw. Perspektiven nachweisen. In der Kritik der Urteilskraft faßt er den „Handelsgeist" als Förderer von Eigennutz und Feigheit auf und kontrastiert ihn mit dem kriegeri-
Die Griechen kannten unseren modernen hochabstrakten Begriff der Macht überhaupt nicht. Vielmehr bedienten sie sich vieler verschiedener Ausdrücke, um damit jeweils verschiedene Phänomene zu bezeichnen, die wir heute oft mittels des einen Ausdrucks „Macht" klassifizieren. Unterscheiden lassen sich die Termini arche, kratos, kyros, exousia, dynamis, ischys und bia. Arche bezieht sich auf das Ausüben eines Amtes und das Regieren, kratos auf die höchste Macht, ähnlich kyros auf die höchste Entscheidungsgewalt, exousia auf die Freiheit oder Erlaubnis, etwas zu tun, dynamis ganz allgemein auf etwas können oder vermögen. Ischys und bia beziehen sich unmittelbar auf den Bereich körperlicher Stärke und Gewalt. Siehe hierzu Meier: Artikel „Macht, Gewalt", S . 8 2 0 f . Man ist zumindest geneigt, eine solche Differenzierung vorzunehmen. Wir werden allerdings später sehen, daß Platons Sokrates nicht strikt zwischen Bedürfnissen und Pseudo-Bedürfnissen unterscheidet, sondern schon im einfachen Bedürfnis den Hang zum Übermaß im Kern angelegt sieht. Siehe zu diesem Thema den Sammelband Kunisch/Münkler (Hrsg.): Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution.
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sehen Geist, der die Mentalität eines Volkes „erhabener" mache. 8 Auch im berühmten Traktat zum ewigen Frieden bleibt der Gegensatz zwischen Handelsgeist und Krieg bestehen, doch wird der Handelsgeist hier gerade deshalb von Kant hochgeschätzt. 9 Aus der Sicht der Politeia gehen beide Positionen, sowohl der Bellizismus als auch dessen Gegenströmung, von der falschen Voraussetzung aus, daß Erwerbsstreben und Krieg einander entgegengesetzt sind. Vielmehr erscheint ersteres, zumindest in seiner übersteigerten Form, als vordringliche Kriegsursache. Auf dieser Ebene der allgemeinen Kriegsursachentheorie weist die Politeia gewisse systematische Ähnlichkeiten mit den späteren marxistischen und sozialistischen Kriegstheorien auf, 10 die grundsätzlich davon ausgehen, daß die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse notorisch kriegstreibend wirken, auch wenn Piaton selbstverständlich der „Kapitalismus" noch unbekannt war. Es stellt sich an diesem Punkt die folgende Frage: Sind gemäß der Politeia die Ursachen des Krieges in der Natur des Menschen angelegt? Die Antwort wird davon abhängen, ob und wieweit man bei der Auslegung dieses Werkes berechtigt ist, den Bereich des Natürlichen vom Bereich des Politischen abzugrenzen. Nun erwächst der Krieg nach Piatons Sokrates aus den internen Bedingungen der Polis, eines organisierten sozialen Zusammenlebens von Menschen. Gerade das dekadente Streben nach Luxus ist erst auf einer relativ entwickelten Stufe der Polis-Bildung denkbar, in einem Stadium, in dem die Polis zum Bewußtsein ihrer eigenen Kraft und Leistungsfähigkeit gekommen ist. Insofern ist der Krieg ein höchst politisches Phänomen, jedenfalls dann, wenn wir den Ausdruck „politisch" als ein Adjektiv verwenden, das auf jede Polis zutrifft, also auf jede arbeitsteilig organisierte Gemeinschaft von Menschen, und genau diese Verwendung legen die Ausführungen von Sokrates zunächst einmal nahe. Auf der anderen Seite gibt es in der Politeia genausowenig eine rigide Trennung zwischen Natürlichem und Politischem wie in den aristotelischen Schriften. Der Mensch ist von Natur aus bedürftig wie auch als Einzelner ein Mängelwesen. Eben deshalb ist er von Natur auf die Polis im Sinne einer arbeitsteiligen Gemeinschaft angelegt. Nach der Konzeption der Politeia gibt es also ein Kontinuum zwischen Natürlichem und Politischem in einem bestimmten Sinn von „natürlich" und von „politisch". Die Menschen bilden eine Polis, um ihre natürlichen Bedürfnisse gemeinsam und arbeitsteilig zu befriedigen, also um im Einklang mit ihrer Natur leben zu können. Deshalb ist auch die Entstehung der Polis ein sich selbstverständlich abwickelnder Prozeß, der einer so künstlichen (Rechts-) Konstruktion wie etwa der eines „Vertrages" gar nicht bedarf. Daher ist es falsch, wenn z. B. Popper Piatons Theorie der Polis-Entwicklung aus der Politeia als eine Vertragstheorie auffaßt." Vertragstheorien gehen von einem historisch oder rein modellhaft angelegten Naturzustand aus, der sich eben durch seinen nicht politischen Charakter auszeichnet und ausschließlich auf einer (wie auch immer verstandenen) Natur beruht. Ein solches Denken ist aber dem Überlegungshorizont der Politeia völlig fremd. 12
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Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 1 8 7 . Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden, 3. Definitivartikel, 1. Zusatz, S . 2 2 6 . Für einen Überblick über sozialistisch-marxistische Kriegstheorien im deutschen Raum s i e h e Wette: Kriegstheorien deutscher Sozialisten. Vgl. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd.I, S . 9 0 . Allerdings sind Ansätze zu Vertragstheorien schon aus Sophistenkreisen bekannt. hierzu Demandt: Der Idealstaat, S.49. Erwähnt sei an dieser Stelle auch Epikur.
Siehe
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POLITEIA
Der Mensch ist nun nach Sokrates von Natur aus zunächst gerade nicht auf den Krieg angelegt, sondern im Gegenteil auf Kooperation. Wichtig ist hierbei jedoch das einschränkende Wörtchen „zunächst". Wenn es ein Kontinuum zwischen Natur und Polis gibt, so gilt dieses nicht nur für diejenigen natürlichen menschlichen Anlagen, die auf Kooperation und Zusammenhalt hinwirken, sondern auch für diejenigen, die auf Trennung und Spaltung drängen; auch letztere müssen sich im Bereich des Politischen irgendwie fortsetzen, sofern ihnen freier Lauf gewährt wird. Daß es solche Elemente gibt, wird allein dadurch belegt, daß es in einem bestimmten Stadium der Polis-Entwicklung nach Sokrates zu jenem übersteigerten Besitzstreben kommen kann, das dann zum Kriege führt. Wäre ein solches Streben völlig unnatürlich, so könnte es sich gar nicht erst herausbilden. Man muß sich in diesem Zusammenhang klarmachen, daß schon die Arbeitsteilung, auf die hin der Mensch natürlicherweise angelegt ist, ein potentiell spaltendes Element ist. Nachdem die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt worden sind, können einzelne Gruppen auf den Gedanken kommen, daß ihre Leistung für die Polis wichtiger sei als andere und hieraus höhere Besitzansprüche ableiten. Auf diese Weise ist es möglich, daß langsam Besitz und Reichtum zu Gütern ersten Ranges werden, was sowohl innere wie äußere Konflikte zur Folge haben kann. Der Aspekt, den Sokrates an unserer Bezugsstelle im Auge hat, ist wohl jedoch eher, daß die Polis als Ganzes sich von einem bestimmten Punkt an der ungeheuren Perspektiven bewußt wird, die in der so natürlichen Organisationsform der Arbeitsteilung liegen, wodurch der allgemeine Wunsch nach mehr entsteht, der sich dann im Krieg gegen andere Poleis Bahn bricht. Man wird auf der Grundlage der vorhergehenden Betrachtungen sagen können, daß die Möglichkeit des Krieges in der Natur des Menschen angelegt ist. Oberflächlich gesehen scheint es hier gewisse Analogien zu Thomas Hobbes zu geben, mit dessen Auffassungen zu Krieg und Militär wir uns im folgenden Teil dieser Arbeit detailliert befassen werden. Zwischen Piaton und Hobbes gibt es jedoch folgende ineinandergreifende Unterschiede, die bereits an dieser Stelle erwähnt seien: 1.
2.
3.
Für Hobbes ist die menschliche Natur durchaus nicht nur durch die Möglichkeit des Krieges bestimmt, sondern vielmehr so ambitioniert, daß sie zwangsläufig zum Krieg als Faktum führen muß, wo immer sie uneingeschränkt wirken kann, auch wenn dann der Krieg von Hobbes nicht als ein Zustand permanenter tatsächlicher Gewaltanwendung begriffen wird. Folgt man dagegen den Überlegungen der Politeia, so muß man von Möglichkeiten, Tendenzen, Neigungen zum Krieg sprechen, die erst unter bestimmten Umständen wirksam werden können. Nach Hobbes ist der Ursprung des Krieges grundsätzlich im menschlichen Selbsterhaltungsstreben zu suchen, das dann allerdings, wie wir noch sehen werden, das Immermehr-haben - wollen zwangsläufig nach sich zieht. Für Platons Sokrates andererseits hat die Entstehung des Krieges nichts mit Selbsterhaltung zu tun, sondern ist von Anfang an eine Folge der Pleonexie.' 3 Dem Vertragstheoretiker zufolge kommt die schlimmste Form des Krieges, und zwar das bellum omnium contra omnes, durch das der Naturzustand charakterisiert ist, dadurch zustande, daß die Menschen nach Sicherheit streben, deren Herstellung sie dann jedoch Piaton und Hobbes nähern sich allerdings in diesem Punkt dann wieder an, wenn man diejenigen Stellen des platonischen Werks in Betracht zieht, an denen Piaton die Genese des Krieges ausdrücklich aus der puren Existenz menschlicher Körperlichkeit heraus erklärt.
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durch den Krieg paradoxerweise vollständig vereiteln. Dementsprechend ist der Naturzustand bei Hobbes auch einer, in dem es zwar rudimentäre Besitzverhältnisse gibt, die aber notorisch instabil sind, und in dem es allgemein keinerlei ökonomische, kulturelle und wissenschaftliche Errungenschaften gibt. Gemäß der Konstruktion der Politela dagegen ist der Krieg eine Erscheinung, die erst in einem relativ fortgeschrittenen Stadium der Polis-Entwicklung akut werden kann. Das Verhältnis zwischen Naturzustand und politischem Zustand ist bei Hobbes so beschaffen, daß zwar Elemente des ersteren in den letzteren immer hinein ragen, umgekehrt aber der Naturzustand als grundsätzlich unpolitisch gedacht wird. Im Rahmen der Politela existieren überhaupt keine klaren Grenzen zwischen Natürlichem und Politischem, und eben deshalb gerät hier auch der Krieg niemals als ein isoliert natürliches, sondern immer auch als ein politisches Phänomen in den Blick.
Unsere bisherigen Überlegungen sind in ihrer Gesamtheit geeignet, eine bestimmte Position als problematisch zu erweisen, mit der man in bezug auf Denker der Antike häufiger konfrontiert wird. Als Beispiel sei hier Franz F. Schwarzs Einleitung zu Aristoteles Politika herausgegriffen, in der der Autor die Auffassung vertritt, das gesamte Altertum habe anscheinend den Krieg hingenommen wie „den Wechsel der Jahreszeiten oder den freien Fall".' 4 Diese Aussage ist nur dann (vielleicht) korrekt, wenn mit ihr gemeint ist, daß in der Antike ein grundsätzliches Ende von Krieg und Konflikt überhaupt nicht anvisiert wurde. Suggeriert wird von Schwarz jedoch wesentlich mehr, und zwar, daß sowohl auf der Ebene der politischen Ideen als auch auf derjenigen der politischen Praxis der Krieg generell wie eine Erscheinung begriffen worden sei, die sich der politischen Analyse und dem politischen Zugriff schlicht entzieht. Für viele Texte der antiken politischen Theorie erweist sich diese Meinung in ihrer Einseitigkeit als falsch, 15 eben auch für die Politeia. Grundsätzlich erscheint in diesem klassischen Werk der antiken politischen Philosophie der Krieg als die Folge einer Verschränkung von menschlich Natürlichem und Politischem, wobei die sozialpolitischen Bedingungen des A u f k o m m e n s von Krieg durchaus präzise benannt und als veränderbar begriffen werden. Um Mißverständnissen vorzubeugen, müssen allerdings die vorhergehenden Untersuchungen über das Verhältnis zwischen menschlicher Natur und dem Politischen ergänzt werden, und zwar sowohl hinsichtlich der Naturkonzeption als auch des Politikbegriffs. Der Begriff der menschlichen Natur (physis anthropou) ist in der Politeia, wie im platonischen Werk
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Vgl. Aristoteles: Politik, S . 2 0 . Siehe zu diesem Thema auch Nestle: Der Friedensgedanke in der antiken Welt, zu Piaton b e s . 2 8 ff. Nestle geht in diesem Artikel den Spuren antiker Friedensliebe nach, wobei er nicht nur politische Schriften, sondern auch die Ebenen der Literatur und Religion in seine A n a l y s e einbezieht. - Sehr aufschlußreich auf realpolitischer Ebene ist Berve: Friedensordnungen in der griechischen Geschichte. Dieser Autor arbeitet zahlreiche innergriechische Bemühungen um Frieden auf der praktisch politischen Ebene heraus. Als Beispiele nennt er unter vielen anderen etwa die Institution der Spondai, bilateraler Verträge, die Kämpfe zwischen benachbarten Poleis beendigen sollten (vgl. S . 7 ) , aber auch die Anrufung von angesehenen Personen als Schiedsrichtern, die Konflikte schlichten sollten und an deren Schiedssprüche man s i c h meist sogar gehalten zu haben scheint (vgl. S . 7 ) .
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überhaupt, mehrschichtig.16 Zum einen gibt es die faktische Natur des Menschen, wobei unter physis grundsätzlich nicht nur biologische Sachverhalte zu verstehen sind; auch die Seele (psyche) gehört zur physis." Diese real vorhandene Natur ist nun höchst unvollkommen; ja, es gibt nach Sokrates' Meinung im Menschen weit weniger Gutes als Schlechtes (vgl. Pol. 379c). Auf der anderen Seite existiert die wahre menschliche Natur, die Natur als Norm, als Urbild (paradeigma), an der gemessen die empirische Wirklichkeit des Menschen stets nur im Modus der Defizienz existieren kann. Es ist die hauptsächliche Aufgabe der politike techne, die reale und unvollkommene Natur auf die Norm der Natur hin zu formen und auf diese Weise physis und nomos miteinander zu versöhnen. Hier handelt es sich um einen philosophischen und normativen Begriff des Politischen, der sich von demjenigen unterscheidet, den wir bisher stillschweigend zugrunde gelegt haben und den auch der platonische Text bis zu einer bestimmten Stufe nahelegt, um dann darüber hinauszugehen. Es handelt sich um den eigentlich platonischen Begriff des Politischen, an dem gemessen eine Polis wie die „aufgeschwemmte" gar keine im wahren Sinne politische Gemeinschaft darstellt, weil die Aufgabe der Annäherung von physis und nomos hier gerade nicht erfüllt wird. Auf dieser begrifflichen Ebene müssen die „aufgeschwemmte" Polis und überhaupt alle Poleis, die in ihrer Struktur von der besten Polis abweichen, als Vorformen oder auch Degenerationsformen politischer Gemeinschaft betrachtet werden. Für den Krieg bedeutet dies logischerweise, daß dieser nur von der vollkommenen Polis als wahrhaft politischer gefuhrt werden kann, denn ausschließlich die beste Polis wird dem eigentlichen Auftrag der politike techne gerecht, und sie wird Kriege nur im Dienste dieses Auftrags führen. Dennoch müssen wir unsere obigen Überlegungen zu Platons Theorie der Kriegsgenese natürlich nicht vollständig über Bord weifen. Sie sind durchaus eine Rekonstruktion von Platons Auffassung der empirischen Realität, und sie zeigen, daß Piaton den Krieg als das Resultat einer Symbiose von Natürlichem und Politischem begreift, wenn auch zunächst auf einer niedrigeren und von der Norm abweichenden Ebene sowohl von Natur als auch von Politik. Hinsichtlich der physis gilt, daß zwar die Norm der physis anthropou und deren Realität dadurch vermittelt sind, daß die menschliche physis und nur sie im Prinzip in der Lage ist, sich selbst zur wahren Natur zu vervollkommnen, doch die Kluft zwischen dem mangelhaft Vorfindlichen und dem Anzustrebenden bleibt unübersehbar, und es ist eine in der Platon-Literatur kontrovers diskutierte Frage, wie es überhaupt zu diesem Abstand zwischen Norm und Entartung kommen kann.18 Jedenfalls überrascht es nicht, daß der Zusammenhang zwischen
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Auf alle Tiefen und Kompliziertheiten des p/rys/j-Konzeptes bei Piaton kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Siehe hierzu die detaillierte Studie von Mannsperger: Physis bei Piaton. Der Autor hat allein 778 physis-Stellen bei Piaton gezählt (vgl. S . 2 Fn.). Siehe hierzu Krämer: Arete bei Piaton und Aristoteles; S. 2 3 2 ff., hier bes. 238 ff. Dieses Problem ist letztlich identisch mit der Frage, worin auf der Grundlage der platonischen Philosophie der Ursprung des Schlechten (kakia) zu suchen ist. Diese Frage findet bei unterschiedlichen Interpreten verschiedene Antworten. Einige Autoren meinen, der Entstehungsgrund des Schlechten bzw. Bösen sei in der Körperlichkeit bzw. in der zwangsläufigen Gebundenheit der Einzelseele an einen Körper zu suchen. Repräsentativ für diese Position sind: Vlastos: The disorderly motion in the Timaeus. - In eine ähnliche Richtung geht auch Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S. 208. Andere vertreten, daß der Ursprung des Bösen in der Seele bzw. in einem unvernünftigen Element der Seele liege. Siehe hierzu Wilamowitz: Piaton, S . 5 5 1 f. - Taylor: A commentary on Plato's Timaeus, S. 117. - Cornford: Plato's
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dem, was wir bisher als menschliche Natur kennengelernt haben (Bedürfnischarakter, Besitzstreben etc.) und dem Politischen dort weitgehend aufgebrochen wird, wo es um die Bildung der besten Polis geht, dem wichtigsten Anliegen der Politeia. Die vollkommene Polis soll die wahre menschliche Natur realisieren. Hier liegt nun ein oft gesehenes Problem. Die beste Polis ist schlechterdings nicht durch Menschen zu verwirklichen, auch nicht durch jenes gottnahe Geschlecht der Philosophen, die ja immer noch Menschen bleiben und vor allem über Menschen herrschen sollen. Wenn von der besten Polis die Rede ist, so ist sicher jenes Musterbild gemeint, das in der Politeia entworfen wird und von dem Sokrates sagt, daß die Wirklichkeit ihm durch Nachahmung nur so nahe wie möglich kommen könne (vgl. Pol. 472e/473a/b). Die beste Polis im Sinne dieses Ur- und Musterbildes ist in den richtigen Worten Ernst Cassirers „jenseits von Raum und Zeit", hat „kein Hier und kein Jetzt", sondern ist „ein Paradigma, eine Norm und ein Vorbild für menschliche Handlungen". 19 An der Möglichkeit einer weitgehenden Realisierung hält die Politeia allerdings fest. Streng genommen müßte man bei der Auslegung der Politeia den Ausdruck „beste Polis" für das Urbild reservieren und die Formulierung „zweitbeste Polis" zur Kennzeichnung der annähernden Realisierung jenes Bildes verwenden. 2 " Da diese Terminologie jedoch sehr künstlich erscheint und umständlich ist, werde ich weiterhin von der besten Polis reden und es dabei der Einsicht des Lesers überlassen, ob hiermit das Paradigma oder die Nachahmung gemeint ist. Auch die Annahme, das Urbild der besten Polis sei zumindest näherungsweise zu verwirklichen, erweist sich als problematisch. Die Nachahmung der besten Polis, die zweitbeste Polis also, ist zwangsläufig in dieser Welt lokalisiert, und als solche ist sie, wie alles Werdende, dem Untergang geweiht, was von Sokrates ausdrücklich eingestanden wird (vgl. Pol. 546a). 2 ' Das Musterbild aber, die beste Polis, befindet sich im Bereich des Seins. Beide Welten müssen als strikt getrennt begriffen werden, und der Dimension des Werdens kommt dabei gegenüber der Dimension des Seins von vornherein ein minderwertiger Status zu. logy, S . 2 0 9 f . Manche meinen, daß sich in Piatons Werk zwei inkohärente Auffassungen des Bösen gegenüberstehen. Vgl. Sesemann: D i e Ethik Piatons und das Problem des B ö s e n , S. 180. Auch gibt es den Standpunkt, Piaton habe sich, wie der größte Teil der griechischen Philosophen, für das Problem des Bösen überhaupt nur marginal interessiert. Vgl. hierzu Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S. 191; S . 2 0 7 . Für einen guten Überblick über die verschiedenen Meinungen vgl. Cherniss: The sources of evil according to Plato. Cherniss s e l b s t argumentiert dafür, daß Platon eine vollständig stimmige Theorie des Bösen vertreten habe. Zitiert nach Vretska: Einleitung zu Piaton: Der Staat, S . 7 6 . Statt des Ausdrucks „beste P o l i s " verwendet Cassirer allerdings den unglücklichen Terminus „Idealstaat". Auch Gaiser geht davon aus, daß in der Politeia nicht das Urbild unmittelbar beschrieben wird, sondern vielmehr eine Annäherung im Bereich der Erscheinungen. Siehe Gaiser: Piatons ungeschriebene Lehre, S. 106. In der Politeia gibt es übrigens einen winzigen Hinweis darauf, daß Sokrates selbst die von ihm in Gedanken konstruierte Polis noch nicht als die allerbeste, also die wahrhaft göttliche, ansieht. Als er von Adeimantos gefragt wird, ob die bisher geschilderte Polis nun die wirklich göttliche sei, gibt Sokrates kein klares „Ja" zur Antwort, sondern ein verhaltenes „Meistenteils wohl" (vgl. P o l . 4 9 7 c ) . Popper täuscht sich daher gründlich, wenn er meint, es ginge in der Politeia um die Gründung eines Staates, der nicht dem Verfall unterworfen ist. Vgl. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd.I, S . 2 7 ; S . 3 9 . Die wirklich beste Polis, also das Paradeigma, kann tatsächlich nicht verfallen, weil sie ewig ist. Was Popper jedoch im Sinn hat, ist die Nachahmung dieses Urbildes (vgl. S.39), und diesbezüglich wird er durch den Text eindeutig widerlegt.
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Diese zwei ontologischen Ebenen sind wesentlich so verschieden, daß das Werden das Sein nicht nachahmen kann, weil ihm eben der Seinscharakter fehlt. 22 Aus diesen und ähnlichen Gründen heraus hat man manchmal gemeint, die Annahme der Politeia, man könne sich der besten Polis wenigstens stark annähern, sei eine fingierte Hypothese, die nicht in ihrem Nominalwert zu nehmen ist.23 Ob wir es nun mit einer fingierten Annahme zu tun haben oder nicht, der interessierte Leser muß die von Sokrates bezüglich der (annähernden) Realisierung der besten Polis gemachten Vorschläge nachvollziehen. Diese Konzepte laufen, wie wir noch sehen werden, auf eine konsequente Bekämpfung all derjenigen Elemente der faktisch vorfindlichen Natur hinaus, die der Verwirklichung des Besten entgegenstehen, und dies sind durchaus zunächst die meisten. Auf dem Wege zur besten Polis wird das Politische in der Hand der Philosophen zur listig eingesetzten Waffe gegen weite Teile der menschlichen Natur, soweit diese denn als schlecht und gefährlich eingestuft werden. Nur so kann die Kluft zwischen dem hinsichtlich der tatsächlich vorhandenen und immer defizienten Natur pessimistischen Menschenbild der Politeia und der optimistischen Behauptung von der (tendenziellen) Umsetzbarkeit des politisch Besten überbrückt werden. Wir werden sehen, daß die Philosophenherrscher ihre Ziele gegenüber den Bürgern der besten Polis in hohem Maße durch Lüge und Täuschung durchsetzen, also gerade nicht dadurch, daß sie auf eine natürliche Anlage zur Perfektibilität in den einzelnen Menschen setzen. Nur wenigen wird der Schritt gelingen, sich selbst zur wahren und vollen Natur zu befreien, und zwar den Philosophen; für die sog. „breite Masse" ist er nicht vollziehbar. Wir können daher bereits an diesem Punkte sagen, daß die beste Polis, sofern sie die Harmonie zwischen nomos und physis verwirklichen soll, mehr und anderes sein muß als die Summe ihrer Teile.
2.2.2. Die Bewertung des Krieges Die zuletzt angestellten Überlegungen führen uns indirekt zur Frage der ethischen Bewertung des Krieges in der Politeia. Ist der Krieg ein Übel, gehört er also zu den schlechten Möglichkeiten des Menschen? Die diesbezüglich einschlägige Textstelle (vgl. Pol. 373e) gibt zur Beantwortung dieser Frage nicht unmittelbar viel her. Sokrates sagt dort, daß der Ursprung des
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Zum Problem des platonischen Dualismus vgl. Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, S. 189ff.; S. 193ff.; S. 198ff. Gaiser will diesen Dualismus dadurch abschwächen, daß er die platonische Idee mit zwei verschiedenen sich ergänzenden Aspekten ausstattet: einerseits dem Aspekt der in sich ruhenden Form (Paradeigma), andererseits demjenigen der wirkenden Kraft, den er auch als „Dynamisaspekt" bezeichnet (vgl. S.193; S.201). Die hauptsächliche Grundlage für diese Unterscheidung sieht Gaiser in Platons kosmologischer Konzeption eines Demiurgos, wie sie im Timaios entfaltet wird. Dieser Werkmeister sei als die Veranschaulichung des Dynamis-Aspektes zu denken (vgl. S.193). Gaiser will mit diesen Überlegungen u.a. auf den bereits von Aristoteles vorgebrachten Einwand reagieren, daß mittels der platonischen Idee das Phänomen der Entstehung der Entwicklung nicht erklärt werden kann, wenn denn diese Ideen nur als in sich ruhende Formen verstanden werden. Die Betrachtungen des Autors sind subtil und interessant, scheinen mir jedoch hart an der Grenze zu einer widersprüchlichen Konstruktion zu liegen. So etwa Strauss: The City and Man, S. 1 29.
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antwortung dieser Frage nicht unmittelbar viel her. Sokrates sagt dort, daß der Ursprung des Krieges in dem liegt, woraus sowohl den Poleis als auch den einzelnen Menschen viel Unglück entsteht (gemeint ist das Besitzstreben), und er will ausdrücklich die Frage ausklammern, ob der Krieg Gutes oder Schlechtes bewirke. Streng genommen läßt sich aus dieser gewundenen Formulierung in bezug auf den ethischen Status des Krieges überhaupt nicht viel erschließen. Klar ist, daß die Besitzgier ein Übel ist, aus dem eben auch der Krieg entspringt. Hieraus können wir aber nicht ohne weiteres folgern, daß der Krieg selbst ein Übel ist noch daß er nur Übles bewirkt. Zu diesem Schluß fehlt uns ein Zwischenglied, und zwar ein Prinzip derart, daß Übles nur Übles bewirken kann; hiervon steht jedoch in diesem Zusammenhang nichts. Wir können nur mit guten Gründen vermuten, daß alles, was aus der Quelle des Begehrlichen entspringt, etwas Schlechtes ist, wobei allerdings die Frage offen bleibt, ob man sich nicht über Umwegen auch etwas Schlechtes zunutze machen kann. Wir können aus der Politeia allerdings entnehmen, daß es für eine Polis schlecht ist, zu viele Kriege zu führen (vgl. Pol. 547e/548a), wahrscheinlich weil hierdurch das Gemeinwesen zu oft in die Gefahr der Knechtschaft gerät, wie es dann im Politikos heißt (vgl. Politikos 308a). Auch gilt es als schändlich, wenn ein Herrscher aus rein eigennützigen Motiven Kriege in Gang setzt, wie der Tyrann es zu tun pflegt (vgl. Pol. 566e/567a). Schließlich fordert Sokrates, daß ein bewaffneter Konflikt zwischen Hellenen, der im übrigen seiner Meinung nach nicht als polemos, sondern als stasis (Zwist) zu klassifizieren ist, nach bestimmten Regeln der Ehre und Schonung ausgetragen werden soll, ja, daß Kriege zwischen Hellenen der Möglichkeit nach zu vermeiden seien (vgl. Pol. 468a^t71c). Eine ethische Diskriminierung des Krieges in seiner Gesamtheit ist dies alles nicht. In der gesunden Polis gibt es tatsächlich keinen Krieg, und sie wird von Sokrates als die „rechte Polis" bezeichnet (vgl. Pol. 372e), doch die gesunde Polis ist eben nicht identisch mit der besten Polis, die zwar auch „gesund" ist, aber auf einer anderen und höheren Ebene als jenes anfänglich betrachtete Gemeinwesen. 24 Die beste Polis ist in zentraler Hinsicht auf Krieg eingerichtet. Im Timaios interessiert sich Sokrates denn auch für die Frage, wie die beste Polis mit ihren Kriegern sich in einem ihr „würdigen" Krieg ausnehmen würde (vgl. Timaios 19b-20b). Höchst irreführend scheint mir die überaus häufig aufgestellte Behauptung zu sein, die vollkommene Polis würde Krieg nur in der Verteidigung führen. 25 Die panhellenischen Tendenzen der Politeia lassen es als sicher erscheinen, daß die beste Polis auch Beistandskriege zugunsten anderer hellenischer Poleis führen würde, was sich nur in einem weiteren Sinne als kollektive Selbstverteidigung auslegen ließe. Mindestens ebenso wichtig ist, daß das Verhältnis zwischen Hellenen und Barbaren, wie es in der Politeia geschildert wird (vgl. Pol. 469b-471c), solche Kriege gegen Barbaren nicht ausschließt, die wir als „Angriffskriege" im Sinne von bewaffneten Erstschlägen einstufen würden.26 Vielmehr werden solche Popper irrt sich, wenn er meint, in der Politeia werde die Rückkehr zu einem primitiven Staat im Sinne der Wiederherstellung eines harmonischen Naturzustandes anvisiert. Siehe Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, S. 104; S. 238; S. 2 7 8 Fn. Die beste Polis beruht wesentlich auf philosophischer R e f l e x i o n , die ursprüngliche gesunde Polis dagegen nicht. Siehe zu diesem Punkt auch Gaiser: Piatons ungeschriebene Lehre, S. 2 8 0 ff. Diese Auffassung findet sich u . a . bei Jaeger: Paideia, 2. Bd., S. 182. - Verdroß-Droßberg: Grundlinien der antiken Rechts- und Staatsphilosophie, S. 117. - Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S. 175. - Demandt: Der Idealstaat, S. 7 9 . Selbstverständlich kann über den Begriff eines Angriffskrieges gestritten werden. Man kann
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Kriege an einer Stelle sogar nahegelegt (vgl. Pol. 469c), wenn auch nicht von Sokrates selbst. Ebenso wird aus dem Zusammenhang deutlich, daß die elementaren Regeln eines ius in bello, wie sie von Sokrates aufgestellt werden (Plünderungs- und Brandschatzungsverbot etc.) nur für innerhellenische Auseinandersetzungen, nicht aber für Konflikte mit Barbaren gelten sollen. Kann man nun im Kriegsfall mit Barbaren auf diese Weise umgehen, dann leuchtet nicht ein, warum es als schändlich gelten sollte, diese anzugreifen. Man kann davon ausgehen, daß die vollkommene Polis der Politeia Selbstverteidigungskriege, Bündniskriege und bestimmte Arten von Angriffskriegen führen würde. Es ist daher stark übertrieben, wenn etwa Verdroß-Droßberg und im Anschluß an ihn auch Maurer von der „Konzeption eines pazifistischen Staates" sprechen. 27 Nun gibt es tatsächlich einen Typus von Krieg, den die beste Polis nicht führen dürfte, unabhängig davon, ob diese sich in der Verteidigung oder im Angriff befindet: Kriege aus Eroberungs- und Raffgier. Das unangemessene Besitzstreben ist, wie wir wissen, ein Übel und daher mit dem Besten keinesfalls vereinbar. Doch darf man hierbei folgenden Umstand nicht übersehen: Zwar wird die beste Polis, besteht sie erst einmal, keine Eroberungskriege mehr führen, doch macht sie in zentraler Hinsicht Gebrauch von einer Institution, die erst durch die Entstehung von Pleonexie erforderlich wird, und zwar dem Heer. So paradox es klingen mag: die beste Polis kann zwar selbst nicht schlecht sein, baut aber auf etwas ursprünglich Schlechtem auf. Es wird in der Folge gezeigt werden, daß in der Politeia tatsächlich der systematische Versuch unternommen wird, ein Übel für das Gute zu funktionalisieren. Es sollte erwähnt werden, daß Platons Spätwerk, die Nomoi, in bezug auf die Bewertung des Krieges eine etwas andere Sprache spricht als die Politeia. Die Bedeutung des Friedens (eirene) wird dort verbal stärker akzentuiert. So heißt es, daß weder der äußere noch der innere Krieg das allgemeine Beste sei (vgl. Nom. 628c), und daß jeder, so weit wie möglich, sein Leben in Frieden verbringen solle (vgl. Nom. 803d/e). Auch kritisiert der Athener an den spartanischen und kretischen Gesetzen, diese seien zu sehr auf den (auswärtigen) Krieg ausgerichtet (vgl. Nom. 628d); Aufgabe eines Gesetzgebers sei es aber, seine Gesetze um des Friedens willen zu gebrauchen. Doch ist bei der Auslegung solcher Bemerkungen Vorsicht geboten. Wenn in den Nomoi gesagt wird, daß für eine Polis-Gesetzgebung die Friedenswahrung oberstes Gebot sei, dann ist damit zuallererst die Verhinderung des Krieges in einem bestimmten politischen Binnenraum gemeint, des Bürgerkrieges also (vgl. Nom. 628b). Letzterer gilt als ein wesentlich schlimmeres Übel als der äußere Krieg (vgl. Nom. 629d), und dieses ist ein Gedanke, den die Nomoi mit der Politeia gemeinsam haben (vgl. Pol. 470b/c/d). Keine Art des Krieges wird in beiden Werken so grundsätzlich abgelehnt wie der Bürgerkrieg (stasis). ζ . Β. einwenden, daß es keinen Sinn habe, mit einer Unterscheidung wie derjenigen zwischen Angriffskrieg und Verteidigungskrieg, die wir automatisch in unserem modernen völkerrechtlichen Sinn auslegen, an antike Texte heranzugehen. Wenn man diese Auffassung vertritt, sollte man jedoch konsequenterweise auch auf Aussagen des Typs verzichten, die beste P o l i s der Politeia führe Krieg nur in der „Verteidigung" und nicht im „ A n g r i f f . Statt dessen würde e s sich anbieten, ausschließlich mit der Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen zu arbeiten. 27
Vgl. Verdroß-Droßberg: Antike Rechts- und Staatsphilosophie, S . 2 2 ; S. 117. Siehe auch Maurer: Platons „Staat" und die Demokratie, S. 60 Fn.
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Krieg und Gerechtigkeit
2.3.1. Krieg und Schädigung Das Problem der ethischen Bewertung des Krieges führt uns unmittelbar auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Krieg und Gerechtigkeit (dikaiosyne) in der Politela. Hierbei mag folgender Umstand verblüffend erscheinen: Obwohl Gerechtigkeit der Leitfaden der Untersuchung sein soll, und obwohl die beste Polis in einer ihrer wesentlichen Dimensionen auf Krieg ausgerichtet ist, gibt es in dem gesamten Text keine ausdrückliche Zusammenführung der beiden Themen Krieg und Gerechtigkeit. Hinzu kommt, daß es sogar einen Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Krieg zu geben scheint. Sokrates' Ausführungen über Gerechtigkeit im ersten Buch beinhalten, daß Gerechtigkeit ein absolutes Schädigungsverbot einschließt (vgl. Pol. 335c-336a). Polemarchos hatte behauptet, gerecht sein hieße, seinen Freunden zu nutzen, seinen Feinden aber zu schaden (vgl. Pol. 334b). Dem hält Sokrates als Resultat einer längeren Argumentation entgegen, daß der Gerechte niemandem schaden (blaptein) dürfe, seinen Freunden nicht, aber ausdrücklich auch seinen Feinden nicht (vgl. Pol. 335dJe). Es sei vielmehr ungerecht, irgend jemandem zu schaden. Auf der anderen Seite wird der Krieg klarerweise als ein Feindschaftsverhältnis bestimmt. Es ist nun aber zunächst schwer zu sehen, wie man Krieg führen kann, ohne jemandem zu schaden, also ohne ungerecht zu sein. Wir haben also ein Problem: 1 Die beste Polis führt entweder Kriege, in welchem Fall sie nicht gerecht sein kann, oder sie ist gerecht, in welchem Fall sie keine Kriege führen darf (auch keine Verteidigungskriege). Wir wissen aber aus den folgenden Büchern, daß die beste Polis Kriege führt. Also ist sie nicht gerecht; doch eine nicht gerechte Polis kann niemals die beste Polis sein. In unserem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß eben die im ersten Buch abgelehnte Gerechtigkeitskonzeption des Polemarchos im zweiten Buch von Sokrates selbst vertreten zu werden scheint, wenn auch nicht ausdrücklich unter dem Titel „Gerechtigkeit". Sokrates fordert dort (vgl. Pol. 375b-376c), daß der gute Wehrmann zu den eigenen Leuten, den Freunden, sanftmütig sein soll, zu den Fremden aber das Gegenteil, und zwar unfreundlich und aggressiv. 2 Dabei gibt es zwischen dem Fremden (xenos) und dem Feind (polemios) keinen Unterschied. Auch wenn die von Sokrates postulierte Haltung der Wehrmänner nicht explizit als „gerecht" bezeichnet wird, so dürfte es doch in der Politeia keinen Gerechtigkeitsbegriff geben, der eine solche Haltung als ungerecht ausschließen würde. Auf jeden Fall sieht es so
Auf den scheinbaren Widerspruch zwischen Kriegführung und den Gerechtigkeitsvorstellungen des Sokrates im ersten Buch der Politeia weist besonders klar Leo Strauss hin. Siehe Strauss: The City and Man, S . 7 5 . Den Freunden Gutes zu tun, den Feinden aber Schaden zuzufügen, war unter Griechen ein gängiges ethisches Handlungsprinzip. Siehe hierzu Wilamowitz: Platon, S . 1 5 9 . Siehe auch Blundell: Helping friends and harming enemies.
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KRIEG UND KRIEGER IN PLATONS POLITEIA
aus, als würde Polemarchos' Konzeption der Sache nach übernommen und auch durch das ganze Werk hindurch eine tragende Rolle spielen.3 Es gibt, wie mir scheint, die folgenden Möglichkeiten des Umgangs mit diesen Widersprüchlichkeiten: 1.
Das erste Buch der Politeia
ist für den Fortgang des Werkes mehr oder weniger bedeu-
tungslos. Wenn es zu Konflikten zwischen den dort entwickelten Vorstellungen über Gerechtigkeit und späteren Positionen kommt, sollte daher grundsätzlich letzteren der Vorrang gebühren. Zugunsten dieser Meinung kann man anführen, daß es sich nach einer verbreiteten Forschungsmeinung bei Politeia
I tatsächlich um einen selbständig verfaßten Dialog handelt, der
höchstwahrscheinlich in Platons Frühschriftenperiode entstanden ist und möglicherweise den Titel „Thrasymachos" trug.4 Oft wird die Zugehörigkeit zur frühen Werkphase an der Form des ersten Buches festgemacht. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß das Wort „Dialog" tatsächlich sinnvoll ist. Es handelt sich um einen echten Gedankenaustausch, was sich daran zeigt, daß auch Sokrates' Gesprächspartner ausführlich zu Wort kommen. Außerdem vertritt Sokrates dort keine positiven und systematischen Lehren, sondern beschränkt sich darauf, die Auffassungen anderer als grundlos, verwirrt oder widersprüchlich zu erweisen. So ist ja auch das, was Sokrates im ersten Buch über Gerechtigkeit zu sagen hat, negativer Art. Er erklärt, was nicht gerecht ist, ζ . B. die Schädigung eines anderen, aber es fehlen positive Bestimmungen der Gerechtigkeit. Die restlichen Bücher der Politeia
bieten demgegenüber ein ande-
res Bild. Der Ausdruck „Dialog" kann dort oft nur noch auf die äußere Form bezogen werden, denn im Grunde hält Sokrates Monologe. Auf der inhaltlichen Ebene entspricht diesem formalen Aspekt, daß Sokrates nun viele definitive Behauptungen und sogar ganze Theorien vorträgt. Aus diesem Mißverhältnis zwischen dem ersten Buch und dem übrigen Teil des Werkes haben manche Interpreten des platonischen Werkes den Schluß gezogen, daß Piaton im ersten Buch das tatsächliche philosophische Vorgehen des Sokrates darstellen wollte, während er dann dazu übergegangen sei, die Figur des Sokrates als Sprachrohr für seine eigenen Überzeugungen zu benutzen.5 Für unser Problem könnte der werkgeschichtliche Zugriff eine bequeme Lösung bieten: Die Äußerungen von Sokrates über Gerechtigkeit im ersten Buch stehen für die Auffassungen des historischen Sokrates, wenn sie denn überhaupt für klare Positionen stehen. Die im weiteren Werk entfalteten Gerechtigkeitskonzepte sind Platons eigene Überzeugungen. Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Krieg wäre also keiner innerhalb ein und desselben Gedankenkomplexes. Unglücklicherweise vermag dieser Lösungsansatz nicht zu überzeugen. Selbst wenn das erste Buch in zeitlicher, formaler und inhaltlicher Hinsicht ein eigenständiger Dialog ist, so gilt dennoch, daß Piaton sich selbst dazu
Vgl. auch hierzu Strauss: The City and Man, S.73. Siehe hierzu Krämer: Arete bei Piaton und Aristoteles, S.41f. Skeptisch ist Jaeger: Paideia, Bd.2, S. 150. Begründete Zweifel an der Selbständigkeit von Buch I meldet auch H ö f f e an. Siehe Höffe: Einführung in Platons Politeia,
S. lOff., bes. 11.
Siehe zu diesem Themenkomplex Annas: An Introduction to Plato's Republic, S. 1 6f. Für eine abweichende Position vgl. Zehnpfennig: Piaton zur Einführung, S.92f. Diese Autorin vertritt die Meinung, daß sich der Rest der Politeia
vom ersten Buch nicht dadurch unterscheidet, daß
Piaton dort unmittelbar seine eigenen Lehren verbreiten läßt.
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KRIEG U N D GERECHTIGKEIT
entschieden hat, die Politeia mit diesem Text einzuleiten, und er muß hierfür gute Gründe gehabt haben. Gewiß hätte er nicht offenkundig widersprüchliche Aussagen miteinander kombiniert. 2.
Wenn Sokrates sagt, Gerechtigkeit schließe Schädigung aus, dann hat er dabei nicht die politische Gerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit der Einzelseele im Sinn. Kriegführung und Kriegswesen sind aber politische Angelegenheiten. Schädigungsverhalten im Krieg wird daher durch die Überlegungen im ersten Buch nicht tangiert und nicht diskriminiert.
Dieser Gedanke erscheint als Lösung des Konfliktes zwischen Krieg und Gerechtigkeit im Rahmen der Politeia sehr unattraktiv. Bekanntlich wird in diesem Werk die Gerechtigkeit in zwei Dimensionen betrachtet, einer individuellen und einer politischen. Dabei soll aber letztere ausdrücklich ein Bild der ersteren sein (vgl. Pol. 368e/369a), weshalb beide einander weitgehend analog sein müssen. Tatsächlich baut die Politeia auf dieser Analogie auf. Zwar ist unklar und umstritten, wie weit diese Entsprechung wirklich durchgehalten wird,6 und ob sich nicht doch gravierende Unterschiede zwischen der Gerechtigkeit von Polis und psyche ergeben, doch Piatons Intentionen wird man durch eine Aufhebung der Analogie sicher nicht gerecht. 3.
Bestimmte Kriege widersprechen dem Schädigungsverbot der Gerechtigkeit nicht, weil sie eben nicht wirklich schädigen.
Zugunsten dieser Position läßt sich die in der Politeia aufgestellte Theorie über die göttliche Bestrafung von Bösen heranziehen (vgl. Pol. 380a/b). Sokrates will, daß die Dichter niemals sagen, Gott könne irgend jemandem die Ursache von Bösem sein. Wenn Gott die Bösen strafe, so nütze er ihnen vielmehr durch die Strafe. Dieser Auffassung liegt die Meinung zugrunde, daß der wahrhaft Böse zugleich auch der wahrhaft Unglückliche ist. Sofern daher seine Bestrafung dem Zweck der Besserung dient, kann sie ihm nicht schaden. In manchen Fällen, in denen Besserung aussichtslos ist, ist der Tod für den Bösen die einzige Erlösung. Diese Theorie läßt sich unschwer „säkularisieren", d. h. von Gott auf den menschlichen Gesetzgeber übertragen. Ein Verbrecher ist grundsätzlich auch unglückselig. Daher kann ihm die Strafe des Gesetzes, sofern sie mit der Intention von Hilfe und Besserung erfolgt, nicht schaden.7 Die strafende Instanz verhält sich hier wie ein Arzt, der durch seine Maßnahmen eine Krankheit heilt, in diesem Fall eine Krankheit der Seele (vgl. Pol. 470c). Transformiert man diese Straftheorie, deren Kern bei Piaton der Vergleich mit dem Arzt ist, auf die Ebene kollektiver Konflikte zwischen Gemeinwesen, so kommt heraus, daß man bestimmten Gemeinwesen durch Kriegführung nicht schadet, und zwar wenn diese sich analog zu Verbrechern verhalten und der Krieg gegen sie daher wie eine Strafaktion aufgefaßt werden kann.
Siehe hierzu Williams: The Analogy of City and Soul in Plato's Republic. Vgl. auch Annas: An Introduction to Plato's Republic, S. 151. Siehe auch Höffe: Zur Analogie von Individuum und Polis. Williams und Annas führen eine Reihe von guten Gründen dafür an, daß die Analogie zu weiten Teilen versagt und zu Widersprüchen führt. Demgegenüber vertritt Höffe die Position, daß Piatons Aussagen bei einer entsprechend w o h l w o l l e n d e n Interpretation einen konsistenten Sinn ergeben. Eine analoge Position wird in den Nomoi
vom Athener vertreten (vgl. Nom. 884d/e).
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Tatsächlich gibt es in der Politeia Hinweise darauf, daß es nicht wirklich schädigend ist, Waffengänge gegen solche hellenischen Poleis zu unternehmen, die selbst mutwillig den innerhellenischen Frieden stören (vgl. Pol. 471a/b), wobei Waffengänge dieser Art allerdings dem Bereich der stasis zugeordnet werden. Dem Schädigungsverbot würde dabei zumindest dann entsprochen, wenn man sich an bestimmte Regeln der Konfliktaustragung hält und die rechte Absicht verfolgt, die Ruhestörer zur Besinnung zu bringen und Hellas zum Frieden zurückzuführen. In bezug auf Kriege gegen Barbaren ist eine andere argumentative Strategie erforderlich, um das Schädigungsverbot zu umgehen als bei innerhellenischen Konflikten. Zwischen Hellenen und Barbaren besteht nach Sokrates eine Feindschaft von Natur aus. Wir werden uns später ansehen, was dieses heißen kann. Für den Augenblick mag der Hinweis darauf ausreichen, daß es aus der Sicht der Politeia für die Barbaren evtl. nicht wirklich schädigend ist, wenn Hellenen gegen sie Kriege führen, sofern dabei intendiert wird, den Barbaren ihren „naturgemäßen" Ort zuzuweisen. 4.
Der Widerspruch zwischem dem absoluten Schädigungsverbot der Gerechtigkeit und dem Krieg läßt sich gar nicht eliminieren. Unter anderem aus diesem Grund ist auch das, was in der Politeia als beste Polis geschildert wird, nicht wirklich die beste, sondern höchstens die zweitbeste.
Diese auf der Unaufhebbarkeit des Konfliktes bestehende Position ist nicht absurd. Die beste Polis der Politeia unterscheidet sich von den zahlreichen anderen innerhalb des platonischen Werkes als musterhaft beschriebenen Lebensformen (dem Leben der Menschen unter Kronos, dem postkatastrophalen Zustand der Nomoi, der ebenfalls in den Nomoi anvisierten GötterPolis, der ursprünglichen gesunden Polis der Politeia) dadurch, daß nur sie auf Krieg eingerichtet ist. Das Mustergemeinwesen der Politeia nimmt in hohem Maße auf gewisse Erfordernisse der Realität Rücksicht, zu denen wesentlich das Kriegswesen gehört. Es könnte daher sein, daß die beste Polis nicht die schlechthin beste ist, dafür aber den Vorteil bietet, von Menschen näherungsweise umsetzbar zu sein. Was die mit Krieg und Zwist notwendig verbundene Ungerechtigkeit gegenüber anderen betrifft, so wäre diese nicht grundsätzlich vermeidbar, wohl aber begrenzbar. Wir werden uns letztlich für die dritte dieser Optionen entscheiden. Zuvor ist es jedoch erforderlich zu untersuchen, was in der Politeia positiv über Gerechtigkeit ausgesagt wird, um anschließend Zusammenhänge zur Kriegsthematik herzustellen.
2.3.2. Die Gerechtigkeit in der Polis Nachdem das erste Buch bezüglich der Frage, was Gerechtigkeit in der Einzelseele sei, mehr oder weniger ergebnislos geblieben ist, schlägt Sokrates im zweiten Buch vor (vgl. Pol. 368e/369a), die Gerechtigkeit auf größerer Ebene, und zwar am Beispiel der Polis zu betrachten. Dieser Wechsel von der Mikro- zur Makroperspektive wird von Sokrates mit der Hoffnung begründet, daß die Gerechtigkeit im Größeren leichter als im Kleineren zu erkennen sei. Die erste positive Bestimmung von politischer Gerechtigkeit finden wir erst im vierten Buch; es handelt sich um die berühmte Erklärung der Polis-Gerechtigkeit als „Tun des Seinigen" (vgl. Pol. 433a/b). Eine Polis ist demnach dann gerecht, wenn in ihr jeder nur eines verrichtet, und zwar das, wozu er sich von Natur am besten eignet. Politische Gerech-
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tigkeit scheint also nichts anderes zu sein als Arbeitsteilung, durch die schon die ursprüngliche gesunde Polis gekennzeichnet war. Genau genommen handelt es sich um effektive Arbeitsteilung: jeder soll nicht nur einer einzigen Beschäftigung nachgehen, sondern auch genau derjenigen, bei der er am geschicktesten ist. Nur wenn wir den Zusatz „effektiv" mitdenken, ist die Bestimmung der Polis-Gerechtigkeit als Arbeitsteilung sinnvoll. Durch Arbeitsteilung überhaupt ist nach Sokrates ohnehin jede Polis charakterisiert (vgl. Pol. 369c). Faßt man also Gerechtigkeit einfach als Arbeitsteilung auf, so ergäbe sich die absurde Schlußfolgerung, daß jede Polis gerecht ist. Von der Gerechtigkeit im Sinne (effektiver) Arbeitsteilung sagt Sokrates nun, daß nur sie es ist, die in der Polis den drei aretai der Besonnenheit (sophrosyne), Tapferkeit (andreia) und Weisheit (sophia) die Kraft gibt, sich zu entwickeln und zu erhalten. Der Gedanke, der sich hierin ausdrückt, könnte zunächst ein äußerst schlichter und pragmatischer sein, und zwar der, daß erst auf der Grundlage einer gesicherten Bedürfnisbefriedigung in einer Polis Höheres und Komplizierteres geschaffen und bewahrt werden kann. Wie dem auch sei, wenig später vollzieht Sokrates eine entscheidende Verschiebung in der Bestimmung der Gerechtigkeit. Er sagt zu Glaukon (vgl. Pol. 434a), es richte in der Polis keinen großen Schaden an, wenn etwa der Zimmermann die Werke des Schusters oder der Schuster die des Zimmermanns oder einer beide Tätigkeiten verrichte. Also ist, entgegen dem bisherigen Eindruck, Gerechtigkeit nicht mit sinnvoller Arbeitsteilung zu identifizieren. 8 Zumindest innerhalb des erwerbenden Standes ist die Spezialisierung nicht so wichtig, wie sie bisher zu sein schien. Viel wesentlicher ist etwas anderes: niemand soll aus dem dritten Stand in den zweiten übergehen, sofem er nicht von Natur dazu geeignet ist, was in gewissen Ausnahmefällen vorkommen mag (vgl. Pol. 434a/b). In diesem Zusammenhang wird nicht nur der faktische Übergang von Ungeeigneten in einen anderen Stand, sondern generell der Versuch der „Einmischerei" in die Geschäfte eines anderen Standes als schädlich für die Polis verurteilt. Gerechtigkeit ist demnach weniger, wenn überhaupt, ein Prinzip, das die Beschäftigungsverteilung innerhalb eines Standes regelt, sondern sie betrifft die Beziehungen zwischen den Ständen. Gerechtigkeit als „Tun des Seinigen" besagt nicht mehr primär, daß jeder Einzelne oder jede Berufsgruppe, sondern daß jeder Stand das Seinige tut. Dieses ist nun in der Tat neu. Warum hat Sokrates diese Interpretation der Gerechtigkeit nicht sofort eingeführt? Abgesehen davon, daß in der Politeia generell mit der Methode des Aufstiegs vom Einfachen zum Komplizierten gearbeitet wird, liegt die Antwort wohl in diesem speziellen Fall darin, daß die ursprüngliche Vorstellung von Gerechtigkeit als Arbeitsteilung eine nahtlose Anknüpfung an Natur ermöglicht. Wir wissen aus Sokrates' Konstruktion der PolisBildung, daß der Mensch von Natur aus auf arbeitsteilige Bedürfnisbefriedigung, also auf die Polis, angelegt ist. Gerechtigkeit wird zunächst mit diesem simplen Umstand in Verbindung gebracht, woraus resultiert, daß Gerechtigkeit zwar nicht aus Arbeitsteilung schlechthin, aber in möglichst sinnvoller Arbeitsteilung besteht. Gerechtigkeit erscheint somit als etwas Naturgemäßes und gleichzeitig ökonomisch Zweckmäßiges. Sie ist nicht mehr als ein in der menschlichen Natur angelegtes ökonomisches Prinzip der Polis-Organisation. Mit diesem Gerechtigkeitskonzept geschieht nun nahezu unmerklich etwas Neues. Es wird von Sokrates
Daß an diesem Punkt eine Verschiebung des Gerechtigkeitsbegriffs stattfindet, ist s c h o n mehrfach bemerkt worden. Siehe vor allem Arends: Die Einheit der Polis, S . 3 4 f f . Vgl. auch Annas: An Introduction to Plato's Republic, S. 1 18.
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als Vehikel benutzt, um zu verdeutlichen, daß die eigentliche Polis-Gerechtigkeit darin besteht, daß hierarchisch geordnete Polis-Schichten das jeweils Ihrige tun. Das Novum an dieser Bestimmung ist, daß sie sich nicht mehr nur auf Arbeitsteilung im ursprünglichen Sinne bezieht, sondern auch und wesentlich auf Herrschaft. Dabei wird die erste Gerechtigkeitsvorstellung nicht einfach irrelevant, sondern dient als Grundlage für ein nicht deutlich ausformuliertes Schlußverfahren: So wie es gerecht ist, daß Menschen sich überhaupt ihre Beschäftigungen sinnvoll aufteilen, so ist es auch gerecht, daß es eine Aufteilung in Herrschende und Beherrschte gibt und daß beide nicht versuchen, ihre Rollen zu tauschen. Ein ursprünglich einfacher Gedanke, derjenige von dem natürlichen Angelegtsein des Menschen auf Arbeitsteilung, wird hier gebraucht, um Herrschaft und Hierarchie als etwas ebenso Natürliches und Gerechtes einzuführen. Hans Freyer hat einmal über Platons Verhältnis zur Herrschaft folgendes geschrieben: „Piaton ist fast der einzige Utopist, der weiß, daß das Wesen des Staats, auch des v o l l kommnen Staats und gerade des vollkommnen, die Herrschaft ist. Alle andern gedenken die Herrschaft, die sie zur alten Welt rechnen, abzuschaffen oder überflüssig zu machen. ( . . . ) Piaton allein weiß erstens um die Notwendigkeit, zweitens um die naturhafte Begründung und drittens um den wesentlichen Sinn des Herrschens, darum verleugnet er die Herrschaft 9
weder, noch tarnt er sie."
Ganz so selbstverständlich, wie Freyer hier suggeriert, ist Platons Umgang mit Herrschaft freilich nicht. In der anfänglichen gesunden Polis gibt es gar keine Herrschaftsstrukturen, und diese ist durchaus vollkommen, wenn auch auf anderer Ebene als die dann konstruierte beste Polis. Herrschaft ist ein Phänomen, das auf genau derselben Stufe der Polis-Entwicklung erforderlich wird, auf der auch der Krieg entsteht und ist von da an allerdings unvermeidlich. Ist nun die Aufteilung in Herrschen und Beherrschtwerden tatsächlich ein Spezialfall von Arbeitsteilung? Werfen wir einen Blick darauf, wie strikt die Trennung zwischen den drei Ständen und deren Beschäftigungen in der Politeia wirklich ist und wo sie es ist. Die Schicht der Herrschenden besteht aus Philosophen. Nach all den negativen Äußerungen von Sokrates über die „Vieltuerei" sollte man nun erwarten, daß die Philosophen sich nicht z. B. in die Angelegenheiten des Kriegswesens mischen, womit sich der zweite Stand befaßt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Herrschenden der besten Polis bilden sich nicht nur aus dem Stand der Krieger heraus, sondern sie werden an einer Stelle von Sokrates explizit als solche angesprochen, die sowohl Kriegerais auch Philosophen sind (vgl. Pol. 525b). Der entscheidende Punkt ist, daß es hier nicht um Philosophen als solche geht, sondern um Philosophen als Herrschende. Um als Herrscher das „Ihrige" zu tun, müssen sie sich geradezu in eine so wichtige Sache wie das Kriegswesen mischen. Herrschen scheint eine Beschäftigung zu sein, welche die Arbeitsteilung in dem Sinn, den wir bisher kennengelernt haben, gerade aufhebt. Hinsichtlich der Beziehungen vom zweiten zum ersten Stand sind die Übergänge ebenfalls fließend. Die Wächter haben schon deshalb Anteil an der Philosophie, weil ein Teil von ihnen eine systematische philosophische Ausbildung bekommt. Wirklich strikt ist nur die Trennung zwischen den ersten beiden Ständen einerseits und dem dritten Stand, der Schicht der Erwerbstätigen. Niemand aus der dritten Schicht soll die Tätigkeiten der oberen zwei Stände ausüben, und umgekehrt. Hier liegt also echte Beschäftigungstrennung vor. 9
Freyer: Die politische Insel, S . 4 2 f .
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Die neue Bedeutung der Formel vom „Tun des Seinigen" soll nun zweierlei bewirken. Zum einen soll garantiert werden, daß der Stand der Erwerbstätigen für die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der oberen Schichten sorgt und diese jener Sorge selbst enthoben sind. Zum zweiten soll HeiTschaft über die Chrematisten 10 abgesichert werden. Mit Arbeitsteilung im ursprünglichen und intuitiven Sinn hat dieses kaum noch etwas zu tun. Im Vergleich zur gesunden Polis haben sich bedeutende Veränderungen ergeben. In jener Polis hatte das Tun des Seinigen, die Gerechtigkeit, grundsätzlich und für alle den ökonomischen Bezug der rationellen Befriedigung von Bedürfnissen. Dagegen hat die Gerechtigkeit in der besten Polis für die oberen Schichten keine Bindungen an das Ökonomische mehr. Das Ihrige zu tun heißt für sie gerade nicht, irgendeiner Art von wirtschaftlicher Tätigkeit nachzugehen. Der Bereich des Ökonomischen konzentriert sich unmittelbar ausschließlich auf den dritten Stand, der als unterster gleichzeitig von aller politischen Macht ausgeschlossen bleibt. Jene ursprüngliche Einheit von Ökonomie und Polis ist aufgebrochen worden. Das Ökonomische verschwindet nicht einfach, sondern wird vom Kem und Bezugspunkt des Politischen zu dessen materieller Versorgungsgrundlage. Es soll zum Politischen in einem dienenden Verhältnis stehen, und nicht umgekehrt. Auch die Arbeitsteilung verschwindet nicht. Wenn Sokrates sagt (vgl. Pol. 434a), es richte in der Polis keinen großen Schaden an, wenn der Zimmermann und der Schuster die Werkzeuge tauschen oder einer beides verrichtet, so meint er damit sicher nicht, daß (effektive) Arbeitsteilung nun überflüssig geworden ist. Er will vielmehr ausdrücken, daß sich das ökonomische Prinzip der Arbeitsteilung jetzt nicht mehr dazu eignet, die Gerechtigkeitsformel vom „Tun des Seinigen" semantisch zu füllen. Es ist wichtig hervorzuheben, daß der anfängliche Zusammenhang von Ökonomischem und Politischem auch im Zusammenhang mit der menschlichen Natur stand. Der Mangelcharakter des Menschen als Einzelnem verwies ihn auf die Polis. Es sieht ganz so aus, als sei die Verselbständigung des Politischen nicht nur ein Entökonomisierungsprozeß, sondern auch ein Vorgang der Entnaturalisierung, also der Verdrängung jener zunächst dominanten unvollkommenen und niederen Anteile der menschlichen physis aus dem Zentrum des Politischen. Daß die soeben skizzierte Trennung von Ökonomischem und Politischem alles andere als ein rein abstrakter Programmpunkt ist, sondern vielmehr tief im Politikverständnis der attischen Polis wurzelt, hat u. a. der Althistoriker Christian Meier betont, allerdings nicht mit unmittelbarem Bezug auf Piaton: „Hier [im Bereich des Politischen] war der Bereich der Freiheit. Der Bereich der Notwendigkeit war dagegen vergleichsweise abgewertet. Er war nur, wie das Wort schon sagt, leider notwendig. ( . . . ) Im attischen Demos ist fraglos viel gearbeitet worden. Eine Verachtung der Arbeit, wie sie sich später als Anschauung wohlhabender Kreise etwa bei Aristoteles findet, konnte man sich praktisch gar nicht leisten. Aber man schätzte das Arbeiten nicht sonderlich, man war kaum stolz darauf. Man wagte sich mit eventuell daraus sich ergebenden Sorgen kaum in die Sphäre des Politischen hinein.""
Der terminologischen Abwechslung halber beziehe ich mich auf die Erwerbstätigen manchmal auch mit dem Wort „Chrematisten", eine Ausdrucksweise, der sich Piaton in der Politeia selbst bedient und die sich von ta chremata (das Geld, der Besitz) herleitet. Siehe auch Arends: Die Einheit der Polis, S . X V , der ebenfalls den Ausdruck „Chrematisten" verwendet und dem ich mich hier anschließe. Meier: Die politische Identität der Athener, S . 2 5 6 f .
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„Politik war also so sehr eine Seins-, eine Lebensweise, daß sie nicht Mittel zum Z w e c k für Interessen aus anderen Sektoren des Lebens sein konnte. ( . . . ) Denn die Athener waren als homines politici nicht so auf ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse und Nöte b e z o g e n wie wir als homines o e c o n o m i c i ( . . . ) Sie kamen nicht gleichsam von außen in die Politik, damit sie dort ihre nicht-politischen Interessen verfolgten. S i e hatten eine völlig andere Interessenstruktur, weil eben innerhalb einer primär politisch akzentuierten Zugehörigkeitsstruktur wirtschaftliche Angelegenheiten anders „eingebettet" sind in das Ganze dessen, worum es in e i n e m solchen B e z i e h u n g s s y s t e m geht."
Nun hat Piaton im Athen seiner Zeit offenbar gerade einen Verfall dieser Trennung von Ökonomischem und Politischem gesehen. Doch knüpft die Politela genau an das von Meier skizzierte Politikkonzept an, und zwar durch den sogar darüber noch weit hinausgehenden Plan, die Arbeit im Sinne von Erwerbstätigkeit von den oberen Polis-Schichten gänzlich fernzuhalten. Hierdurch soll ein Raum geschaffen werden, der noch „reiner" politisch ist als jede bisher reale Polis, deren Bürger zum Teil außer Politik auch noch arbeiten mußten. Intendiert ist, daß keinerlei politikfeme Interessen und Notwendigkeiten die Bühne des Politischen mehr beeinträchtigen können.' 3 Dieser Sinn der Gerechtigkeitsformel, der auf engste Weise zumindest an den „Geist" der athenischen Polis anknüpft, wird m. E. in der philosophischen Literatur häufig übersehen oder wenigstens nicht genügend hervorgehoben. Diesbezüglich bewahrheitet sich Hegels Wort: „ ( . . . ) daß selbst die Platonische Republik, w e l c h e als das Sprichwort eines leeren Ideals gilt, wesentlich nichts aufgefaßt hat als die Natur der griechischen Sittlichkeit."
Wir wollen aus den vorhergehenden Bemerkungen einige Schlußfolgerungen zur Thematik von Krieg und Schädigung ziehen. Vorauszuschicken ist, daß der Ausschluß des erwerbstätigen Standes von der Herrschaft in keiner Weise willkürlich ist. Die Erwerbstätigen entwikkeln aus ihrer Tätigkeit heraus, so hat uns das zweite Buch gezeigt, einen Hang zur hybris, zur Maßlosigkeit und Grenzüberschreitung, dessen Folge dann der Krieg ist. Der Krieg wird also aus der Sicht der Politela aus der Verquickung von Politischem und Ökonomischem hervorgebracht. Insofern ist der Ausschluß der Chrematisten von der Herrschaft ein klares Kriegsverhinderungsprogramm. Wo Reichtum und Besitz sowie das Streben danach ohne Macht bleiben, da können sie auch keine Kriege bewirken. Dieser Punkt wird meistens von denen übersehen, die anscheinend aus der zentralen Rolle der Krieger und dem Wert der Tapferkeit auf eine Art „Militarismus" Platons und der Politela schließen. 15 Die Streitkräfte sind
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Meier, ebd., S. 2 5 8 f. Zur Trennung von Politik und Ökonomie in der athenischen Polis siehe auch die Ausführungen von Arendt: Vita activa, S. 3 1 ff. Interessant sind in diesem Zusammenhang ebenfalls die Untersuchungen zum Charakter der griechischen Stadt im Rahmen der groß a n g e l e g t e n
Studie
von Mumford: D i e Stadt, S. 1 8 7 ff. Der Autor schildert hier (vgl. S. 193), daß im Athen des 5 . Jahrhunderts die Häuser von Armen und Reichen eng nebeneinander lagen und sich in ihrer äußeren Architektur kaum voneinander unterschieden. „Edle Armut" habe wesentlich mehr g e golten als „schändlicher Reichtum" und die ö f f e n t l i c h e Ehre bzw. das Ansehen einer F a m i l i e sei viel wichtiger g e w e s e n als deren privater Wohlstand. 1
'
H e g e l : Rechtsphilosophie, S. 2 4 . Vgl. Popper: Die o f f e n e Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, S. 124; S . 3 2 4 Fn. S i e h e auch Bertrand Russell: Philosophy and Politics, S. 1 3 .
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nicht deshalb erforderlich, weil Piaton oder Sokrates dieses so wollen, sondern weil die Besitzgier der aufgeschwemmten Polis ein Heer notwendig macht. Gerade solche Besitzgier aber soll in der besten Polis soweit unter Kontrolle gehalten werden, daß sie keine Chance hat, auf das Politische einzuwirken. Hiermit sind zunächst alle äußeren Angriffskriege ausgeschlossen, die aus dem Motiv der Habgier hervorgehen können. Dies bedeutet, daß eine relativ große Klasse von Kriegen abgedeckt ist. Auch und vor allem aber wird durch das neue Gerechtigkeitskonzept der innere Krieg unmöglich gemacht; auch dieser Kriegstypus geht in der Hauptsache aus irgendeiner Form von Gier hervor, sei es aus der Gier nach Geld und Gütern als solchen, sei es, um hierüber andere Begierden zu stillen. In den beiden oberen Schichten der Polis herrscht nun weder Armut noch Reichtum, wodurch der Zustand der gesunden Polis wiederhergestellt ist. Es gibt also keinen Grund für inneren Krieg, der nach Sokrates' Meinung fast immer aus der Spaltung in arm und reich hervorgeht. Was den Stand der Erwerbstätigen betrifft, so fehlt diesen ebenfalls das Motiv für die Ausübung von Gewalt gegen die Wächterschichten, denn es gibt eben dort für sie „nichts zu holen". Der unterste Stand wird charakteristischer- und interessanterweise zwar politisch unterdrückt und bis zu einem gewissen Grad ökonomisch ausgebeutet, doch geschieht letzteres keineswegs bis zur Armutsgrenze. Das Gegenteil ist sogar der Fall. Die Chrematisten sind die einzigen, die reich werden dürfen (vgl. Pol. 434a/b), was den beiden oberen Schichten strikt verboten ist. (Genauer gesagt sind solche Verbote nur für die Krieger nötig. Die Philosophenherrscher wissen als solche ohnehin, daß Reichtum kein Gut darstellt.) Die Erwerbstätigen können also in Ruhe ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, dem Anhäufen von mehr oder weniger großen Besitztümern. Sollten einige von ihnen dennoch auf den Gedanken kommen, die oberen Schichten anzugreifen, so würden sie mangels Waffen und kriegerischer Ausbildung wohl bereits im Ansatz niedergeschlagen werden. Krieg oder kriegsähnliche Zustände könnten in der Polis praktisch nur innerhalb des dritten Standes vorkommen. Was in diesem Fall passieren würde, können wir aus der Politela nicht erschließen, wie überhaupt das mögliche Geschehen innerhalb des erwerbenden Standes im Dunkeln bleibt. Das allgemeine Programm liegt nun deutlich vor Augen, selbst wenn es in der Politeia nie ausdrücklich zur Sprache kommt. Es ist der Plan einer weitgehenden „Einkreisung" des Krieges durch die politische Gerechtigkeit, die sich hiermit als eine echt friedensstiftende arete herausstellt. Es gibt sie also doch, die anfänglich vermißte Verbindung von Gerechtigkeit und Krieg, wenn auch bisher noch nicht in Form einer Theorie des „gerechten Krieges", sondern in Form einer Gerechtigkeitskonzeption, die einfach viele Formen von Krieg ausschließt. Jedoch bleiben noch etliche Kriegsarten übrig: der direkte Verteidigungskrieg, der Beistandskrieg und (sehr wahrscheinlich) der Angriffskrieg gegen Barbaren. Von einem allgemeinen Schädigungsverbot ist im vierten Buch nicht die Rede. Wir erfahren jedoch etwas über politische Schädigung (vgl. Pol. 434c). Der größte politische Schaden besteht in der politischen Ungerechtigkeit. Diese ist identisch mit dem schwersten Verbrechen gegen die eigene Polis, welches darin liegt, daß die drei Stände sich wechselseitig in ihre Geschäfte mischen. Wir haben soeben gesehen, daß dieses nicht ganz wörtlich zu nehmen ist; das neue Gerechtigkeitskonzept bezweckt vor allem, die Chrematisten aus dem Geschäft der beiden oberen Stände auszuschließen. 16 Wichtig ist an dieser Stelle jedoch, daß Ungerechtigkeit und Schädigung im politischen Bereich sich auf einen politischen Binnenraum beziehen, eben 6
Dies ist auch die These von Arends. Vgl. Arends: Die Einheit der Polis, S . 3 6 .
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den der eigenen Polis. Schädigung hat dabei einen relativ präzisen Sinn bekommen: man schädigt die beste Polis, wenn man ihre oben erläuterten politischen Organisationsprinzipien gefährdet oder zerstört. Obwohl hier nur vom politischen Innenraum die Rede ist, hat dieses Konzept Folgen für die äußere Kriegführung. Die beste Polis darf und muß sogar solche Kriege führen, die dem Zweck dienen, Schaden von sich selbst abzuwenden. Sie ist nicht nur legitimiert, sondern geradezu ethisch verpflichtet, diese Art von Kriegen zu führen, weil sie andernfalls ein Verbrechen gegen die Gerechtigkeit zulassen würde. Von dieser Art sind sicher Kriege zur unmittelbaren Verteidigung, denn kein Angreifer kann besser und gerechter sein als die beste Polis. Bei jedem äußeren Angriffskrieg besteht die Gefahr, daß die spezifischen Ordnungsprinzipien der besten Polis aufgelöst werden. Auch hat die vollkommene Polis sicher ein Interesse an der Wahrung des innerhellenischen Friedens. Je mehr dieser angetastet wird, desto gefährdeter ist sie selbst. Sie wird deshalb Beistandskriege zugunsten andere hellenischer Poleis führen, allerdings mit der Absicht, so bald wie möglich einen stabilen Frieden wiederherzustellen. Im Verhältnis zu den Barbaren gilt „natürliche" Feindschaft. Da Sokrates in der Politeia daran festhält, daß die beste Polis auf der wahren Natur gründet, so scheint zu folgen, daß Barbaren allein durch ihre Präsenz eine Bedrohung für das System der besten Polis darstellen. Ein generelles Schädigungsverbot, so müssen wir bisher schließen, impliziert die politische Gerechtigkeit, so wie sie im vierten Buch begriffen wird, nicht. Es gibt ein solches Verbot bezüglich der besten Polis selbst, und dieses schließt gewisse Kriege aus, erfordert dagegen bestimmte andere. Ob die vollkommene Polis in den notwendigen Kriegen dann ihre Gegner schädigt oder schädigen darf, bleibt offen. Ein komplexeres Bild ergibt sich allerdings, wenn wir einen Umstand berücksichtigen, der bisher noch nicht ausdrücklich, sondern nur beiläufig zur Sprache gebracht wurde, und zwar daß die beste Polis im Zeichen der Idee des Guten (agathon) steht. Die Idee des Guten steht nach Sokrates höher noch als selbst die Gerechtigkeit (vgl. Pol. 504d). Sie ist das Moment, durch welches das Gerechte erst nützlich wird (vgl. Pol. 505a). So reicht es nicht hin, daß jeder „das Seinige" tut, sondern es kommt darauf an, daß dieses Tun gut ist. Es ist nicht einfach wichtig, daß die Herrschenden herrschen, sondern daß sie als Gute herrschen. Hans Kelsen, Popper und andere haben kritisch hervorgehoben, daß die so wichtige Idee des Guten in der Politeia gänzlich leer bleibe und verbinden damit den Vorwurf, daß die Forderung der Philosophenherrschaft auf einem höchst schwankenden metaphysischen Fundament beruhe. 17 Insofern die Politeia ein logos im Sinne einer Erzählung ist, kann die Idee des Guten auch nicht dargestellt werden, denn die Sprache ist, wie wir etwa aus Platons sog. „siebentem Brief wissen,' 8 ohnmächtig hinsichtlich der Kelsen: Die platonische Gerechtigkeit, S.226: „Was es [das Gute] ist, worin es besteht, welches sein Kriterium, woran man es an den menschlichen Handlungen erkennt, das für die soziale Theorie und Praxis Entscheidende also, bleibt ungesagt. Der im Idealstaat regierende Philosoph wird das Gute schauen. Das genügt." Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd.I, S. 174: „Platons Idee des Guten spielt nirgends eine unmittelbare ethische oder politische Rolle; abgesehen von dem wohlbekannten kollektivistischen Moralkodex, dessen Vorschriften ohne Bezugnahme auf die Idee des Guten eingeführt werden, hören wir nichts davon, welche Taten gut sind oder Gutes bewirken. Bemerkungen wie etwa, daß das Gute das Ziel sei, daß jedermann nach ihm strebe, bereichern unser Wissen nicht." Die Echtheit des siebenten Briefes wird allerdings noch immer von manchen Autoren bezweifelt. So etwa von Annas: An Introduction to Plato's Philosophy, S.5. Die Mehrheit der For-
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Beschreibung der wesentlichen Seinsstrukturen (vgl. Siebenter Brief/343a). Auch ist das Durchdringen zur Idee des Guten bzw. zum Guten selbst zwar immer die Folge eines langen wissenschaftlichen Weges, findet jedoch letztlich in Form einer Erleuchtung statt, nicht in Form einer diskursiv mitteilbaren Erkenntnis. 19 Wie dem auch sei, die Idee des Guten spielt als oberste Norm eine schlechthin zentrale Rolle, und damit stellt sich das Schädigungsproblem erneut in verschärfter Form. Gerechtigkeit an sich könnte man mit gewissen Arten von Schädigung vereinbaren. Daß aber das Gute schädigt, also Böses zufügt, ist schwer faßbar. Verbindet man das Gerechte mit dem Guten, dann ist man auf Lösungen zurückverwiesen wie in der anfangs erwähnten dritten Option, also darauf, daß die Kriege der besten Polis nicht schädigen, auch die jeweiligen Gegner nicht.
2.3.3. Die Gerechtigkeit in der Einzelseele Nachdem Sokrates die Gerechtigkeit anhand der Polis erläutert hat, untersucht er im Rest des vierten Buches (vgl. Pol. 434c—445e) die Gerechtigkeit in der Einzelseele. Die menschliche Seele (psyche) besteht aus drei Elementen, die analog zu den Ständen der Polis gedacht werden. Es gibt das Begehrliche (epithymetikon), das Eifernde bzw. Mutige (thymoeides) und das Vernünftige (logistikon). Das Begehrliche entspricht dem Stand der Erwerbstätigen, das Eifernde der Schicht der Wächter und das Vernünftige dem herrschenden Stand der Philosophen. Während den beiden zuletzt erwähnten Seelenteilen spezifische aretai zugeordnet sind, so gilt dies charakteristischerweise nicht für das Begehrliche. Es verfügt über keinerlei eigene Tüchtigkeit. Seiner Natur nach ist es das Unersättliche, und von ihm gibt es nach Sokrates in jeder Seele am meisten. Denken in Analogien erlaubt uns den Schluß, daß die Schicht der Erwerbstätigen, der unterste Stand, quantitativ am größten ist. Mit dem Begehrlichen sind Zustände unterschiedlichster Art verbunden; als Beispiele werden Hunger und Durst genannt, aber auch Sexualität (vgl. Pol. 439d). Auffälligerweise wird das, was im ersten Buch als Bedürfnis aufgefaßt wurde, z. B. Hunger und Durst, nun dem Begehrlichen untergeordnet. Man könnte zwischen Bedürfnis und Begierde einen Unterschied machen wollen, ist doch ersteres etwas, was notwendigerweise befriedigt werden muß, während in der Begierde immer der Hang zur Maßlosigkeit mitschwingt. Für Sokrates ist beides nicht trennbar; auch das primitive Bedürfnis ist grundsätzlich Freund der Lust und der Aufschwemmung (vgl. Pol. 439d). Wir erinnern uns, daß ursprünglich das Bedürfnis die treibende Kraft der Polis-Gründung war (vgl. Pol. 369c). Nun erfahren wir, daß das Bedürfnis zum niedrigsten Teil der menschlichen Seele gehört und haben hiermit einen weiteren Hinweis darauf, welchen Status mittlerweile
scher spricht sich jedoch für die Echtheit dieses Dokumentes aus. Siehe hierzu Bormann: Piaton, S . 1 2 . Auf diesen Erleuchtungscharakter des Zugangs zum Guten schlechthin und damit auch auf eine letztlich religiöse Dimension des platonischen Philosophierens hat besonders WilamowitzMoellendorf aufmerksam gemacht. Vgl. Wilamowitz: Platon, S . 3 0 5 ; S . 3 1 7 . Nach Wilamowitz führt die platonisch betriebene Wissenschaft am Ende ihres Weges zur Religion. B e s o n deren Wert auf den Umstand, daß es nach dem platonischen Philosophieren andere Erkenntnis gibt als sprachlich vermittelte, legt auch Wieland. Siehe Wieland: Piaton und die Formen des Wissens, bes. 13ff.
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ein großer Teil der menschlichen Natur einnimmt, und zwar gerade derjenige, der den Menschen anfänglich auf die Polis verwies. Das Eifrige ist jener Seelenteil, dem als arete die Tapferkeit (andreia) zugeordnet ist. 20 Der thymos ist, wie Sokrates meint, ein natürlicher Verbündeter des Vernünftigen (vgl. Pol. 440e/441a) und beherrscht gemeinsam mit diesem das Begehrliche. Wenn uns z. B. das Begehrliche Durst anzeigt, so ist der Eifer jene Kraft, die uns davon abhält zu trinken, sofern das Vernünftige das Trinken verbietet (vgl. Pol. 439c/d). Das Eifrige ist durch Beharrlichkeit und Willensstärke gekennzeichnet. Es verhält sich wie ein Hund, der seinem Hirten, der Vernunft, treu ist (vgl. Pol. 440d) und macht in seinen Bestrebungen nicht halt, bis es die Befehle der Vernunft durchgesetzt hat. Während das Begehrliche grundsätzlich gedankenlos ist, hat das Eifrige Anteil am gedankenbezogenen Seelenteil, und wir haben somit innerhalb der psyche eine ähnliche Struktur wie in der Polis, in der die Übergänge zwischen den beiden oberen Schichten ebenfalls fließend sind. Es ist keineswegs einleuchtend, daß der thymos „von Natur aus" ein Verbündeter der Vernunft ist, wie Sokrates es uns erklärt. Warum sollten Willensstärke und Beharrlichkeit sich nicht in den Dienst der Befriedigung von Begierden stellen? Sokrates sieht diese Schwierigkeit durchaus und meint, daß man den Eifer durch eine schlechte Erziehung auch verderben kann (vgl. Pol. 441a). Er geht davon aus, daß die Dinge sich natürlicherweise anders verhalten. Wenn das Eifrige „schlecht erzogen" ist, macht es sich vom Vernünftigen selbständig und kann sich tatsächlich in den Dienst des Begehrlichen begeben. Dann wird es zu einer sehr gefährlichen innerseelischen Kraft, welche die natürliche Ordnung der Seele zerstört. Die Begierden erhalten die Oberhand und machen gemeinsam mit dem thymos das Vernünftige zunichte. Per Analogie können wir feststellen, daß Sokrates in den Wächtern nicht nur Beschützer der Polis, sondern durchaus auch eine potentielle Gefahr für diese sieht. Es besteht das Risiko, daß die Wächter ihre Waffen und ihre kriegerische Tüchtigkeit gegen die Oberen einsetzen. Dieses wäre ein Fall des Aufstandes, der bis zum Bürgerkrieg steigerungsfähig ist. Wir werden noch sehen, wie dem in der besten Polis vorgebeugt werden soll. Nicht ganz unwichtig dürfte in diesem Zusammenhang der Umstand sein, daß die Herrschenden der Polis eben auch Krieger sind, sich im Ernstfall also zu wehren wissen. Die Übergänge zwischen den beiden oberen Schichten der Polis sind noch sehr viel enger als die als analog angenommenen Verbindungen zwischen dem Vernünftigen und dem Eifrigen. So gibt es auf der seelischen Ebene keine analoge Konstruktion dazu, daß in der Polis die Herrscher als eine Elite aus den Kriegern herausgebildet werden. Dem Vernünftigen gehört als arete die Weisheit an. Die Weisheit hat Sokrates auf der Polis-Ebene als das Wissen darüber bestimmt, wie die Polis mit sich selbst und anderen Poleis umgehen soll (vgl. Pol. 428c/d). Dieses Wissen liegt selbstverständlich bei den Herrschern, die darüber verfügen, weil sie Philosophen sind. Die Herrschenden herrschen deshalb, weil sie über Weisheit verfügen. Analog dazu soll in der Seele das Vernünftige herrschen, dessen Aufgabe es ist, für die gesamte Seele Sorge zu tragen (vgl. Pol. 44le). Die Analogie zum Politischen ist auch hier nicht ganz vollständig. Auf der politischen Ebene war die Weisheit der Vernunft auch als ein Wissen über die Verhältnisse zwischen der Polis selbst und anderen
Politela IV enthält die erste vollständige griechische Darstellung jener vier grundlegenden Tugenden (Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit), die von Aquinas später mittels des Ausdrucks „Kardinaltugenden" charakterisiert worden sind. Siehe zu diesem Thema Irwin: The Parts of the Soul and the Cardinal Virtues.
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Gemeinwesen bestimmt worden. Die Weisheit der seelischen Vernunft scheint sich zunächst einmal nur auf die Einzelseele zu beziehen, nicht auf den Umgang mit anderen Menschen. Wie auf der Polis-Ebene spielt auch innerhalb der Seele die arete der Besonnenheit (sophrosyne) eine Rolle. In ihrer politischen Dimension war die Besonnenheit von Sokrates als eine Art Harmonie erläutert worden (vgl. Pol. 43le). Anders als die anderen aretai, mit Ausnahme der Gerechtigkeit, ist sie nicht primär einem bestimmten Stand zugeordnet, sondern soll sich durch die ganze Polis ziehen (vgl. Pol. 432a). Die Besonnenheit ist eine bestimmte Art der Eintracht, und zwar die Übereinstimmung der von Natur aus Besseren mit den von Natur aus Schlechteren darüber, wer in der Polis herrschen soll (vgl. Pol. 432a). Die Kategorie der sophrosyne enthält somit ein Element, das wir wohl heute mit Hilfe des Ausdrucks „politischer Konsens" kennzeichnen würden. Die Besonnenheit soll sichern, daß Herrschende und Beherrschte nicht unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, wer herrschen soll (vgl. Pol. 413d/e). Dieses zunächst rein formale Prinzip wird selbstverständlich sofort inhaltlich gefüllt. Der Konsens soll in der besten Polis so aussehen, daß alle drei Schichten darin übereinstimmen, daß die Philosophen herrschen und die Erwerbstätigen beherrscht werden sollen. Dennoch ist es wichtig hervorzuheben, daß Konsens überhaupt relevant ist, denn hieran wird deutlich, daß die beste Polis nicht als eine Zwangseinrichtung konzipiert ist. Eine Polis, der das gemeinsame Band des politischen Konsenses fehlen würde, könnte niemals die beste PoIis sein. Erst dieses Band läßt überhaupt ein Gemeinwesen in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes entstehen. Der Ausdruck „Gemeinwesen" {re publica) eignet sich gut, um darunter alle Organisationsformen zu fassen, welche eine Minimalvoraussetzung erfüllen, und zwar die der Übereinstimmung über Herrschaftsverhältnisse. Ein Gemeinwesen bzw. eine Republik kann auf verschiedene Arten verfaßt sein. 21 Das, was wir als „Staatsformen" bezeichnen (Monarchie, Aristokratie etc.) sind nicht so sehr die Gemeinwesen, sondern die politischen Verfassungen, die sich ein Gemeinwesen geben kann. Zwischen beiden besteht allerdings der enge Zusammenhang, daß die Republik der Träger ihrer Verfassung ist. W o dieser Zusammenhang aufgesprengt wird, da kann im strengen Sinn weder von einem Gemeinwesen noch von einer Verfassung die Rede sein. Dieses wäre etwa der Fall bei der Tyrannis, die grundsätzlich in der Politeia dadurch definiert ist, daß in ihr einer gegen den Willen aller oder der meisten herrscht. Hinsichtlich des in der Politeia anvisierten Gemeinwesens liegt sicher keine demokratische Verfassung vor. Sokrates vertritt bekanntlich dezidiert antidemokratische Positionen. So besteht der spezifische Konsens, der von den Erwerbstätigen eingefordert wird, darin, daß sie von sich aus auf alle politischen Partizipationsmöglichkeiten verzichten. Um es paradox zu formulieren: die einzige politische Forderung, die an sie gestellt wird, ist, daß sie sich aus allem Politischen heraushalten. Hierdurch komplizieren sich gewisse Dinge, die vielleicht vorher einfacher schienen. Die Chrematisten sind, genau genommen, nicht Teil der Polis, da sie ja nicht politisch tätig sind, wohl aber Teil des Gemeinwesens, weil sie ja sophrosyne besitzen. Zwar wird in der Politeia selbst etwas Ähnli-
Eine sehr detaillierte und interessante Analyse des Begriff der re publica in der antiken römischen und frühmittelalterlichen Ideengeschichte findet sich bei Suerbaum: Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Suerbaum weist für Cicero nach, auf den der Ausdruck „re publica" zurückgeht, daß für diesen die Existenz einer re publica keineswegs an das Vorhandensein einer demokratischen Verfassung gebunden ist, sondern daß für Cicero sogar die Monarchie die verhältnismäßig beste Ausprägung der re publica war (vgl. S . 2 0 f . ) .
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ches nicht gesagt, aber es scheint mir die konsequente Folgerung des Ausschlusses der Chrematisten von der politischen Macht zu sein. Anteil am Politischen haben die Erwerbstätigen nur in dem Sinn, in dem jeder Beherrschte, der zum Beherrschtwerden sein Einverständnis gibt, daran Anteil hat. Dieses Einverständnis kommt im übrigen sicher nicht durch Argumentation und Gedankenaustausch zustande, also nicht so, wie sich viele heute das Herstellen eines Konsenses denken. Da die Erwerbstätigen „von Natur aus" nicht über politische Einsicht verfügen, kann man von ihnen auch nicht verlangen, daß sie aus argumentativ herbeigeführter Einsicht ihrem Beherrschtwerden zustimmen. Die Mechanismen, durch die diese Übereinkunft produziert und gesichert wird, beruhen gemäß der Politela weder auf Argumentation noch auf Gewalt, sondern darauf, daß man die Angehörigen des dritten Standes ihrer (niederen) Natur nachgehen läßt. Nach den vorhergehenden Überlegungen zur Besonnenheit überrascht es nicht, daß sophrosyne auf der seelischen Ebene in der Übereinstimmung aller drei Seelenteile darüber besteht, daß das Vernünftige herrschen soll (vgl. Pol. 442c/d). Doch worin besteht nun die Gerechtigkeit der Seele? Sie wird von Sokrates bestimmt als eine Kraft, welche die drei Seelenteile in ein naturgemäßes Verhältnis des Herrschens und Beherrschtwerdens bringt (vgl. Pol. 444d), oder, was dasselbe besagt, als eine Eigenschaft, die bewirkt, daß jeder der drei Teile in Hinsicht auf Herrschen und Beherrschtwerden das Seinige tut (vgl. Pol. 443b). Nimmt man eine frühere Äußerung hinzu (vgl. Pol. 433b), dann ist die Gerechtigkeit nicht nur die Kraft, welche die richtigen Herrschaftsverhältnisse ins Leben ruft, sondern auch diejenige, die d a f ü r sorgt, daß sie erhalten bleiben. Ausdrücklich sagt Sokrates (vgl. Pol. 443c/d/e), daß Gerechtigkeit nichts von „äußeren Handlungen" habe, sondern in der „wahrhaft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige" bestehe. Gerechtigkeit bewirkt einen Zustand, in dem man „Freund seiner selbst" ist, in dem aus vielen einer geworden ist, einen Zustand der seelischen Gesundheit (vgl. Pol. 444d). Es wird deutlich, daß eine enge Verwandtschaft zwischen Gerechtigkeit und Besonnenheit besteht. 22 Beide aretai sind nicht speziell einer Schicht sowohl in der Polis als auch in der Seele zugeordnet, sondern beziehen sich auf den Zusammenhang, auf die Einheit der Teile. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß die Gerechtigkeit die Besonnenheit erst ins Leben ruft und sie erhält. Indem die Gerechtigkeit bewirkt, daß jede Schicht, sei es in Seele oder Polis, das Ihrige tut, stellt sie das praktische Fundament für jenen Konsens über das Richtige her, und anschließend sorgt sie dafür, daß dieser nicht wieder verloren geht. Die Gerechtigkeit stiftet sowohl in dar Seele als auch in der Polis das höchste Gut, die Einheit, was sie gerade dadurch bewerkstelligt, daß sie naturgemäße Differenzen festlegt und hierarchisch ordnet. Sucht man nach Kategorien, um die Gerechtigkeit zu klassifizieren, so bietet sich der Begriff des Ordnungsfaktors an. Die Gerechtigkeit ist unter den vier aretai der Ordnungsfaktor par excellence. 23 Die Besonnenheit kann diese Rolle nur sekundär und partiell spielen, da sie erst durch die Gerechtigkeit hervorgerufen und durch sie bewahrt wird. Die Tapferkeit kann, wenn sie falsch verstanden wird, sich in den Dienst des Begehrlichen stellen und bewirkt dann das Gegenteil von Ordnung, also Verwirrung und Streit. Selbst die Weisheit ist als solche kein Ordnungsfaktor, sondern bedarf zur Umsetzung ihrer wahren Einsichten eines Vermögens, das praktischer ist als sie selbst.
Zum Verhältnis beider aretai
siehe Krämer: Arete bei Piaton und Aristoteles, S . 9 2 f f .
Siehe auch hierzu Krämer, ebd., S . 9 4 .
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Der Vergleich zwischen Seele und Polis in der Politeia läuft m. E. letztlich auf einen Primat des Politischen hinaus. Erklärt werden soll in der Tat die Gerechtigkeit in der Einzelseele, und zu diesem Zweck wird die Polis als vergrößertes Abbild der Seele betrachtet. Dieses methodische Vorgehen ist jedoch nur dann sachlich legitim, wenn die Seele im Kern etwas Politisches ist. So bleibt Sokrates' Sprache auch dort dominant politisch, wo es um die Beschreibung des Seelischen geht. Ausdrücklich ist die Rede von der „inneren Politeia". Die Psyche ist wie ein Herrschaftsverhältnis gestaltet, wobei es ein besonders ausgezeichnetes „herrschaftliches Geschlecht" gibt (vgl. Pol. 444b). Verhindert werden muß ein ,Aufstand" eines Seelenteils gegen das Ganze (vgl. Pol. 444b); im Falle eines solchen hat das Eifrige, das dem Vernünftigen „verbündet" ist (vgl. Pol. 441e), die „Waffen" für das Vernünftige zu ergreifen (vgl. Pol. 440e). Das Vernünftige und der Eifer halten auf diese Weise gemeinsam den „äußeren Feind" ab (vgl. Pol. 442b). Nun ist es logisch zwingend, daß Sokrates dieselbe Sprache zur Beschreibung von Seele und Polis benutzt, soll doch der Einzelne auf dieselbe Weise gerecht, tapfer, besonnen und weise sein wie die Polis. Daß die Terminologie aber politisch ist, zeigt, daß hier viel weniger eine von der Einzelseele ausgehende Betrachtung des Politischen als eine politische Analyse des Seelischen vorliegt. Der Gerechtigkeit in der Einzelseele kommt insofern eine Priorität zu, als sie der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis sein soll. Dieses bedeutet aber eben nicht, daß die politische Analyse an einem bestimmten Punkt der Politeia aufhört und von dort an der wahre Inhalt des Werkes angegangen wird.24 Die Untersuchung der Einzelseele ergibt vielmehr, daß die menschliche Psyche wesentlich auf das Politische verweist. Wenn daher Sokrates an einer Stelle sagt (vgl. Pol. 435e), daß die aretai nur durch die Einzelmenschen in die Polis kommen können, so vollzieht er damit keine Reduktion des Politischen auf das Seelische, sondern er meint umgekehrt, daß die Seele von vornherein auf die Polis hin angelegt ist. Es gibt nichts in der Seele, was sich dem Zugriff der politischen Theorie mit ihren eigentümlichen Kategorien entziehen würde; vielmehr kann die Psyche nur durch einen solchen Zugriff erfaßt werden. 25
Daß es sich so verhält, wird manchmal in der Sekundärliteratur mißverständlicherweise suggeriert. So schreibt etwa Zehnpfennig: Platon, S. 104: „Das Ziel ist erreicht, der politische Entwurf war nur der Vorlauf zum eigentlich Intendierten, zur Bestimmung der Gerechtigkeit im Menschen." Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, wenn manchmal der Standpunkt vertreten wird, Piaton sei ein unpolitischer oder antipolitischer Denker gewesen. Diese Position findet s i c h z . B . bei Leys: Was Plato Non-Political? Leys geht von einem Begriff des Politischen aus, nach dem der Kern alles Politischen im Interessenkonflikt besteht. In diesem Sinne sei Piaton kein politischer Philosoph gewesen, denn es sei ihm primär um die Vermeidung solcher Konflikte gegangen (vgl. S. 169), nicht darum, wie man mit ihnen umgeht. Der Sokrates der Politeia hat jedoch einen ausgeprägten Blick für Konflikte sowohl in der Polis als auch in der Seele, wobei er gerade letztere durch traditionelle politische Kategorien analysiert. Auch macht er Vorschläge für den Umgang mit solchen Konflikten. Daß es ihm darauf ankommt, diese im Rahmen der besten Polis zu überwinden, um Harmonie, Ordnung und Einheit an deren Stelle treten zu lassen, macht sein Denken noch nicht unpolitisch. Ansonsten müßte man auch Hobbes als einen unpolitischen Denker klassifizieren, denn dieser konzipierte seinen „Leviathan" als eine Ordnungsmaschine, die zwar ganz und gar keine Ähnlichkeiten mit der besten Polis hat, in der aber auf jeden Fall kein öffentlicher Raum fur die Austragung von Interessenkonflikten vorhanden ist. Dennoch kann man sagen, daß Hobbes im Konflikt gera-
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Welche Aufschlüsse lassen sich aus den Ausführungen zur seelischen Ebene der Gerechtigkeit bezüglich der Kriegsthematik ziehen? Wie schon die Polis-Gerechtigkeit, so ist auch die Gerechtigkeit in ihrer seelischen Dimension primär eine arete zur Verhinderung von Krieg in einem übertragenen Sinn: von innerem Krieg. Die Anwendung des Ausdrucks „polemos" auf das psychische Geschehen findet sich ausdrücklich in den No moi. So sagt Kleinias dort (vgl. Nom. 626e), der schlimmste Krieg (polemos) sei der Krieg in jedem von uns gegen sich selber, und der herrlichste Sieg der Sieg über sich selbst in diesem Krieg. In dar Politeia wird diesbezüglich der Ausdruck „Zwist" (stasis) gebraucht. Bezeichnet wird jedoch in beiden Fällen derselbe Sachverhalt, und zwar ein nicht „naturgegebenes" Verhältnis zwischen den einzelnen Seelenteilen, vor allem der Versuch des Begehrlichen, sich zum Herrscher über das Ganze der Seele aufzuschwingen (vgl. Pol. 444b). Ungerechtigkeit ist, ganz analog zur Polis-Ebene, eine Schädigung der rechten Ordnung der Seele. Einmal mehr stellt sich die Gerechtigkeit als eine friedensstiftende Kraft heraus, sofern man solchen Frieden zuallererst auf einen bestimmten Binnenraum bezieht. Die Betonung des Inneren ist bei der Schilderung der seelischen Verhältnisse sogar noch sehr viel deutlicher als auf der PolisEbene, wird doch Gerechtigkeit explizit als ein Vermögen erläutert, das in Absicht auf die Seele selbst wirksam ist. Dennoch wird gleichzeitig hervorgehoben, daß die so konzipierte Gerechtigkeit äußere Folgen hat. So sagt uns Sokrates (vgl. Pol. 442e/443a), daß der Gerechte keine der folgenden Handlungen begehen wird: Unterschlagung, Tempelraub, Diebstahl, Ehebruch, Vertragsbruch, Mißachtung der Eltern, Vernachlässigung der Götter. Diese Liste ist als eine fortzusetzende Reihe gedacht, und es wird nahegelegt, daß der gerechte Einzelne tatsächlich niemanden von sich aus in einem konventionellen Sinn von „Schädigung" schädigen wird. Sokrates stellt also implizit den Zusammenhang zum Schädigungsverbot des ersten Buches wieder her, doch es wird klar, daß die Gerechtigkeit nicht primär in der Unterlassung der genannten und anderen Schädigungen besteht, sondern daß solche Unterlassung eine Folge der rein intern gefaßten Gerechtigkeit, der innerseelischen Harmonie, ist. Vor allem schädigt der Gerechte sich selbst nicht, woraus folgen soll, daß er auch andere nicht in irgendeinem Sinn schädigt. Gegen Piaton oder den Sokrates der Politeia ist mehrfach eingewendet worden, daß diese Schlußfolgerung nicht zu überzeugen vermag, da Sokrates eben nicht wirklich zeige, daß Gerechtigkeit im Sinne innerseelischer Ordnung nur zu gerechten Handlungen in einem konventionellen Sinne von Gerechtigkeit führen kann. 26 Dieser Einwand hat Gewicht. Es ist nicht einsehbar, warum eine nach platonischen Maßstäben gerechte Person nicht in einem herkömmlichen Sinn ungerecht handeln sollte. So ist etwa die Wegnahme von Besitz alles andere als unvereinbar mit der platonischen Gerechtigkeitskonzeption. Auch nennt Platons Sokrates Beispiele für Fälle, in denen Vertragsbruch bzw. Nichteinhaltung von Versprechen der Gerechtigkeit nicht widerstreitet (vgl. Pol. 331c). dezu den Ursprung des Politischen gesehen hat. Leys übersieht auch, daß die beste Polis in zentraler Hinsicht auf Konflikte nach außen eingerichtet ist, und zwar über ihren hervorragend ausgebildeten und motivierten Wächterstand. In der Politeia werden also durchaus nicht alle Divergenzen als überwindbar gedacht, sondern das Programm zielt vielmehr auf deren Überwindung nach innen ab. - Zur Frage des politischen oder unpolitischen Charakters der Philosophie Platons siehe auch Sparshott: Plato as antipolitical thinker. Auch dieser Autor teilt die Meinung, Piaton sei unpolitisch gewesen, allerdings mit anderen Argumenten als Leys. Siehe hierzu etwa Sachs: A Fallacy in Plato's Republic. Vgl. auch Annas: An Introduction t o Plato's Republic, S. 1 5 3 f f .
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Tatsächlich ist jede äußerlich noch so ungerecht scheinende Handlung mit platonischer Gerechtigkeit kompatibel, da diese den Schwerpunkt auf die innere Motivation legt, die beim gerechten Menschen selbstverständlich immer auf das Gute zielt. Zu Unrecht suggeriert Piaton an manchen Stellen, daß die innere Gerechtigkeit zwangsläufig das bewirkt, was landläufig als Handlungsgerechtigkeit gilt. Vermutlich handelt es sich hier um Konzessionen an das traditionelle griechische GerechtigkeitsVerständnis. 27 Doch erst wenn man den Begriff einer gerechten Handlung gänzlich unabhängig von äußeren Kriterien macht, folgt aus der platonischen Zustandsgerechtigkeit die Handlungsgerechtigkeit. Dann allerdings ergibt sich auch zwingend, daß vom gerechten Menschen niemals eine Schädigung ausgehen kann, denn alles Übel und damit aller Schaden kommt aus dem Begehrlichen, und da der Gerechte diesen Seelenteil in der Gewalt hat, kann er buchstäblich niemanden schädigen, auch den Schädiger nicht. Wir haben jetzt eine sichere Grundlage, um schließen zu können, daß die beste und gerechte Polis, von der wir wissen, daß sie bestimmte Kriege führen wird, ihren Gegnern hierdurch nicht schaden würde. Somit stellt sich die anfangs erwähnte dritte Option zur Lösung des Konflikts zwischen Gerechtigkeit und Schädigungsverbot als die tendenziell richtige heraus. Aus der besten Polis können, weil sie selbst im platonischen Sinn gerecht ist, keine schädigenden Handlungen hervorgehen. Mehr noch: Da die beste Polis von einem gottähnlichen Geschlecht regiert wird (vgl. Pol. 383c), von Gott aber niemals Böses, sondern nur Gutes kommt (vgl. Pol. 379b/c), können von dieser Polis auch nur gute Handlungen ausgehen. Solche Handlungen sind, weil das Gute grundsätzlich förderlich ist (vgl. Pol. 379b), immer auch nützlich. Es läßt sich somit feststellen, daß die beste Polis tatsächlich nur gerechte Kriege führen wird, und zwar in einem äußerst starken und doppelten Sinn von Gerechtigkeit: -
im Sinne der eigentlich platonischen Zustandsgerechtigkeit, die in der rechten inneren Ordnung der Polis besteht; und im Sinne einer Handlungsgerechtigkeit, die als nicht schädigendes Verhalten gegenüber anderen bestimmt werden kann. Dabei folgt die Handlungsgerechtigkeit aus der Zustandsgerechtigkeit.
Darüber hinaus wird die beste Polis auch nur gute Kriege führen, die als solche prinzipiell auch nützlich sind, und zwar auch für die Feinde. An diesem Punkt bricht selbstverständlich die Verbindung von Krieg und Gewalt, von der wir bisher ausgegangen sind, in sich zusammen. Insofern Gewaltakte grundsätzlich nicht nur Zwangshandlungen, sondern immer auch Schädigungshandlungen sind, wird die vollkommene Polis keine Gewalt ausüben, auch in ihren Kriegen nicht. Über ihren Kriegen erstrahlt die Sonne des agathon, und deshalb wird sie und nur sie allein das paradoxe Phänomen des gewaltfreien Krieges verwirklichen. Wir werden allerdings im letzten Kapitel dieses Teils sehen, daß Piaton weit davon entfernt war, faktische bewaffnete Auseinandersetzungen als gewaltfrei zu beurteilen. Der gewaltlose Krieg ist und bleibt in der Politeia eine Fiktion.
Vgl. hierzu Vlastos: Justice and Happiness in the Republic, S . 7 0 f f . Vlastos führt aus, daß dikaiosyne für die Griechen ein ausschließlich sozialer Wert war, der sich auf das ethisch und rechtlich korrekte Verhalten zwischen Menschen bezog. Diesem Verständnis war, so Vlastos, Piatons Begriff von Gerechtigkeit als innerseelischer Harmonie vollkommen fremd.
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Es ist gezeigt worden, daß es eine Art „Theorie" des gerechten Krieges gibt, die aus der Gerechtigkeitskonzeption der Politeia resultiert. Die Frage, ob und wieweit diese „Theorie" mit Auffassungen der römischen und dann christlich-scholastischen Tradition der bellum iustum-Lehre übereinstimmt, gehört nicht mehr zum Aufgabengebiet dieser Arbeit, wiewohl darauf hinzuweisen ist, daß Piaton manchmal in diese Tradition gestellt bzw. als deren Begründer aufgefaßt wird.28 Interessanterweise steht die Kriegsauffassung, die sich aus der Politeia ergibt, der augustinischen Variante der bellum iustum-Lehre näher als deren römischer Ausprägung durch Cicero. Für Cicero sind solche und nur solche Kriege gerecht, die erstens formal angekündigt und erklärt werden und die zweitens zum Zweck des Schadensersatzes bzw. der Wiedergutmachung geführt werden. 29 Abgesehen davon, daß hier formale Komponenten eine Rolle spielen, die in der Politeia gänzlich fehlen, ist bei Cicero auch nirgends die Rede davon, daß die gerechte Kriegspartei ihren Feinden nicht schaden kann, sondern vielmehr nützt. Augustinus dagegen vertrat im Anschluß an das Alte Testament die Vorstellung, gerechte Kriege seien göttliche Strafaktionen gegen Sünder, die zwar gegen deren Willen, aber letztlich in deren eigenem Interesse vollzogen würden. 30 Zumindest in dieser Hinsicht gibt es Analogien zwischen dem Sokrates der Politeia und Augustinus, während Ciceros Lehre vom gerechten Krieg längst nicht so hochgesteckte Ansprüche verfolgt.
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Siehe hierzu Verdroß-Droßberg: Antike Rechts- und Staatsphilosophie, S. 111. Vgl. auch Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S . 3 6 . Siehe Cicero: De re publica, III, 23, 35. Vgl. auch Cicero: De officiis, I, 11, 36. Zur römischen Konzeption des bellum iustum siehe Albert: Bellum Iustum, hier insbesondere zu Cicero, S . 2 0 f f . Für eine profunde Darstellung von Augustinus' Theorie des gerechten Krieges siehe Russell: The Just War in the Middle Ages, S. 1 6 f f . Russell führt aus (vgl. S. 19), daß nach einer bestimmten Auslegung von Augustinus' Lehre auch solche Kriege gerecht sind, die geführt werden, um die gottgegebene moralische Ordnung wiederherzustellen, unabhängig davon, o b vorher eine Rechtsverletzung der gerechten Partei stattgefunden hat. Cicero dagegen macht die Gerechtigkeit einer Partei grundsätzlich von einer solchen Verletzung abhängig.
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2.4. Die Wächter 2.4.1. Die Eigenschaften der Wächter 2.4.1.1.
Die philosophische
Natur
Die Wächter verfügen gemäß Sokrates' Ausführungen in der Politeia über einige Eigenschaften, von denen die Tapferkeit (andreia) und die philosophische Natur die wichtigsten und interessantesten sind. Was den Leser hier überraschen mag, ist wohl kaum die enge Verbindung von Tapferkeit und kriegführendem Stand, sondern eher die enge Beziehung des letzteren zur Philosophie. Diese Verbindung wird von Sokrates in folgender Argumentation begründet (vgl. Pol. 3 7 3 e - 3 7 6 e ) : Die Wächter sollen nur gegenüber Freunden und Bekannten sanftmütig sein, das gegenteilige Verhalten aber gegenüber Unbekannten und Fremden zeigen (vgl. Pol. 375e). Als paradigmatisches Beispiel für diese Verhaltenskombination wählt Sokrates den edlen Hund, der zu Unbekannten böse ist, obwohl diese ihm noch nie geschadet haben, zu Bekannten aber freundlich, obwohl diese ihm evtl. noch nie Gutes getan haben (vgl. Pol. 376a). Es ist wichtig, daß dieses Beispiel sich nicht auf den wilden, sondern auf den „kultivierten" Hund, auf den Hund als Gefährten des Menschen bezieht. Es ist nicht das wilde und triebhafte, sondern das gezähmte Tier, das hier als Vorbild für den Krieger ins Blickfeld rückt. Die Welt, in der die Wächter wirken, soll eben nicht die des homo homini lupus sein, eine anarchische Welt der ungebündelten Aggression, sondern eine durch Erziehung und „Kultur" gehegte Welt. So deutet die Wahl des Beispiels auf die Tugenden von Disziplin und Gehorsam hin, durch die sich der Krieger der Polis etwa von einem Verbrecher genauso unterscheiden soll wie der (gezähmte) Hund von seinem archaischen Vorgänger, dem Wolf. Der Hund ist in der Politeia ein durchweg positiv besetztes Tier, während der Wolf das Begehrliche und Triebhafte verkörpert, von dem wir mittlerweise wissen, daß es in Schach gehalten werden soll. Sanftmut gegenüber Freunden und Bekannten, Härte und sogar Bosheit gegenüber Fremden und Feinden wird vom Wächter gefordert. Um diese Forderung erfüllen zu können, muß er offensichtlich fähig sein, zwischen Verwandtem und Fremdem zu unterscheiden. Die Kompetenz, diese Unterscheidung treffen zu können, wird von Sokrates in einen Zusammenhang mit philosophischem Charakter gebracht, eine Kombination, die etwa Werner Jaeger für einen Scherz gehalten hat,1 unserer Auffassung nach jedoch durchaus ernst zu nehmen ist. Philosophisch sein heißt lernbegierig sein, und die Fähigkeit, zwischen Fremdem und Verwandtem scharf differenzieren zu können, setzt Lembegierde und deshalb eine philosophische Natur voraus (vgl. Pol. 376a/b). Es ist konsequent, daß Sokrates den Wächtern spezifische intellektuelle Fähigkeiten zuspricht. Die Politeia unterscheidet zwischen verschiedenen epistemischen Zuständen bzw. Fähigkeiten, von denen anzunehmen ist, daß sie sowohl mit den drei Seelenteilen als auch mit den Polis-Schichten zu analogisieren sind. Allerdings wird die Seele-Polis-Analogie in diesem Fall, soweit ich sehe, nicht ausdrücklich vollzogen. Das Liniengleichnis 2 belehrt uns
Vgl. Jaeger: Paideia, Bd.II, S. 2 8 3 . Unter den vielen Darstellungen dieses Gleichnis sei auf die besonders informativen Ausführungen von Annas hingewiesen. Siehe Annas: An Introduction to Plato's Republic, S . 2 4 7 f f .
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darüber (vgl. Pol. 509c-511e), daß es vier epistemische Zustände gibt: die Vernunfteinsicht (noesis), das Denken (dianoia), den Glauben bzw. die Überzeugung (pistis) und die eikasia.3 Die Vemunfteinsicht ist natürlich dem Seelenteil des Vernünftigen zugeordnet, und in der Polis verfügen über sie die Herrschenden. Das Denken muß dann zumindest teilweise mit dem eifrigen Element der Seele und entsprechend mit dem Stand der Wächter verbunden werden. Sowohl mit dem eifrigen als auch mit dem begehrlichen Element der Seele und analog sowohl mit der Schicht der Wächter als auch mit derjenigen der Erwerbstätigen müssen die beiden letzten Arten, der Glaube und die eikasia, assoziiert werden. Erkenntnis bilden nur die ersten beiden Kategorien, während die zwei letzten nur Meinung ausmachen (vgl. Pol. 533e/534a). 4 Die Meinung (doxa) ist grundsätzlich auf das Werden bezogen, auch dann, wenn es sich um wahre Meinung handelt; alle Erkenntnis aber bezieht sich auf das Sein. Wissenschaft hat es niemals mit dem Werden zu tun und kann daher nicht auf Meinung, sondern nur auf Denken oder Vemunfteinsicht beruhen. Mit Vernunfteinsicht geht die wahre und philosophische Wissenschaft, die Dialektik, vor, und auf dem Denken, der dianoia, fußt das, was gewöhnlich als Wissenschaft aufgefaßt wird, wobei der Fehlschluß zu vermeiden ist, der einzige Weg zur dianoia führe über die Wissenschaft. Sokrates will die gewöhnliche Wissenschaft nicht im eigentlichen Sinn als „Wissenschaft" kennzeichnen, sondern diesen Ausdruck für die Dialektik reservieren (vgl Pol. 533d). Höchster Erkennntisgegenstand der Dialektik ist die Idee des Guten, die allen anderen Ideen ihr Sein verleiht und sie erkennbar macht. Alle gewöhnlichen Wissenschaften sind Propädeutik für die Dialektik, als und insofern sie es leichter machen, die Idee des Guten zu schauen. Zu diesen Wissenschaften zählen in der Politela die Arithmetik (vgl. Pol. 534d-526c), die Geometrie (vgl. Pol. 526c-527c), die Astronomie (vgl. Pol. 527d-530c), die Harmonielehre (vgl. Pol. 530c-531c). Hierbei nehmen Arithmetik und Geometrie einen ausgezeichneten Status ein; sie sind in besonderer Weise geeignet, die Seele vom Sichtbaren und Werdenden auf das Sein hin zu lenken.5 Die Dialektik unterscheidet sich von jenen Wissenschaften auf mindestens zweifache Weise: während Arithmetik und Geometrie von bestimmten Voraussetzungen ausgehen und diese als gegeben annehmen, hinterfragt die Dialektik auch diese Prämissen, um zum Anfang selbst zurückzukehren (vgl. Pol. 533c). Außerdem emanzipiert sich die Dialektik von allen empirischen Bezügen und befaßt sich allein mit Ideen.6 Was haben diese Überlegungen mit Sokrates' Behauptung zu tun, der Krieger sei als solcher eine philosophische Natur? Es gibt meiner Ansicht nach in der Politela mindestens zwei verschiedene Stufen, auf denen man ein Philosoph, wenigstens aber „philosophisch" sein
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Dieser Ausdruck ist sehr schwer zu übersetzen; von Schleiermacher wird er mit „Wahrscheinlichkeit" übertragen. Zu Platons Unterscheidung zwischen Wissen und Meinung siehe Horn: Platons epistemedawi-Unterscheidung und die Ideentheorie. Zum Status der Mathematik in den platonischen Schriften siehe bes. Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre, S.41 ff; S . 6 7 f f . ; S . 8 9 f f . Vgl. auch Annas: An Introduction to Plato's Republic, S . 2 7 2 f f . Zum Dialektikbegriff der Politela vgl. Annas: An Introduction to Plato's Republic, S . 2 7 6 f f . Siehe zu diesem Thema auch Mittelstraß: Die Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen.
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kann. 7 Auf der höchsten Stufe befinden sich diejenigen Bürger der besten Polis, die das Gute selbst geschaut haben, also über die denkbar größte Einsicht verfügen. Aus ihren Reihen stammen die Herrscher der Polis. Darunter gibt es aber noch einen Begriff von Philosophie, der sich an der unmittelbaren Wortbedeutung orientiert und nach dem jeder ein Philosoph ist, der alle Weisheit liebt (vgl. Pol. 475b/c). Mit der Liebe zur Weisheit ist im Rahmen der Politela zweierlei gemeint: Zum einen strebt der Weisheitliebende nach solchen Kenntnissen, die ihm Aufschluß über das Seiende selbst geben (vgl. Pol. 489a), also nicht nach Kenntnissen über äußere Erscheinungsformen; zum anderen will er das Ganze des Seienden erkennen, denkt also nicht partikularistisch, sondern universalistisch. Betont wird von Sokrates, daß diese Art der Liebe und des Strebens in der Natur eines Menschen angelegt ist, also zwar ausgebildet werden kann und muß, im Kern jedoch aller Erziehung vorausliegt (vgl. Pol. 474c). 8 Dementsprechend ist die philosophische Natur auch schon in der frühen Jugend erkennbar. Diese Bestimmung des Philosophischseins beinhaltet nun keineswegs, daß jemand nur dann ein Philosoph ist, wenn er über alle Kenntnisse, nach denen er strebt, auch verfugt. Schon gar nicht ist hier das Kriterium, daß jemand nur dann Philosoph ist, wenn er auch mit der allerhöchsten Erkenntnis, der Idee des Guten, vertraut ist. Wichtig ist nur, daß man unter der Anleitung von anderen im Prinzip in der Lage ist, Seiendes selbst zu erkennen (vgl. Pol. 476c). Will man die beiden Begriffe des Philosophischseins in eine angemessene Hierarchie bringen, so könnte man diejenigen, die bereits über die höchsten Einsichten verfügen, als „Philosophen" und die zuletzt beschriebenen als „philosophische Charaktere" kennzeichnen. Dabei ist natürlich keineswegs ausgeschlossen, sondern vielmehr wahrscheinlich, daß ein philosophischer Charakter sich dem Sein zunächst über das Denken nähert, um dann auf dialektische Weise Schritt für Schritt zur Vernunfteinsicht gebracht zu werden. Man kann also sehr wohl eine philosophische Natur im Sinne der Politela sein, ohne in jedem Stadium seiner Entwicklung über Vernunfteinsicht zu verfügen. Entscheidend ist hier eher die Fähigkeit, von der dianoia zur noesis fortschreiten zu können. Auch auf der epistemologischen Ebene sind demnach jene fließenden Übergänge vorhanden, die wir bereits zwischen den beiden oberen Polis-Schichten, den zwei oberen Seelenteilen und den ihnen zugeordneten aretai feststellten. Man versteht an diesem Punkt, warum der (tüchtige) Krieger von Sokrates als eine philosophische Natur geschildert wird. Er verfügt über die Fähigkeit der Freund/Feind-Unterscheidung. Diese Kompetenz setzt aber ein durchaus umfassendes Wissen darüber voraus, was für die beste Polis zuträglich ist und was nicht. Andernfalls könnte der Wächter eben nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden. Bei diesem Wissen handelt es sich nicht um ein rein äußerliches, sondern insofern um ein seinsbezogenes, als es die „Werte" der besten Polis betrifft, die der Wächter ja verteidigen soll. Eine Kenntnis der Werte der besten Polis könnte im Prinzip auch nicht auf das Sein selbst bezogen sein, und zwar dann, wenn der Krieger einfach diesbezüglich eine wahre Meinung hat, die er von den Herrschenden ohne eigenes Nachdenken übernimmt. Doch dies kann an dieser Stelle nicht gemeint sein, denn der Begriff der philosophischen Natur wird unzutreffend, wenn nicht einmal Nachdenken, sondern bloße Mei-
Zu den verschiedenen Bedeutungsschichten des Ausdrucks „Philosophie" bei Piaton siehe auch Bormann: Piaton, S . 3 7 f f . Siehe zu diesem Punkt auch Arends: Die Einheit der Polis, S. 2 2 2 .
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nung, und sei es auch die wahre, vorhanden ist.9 Man muß davon ausgehen, daß der Wächter, von dem hier die Rede ist, die Freund/Feind-Unterscheidung nicht unreflektiert von den Herrschern übernimmt, so daß schließlich nicht lediglich wahre Überzeugung, sondern echtes Wissen das Resultat ist. Nur in diesem Fall ist es plausibel, daß die Kenntnisse des Wächters sich auf Seiendes selbst richten, wie es von einer philosophischen Natur erwartet wird. Andererseits handelt es sich nicht um Vernunfteinsicht, da das Wissen des Kriegers nicht von allen empirischen Bezügen „gereinigt" ist; andernfalls würde er zur Gruppe der (vollkommenen) Philosophen gehören. Gegen unsere Auslegung der philosophischen Natur des Kriegers erheben sich zwei Einwände. Zunächst scheint der Vergleich mit dem Hund auf alles andere hinzudeuten als auf diskursives Wissen, und zwar weitaus eher auf instinktive und intuitive Kenntnisse, also auf etwas, was gerade den Gegensatz zu reflektierter Erkenntnis bildet. Doch das Bild des Hundes muß richtig gedeutet werden; es scheint mir zweierlei zu bezwecken. Erstens soll tatsächlich ein Bezug auf Natur hergestellt werden, nämlich darauf, daß das Streben nach umfassender Erkenntnis des Seienden in der Natur eines Menschen verankert sein muß und nicht völlig künstlich hervorgebracht werden kann. Nur so weit darf der Tiervergleich beim Wort genommen werden. Ganz sicher soll mittels dieses Vergleichs nicht behauptet werden, die Krieger könnten über das geistige Niveau von Hunden nicht hinaus gelangen. Zweitens aber zielt das Bild gerade darauf ab, zu verdeutlichen, daß es nicht um die reine und ungebildete Natur geht, sondern um die in bestimmter und richtiger Weise erzogene. Als Bild für die instinktive Fähigkeit, Freund und Feind unterscheiden zu können, hätte Sokrates wohl die meisten Tiere wählen können. Seine Wahl fällt jedoch auf den Hund und hier speziell auf den Wachhund, also auf ein in ganz besonderer Weise vom Menschen erzogenes Tier. Erst in dieser Dimension des Bildes wird klar, daß die philosophische Natur des Kriegers nicht eine sich selbst überlassene, sondern eine bereits relativ ausgebildete ist. Nun versteht es sich von selbst, daß die Bildung einer animalischen Natur etwas anderes ist als die Bildung einer menschlichen. Auf der Ebene der letzteren kann diskursive Erkenntnis erzeugt werden, auf der Ebene der letzteren nicht. Alles in allem zwingt uns der Vergleich mit dem Hund also keineswegs zu der Annahme, der Krieger könne nur instinktive Fähigkeiten besitzen. Er zwingt uns im übrigen auch nicht zu der Behauptung, der Wachhund sei wirklich eine philosophische Natur in dem erläuterten Sinn des Strebens nach allen Kenntnissen, die das Seiende selbst betreffen. Wohl ist das Wissen des Hundes darüber, wer Freund und wer Feind ist, in gewisser Weise ein Bild einer ganzheitlichen Erkenntnis des Seienden. Der Wachhund, der die Freund/Feind-Unterscheidung korrekt anwenden kann, weiß tatsächlich alles, was er als Wachhund wissen muß, und verfügt daher, bildlich gesprochen, über eine umfassende Kenntnis des Seins. Doch ist dieses nicht mehr als ein Schattenbild des wahren philosophischen Charakters, etwa so, wie die Auffassung der Polis-Gerechtigkeit als Arbeitsteilung nur ein Schattenbild der eigentlichen Polis-Gerechtigkeit war. Beim philosophischen Krieger liegen die Dinge ähnlich und doch anders als beim Wachhund. Die Kenntnisse, aufgrund derer der Krieger überhaupt erst zwischen Freund und Feind differenzieren kann, sind Erkenntnisse der Werte der besten Polis und vermitteln daher grundsätzlich einen Einblick in das Sein. Dage-
Daß die Wächter grundsätzlich nur zur richtigen Meinung fähig sind, wird manchmal in der Literatur behauptet, so etwa bei Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S . 4 7 4 . Die zur D i s k u s s i o n stehende Stelle widerspricht jedoch dieser Auffassung.
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gen wird der Hund lediglich durch eine Mischung aus Natur und Gewöhnung dahin geleitet, seinen Herrn, sei dieser gut oder schlecht, vor Unbill zu schützen. Der zweite Einwand besteht in der Frage, ob der Begriff der philosophischen Natur durch unsere Interpretation nicht zu sehr ausgeweitet wird. Philosophische Naturen sind nach Sokrates selten unter den Menschen. Es scheint, als würde dieses Seltenheitspostulat empfindlich beeinträchtigt, wenn alle Wächter prinzipiell philosophische Charaktere wären. Man kann diesem Argument auf zwei verschiedene Weisen begegnen. Zum einen ist auffallig, daß an der fraglichen Stelle nicht von Kriegern schlechthin die Rede ist, sondern von guten und tüchtigen (vgl. Pol. 375c/376c), so wie auch nicht von Wachhunden überhaupt die Rede ist, sondern von edlen Hunden (vgl. Pol. 375e). Es sieht nun ganz so aus, als seien auch in der besten Polis nicht alle Wächter gleich tüchtig. Dieses wird klar, wenn man einen kurzen Blick auf die Ausbildung dieser Schicht wirft (vgl. Pol. 536d-538a/539d-541b). Diese Ausbildung ist ein mehrstufiger Prozeß. Alle Wächter erhalten als Kinder und Jugendliche Unterricht in Musik, Gymnastik, Arithmetik und Geometrie. Hinzu kommt eine praktische Vermittlung von Kenntnissen in der Kriegstüchtigkeit (vgl. Pol. 537a). Diejenigen, die sich auf all diesen Ebenen als die besten bewährt haben, erhalten auf einer zweiten Stufe eine Übersicht über den Zusammenhang der einzelnen Wissenschaften und die Natur des Seienden, um sie zur Zusammenschau (synopsis) fähig zu machen (vgl. Pol. 537c). Wer sich hier wiederum als ausgezeichnet erweist, gilt als dialektisch begabt und wird entsprechend auf einer dritten Ebene in der philosophischen Wissenschaft der Dialektik ausgebildet (vgl. Pol. 537c/d). Hier stellt sich heraus, wer wirklich in der Lage ist, ohne empirische Hilfe sich auf das Seiende selbst zu richten. Nach dieser dialektischen Erziehung werden die Schüler für eine sehr lange Zeit (fünfzehn Jahre) in das Kriegswesen zurückgeschickt, wo sie Ämter übernehmen sollen und geprüft werden, ob sie ihre philosophische Natur bewahren (vgl. Pol. 539e/540a) und gleichzeitig ihre kriegerischen Aufgaben kompetent wahrnehmen können. Nur wer nun auch diese letzte Prüfung überstanden hat, wird in einer letzten Phase zum Ziel aller Erkenntnis geführt und unter Anleitung dazu gebracht, das Gute selbst zu schauen (vgl. Pol. 540a). Danach dürfen die so Ausgebildeten sich der Philosophie widmen, müssen sich aber dann nach fünf Jahren für das Regierungsamt zur Verfügung stellen (vgl. Pol. 540b). Dieser Überblick zeigt einmal mehr die überaus engen Verbindungen zwischen der ersten und der zweiten Polis-Schicht, die so beschaffen sind, daß sich mitten unter den Kriegern solche befinden, die eine beinahe vollständige Dialektik-Ausbildung absolviert haben und demnach fast zu den Philosophen, gewiß aber zu den philosophischen Naturen zählen. Dieses ist ein klarer Beleg für die Falschheit der manchmal vertretenen Auffassung, daß die Wächter in ihrer Gesamtheit lediglich zu wahrer Meinung, nicht aber zu echter Erkenntnis fähig sind.10 Gewiß sind die Angehörigen der Wächterschicht im Prinzip zur dianoia, zum Nachdenken befähigt, denn sie erhalten ja beispielsweise Unterricht in Mathematik, die von Piaton klarerweise der dianoia zugeordnet wird. Wie auch sollten sich die Krieger von den Erwerbstätigen unterscheiden, wenn sie nicht einmal von Natur aus die Kompetenz zum Nachdenken mitbringen? Die Annahme, daß es auf der epistemischen Ebene gar keine Unterschiede zwischen zweiter und dritter Polis-Schicht gibt, ist widersinnig. Vor allem: Woher sollen schließlich die Philosophen kommen, wenn eine entsprechende Ausbildung nur auf Vgl. Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S . 4 7 4 .
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doxa aufbauen könnte? Nun gelangen einige Wächter auch über die Stufe der dianoia noch hinaus. Es wird auf der anderen Seite aber ebenfalls deutlich, daß gewisse Wächter, vermutlich die meisten, nicht einmal die zweite Ausbildungsstufe erreichen, also die Phase, in der die eigentlich philosophische Erziehung, die Vorbereitung der Zusammenschau, beginnt. Man kann davon ausgehen, daß es sich bei jenen um nicht philosophische Charaktere handelt. Wo aber Sokrates den philosophischen Krieger einführt, ist jemand gemeint, der irgendwann zumindest das zweite Erziehungsstadium hinter sich gebracht hat. Wir sind also durchaus nicht dazu gezwungen anzuerkennen, daß die gesamte Schicht der Wächter sich aus philosophischen Naturen zusammensetzt, womit das Seltenheitspostulat unangetastet bleibt. Nicht minder plausibel ist vielleicht eine zweite Strategie, dem erwähnten Einwand zu begegnen. Der Sokrates der Politeia geht davon aus, daß man tüchtige Naturen langfristig durch eine Kombination von Erziehung und Zeugungspolitik vermehren kann, wenn erst einmal eine solide Ausgangsbasis vorhanden ist (vgl. Pol. 424a). Existiert eine gewisse Anzahl von tüchtigen Naturen und zeugen nur diese untereinander Kinder, so gedeihen letztere in Verbindung mit der entsprechenden Erziehung noch besser als ihre Eltern. Auf diese Weise entstehen im Laufe der Zeit immer mehr gute und fähige Charaktere. Ähnliches gilt nun sicher auch für die philosophischen Naturen. Auf jenes Transformationsstadium von der aufgeschwemmten zur besten Polis trifft es tatsächlich zu, daß es besonders am Anfang nur recht wenige philosophische Naturen unter den Wächtern gibt. Dieser Kreis vergrößert sich aber immer mehr, bis er endlich in der besten Polis die meisten oder vielleicht auch alle Krieger umfaßt. In der besten Polis selbst gäbe es also noch sehr viel weniger Trennlinien zwischen Kriegern und Philosophen als bereits in der Übergangsphase. Es würde weiterhin gelten, daß philosophische Naturen im allgemeinen selten sind, doch wäre die beste Polis eben dadurch gekennzeichnet, daß innerhalb ihrer Grenzen diese Seltenheit aufgehoben ist.
2.4.1.2.
Die Tapferkeit
Ob nun wenige Wächter philosophische Naturen sind, die meisten oder alle, auf jeden Fall sollen sich alle Glieder dieses Standes durch Tapferkeit (andreia) auszeichnen. Diese arete hatte Piaton schon in dem frühen Dialog Laches zum Thema gemacht, in dem aber die Frage nach dem Begriff der Tapferkeit ausdrücklich ungelöst bleibt. In der Politeia gibt es zwei zunächst widersprüchlich erscheinende Erläuterungen von Tapferkeit. Tatsächlich handelt es sich aber um zwei einander ergänzende Bestimmungen. Zum einen bedeutet Tapferkeit Furchtlosigkeit vor Tod und Wunden im Gefecht (vgl. Pol. 386a/b). Zu dieser Ebene von Tapferkeit gehört für Sokrates selbstverständlich, daß der Krieger in der Schlacht den Tod der Niederlage und der Knechtschaft (Sklaverei) vorzieht (vgl. Pol. 386b/387b). Die Verachtung des eigenen Lebens um des Gemeinwesens willen ist ein Kembestandteil der Tapferkeitsvorstellungen, die uns bei den Autoren der griechisch-römischen Antike begegnen. So spielt denn auch in der Politeia die Todesfurcht eine ausschließlich negative Rolle. Sie gilt als ein Zustand, der sowohl überwunden werden muß als auch überwunden werden kann.11 Hobbes
Bereits in der Apologie des Sokrates wird von Sokrates klar die Auffassung abgelehnt, daß der Tod ein Übel sei (vgl. Apologie 40a-42a). Sokrates argumentiert hier, daß Totsein entweder gänzliche Empfindungslosigkeit bedeute oder aber die Wanderung der Seele an einen anderen Ort. In beiden Fällen sei der Tod kein Übel, sondern ein großer Gewinn. Im Kriton heißt e s ,
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dürfte diesbezüglich der Kontrastautor par excellence sein. Für H o b b e s ist die Furcht vor dem T o d e erstens ein Wesenszug der menschlichen Natur und daher nicht überwindbar. Sie spielt zweitens eine durchaus konstruktive Rolle, ist sie doch i m m e r h i n der M o t o r der Staatsgründ u n g . N a c h H o b b e s ' M e i n u n g hat sogar der Soldat in b e s t i m m t e n Fällen das moralische Recht, durch Flucht sein Leben zu retten, falls er sich nicht vertraglich z u m Soldatsein verpflichtet hatte. 1 2 D e m Sokrates der Politela und den meisten anderen antiken Autoren wären solche Ansichten als schändlich erschienen. A u f e i n e r z w e i t e n E b e n e e r l ä u t e r t S o k r a t e s die T a p f e r k e i t f o l g e n d e r m a ß e n (vgl. P o l . 429c): Tapferkeit ist die B e w a h r u n g der von d e m Gesetz durch die Erziehung eingeflößten M e i n u n g über das G e f ä h r l i c h e {ta deina). W e n i g später wird der gleiche G e d a n k e etwas anders a u s g e d r ü c k t (vgl. Pol. 4 3 0 b ) : Tapferkeit ist die durchgängige Aufrechterhaltung der richtigen und gesetzlichen Vorstellung von d e m , w a s gefährlich ist und was nicht. Erst wenn dieses Kriterium erfüllt ist, liegt wahre und vollständige T a p f e r k e i t vor, die sich also keineswegs in der Furchtlosigkeit vor Tod und Wunden erschöpft. W i r erinnern uns in diesem Z u s a m m e n h a n g daran, d a ß der eifrige Seelenteil erst richtig erzogen werden m u ß , w e n n er d e m Vernünftigen in angemessener W e i s e dienen soll. I n s g e s a m t g e s e h e n w e i s t d a s T a p f e r k e i t s k o n z e p t d e r Politeia miteinander zusammenhängenden Züge auf:
die
f o l g e n d e n eng
1.
T a p f e r k e i t ist grundsätzlich eine arete, die auf ein G e m e i n w e s e n bezogen ist, eine Tugend des G e m e i n s i n n s also. Sie ist abhängig von Gesetz, Erziehung und Bildung in der Polis. Als solche ist sie scharf zu unterscheiden von jeder Art des individuellen „Draufgängertums". So wird die Tapferkeit von Sokrates denn auch ausdrücklich als eine politische T u g e n d g e k e n n z e i c h n e t (vgl. P o l . 4 3 0 c ) u n d von oberflächlich ähnlich erscheinenden „tierischen" und „knechtischen" Eigenschaften abgegrenzt, die man nach Sokrates nicht mit d e m A u s d r u c k „Tapferkeit" belegen sollte. D e r M a n g e l an Furcht vor Tod und W u n d e n reicht nicht aus, u m einen Krieger als tapfer zu klassifizieren. Hinzu k o m m e n m u ß das Bewußtsein des Eingebundenseins in die Werte und Traditionen des Polis-Kollektivs und das Bewußtsein, daß es sich hierbei u m die richtigen W e r t e handelt.
2.
Tapferkeit ist eine im weitesten Sinne „konservative" arete, eine Tugend der Bewahrung und Aufrechterhaltung bestimmter tradierter M e i n u n g e n . E s handelt sich u m eine arete, die hinsichtlich des G e m e i n w e s e n s eine Stabilisierungsfunktion erfüllt.
daß keinesfalls das Leben als solches als höchstes zu achten ist, sondern das gute Leben ( v g l . Kriton 48b). Im Phaidon endlich spricht sich Sokrates dafür aus, daß der wahre P h i l o s o p h nach dem Tode strebt (vgl. Phaid. 64a/b/67e), da erst der Tod die vollständige Befreiung der Seele von den Banden des Leibes bringen kann (vgl. Phaid. 67d) und erst diese Absonderung echte Weisheit ermöglicht (vgl. Phaid. 66e). Gegenüber der Selbsttötung allerdings nimmt der Phaidon eine ablehnende Haltung ein (vgl. Phaid. 6 1 e - 6 2 c ) . Dagegen gibt es im Alterswerk Nomoi einen Passus, in dem anscheinend der Suizid nahegelegt wird, wenn ein Unheil anders nicht zu vermeiden ist (vgl. Nom. 873c). An dieser Stelle verurteilt Piaton zwar den Suizid im Grundsatz, weist jedoch auf Ausnahmen hin. Wir werden allerdings im zweiten Teil dieser Arbeit noch sehen, daß dieses „Recht" ein höchst abstraktes ist, denn ein Soldat, der im Krieg die Flucht antritt, kann fiir diese Handlung grundsätzlich von seinem Souverän hingerichtet werden, welche Motive auch immer fiir die Flucht leitend waren.
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3.
Tapferkeit ist immer auch eine intellektbezogene Eigenschaft, kommt doch dem eifrigen Seelenteil, dem thymos, dem die andreia als spezifische Tüchtigkeit zugeordnet ist, die Aufgabe zu, dem Vernünftigen zur Herrschaft zu verhelfen. Die Tapferkeit ist sowohl in der Einzelseele als auch in der Polis als eine Dienerin des Vernünftigen aufzufassen. Tapferkeit ist dennoch immer auch eine emotionale Qualität, denn der thymos ist geradezu das leidenschaftliche Element der Seele. Es ist wichtig zu betonen, daß das platonische Tapferkeitsmodell keineswegs gefühls- oder gemütsfeindlich schlechthin ist. Als grundsätzlich negativ gelten solche Affekte, die dem Bereich des Begehrlichen zuzuordnen sind, also dem dritten und niedrigsten Teil der Seele, denn in Affekten dieses Typs ist der Hang zum Übermaß naturgemäß angelegt. Auch im mittleren Seelenteil bündeln sich Affekte, die allerdings konstanterer und höherwertiger Natur sind und als „Gemütsregungen" klassifiziert werden mögen. Diese Gemütsregungen werden nun durchaus nicht ethisch diskriminiert, sondern anerkannt, falls sie sich denn im angemessenen Rahmen halten. Das Prinzip des rechten Maßes gilt für den thymos wie für das Begehrliche, doch im Unterschied zu den begehrlichen Affekten sind die Gemütsregungen des mittleren Seelenteils der „natürliche" Verbündete der Vernunft und spielen deshalb eine überaus schätzenswerte Rolle im Zusammenspiel der Seele und analog der Polis. 13 Die Tapferkeit ist keine punktuelle und situationsbezogene arete, sondern eine konstante und allgegenwärtige. Sie gehört wie eine künstliche und nicht abwaschbare Färbung (vgl. Pol. 429e/430a) zur „zweiten Natur" eines Menschen und kann daher nicht etwa in bestimmten Situationen abgelegt und in anderen aktiviert werden. Hieraus folgt selbstverständlich, daß die Tapferkeit eines Menschen sich nicht nur in Krieg und Gefecht niederschlägt, sondern auch in seinem sonstigen Verhalten, z. B. in einer standhaften Haltung gegenüber persönlichen Schicksalsschlägen. Tapferkeit ist eine arete, die sich auf den ganzen Menschen bezieht, nicht nur auf den Krieger als solchen. 14 Die politische Bewahrungsfunktion der Tapferkeit bezieht sich vor allem auf die durch die Polis-Gesetze und die Polis-Erziehung gebildete Meinung über das Gefährliche (ta deina). Dies ist auf den ersten Blick eine seltsame Begriffsbestimmung, impliziert sie doch, daß ausgerechnet dem Stand, der auf dem Schlachtfeld Furchtlosigkeit zeigen soll, auch die Aufgabe zukommt, Meinungen über das Gefährliche zu tradieren. In irgendeiner Weise sollen die Krieger also auch Furcht empfinden. Der scheinbare Konflikt löst sich schnell auf, wenn man sich klar macht, daß hier zwei unterschiedliche Arten von Furcht im Spiele sind. Dieser Punkt bleibt in der Politela etwas im dunkeln, ist aber genau derselbe, der auch in den Nomoi zur Sprache kommt, dort aber viel deutlicher akzentuiert wird. In diesem Werk läßt Piaton den Athener erläutern, daß es zwei entgegengesetzte
4.
5.
6.
Auf den hohen Stellenwert des leidenschaftlichen Elementes bei Piaton hat besonders dezidiert Wilamowitz-Moellendorf hingewiesen. Vgl. Wilamowitz: Platon, S. 555 Fn. Dieser umfassende Tapferkeitsbegriff wird von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik deutlich zurückgewiesen, wenn auch dabei nicht explizit auf Piaton Bezug genommen wird. Dort heißt es: „Im echten Sinn also darf als tapfer bezeichnet werden, wer keine Furcht kennt vor dem Tod in Ehre und keine Furcht vor dem, was unmittelbar ans Leben geht: wir meinen aber damit vor allem die Gefahr im Kampfe." (Nikomachische Ethik 3, 9, 1115a) Für Aristoteles ist die andreia also eingeschränkt auf die Furchtlosigkeit vor dem Tod auf dem Felde der Ehre. Zu diesem Unterschied zwischen Piaton und Aristoteles vgl. auch Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S. 4 7 4 .
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Typen von Furcht gibt (vgl. Nom. 646e-647e). Die eine ist ganz allgemein die Furcht vor irgendeinem Übel, ζ. B. auch die Furcht vor der Verwundung oder dem Tod im Krieg. Die andere Art wird mit dem Ausdruck „Scham" (aischyne) bezeichnet; die Scham ist die Furcht vor der Meinung anderer, wenn wir etwas Schimpfliches tun; .es ist die Furcht vor Schande. Von diesen beiden Arten der Furcht ist die Scham unbedingt zu fördern, weil sie und nur sie hilft, die Furcht im ersten Sinn zu bekämpfen. So wird nur derjenige seine Feinde nicht fürchten, der sich vor übler Nachrede durch seine Freunde fürchtet (vgl. Nom. 647b). Wenn Sokrates in der Politeia sagt, die Tapferkeit sei eine Aufrechterhaltung des Respektes vor dem Gefährlichen, so zielt er damit auf nichts anderes ab als auf die Bewahrung dessen, was in den Nomoi „Scham" genannt wird. Gefährlich sind dementsprechend alle Handlungen, die dem Schamgefühl und damit den tragenden Werten der Polis widersprechen. Gefährlich ist es z. B. für den Krieger, in der Schlacht die Gefangenschaft dem Tod vorzuziehen. Tapferkeit in dem primitiveren Sinn der Furchtlosigkeit vor Tod und Wunden setzt demnach Tapferkeit in dem umfassenderen zweiten Sinn voraus. Um es scheinbar paradox zu formulieren: wer tapfer sein will, muß gelernt haben, sich zu fürchten. Historisch gesehen ist es nicht unwahrscheinlich, daß das platonische Tapferkeitsmodell zu wesentlichen Teilen in einem Zusammenhang mit der zu Piatons Zeiten üblichen und seit der Schlacht bei Marathon bewährten Taktik der Hoplitenphalanx steht. 15 Diese Taktik 16 bestand darin, daß zwei Verbände von schwerbewaffneten und gepanzerten Männern (Hopliten) in geschlossener Linie (meist etwa acht Mann tief) und im Gleichschritt gegeneinander vorrückten und ihren Kampf in Form einer massiven direkten Konfrontation auf offenem hindernisfreien Gelände austrugen. Die Hopliten setzten sich aus Polis-Bürgem zusammen und bildeten den Kem des Heeres. Die Struktur der Phalanx entwickelte sich ungefähr im siebten Jahrhundert v. Chr. und verhielt sich gegensätzlich zu der Kriegführung im Griechenland der ältesten Zeit, die einerseits durch viele Scharmützel, Hinterhalte und Manöver gekennzeichnet war, andererseits durch Einzelkämpfe zwischen vom „Furor" ergriffenen Heroen, wie man sie aus Homers Schilderungen kennt. Man kann den Unterschied zwischen beiden Konzeptionen begrifflich vielleicht durch die folgenden Gegensatzpaare erfassen: Unübersichtlichkeit vs. Ordnung; Zerrissenheit vs. Einheit; Umweg vs. Direktheit; Furor vs. Disziplin; Einzelkämpfertum vs. Gemeinschaft. Tatsächlich erforderte das System der Hoplitenphalanx von den Kämpfern und/oder ihren Führern Qualitäten, die auch Piaton in seiner Tapferkeitskonzeption postuliert: Gemeinschaftsgeist auf der doppelten Ebene der Orientierung am kämpfenden Verband und der Polis-Bindung, damit zusammenhängend Kontrolle unmittelbarer emotionaler Impulse zugunsten der Truppendisziplin und indirekt des Wohls der Polis, auch Vernünftigkeit im Sinne eines an überschaubaren Strukturen ausgerichteten Vermögens. Die oben angestellten systematisierenden Überlegungen zu Piatons Tapferkeitsbegriff sind allerdings besonders hinsichtlich des sechsten und letzen Punktes zu ergänzen. Diejenige Tapferkeit, von der sowohl in der Politeia als auch in den erwähnten Passagen der Nomoi die Rede ist, kann tatsächlich als eine Furchtlosigkeit aus Furcht beschrieben werden. Im Phaidon jedoch macht Sokrates zu Simmias die folgenden Äußerungen: Herfried Münkler konfrontierte mich mit der Frage nach einem solchen Zusammenhang. Bei der folgenden Schilderung beziehe ich mich hauptsächlich auf die Darstellung bei Jullien: U m w e g und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland, S . 4 2 f f .
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„Du weißt doch, sagte er, daß den Tod die andern alle unter die großen Übel rechnen. (...) Ist es also nicht aus Furcht vor noch größeren Übeln, daß die Tapferen unter ihnen den Tod erdulden, wenn sie ihn erdulden? (...) Also weil sie sich fürchten und aus Furcht sind sie alle tapfer, bis auf die, welche die Weisheit lieben. Wiewohl das doch ungereimt ist, daß einer aus Furcht und Feigheit tapfer sein soll." (Phaid. 68d/e)
Hieraus geht hervor, daß den Weisheitliebenden, den Philosophen, eine Tapferkeit zukommt, die in keiner Weise auf Furcht beruht, auch nicht auf der Furcht vor Schande. Folgt man dem Philosophiebegriff des Phaidon, so ist dieses konsequent, denn Philosophieren wird dort von Sokrates als Streben nach dem Tod begriffen (vgl. Phaid. 67e). Sterben ist die Befreiung der Seele vom Leib, und erst diese kann uns wahre und vollständige Weisheit geben. Deshalb strebt derjenige, der wirklich nach Weisheit strebt, immer auch nach dem Tod. Gemessen an solch philosophischer Tapferkeit, die den Tod als Befreier zur Weisheit ansieht, erscheint eine Tapferkeit, die den Tod lediglich als kleineres Übel hinnimmt, als minderwertig. Interessanterweise ist in der Politeia von jener spezifisch philosophischen andreia niemals ausdrücklich die Rede, sondern Tapferkeit wird hier als eine arete präsentiert, die aus der Perspektive des Phaidon nur eine Vorstufe oder ein „Schattenbild" der höchsten Form der Tapferkeit sein kann. 17 Auf der begrifflichen Grundlage des Phaidon ließen sich in der Politeia drei verschiedene Einstellungen zum Tod unterscheiden: erstens diejenige der Erwerbstätigen, die den Tod als das höchste Übel überhaupt betrachten und denen entsprechend keine Form der Tapferkeit zukommt, zweitens die der Krieger, die in der Regel den Tod noch immer als ein Übel betrachten, aber nicht als das höchste, und schließlich die Haltung der Philosophen, für die der Tod gar kein Übel darstellt, sondern ein Gut, wenn man ihn als Mittel zum Zweck der Erlangung von Weisheit betrachtet. Diese Dreiteilung wirft ein neues Licht auf die enge Verbindung zwischen Kriegertum und Philosophentum in der Politeia. Das Kriegswesen ist eine keineswegs zufallige, sondern vielmehr eine notwendige Vorstufe zur Philosophie, denn wo als Endziel die absolute Furchtlosigkeit vor dem Tod gilt, dort muß der beständige Umgang mit dem Tod und der Bedrohung durch ihn praktisch eingeübt werden, und in dieser Funktion ist das Kriegswesen in der Tat unersetzbar. Die Kriegskunst erscheint aus dieser Perspektive buchstäblich als die Schule der Philosophie. Wie dem auch sei, der Tapferkeitsbegriff des Phaidon spielt in der Politeia nur zwischen den Zeilen eine Rolle. Hinsichtlich der dort direkt dargelegten Auffassung von Tapferkeit können wir schließen, daß diese höchstwahrscheinlich alle der folgendermaßen motivierten Handlungstypen vom Begriff der Tapferkeit ausschließt: a)
Weil die Tapferkeit von Platons Sokrates eine intellektbezogene arete ist, sind sicher solche Handlungen nicht tapfer, die allein aus einer spontanen Gemütsaufwallung entZu erwähnen sind in diesem Zusammenhang auch die emphatischen Lobreden, die Alkibiades im Symposion auf die Tapferkeit von Sokrates hält, die dieser bei Gelegenheit des Feldzuges bei Poteidaia (430) bewiesen habe (vgl. Symposion 219e-221c). Sokrates wird hier als jemand geschildert, der im ganz praktischen Sinn tapferer war als alle anderen Krieger, auch als der renommierte Feldherr Laches. Zieht man die Überlegungen des Phaidon über das philosophische Verhältnis zum Tod hinzu, so konnte Sokrates tapferer sein als alle anderen, denn er fürchtete den Tod nicht nur als das kleinere Übel, sondern er fürchtete ihn überhaupt nicht. Für die außergewöhnliche Tapferkeit des realen Sokrates bei Poteidaia und anderswo scheint es tatsächliche Zeugnisse gegeben zu haben. Siehe hierzu Wilamowitz: Piaton, S. 7 1 f.
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stehen. Die Tapferkeit der Politeia ist, wenn auch keine Feindin von Gefühlen und Gemütsregungen schlechthin, so doch eine Gegenspielerin spontaner Gefühlshandlungen. b)
Auch solche Handlungen sind nicht tapfer, die auf rein individuellen Beweggründen beruhen, die nicht mit den Werten der Polis vermittelt sind. Dies widerspräche dem Charakter der Tapferkeit als einer kollektiv- und gemeinwesenbezogenen Eigenschaft.
c)
Weil die Tapferkeit der Politeia eine bewahrende arete ist, können solche Aktionen nicht tapfer sein, die darauf abzielen, die Polis in ihren Grundfesten umzustürzen oder den Gesetzen der Polis Widerstand entgegenzusetzen. Daher sind Umstürzler und Aufständler keine Tapferen, sondern Verbrecher. Es kann hier nicht als Einwand angeführt werden, daß die Vordenker der besten Polis ja selbst in gewisser Weise Umstürzler sind, da sie der aufgeschwemmten Polis mit Widerstand begegnen. Bei der Verwandlung der üppigen in die vollkommene Polis handelt es sich jedoch in keiner Weise um einen als „revolutionär" konzipierten Akt, sondern um einen sehr langfristigen Transformationsprozeß, dessen Träger, die Philosophen, auf keiner Stufe interne Gewalt anwenden. Im übrigen wird durch diesen Umbildungsprozeß wahre Tapferkeit überhaupt erst herausgebildet.
Insgesamt gesehen bringt die Tapferkeitskonzeption der Politeia einen Normenkodex zum Ausdruck, der zu weiten Teilen spätere westliche Vorstellungen über den Geist wahren Soldatentums geprägt hat. Vorgedacht sind bei Piaton die politische Rückbindung der Tapferkeit, deren Zugehörigkeit zu den Tugenden des Gemeinsinns, die enge Verflechtung zwischen der an sich emotionalen Qualität der Tapferkeit und der langfristig planenden Ratio, schließlich auch der besondere Respekt vor dem Waffenträger, der im Konfliktfall als Repräsentant seines politischen Verbandes für diesen mit seinem Leben einstehen muß und der als solcher auf das schärfste von Verbrechern, Abenteurern oder Söldnern zu unterscheiden ist.18 Es sei zum Abschluß dieses Abschnittes erwähnt, daß Hegel der Sache nach an die meisten der oben aufgelisteten Kriterien für andreia anknüpfte, als er in der Rechtsphilosophie schrieb: „Der Militärstand ist der Stand der Allgemeinheit, dem die Verteidigung des Staates zukommt und der die Pflicht hat, die Idealität an sich selbst zur Existenz zu bringen, das heißt sich aufzuopfern. Die Tapferkeit ist freilich verschieden. Der Mut des Tieres, des Räubers, die Tapferkeit für die Ehre, die ritterliche Tapferkeit sind noch nicht die wahren Formen. Die wahre Tapferkeit gebildeter Völker ist das Bereitsein zur Aufopferung im Dienste des Staates, so daß das Individuum nur eines unter vielen ausmacht. Nicht der persönliche Mut,
Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen des deutschen Generals v o n Sandrart, die dieser vor noch nicht allzu langer Zeit über die Figur des historischen Waffenträgers angestellt hat. Siehe von Sandrart: Führungsethik und Führungsverantwortung, hier b e s . 132. Von Sandrart führt in diesem Vortrag aus, daß dem Bild des verantwortungsbewußt handelnden Waffenträgers historisch stets Zerrbilder gegenübergestanden haben, so „der machtbesessene Prätorianer", „der Fehde und Beute suchende Raufbold des Raubritters", „der dem Lohn oder auch nur dem Abenteuer folgende Söldner", „der ideologisch, religiös oder nationalistisch/ethnisch fanatisierte Waffenträger", „der seelenlose, anonyme Technokrat moderner Waffen- und Informationstechnik". Piatons oben aufgeführte Kriterien für andreia sind in ihrer Gesamtheit geeignet, die Haltungen, mit denen solche „kriegerischen Unpersonen" dem Krieg gegenüberstehen, als Zerrbilder wahrer Tapferkeit auszuweisen.
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sondern die Einordnung in das Allgemeine ist hier das Wichtigste. In Indien siegten fünfhundert Mann über zwanzigtausend, die nicht feig waren, die aber nur nicht diese Gesinnung hatten, in der Vereinigung mit anderen geschlossen zu wirken."
19
2.4.2. Erziehung und Lebensweise der Wächter 2.4.2.1.
Erziehung
Bekanntlich nehmen Fragen der Erziehung (paideia) in der Politeia einen breiten Raum ein. In diesem und dem folgenden Abschnitt soll ein besonderer Schwerpunkt auf der Frage liegen, welche Rolle in der Erziehung und der Lebensweise der Wächter Unwahrheit und Lüge spielen. Untersucht man die Aussagen der Politeia über Erziehung, so fallt auf, daß in diesem Bereich der Zuträglichkeit für die Polis gegenüber der Wahrheit ein Vorrang zukommt. Wo immer es in Erziehung und Ausbildung zum Konflikt zwischen Wahrheit und Zuträglichkeit kommt, gibt schließlich letztere den Ausschlag. So müssen den Wächtern bestimmte Wahrheiten verschwiegen werden, die nur der kleinen Elite der Herrschenden zugänglich sein dürfen (vgl. Pol. 378a/378d). Die Regenten der Polis, allerdings nur diese, müssen manchmal sogar bewußt die Unwahrheit sagen, also lügen, wenn dieses den Nutzen der Polis befördert (vgl. Pol. 389b). Es zeigt sich, daß jene Reden, welche die Wächter nicht hören dürfen, das gefährden, was nach Sokrates' Auffassung das größte Gut der Polis ist: deren Einheit (vgl. Pol. 462a). Charakteristischerweise tragen die von Sokrates angegriffenen Erzählungen der Dichter das Merkmal, auf die Einheit der Polis zersetzend wirken zu können. 20 So werden solche Geschichten getadelt, in denen Furcht vor der Unterwelt erzeugt wird (vgl. Pol. 386a/b). Diese Erzählungen fördern gleichzeitig die Todesfurcht, doch ein Krieger, dodiese empfindet, wird die Polis nicht tapfer verteidigen können. In diesen Zusammenhang gehört auch, daß keine Klagen von hervorragenden Männern und schon gar nicht von Göttern dargestellt werden sollen (vgl. Pol. 387b-388d). Würde man solche Schilderungen zulassen, so hätte dies langfristig spaltende Wirkungen auf die Polis, weil sie eine Haltung gegenüber persönlichen Schicksalsschlägen fördern, die dem Gemeinwohl Energien entzieht. Verboten werden sollen auch solche Geschichten, in denen Götter untereinander Krieg führen. Das Leitmotiv dabei ist, daß die Hüter der Polis niemals lernen dürfen, daß ein Bürger dem andern feind ist (vgl. 378c). Das Schreckbild ist hier die Vision des Bürgerkrieges, der in der Politeia im Vergleich zum äußeren Krieg als so viel schlimmer betrachtet wird. So sehr die Wächter einerseits zum Schutz und zum Wohl der Polis auf den äußeren Krieg eingestellt sein müssen, so sehr muß in ihnen andererseits die Haltung gegen den inneren Krieg gefestigt werden. In dem gleichen Textzusammenhang (vgl. Pol. 378a/b/d) greift Sokrates auch Erzählungen an, in denen Götter gravierende Gewalttaten (einschließlich Mord) gegen ihre engsten Verwandten begehen. Ernstgenommen und auf die Praxis übertragen könnten Präsentationen dieses Typs schwere Formen von Kriminalität zur Folge haben. Kriminalität 19
Hegel: Rechtsphilosophie, Zusatz, S . 4 9 5 f . Zu Platons Kritik der Dichtung vgl. Halliwell: The Republic's
T w o Critiques of Poetry.
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kann im Extremfall, so könnte man diesen Gedanken weiterführen, ein Gemeinwesen so zersetzen, daß sie im Ergebnis von dem im eigentlichen Sinn politisch motivierten Bürgerkrieg kaum noch zu unterscheiden ist. Gott, so Sokrates, darf niemals als Urheber von Bösem präsentiert werden, da er gut ist und deshalb nur Gutes bewirken kann (vgl. Pol. 379a/b). Dieser Gedanke wird von Sokrates zwar als unbezweifelbar wahr dargestellt, doch auffällig ist die Akzentuierung der Nützlichkeit des Gedankens für die Polis. Man darf das Gegenteil in der Polis nicht sagen, wenn diese denn gut regiert werden soll (vgl. Pol. 380b). Wäre das Konzept von der uneingeschränkten Güte Gottes falsch, was Sokrates allerdings nicht in Betracht zieht, so dürfte man dieses dennoch nicht äußern, weil man damit der Polis Schaden zufügen würde. Es ist klar, worin dieser Schaden bestehen würde. Die beste Polis soll ja kraft ihrer gottähnlichen Herrscher dem Göttlichen so nahe sein, wie es einer menschlichen Organisation nur möglich ist. Fallen nun Zweifel auf die vollkommene Güte des Göttlichen, so wird wenig später auch Skepsis an der Güte der Polis aufkommen. An einer Stelle wird von Sokrates ausdrücklich der Gedanke der Nützlichkeit bestimmter Unwahrheiten eingeführt (vgl. Pol. 382d). Dabei unterscheidet er zwischen eigentlicher Unwahrheit und unwahrer Rede (vgl. Pol. 382b/c). Die eigentliche Unwahrheit ist die Unwissenheit in der Seele. Die unwahre Rede ist ein späteres Abbild dieses Seelenzustandes und keine reine Unwahrheit mehr. Während die eigentliche Unwahrheit von Göttern wie von Menschen gehaßt wird, kann die unwahre Rede von Nutzen sein. In diesem Zusammenhang führt Sokrates folgendes aus (vgl. Pol. 382d): Wir wissen nicht, wie sich die „alten Begebenheiten" in Wahrheit verhalten haben; also bilden wir die Unwahrheit der Wahrheit so genau wie möglich nach und machen sie dadurch sehr nützlich. Mit den „alten Begebenheiten" sind hier die in den griechischen Dichtungen geschilderten Ereignisse gemeint, die typischerweise eine unentwirrbare Mischung aus Mythos und Historie darstellten. Die Stelle ist schwer zu verstehen. Auf den ersten Blick scheint sie logisch unstimmig zu sein. Wenn man die Wahrheit über Dinge nicht weiß, so kann man ihr keine Unwahrheit nachbilden; weiß man sie aber, so braucht man ihr keine Unwahrheit nachzubilden. Die Wahrheit, der eine Unwahrheit nachgebildet werden soll, ist also offenbar nicht die Wahrheit über die „alten Begebenheiten", die wir ja nicht kennen, sondern eine andere. Wie ist dieses zu verstehen? Es gibt, wie ich meine, in der Politeia hierauf eine indirekte Antwort. Piaton läßt seinen Sokrates an einer Stelle einen Mythos über die Herkunft und Beschaffenheit der drei Stände erzählen (vgl. Pol. 414b-415d). Der Inhalt dieses Mythos wird von Sokrates als eine „heilsame Täuschung" charakterisiert (vgl. Pol. 414b), von der man die Herrscher, die Krieger und die übrigen überzeugen muß. Offensichtlich soll der Mythos 21 in jenem Übergangsstadium von der aufgeschwemmten Polis zur besten Polis erstmals erzählt werden, um für die letztere ein Fundament zu schaffen: Wir befinden uns also noch nicht auf der Ebene der besten Polis selbst, sondern in einer Vorbereitungsphase; Sokrates würde sonst nicht sagen, daß auch die Herrscher der Polis getäuscht werden sollten, denn diese bestehen in der vollkommenen Polis aus den wahren Philosophen, die man nicht mehr täuschen kann. In der besten Polis soll es auf jeden Fall so weit sein, daß der Mythos in der Überzeugung aller endgültig verankert ist. Sokrates' anfängliche Bedenken, die Geschichte zu erzählen, weist darauf hin, daß wir uns ei-
Zur generellen Rolle der Mythen in den platonischen Schriften vgl. Reinhardt: Piatons Mythen.
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nem arcanum
nähern. D i e Erzählung, deren Glaubhaftmachung nach Sokrates viele Überre-
dungskünste erfordern wird, hat nun den folgenden Inhalt: Die Krieger, aber auch die anderen Stände, sind ursprünglich unter der Erde gewesen, wo sie bis zur Vervollkommnung heranreiften. Danach schickte die Erde als ihre Mutter sie hinauf, damit sie dort für ihr Land wie eben für die Mutter sorgen und es gegen Feinde verteidigen. Alle sollen sich als Brüder betrachten, da sie alle der einen Mutter entsprungen sind. Zwar sind so alle verwandt, aber nicht gleich. D e r bildende Gott hat den zum Herrschen Bestimmten G o l d beigegeben, den Gehilfen Silber und den Bauern sowie den übrigen Arbeitern Erz und Eisen. Gott gebietet besonders den Herrschenden, für nichts so genau Sorge zu tragen wie für ihre Nachkommen, d. h. darauf zu achten, daß aus G o l d möglichst wieder G o l d gezeugt wird. F a l l s die Goldenen oder Silbernen doch einmal einen Ehernen zeugen, so sollen sie ihn zu den Bauern und Arbeitern hinaustreiben. Wenn umgekehrt sich unter den letzteren doch einmal ein Goldener oder S i l berner findet, dann sollen ihn die Herrschenden in ihre Kreise oder in die der Gehilfen aufnehmen. E s gibt einen Götterspruch, der besagt, daß die Polis dann untergehen wird, wenn Eisen oder Erz in ihr zur Herrschaft kommen. B e i diesem Mythos 2 2 handelt es sich um eine j e n e r nützlichen Unwahrheiten, von denen eben die R e d e war. Daß die Geschichte unwahr ist, wird von Sokrates von vornherein eingestanden (vgl. Pol. 4 1 4 c ) . Ihre Nützlichkeit liegt offensichtlich darin, daß sie geeignet ist, das größte Gut der Polis, also die Einheit, zu befördern. D o c h welcher Wahrheit ist diese mythische Unwahrheit nachgebildet? A u f der Suche nach einer Antwort stößt man auf das philosophische Konzept der besten Polis selbst. D e r Mythos wird dem rationalen Modell nachgebildet, indem er zentrale Elemente dieses Modells bildlich zusammenfaßt und auf quasi-religiöse Weise überhöht. W i r haben demnach nichts anderes vor uns als den Vorschlag einer funktionalen Betrachtung und Verwendung von Mythen und im Kern auch einer bestimmten F o r m von Religiosität. Dabei geht es zunächst um politische Umbildung und dann um politische Stabilisierung. Aus der Perspektive von Sokrates sind es die Wahrheiten über die Polis, der die Mythen anzupassen sind, nicht umgekehrt. Doch die Glieder der Polis sollen über dieses Rangverhältnis nicht Bescheid wissen, sondern vielmehr von der Umkehrung überzeugt werden. Sokrates weiß, daß der Ursprung der politischen Dinge nicht mythischer Art ist, aber dennoch nimmt er offenbar an, daß das Politische des M y t h o s bedarf. E s ist verständlich, wenn Sokrates in bezug auf sich selbst von Dreistigkeit (vgl. P o l . 4 1 4 d ) und von Bedenken (vgl. Pol. 4 1 4 c ) spricht, als er die Verbreitung der Täuschung ins Auge faßt. Für Sokrates' Bedenken mag es mehrere Gründe geben. Einer davon ist besonders hervorzuheben: Der M y thos bildet zwar wesentliche Strukturen der besten P o l i s
ab, aber ein wichtiger Faktor
Mit der mythischen Vorstellung von den Menschen als Erdgeborenen greift Piaton auf ältere Traditionen zurück. Die Athener hatten mit diesem Mythos den Anspruch gegen andere griechische Stämme begründet, nicht zugewandert zu sein, sondern aus dem Lande selbst zu stammen. Siehe hierzu Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S.368. Gigon weist auch daraufhin, daß der Gedanke des Erdgeborenseins ebenfalls in antiken naturwissenschaftlichen Theorien vorkam, denen zufolge die Menschen ursprünglich aus Erde gebildet wurden. Ein weiterer Hintergrund des Erdgeborenenmythos der Politeia ist eine phönizisch-thebanische Sage, nach welcher der Phönizier Kadmos in der Gegend des späteren Theben die Zähne eines erschlagenen Drachen aussäte, worauf aus der Saat gepanzerte Männchen entstanden, die sich gegenseitig bis auf fünf töteten, die dann gemeinsam mit Kadmos Theben gründeten. Siehe auch hierzu Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie, S . 3 6 6 .
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DIE WÄCHTER
kommt darin nicht vor. Es gibt keinen noch so verschlüsselten Hinweis darauf, daß nur die Philosophen aus Gold sind und daher nur sie zum Herrschen bestimmt sind. Indem nun der Mythos insbesondere den Herrschern jenes Übergangsstadiums erzählt wird, enthält man diesen etwas Wesentliches vor, und zwar, daß sie oder Menschen wie sie in der wirklich besten Polis wahrscheinlich nicht mehr herrschen werden. Der Mythos, der ohnehin schon eingestandenerweise unwahr ist, verschweigt auch noch auf subtile Weise, wer die eigentlichen Träger der Macht sein sollen. Die Herrscher, die den Mythos glauben, werden sich in Sicherheit wägen, weil dieser ihnen suggeriert, ihre Herrschaft sei gottgewollt. Faktisch werden sie jedoch von den Philosophen langfristig entmachtet werden, also von Menschen jener Art, die ihnen den Mythos erzählt haben. 2.4.2.2.
Lebensweise
Die in der Politeia konzipierte Lebensweise der Wächter (vgl. Pol. 416d/e/417a/b) ist in der auslegenden Literatur überdurchschnittlich häufig als „kommunistisch" gekennzeichnet worden.23 Es wird sich noch zeigen, daß diese Charakterisierung, wenn überhaupt, dann nur sehr partiell zutreffend ist.24 Als „kommunistisch" mag man aber immerhin die materiellen Verhältnisse der Wächter bezeichnen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß diese Verhältnisse eben nur für den Stand der Wächter und nicht für Erwerbstätige gelten sollen. Kein Wächter soll über eigenes Vermögen verfügen. Die Wohnungen der Krieger sollen jederzeit für alle öffentlich und zugänglich sein. Es gibt Gemeinschaftsspeisungen. Ihren Lohn (in Naturalien) empfangen die Wächter von den Mitgliedern der untersten Schicht, und zwar ist dieser gerade so hoch, daß kein Mangel aufkommen kann, aber so niedrig, daß nichts zum Horten übrig bleibt. Getreu dem Mythos der drei Stände wird ihnen erzählt, daß sie göttliches Gold und Silber in der Seele haben und daher nicht noch des menschlichen bedürfen. Ihnen allein ist es verboten, irgend etwas mit Gold oder Silber zu tun zu haben, z. B. es zu berühren, an der Kleidung zu tragen etc. Vollkommen fremdartig klingen diese Vorschläge nur für den heutigen Zeitgenossen. Das historische Vorbild Spartas klingt unüberhörbar an. In Sparta war es den Spartiaten verboten, am Geschäftsleben teilzuhaben. Verboten war auch lange Zeit der Besitz von Gold und Silber, was strikt kontrolliert wurde. Zeitweise wurde der Privatbesitz von Edelmetallen mit der Todesstrafe geahndet. Die Spartaner trugen keine goldenen, sondern eiserne Fingerringe, und zwar noch zu Plinius' Zeiten. Allerdings gab es Privateigentum, doch konnte jeder, der etwas brauchte, davon nehmen, ohne den Eigentümer zu fragen. Es wurde streng auf die Gleichheit der Besitzverhältnisse geachtet.25 23
24
Siehe u.a. etwa Barker: Greek Political Theory, S . 2 3 9 f f . ; Strauss: The City and Man, S. 103 sowie Demandt: Der Idealstaat, S. 8 1. Gegen die Charakterisierung des Lebens in der besten Polis als „kommunistisch" wenden sich sowohl Freyer als auch Salin. Vgl. Freyer: Die politische Insel, S . 4 6 f . Siehe Salin: Piaton und die griechische Utopie, S. 1 5. Nachzulesen ist all dieses u.a. in dem knappen, aber sehr informativen Überblick über die spartanischen Lebensverhältnisse bei Demandt: Antike Verfassungsformen, S.152. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings zu erwähnen, daß gerade das Sparta zu Piatons Lebzeiten bereits weit von seinen ursprünglichen politischen Organisationsprinzipien abgerückt war. In der Folge des Sieges Spartas im Peloponnesischen Krieg hatte sich dort Großgrundbesitz ent-
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KRIEG U N D KRIEGER IN PLATONS
POUTEIA
Zur Frage der Lebensweise gehört auch die Thematik der Geschlechterbeziehungen und der Kinderaufzucht. D i e Frauen der Wächter werden in der Kriegskunst genauso ausgebildet wie die Männer ( v g l . Pol. 452a), ziehen mit ihnen ins Feld ( v g l . P o l . 466c) und sind auch Kandidatinnen für Herrscherpositionen ( v g l . Pol. 540c). Männer und Frauen gelten von ihren natürlichen A n l a g e n her im Prinzip als gleich, doch sind nach Sokrates Frauen schwächer als die Männer ( v g l . Pol. 455d/e). Für die Frauen gibt es keinen spezifischen politisch relevanten A u f g a b e n b e r e i c h , durch den sie sich von den Männern unterscheiden würden
(vgl.
P o l . 455b). D i e so frauenspezifische Gebärfunktion wird hierbei in erstaunlicher W e i s e ignoriert. A l l e Frauen sollen allen M ä n n e m gemeinsam sein. A u c h gehören alle Kinder allen ( v g l . P o l . 457c/d). Das biologische Verwandtschaftsprinzip wird von den Obrigkeiten der P o Iis systematisch untergraben. D e r Intimverkehr zwischen den Geschlechtern wird obrigkeitlich gesteuert. D i e Besten sollen den Besten beiwohnen und die Schlechtesten den Schlechtesten ( v g l . Pol. 459d/e). W e n n ein junger Mann sich im K r i e g oder anderswo besonders tapfer g e z e i g t hat, erhält er eine Erlaubnis zu häufigerem Geschlechtsverkehr, damit unter einem „gerechten V o r w a n d " die meisten
Kinder von
solchen Männern g e z e u g t werden ( v g l .
P o l . 460b). H i e r liegt bereits ein deutlicher H i n w e i s darauf, daß die Wächter nicht wirklich gleich behandelt werden, w i e man es von einem kommunistischen Gemeinwesen erwarten dürfte. D i e Kinder der guten Wächter werden unmittelbar nach der Geburt in ein Säugehaus gebracht, w o sie von einem Wächterinnenkollektiv versorgt werden, wobei sorgfältig darauf zu achten ist, daß keine Mutter ihren eigenen Säugling erkennt. D i e Kinder der „Schlechten" s o w i e die verstümmelten Säuglinge werden an e i n e m unbekannten Ort verborgen ( v g l . P o l . 460c). Kinder, die von „ z u alten" Männern (solchen über 55 Jahren) oder Frauen (solchen über 40 Jahren) stammen, dürfen nicht a u f g e z o g e n werden. D e n Eltern wird in diesen Fällen anbefohlen, die Geburt der Kinder durch Abtreibung zu verhindern oder aber die Säuglinge auszusetzen ( v g l . Pol. 461c). D i e Kinder werden so früh w i e möglich im Kriegswesen ausgebildet. I m heranwachsenden A l t e r werden sie als Zuschauer mit in den K r i e g g e n o m m e n ( v g l . P o l . 466c/e/537a), w o sie, wenn bestimmte Sicherheitsstandards erfüllt sind, ganz nahe an das Geschehen herangebracht werden ( v g l . P o l . 537a). K i n d e r und Jugendliche weiden auch in Gymnastik, Musik, Rechnen und Meßkunst ausgebildet. D i e einzelnen Stufen der Ausbildung sind bereits erläutert worden. A u c h das soeben skizzierte Lebensmodell hat sein V o r b i l d zu weiten T e i l e n in Sparta, w o b e i Platons Sokrates mit seinen Forderungen lediglich über das hinausgeht, was lange Zeit spartanische Praxis war. In Sparta galt Erziehung als Kollektivangelegenheit. Väter hatten bei der Erziehung ihrer Kinder keine Vorrechte; jeder männliche Erwachsene hatte die väterliche G e w a l t über alle Kinder. Z w a r wurden die Kinder noch nicht im Säuglingsalter aus der Familie herausgenommen, wohl aber mit d e m siebten Lebensjahr. V o n diesem Zeitpunkt an lebten, aßen und schliefen die K i n d e r mit Altersgenossen zusammen. A u c h wurde in Sparta Bevölkerungspolitik betrieben. D i e Frauen und Mädchen wurden z w a r nicht kriegerisch ausgebildet, doch z o g man die M ä d c h e n zum Sport heran, was ihnen das Gebären erleichtern sollte. D i e M ä d c h e n turnten unbekleidet gemeinsam mit den Knaben. Eine (aller-
wickelt. Auch kursierten trotz offiziellen Verbots häufig Edelmetalle, die auf versteckte Weise gehortet wurden. So verschärfte sich auch in Sparta der Gegensatz zwischen arm und reich immer mehr. Siehe zu diesem Punkt Pohlenz; Staatsgedanke und Staatslehre der Griechen, S . 6 2 ; S.78.
D I E WÄCHTER
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dings durch nichts belegte) Überlieferung besagt sogar, daß Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter in einen dunklen Raum gesperrt wurden, wo sie sich dann finden mußten. Nach der Heirat wurde ein Zusammenleben des Paares und häufiger Intimverkehr unterbunden, weil man dachte, die Kinder würden gesünder und kräftiger, je weniger die Eltern verkehrten. Blieb eine Ehe unfruchtbar, so wurde Partnertausch gefördert. Ehebruch war nicht strafbar. Es wird erzählt, daß mehrere Männer mit derselben Frau verheiratet waren und daß Männer ihre Frau an Freunde ausliehen. Die freie Stellung der Spartanerinnen war in der Antike legendär und wurde oft beklagt, so ζ. B. von Aristoteles. 26 Die Frauen blieben nicht, wie ζ. B. in der athenischen Demokratie auf den Bereich des Hauses beschränkt. Plutarch belehrt uns darüber, daß viele Spartanerinnen ihr Gemeinwesen sehr zu schätzen wußten und es entsprechend priesen.27 An dem in der Politela für die Wächter vorgesehenen Lebenskonzept gibt es nun diverse aufschlußreiche Aspekte bezüglich der Kriegsthematik. Sehr bedeutsam ist die Forderung der absoluten materiellen Besitzlosigkeit der Wächter. Wir wissen, daß der Ursprung des Krieges nach Sokrates' Meinung in etwas liegt, woraus viel Übel entsteht, nämlich in der Maßlosigkeit, insbesondere in der unangemessenen Besitzgier. Ausgerechnet jener Stand der Polis, der am ausschließlichsten auf den Krieg bezogen ist, soll nun über keinerlei privaten Besitz verfügen, weder über Land noch über Wohnungen und schon gar nicht über Gold und Silber. Wenn dieses Modell funktioniert, so werden Kriege aus Habgier jedoch nahezu unmöglich, denn diejenigen, die Krieg führen dürfen, dürfen nichts besitzen, und diejenigen, die etwas besitzen dürfen (die Erwerbstätigen), dürfen nicht Krieg führen. Was die Herrscher betrifft, so bestehen diese in der besten Polis aus Philosophen, und diese entscheiden zwar als Herrscher über Krieg und Frieden, sind aber als Philosophen nicht besitzgierig. Die „unedlen" Motive für Kriegführung sollen in der besten Polis und auf dem Wege zu ihr sozusagen „überlistet" werden. Daß hierdurch nicht Kriegführung überhaupt ausgeschlossen wird, ist bereits gezeigt worden. Klarerweise dürfen und müssen Verteidigungskriege geführt werden. Überhaupt sind solche Kriege nicht ausgeschaltet, die nicht auf Habgier beruhen. Die noch nicht vollkommen gute Polis führt für eine Übergangszeit auch Eroberungskriege zum Zweck der Landnahme (vgl. Pol. 373d). Es ist interessant, daß das Besitzstreben der Menschen der aufgeschwemmten Polis offenbar nicht vollständig ignoriert werden kann und darf. Vielmehr wird dieses Streben durch die Philosophen auf hintergründige Weise zur Bildung der besten Polis genutzt. Die dekadente Gier, die aus der „Polis der Schweine" eine üppige Polis machte, erfordert zunächst einmal die Einrichtung eines Heeres. Doch wird gerade der am meisten auf den Krieg bezogene Stand durch systematische Ausbildung zum Träger von Werten, die der Dekadenz entgegengesetzt sind. Aus ursprünglichen Handlangern der Maßlosigkeit werden die Trägereiner neuen normativen Ordnung, zu deren Fundamenten eben nicht die hybris, sondern die sophrosyne gehört. 28 Der Eroberungskrieg, der überhaupt erst zum Aufbau einer
Aristoteles' Spartabild schlägt sich in einer eigentümlichen Mischung aus „Militarismuskritik" und Misogynie nieder. Vgl. etwa Aristoteles: Politik, 2, 9, 1269a/b. Aristoteles moniert hier, daß in Sparta, wie überhaupt in vielen kriegerischen Völkern, die Frauen die faktische Herrschaft innehätten, was für die Polis überaus schädlich sei. Siehe auch zu diesem Themenkomplex Demandt: Antike Verfassungsformen, S. 1 5 4 f f . Dieser in der Politela anvisierte Umwandlungsprozeß weist g e w i s s e Ähnlichkeiten mit dem auf, was der Soziologe Norbert Elias in einer einschlägigen Studie als einen „Zivilisations-
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POUTEIA
Streitkraft zwingt, wird diesem Konzept zufolge zu einem zentralen Faktor in der langsamen Transformation der aufgeschwemmten in die beste Polis. Dieser Gedanke der Nutzung eines Übels zur Erreichung des Gegenteils beherrscht die Politeia, obwohl er dort niemals offen ausgesprochen wird. Das hiermit verbundene Programm ist das einer „Hegung" des Krieges durch die Politik, die auf der Ebene der besten Polis mit angewandter Philosophie zusammenfällt. Entökonomisierung des Politischen, Primat der Philosophie und Hegung des Krieges sind drei Facetten ein und desselben Prozesses. Offenbar hat das zweifellos vorhandene Vorbild Spartas immer wieder die Verwirklichung dieses tendenziell auf Frieden und Begrenzung des Krieges abzielenden Projektes der Politeia gehindert. Der zentrale Unterschied zwischen Sparta und der von Sokrates entworfenen vollkommenen Polis liegt jedoch in der Forderung nach dem Vorrang der Philosophie, die sich sicher nicht auf die spartanische Praxis stützen konnte, denn Philosophie war in Sparta verboten. 29 Wir können das Programm der besten Polis auch verstehen als den subtilen theoretischen Versuch einer Zusammenbindung der besten Traditionen Griechenlands: von spartanischer Einfachheit und Disziplin einerseits und wahrem athenischen Geist andererseits. Dieses muß keineswegs auf einen versteckten Suprematieanspruch des historischen Athens hinauslaufen, dem Piaton ohnehin nicht wohlwollend gegenüberstand. Im Gegenteil: Piaton könnte sehr wohl gedacht haben, daß echter philosophischer Geist weitaus besser in einem politischen Körper Fuß fassen kann, der sich bislang von aller Philosophie ferngehalten hat, als in einem Gemeinwesen, das einer PseudoPhilosophie verfallen ist. Neben der materiellen Besitzlosigkeit ist der zweite Eckpfeiler der Lebensform der Wächter die Frauen- und Kindergemeinschaft. Diese ist so wichtig, daß sie als die eigentliche Ursache der Einheit der Polis gilt (vgl. Pol. 464b). Sie ist es, die das größte Gut der Polis hervorbringt. Trotz dieser zentralen Rolle will Sokrates das Thema der Frauen- und Kindergemeinschaft zunächst gar nicht berühren und tut es nur auf Drängen seiner Gesprächspartner Adeimantos und Glaukon. Wie schon vor der Darlegung des Drei-Stände-Mythos meldet Sokrates Bedenken gegen diesen Gegenstand an. Dabei bewegt ihn die Überlegung, man könne ihm nicht glauben, daß das von ihm entwickelte Konzept das beste sei (vgl. Pol. 4 5 0 e ) . Da er diese Befürchtung bereits gegenüber seinem engsten Anhängerkreis hegt, liegt auf der Hand, daß er wohl kaum der Meinung war, eine größere Menge von Menschen, wie etwa die Bürger
prozeß"
beschrieben hat. Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation,
Zweiter Band,
S . 3 1 2 f f . Kernbestandteil eines Zivilisationsprozesses ist nach Elias grundsätzlich der Vorgang der „Verhöflichung der Krieger" (vgl. S . 3 5 1 ff.), wobei unter „Verhöflichung" wesentlich die Bändigung und Mäßigung der ursprünglich zum unmittelbaren Ausleben von Gewalt tendierenden Affekte eines Kriegeradels zu verstehen ist. An dessen Stelle tritt schließlich höfischer Adel mit gedämpfteren Affekten, der als Träger der „inneren Pazifizierung"
ein (vgl.
S . 3 5 4 ) der Gesellschaft anzusehen ist. Nach Elias hat sich ein solcher Pazifizierungsprozeß in der abendländischen Geschichte vom 11. oder 12. Jahrhundert an vollzogen und im 17. und 1 8.Jahrhundert seinen Abschluß gefunden (vgl. S . 3 5 4 ) . Eine ähnliche Transformation wird in der Politeia
als Produkt rationaler philosophischer Planung gedacht. Man sollte jedoch die
diesbezüglichen Analogien auch nicht übertreiben. S o ist etwa ein Zivilisationsprozeß
nach
Elias gerade nicht rational planbar, sondern wird „blind in Gang gesetzt" (vgl. S . 3 1 6 ) . Im übrigen bleibt leider Elias' Kernbegriff der Zivilisation griffliche Vergleichsgrundlage darzustellen. Vgl. Demandt: Antike Verfassungsformen, S. 1 5 5 .
zu sehr im Dunkeln, um eine präzise be-
DIE WÄCHTER
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einer ganzen Polis, von seinem Modell überzeugen zu können. So überrascht es nicht, daß das in der Politeia gezeichnete Geschlechterbeziehungsmodell und das Kinderaufzuchtskonzept in sehr hohem Maße auf Täuschung und Betrug beruht, wie Sokrates selbst offen kundgibt (vgl. Pol. 459c). Wenn man eine Mehrheit von dem Nutzen einer Sache nicht argumentativ überzeugen kann, dann kann man versuchen, diese Sache durch Lüge durchzusetzen. In der besten Polis soll systematisch verhindert werden, daß eine Mutter ihren eigenen Säugling erkennt. Solche Bemühungen wären offenbar überflüssig, wenn man nicht davon ausginge, daß die Liebe zum eigenen Kind etwas Naturgegebenes ist. Die Oberen sollen steuern, wer wem geschlechtlich beiwohnt, doch es soll dabei verschwiegen werden, daß hierbei das „gut/schlecht-Kriterium" entscheidend ist. Andernfalls, so Sokrates, käme es zur Zwietracht unter den Wächtern. Auch hier ist der Ausgangspunkt, daß niemand von sich aus seiner Klassifizierung als „schlecht" zustimmen würde, nur um der Polis keinen Schaden zuzufügen. Geheim bleiben soll auch der Umstand, daß nur die Nachkommen der „Guten", aber nicht die der „Schlechten" aufgezogen werden (vgl. Pol. 459d/e). Bei dem Arrangement der Hochzeiten faßt Sokrates augenscheinlich den folgenden Betrug ins Auge (vgl. Pol. 460a): Die Partner stehen durch Entscheidung der Oberen vorher fest, doch werden unechte Verlobungen durchgeführt, so daß die „Schlechteren" bei ihren Verbindungen dem Schicksal, aber nicht den Herrschern die Schuld geben. An solchen und ähnlichen Manövern wird deutlich, daß die postulierte Frauengemeinschaft eine Fiktion ist. Es sind nicht wirklich alle Frauen allen Männern in gleicher Weise zugänglich, sondern die Herrschenden treffen insgeheim eine durchgängige Selektion nach „Qualitätskriterien". Die Wächter werden nicht gleich behandelt, sondern sie sollen denken, daß sie gleich sind. Es liegt also keineswegs ein kommunistisches Gemeinwesen vor, sondern höchstens der Schein eines solchen. Auch zeigt sich, daß die beste Polis nicht vollkommen ist aufgrund der Natur selbst der besseren ihrer Bürger. Diese sind aus der Perspektive von Sokrates eher schlecht als gut. Sie haben ihr Begehrliches und ihren Eifer nicht von sich aus im Griff, sonst müßten sie nicht permanent belogen werden. Der Weg zum Guten und zur wahren Natur, den die Politeia einschlägt, liegt nun interessanterweise weder in der Zwingherrschaft noch in der Belehrung für alle. Beide Methoden wären von Mißerfolg gekrönt. Die faktische und unvollkommene Natur ist nicht mit Gewalt zu bezwingen, aber auch nicht durch Belehrung aus der Welt zu schaffen, weshalb es m. E. unzutreffend ist, wenn etwa Reinhart Maurer den Ansatz der Politeia als „aufklärerisch" beschreibt. 30 Als Ausweg bleibt nur noch die „Überlistung" der Natur übrig, was mittels bewußter Irreführung bewerkstelligt wird. Der Philosoph agiert hier ganz und gar nicht als Aufklärer, sondern beinahe wie ein Fuchs im Sinne Machiavellis, der später seinem Principe empfehlen sollte zu lügen, wenn dieses zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft erforderlich sei. Von dieser Praxis unterscheidet sich der Philosoph der Politeia allerdings dadurch, daß er nicht um der Herrschaft als solcher willen lügt, sondern um des allgemeinen Besten willen. Resultat ist jedenfalls für die Wächter ein seltsam falsches Leben im wahren. So wie die materielle Besitzgemeinschaft, so ist auch die Frauen- und Kindergemeinschaft ein Mittel zur Herstellung und Stabilisierung der vollkommenen Einheit der Polis und damit auch des (inneren) Friedens. Diese Einheit beruht auf der Unterminierung biologischer Verwandtschafts- und Familienbeziehungen und deren Ersetzung durch ein „soziales" Verwandtschaftsmodell. Jeder Polis-Bürger soll in dem anderen einen Bruder, Vater, eine Schwester, 30
Vgl. Maurer: Piatons „Staat" und die Demokratie, S . 4 4 .
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Mutter etc. sehen und niemand den anderen als einen Fremden betrachten (vgl. Pol. 463c). Auf diese Weise entsteht ein Gemeinwesen, das einem Leibe zu vergleichen ist (vgl. Pol. 462c/d/464b). So wie der ganze Leib Schmerz empfindet, wenn einer seiner Teile schmerzt, so leidet auch die gesamte Polis, wenn eines ihrer Glieder leidet. Die Leibanalogie bedeutet in bezug auf den Einzelnen, daß er in Absonderung von der Polis zu einem funktionslosen Gebilde wird. Es gibt in der besten Polis nichts, was nicht auf die Polis selbst bezogen wäre, also nichts, was nicht politisch ist. Grenzen zwischen den Bereichen, die wir heute mittels der Termini „Privatheit" und „Öffentlichkeit" unterscheiden, existieren nicht. Solche Differenzen werden systematisch zugunsten des Öffentlichen aufgelöst. Bemerkenswert ist, daß das Verwandtschaftsprinzip in dieser Konstruktion auf einer gewissen Ebene erhalten bleibt. Die Familie, so unterschiedliche Gestalten sie historisch auch angenommen hat, wurde und wird in aller Regel wesentlich durch biologische Verwandtschaft konstituiert. Familien gehören, zumindest in grundlegenden Teilen, zum nicht öffentlichen Bereich; sie stellen eigene Verbände von Interessen dar, die neben den öffentlichen Interessen herlaufen oder sogar mit diesen kollidieren können. Familien sind deshalb aus der Sicht der Politeia ein potentieller Gefahrenherd für die Polis. Deshalb wird die biologische Verwandtschaft durch Verschweigen unwirksam gemacht. Die damit einhergehende Auflösung des Familienverbandes ist die Voraussetzung dafür, daß nunmehr eine ganze Polis nach dem Modell der Familie konzipiert werden kann. Das Familienmodell wird durch Ausdehnung aller ihm natürlicherweise innewohnenden Partikularismen entkleidet, so daß die eine Familie an die Stelle der vielen tritt. Doch hierdurch bleibt die Kernstruktur der Familie das Vorbild, nach dem die beste Polis konstruiert ist. Intensivste kollektive Bindungen, so scheint der Sokrates der Politeia zu denken, sind am besten im Bild der Familie zu repräsentieren und diesem ähnlich zu gestalten. Das Modell der Polis-Familie knüpft auf komplizierte Weise an den Geist und zum Teil auch die Praxis der griechischen Polis an und weist gleichzeitig darüber hinaus. Jener Geist beruhte auf einer sehr weitgehenden Verachtung des privaten Interessenbereiches gegenüber der Dimension des Politischen. 31 Es ist diese Verachtung, die auch in der Politeia zum Ausdruck kommt. Doch zielt das dort verfolgte Programm gerade auf die Aufhebung der strikten Trennung zwischen Privatem und Politischem ab, auf die sich eben auch die niedrige Wertschätzung des ersteren gründete. Es geht hier nicht mehr um genaue Differenzierung zwischen beiden Polen, sondern buchstäblich um die Abschaffung des einen Pols. Zumindest in den oberen Schichten, dem eigentlichen Polis-Bereich, soll es kein Privatleben mehr geben, sondern nur noch Öffentliches. Paradoxerweise geht aber dieser Versuch einer gänzlichen Eliminierung des Privaten damit einher, daß das Politische dem ursprünglich privaten Familienmodell nachgebildet wird. Hierdurch wird jedoch die intendierte Autonomie des Politischen tendenziell untergraben. Für moderne Zeitgenossen ist das Eindringen privater Kategorien in den politischen Bereich sehr viel selbstverständlicher als die genaue Trennung beider Ebenen. Das Konzept der Nation beruht geradezu auf der Verwischung solcher Trennlinien, wird doch Nation, wo immer wir ihr begegnen, als Organisationsform eines großen Familienkollektivs gedacht, das fast immer durch das Band der Brüderlichkeit konstituiert wird. Insofern verweist die Politeia bereits auf die Kategorie Nation, die manche Autoren für so spezifisch neuzeitlich halten.
Siehe hierzu etwa Arendt: Vita activa, S. 3 1 f f .
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2.5. Krieg und Feindschaft Nicht jeder mit Waffengewalt ausgetragene Konflikt gilt in der Politela als Krieg (potemos). Platon läßt Sokrates in einem längeren Monolog eine terminologische Differenzierung treffen, mittels der Unterschiede zwischen innerhellenischen Konflikten einerseits und hellenisch-barbarischen Konflikten andererseits festgelegt werden sollen (vgl. Pol. 469b-471c).' Die Regeln, die Sokrates in diesem Zusammenhang aufstellt, betreffen sämtlich die Frage, wie die Krieger der besten Polis ihre Gegner behandeln sollen. Dabei handelt es sich um die folgenden Vorschriften, die für Kämpfe zwischen Hellenen gelten sollen: 1. 2. 3. 4. 5.
Hellenen dürfen keine Hellenen versklaven (vgl. Pol. 469b/d). Die toten Krieger der Gegenseite dürfen nicht beraubt werden, außer ihrer Waffen (vgl. Pol. 469c). Die Heiligtümer des Gegners dürfen nicht durch Waffen entweiht werden (vgl. Pol. 469e/470a). Von Verwüstung des Landes und Brandschatzung der Häuser ist abzusehen (vgl. Pol. 471 a/b). Im Kampf mit Hellenen dürfen immer nur die für den Konflikt Verantwortlichen als Feinde gelten, nicht aber etwa alle Glieder einer Polis (vgl. Pol. 471 a/b).
Diese Regeln können als rudimentäre Elemente eines ius in bello zum Zweck der Hegung bewaffneter Konflikte zwischen Hellenen betrachtet werden. Auf innerhellenische Waffengänge soll nach Sokrates der Ausdruck „Krieg" (polemos) gar nicht angewendet werden, sondern vielmehr der Ausdruck „Zwist" (stasis) (vgl. Pol. 470b/c/d), der für Feindschaft zwischen Befreundeten steht. Für bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Hellenen und Barbaren gilt anderes; sie sind im eigentlichen Sinne als Kriege zu klassifizieren. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der stasis von Sokrates auf eine nicht ganz eindeutige Weise verwendet. Einerseits sollen unter diesen Begriff solche und nur solche Konflikte zwischen Griechen subsumiert werden, die nach den oben genannten Regeln ausgetragen werden. Andererseits bemerkt Sokrates, daß der Ausdruck „stasis" im damals gegenwärtigen Sprachgebrauch für jene vielen faktischen Kämpfe zwischen Hellenen stehe, die keineswegs durch die Einhaltung jener Normen gekennzeichnet waren (vgl. Pol. 470d/e), sondern durch das exakte Gegenteil. Zwischen dem platonischen normativen Konzept von stasis, das nach Piatons eigenen Kriterien empirisch leer war und dem Sprachgebrauch, den Sokrates erwähnt, ist zu unterscheiden. In beiden Fällen ist stasis nach Sokrates einer Krankheit zu vergleichen (vgl. Pol. 470c), doch wäre sie im ersten Fall im Verhältnis zum polemos eine mehr oder weniger begrenzte gewaltsame Auseinandersetzung. Im zweiten und empirisch realen Fall jedoch verschwimmen die Grenzen zwischen Krieg und Zwietracht. Wir haben es hier mit einer stasis zu tun, die einerseits mit den Mitteln eines polemos ausgetragen wird, andererseits aber im Intensitätsgrad der Feindschaft über diesen hinausreicht, weil sich hier ursprünglich Befreundete wie Todfeinde gegenüberstehen und deshalb (zumindest aus hellenischer Perspektive) Siehe zu diesem Textstück auch die Darstellung bei Barker: Greek Political Theory, S . 3 0 7 f f .
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sehr viel schlimmer ist. Um diese Form des Konfliktes zu bezeichnen, eignet sich der Ausdruck „Bürgerkrieg". Obwohl dies im Text nicht explizit wird, läßt Piaton Sokrates also eine Konflikttypologie entwerfen, deren Grundmaßstab die Schädlichkeit eines Konfliktes für Hellas darstellt. In den Nomoi differenziert der Dialogführer, der Athener, übrigens auf weniger komplizierte Weise zwischen stasis und polemos (vgl. Nom. 628 a-c; 629 d). Die stasis gilt hier als eine spezifische Form des polemos, und zwar als eine besonders schlimme. Das normative und faktisch gar nicht erfüllte Konzept von stasis, mit dem Sokrates in der Politeia arbeitet, kommt in dem Spätwerk gar nicht vor. Nur in bezug auf diese letztere Konzeption ist die Unterscheidung zwischen Krieg und Zwietracht eine absolute. Die begriffliche Unterscheidung zwischen stasis und polemos wird in der Politeia auf der Sachebene damit begründet, daß Hellenen von Natur aus einander freund und verwandt seien, Hellenen und Barbaren aber von Natur aus (physei) einander feind. Nur relativ versteckt findet man im Text den entscheidenden Hinweis darauf, daß die Kodizes zur Hegung bewaffneter Konflikte für Kriege gegen Barbaren nicht gelten sollen. Der quantitative Schwerpunkt liegt auf Aussagen darüber, wie sich Hellenen untereinander verhalten sollen. Doch Sokrates' Gesprächspartner Glaukon wirft an einer Stelle ein, daß man den Barbaren in Zukunft so begegnen müsse wie zur Zeit die Hellenen sich gegenseitig begegneten (vgl. Pol. 471b). Dieses bedeutet faktisch, daß Barbaren im Kriegsfall versklavt werden sollen, daß ihr Land verwüstet werden soll, etc. Sokrates schweigt zu der Bemerkung Glaukons, doch dieses Schweigen dürfte Zustimmung signalisieren. Auch in dem Dialog Menexenos spricht sich Sokrates dafür aus, daß Kriege gegen Barbaren bis zur Zerstörung vorangetrieben werden müßten, gegen Hellenen aber nur bis zum Sieg (vgl. Menexenos 242d). 2 Dies bedeutet sogar, daß die Gewalt gegen Barbaren selbst nach errungenem Sieg kein Ende hat, sondern fortgesetzt weiden soll. Die stasis unter Hellenen gilt als ein unbedingt zu vermeidender Zustand. Dagegen wird der Krieg gegen Barbaren nahegelegt, und zwar wohl auch in Form dessen, was wir heute als „Angriffskrieg" charakterisieren würden (vgl. Pol. 469c). 3 Dieses geschieht wiederum durch Glaukon, nicht durch Sokrates selbst. In den Nomoi gibt es eine sehr ähnliche Stelle. Dort empfiehlt der Athener, der Dialogführer, den inneren Frieden u. a. deshalb, weil sich in der Folge dann der Sinn um so mehr gegen die auswärtigen Feinde richten würde (vgl. Nom. 628b/c). Hier wie auch in der Politeia wird die Forderung nach Frieden und Konfliktbegrenzung bezüglich eines bestimmten politischen Binnenraums geradezu komplementiert durch das Postulat einer Entgrenzung von Krieg und Feindschaft nach außen. 4 Im Menexenos läßt Piaton Sokrates eine Leichenrede auf im Krieg gefallene Athener halten. Sokrates schreibt in diesem Dialog die ursprüngliche Verfasserschaft dieser Rede seiner Rhetoriklehrerin Aspasia zu. Zur Tradition solcher Grabreden und allgemein zum Menexenos siehe Wilamowitz: Piaton, S . 2 0 5 f f . Wilamowitz betont (vgl. S.207), daß die Autorschaft Aspasias von Sokrates nur vorgetäuscht wird. Bemerkungen dieses Typs werden etwa von Verdroß-Droßberg systematisch ignoriert, wenn er behauptet, Piaton habe sich für einen „humanitär-pazifistischen Rechtsstaat" stark gemacht, der eine „friedliche Zusammenarbeit mit den anderen Völkern" anstrebe und den Krieg nur als „Mittel zur Durchsetzung des Rechts" ansehe. Vgl. Verdroß-Droßberg: Antike Rechtsund Staatsphilosophie, S . 2 2 f . ; S. 11 Of. Mit der Forderung, die Hellenen sollten sich zusammenschließen und ihren kriegerischen Drang gegen Barbaren ableiten statt sich gegenseitig zu vernichten, stand Platons Sokrates
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Auf der soeben umrissenen politischen Bühne gibt es offensichtlich drei Akteure: die beste Polis, Hellas und die Völkerschaften der Barbaren. Das von Sokrates postulierte Verhältnis zwischen der besten Polis und Hellas einerseits und den Barbaren andererseits läßt sich angemessen und aufschlußreich mittels der beiden Begriffspaare innen/außen und oben/unten beschreiben, die nach Reinhart Koselleck spezifisch für die politische Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe sind. 5 Die Freund/Feind-Konstellation wird dann unterschiedlich bestimmt, je nachdem, ob man es mit Gegnern aus dem inneren und oberen oder aus dem äußeren und unteren Bereich zu tun hat. Hellas einschließlich der besten Polis soll sich als ein zu schützender und bewahrender Binnenraum konstituieren, dem gegenüber die Barbaren als ein außen gelten. Dabei sind innen und außen selbstverständlich nicht als rein räumliche Kategorien zu nehmen, sondern als normativ aufgeladene Konzepte. Es ist zu fragen, ob der hellenische Binnenraum seinerseits noch einmal einer Feindifferenzierung durch die Oppositionen oben/unten und innen/außen unterliegt. Zumindest hinsichtlich der oben/unten-Differenz gibt es hierauf keine ganz klare Antwort. Weder in der Politeia noch im sonstigen platonischen Werk finden sich deutliche Hinweise darauf, daß die beste Polis innerhalb von Hellas eine Hegemonialstellung anstreben oder daß sie etwa anderen Poleis ihre politischen Organisationsformen aufnötigen würde. Die Vision ist wohl der Tendenz nach panhellenisch, zielt aber nicht darauf ab, eine Art Reich unter der Führung der besten Polis zu gründen, sondern eher auf das Modell einer Familie von gleichberechtigten Poleis. Auf der anderen Seite ist zu vermuten, daß die vollkommene Polis allein durch ihre Existenz anderen hellenischen Gemeinwesen als Vorbild dienen würde. Im übrigen mag verdächtig stimmen, daß Sokrates sich des Erdgeborenenmythos bedient, um der besten Polis ein quasireligiöses Fundament zu verschaffen, denn die Athener benutzten die Vorstellung ihres Erdgeborenseins gerne, um eine Vorrangstellung gegenüber anderen griechischen Stämmen zu beanspruchen. Hinsichtlich des Feindbildes zwischen Hellenen gilt, daß dieses auf jeden Fall, sollte es überhaupt zum Konflikt kommen, ein grundsätzlich beschränktes ist, während für Barbaren nicht dieselben Grenzen gelten. Die beiden unterschiedlichen Feindkonzepte lassen sich folgendermaßen charakterisieren: Während der Konflikt unter Griechen partielle Ursachen hat und partielle Ziele verfolgt, z. B. die Durchsetzung von Ehre und Würde oder den Schutz einer als legitim gedachten Herrschaft, so geht es im Krieg gegen ein barbarisches Volk um die Existenz, also ums Ganze. Dementsprechend wird der Krieg bzw. der Konflikt mit Hellenen auch begrenzter und weniger erbittert geführt als der Krieg gegen Barbaren und ist dann nach Piaton nicht eigentlich ein Krieg, sondern eher das, was wir heute als „Polizeiaktion" bezeichnen würden. Im einen Fall läßt sich der Konflikt von einer beschränkt instrumentelder Politeia nicht allein. Er hätte sich dabei auch z . B . auf den Sophisten Gorgias berufen k ö n nen, den Hauptvertreter einer panhellenischen Gesinnung. Siehe hierzu Nestle: Der Friedensgedanke in der alten Welt, S. 1 6 f f . - Zum Thema Freundschaft/Feindschaft bei den Griechen vgl. auch Meier: Aischylos' Eumeniden und das Aufkommen des Politischen. Meier weist in dieser interessanten Untersuchung zur Orestie nach, daß Aischylos hier zum erstenmal mit bezug auf die Polis die Forderung aufstellte, daß die Freund/Feind-Konstellation mit der innen/außen-Relation koinzidiert (vgl. S . 2 0 9 ) . Man kann sagen, daß der Sokrates der Politeia diese Linie von Aischylos weiterführt, wobei der Innenraum von der einzelnen Polis auf g a n z Hellas ausgeweitet wird. Siehe Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe.
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len Orientierung leiten, der z u f o l g e die G e w a l t ein Mittel zur D u r c h s e t z u n g partieller Ziele ist; im anderen Falle steht der Krieg im Zeichen einer existentiellen A u f f a s s u n g . Ein Krieg unter existentiellen Vorzeichen zielt auf die W a h r u n g oder auch Herstellung der Voraussetzungen f ü r Politik im Sinne des interessegeleiteten H a n d e l n s eines Gemeinwesens. 6 Dabei wird der Barbar grundsätzlich wie ein Todfeind gedacht, so daß begrenzt instrumentelle Kriegführung gegen Barbaren nicht in Frage k o m m t . D a s Bild von Barbaren ist von der Art, daß diese durch ihr schlichtes Anderssein die Existenz von Hellas bedrohen. Bis hierher haben wir es nur mit der innen/außen-Differenz zu tun, noch nicht mit der o b e n / u n t e n - O p p o s i t i o n . D i e i n n e n / a u ß e n - R e l a t i o n m a c h t d a s B e g r i f f s p a a r Hellene/Barbar noch nicht zu e i n e m a s y m m e t r i s c h e n . Z u m i n d e s t theoretisch ist es denkbar, d a ß zwei Kollektive sich wechselseitig als existentiell f r e m d und feindlich erfahren, sich aber dennoch als Gleiche akzeptieren. D i e s e s schließt nicht aus, d a ß sich beide Seiten im b e w a f f n e t e n Konfliktfall auf existentielle W e i s e bekriegen. Eine solche K r i e g f ü h r u n g kann allein dadurch m o tiviert sein, daß das f r e m d e Kollektiv aufgrund seiner Andersartigkeit als außerordentlich bedrohlich w a h r g e n o m m e n wird. D i e W a h r n e h m u n g von Andersartigkeit u n d Bedrohlichkeit heißt j e d o c h noch nicht, d a ß d a s j e w e i l s F r e m d e a u c h als m i n d e r w e r t i g e i n g e s t u f t wird. Hierzu bedarf es der Ergänzung durch die oben/unten-Differenz. Tatsächlich ist in der hier zur Diskussion stehenden Passage an keiner Stelle ausdrücklich die Rede davon, daß die Barbaren gegenüber den Hellenen minderwertig seien. A u c h im Menexenos spricht sich Sokrates zwar für einen reinen H a ß gegen die f r e m d e barbarische Natur aus (vgl. M e n e x e n o s 245d), aber er behauptet nicht, die Barbaren hätten in irgendeiner Hinsicht einen niedrigeren Status als die Hellenen. E s gibt denn auch Autoren, welche die Position vertreten, die Griechen hätten generell ihre F e i n d e , seien diese G r i e c h e n o d e r B a r b a r e n , als e b e n b ü r t i g anerkannt. Diesen Standpunkt n i m m t etwa Christian M e i e r ein, wenn er sich f o l g e n d e r m a ß e n äußert: „Sie [die Griechen] pflegten ihre Feinde - seien sie Griechen oder Nicht-Griechen - nicht als in irgendeiner Weise minderwertig anzusehen; sie sahen sie vielmehr grundsätzlich als auf gleicher Ebene mit sich und scheuten sich vor allem nicht, sie öffentlich so darzustellen." „Selbst die Feindschaft wurde - beim Fehlen zahlreicher institutioneller Panzer - in unerhörtem Maße ernst genommen und rein politisch-militärisch aufgefaßt; der Feind war nur der andere, der die eigene Existenz bedrohte, in keiner Weise ideologisch disqualifiziert." Meiers A u f f a s s u n g läßt sich nun meiner Ansicht nach gerade in bezug auf repräsentative Philosophen der griechischen Antike g a n z u n d gar nicht generell stützen. Für Platons Politeia ist sie unzutreffend, auch w e n n es oberflächlich anders scheinen m a g . E s gibt dort implizit eine Abwertung von Nicht-Griechen gegenüber Griechen, die mit d e m Begriff der physis, genauer gesagt, der physis anthropou, z u s a m m e n h ä n g t . E s w u r d e bereits darauf hingewiesen, d a ß das p / r y m - K o n z e p t der Politeia m e h r s c h i c h t i g ist. Z u m einen gibt es die faktisch vor-
Ich übernehme hier die terminologische Differenzierung zwischen „instrumenteller" und „existentieller" Kriegsauffassung von Herfried Münkler. Siehe hierzu Münkler: Instrumentelle und existentielle Kriegsauffassung bei Carl von Clausewitz. Münkler meint mit seiner Unterscheidung jedoch noch mehr und anderes als ich an dieser Stelle damit aussagen will. Meier: Das Politische der Griechen, S.45/46. Hervorh. U.K. Meier: Aischylos' Eumeniden und das Aufkommen des Politischen, S. 152. Hervorh. U.K.
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findliche minderwertige und schlechte menschliche Natur, die im begehrlichen Element der Seele liegt und sich real in einem starken Hang zur hybris niederschlägt. Zum anderen gibt es die Norm der physis, die wahre, die weisheitliebende, wißbegierige, kurz: die philosophische Natur. Philosophische Naturen sind nun generell unter den Menschen selten, aber es existieren bestimmte Völker, in denen sich solche Naturen konzentrieren, Völker, in denen die wahre menschliche physis eher verwirklicht ist als in anderen. So sagt Sokrates an einer Stelle, daß man das Wißbegierige besonders „unseren Gegenden" zuordnen kann, womit er selbstverständlich die von Hellenen bewohnten Räume meint (vgl. Pol. 435e/436a). Nun wissen wir, daß die schlechte begehrliche physis zugunsten der besseren philosophischen Natur beherrscht werden muß. Das Begehrliche ist buchstäblich ein Feind des Philosophischen. Wenn Sokrates erklärt, daß die Hellenen den Barbaren von Natur aus (physei) feind seien (vgl. Pol. 470c), so liegt auf der Hand, daß es hier nicht um eine Feindschaft zwischen zwar existentiell fremden, aber prinzipiell ebenbürtigen Naturen geht, sondern um ein Feindschaftsverhältnis zwischen einer höheren und einer niedrigeren unvollkommenen Natur, wobei der ersteren ein legitimer Herrschaftsanspruch über die letztere zusteht. Barbaren sind von Natur aus dazu da, unterworfen und beherrscht zu werden, so wie das Begehrliche von Natur aus dazu da ist, von den beiden anderen Seelenteilen unterworfen und beherrscht zu werden. Die Analogie Begehrliches/Barbarisches findet an einer Stelle der Politela (vgl. Pol. 590c/d) eine klare Bestätigung; aus ihr geht hervor, daß die Angehörigen des erwerbstätigen Standes in gewisser Weise wie Sklaven (douloi) zu betrachten sind, insofern ihnen aufgrund ihres begehrlichen Charakters keinerlei Selbstbestimmungsrechte hinsichtlich ihres eigenen Lebens zustehen. 9 Dieses Unterwerfungsverhältnis sei, so Sokrates an dieser Stelle, auch im Interesse der Beherrschten selbst. Der Vergleich zwischen Erwerbstätigen und Sklaven ist nicht mehr als eine bloße Analogie und widerspricht daher nicht der ebenfalls in der Politela aufgestellten Forderung, daß Hellenen nicht von Hellenen versklavt werden sollten. Wohl aber ist dieser Vergleich stark genug, um vermuten zu lassen, daß Barbaren aus den gleichen Gründen tatsächlich versklavt werden dürfen und sollen, aus denen auch die Chrematisten einen sklavenähnlichen Status haben. 10 Auf jeden Fall ergibt sich aus der Politeia und anderen platonischen Schriften ein höchst philosophisches und gleichzeitig ideologieähnliches Feindkonzept gegenüber Barbaren, zu dessen Inhalten sicher nicht die Ebenbürtigkeit gehört.
Siehe hierzu auch Annas: An Introduction to Plato's Republic, S. 1 7 3 . Die Frage, ob es in der besten Polis der Politeia Sklaven gibt, ist in der Forschungsliteratur Gegenstand einer Kontroverse gewesen. Sie ist meiner Meinung nach deutlich zu bejahen, und zwar in einem doppelten Sinn. Es gibt, wie oben ausgeführt, Sklaven in einem sehr weiten Sinn des Wortes „doulos", in dem dann eben auch die Erwerbstätigen wie Sklaven anzusehen sind. Außerdem gibt es auch Sklaven, wie das klassische Athen sie kannte und als selbstverständlich nahm. Dieses geht aus einem oft übersehenen Passus hervor, und zwar aus P o l . 4 3 3 d , wo Sokrates ganz beiläufig mit Bezug auf die v o l l k o m m e n e Polis die Unterscheidung zwischen Sklaven und Freien einführt. Man muß davon ausgehen, daß es sich bei diesen Sklaven um Barbaren handelt, denn Hellenen dürfen ja nicht von Hellenen versklavt werden. Siehe zum Thema Sklaverei die ausgezeichneten Aufsätze von Vlastos: D o e s Slavery exist in Plato's Republik. und Slavery in Plato's thought. Für die Auffassung, daß es in der besten Polis keine Sklaven gebe, vgl. etwa Wild: Plato's Enemies and the Theory of Natural Law, S . 5 0 f . V l a s t o s weist mit m. E. überzeugenden Argumenten Positionen wie die von Wild als oberflächlich zurück.
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Meiers These vom agonalen Feindbild der Griechen wird im übrigen noch viel offensichtlicher durch einschlägige Passagen bei Aristoteles widerlegt. Was aus den platonischen Texten noch systematisch erschlossen werden muß, wird von Aristoteles offen behauptet. Er vertritt die Meinung, daß Barbaren von Natur aus sklavischer seien als Griechen." Barbaren verfügen seiner Ansicht nach nicht über das von Natur aus Herrschende.12 Jeder Krieg, der von Griechen gegen Barbaren geführt wird, ist daher ein von Natur aus gerechter13 und dient dazu, letzteren ihren naturgemäßen Ort zuzuweisen. Aristoteles schreibt den Barbaren auch ausdrücklich tierähnliche Eigenschaften zu und vergleicht den Krieg gegen sie mit einer Jagd.14 Ganz generell gilt für Aristoteles, daß er bezüglich der Kriegsthematik fast alle Äußerungen der platonischen Schriften in ein Extrem zuspitzt oder gar über diese hinausgeht. Es ist daher erstaunlich, daß immer wieder Piaton oder Sokrates in dessen Dialogen, aber deutlich seltener Aristoteles zur Zielscheibe der Kritik an „Militarismus" oder „Bellizismus" geworden ist. Die beiden in diesen Vorwürfen gebrauchten Termini sollen an dieser Stelle inhaltlich gefüllt werden, um alsdann ein letztes Mal zu zeigen, daß die entsprechende Kritik auf die Politeia nicht zutrifft. Man kann den Militarismusbegriff 15 in einem präzisen und einem weniger präzisen Sinn auffassen. In einem genauen Sinn ist eine Haltung dann militaristisch, wenn sie es befürwortet, daß die Institution des Militärs oder Teile dieser Institution in einem politischen Verband unmittelbar die politische Herrschaft ausüben. Eine praktische Umsetzung dieser Position liefe dann auf ein Militärregime hinaus. In einer weiteren Bedeutung ist eine Haltung dann militaristisch, wenn sie Militärs und militärischen Tüchtigkeiten einen außerordentlich hohen und politisch relevanten Status beimißt. Eine solche Auffassung muß nicht unbedingt mit der Forderung einer unmittelbaren Militärherrschaft verbunden sein. Die in der Politeia anvisierte beste Polis ist nicht „militaristisch" in einer dieser beiden Dimensionen. In der vollkommenen Polis sind die Philosophen zwar auch Krieger, aber sie herrschen letztlich als Philosophen. Der Wächterstand und die mit ihm verbundenen Tüchtigkeiten werden zwar hoch geschätzt und als politisch überaus wichtig angesehen, aber sie gelten nicht als die höchsten, sondern haben explizit eine dienende Funktion. Schon Maurer hat im Anschluß an Verdroß-Droßberg darauf hingewiesen, daß bei Piaton die ursprüngliche „aristokratische Kampfesethik" in eine „bürgerliche Adelsethik" transformiert wird, innerhalb derer die Tapferkeit nicht mehr die oberste Kardinaltüchtigkeit darstellt. 16 Der Begriff des Bellizismus ist etwas schwieriger zu bestimmen als derjenige des Militarismus, weil durch ihn nicht Bezug auf eine abgrenzbare Institution genommen wird, sondern auf eine bestimmte Haltung zum Krieg. Es besteht wohl Einigkeit darüber, daß mit Belli11 12 13 14
15
16
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Aristoteles: Aristoteles: Aristoteles: Aristoteles:
Politik, ebd., 1, ebd., 1, ebd., 1,
3, 2, 8, 7,
14, 1285 a. 1252 a/b. 1256 b. 1255 b.
Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß die Debatte um die Abgrenzung ziviler und militärischer Kompetenzen wie auch der Militarismusbegriff historisch neueren Datums sind. Erst im 18. Jahrhundert kommt es zu einer verstärkten Konfrontation von zivilem und militärischem Bereich. Der Ausdruck „Militarismus" kommt vermehrt erst nach der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Siehe Maurer: Platons „Staat" und die Demokratie, S.60. Vgl. Verdroß-Droßberg: Antike Rechts- und Staatsphilosophie, S. 8 1.
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zismus eine irgendwie geartete Wertschätzung des Krieges verknüpft ist, und man ist intuitiv geneigt zu formulieren „des Krieges als solchem". Diese Intuition kann vielleicht durch den folgenden Erklärungsversuch eingefangen werden: Bellizistisch ist eine Haltung, die einem bestimmten Krieg oder gar dem Krieg schlechthin eine Wertschätzung entgegenbringt, wobei der Frieden als oberstes Ziel des Krieges nicht berücksichtigt wird oder zumindest aus dem Blickfeld rückt. In diesem Sinne bellizistische Auffassungen kommen in der Geschichte der politischen Ideen verstärkt seit Ende des 18. Jahrhunderts auf. Der Bellizismus schlägt sich in gewissen Varianten (nicht in allen) der existentiellen Kriegsauffassung nieder, und zwar in Konzeptionen, nach denen der Krieg oder wenigstens ein bestimmter Krieg ein Mittel zur Selbsterfahrung oder Selbststeigerung von einzelnen Menschen und/oder Kollektiven ist. Wir wollen einige charakteristische Textbeispiele für Positionen dieses Typs anführen, um anschließend beurteilen zu können, ob und wieweit diese an das Gedankengut der Politela anschließbar sind: „Ein Volk, welches die Freiheit nach zehn Jahrhunderten der Sklaverei erobert hat, braucht den Krieg. Es braucht den Krieg, um sie zu befestigen; es braucht ihn, um sie von den Lastern des Despotismus zu reinigen; es braucht ihn, um aus ihrem Schöße die Menschen verschwinden zu lassen, welche sie verderben könnten." „Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich, und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war, und sich mutig darunter hat behaupten können: da hingegen ein langer Friede den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen, und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt." 18 „Der Krieg als der Zustand, in welchem mit der Eitelkeit der zeitlichen Güter und Dinge, die sonst eine erbauliche Redensart zu sein pflegt, Ernst gemacht wird, ist hiermit das Moment, worin die Idealität des Besonderen ihr Recht erhält und Wirklichkeit wird; - er hat die höhere Bedeutung, daß durch ihn (...) die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen das Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Ruhe, wie 19 die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Friede, versetzen würde." „Im Frieden dehnt sich das bürgerliche Leben mehr aus, alle Sphären hausen sich ein, und es ist auf die Länge ein Versumpfen der Menschen; ihre Partikularitäten werden immer fester und verknöchern. Aber zur Gesundheit gehört die Einheit des Körpers, und wenn die Teile in sich hart werden, so ist der Tod da." „Kurzum, ich fand, daß alle großen Nationen, was sie nur je an Wahrheit des Worts und Schärfe des Denkens erlernten, im Kriege gelernt haben; daß sie ihre Nahrung aus dem Kriege schöpften und im Frieden vergeudeten, daß sie durch den Krieg belehrt, durch den
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Auszug aus Brissots Rede im Jakobinerclub. Zitiert nach Gerhard Ritter: Revolution der Kriegführung und der Kriegspolitik, S . 2 9 1 . Kant: Kritik der Urteilskraft, §28, S. 1 87. Hegel: Rechtsphilosophie, §324, S . 4 9 2 / 9 3 . Hegel: Rechtsphilosophie, §324, Zusatz, S.493.
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K R I E G U N D K R I E G E R IN P L A T O N S POLTTEIA
Frieden getäuscht, durch den Krieg erzogen und durch den Frieden betrogen wurden - mit einem Wort, daß sie geboren im Kriege, im Frieden verhauchten." 21 „Einen Europäer umbringen heißt zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen (...) Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch." 2 2
Diese Liste ließe sich beinahe beliebig verlängern.23 Keiner der zitierten Autoren soll hier kursorisch als „Bellizist" klassifiziert werden; wohl aber belegen die angeführten Textstellen bellizistische Tendenzen und Aspekte ihres Denkens in dem soeben erläuterten Sinn von „Bellizismus" .24 Alle Textauszüge haben gemeinsam, daß der Friede entweder gar nicht in ihnen vorkommt oder aber explizit negativ bewertet wird, jedenfalls dann, wenn er „zu lange" dauert. Auch ist auffällig, daß das, was dort vom Krieg erwartet wird, mittels einer Zweck/Mittel-Relation im üblichen Sinn nicht mehr faßbar ist.25 Es fehlt das kalkulierende Element, das wir zwangsläufig mit dem Zweck/Mittel-Verhältnis verbinden. So geht es an keiner Stelle etwa darum, ein eigenes oder fremdes Territorium gegen Angriffe zu verteidigen oder darum, ein Gebiet angriffsweise durch Krieg zu erobern, was immerhin ein nachvollziehbarer Zweck ist, auch nicht darum, die eventuelle politische Unterwerfung eines Kollektivs zu verhindern. Was hier anvisiert wird, ist etwas anderes. Es geht um Selbstfindung, Selbsterhöhung, Selbstbefreiung etc. von Individuen und/oder Völkern bzw. Nationen, also in irgendeiner Weise um das, was heute oft mit dem Begriff der Identität zu erfassen versucht wird. Identität ist nun etwas, was sich mittels des Zweckbegriffs nicht sinnvoll erklären läßt. Ein Kaufmann kann sich den Zweck setzen, seinen Gewinn zu erhöhen, und er weiß dabei sehr genau, was er sich unter einem höheren Gewinn und unter Gewinn überhaupt zu denken hat. Es scheint jedoch, als könne sich weder ein Individuum noch ein Kollektiv zum Zweck
Ruskin: The Crown of Wild Olive. Zitiert nach Huizinga: Homo Ludens, S. 104. Sartre: Vorwort zu Fanon. Zitiert nach Arendt: Macht und Gewalt, S. 17. 23
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Als bellizistisch in dem erörterten Sinn läßt sich z.B. auch ein großer Teil der sog. „Ideen von 1914" einstufen, in deren Rahmen etwa Max Scheler von der „Existentialisierung einer Nation im Krieg" sprach. Siehe Scheler: Der Genius des Krieges. Zu den „Ideen von 1 9 1 4 " siehe Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland S. 1 7 3 f f . Dieses gilt eben selbst für Kant, den Autor des Traktats zum Ewigen Frieden. Kant hat einerseits den Krieg aus moralischer Perspektive verurteilt, ihn als „Geißel des menschlichen Geschlechts", als „Zerstörer alles Guten" und als „das größte Hindernis des Moralischen" bezeichnet. Andererseits erfüllt nach Kant dennoch der Krieg bestimmte positive Funktionen hinsichtlich des historischen Fortschritts. Siehe hierzu Eisler: Kant-Lexikon, S . 3 1 I f f . Kants Auffassung des Krieges wäre einer detaillierteren Untersuchung zu unterziehen als es in diesem Zusammenhang möglich ist. Leider scheint sich die Kant-Forschung vorwiegend auf Kants Theorie des Friedens zu konzentrieren. Vermutlich ist es sinnvoll, bei Kant zwischen einer moralphilosophischen, einer geschichtsphilosophischen und einer ästhetischen Perspektive auf den Krieg zu unterscheiden, aus denen jeweils unterschiedliche Bewertungen resultieren. Hier ist das „im üblichen Sinn" zu betonen. Kant etwa ordnet den Krieg sehr wohl in eine Zweck/Mittel-Relation ein. Er faßt ihn als ein Mittel der Natur auf, neue und bessere Staatenverhältnisse zu befördern. Aus kantischer Perspektive erscheint der Krieg paradoxerweise letztlich als ein Mittel der weitgehenden Befriedung menschlicher Verhältnisse. Diese Zweck/Mittel-Beziehung hat jedoch mit den Absichten der handelnden Menschen gar nichts zu tun, sondern ist diesen, gleichsam wider ihren Willen, durch die Natur aufgepfropft.
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setzen, seine Identität zu finden, würde es sich hier doch um einen Zweck handeln, den man gar nicht kennt, denn sonst müßte man ihn nicht erst finden.26 Ähnlich verhält es sich mit Selbsterhöhung, Selbstbefreiung usw. Man weiß hierbei nie, was man erreichen will, nur daß man etwas erreichen will. Dem Begriff eines Zweckes widerspricht es aber, den Zweck gar nicht zu kennen. Die hier zitierten Autoren vertreten eine existentielle Kriegsauffassung in einem Sinn, der fundamentalistischer ist als alles, was Piaton jemals ins Auge faßte. Am pragmatischsten scheint noch Brissot zu sein, schwingt in seiner Kriegsrede doch die Idee eines Friedens in Freiheit im Hintergrund mit. Auch kommt im Brissot-Zitat viermal die Wendung „brauchen, um ... zu" vor. Doch der pragmatische Eindruck ist oberflächlich. Offensichtlich soll hier eine noch kaum vorhandene nationale Identität durch Krieg „gefestigt" und „gereinigt" und bestimmter Menschengruppen entledigt werden. Ein ursprüngliches Sklavenvolk soll sich endgültig seines sklavischen Bewußtseins entledigen. Es wird nicht wirklich ein definitives Ziel genannt. So weiß man nicht, wann die Befestigung der Freiheit zu Ende sein wird, wieviel Krieg notwendig sein wird, um den Reinigungsprozeß zu beenden. Man weiß überhaupt nicht, wie sich die Freiheit jenes politischen Körpers im kriegerischen Verlauf gestalten wird. Diese Freiheit ist noch keine fixe politische Größe und bedarf eben deshalb aus der Sicht Brissots der Bestätigung durch den Krieg. Kant und Hegel wenden sich offenbar gegen jedes Kalküldenken. 27 Durch den Krieg werden „bloßer Handelsgeist" und „niedriger Eigennutz" überwunden. Bei Hegel ist der Krieg gar ein Förderer der „sittlichen Gesundheit" der Völker und eine Kraft des Lebens, während der Frieden als ein tendenziell lebens- und leistungsfeindlicher Zustand begriffen wird. Das Sartre-Zitat nimmt eine gewisse Ausnahmestellung ein, da hier von Gewalt im allgemeinen und nicht speziell von Krieg die Rede ist. Aus Sartres Aussage folgt aber zwangsläufig, daß ein antikolonialer Krieg als ein Medium der Selbstbefreiung und Selbstfindung der kolonisierten Völker begrüßt würde.28 Es gibt gewisse Unterschiede zwischen Brissot und Sartre einerseits und dem Rest der zitierten Autoren. Die beiden erstgenannten würden nicht jeden Krieg begrüßen, sondern nur bestimmte Typen von Krieg, so etwa Brissot den Revolutionskrieg der französischen Nation gegen die reaktionären Kräfte Europas und Sartre den Antikolonialkrieg. Kant, Hegel und Ruskin sprechen dagegen fast undifferenziert vom Krieg schlechthin. Auch dieses muß man noch einschränken. Kant spricht sich immerhin dafür aus, daß im Krieg die Regeln eines ius in bello einzuhalten sind. Ein Krieg, der gegen die „Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte" geführt würde, könnte demnach nichts „Erhabenes" an sich haben. Zu Ruskin muß man wissen, daß er in demselben unter dem Eindruck des amerikanischen Bürgerkrieges gehaltenen Vortrag sein Lob des Krieges dann doch erheblich einschränkt, indem er dem Krieg von 1865 nur noch Verabscheuung zuteil werden läßt. 29 Er differenziert zwischen dem Zu erwähnen ist, daß dieses Argument gegen die bellizistischen Identitätserwartungen an Krieg gerade nicht platonisch ist. Der Dialog Menon stellt exakt die Frage, ob man suchen kann, was man nicht kennt (vgl. Menon 80d/e). Diese Frage wird von Sokrates eben positiv beantwortet, und zwar mittels der Wiedererinnerungslehre. Zu Kant und Hegel im Vergleich siehe Siep: Kant and Hegel on Peace and International Law. Der Aufsatz führt zwar den Ausdruck „Frieden" im Titel, berücksichtigt und untersucht aber selbstverständlich auch das Kriegsdenken der beiden Autoren. Für eine scharfe Kritik an Sartres Auffassung der Gewalt und verwandten Positionen siehe Arendt: Macht und Gewalt, bes. S. 1 6 f f . Vgl. Ruskin, zitiert nach Huizinga: Homo Ludens, S. 104.
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eigentlich schöpferischen Krieg und dem modernen, der dies nicht mehr sei. Bei Hegel handelt es sich dann um eine Feier des Krieges als solchem. Dabei rückt gänzlich aus dem Blickfeld, daß in jedem Krieg bestimmte konkrete Feinde bekämpft werden müssen. Von diesem Umstand wird abstrahiert, was Hegel dann wieder mit Kant und Ruskin verbindet. So spielt denn auch Haß gegen einen Feind, wie auch immer er motiviert sein mag, bei jenen Autoren keine Rolle, während Brissot und Sartre sich wesentlich von Haß inspirieren lassen. Zumindest in dieser Hinsicht steht der Bellizismus der ersten Autorengruppe noch in der Tradition der europäischen Völkerrechtsvorstellungen des 18. Jahrhunderts, während Brissot und Sartre an die Kriegsvorstellungen der französischen Revolution anknüpfen, die eben mit dem Geist jenes Völkerrechts brachen.30 Weder in Platons Politela noch in den anderen platonischen Schriften finden sich nun bellizistische Positionen in dem oben erläuterten und veranschaulichten Sinn. Nirgendwo gibt es die Idee, der Krieg sei deshalb zu begrüßen, weil er den einzelnen Menschen oder ein Kollektiv über den banalen Alltag erhebt und hierdurch „identitätsstiftende" Funktionen ausübt. Es gibt vielleicht einen verhältnismäßig schlichten Grund dafür, warum Gedanken dieses Typs antiken Autoren generell fremd waren. In der Antike waren Krieg und gewaltsame Auseinandersetzungen so sehr an der Tagesordnung, daß gewaltsame Konfliktaustragung von den Menschen zwar immer noch als Nicht-Alltag empfunden wurde, aber auch nicht wirklich als Ausnahme gedacht werden konnte, weil sie faktisch eher die Regel war. Wo aber der Krieg selbst zur alltäglichen Erfahrung wird, da wird man an ihn nicht die Erwartung knüpfen, daß er Menschen über den Alltag hinausführt. Bellizistische Auffassungen gehen aber grundsätzlich vom Krieg als Ausnahme aus, was schon in ihrem Bedauern darüber zum Ausdruck kommt, daß der Friede zu wenig durch Kriege unterbrochen wird. So paradox es klingen mag, bellizistische Positionen sind historisch vermehrt erst am Ende eines Jahrhunderts aufgekommen, in dem Kriege weniger geworden waren und die Zivilbevölkerung von ihnen zwar nicht unberührt blieb, aber dennoch geschützter war als vorher. Hierdurch konnte der Krieg als echte Ausnahmesituation begriffen werden. Der zweite entscheidende Faktor, dadas Aufkommen von Bellizismen begünstigte, war dann der Bruch, den die Französische Revolution herbeiführte. Fortan konnten Krieg und Nationbildung zusammengedacht werden. Möglich wurde die Perspektive auf den Krieg als Gebärerin der Völker. Nur auf dieser Grundlage wird der Wunsch nach mehr Krieg geschichtlich verständlich, dem sich dann auch dezidierte Antirevolutionäre wie etwa Jacob Burckhardt anschlossen. Eine revolutionäre Erfahrung in dem Sinn, den wir seit der Französischen Revolution damit verbinden, ist nun der Antike genauso fremd geblieben wie lange Zeit auch die Erfahrung eines wirklich dauerhaften Friedens. Nirgends gibt es das Konzept eines umfassenden Fortschritts hin zu einer ganz neuen und besseren Zukunft.3' Es findet sich nicht nur keinerlei Pathos des Neuen,32 sondern Zu den völkerrechtlichen Konsequenzen des französisch revolutionären Gedankengutes über Krieg und Frieden vgl. Schnur: Weltfriedensidee und Weltbürgerkrieg 1 7 9 1 / 9 2 . Der Autor analysiert in diesem Artikel als paradigmatische Beispiele revolutionären Denkens die Auffassungen des preußischen Adligen niederländischer Herkunft Anarchasis Cloots und des oben zitierten französischen Girondisten Jacques-Pierre Brissot. - Zu demselben Themengebiet Martens: Völkerrechtsvorstellungen der Französischen Revolution in den Jahren
1789
vgl. bis
1793. Z u m K o m p l e x Antike und Revolution siehe Janssen: Artikel „Krieg", S . 6 6 2 . - Zur Diskussion darüber, ob es in der Antike einen Fortschrittsbegriff gegeben hat vgl. Meier: Ein anti-
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in aller Regel herrscht eine negative Einstellung gegenüber dem Neuen v o r . " S o ist j a auch die beste Polis der Politeia nicht als Neugründung konzipiert, sondern als Herstellung einer göttlich vorgezeichneten rechten Ordnung, die als paradeigma e w i g existiert. 3 4 Mit diesem Mangel an „revolutionärem B e w u ß t s e i n " hängt es engstens z u s a m m e n , daß G e w a l t und Krieg im allgemeinen als Mittel zum beschränkten Zweck aufgefaßt wurden, w e i l man sich andere „Zwecke" nicht denken konnte. Dies bedeutet ganz und gar nicht, daß reale bewaffnete Konflikte stets „rational" verlaufen wären. Allein die Geschichte des Peloponnesischen Krieges belehrt uns über das Gegenteil. Gleichzeitig können wir aber auch am Werk des Thukydides, des großen Historikers j e n e s Krieges, ablesen, w i e s o l c h e Entwicklungen bewertet wurden: mit unverhohlenem Bedauern. Im Rahmen der Beschreibung des Bürgerkrieges in Kerkyra im Sommer 427 formuliert Thukydides folgenden zitierenswerten Passus: „So tobten also Parteikämpfe in allen Städten, und die etwa erst später dahin kamen, die spornte die Kunde vom bereits Geschehenen erst recht zum Wettlauf im Erfinden immer der neuesten Art ausgeklügelter Anschläge und unerhörter Rachen. Und den bislang gültigen Gebrauch der Namen für die Dinge vertauschten sie nach ihrer Willkür: unbedachtes Losstürmen galt nun als Tapferkeit und gute Kameradschaft, aber vordenkendes Zögern als aufgeschmückte Feigheit, Sittlichkeit als Deckmantel einer ängstlichen Natur, Klugsein bei jedem Ding als Schlaffheit zu jeder Tat; tolle Hitze rechnete man zu Mannes Art, aber be-
kes Äquivalent des Fortschrittsgedankens. Meier weist hier nach, daß es im Zeitraum des 5 . Jahrhunderts in Athen wohl ein Modernitäts- und Verbesserungsdenken gegeben hat, das v o n ihm als „auxesis-Bewußtsein" bezeichnet wird. Dieses hat nach Meier jedoch mit dem modernen Fortschrittsbewußtsein nichts zu tun, das stets einen g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n Hintergrund habe und sich auf die Erwartung eines umfassenden gesellschaftlichen, politischen und moralischen Wandels beziehe. Das „Könnens-Bewußtsein" des 5 . Jahrhunderts sei dagegen erfahrungsorientiert gewesen und habe sich auf faktische oder als machbar gedachte konkrete Verbesserungen in einzelnen Lebensbereichen bezogen, wie z.B. dem handwerklichen, dem künstlerischen, aber auch dem militärischen und politischen. Man habe nicht an „den" Fortschritt gedacht, sondern an einzelne Verbesserungen und diese niemals zugunsten „objektiver Tendenzen" von den Akteuren abgelöst, durch die sie bewerkstelligt wurden. Zum Pathos des Neubeginns siehe Arendt: Über die Revolution, S.40. Die Autorin vertritt die Meinung, daß ohne dieses Pathos grundsätzlich nicht von einer Revolution oder von revolutionärem Bewußtsein die Rede sein kann. So heißt es bei Karl Reinhardt über das antike Verhältnis zum Neuen: ,„Neu' eignet sich nicht als Parole (...) ,Neu' ist Einspruch von konservativer Seite. ,Neu' ist fast schon .unerhört'. Man tut es, aber man rühmt sich dessen nicht. Im Gegenteil, das Neue rechtfertigt sich gern als Altes. Sogar die Sophistik legitimiert sich als uralt." Zitiert nach Meier: Das „KönnensBewußtsein" des 5. Jahrhunderts bei den Griechen, S.451. Meier relativiert diese Aussagen zumindest für den Zeitraum des 5. Jahrhunderts, wobei sich seine Untersuchungen hauptsächlich auf Athen beziehen. Dieser Punkt wird häufig von denjenigen übersehen, welche die politischen Entwürfe der Politeia als „revolutionär" empfinden, wie z.B. Julia Annas. Siehe Annas: An Introduction t o Plato's Republic, S. 9. Wer solche Etikettierungen benutzt, sollte zumindest erwähnen, daß er den Revolutionsbegriff nicht in dem neuzeitlichen Sinne benutzt, wie er seit der Französischen Revolution üblich geworden ist. Mir scheint, daß sich das platonische politische Philosophieren Klassifizierungen mittels Termini wie „revolutionär", aber auch „konservativ" entzieht.
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hutsames Weiterberaten nahm man als ein schönes Wort zur Verbrämung der Abkehr. Wer schalt und eiferte, galt immer für glaubwürdig, wer ihm widersprach, für verdächtig. Tücke gegen andere, wenn erfolgreich, war ein Zeichen der Klugheit, sie zu durchschauen war erst recht groß, wer sich aber selber vorsah, um nichts damit zu tun zu haben, von dem hieß es, er zersetze den Bund und zittere vor den Gegnern. Kurz, bösem Plan mit bösem Tun zuvorzukommen brachte Lob, auch den noch Arglosen aufzustiften. Dann entfremdeten sich die Verwandten über all den Bünden, die so viel rascher bereit waren, ohne Zaudern zuzuschlagen. Denn nicht mit den gültigen Gesetzen waren das Vereine zu gegenseitiger Hilfe, sondern gegen die bestehende Ordnung solche der Raffgier. Untereinander verbürgte ihnen die Treue weniger das göttliche Recht als gemeinsam begangenes Unrecht. Ein edelmütiger Vorschlag von den Gegnern fand Eingang aus zweckmäßiger Vorsicht, wenn diese überlegen waren, und nicht aus schönem Vertrauen. Sich wiederzurächen am andern war mehr wert, als selber verschont geblieben zu sein. Eide, falls noch irgendein Vergleich auf die Art bekräftigt wurde, waren geleistet in der Not, wenn beide sich nicht mehr anders zu helfen wußten, und galten für den Augenblick; wer aber bei günstiger Gelegenheit zuerst wieder Mut faßte, wenn er eine Blöße entdeckte, der nahm seine Rache lieber durch Verrat als in offenem Kampf, einmal zu seiner Sicherheit und dann, weil der ertrogene Triumph ihm noch den Siegespreis der Schlauheit hinzugewann. Denn im allgemeinen heißt der Mensch lieber ein Bösewicht, aber gescheit, als ein Dummkopf, wenn auch anständig; des einen schämt er, mit dem andern brüstet er sich." 35 Diese Formulierungen hätten sehr wohl auch aus der Feder Platons stammen können, auch wenn Piaton von einer Thukydides ganz fremden ontologisch-metaphysischen Grundlage ausgeht. Betrachtet im Lichte der platonischen Unterscheidung von stasis und polemos, beschreibt Thukydides hier die denkbar verderblichste Form der gewaltsamen Auseinandersetzung: die regellos ausgefochtene stasis, den Bürgerkrieg. Im Unterschied zu Piaton analysiert Thukydides auch, wie und warum Kämpfe dieser Art gerade aufgrund der gegenseitigen Bekanntschaft und Vertrautheit der befeindeten Parteien zu besonders perfiden und subtilen Varianten der Konfliktaustragung führen. Zu nennen sind hier vor allem seine scharfsinnigen Beo b a c h t u n g e n zur Veränderung der S e m a n t i k v o n W o r t e n in Krisensituationen, Transformationen, deren gefährliche Sprengkraft erst auf der Grundlage einer bereits ausgebildeten Sprachgemeinschaft verständlich wird. Was Thukydides 36 beklagt, ist das Fehlen einer echten Zweck/Mittel-Rationalität und deren Substitution durch eine Art Pseudo-Vernünftigkeit. Thukydides beschreibt eine Situation, in der den am Konflikt Beteiligten jeder Gedanke an ein Ende des Konfliktes abhanden gekommen ist. S o fehlt denn auch Vernünftigkeit i m Sinne längerfristigen Planens, an deren Stelle der kurzfristige (vermeintliche) Vorteil getreten ist. Von Thukydides werden Raffgier und im weiteren Textverlauf auch Herrschsucht, Ehrgeiz und Ungestüm beklagt. Keineswegs zu Unrecht hat man bei dieser Schilderung den Eindruck eines Vorgriffs auf das Hobbessche Modell des bellum omnium contra omnes. Was Thukydides allerdings nicht schildert, sind Menschen, die sich in bellizistischer Manier v o m gewaltsamen Konflikt eine Art Selbstfindung erhoffen. Haltungen dieses Typs wären diesem Autor wohl als eine bislang unbekannte und gesteigerte Form von Hybris erschienen.
35
Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, III, 82. Zum Werk des Thukydides vgl. den ausgezeichneten Sammelband von Heiter (Hrsg.): Thukydides.
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Auf Aristoteles treffen im übrigen die Vorwürfe des „Militarismus" und „Bellizismus" ebenfalls nicht zu. Aristoteles betont ausdrücklich, daß der Krieg um des Friedens willen da ist37 und nicht umgekehrt, und er legt Wert auf die Bemerkung, daß man im Kriege gerecht und besonnen sein müsse. 38 Wenn man allerdings der Meinung ist, die erwähnte Kritik sei auf die platonischen Schriften anwendbar, dann muß man wohl erst recht der Ansicht sein, daß Aristoteles durch sie getroffen wird. Erst dieser verglich Barbaren ausdrücklich mit Tieren,39 und erst dieser behauptete offen, was bei Piaton nur implizit ist, daß es Menschen gibt, die es wert sind, versklavt zu werden. 40 Auch erklärt Aristoteles den Krieg nicht nur deskriptiv, sondern auch zustimmend als einen Teil der Erwerbskunst, 41 die man im Hinblick auf solche Menschen ausüben müsse, die zum Beherrschtwerden von Natur geschaffen sind, sich aber nicht beherrschen lassen wollen. Dem Konzept der besten Polis, wie es in der Politela entwickelt wird, widerspricht es aber, aus materiellen Gründen Krieg zu führen. Bezüglich der Barbaren steht nicht das Erwerbskalkül, sondern der Haß gegen die „fremde Natur" im Vordergrund, um es in der Terminologie des Menexenos auszudrücken. Kommen wir auf die Begriffsfigur Hellene/Barbar zurück. Es ist bislang gezeigt worden, daß dieses Begriffspaar, so wie es in der Politeia verwendet wird, im Sinne Kosellecks ein asymmetrisches ist. Es enthält als Komponenten sowohl die innen/außen- als auch die oben/unten-Opposition. Das mit Hellenen verbundene Feindkonzept ist, so hat sich erwiesen, ein grundsätzlich beschränktes. Es ist nun weiter zu fragen, wie umfassend das auf die Barbaren gerichtete Feindbild ist. Handelt es sich hier um ein „totales" Feindbild in dem Sinn, daß es auf die vollständige Vernichtung des Fremden und Anderen abzielt oder diese zumindest als Möglichkeit in den Blick rückt? Auch diese Frage schließt an Reinhart Koselleck an, der sie in dem bereits erwähnten Aufsatz für die gesamte griechisch-römische Antike negativ beantwortet. Kosellecks Ausführungen sollen hier durch einige speziell auf die Politeia bezogenen Überlegungen ergänzt werden. Das auf die Barbaren gemünzte Feindbild kann aus folgenden Gründen kein totales sein: Man muß bei der Auslegung der Politeia prinzipiell in Analogien denken. So ist die Lebensform der Barbaren dem begehrlichen Seelenteil in uns analog. In übertragener Terminologie läßt sich sagen, daß das Begehrliche „das Barbarische in uns" ist. Die Analogie ist aufschlußreich, denn sie setzt eine partielle Identifizierung mit dem Barbarischen voraus, wenn auch eine mit negativ wertenden Vorzeichen. Jede menschliche Seele, auch die hellenische, trägt den Barbaren in sich. Mehr noch, vom Begehrlichen gibt es nach Sokrates in jeder Seele am meisten (vgl. Pol. 442a). Piatons Sokrates wußte sehr wohl, daß man die Menschen ausrotten müßte, wollte man das Begehrliche und Barbarische vernichten. So geht es denn auch beim innerseelischen Kampf gegen das Begehrliche nicht um Ausrottung, sondern um Beherrschung, Kontrolle, Unschädlichmachung. Entsprechendes gilt dann auf der Ebene des Gemeinwesens für den Umgang mit der Schicht der Erwerbstätigen. Diese sollen ja nicht physisch eliminiert werden, sondern vielmehr das ökonomische und unpolitische Fundament der Polis darstellen. Ohne die Erwerbstätigen könnte die beste Polis nicht existieren. Die niedere Natur ist Voraussetzung und Grundlage für die
37 10
39 40 41
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Aristoteles: Aristoteles, Aristoteles: Aristoteles: Aristoteles,
Politik, 7, 14, 1333 a/b. ebd., 7, 15, 1334 a/b. Nikomachische Ethik, 7, 1, 1145 a. Politik, 7, 14, 1333 b/1334 a. ebd., 1, 8, 1256 b.
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Entwicklung der höheren und besseren. Diese Perspektive gerät in der Politeia nicht aus dem Blick, so abwertend die Äußerungen über das Begehrliche auch sein mögen. Der Mythos der drei Stände beinhaltet sogar, daß Gold und Silber mit Eisen und Erz auf brüderliche Weise verwandt sind. So gilt denn auch für die Barbaren, daß die Gewalt gegen sie dort ein Ende hat, wo sie sich endgültig unterwerfen. Der Gedanke, es könne eine Art von Menschen geben, mit denen Hellenen grundsätzlich nicht die Erde teilen können und die daher aus Prinzip zu eliminieren sind, kommt in der Politeia nicht vor. Die Fremden werden in aller Negativität als solche anerkannt, und zwar so, daß der Hellene im Barbaren immer auch die äußere Gestalt des Feindes in sich selbst sehen kann. Die relative Begrenztheit des mit den Barbaren verknüpften Feindbildes wird noch deutlicher, wenn man als moderne Kontrastfolie etwa eine Formulierung wie die folgende heranzieht: „Auf, Proletarier! Zum Kampf! Es gilt, eine Welt zu erobern und gegen eine Welt anzukämpfen. In diesem letzten Klassenkampf der Weltgeschichte um die höchsten Ziele der Menschheit gilt dem Feinde das Wort: Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust!"42
Hier handelt es sich um die Schlußsätze des im Januar 1919 in Berlin verabschiedeten Programms der Kommunistischen Partei Deutschlands, das von Rosa Luxemburg verfaßt worden war. Dieses Programm enthält übrigens auch andere Aussagen als diese martialische Aufforderung, ζ. B. eine Absage an Terror, die sich allerdings höchst widersprüchlich zu den oben zitierten Sätzen verhält. Luxemburg hat den Kampf um den Sozialismus, von dem hier die Rede ist, gleichzeitig als den „gewaltigsten Bürgerkrieg" aufgefaßt, den die „Weltgeschichte" je gesehen hat.43 Nun ist ein Parteiprogramm kein Hauptwerk der politischen Philosophie, und wir wissen nicht, wie eine Streitschrift aus Platons Feder auf einem entsprechenden Niveau ausgesehen hätte. Nach allen bisherigen Überlegungen können wir jedoch sicher sein, daß sie sehr anders ausgefallen wäre, und dies nicht nur, weil Piaton die moderne Kategorie des Industrieproletariers unbekannt war. Luxemburg zeigt sich überzeugt, daß höchste politische Ziele der Menschheit zum damaligen Zeitpunkt durch einen weltweiten Bürgerkrieg erreichbar seien. Dem Sokrates der Politeia dagegen sind stets Zweifel an der Realisierbarkeit der besten Polis überhaupt präsent, und er sagt, daß diese nur annähernd umgesetzt werden kann. Schon gar nicht kann es ein Regime wie die vollkommene Polis für die ganze Menschheit geben; ein solches Regime wird nicht einmal für ganz Hellas, sondern zunächst einmal nur innerhalb von Hellas anvisiert. Sokrates faßt für die Umsetzung der besten Polis einen Zeitraum ins Auge, der Generationen umfaßt. Zwar kommt dem (äußeren und räumlich begrenzten!) Krieg in dem Transformationsprozeß hin zur vollkommenen Polis eine wichtige Rolle zu; er spielt diese Rolle jedoch nicht unmittelbar als Kampf für das Gute, sondern er wird von Philosophen auf listige Weise zur Heranbildung eines Kriegerstandes genutzt, der dann zum Träger von Werten wird, die zumindest dem Eroberungskrieg entgegengesetzt sind. Im Vergleich zur „materialistisch" fundierten Programmschrift zeigt die „idealistische" Politeia ein Maximum an politischem Realismus und Augenmaß. Ähnliches gilt nun auch für die unterschiedlichen Feindmodelle. Dem Parteiprogramm zufolge gibt es
Schluß des Programms der kommunistischen Partei Deutschlands 1919. Zitiert nach Hermann Weber (Hrsg.): Der deutsche Kommunismus, S . 4 2 . Siehe hierzu Koselleck: Artikel „Revolution", S . 7 8 3 .
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offenbar zwei politische Subjekte, die Proletarier bzw. das Proletariat und die Menschheit. Diese fallen aber in gewisser Weise wieder zusammen, insofern das Proletariat die Rolle eines Repräsentanten der Menschheit spielen soll. Der eingegrenzte politische Binnenraum ist somit die gesamte Menschheit, also eigentlich etwas, was gar kein politisches Außen mehr zuläßt. Da es aber dennoch Feinde geben soll, folgt mit einiger Zwangsläufigkeit, daß es sich bei diesen um „Unmenschen" handeln muß. Diese Feinde verweigern sich den „höchsten Zielen der Menschheit" und sind daher die niedrigsten Wesen, die man sich denken kann. Hiermit liegt eine oben/unten-Opposition in ihrer allerschärfsten Form vor. Zwischen Mensch und Unmensch gibt es kein Kontinuum. Der Feind ist hier nicht einmal ein gewöhnlicher Verbrecher, der sich partieller Missetaten schuldig gemacht hat, sondern jemand, der sich gegen die Menschheit als solche vergeht. Mit dieser Art von Feinden kann die Menschheit buchstäblich nicht den Planeten teilen, und deshalb liegt der Gedanke ihrer vollständigen Ausrottung nahe. Nur so nämlich könnte eine Welt entstehen, in der es politische innen/außen- und oben/unten-Oppositionen nicht mehr gibt, ein universaler Raum ohne politische Asymmetrien. Das Begriffspaar Mensch/Unmensch, wie es oben skizziert worden ist, erhält seine enorme Schärfe durch mehrere miteinander verknüpfte Komponenten, die der Figur Hellene/Barbar abgehen. Das kommunistische Programm faßt einen weltumgreifenden Bürgerkrieg ins Auge, der ein „letztes Gefecht" sein soll, und zwar einen Krieg, der allen künftigen Kriegen ein Ende bereiten soll. Hieraus folgt, daß dieser Kampf mit der Wucht des endgültigen Schlages ausgefochten wird. Die Vision eines Endes von Krieg und Konflikt schlechthin ist dem Autor der Politela fremd. Um so mehr befaßt sich dieses Werk mit der Möglichkeit einer „Hegung" von bewaffneten Konflikten zumindest unter Hellenen. Die „Menschheit" als politischer Akteur wäre Piatons Sokrates wohl als etwas gänzlich Irreales erschienen. Vielmehr zeigen die Appelle an die Einheit der Hellenen, daß es schwierig genug war, sich auch nur Hellas als einen einheitlichen politischen Körper zu denken. Die Eliminierung politischer Asymmetrien wie innen/außen und oben/unten wird ganz und gar nicht ins Auge gefaßt. In den platonischen Schriften wird die Welt selbstverständlich in Griechen und Nicht-Griechen eingeteilt. Dieses bedeutet aber auch, daß letztere in gewisser Weise als Fremde anerkannt werden. Der Barbar ist nicht der alle Grenzen sprengende Verbrecher gegen die Menschheit, sondern der als bedrohlich wahrgenommene Andere, den es letztlich zu unterwerfen, aber nicht auszurotten gilt. Hinzu kommt in der Politeia, daß die Doppelbödigkeit des Naturkonzeptes einerseits die asymmetrischen Differenzen erst möglich macht, es aber andererseits auch erlaubt, ein Kontinuum zwischen Hellenen und Barbaren herzustellen. Der Barbar steht für die niedrige Natur, die der Hellene eher in sich beherrschen kann, aber als Mensch eben immer noch in sich trägt. So gibt es bei aller Fremdheit und Feindschaft dennoch ein subtiles verwandtschaftliches Band zwischen Hellenen und Barbaren, das sich analog zwischen Menschen und Unmenschen kaum herstellen läßt. Dieses entfernte familiäre Band birgt aber auch (ungewollt) die Möglichkeit der Sprengung der Antithese zwischen Hellene und Barbar in sich. Wenn der Hellene das „Barbarische" in sich erst überwinden und beherrschen mußte und konnte, um zu sein, was er ist, dann ist nicht gesagt, daß der Barbar ein solcher bleiben muß. Die Perspektive des Werdens eröffnet die Möglichkeit einer Historisierung und Empirisierung der Begriffsfigur Hellene/Barbar. Exakt diese Perspektive wird in der griechischen Antike bereits durch Thukydides eingelöst, der in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges beschrieb, daß die Hellenen in früherer Zeit
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gelebt hätten wie die Barbaren heute. 44 Der Historiker Thukydides expliziert somit jenes Kontinuum zwischen Hellenen und Barbaren, das in der Politeia bei aller normativen Aufgeladenheit immer mitschwingt. Insgesamt gesehen ist der „Idealismus" der Politeia nicht jenen antihistorischen und antiempirischen Wahrnehmungsstörungen ausgesetzt wie der „historische Materialismus" der kommunistischen Programmschrift von 1919.
Siehe Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, I, 2-6.
3. Krieg und Militär in Hobbes' Leviathan
3.1. Einleitung Es bedarf keiner subtilen Betrachterperspektive, um Krieg und das darum gelagerte begriffliche Umfeld von Kampf, Konflikt und Gewalt als Themen zu identifizieren, denen in der politischen Philosophie von Thomas Hobbes ein zentraler Stellenwert zukommt. Erschließt sich die Relevanz der Kriegsfrage bei Piaton in mancher Hinsicht erst auf den zweiten Blick, so ist sie bei Hobbes augenfällig. Deutlich wird dieser bedeutsame Status der Kriegsthematik auf mehreren miteinander eng verbundenen Ebenen. Die gedankliche Konstruktion des Staates Leviathan nimmt ihren Ausgang vom Modell eines menschlichen Naturzustandes, der von Hobbes als ein bellum omnium contra omnes, als Krieg eines jeden gegen jeden, beschrieben wird. Für Hobbes ist also ein Kriegszustand bzw. dessen Entwurf Anfang und Basis der politischen Theorie, wodurch das Thema Krieg in ganz anderer Weise akzentuiert wird als bei Piaton. Hiermit hängt es eng zusammen, daß im Lichte von Hobbes der Naturzustand bzw. der Krieg eines jeden gegen jeden als Inbegriff des Kontrastes zum (inner-)staatlichen Zustand erscheint. Allein auf dem Hintergrund des Schreckbildes einer permanenten und allumfassenden Bedrohung soll der Sinn der politischen Organisationsform Staat erhellt und begriffen werden. Krieg und Staat, soweit es den binnenstaatlichen Raum betrifft, fungieren somit bei Hobbes als die zwei Pole eines Gegensatzes. Insofern kommt auch dem Krieg, zumindest in seiner Extremform des bellum omnium contra omnes, eine höchst entscheidende Rolle zu, ist er doch dasjenige, durch dessen Überwindung allein sich die Institution des Staates legitimiert. Hobbes verfügt über keinen Begriff des Friedens, der mehr wäre als ein Begriff des NichtKrieges. Er legt nicht fest, was Frieden ist, um dann zu zeigen, daß Zustände, welche die betreffenden Kriterien nicht erfüllen, unter den Begriff des Krieges fallen. Sein Verfahren ist umgekehrt: er versucht, zunächst festzulegen, was unter Krieg zu verstehen ist, um danach zu erklären, daß alles, was nicht Krieg ist, Frieden ist (vgl. Lev. 13, S. 113). Welcher inhaltlichen Bestimmungen sich Hobbes dabei bedient, wird später gezeigt werden. An dieser Stelle kommt es nur darauf an herauszuheben, daß Hobbes als Grundbegriff nicht denjenigen des Friedens, sondern den des Krieges wählt. Als begrifflich fundamental erweist sich somit nicht das, was als Regel und Norm eingefordert wird, sondern der Extrem- und Schreckenszustand. Generell entwickelt Hobbes die Kernthesen seiner politischen Theorie in hohem Maße vom Modell des Konfliktfalles aus. Das Wesen der staatlichen Souveränität liegt nach Hobbes im Oberbefehl über das Militär (vgl. Lev. 18, S. 166). Alle souveräne Gewalt ist letztlich in der Verfügung über die krieg-
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führende Instanz enthalten. Hierbei ist allerdings zu betonen, daß Hobbes eine Unterscheidung zwischen Militär und Polizei nicht kannte. Es war für ihn selbstverständlich, daß ein und dieselbe Instanz Sicherungsfunktionen sowohl nach außen als auch nach innen übernimmt. Ohne die Verfügungsmacht über diese Instanz gibt es keine Souveränität. Das Funktionieren von Staatlichkeit steht und fällt also mit dem Instrument des Militärs im Sinne einer äußeren und inneren Schutzmacht. Abschließend sei betont, daß nach Hobbesschen Begriffen der Krieg auf der zwischenstaatlichen Ebene nicht grundsätzlich eliminiert, sondern nur begrenzt werden kann (vgl. Lev. 17, S . 154). In einer bestimmten Weise bleibt Krieg demnach ein nicht zu überwindendes Faktum. Trotz des zentralen Status der Kriegsfrage bei Hobbes gibt es in der Hobbes-Forschung Lücken hinsichtlich der Untersuchung dieses Themas. S o existiert keine zusammenhängende Abhandlung, die sich in systematischer Weise aller mit dem Kriegsproblem verbundenen Fragestellungen widmet, zu denen Hobbes entweder explizit Stellung nimmt oder zu denen es bei ihm zumindest Denkansätze gibt. Hobbes entwirft eine Kriegsursachentheorie, und er vertritt in diesem Zusammenhang Auffassungen darüber, ob und wie weit Krieg in der menschlichen Natur verankert ist. Er verfügt über einen Kriegsbegriff. Wenn auch nicht immer klar und ausgesprochen, so gibt es doch bei Hobbes eine rudimentäre Kriegstypologie, so die Unterscheidung zwischen Bürgerkrieg und Staatenkrieg. Auch entwickelt Hobbes in Form der Naturgesetze Regeln zur Beendigung, zur Prävention und zur Begrenzung von Kriegen. Schließlich hat Hobbes bestimmte Standpunkte zur Rolle und Organisation des Militärs sowie zu militärisch/soldatischen Tugenden. Zwar enthält die überaus zahlreiche Hobbes-Literatur Arbeiten zu einzelnen dieser Themen, 1 aber es fehlt eine Zusammenschau aller
So enthält überhaupt jede einschlägige Hobbes-Monographie Ausführungen zum Naturzustand, der per definitionem ein Kriegszustand ist, aber eher selten ist dabei ein spezifisches Interesse an Hobbes' Kriegsauffassung leitend. Für eine Untersuchung des Hobbesschen Naturzustandsmodells unter dem Kriegsaspekt siehe Kavka: Hobbes' War of All against All, Ethics, Vol. 93, 1982/83, S.291-310. Siehe auch Kavka: Hobbesian Moral And Political Philosophy, S . 8 7 f f . - Mit Hobbes' Kriegsursachentheorie befaßt sich der Sammelband Caws (Hrsg.): The Causes of Quarrel. Essays on Peace, War, and Thomas Hobbes. - Zur Problematik des zwischenstaatlichen Krieges vgl. Airaksinen/Bertman (Hrsg.): Hobbes: War among Nations. Dieser Sammelband legt den Schwerpunkt auf die Frage, ob auf der Grundlage Hobbesscher Prinzipien eine Weltregierung zur globalen Kriegsvermeidung gerechtfertigt wäre. - Zur Thematik internationaler Beziehungen siehe auch die folgenden Artikel: Forsyth: Thomas Hobbes and the External Relations of States, in: Dunn/Harris (Hrsg.): Great Political Thinkers 8. Hobbes, Vol. II., S . 2 9 1 - 3 0 4 . - Bull: Hobbes and the International Anarchy, in: Dunn/Harris (Hrsg.): Hobbes, S. 338-379. - Hanson: Thomas Hobbes's „Highway to Peace", in: Dunn/Harris (Hrsg.): Hobbes, S.487-512. - Zu diesem Problemkreis vgl. auch Gauthier: The Logic of Leviathan, S. 20 7 ff. - Einige Denkansätze zum Verhalten der „Leviathane" unter sich finden sich auch bei Willms: Thomas Hobbes, S . 8 2 f f . - Für eine glänzende Analyse zum Themenbereich „Soldat und Militär" vgl. Baumgold: Subjects and Soldiers: Hobbes on Military Service, in: Dunn/Harris (Hrsg.): Hobbes, S . 4 6 5 - 4 8 6 . - Für Hobbes' Verhältnis zum Bürgerkrieg sind einschlägig Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Koselleck: Kritik und Krise, S. 1 8ff. - Siehe hierzu auch Willms: Das Reich des Leviathan, S . 8 9 f f . - Metzger: Thomas Hobbes und die Englische Revolution 1640-1680. - Coltman: Private Men and Public Causes. Philosophy and Politics in the English Civil War. Dt.: Zwischen Rebellion und Unterordnung, S. 147ff.
EINLEITUNG
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relevanten Aspekte. In diesem Teil meiner Arbeit will ich versuchen, diese Forschungslücke zu schließen. Hauptsächlich werde ich mich bei der Analyse auf Hobbes' Hauptwerk, den Leviathan, konzentrieren, ziehe aber andere Schriften zur Unterstützung heran. Das erste Kapitel Krieg und Naturzustand wird zunächst Hobbes' Kriegsbegriff zum Gegenstand haben. Gezeigt werden soll u . a . , daß die Hobbessche Kriegskonzeption, die das Vorhandensein von Krieg nicht an faktischen Kampfhandlungen, sondern an einer dauerhaften wechselseitigen Bereitschaft zum Kampf festmacht, aus Hobbes' mechanistischer Ontologie heraus verstehbar ist. Hobbes' Kriegsbegriff ist, zumindest in einer seiner Bedeutungsdimensionen, eine Anwendung des mechanistischen Ordnungsmodells. Im zweiten Abschnitt des ersten Kapitels wird es dann um die Kriegsursachentheorie gehen, die Hobbes uns im Kapitel 13 des Leviathan vorstellt. Hobbes entwickelt dort die Gründe, warum seiner Meinung nach der Naturzustand ein bellum omnium contra omnes ist. Wir werden zunächst eine eigene Rekonstruktion des betreffenden Argumentationsganges entwickeln, und in diesem Rahmen wird der Hobbessche Begriff der Selbsterhaltung und dessen Klärung eine zentrale Rolle spielen. Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels wird sich mit den Wegen aus dem Naturzustand heraus befassen, die Hobbes ausgehend von seiner Prämisse aufzeigt, daß es keine scharfe Grenze zwischen Krieg und Frieden gibt. Das zweite Kapitel hat das Thema Krieg und Naturgesetze. Dort geht es darum, den Status jener neunzehn laws of nature bzw. rules of reason in bezug auf die Kriegsthematik zu untersuchen. In diesem Zusammenhang soll Hobbes auch als ein völkerrechtlich relevanter Autor erkennbar gemacht werden. Es bietet sich an, ein Kategorienraster zu entwickeln, mit dessen Hilfe die einzelnen Naturgesetze dann untersucht werden können. Die Kategorien, mit denen ich arbeiten werde, sind das Kriegführungsrecht (unter welchen Bedingungen ist es legitim, Krieg zu führen?), die Kriegsprävention (wie kann die Entstehung von Krieg verhindert werden?), die Kriegsbeendigung (welche politischen Möglichkeiten gibt es, bereits entstandene Kriege zu einem Ende zu führen?) sowie die Kriegsschreckensbegrenzung (wie können die in einem Krieg angerichteten Schäden in einem möglichst beschränkten Ausmaß gehalten werden?). Manche Naturgesetze werden sich ausschließlich oder schwerpunktmäßig einer dieser Kategorien zuordnen lassen, manche aber auch mehreren gleichzeitig. Im dritten Kapitel werde ich mich mit einem Sonderfall in Hobbes' politischer Theorie befassen: mit dem Staat durch Aneignung bzw. dem Fall des Eroberungskrieges. Unterscheiden läßt sich bei Hobbes zwischen dem eingesetzten Staat bzw. der politischen Herrschaft; dem Staat durch Aneignung bzw. der despotischen Herrschaft sowie der Sklaverei. Das vierte Kapitel hat den Problemkreis Aufruhr und Bürgerkrieg zum Thema, ein Gegenstand, der Hobbes besonders am Herzen lag. Ich werde u. a. versuchen, in diesem Zusammenhang die folgende These plausibel zu machen: Bei Hobbes ist zwischen drei Typen des Krieges zu unterscheiden: dem Modellkrieg eines jeden gegen jeden im Naturzustand, dem Bürgerkrieg und dem Staatenkrieg. Diese drei Kriegsarten haben nur ein einziges gemeinsames Merkmal, und zwar die Abwesenheit einer souveränen staatlichen Zwangsgewalt, die über den jeweiligen Kriegsparteien steht. Ansonsten gibt es zwischen ihnen, wie leicht zu zeigen ist, gravierende Unterschiede. So ist etwa das naturzuständliche bellum omnium contra omnes nach Hobbes ausdrücklich kein Verbrechen, der Bürgerkrieg von seiten seiner Verursacher aber sehr wohl. Auch sind sowohl der naturzuständliche Krieg als auch der Bürgerkrieg zumindest im Prinzip beendbar, der Krieg zwischen souveränen staatlichen Gemeinwesen jedoch niemals etc. Es ist aufgrund solcher Differenzen irreführend, den Ter-
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minus „Naturzustand" auf alle drei Kriegstypen anzuwenden, wie es meist geschieht. Diese nivellierende Perspektive verstellt den Blick darauf, daß es bei Hobbes überhaupt eine Kriegstypologie gibt. Das fünfte und letzte Kapitel Soldat und Militär befaßt sich mit Hobbes' Gedanken und Stellungnahmen zum Status des Militärs und zu Fragen militärischer Organisation, vor allem aber mit dem Problem, wie sich das für Hobbes grundlegende Prinzip der Selbsterhaltung zu der spezifisch soldatischen Tugend der Tapferkeit verhält. Ganz anders als bei Piaton erfahren wir von Hobbes inhaltlich nicht viel über die Figur des Kriegers und die zu ihr gehörigen Kompetenzen. Andererseits ist jedoch deutlich, daß es für den staatlichen Souverän nichts Wichtigeres gibt als die Verfügung über Soldaten. Wir werden sehen, daß gerade die Gestalt des Soldaten das Hobbessche Staatsmodell mit letztlich unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert.
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3.2. Krieg und Naturzustand 3.2.1. Der Kriegsbegriff Hobbes' Kriegsbegriff ist eingebettet in seine Theorie der Ursachen für Konflikte im Naturzustand, mit der wir uns im nächsten Abschnitt befassen werden. Nachdem Hobbes im Rahmen des Kapitels 13 des Leviathan zu dem Schluß gekommen ist, daß der Naturzustand ein solcher des Krieges ist und warum er es sein muß, erläutert er, was unter Krieg überhaupt zu verstehen ist: „Hereby it is manifest, that during the time men live without a common power to keep them all in awe, they are in that condition which is called war; and such a war, as is of every man, against every man. For WAR, consisteth not in battle only, or the act of fighting; but in a tract of time, wherein the will to contend by battle is sufficiently known; and therefore the notion of time, is to be considered in the nature of war; as it is in the nature of weather. For as the nature of foul weather, lieth not in a shower or two of rain; but in an inclination thereto of many days together: so the nature of war, consisteth not in actual fighting; but in the known disposition thereto, during all the time there is no assurance to the contrary. All other time is PEACE." (Lev. 13, S. 1 13 f.)
In diesem Absatz (vgl. auch DC 1/12/13, S. 49 f.) sind zwei Themen eng miteinander verzahnt. Zum einen will Hobbes etwas über jene spezielle Art des Krieges aussagen, durch die seiner Meinung nach der Naturzustand gekennzeichnet ist. Zum anderen stellt er eine Behauptung über das Wesen bzw. die Natur des Krieges schlechthin auf. Die Aussage über den Krieg im Naturzustand lautet, daß dieser ein bellum omnium contra omnes ist, also eine Extremform von Krieg, in dem buchstäblich jedes Individuum Kriegsteilnehmer ist. Etwas unklar ist der argumentative Status des zweiten Satzes des Zitates, denn es stellt sich die Frage, was durch das einleitende Wörtchen „for" begründet werden soll. Es ist anzunehmen, daß Hobbes hier dafür argumentieren will, warum und unter welchen Bedingungen es sinnvoll ist, den Ausdruck „Krieg eines jeden gegen jeden" zu gebrauchen. Dieser Terminus, so scheint Hobbes zu meinen, ist nur dann sinnvoll, wenn man das Vorliegen von Krieg nicht (ausschließlich) an faktisch ausgeübten Kampfhandlungen festmacht, sondern an der Präsenz eines umfassenden und wechselseitig bekannten Willens zum Kampf.1 Würde man die Existenz von Krieg (nur) an einzelne Gewaltakte binden, so wäre kein Zustand von längerer Dauer (und als solcher ist offenbar der Naturzustand konzipiert) denkbar, in dem jedes Individuum ununterbrochen jedes andere Individuum bekämpft. Der Ausdruck „Krieg eines jeden gegen jeden" könnte dann nur unzutreffend sein. Hobbes macht nun eine plausible Behauptung, die, sprachtheoretisch gewendet, folgendermaßen lautet: der Terminus „Krieg" wird nicht (nur) auf Schlachten und Gefechte angewendet, sondern auf Zeiträume, die Perioden enthalten, in denen gar nicht gekämpft wird, wohl aber von den beteiligten Parteien ein Wille zum Kampf vorausgesetzt wird. So läßt sich also der fingierte Naturzustand mit seiner allgegenwärtigen Bedrohung und Furcht als „Krieg eines jeden gegen jeden" beschreiben. Nun geht Hobbes in der
Auch für Grotius bezeichnet der Ausdruck „Krieg" (bellum) keine Abfolge von Kampfhandlungen, sondern den Zustand von Personen, die sich miteinander in gewaltsamem Kampf befinden. Vgl. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Erstes Buch, 1. Kap., S. 4 7 .
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Folge weiter als zu sagen, daß der Krieg nicht nur aus faktischen Kampfhandlungen besteht. Er behauptet schließlich, daß solche Akte dem Krieg gar nicht wesentlich sind, sondern akzidentell. Entscheidend für das Vorliegen des Zustandes Krieg ist allein die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt bzw. die ständige Präsenz der Drohung mit Gewalt. Die Formulierung „(...) during all the time there is no assurance to the contrary" deutet darauf hin, daß ein Kriegszustand bereits dann existiert, wenn man sich nicht sicher sein kann, daß in naher Zukunft keine Kampfhandlungen stattfinden werden. Daß Hobbes so viel Wert darauf legt, sowohl den Krieg des Naturzustandes als auch dai Krieg schlechthin wesentlich nicht als einen Zustand faktischer Gewaltakte aufzufassen, sondern als eine Zeit der permanenten Bedrohung mit Gewalt, ist zunächst aus mehreren Gründen verblüffend. Erstens wird das bellum omnium contra omnes von Hobbes selbst sehr wohl als ein Zustand faktischer Gewaltausübung geschildert, und dies im unmittelbaren Kontext des einschlägigen Leviathan-Kapitels 13. Betrachten wir etwa die folgenden Textauszüge: (a) „The first [cause of quarrel], maketh men invade for gain; the second, for safety; and the third, for reputation. The first use violence, to make themselves (...)." (Lev. 13, S. 112, Hervorh. U. K.) (b) „And by consequence, such augmentation of dominion over men being necessary man's conservation, it ought to be allowed him." (Lev. 13, S. 112, Hervorh. U. K.)
to a
In (a) ist offensichtlich von faktischen gewaltsamen Übergriffen die Rede. In (b) ist mit „Vermehrung der Herrschaft über Menschen" immer auch, so geht es aus dem Gesamtkontext hervor, Tötung und gewaltsame Unterwerfung gemeint. Es wird hier also gesagt, daß im Naturzustand eine gewaltsame Vermehrung von Herrschaft zur Selbsterhaltung eines Menschen notwendig ist. Wenn nun Menschen gar nicht anders handeln können, dann folgt hieraus, daß sie auch faktisch so handeln. So scheint Hobbes denn den Naturzustand sehr wohl als einen der manifesten tatsächlichen Gewaltanwendung zu denken. 2 Hierfür spricht zweitens auch die folgende Beschreibung des naturzuständlichen Elends: „In such condition, there is no place for industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no culture of the earth; no navigation, nor use of the commodities that may be imported by sea; no commodious building; no instruments of moving, and removing, such things as require much force; no knowledge of the face of the earth; no account of time; no arts; no letters; no society; and which is worst of all, continual fear, and danger of violent death; and the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and short." (Lev. 13, S.113)
Es ist sehr unwahrscheinlich, daß es ohne erhebliche reale Gewaltausübung zu einer Lage wie der hier von Hobbes beschriebenen kommen kann. Dies wäre wohl nur unter der Annahme möglich, daß die Naturzustandssubjekte allein aufgrund des Gefühls der Bedrohung auf jede Art von Fleiß von vornherein verzichten, um seiner Früchte nicht verlustig zu gehen. Doch dieses ist nicht der Fall, denn es gibt im Naturzustand nach Hobbes' eigenen Äußerungen Versuche, Land zu bebauen (vgl. Lev. 13, S. I l l ) und, wenn auch vermutlich kurzfristiDaß der Hobbessche Naturzustand einer der faktischen Gewaltausübung ist, wird auch von Kavka hervorgehoben. Siehe Kavka: Hobbes' War of All against All, S. 2 9 2 .
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gen Viehbesitz (vgl. Lev. 13, S. 112). Alles spricht dafür, daß die Menschen zumindest eine Zeitlang schwerwiegende Erfahrungen damit machen, daß Besitz gewaltsam enteignet wird und Besitzer dabei ihr Leben oder ihre Freiheit verlieren. U m es allgemein zu formulieren: D i e allseitige Furcht, durch die der Naturzustand gekennzeichnet ist, muß irgendeine reale Nahrung haben, um sich überhaupt entfalten zu können. S o spricht Hobbes ja auch von einer bekannten Bereitschaft (known disposition) der Menschen im Naturzustand, einander zu bekämpfen, nicht von einer bloß vermuteten. Damit aber eine Bereitschaft als bekannt gelten kann, muß sie sich wenigstens eine Zeitlang wirklich umsetzen oder umgesetzt haben. Der Krieg des Naturzustandes ist also durchaus nicht nur ein abstrakter Zustand der reinen Rechtsstrittigkeit, wie etwa Geismann und Herb meinen, 3 sondern auch eine Situation der physischen gewaltsamen Auseinandersetzungen. Warum ist Hobbes dennoch der Meinung, das Wesen des Krieges im Naturzustand und des Krieges überhaupt liege nicht in physischen Kampfhandlungen, sondern vielmehr im Begriff der Zeit? U m diese Frage zu beantworten, muß man, wie mir scheint, auf Hobbes' ontologische und wissenschaftstheoretische Grundpositionen zurückgreifen. Hobbes vertritt eine mechanistische Ontologie, 4 die sich auch in seiner Auffassung von Philosophie als Wissenschaft niederschlägt. 5 Im Leviathan schreibt Hobbes diesbezüglich: „BY PHILOSOPHY is understood the knowledge acquired by reasoning, from the manner of the generation of any thing, to the properties: or from the properties, to some possible way of generation of the same; to the end to be able to produce, as far as matter, and human force permit, such effects, as human life requireth." (Lev. 46, S. 664) In der lateinischen Fassung des Leviathan
heißt es, Philosophie sei
„(...) die durch richtige Schlüsse erworbene Wissenschaft, wie aus begreiflichen Ursachen gewisse Wirkungen, und aus diesen wieder neue Wirkungen entstehen können." (T. H.: Opera Latina III, Lev. 46, S. 490)
3
Vgl. Geismann/Herb (Hrsg.): Hobbes über die Freiheit, S.29; S. 130 (Scholion 220). Siehe hierzu Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S.2 1 ff.; S . 5 0 f f . Generell umstritten ist in der Hobbes-Literatur das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Methode und politischer Theorie bei Hobbes. Ein großer Teil von Autoren spricht sich für einen engen Zusammenhang zwischen beiden Komplexen aus. Vgl. die klassische Studie von M. M. Goldsmith: Hobbes' Science of Politics. - Siehe auch Ulrich Weiß: Das philosophische System von Thomas Hobbes. In diese Linie ist auch die bereits mehrfach zitierte Arbeit von Esfeld einzuordnen. - Für eine provokante Gegenthese vgl. Strauss: The Political Philosophy of Hobbes, bes. xiiff. Strauss vertritt in dieser Studie durchgehend die These, daß Hobbes' politische Theorie gänzlich unabhängig von aller naturwissenschaftlich-mathematischen Methodik und Theorie sei. Hobbes politische Philosophie beruht nach der Ansicht von Strauss in Wirklichkeit auf Alltagserfahrung, nämlich auf Erfahrungen damit, wie Menschen sich im alltäglichen Leben verhalten. Strauss begründet seine These u.a. damit, daß Hobbes' politikphilosophische Ansichten schon längst fertig gewesen seien, bevor er sich dem Studium der exakten Wissenschaften zuwendete (vgl. xv).
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In De Corpore definiert Hobbes Philosophie als „(...) die rationelle Erkenntnis der Wirkungen oder Erscheinungen aus ihren bekannten Ursachen oder erzeugenden Gründen und umgekehrt der möglichen erzeugenden Gründe aus den bekannten Wirkungen." (De Corpore, in: T. H.: V o m Körper I, 1, 2., S. 6)
Diese drei Bestimmungen von Philosophie sind etwas unterschiedlich formuliert, doch ihr gemeinsamer Punkt ist folgender: Philosophie ist das Wissen von Dingen aus ihren Ursachen heraus oder aber das Wissen von Dingen aus ihren Wirkungen heraus, wobei der Ausdruck „Ursache" bei Hobbes nicht nur eine physikalische Bedeutung hat, sondern z. B. auch die Konstruktionsangaben für geometrische Figuren bezeichnet, weshalb im Rahmen des Hobbesschen Weltbildes keine klaren Trennlinien zwischen Erzeugen und Verursachen zu ziehen sind. Philosophie ist grundsätzlich ein Wissen von Ursachen und Wirkungen, also ein Wissen von Kausalzusammenhängen in einem sehr weiten Sinn des Wortes „kausal". Mit diesem Philosophiebegriff ist eine Ontologie verbunden, die von Esfeld mittels der Ausdrücke „relational" und „dynamisch" beschrieben wird.6 Dies bedeutet, daß nach Hobbes jede Bestimmtheit oder jedes „Wesen" von etwas in seinen Beziehungen zu anderem aufgeht (relationaler Aspekt), und daß diese Beziehungen als Bewegungsrelationen gedacht werden, insofern jede Bestimmtheit von etwas auf ihre Ursachen und Wirkungen bezogen wird (dynamischer Aspekt). Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheinen Hobbes' Ausführungen über Krieg in Kapitel 13 des Leviathan konsequent. Dieses Kapitel hätte mit einer Definition oder Explikation des Kriegsbegriffes einsetzen können, doch dies ist eben nicht Hobbes' Verfahren, das vielmehr darin besteht, Krieg zunächst hinsichtlich seiner Ursachen und Folgen zu analysieren, um hieraus den eigentlichen Begriff des Krieges zu gewinnen. Dabei geht Hobbes erst einmal von einem intuitiven und vortheoretischen Konzept des Krieges aus, nach dem dieser in Kampfhandlungen und Schlachten besteht, gelangt aber später zu der Schlußfolgerung, daß die „Essenz" des Krieges eben hierin nicht liegt, sondern in den Kausalzusammenhängen, in die solche Gewaltakte eingebunden sind. Er zeigt, wie die verschiedenen Ausprägungen der Selbsterhaltung gewaltsame Konflikte zur Folge haben, die wiederum den Grundstein zu neuen Gewalttaten legen, so daß das Bild eines Prozesses entsteht, der von sich aus nicht zur Ruhe kommen kann, ein Modell, das Hobbes' mechanistischem Weltbild exakt entspricht, dem zufolge keine Bewegung von selbst aufhören kann: „THAT when a thing lies still, unless somewhat else stir it, it will lie still for ever, is a truth that no man doubts of. But that when a thing is in motion, it will eternally be in m o tion, unless somewhat else stay it, though the reason be the same, namely, that n o t h i n g can change itself, is not so easily assented to." (Lev. 2, S. 3 f . )
Sucht man nach einer tieferen Erklärung dafür, warum Hobbes den Krieg des Naturzustandes manchmal als „ewig" (perpetual) bezeichnet (vgl. DC 1, 13, S. 49), so muß man Aussagen wie die zuletzt zitierte heranziehen, in denen sich die mechanistische Ontologie niederschlägt. Juridische Kategorien, wie Geismann/Herb sie bemühen, benötigt man zu diesem Zweck nicht zwingend. 7 Hobbes demonstriert im dreizehnten Kapitel des Leviathan einfach sein ontologisches Ordnungsmodell am Beispiel des Krieges im Naturzustand. So entwickelt er, wir 6
Vgl. Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S . 7 0 ; S . 7 2 . Siehe Geismann/Herb: Hobbes über die Freiheit, S. 1 3 0 f . (Scholion 220).
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werden dies im folgenden Abschnitt sehen, wie zunächst die Konkurrenz Gewalt zur Folge hat, die ihrerseits das Mißtrauen bzw. die gegenseitige Furcht bewirkt, die unausweichlich neue Gewalt verursacht. Im Prinzip derselbe Mechanismus gilt für die dritte Konfliktursache, die Ruhmsucht. Man beginnt zu begreifen, warum für Hobbes der Begriff der Zeit dem Krieg wesentlich ist. Interessant sind nicht die einzelnen Gewaltakte, sondern die Antriebskräfte, die statt einer Summe von solchen einen kontinuierlichen Prozeß entstehen lassen. Theoretisch ist es nun denkbar (obwohl im Naturzustand nicht der Fall!), daß an die Stelle der Gewalthandlungen grundsätzlich reine Droh- und Abschreckungsgebärden treten; am Modell des Mechanismus als Ganzem würde sich hierdurch gar nichts ändern. Ganz im Sinne des mechanistischen Weltbildes und der daraus folgenden Wissenschaftsauffassung löst Hobbes also das, was in der Regel für die spezifische Bestimmtheit von Krieg gehalten wird, die reale Gewalt, in ein kausales Beziehungsgeflecht auf, so daß die faktische Gewalt für das Vorliegen eines Kriegszustandes schließlich unwesentlich wird. In dem Abschnitt über den Kriegsbegriff verschränkt sich die Anwendung der mechanistischen Theorie mit einem anderen für Hobbes charakteristischen Verfahren, und zwar der Methode, aus einem Extremfall heraus Einsichten für im Verhältnis dazu „normalere" Fälle zu gewinnen. Diese Vorgehensweise schlägt sich dort gleich auf doppelte Weise nieder. Zum einen entwickelt Hobbes aus einer Extremform des Krieges, dem bellum omnium contra omnes des Naturzustandes, ein Konzept von Krieg, das für alle Kriege gültig sein soll, also auch für solche, mit denen die Menschen aus der realen Erfahrung vertraut sind. Zwar gibt es in der Wirklichkeit keine Kriege, in denen buchstäblich jedes Individuum der Feind jedes anderen ist, weder im Sinne aktiver Gewaltsamkeit noch in irgendeinem schwächeren Sinne. Insofern ist der Krieg im Naturzustand ein Idealtypus oder Paradigma, dem sich die wirklichen Kriege (zumindest die bisherigen) nur mehr oder weniger annähern, das sie aber nicht vollständig erfüllen. Doch der Mechanismus von Gewalt, Furcht und neuer Gewalt oder davon Gewaltdrohung, Furcht und neuer Drohung ist nach Hobbes tatsächlich für alle Kriege charakteristisch und wird von ihm am Exempel des Naturzustandsmodells nur in der denkbar drastischsten Form vorgeführt. Zum zweiten benutzt dann Hobbes seinen aus dem Naturzustand heraus entwickelten Begriff des Krieges, um hieraus einen rein negativ bestimmten Begriff des Friedens zu gewinnen. Der Frieden wird expliziert als ein Zeitraum, in dem nicht Krieg herrscht. Frieden ist somit nichts weiter als die Abwesenheit von Krieg. Auch hier wird das Denken des Extrembzw. Ausnahmezustandes zur Grundlage des Denkens der Norm oder zumindest des als Norm erwünschten Zustandes.8 So sehr Hobbes auf einer normativen Ebene den Frieden als Mittel Ein Denker des 20. Jahrhunderts, der bezüglich dieses Verfahrens dezidiert an Hobbes angeschlossen hat, ist Carl Schmitt. Siehe hierzu Schmitt: Politische Theologie. In dieser Schrift heißt es: „Gerade eine Philosophie des konkreten Lebens darf sich vor der Ausnahme und vor dem extremen Falle nicht zurückziehen, sondern muß sich im höchsten Maße für ihn interessieren. Ihr kann die Ausnahme wichtiger sein als die Regel, nicht aus einer romantischen Ironie für das Paradoxe, sondern mit dem ganzen Emst einer Einsicht, die tiefer geht als die klaren Generalisationen d e s durchschnittlich s i c h Wiederholenden. D i e A u s n a h m e ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; s i e bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik." ( S . 2 1 ) - Hobbes' politische Theorie ist ein Paradigma für die hier von Schmitt
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zur Selbsterhaltung als erstrebenswert anvisierte, so sehr ist auf der deskriptiv-analytischen Ebene Krieg im Verhältnis zu Frieden für ihn der Grundbegriff. Sowohl im allgemeinen als auch besonders in der Literatur zu Hobbes gibt es eine Diskussion darüber, ob und warum ein positiver Begriff des Friedens erforderlich sein könnte. Es ist ζ. B. vorgeschlagen worden, an die Tradition von Augustinus und Thomas von Aquin anzuschließen, die Frieden als Ruhe der Ordnung (tranquillitas ordinis) verstehen. 9 Auch wird der Standpunkt vertreten, Frieden sei das Vorhandensein von Kooperation.l0 Schließlich hat man im Friedensbegriff die Merkmale Kooperation und Gerechtigkeit kombinieren wollen." Ansätze dieses Typs sehen sich aus Hobbesscher Perspektive mit einem gravierenden Einwand konfrontiert: Alle Versuche, positiv zu bestimmen, was Frieden ist, sind potentiell kriegsfördernd, und zwar sind sie geeignet, eine besonders eigentümliche Art von Krieg hervorzurufen: den Krieg für den (wahren) Frieden. Wer im Begriff des Friedens mehr denken will als die Abwesenheit von Gewalt und Bedrohung mit Gewalt, der ist zwangsläufig auf höchst anspruchsvolle und ideologieanfällige Konzepte verwiesen. 12 Es wird zunächst ein Streit in Worten um Worte stattfinden, eine Auseinandersetzung um den Inhalt der jeweiligen Begriffsmerkmale. Von einem derartigen Wortstreit ist der Schritt zu einem Streit der Waffen unter Umständen sehr klein, zumindest nach Hobbes' Meinung. Trifft eine politisch äußerst gespannte Situation mit semantischen Konflikten um den Inhalt des Wortes „Frieden" zusammen, so kann dies zu einem Krieg führen, den schließlich alle Parteien im Namen allerhöchster „Werte" miteinander ausfechten. Auf den nach Hobbes spezifisch gefahrlichen Charakter solcher Kriege wird im Rahmen dieses Teils noch einzugehen sein. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, daß Hobbes in den religiösen Bürgerkriegen seiner Zeit lebendige Beispiele dafür vor Augen hatte, wie buchstäblich alle Kriegsparteien meinten oder vorgaben, für den „wahren", „eigentlichen", „gerechten" und „ewigen" Frieden mit ihrem Schwert einzustehen. Er wußte also sehr genau, daß der „Frieden" selbst zu einem Kriegsfaktor ersten Ranges werden konnte.
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eingeforderte „Philosophie des konkreten Lebens". Die gesamte Hobbessche Staatskonstruktion beruht auf dem Denken eines extremen Ausnahmezustandes, eines Zustandes, in dem sämtliche Regeln gemeinschaftlichen Zusammenlebens als nicht existent vorausgesetzt werden. - Für eine im allgemeinen sowohl Hobbes als auch Schmitt wohlgesonnene Einschätzung, die aber einer grundsätzlichen theoretischen Vorliebe der Ausnahme gegenüber der Norm kritisch gegenübersteht siehe Schnur: Individualismus und Absolutismus, S . 4 4 f f . Siehe Henrici: Two Types of Philosophical Approach to the Problem of War and Peace, bes. 155 ff. Vgl. Cox: The Light at the End of the Tunnel, bes. 167ff. Siehe Lee: A Positive Concept of Peace, bes. 185f. Ein extremes Beispiel für eine solche Konzeption, in der allerdings nicht von Krieg, sondern allgemein von Gewalt die Rede ist, ist die Studie von Johan Galtung: Gewalt, Frieden und Friedensforschung. Galtung schreibt auf S.57: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung (...) Gewalt wird hier definiert als die Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist." Es gibt nach dieser Definition wohl buchstäblich keinen Menschen, der nicht unter Gewalt leidet. Die Idee liegt nahe, den Frieden auf der Grundlage der Bestimmung von Galtung als die vollständige „Selbstverwirklichung" aller Menschen zu definieren. Für eine tendenziell Hobbesianische Kritik an Ansätzen dieser Art siehe Münkler: Krieg und Frieden, S. 14.
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Die bisherigen Bemerkungen zum Kriegsbegriff sind durch einen entscheidenden Hinweis zu ergänzen, der sich auf die besondere und ursprünglich verschiedene Semantik der Ausdrücke „war" und „bellum" bezieht, die ja beide bei Hobbes eine Rolle spielen, „war" in der englischen und „bellum" in der lateinischen Fassung des Leviathan. Der englische Ausdruck „war" leitet sich, wie auch das französische „guerre", aus dem altgermanischen „werra" ab, das für Verwirrung bzw. Unordnung steht. Dagegen bezeichnet der lateinische Terminus „bellum", der seine Wurzel in „duellum" hat, grundsätzlich einen gewaltsamen Rechtsstreit zwischen Parteien.13 Beide Konnotationen sind nicht nur different, sondern in gewisser Weise sogar gegensätzlich, wird doch in einem Fall auf ein unstrukturiertes Chaos verwiesen, im anderen auf eine eher übersichtlich in Kontrahenten gegliederte und im Zeichen des Ordnungsfaktors Recht stehende Situation. Interessanterweise verschmelzen diese zwei Bedeutungsschichten in Hobbes' Aussagen zum Krieg des Naturzustandes miteinander. Der ursprüngliche über „werra" vermittelte semantische Gehalt von „war" schlägt sich in der Beschreibung des Naturzustandes als einer maximal chaotischen Lage nieder. Jeder ist jederzeit der Todfeind des anderen. Niemand kann sich eines Besitztums sicher sein. Wissenschaft, Wirtschaft und Kunst können sich nicht entfalten. Die Naturzustandssubjekte haben keinerlei Möglichkeit des ordnenden Zugriffs auf ihr zukünftiges Leben, dessen doch der Mensch nach Hobbes wie kein anderes Lebewesen bedarf. Die anarchische Sinnkomponente von „war" ist mit dieser Schilderung abgedeckt. Andererseits dokumentiert sich der formale Inhalt von „bellum" in der juridischen Kategorie des Rechtes auf alles, das im Naturzustand jedem Individuum zukommt. Auf dieser Charakterisierungsebene wird das Kriegstheater des Naturzustandes in einander gegenüberstehende Kombattanten mit einem Rechtsstatus strukturiert. Der Krieg eines jeden gegen jeden wird zu einem Rechtsaustrag und erst hierdurch zu einem echten bellum. Als letzteres erscheint er, wie wir noch sehen werden, nicht von Anfang an, denn das Recht auf alles wird erst im Zusammenhang mit dem Mißtrauensmotiv eingeführt. Hier ist es jedoch wichtig, wahrzunehmen, daß die anarchische und die juridische Bedeutungsdimension im Hobbesschen Text unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die an den Gehalt von „werre" anschließbaren Aussagen führen uns wirkungsvoll das allgemeine menschliche Elend des Naturzustandes vor Augen; aus ihrer Perspektive werden die „Subjekte" dieses Zustandes als maximal leidende Kreaturen ins Blickfeld gerückt. Dagegen lassen die mit „bellum" verknüpften Denkfiguren dieselben Menschen als Rechtssubjekte erscheinen und damit auch als Träger von Handlungsfreiheit. Es ist eine der zentralen Pointen von Hobbes' Naturzustandstheorie, daß die im Recht auf alles gedachte äußerste Freiheit das Elend des Krieges eines jeden gegen jeden nicht beschränkt, sondern fortschreibt und intensiviert. Die archaische Sinnschicht von „war" wird durch den formal-rechtlichen Bedeutungsgehalt von „bellum" keineswegs verschluckt.
Auf diesen Bedeutungsunterschied weist auch Caws hin. Vgl. Caws: On the Causes of Quarrel, S.177.
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3.2.2. Kriegsursachen Beider Beantwortung der Frage, welche Ursachen und Motive 14 nach Hobbes den Krieg im Naturzustand herbeiführen, stößt man in dem berühmten Kapitel 13 des Leviathan zunächst auf den Gedanken der natürlichen Gleichheit der Menschen. Hobbes ist der Meinung, daß die menschlichen Individuen sowohl hinsichtlich ihrer körperlichen als auch ihrer geistigen Fähigkeiten so weitgehend gleich beschaffen sind, daß selbst der Schwächste in der Lage ist, den Stärksten zu töten, sei es durch List oder durch ein Bündnis mit anderen (vgl. Lev. 13, S. 110). Gleichheit wird also hier unmittelbar bezogen auf eine äußerste Handlungsmöglichkeit, und zwar die Möglichkeit des Tötens. Es ist wichtig zu bemerken, daß es Hobbes an dieser Stelle nicht um die beträchtlichen körperlichen und geistigen Unterschiede geht, die es im einzelnen zwischen Menschen geben kann, sondern es kommt ihm allein darauf an, daß trotz all dieser Differenzen im Prinzip jeder jeden töten kann. Die zur Diskussion stehende Gleichheit ist also eine Gleichheit der Gewaltkompetenzen. In De Cive heißt es diesbezüglich sehr prägnant: „(...) they are equalls who can doe equall things one against the other, but they who can do the greatest things, (namely kill) can doe equall things. All men therefore among themselves are by nature equall (...)." (DC 1, 3, S. 4 5 )
Nun reicht diese Gleichheit allein nicht aus, um einen Kriegszustand herbeizuführen, sondern es müssen noch weitere Bedingungen erfüllt sein, wie uns der folgende Passus zeigt: „From this equality of ability, therefore if any two men desire joy, they become enemies; and servation, and sometimes their other." (Lev. 13, S. I l l )
ariseth equality of hope in the attaining of our ends. And the same thing, which nevertheless they cannot both enin the way to their end, which is principally their own condelectation only, endeavour to destroy, or subdue one an-
Diese Stelle ist voraussetzungsreich und, für sich allein betrachtet, nicht sehr klar: Wenn die menschlichen Fähigkeiten bezüglich der Tötung und Unterwerfung anderer wirklich gleich sind, warum sollte hieraus folgen, daß alle gleich beträchtlich große Hoffnungen hegen, ihre Ziele zu verwirklichen? Mindestens genauso nahe würde die Überlegung liegen, daß jeder aufgrund der allgemeinen Gewaltkompetenzgleichheit so viel Furcht vor einer eventuellen Niederlage hat, daß er sich gar nicht erst auf einen Kampf einläßt bzw. einen solchen anstrebt. Nur dann, wenn es um überlebenswichtige Güter geht, könnte der Kampf rational sein, denn in diesem Fall stünde auf der einen Seite der sichere Untergang, auf der anderen aber eine wie auch immer geringe Chance zu gewinnen.' 5 Auch ist der von Hobbes anvisierte Zustand offensichtlich einer der zumindest partiellen Güterknappheit. Nun hat Hobbes zwar im Prinzip das Recht, einen Modellzustand so festzuIch verwende hier und im folgenden die Ausdrücke „Kriegsursachen" und „Kriegsmotive" mehr oder weniger synonym. Im allgemeinen ist es sicher sinnvoll, zwischen den entsprechenden Sachverhalten zu unterscheiden, doch bei Hobbes greifen „subjektive" und „objektive" Faktoren derartig ineinander, daß eine scharfe Differenzierung unangemessen erscheint. Am nächsten kommt einer echten Kriegsursachenanalyse im modernen geschichts- und politikwissenschaftlichen Sinn Hobbes' Darstellung des englischen Bürgerkrieges im Behemoth. Siehe hierzu auch Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S . 2 2 3 .
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legen, wie er es will. D o c h man kann sich dennoch fragen, wie es zur Situation der Knappheit überhaupt kommt. Im Prinzip können sehr viele, wenn nicht alle Gegenstände gemeinsam g e n o s s e n werden, es sei denn, man legt b e s t i m m t e Bedingungen w i e ζ. B. Übervölkerung zugrunde. Setzt Hobbes hier bereits voraus, daß sich das Selbsterhaltungsstreben in Konkurrenz und nicht in Kooperation niederschlägt? 16 Zudem ist zu fragen: Was genau ist unter Selbsterhaltung zu verstehen? Diese letzte Frage ist die grundlegendste von allen, weil sie auf einen der Kernbegriffe der Hobbesschen Theorie zielt. Es bietet sich daher an, von ihr auszugehen. Der Inhalt des Begriffs der Selbsterhaltung bei Hobbes ist in der Forschungsliteratur umstritten. Dabei geht es um das Problem, ob das Streben nach Selbsterhaltung sich ausschließlich auf die Sicherung des Überlebens richtet, 17 oder ob Hobbes Selbsterhaltung immer schon als Selbststeigerung oder Selbstbehauptung denkt. 18 Sammeln wir einige Stellen aus Hobbes' Werken, die direkt oder indirekt auf diese Diskussion beziehbar sind: (1) „Das erste Gut ist für jeden die Selbsterhaltung. Denn die Natur hat es so eingerichtet, daß alle ihr eigenes Wohlergehen wünschen. Um das erlangen zu können, müssen sie Leben und Gesundheit wünschen und für beide, soweit es möglich ist, Gewähr für die Zukunft. Auf der anderen Seite steht unter allen Übeln an erster Stelle der Tod, besonders der Tod unter Qualen; denn die Leiden des Lebens können so groß werden, daß sie, wenn nicht ihr nahes Ende abzusehen ist, uns den Tod als ein Gut erscheinen lassen." (DH 11/6, S. 24) (2) „But by safety must be understood, not the sole preservation of life in what condition soever, but in order to its happiness. For to this end did men freely assemble themselves, and institute a government, that they might, as much as their humane condition would afford, live delightfully." (DC 13/4, S. 158) (3) „So that in the first place, I put for a general inclination of all mankind, a perpetual and restless desire of power after power, that ceaseth only in death. And the cause of this, is not always that a man hopes for a more intensive delight, than he has already attained to; or that he cannot be content with a moderate power: but because he cannot assure the power and means to live well, which he hath present, without the acquisition of more." (Lev. 11, S. 85 f.) (4) „And lastly the motive, and end for which this renouncing, and transferring of right is introduced, is nothing else but the security of a man's person, in his life, and in the means of so preserving life, as not to be weary of it." (Lev. 14, S. 120) (5) „And because all signs of hatred, or contempt, provoke to fight; insomuch as most men choose rather to hazard their life, than not to be revenged; (...)." (Lev. 15, S. 140) Daß Hobbes' gesamte Naturzustandskonzeption auf einem Menschenbild beruht, dem nur das Modell einer konkurrenzgeleiteten Marktgesellschaft entsprechen kann, ist die These von Macpherson: Die politische Theorie des Besitzindividualismus von Hobbes bis Locke, S . 7 6 . Dieses wird z.B. von Esfeld behauptet. Siehe Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S . 2 7 9 . In dieser Richtung argumentieren die folgenden Autoren. Vgl. Ilting: Hobbes und die praktische Philosophie der Neuzeit, S. 100. - Neuendorff: Der Begriff des Interesses. Eine Studie zu den Gesellschaftstheorien von Hobbes, Smith und Marx, S . 5 8 f . - Weiß: Das philosophische System von Thomas Hobbes, S. 150f.
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LEVIATHAN
(6) „THE OFFICE of the sovereign, be it a monarch or an assembly, consisteth in the end, for which he was trusted with the sovereign power, namely the procuration of the safety of the people·, (...) But by safety here, is not meant a bare preservation, but also all other contentments of life, which every man by lawful industry, without danger, or hurt to the commonwealth, shall acquire to himself." (Lev. 30, S. 322) A u s all diesen Stellen geht zunächst einmal klar hervor, d a ß es M e n s c h e n nach H o b b e s nicht allein u m die W a h r u n g ihres p h y s i s c h e n Ü b e r l e b e n s geht. E s ist ihnen a u c h u m andere D i n g e zu tun, die so wichtig w e r d e n k ö n n e n , d a ß sie m a n c h m a l lieber den T o d w ä h l e n als auf sie zu verzichten. In (1) wird nahegelegt, d a ß zu diesen D i n g e n ein G e s u n d h e i t s z u s t a n d gehört, in d e m man von dauerhaften unerträglichen Schmerzen frei ist. A u s (2), (3), (4) und (6) resultiert offensichtlich, d a ß M e n s c h e n nach e i n e m möglichst a n g e n e h m e n u n d glücklichen L e b e n streben. W i r können aus (2), (4) und (6) sogar folgendes erschließen: W e n n sich die M e n s c h e n v o m Staat nicht ein a n g e n e h m e s Leben versprechen würden, so würden sie auf diesen verzichten. Dieses bedeutet, daß sie vielleicht nicht den sicheren sofortigen Tod vorziehen w ü r d e n , wohl aber die ständige T o d e s g e f a h r des Naturzustandes! In (5) g e h t es u m Ehre, u n d diese Stelle widerspricht augenscheinlich a m meisten jeder Theorie, die besagen würde, es ginge M e n s c h e n nach H o b b e s nur oder hauptsächlich u m die physische Existenz. W e r lieber sein Leben aufs Spiel setzt als sich nicht zu rächen, scheint anderes im Sinn zu haben als sein Überleben. Die Ehre hat allerdings bei H o b b e s einen sehr speziellen S t a t u s , auf den später noch einzugehen ist. All die zitierten Stellen sagen u n s nun erst einmal noch nichts über den konkreten Inhalt des Ausdrucks „Selbsterhaltung". Oberflächlich scheint nichts dagegen zu sprechen, zwischen den Bestrebungen nach Selbsterhaltung, nach W o h l e r g e h e n u n d nach E h r e e i n e Unterscheidung derart zu treffen, d a ß die beiden letzteren unter d e n Begriff der Selbststeigerung g e f a ß t werden u n d unter der Selbsterhaltung nur elementare D i n g e w i e die S i c h e r u n g d e s Überlebensnotwendigen verstanden werden. Dies würde zumindest zu einer gewissen abstrakten begrifflichen Schärfe führen. Meiner A u f f a s s u n g nach ist es jedoch bei H o b b e s schlechterdings nicht möglich, eine solche Differenzierung durchzuführen. Der Grund hierfür liegt darin, daß M e n s c h e n sich nach H o b b e s wesentlich auf die Zukunft hin entwerfen. Der M e n s c h ist i m R a h m e n der H o b b e s s c h e n A n t h r o p o l o g i e im K e r n ein providentielles Lebewesen. 1 9 Besonders deutlich hebt H o b b e s diesen G e d a n k e n in der folgenden Passage aus De Homine hervor: „(...) so gewiß ist auch der Mensch, den sogar der künftige Hunger hungrig macht, raublustiger und grausamer als Wölfe, Bären und Schlangen, deren Raubgier nicht länger dauert als ihr Hunger und die nur grausam sind, wenn sie gereizt sind." (DH 10/3, S. 17) U n d im Leviathan
heißt es:
„For as Prometheus, which interpreted, is, the prudent man, was bound to the hill Caucasus, a place of large prospect, where, an eagle feeding on his liver, devoured in the day, as much as was repaired in the night: so that man, which looks too far before him, in the care of future time, hath his heart all the day long, gnawed on by fear of death, poverty, or other calamity; and has no repose, nor pause of his anxiety, but in sleep." (Lev. 12, S. 95)
Die anthropologische Bedeutung der Zukunftsorientierung bei Hobbes hat besonders Helmut Schelsky in den Mittelpunkt seiner Hobbes-Interpretation gestellt. Vgl. Schelsky: Thomas Hobbes, S.33; S.90ff. - Siehe aber auch Willms: Die Antwort des Leviathan; S. 108.
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Menschen sind demnach dadurch gekennzeichnet, daß ihr Streben nach Selbsterhaltung bereits in dem primitiven Sinn des Überlebens ein Streben nach Sicherheit einschließt, und Sicherheit ist eine langfristige Zukunftskategorie. Ein Mensch will nicht nur heute über die Mittel verfügen, seinen Hunger zu stillen, sondern er will sich auch sicher sein, diese Mittel morgen, übermorgen und möglichst immer zu besitzen (vgl. auch Lev. 11, S. 85 f.) Man mag also den Wunsch nach Selbsterhaltung als den simplen Wunsch nach biologischer Existenzbewahrung verstehen, dieser enthält auf jeden Fall schon das Streben nach einem angenehmen Leben, das Streben danach, sich auch in Zukunft erhalten zu können. Deshalb werden Menschen versuchen, die unterschiedlichsten Güter anzuhäufen, um ihre Erhaltung abzusichern. An irgendeinem Punkt ist vielleicht ein gewisser objektiver Grad an Sicherheit erreicht, doch dann geht es darum, diese Sicherheit abzusichern bzw. die eigene Erhaltung zu erhalten usw. ad infinitum. Um es in Hobbes' Machtsemantik zu formulieren: Das Selbsterhaltungsstreben kann sich nur als ein permanentes Machtstreben äußern, als Streben nach der Erlangung zukünftiger Güter, wobei jedes erlangte Gut selbst wieder Macht ist und zum Erwerb von mehr Macht antreibt, (vgl. Lev. 10, S. 74; Lev. 11, S. 85 f). Aus diesen Gründen bleibt eine Unterscheidung zwischen Selbsterhaltung und Selbststeigerung der Hobbesschen Theorie äußerlich. Sie kann vielleicht terminologisch getroffen werden, doch es entspricht ihr kein äußerlich identifizierbares menschliches Verhalten. Innerhalb des soeben skizzierten Modells erscheinen Selbsterhaltung, Sicherheit, Macht und Zukunftsorientierung als verschiedene Perspektiven auf ein und denselben Sachverhalt. In diesem Zusammenhang ist dann etwa auch der Grenzfall denkbar, daß sich das Streben nach Selbsterhaltung im Suizid verwirklicht. 20 Eine solche Situation läge vor, wenn ein Mensch den Tod einem gänzlich unsicheren Leben vorzieht, ein Resultat des Umstandes, daß ihm aus irgendwelchen Gründen die elementarsten Möglichkeiten des Machterwerbs versagt sind. Die Selbstvernichtung dieses Menschen würde das Streben nach Selbsterhaltung voraussetzen. Jedoch ist zu betonen, daß es sich hierbei nach Hobbes nur um extreme Ausnahmesituationen handeln kann. In aller Regel bleibt der Tod und besonders der gewaltsame Tod (vgl. DC/Epistle Dedicatory, S. 27) für die menschlichen Individuen ein maximales Übel, das sie fliehen, wo immer es möglich ist. Diese Überlegungen sind durch eine Beobachtung von Helmut Schelsky zu ergänzen,21 der darauf verweist, daß es sich bei Hobbes' Konzeption von Selbsterhaltung nicht nur um eine providentielle, sondern auch um eine aktivistische Kategorie handelt. So wie der Ausdruck „Erhaltung" (preservation) auf die Zukunftsdimension verweist, so ist der Terminus „Selbst" darauf bezogen, daß die Erhaltung als eine gedacht ist, die durch die eigene menschliche Tatkraft bewerkstelligt wird. Schon deshalb kann sich das Streben nach Selbsterhaltung nicht auf das Überleben als solches richten, dessen Sicherung man theoretisch ja auch von anderen erwarten könnte, sondern vielmehr darauf, für die Erhaltungsmittel selbst zu sorgen. Tatsächlich kann man sich nur selbst selbst erhalten. Der aktivistischen Komponente von Selbsterhaltung widerspricht es keineswegs, daß in der Hobbesschen Staatskonstruktion der Souverän die Aufgabe übernimmt, für die Sicherheit seiner Untertanen zu sorgen. Die Funktion der souveränen Staatsgewalt ist es, einen Rahmen bereitzustellen, innerhalb dessen die Selbsterhaltungsaktivitäten der Individuen weitgehend ungestört vorangetrieben werden können. Die
21
Dies wird auch von Schelsky so gesehen. Vgl. Schelsky: Thomas Hobbes, S . 9 0 . Vgl. Schelsky, ebd., S . 4 4 f f . ; S . 8 9 .
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LEVIATHAN
Staatsgründung beruht, wie sich weiter unten zeigen wird, gerade auf der Einsicht, daß im Naturzustand die Selbsterhaltungsbestrebungen der Menschen sich gegenseitig derartig blokkieren, daß die Handlungsspielräume der Einzelnen hierdurch nicht maximiert, sondern minimiert werden. Auf der Grundlage der bisherigen Ergebnisse können wir nun die anfangs gestellten Fragen beantworten. Die dem Selbsterhaltungsstreben immanente Machtdynamik muß zur Folge haben, daß der Naturzustand ein solcher der Güterknappheit ist, falls es keine übergeordnete Macht gibt, die regulierend in die Güterverteilung eingreift. Wenn Selbsterhaltung sich nur in einem Streben nach maximaler individueller Macht dokumentieren kann, letzteres sich aber auf die Anhäufung von Gütern richtet, dann begegnen Menschen einander notwendigerweise als Konkurrenten, woraus dann Knappheit entsteht. Dabei ist nicht von vornherein festgelegt, auf welche Güter sich die Konkurrenz richtet, denn im Naturzustand ist mangels einer unabhängigen Zwangsgewalt jedes Individuum selbst Richter über die Angemessenheit seiner Bedürfnisse und Wünsche (vgl. Lev. 14, S. 124). Jeder entscheidet also selbst, welche Güter für seine Selbsterhaltung erforderlich sind. Daß es dabei durchaus nicht nur oder nicht einmal primär um unmittelbar überlebenstaugliche Dinge wie etwa genußfertige Nahrung, Wasser, Kleidung etc. geht, zeigen übrigens Hobbes' eigene Bemerkungen im Kapitel 13 des Leviathan. Da wird ζ. B. um ein „geeignetes Stück Land", um „die Früchte seiner Arbeit", um „Besitz" konkurriert (vgl. Lev. 13, S. 111). Im übrigen ist der Begriff eines Gutes bei Hobbes so weit, daß zu den Gütern beispielsweise auch die Unterstützung durch andere im Kampf um die eigene Selbsterhaltung zählt. Insgesamt gesehen wird noch einmal deutlich, daß es den Menschen bei ihrer Selbsterhaltung nicht um die bloße biologische Existenz zu tun ist, sondern daß Selbsterhaltung von vornherein die langfristige Perspektive der aktiven Sicherung einschließt. Es bleibt die Frage zu beantworten, warum die weitgehende Gewaltkompetenzgleichheit die Menschen im Naturzustand nicht vom allgemeinen Konkurrenzkampf abhält. Wenn jedes Individuum in gleicher Weise in der Lage ist, das andere zu töten, sei es durch eigene Kräfte oder durch ein Bündnis, dann scheint es in den meisten Fällen rationaler zu sein, sich nicht gegenseitig anzugreifen, weil jeder begründete Furcht haben muß, bei einem Kampf selbst der Unterlegene zu sein. Zwar geht es bei der Selbsterhaltung nicht um das Überleben als solches, doch wird man dieses dennoch vernünftigerweise nur dann riskieren, wenn man keine Hoffnungen auf die Gestaltung einer sicheren Zukunft mehr hat. Dennoch setzt Hobbes voraus, daß die Menschen in gleicher Weise große Hoffnungen hegen, ihre Ziele zu verwirklichen. Aus dem scheinbaren Mißverhältnis zwischen diesen Hoffnungen eines jeden auf Realisierung seiner Absichten und der faktischen Gewaltkompetenzgleichheit aller bezüglich der gegenseitigen Tötung und Unterwerfung hat man manchmal geschlossen, daß Hobbes' Konstruktion des Naturzustandes als Krieg eines jeden gegen jeden nicht logisch zwingend, wenn nicht sogar inkonsistent ist. Doch dieser Einwand geht an einem simplen Punkt vorbei. Kurz bevor Hobbes ausführt, daß aus der Gleichheit der Fähigkeiten eine Gleichheit der Hoffnungen auf Selbsterhaltung entsteht, bemerkt er folgendes: „That which may perhaps make such equality incredible, is but a vain conceit of one's o w n wisdom, which almost all men think they have in a greater degree, than the vulgar; that i s , than all men but themselves, and a few others, whom by fame, or for concurring with themselves, they approve. For such is the nature of men, that howsoever they may ac-
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knowledge many others to be more witty, or more eloquent, or more learned; yet they will hardly believe there be many so wise as themselves; for they see their own wit at hand, and other men's at a distance." (Lev. 13, S. 110 f.) Die intellektuellen Fähigkeiten der Menschen sind also hinsichtlich der gegenseitigen Tötungs- und Unterwerfungsfähigkeit weitgehend gleich, doch die meisten Menschen glauben dies nicht, weil sie zur Selbstüberschätzung neigen. D. h. sie erkennen irrationalerweise den anderen nicht als Gleichen an, und so wagen sie es, sich auf Konkurrenzkämpfe einzulassen. Wir können jetzt die folgende Argumentationskette rekonstruieren, die zum Ergebnis führt, daß der Naturzustand ein bellum omnium contra omnes ist: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Alle Menschen wollen sich selbst erhalten. Das Streben nach Selbsterhaltung äußert sich in einem prinzipiell unbegrenzten Streben nach Macht. Das Streben nach Macht ist ein Streben nach Aneignung von Gütern. D i e Menschen sind bezüglich ihrer wechselseitigen Gewaltkompetenzen einander weitgehend gleich. Die meisten Menschen überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten. Im Naturzustand gibt es keine Instanz, welche die individuellen Bestrebungen nach Selbsterhaltung kontrollieren würde. Der Naturzustand ist durch einen schrankenlosen Konkurrenzkampf um Güter charakterisiert, der zwischen allen Individuen ausgetragen wird, durch ein bellum omnium contra omnes.
In der Konklusion dieses Gedankenganges wird der naturzuständliche Krieg als ein Konkurrenzkrieg bzw. als ein Güteraneignungskampf beschrieben, wobei das Konkurrenzmotiv als solches fest im Streben nach Selbsterhaltung verankert ist. Hobbes bleibt jedoch bei dieser Perspektive auf den Krieg im Naturzustand nicht stehen. Im vierten Abschnitt des Kapitels 13 schreibt er folgendes: „And from this diffidence of one another, there is no way for any man to secure himself, so reasonable, as anticipation; that is, by force, or wiles, to master the persons of all men he can, so long, till he see no other power great enough to endanger him: and this is no more than his own conservation requireth, and is generally allowed. Also because there be some, that taking pleasure in contemplating their own power in the acts of conquest, which they pursue farther than their security requires; if others, that otherwise would be glad to be at ease within modest bounds, should not by invasion increase their power, they would not be able, long time, by standing only on their defence, to subsist. And by consequence, such augmentation of dominion over men being necessary to a man's conservation, it ought to be allowed him." (Lev. 13, S. I l l f.) In diesem Zusammenhang kommt eine neue Konfliktquelle ins Spiel: das Mißtrauen (diffidence, lat.: defensio) und damit die zentrale Kategorie der gegenseitigen Furcht. Es ist wichtig zu bemerken, daß zwar der Gedanke der Furcht im Sinne der Sorge um die eigene Zukunft bei der Ableitung des Konkurrenzkampfes implizit eine Rolle spielt, der Gedanke der Furcht vor dem jeweils anderen jedoch dort noch nicht vorkommt. Im Gegenteil: Hobbes betont dort einen natürlichen Optimismus der Menschen, aufgrund dessen jeder meint, aus einem Kampf um die Aneignung von Gütern als Sieger hervorgehen zu können. Nur auf der Basis dieser
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Selbstüberschätzung wird der allgemeine Konkurrenzkampf wirklich zwingend. Im Laufe dieses Güterkrieges erfahren sich jedoch die Menschen als Feinde, und vor allem lernen sie oder die meisten von ihnen, den anderen im Hinblick auf die Tötungsfähigkeit als einen Gleichen zu erkennen. Das Moment der Selbstüberschätzung gerät erheblich ins Wanken, und an seine Stelle tritt die Furcht vor dem als Feind wahrgenommenen anderen, die von nun an das Kriegstheater des Naturzustandes beherrscht. Durch diese Furcht wird die Situation nicht entschärft, sondern zunächst einmal verschärft. Da jeder sich von jedem bedroht fühlen muß, ist Prävention durch Gewalt oder List vernünftig (reasonable) und erforderlich. Wer guten Grund hat, sich vor anderen zu fürchten, wird nach größtmöglicher Herrschaft über andere streben, um sich selbst zu sichern. Bereits die Konkurrenz führte zu dem Wunsch der Unterwerfung und Tötung anderer, doch ging es hier darum, sich Güter anzueignen, die man um der eigenen Selbsterhaltung willen für erforderlich hielt. Das Mißtrauen dagegen hat primär deshalb Angriffe auf andere zur Folge, weil man vorbeugend das sichern will, was man bereits hat (vgl. Lev. 13, S. 112). Hobbes sagt uns nun in diesem Zusammenhang, daß auch solche Menschen, die an sich mit einem bescheidenen, aber behaglichen Leben zufrieden wären, andere angreifen müssen, weil es einige gibt, die aus Freude an der Macht ihre Eroberungen über das Sicherheitsmaß hinaustreiben. Diese Stelle ist kommentierungsbedürftig. Zunächst: Wer sind jene machtsüchtigen Menschen, die Hobbes uns hier vorstellt bzw. was ist das Spezifische an ihnen? Sicher ist es nicht der Umstand, daß sie nach Macht streben, denn hierdurch sind nach Hobbes bekanntlich alle Menschen gekennzeichnet (vgl. Lev. 11, S. 85 f.). Es ist auch nicht die Tatsache, daß sie ihr Machtstreben durch Eroberungen ausleben, kraft derer sie sich anderer Leute Gut aneignen, denn auch dies gilt im Naturzustand von allen Menschen, sowohl von denen, die aus dem Konkurrenzmotiv als auch von denen, die aus dem Abwehrmotiv heraus handeln. Beide Typen von Menschen werden vom Selbsterhaltungsmotiv geleitet, während die „Machtsüchtigen" die durch Eroberung erworbene Macht nicht nur wegen deren Selbsterhaltungsfunktion schätzen, sondern weil sie das Ausüben von Macht angenehm finden. Sie tendieren also dazu, Macht als Selbstzweck anzustreben, was nach Hobbes in der Tat bei den meisten Menschen nicht der Fall ist. Zweitens stellt sich die Frage, ob der Naturzustand noch derjenige wäre, der er ist, wenn es diese „süchtigen" Menschen nicht gäbe. Dieses Problem ist in der Literatur umstritten. Esfeld ζ. B. behauptet, daß die Prämisse von der Existenz solcher Individuen entscheidend für die Begründung der These vom Naturzustand als allgemeinem Kriegszustand sei.22 Ich meine, daß dies zumindest im Hinblick auf die Ausführungen im Leviathan nicht zutrifft. Zunächst spricht Hobbes' eigener Wortlaut gegen diese Behauptung. Die beiläufigen Worte „Also because ..." deuten eher daraufhin, daß dem Vorhandensein solcher Menschen ein marginaler Status bei der Herleitung der These vom Kriegszustand zukommt. In der Tat scheinen mir die bisherigen Konfliktmotive (Konkurrenz und Mißtrauen) völlig auszureichen, um einen Krieg in Hobbes' Sinn zu begründen. Schließlich ist es wichtig zu betonen, daß zwischen denjenigen Menschen, die auf Machtgenuß aus sind, und anders motivierten Individuen im Naturzu-
Siehe Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S . 2 4 1 . Für eine andere Einschätzung vgl. Siep: Der Kampf um Anerkennung, S. 15 6 ff.
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KRIEG UND NATURZUSTAND
stand absolut nicht unterschieden werden kann. 23 Es unternimmt dort buchstäblich jeder den Versuch anzugreifen, zu erobern und zu unterwerfen, und man kann nicht wissen, w e r dieses aus welchen Gründen tut. Wüßte man es, so könnten sich ζ . B . die vielen an Selbsterhaltung und Sicherheit orientierten Individuen zu einem wirksamen Verteidigungsbündnis g e g e n die wenigen Machtgierigen zusammenschließen. D i e Struktur des Naturzustandes gestattet jedoch eben ein solches Bündnis nicht, denn jeder Verbündete könnte sich als einer v o n „den anderen" herausstellen. Interessanterweise führt H o b b e s erst im Zusammenhang mit d e m Mißtrauensmotiv den Gedanken ein, daß im Naturzustand jeder ein Rechtauf
alles hat. 24 Er sagt, es sei wegen des
gegenseitigen Mißtrauens für jeden „ a l l g e m e i n erlaubt", jedermann zu unterwerfen (und zu töten), bis er keine Gefahr mehr sieht, die ihm v o n irgend jemand drohen könnte. I m Kontext des Konkurrenzmotivs ist weder explizit noch implizit von einem Recht eines jeden auf alles die Rede. D i e normative Kategorie des Erlaubtseins trauen, Furcht im Leviathan
betritt erst im Rahmen v o n
Miß-
und Abwehr die Bühne. D i e s scheint mir ein starker Beleg dafür zu sein, daß aus der Selbsterhaltung allein noch nicht das Recht auf alles f o l g t , sondern nur
aus einer auf bestimmte W e i s e geprägten Selbsterhaltung. W a s aber ist das Unterscheidungskriterium? Es hat offensichtlich etwas mit den Kategorien Erfordernis
b z w . Notwendigkeit
zu
tun. D e r Schritt von der Selbsterhaltung zum Erlaubtsein erfolgt bei H o b b e s über die Brücke des Sachzwanges. K e i n solcher Sachzwang trieb ursprünglich zum Konkurrenzkampf, sondern dieser ist vielmehr zumindest teilweise „irrational", w e i l untrennbar mit der Selbstüberschätzung verknüpft. Z w a r ist letztere, w i e alle anderen menschlichen Leidenschaften und Begierden, „an sich keine Sünde", w i e Hobbes wenig später bemerkt ( v g l . L e v . 13, S . 114), doch dies heißt noch lange nicht, daß alle hieraus resultierenden Handlungen erforderlich und damit erlaubt sind. „ V e r n ü n f t i g " in einem bestimmten Sinn dieses W o r t e s , der die entscheidende Beteiligung von A f f e k t e n nicht ausschließt, wird der K r i e g eines jeden gegen jeden erst dort, w o die wohlbegründete Furcht v o r d e m anderen um sich greift. W a s als ein A n g r i f f s krieg um G e w i n n beginnt, wird in einer zweiten Phase zu einem Verteidigungskrieg. Dabei ist es
wichtig
zu betonen, daß z w i s c h e n A n g r i f f und Verteidigung im
Naturzustand
schlechterdings nicht extern unterschieden werden kann. Differenziert werden kann nur zwischen verschiedenen M o t i v l a g e n und Antriebskräften in den Menschen, doch dabei schlägt sich das Verteidigungsmotiv notwendigerweise genauso (auch) in Angriffshandlungen nieder w i e das Konkurrenz- bzw. Gewinnmotiv. S o erscheint denn der K r i e g des Naturzustandes aus der Perspektive des Mißtrauensmotivs als ein Präventivkrieg,
doch nach außen hin sind wir
mit dem gleichen Szenarium des K a m p f e s eines jeden g e g e n jeden um Güter konfrontiert. Dieser K a m p f erhält seinen unbeschränkten und notwendigen Charakter sogar erst durch das Mißtrauen, denn während der K a m p f um Gewinn theoretisch noch von vielen Menschen beendet werden könnte, wenn sie einen gewissen Grad an Besitz erreicht haben, so z w i n g t die gegenseitige Furcht alle in einen Prozeß hinein, der durch den „guten W i l l e n " der Akteure allein nicht mehr beendet werden kann. Gerade das, was den K r i e g im Naturzustand so unaus-
Dieses wird, allerdings mit Bezug auf De Cive, auch so gesehen von Geismann/Herb: Hobbes über die Freiheit, S. 112 (Scholion 176). Auf das relativ späte Auftreten dieser juridischen Kategorie im Leviathan
im Unterschied zu
den früheren Schriften De Cive und Elements of Law weist nachdrücklich auch Jean Hampton hin. Siehe Hampton: Hobbes and The Social Contract Tradition, S . 6 0 f .
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KRIEG UND MILITÄR IN HOBBES'
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weichlich macht und wodurch er nach Hobbes seine Legitimität gewinnt, macht ihn gleichzeitig so allumfassend und gefahrlich. Eine dritte Konfliktursache, die Ruhmsucht (glory, lat.: gloria), wird von Hobbes durch die folgenden Worte charakterisiert: „Again, men have no pleasure, but on the contrary a great deal of grief, in keeping company, where there is no power able to over-awe them all. For every man looketh that his companion should value him, at the same rate he sets upon himself: and upon all signs of contempt, or undervaluing, naturally endeavours, as far as he dares, (which amongst them that have no common power to keep them in quiet, is far enough to make them destroy each other), to extort a greater value from his contemners, by damage; and from others, by the example." (Lev. 13, S. 112)
Die hier von Hobbes beschriebene Ruhmsucht hängt untrennbar mit der Kategorie der Ehre (honor) zusammen. Die menschliche Ehre ist laut Hobbes die Geltung eines Menschen bzw. dessen Wert (vgl. Lev. 10, S. 76), und dieser richtet sich nach Angebot und Nachfrage, d. h. er besteht, ganz relativistisch, in der Einschätzung eines Menschen durch andere. Die Ehre eines Individuums ist also keine intrinsische Eigenschaft, sondern sie ist gleichbedeutend mit der Hochschätzung durch andere Individuen. 25 Ehre in diesem Sinn ist grundsätzlich Macht (vgl. Lev. 8, S. 60; Lev. 10, S. 76), und zwar eine solche, die darin besteht, von anderen als mächtiger eingeschätzt zu werden als diese sich selbst einschätzen. Der Ruhm unterscheidet sich von der Ehre nur dadurch, daß er in einem korrespondierenden Gefühl besteht, und zwar in der Freude oder Lust an der Vorstellung, anderen überlegen zu sein. 26 Wer ruhmsüchtig ist, ist deshalb nach Hobbes immer auch ehrsüchtig, weil solche Freude ohne die entsprechende Wertschätzung durch andere nicht aufkommen kann. Die Ruhmsucht bzw. das Streben nach Ehre steht im Vergleich zu den Konfliktursachen Konkurrenz und Mißtrauen zunächst einmal seltsam isoliert da, und in der Tat findet man in der Forschungsliteratur die Behauptung, daß Hobbes den Krieg im Naturzustand ganz unabhängig von dieser Motivlage hätte konstruieren können. 27 Die Ehrsucht scheint aller Selbsterhaltung zuwiderzulaufen, und man muß sich in diesem Zusammenhang an die bereits zitierte Aussage erinnern, daß die meisten Menschen lieber ihr Leben aufs Spiel setzen als sich nicht zu rächen (vgl. Lev. 15, S. 140). Von solchen Menschen, die sich um keinen Preis verachten lassen wollen, ist offenbar auch im Kapitel 13 die Rede, und es handelt sich eben hierbei nicht um wenige, sondern um die meisten Menschen. Versteht man Selbsterhaltung im Sinne des nackten Überlebens, dann ergibt sich hieraus klarerweise ein Widerspruch zu Hobbes' These, daß alle (oder doch die allermeisten) Menschen primär ihre Selbsterhaltung im Sinn haben. Doch beinhaltet das Streben nach Selbsterhaltung, wie gezeigt, immer schon den Wunsch nach einem sicheren Leben. Zur Sicherung ist nun die Ehre zunächst ein Mittel wie andere auch. Wer erreichen kann, daß andere ihn höher schätzen als sich selbst, der hat damit aller Wahrscheinlichkeit nach auch erreicht, daß diese ihn nicht angreifen werden. Das Schon Rousseau hat gegenüber Hobbes den Einwand vorgebracht, daß es sich bei der Ehre um eine genuin soziale Kategorie handelt, die in das Modell des Naturzustandes, in dem sich vollständig atomisierte Individuen jenseits aller gesellschaftlichen Beziehungen gegenüberstehen, kaum integriert werden kann. Siehe hierzu Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S . 2 3 5 . Vgl. z.B. Hampton: Hobbes and the Social Contract Tradition, S . 6 1 .
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Streben nach Ehre kann also in gewissem Maße durchaus rational sein, und auch könnte es im Sinne der Selbsterhaltung in manchen Ausnahmesituationen konsequent sein, den Tod einem Leben vorzuziehen, in dem selbst Minimalformen von Ehre nicht mehr vorhanden sind. Daß Ruhmbegierde in Maßen vernünftig ist, schreibt Hobbes ausdrücklich in De Homine: „Auch die Liebe zum Ruhm oder zu Berühmtheit ist unter die Störungen zu rechnen, wenn sie allzu groß ist. Das richtige Maß aber sowohl für die Ruhmbegierde wie für die Begierde nach anderen Dingen bestimmt ihre Nützlichkeit; d. h. inwieweit sie der Lebenssicherung dienen können. So mag es uns wohl angenehm sein und vielleicht anderen mit zugute kommen, wenn wir auf Nachruhm bedacht sind. Aber es ist ein bedeutender Irrtum, etwas Zukünftiges, das wir doch nicht empfinden oder nur gering einschätzen können, als Gegenwärtiges zu betrachten. Ebensogut könnten wir darüber trauern, daß wir vor unserer Geburt nicht berühmt gewesen sind." (DH 12/8, S. 3 4 f.)
Dennoch ist festzuhalten, daß Hobbes im Rahmen von Kapitel 13 des Leviathan nicht über rational handelnde Ruhmliebende spricht. Überdeutlich ist seine Verachtung, wenn er etwa beiläufig bemerkt, daß Ruhmsüchtige wegen „Kleinigkeiten" ( t r i f l e s ) Konflikte eingehen (vgl. Lev. 13, S. 112). Es ist offenbar seine klare Meinung, daß der Krieg des Naturzustandes, sofern er aus Ruhmsucht entsteht, das Gegenteil von vernünftig ist. Doch auch an diesem Punkt ergibt sich noch nicht unbedingt ein Widerspruch zur Selbsterhaltungsthese. Es ist eine Sache zu behaupten, daß alle Menschen nach Selbsterhaltung streben und eine andere zu sagen, daß sie dabei immer den richtigen Weg einschlagen. 28 So werden auch die Ehr- und Ruhmsüchtigen von der Selbsterhaltung umgetrieben, doch sie täuschen sich bei ihren Versuchen, diese zu verwirklichen, über ihre wahren Interessen. Daß die Naturzustandssubjekte sich über ihre „eigentlichen" Selbsterhaltungsinteressen bzw. über die rechten Mittel zur Selbsterhaltung täuschen, ist ohnehin klar, ist doch dieser Zustand ein einziges Fiasko. Dennoch gibt es, wie bereits gezeigt, graduelle Unterschiede bezüglich der Rationalität dar (Kampf-)Handlungen im Naturzustand. Bereits die vom Gewinnmotiv geleiteten Handlungen, die den Krieg des Naturzustandes zu einem Konkurrenzkrieg machen, sind keinesfalls rein rational, weil sie auch auf der Eigenschaft der Selbstüberschätzung beruhen. Ebenso sind die durch Mißtrauen hervorgerufenen Aktionen und Dispositionen nicht rein vernünftig im Sinne des Ausgeschlossenseins affektiver Anteile, denn schließlich besteht das Mißtrauen in einer bestimmten Ausprägung der Leidenschaft der Furcht. Der Unterschied zur Konkurrenz besteht nur darin, daß es für das Mißtrauen unter Naturzustandsbedingungen die allerbesten Gründe gibt. Dagegen sind die Gründe für Konkurrenzkämpfe unter der Voraussetzung der prinzipiellen Gleichheit der Gewaltkompetenzen keine so guten. Die Handlungen aus Ruhmsucht, durch die das bellum omnium contra omnes als ein Krieg um Anerkennung erscheint, sind am unvernünftigsten, wird hier doch das eigene Leben aufgrund von Marginalien riskiert. Bezeichnenderweise fehlt im Kontext von Hobbes' Äußerungen über die Ruhmsucht auch jede Erwähnung des Rechtes auf alles. Dieses Recht kommt ausschließlich im Zusammenhang mit dem Mißtrauensmotiv zur Sprache, durch das Daß es nach Hobbes eine Kluft zwischen den Selbsterhaltungsbestrebungen der Individuen und dem Wissen über die geeigneten Mittel zur Selbsterhaltung geben kann, wird in der Literatur oft betont. Siehe stellvertretend für viele Münkler: Thomas Hobbes, S. 102. Siehe auch Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S. 306 Fn.
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der Krieg zu einem präventiven Verteidigungskrieg wird. Nur hier haben wir es mit der reinen gegenseitigen Furcht als Motor eines allumfassenden Krieges zu tun, durch welche allein dieser zu einem legitimen wird. Bei den beiden anderen Motiven liegt eine Gemengelage zwischen Furcht und anderen Leidenschaften vor, im einen Fall der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, im anderen mit einer maßlosen Sucht nach Anerkennung. Sucht man nach einem Schlüssel, um den betreffenden Unterschied auf den Punkt zu bringen, so findet man ihn in der Anerkennung des anderen als Gleichem. Nur im Modus der umfassenden wechselseitigen Furcht erkennen die menschlichen Individuen sich als solche an, die einander Gleiches tun können (vgl. DC1/3, S. 45), nämlich sich zu töten und zu unterwerfen. Hobbes faßt seine Untersuchung über Konfliktursachen in den folgenden Worten zusammen: „So that in the nature of man, we find three principal causes of quarrel. First, competition; secondly, diffidence; thirdly, glory. The first, maketh men invade for gain; the second, for safety; and the third, for reputation. The first use violence, to make themselves masters of other men's persons, wives, children, and cattle; the second, to defend them; the third, for trifles, as a word, a smile, a different opinion, and any other sign of undervalue, either direct in their persons, or by reflection in their kindred, their friends, their nation, their profession, or their name." (Lev. 13, S. 112)
Dieser Passus 29 enthält eine etwas irreführende Terminologie. Zunächst könnte er suggerieren, daß weder Konkurrenzkämpfe noch Kämpfe aus Ruhmsucht etwas mit Sicherheit (safety) und Selbsterhaltung zu tun haben. Dieses ist jedoch nicht der Fall. In bezug auf das Konkurrenzmotiv hatte Hobbes selbst bemerkt, daß diejenigen, die wegen eines Gewinns Konflikte eingehen, in den seltensten Fällen sich von Genuß leiten lassen, sondern von der Selbsterhaltung (vgl. Lev. 13, S. 111). Von den Individuen, die aus Mißtrauen heraus handeln, unterscheiden sie sich nur dadurch, daß sie sich mehr Besitz aneignen bzw. sich überhaupt erst Besitz aneignen wollen, während erstere handeln, um bereits vorhandenen Besitz zu verteidigen. Nach außen hin dokumentieren sich, wie gezeigt, beide Motivlagen in den gleichen Handlungen, da auch die vom Mißtrauen geleiteten Menschen im Naturzustand ihren Besitz durch Angriff vergrößern müssen, um sich zu verteidigen. Wenn auch Konkurrenz und Mißtrauen sich hinsichtlich der Bewertung durch Hobbes voneinander unterscheiden, so sind beide doch über das gemeinsame Band der Selbsterhaltung miteinander verbunden. Selbst die von Hobbes so ungeliebte Ruhmsucht basiert letztlich noch auf dem Motor der Selbsterhaltung, so kontraproduktiv sie sich auch im einzelnen gebärden mag. Sie setzt das Streben nach Ehre voraus, und Ehre ist, wie Hobbes in den Kapiteln 8, 10 und 11 des Leviathan zeigt, eine Art von Macht, und Macht ist für die Menschen erforderlich, um sich selbst zu sichern.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß Hobbes' Theorie der drei Konfliktursachen auf Thukydides zurückgeht. Letzterer stellt in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges eine Rede athenischer Gesandter in Sparta dar, die im Vorfeld des Krieges gehalten wird. Dort führen die Athener ihre Art der Herrschaft auf drei Motive bzw. Mächte zurück: Furcht, Ehre und Vorteil. Vgl. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, I, 75. Siehe hierzu auch Klosko/Rice: Thucydides and Hobbes's State of Nature, hier bes. S. 5 5 6 .
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Zweitens könnte der Inhalt der zitierten Textstelle nahelegen, daß es möglich ist, jeder Gewalthandlung im Naturzustand genau eine Motivlage zuzuordnen, vielleicht sogar die Naturzustandssubjekte überhaupt je nach Motivlage in drei einander ausschließende Klassen einzuteilen. Dies ist sicher nicht zutreffend; alle drei Motive sind in allen Menschen angelegt und können sicher auch in gemischter Form Handlungen hervorrufen. Zwar lassen sich die Motive selbst analytisch auseinanderhalten, doch bleibt diese Trennung auf der Ebene des empfindenden und handelnden Individuums abstrakt. Aus den bisherigen Untersuchungen ergibt sich, daß Hobbes' Kriegsursachentheorie es nicht erlaubt, eine säuberliche Unterscheidung zwischen rationalen und affektuellen Kriegsmotiven zu treffen. Dennoch sind Versuche dieses Typs in der Sekundärliteratur unternommen worden. So differenziert Jean Hampton hinsichtlich der Konfliktursachen zwischen einem rationality account, einem passions account und einem shortsightedness account.10 Als „rational" faßt Hampton die Motivierung des bellum omnium contra omnes durch Konkurrenz und Mißtrauen auf, als affektgesteuert aber seine Verursachung durch Ruhmsucht. Was sie den „shortsightedness account" nennt, liegt zwischen diesen beiden Erklärungsansätzen. Sowohl Konkurrenz als auch Mißtrauen beruhen auf einer vernünftigen Selbsterhaltungskalkulation; die Ruhmsucht ist durch gar kein Kalkül zu fassen; „kurzsichtiges" Handeln schließlich läßt sich durch Fehlkalkulationen leiten. Im Hobbesschen Text erscheinen jedoch Vernunft und Affekte als so sehr miteinander verschränkt, daß die obige Einteilung als Interpretation nicht überzeugen kann. Einerseits ist das Konkurrenzmotiv nicht völlig rational, weil untrennbar mit der Selbstüberschätzung verknüpft und übrigens auch mit der Furcht im Sinne der Sorge um die eigene Zukunft. Andererseits ist selbst die Ruhmsucht nicht gänzlich unvernünftig, denn auch sie ist letztlich von einem, wenn auch mißverstandenen Selbsterhaltungsinteresse geleitet. Schließlich sind zwar die Handlungen aus Mißtrauen die vergleichsweise rationalsten, doch darf man hierbei zwei Dinge nicht aus dem Auge verlieren. Erstens handelt es sich beim Mißtrauen um eine Art Rationalität innerhalb des Irrationalen; zweitens besteht Mißtrauen aus gegenseitiger Furcht, doch die Furcht ist bekanntlich für Hobbes eine Leidenschaft (passion), und schon deshalb ist die Differenzierung zwischen einem passions account und einem rationality account nicht wirklich treffend.
3.2.3. Wege aus dem Naturzustand Am Ende des Leviathan-Kapiteh Naturzustand heraus:
13 gibt Hobbes einen knappen Ausblick auf Wege aus dem
„And thus much for the ill condition, which man by mere nature is actually placed in; though with a possibility to come out of it, consisting partly in the passions, partly in his reason. The passions that incline men to peace, are fear of death; desire of such things as are necessary to commodious living; and a hope by their industry to obtain them. And reason suggesteth convenient articles of peace, upon which men may be drawn to agreement.
30
Vgl. Hampton: Hobbes and the Social Contract Tradition, S . 5 8 f f . , S . 6 3 f f . , S . 8 0 f f .
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These articles, are they, which otherwise are called the Laws of Nature: whereof I shall speak more particularly, in the following chapters." (Lev. 13, S. 115 f.)
An dieser Stelle erfahren wir, daß die Leidenschaften, die die Menschen friedfertig machen, offensichtlich identisch sind mit jenen, die sie zum Kriege geneigt machen. Schließlich sind alle hier von Hobbes erwähnten Motivlagen auch für den naturzuständlichen Krieg verantwortlich. Nun registrieren die Menschen allerdings an irgendeinem Punkt des Naturzustandes, daß dieser Zustand ihren wahren Selbsterhaltungsinteressen zuwiderläuft, und zwar nicht trotz, sondern wegen des Rechtes auf alles, das dort einem jeden zukommt. Dies ist der Punkt, der von Hobbes an anderer Stelle so beschrieben wird: „For men, as they become at last weary of irregular jostling, and hewing one another, and desire with all their hearts, to conform themselves into one firm and lasting edifice (...)." (Lev. 29, S. 308)
Doch so sehr die Menschen sich solches wünschen mögen, so wenig werden sie hierdurch ihrer Leidenschaften ledig, die als fester Bestandteil zu ihrer Menschennatur gehören. Der Ausdruck „Natur", soweit er sich auf Menschen bezieht, ist in Hobbes' Sprachgebrauch (mindestens) doppeldeutig. Er ist zum einen übersetzbar mit „Zustand der Menschen unabhängig von aller staatlichen Herrschaft", doch ist er hierauf meiner Ansicht nach nicht reduzierbar, wozu etwa Geismann/Herb tendieren.31 In der erwähnten Bedeutung ist der Naturbegriff klarerweise sekundär gegenüber dem Staatsbegriff. Die menschliche Natur erscheint hier als das, was sich ergibt, wenn wir von den Menschen die staatliche Organisation „abziehen". Der Naturzustand ist dann keine Lage, in welche die Menschen aufgrund ihrer natürlichen Neigungen geraten würden, sondern eine Situation, die sich ohne staatliche Herrschaft mit struktureller Notwendigkeit herstellen würde, ganz unabhängig von irgendwelchen Eigenschaften, aus denen Menschen von sich aus zum Kriege neigen würden. Doch längst nicht alle Verwendungen des Wortes „Natur" bei Hobbes lassen sich durch diese Bedeutungsebene fassen, wie sich ζ. B. an der folgenden Stelle aus Kapitel 13 zeigt: „But neither of us accuse man's nature in it. The desires, and other passions of man, are in themselves no sin. No more are the actions, that proceed from those passions, till they know a law that forbids them (...)." (Lev. 13, S. 114)
Der Sinn des Ausdrucks „menschliche Natur" geht hier sichtlich nicht in der Gleichung „Mensch minus Staat" auf, sondern er bezieht sich auf die menschlichen Leidenschaften, die es klarerweise sowohl unter naturzuständlichen als auch unter staatlichen Bedingungen gibt. Hobbes' Begriff der menschlichen Natur schwankt zwischen einer rechts- und politikbezogenen und einer anthropologischen Bedeutung. Man wird ihn nicht einseitig auf eine dieser Dimensionen fixieren können. 32 31
32
Siehe Geismann/Herb: Hobbes Uber die Freiheit, S.23; S.98 (Scholion 153). Es gibt in der Hobbes-Forschung mittlerweile eine Auseinandersetzung darüber, ob im Zentrum seiner Philosophie die Anthropologie, die politische Philosophie oder die Rechtsphilosophie steht. Für letztere Position machen sich dezidiert Geismann/Herb stark, die sich vor allem gegen die Überschätzung anthropologischer Kategorien bei Hobbes wenden. Ihrer Meinung nach beruht die Hobbessche Naturzustandstheorie auf einer „rein rationalen" rechtstheoretischen Argumentation, die von einer Anthropologie ganz unabhängig ist. Der Naturzustand erscheint im Lichte ihrer stark kantianisierenden Interpretation ausschließlich als ein
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Kommen wir zum Thema Krieg zurück. Aus der Tatsache, daß die friedensfördemden Leidenschaften gleichzeitig diejenigen sind, die unter Umständen auch geeignet sind, zum Krieg zu führen, können wir folgende zusammenhängende Punkte erschließen: Auf der Ebene der Ursachenanalyse besteht offensichtlich zwischen Krieg und Frieden keine scharfe Grenzlinie, sondern vielmehr ein ¡Continuum-, jeder Friede muß zwangsläufig ein prekärer sein, da er potentiell stets durch die menschlichen Leidenschaften gefährdet ist, und schließlich ist ein (relativ) stabiler Frieden nur durch Zwang möglich, der die Menschen daran hindert, ihren Leidenschaften so nachzugehen, wie sie es wollen. Die Funktion solcher Zwangsausübung erfüllt bei Hobbes der staatliche Souverän. Von diesem nun schreibt Hobbes im Kapitel 21 des Leviathan: „(...) so that he never wanteth right to anything, otherwise, than as he himself is the subject of God, and bound thereby to observe the laws of nature." (Lev. 21, S. 2 0 0 )
Diese Stelle ist äußerst bedeutsam im Hinblick auf Hobbes' Sichtweise des Verhältnisses von Krieg und Frieden. Aus ihr folgt, daß dem Souverän de facto ein Recht auf alles zukommt. So heißt es auch in De Cive vom Inhaber der höchsten Staatsgewalt, daß dieser „ ( . . . ) by Right compells all men to all things which he himselfe wills; then which a greater command cannot be imagined." (DC 6/6, S. 9 4 )
Der Souverän ist allein Gott, dem Konstrukteur der Naturgesetze, verpflichtet. Auf die Naturgesetze soll im nächsten Kapitel eingegangen werden. An dieser Stelle ist festzuhalten, daß der Souverän in dieser Welt von keinem menschlichen Wesen wegen des Bruchs eines Naturgesetzes belangt werden kann. Noch viel weniger gilt dies von eventuellen „Brüchen" staatlicher Gesetze, denn diese stammen vom Souverän selbst, und da dieser nach Hobbes nicht sich selbst verpflichtet ist (vgl. Lev. 29, S. 312), kann er im eigentlichen Sinn keines seiner Gesetze brechen. Der Souverän besitzt also ein Recht auf alles. Dies ergibt sich ja auch mit Zwangsläufigkeit aus der Logik von Hobbes' Theorie der Staatsgründung, in deren Verlauf die Individuen ihr jeweils eigenes Recht auf alles auf den Souverän übertragen, so daß dieser dann nicht nur über ein einzelnes beliebiges, sondern über die Summe aller individuellen Rechte auf alles verfügt. Kraft dieses „Superrechtes" befindet sich der staatliche Souverän in einer analogen Lage wie während des Naturzustandes alle Individuen. Die an eine berühmte Formulierung von Hobbes aus De Cive (vgl. DC/Epistle Dedicatory, S. 24) anschließende Redeweise vom Hobbesschen Souverän als dem letzten nicht domestizierten
Rechtszustand, dessen Beschaffenheit vollständig unabhängig von der besonderen Natur der Menschen im Naturzustand ist. Vgl. Geismann/Herb: Hobbes über die Freiheit, S . 2 2 ; S . 2 5 f f . - Siehe hierzu neuerdings auch Hüning: Freiheit und Herrschaft, S . 4 2 f f . Hüning wendet sich nicht nur gegen eine Unterordnung der Rechtstheorie unter die Anthropologie, sondern er ist auch der Meinung, daß der Rechtsphilosophie ein Primat gegenüber der politischen P h i l o s o phie zukommt. - Für eine untrennbare Verbindung von Anthropologie und politischer Theorie spricht sich Schelsky aus. Vgl. Schelsky: Thomas Hobbes, S . 8 6 ; S. 108; S . 3 2 1 . - Daß die Anthropologie ins Zentrum von Hobbes' politischem Gesamtsystem führt, ist die Auffassung von Esfeld. Vgl. Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S . 8 8 . - Zum Verhältnis v o n Anthropologie und Politik vgl. auch Bartuschat: Anthropologie und Politik bei Thomas Hobbes.
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Wolf ist also nicht falsch. 3 3 Nun ist das Recht auf alles, das die Gewalt über Leben und Tod einschließt, definitiv (auch) ein Kriegsrecht (vgl. auch D C 6/2, S . 93). Dieses verschwindet also durch den staatlichen Zustand nicht, sondern wird vielmehr monopolisiert, eben hierdurch aber in seiner Wirkung entschärft. Demnach wird mittels der Hobbesschen Staatsmaschine auch nach innen kein gewaltfreier Frieden begründet, sondern ein politischer Körper, der sich aus einer Kriegs- und einer Friedenskomponente zusammensetzt. Dabei liegt die Kriegskomponente in dem Recht auf alles; die Friedenskomponente besteht darin, daß gerade dieses Recht, konzentriert in einer Hand, zu maximal möglicher Sicherheit führt. M u ß im Naturzustand jeder jeden fürchten, so wird diese Furcht unter staatlichen Bedingungen auf einen umgelenkt. Ein offenkundiger Unterschied liegt darin, daß man sich auf einen Willen einstellen kann, mag dieser auch noch so sehr wechseln, auf die unterschiedlichen Bestrebungen eines jeden anderen aber niemals. Es gibt jedoch noch eine weitere wesentliche Differenz. Das in einer Hand monopolisierte Kriegsrecht ist kraft des Staatsvertrages ein allgemein als legitim anerkanntes, wodurch es sich von dem anarchischen Recht eines jeden auf alles im Naturzustand unterscheidet. Max Weber hat diesen Gedanken später sehr klar formuliert: daß (inner-)staatlicher Frieden sich nicht durch die Eliminierung von Gewalt überhaupt herstellt, sondern durch deren Zentralisierung und vor allem deren Legitimierung. Hier handelt es sich um eine sehr hobbesianische Konzeption. Zusammenfassend läßt sich zu diesem Komplex sagen: Herrschaft, die es im Naturzustand nicht oder nur vorübergehend gibt, ist konstitutiv für Frieden, doch in jeder Form von Herrschaft gibt es ein kriegsursprüngliches Element, und zwar das Element von Zwang, Gewaltdrohung und manchmal auch faktischer Gewalt, 3 4 so verdeckt und irrelevant dieses auch in solchen Zeiten erscheinen mag, die nicht im Zeichen der Krise stehen. Die folgenden Worte von Hobbes aus dem Widmungsschreiben zu De Cive enthalten somit eine seltsame Pointe: „To speak impartially, both sayings are very true; That Man to Man is a kind of God; and that Man to Man is an arrant Wolfe: The first is true, if we compare Citizens a m o n g s t themselves; and the second; if we compare Cities. In the one, there's some analogie of s i militude with the Deity, to wit, Justice and Charity, the twin-sisters of peace: But in the other, Good men must defend themselves by taking to them for a Sanctuary the two daughters of War, Deceipt and Violence: that is in plaine termes a meer brutali Rapacity (...)."
Die Gottähnlichkeit der im Staat organisierten Menschen, von der Hobbes hier spricht, kann sich nur herstellen, weil diese einem allmächtigen Wolf unterworfen sind. Bei diesem sind die kriegerischen Tugenden (virtutes Bellicas) der Gewalt und der List konzentriert, weiden aber nunmehr zum Schutze der Menschen nach innen und außen eingesetzt. Der leviathanische Frieden ist in hohem Maße einer, der sich nur entfalten kann, weil er von den Tugenden
Siehe hierzu auch Willms: Das Reich des Leviathan, S. 1 6 4 . D i e Parallelen zu Max Weber sind an dieser Stelle natürlich unübersehbar. Weber teilt mit Hobbes die Auffassung, daß jeder politische Verband in letzter Instanz auf Gewaltsamkeit beruht. Siehe hierzu etwa Weber: Politik als Beruf, S . 2 7 2 . DC/Epistle Dedicatory, S. 24. In De Cive macht Hobbes das Elend des Naturzustandes, anders als im Leviathan, sehr stark von der Existenz einiger weniger „schlechter" Menschen abhängig, die alle anderen durch ihr Beispiel dazu zwingen, sich genauso zu verhalten wie sie selbst. Dieser Unterschied wird an der zitierten Stelle deutlich.
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des Krieges „eingerahmt" ist. In dieser Hinsicht stimmen das Hobbessche und das platonische Friedensmodell übrigens überein. Daß Hobbes auch die Vernunft als friedensstiftenden Faktor ins Spiel bringt, schränkt die bisherigen Ergebnisse durchaus nicht ein. Jene „Grundsätze des Friedens", die durch die Vernunft nahegelegt werden, sind die Naturgesetze, die uns im nächsten Kapitel beschäftigen werden. Von diesen schreibt Hobbes im Kapitel 17 des Leviathan: „For the laws of nature (...) of themselves, without the terror of some power, to cause them to be observed, are contrary to our natural passions, that carry us to partiality, pride, revenge, and the like." (Lev. 17, S. 153 f.)
Hieraus geht nun hervor, daß die Naturgesetze als solche der menschlichen Leidenschaftsnatur zuwiderlaufen. Allerdings sieht es ganz so aus, als habe Hobbes hier nicht diejenigen Leidenschaften im Sinn, die am Ende von Kapitel 13 erwähnt werden, also die Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben erforderlich sind und die Hoffnung, diese Dinge durch Fleiß erlangen zu können. Offenbar spielt er in dem zuletzt zitierten Passus auf die Selbstüberschätzung und die Ruhmsucht an, die beim Krieg des Naturzustandes eine so bedeutende Rolle spielten. Man muß also differenzieren: Es gibt solche Leidenschaften, die sowohl kriegs- als auch friedensfördemd sein können und solche, die potentiell immer kriegsfördemd sind, wobei beide in jedem menschlichen Individuum angelegt sind. Die erste Sorte von Leidenschaften läßt sich mit der Vernunft in Übereinstimmung bringen, wenn auch auf Dauer nicht ohne Zwangsgewalt, und auch wenn diese Übereinstimmung im Naturzustand nicht durch „reine Rationalität", sondern hauptsächlich durch bittere Erfahrung hergestellt wird. Für die zweite Gruppe von Leidenschaften scheint zu gelten, daß die Vernunft ihnen gegenüber weitestgehend machtlos ist. Es bleibt in diesem Zusammenhang zu erwähnen, daß Vernunft als solche nach Hobbes alles andere als eine Friedensgarantie ist. Sie ist tendenziell friedensfördernd, insofern sie sich in den Naturgesetzen niederschlägt, die von Gott stammen. Doch Hobbes verwendet den Ausdruck „Vernunft" (reason) nicht immer in diesem Sinn. Er gebraucht ihn manchmal auch, um damit ganz allgemein jene geistigen Fähigkeiten zu bezeichnen, durch die sich Menschen gegenüber anderen Lebewesen auszeichnen. Im Rahmen eines solchen Verwendungskontextes heißt es im Kapitel 17: „Thirdly, that these creatures, having not, as man, the use of reason, do not see, nor think they see any fault, in the administration of their common business; whereas amongst men, there are very many, that think themselves wiser, and abler to govern the public, better than the rest; and these strive to reform and innovate, one this way, another that way; and thereby bring it into distraction and civil war." (Lev. 17, S. 156)
Wo immer es Vernunft gibt, so scheint Hobbes hier sagen zu wollen, gibt es auch den Hang zur geistigen Selbstüberschätzung und Verblendung, und in dieser Hinsicht wirkt sich das Vorhandensein von Vernunft gerade nicht naturgesetzkonform, sondern naturgesetzwidrig aus. Die menschliche Vernunft wird von Hobbes also keineswegs nur als ein Vermögen zur Erkenntnis der Naturgesetze und damit als ein im Prinzip friedensstiftender Faktor bestimmt, sondern auch und gleichzeitig als ein Fundament des Irrtums und damit als eine mögliche Konfliktquelle. Die gleiche Ambivalenz, die Hobbes' Betrachtung der Leidenschaften beherrscht, ist demnach auch prägend für seine Auffassung der Vernunft. Es scheint in den Menschen schlechterdings nichts zu geben, was sich grundsätzlich der Konflikthaftigkeit ent-
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zieht, und somit liegt der Schatten des Krieges als Extremform des Konfliktes auf den affektiven wie den rationalen Anteilen der menschlichen Vernunft. Für großenteils irreführend halte ich die in der Hobbes-Forschung ausgetragene Debatte darüber, ob die Vemunftnatur oder die Leidenschaftsnatur der Menschen für den Krieg im Naturzustand verantwortlich ist.36 Es ist an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, daß in den einschlägigen Beiträgen zu oft die enge Verschränkung beider in Hobbes' Sichtweise übersehen wird. Bezieht man „Vernunft" und „vernünftig" darauf, daß alle oder zumindest die allermeisten Menschen danach streben, ihre eigene Selbsterhaltung zu fördern, dann gibt es nach Hobbes kaum jemanden, der nicht vernünftig denkt und handelt, ganz gleich, von welchen Leidenschaften er umgetrieben wird. Eine andere Frage ist, ob dabei die „richtigen" Wege zur Selbsterhaltung eingeschlagen werden. Auf der anderen Seite ist auf der Grundlage Hobbesscher Kriterien ein „rein" rationales Handeln, also eines, das sich nicht maßgeblich einer Motivation durch Leidenschaften verdankt, vollständig unmöglich. Der Motor eines jeden Selbsterhaltungsstrebens, gleich ob es sich rational im Sinne der Naturgesetze umsetzt oder nicht, ist die Furcht im Sinne der beständigen Sorge um die eigene Zukunft, und die Furcht ist eine Leidenschaft. Die Abkoppelung von Selbsterhaltung im Sinne eines zweckrationalen Interessenkalküls von der entsprechenden Grundemotion der Furcht ist in Hobbes' Theorierahmen nicht praktizierbar. In welchem Ausmaß Rationalität für Hobbes von emotionalen Antrieben abhängig ist, zeigt uns besonders deutlich die folgende Passage, in der sich Hobbes über solche Menschen äußert, die keine Leidenschaft für bestimmte Formen von Macht empfinden: „And therefore, a man who has no great passion for any of these things [Reichtum, Wissen, Ehre]; but is, as men term it, indifferent; though he may be so far a good man, as to be free from giving offence; yet he cannot possibly have either a great fancy, or much judgment. For the thoughts are to the desires, as scouts, and spies, to range abroad, and find the way to the things desired: all steadiness of the mind's motion and all quickness of the same, proceeding from thence (...)." (Lev. 8, S. 61 f.)
Hier behandelt Hobbes die Verstandestätigkeit ausdrücklich als funktional zu Wünschen, welche wiederum eine Ausdrucksform des Machtstrebens sind, das seinerseits auf dem Streben nach Selbsterhaltung beruht und damit in zentraler Weise auf Furcht. Menschliche Verstandesunterschiede sind davon abhängig, wie rege gewisse Machtwünsche ausgeprägt sind. Man kann also mit Hobbes sagen: Die Furcht ist, wenn auch vielleicht nicht in all ihren Formungen, der Motor der Vernunft. Allein deshalb kann die Antwort auf die Frage, welche Wege aus dem Naturzustand herausführen, nicht darin liegen, die Leidenschaften abzuschaffen oder zu ignorieren, denn man würde hiermit zwangsläufig auch die Vernunft im Sinne von Intelligenz eliminieren. Es kann nur darum gehen, für die menschlichen Affekte einen Rahmen zu schaffen, in dem diese sich auf möglichst konstruktive Weise entfalten können.
Daß die Leidenschaften zum Krieg treiben, wird von Strauss vertreten. Siehe Strauss: The Political Philosophy of Hobbes, S . l O f f . - Dagegen ist Kersting der Auffassung, daß sich der Konflikt reiner Zweckrationalität verdankt. Vgl. Kersting: Thomas Hobbes zur Einführung, S. 109. - Tendenziell scheint hierfür auch Hampton zu argumentieren, zumindest in Hinsicht auf den Leviathan. Vgl. Hampton: Hobbes and the Social Contract Tradition, S.5 8 f f .
KRIEG UND NATURGESETZE
3.3. Krieg und Naturgesetze Dieses Kapitel soll der Auseinandersetzung mit der Frage dienen, welche Regeln Hobbes zum Kriegführungsrecht, zur Kriegsprävention, zur Kriegsbeendigung und zur Kriegsschrekkensbegrenzung aufstellt, wie er diese Regeln begründet und welche Probleme mit ihnen verbunden sind. Als solche Regeln kommen im allgemeinen nur die von Hobbes als „Naturgesetze" (laws of nature) bezeichneten Vernunftvorschriften (rules of reason) in Frage, denn weder der im Rahmen der Naturzustandskonzeption entwickelte „Modellkrieg" noch der zwischenstaatliche Krieg noch der Bürgerkrieg sind nach Hobbes durch staatliche Gesetze reguliert. Der Naturzustand ist als ein nicht staatlicher definiert; der Krieg zwischen Staaten ist diesem insofern analog, als es über den einzelnen Leviathanen keinen „Superstaat" gibt, der über diese richten könnte; zumindest wurde eine solche Instanz von Hobbes nicht als möglich oder sinnvoll anvisiert. Nur hinsichtlich des Bürgerkrieges haben wir hier etwas kompliziertere Strukturen; anders als der (fiktive) Krieg des Naturzustandes ist dieser von seinem Ursprung her selbstverständlich ein Verbrechen, weil seine Anstifter durch ihn den Staatsvertrag brechen, doch ist ein Bürgerkrieg erst einmal in vollem Gange, so ist dies nach Hobbes gleichbedeutend mit dem „Tod" des Gemeinwesens (vgl. Lev. /Introduction/X), wodurch sich wieder eine naturzustandsähnliche Lage herstellt, in der die Individuen unabhängig von staatlichen Gesetzen agieren. Was die Kriegsprävention im Hinblick auf den Bürgerkrieg betrifft, so kann und sollte diese klarerweise nach Hobbes auch durch die innerstaatlichen Gesetze gewährleistet werden. Im Hinblick auf die Verhütung des Staatenkrieges, falls diese nach Hobbes überhaupt möglich ist, sind aber die jeweiligen Souveräne allein auf die Naturgesetze verwiesen. Auch bezüglich der Frage, unter welchen Bedingungen es ein Recht und vielleicht sogar eine Pflicht zur Kriegführung gibt, können nur die Naturgesetze befragt werden, mit Ausnahme des Bürgerkrieges, der grundsätzlich durch staatliche Gesetze verboten ist. Aufgabe der folgenden Abschnitte ist eine Analyse des Verhältnisses von Krieg und Naturgesetzen. Dabei kann nicht immer unmittelbar an explizite Aussagen von Hobbes angeknüpft werden, sondern es stellt sich häufiger verstärkt die Herausforderung der Interpretation und Übertragung. Es ist besonders Hobbes' Äußerung zu betonen, Völkerrecht und Naturgesetze seien ein und dasselbe (vgl. Lev. 30, S. 342). Diese Formulierung zeigt klar, daß Hobbes der Meinung war, daß die Naturgesetze in irgendeinem Sinn auch für die Regelung solcher Fragen greifen, die den Krieg zwischen Staaten betreffen.1
Auf die Bedeutung dieser Aussage ist schon anderweitig hingewiesen worden. Siehe z . B . Willms: Das Reich des Leviathan, S. 1 8 2 f f . , hier bes. 188. Eine wirklich detaillierte Untersuchung der Naturgesetze im Hinblick auf die Kriegsthematik liegt jedoch meines Wissens nicht vor.
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3.3.1. Der Status der Naturgesetze Bevor man den Blick auf die natürlichen Gesetze im einzelnen richtet, ist es erforderlich, sich mit dem allgemeinen Status und der Funktion dieser Regeln in Hobbes' Philosophie zu befassen, und zwar insbesondere mit der Frage, zu was und wie genau diese verpflichten. Hobbes will im Leviathan zunächst zwischen einem „Naturgesetz" (natural law) und dem „natürlichen Recht" (natural right) strikt unterscheiden. Er bestimmt den Begriff des natürlichen Rechts in Kapitel 14 folgendermaßen: „THE RIGHT OF NATURE, which writers commonly call jus naturale, is the liberty each man hath, to use his own power, as he will himself, for the preservation of his own nature; that is to say, of his own life; and consequently, of doing any thing, which in his own judgment, and reason, he shall conceive to be the aptest means thereunto." (Lev. 14, S. 116)
Diese Explikation enthält drei Elemente: Erstens ist das Naturrecht ein Recht eines jeden auf Selbsterhaltung; zweitens ist es ein Recht darauf, alle Mittel zu gebrauchen, die zu dem Zweck der Selbsterhaltung erforderlich sind; drittens ist es ein Recht, selbst darüber zu entscheiden, welche Mittel zur Selbsterhaltung erforderlich sind. So definiert, ist das Naturrecht identisch mit dem Recht auf alles, das im Naturzustand einem jeden zukommt. Man muß innerhalb dieser drei Aspekte, die in De Cive übrigens von Hobbes ausdrücklich getrennt aufgeführt werden (vgl. DC 1/7-9, S. 47), von vornherein zwischen solchen unterscheiden, die ihre Gültigkeit auch im staatlichen Zustand nicht verlieren, und solchen, die nur im nichtstaatlichen Zustand einen Rechtscharakter haben. So steht das Recht auf Selbsterhaltung nach Hobbes jedem Individuum zu, unabhängig davon, in welcher Lage es sich befindet. Dieses Recht wird in De Cive auf folgende Weise abgeleitet: „(...) for every man is desirous of what is good for him, and shuns what is evill, but chiefly the chiefest of naturall evills, which is Death; and this he doth, by a certain impulsion of nature, no lesse then that whereby a Stone moves downward: It is therefore neither absurd, nor reprehensible; neither against the dictates of true reason for a man to use all his endeavours to preserve and defend his Body, and the Members thereof from death and sorrowes; but that which is not contrary to right reason, that all men account to be done justly, and with right; Neither by the word Right is any thing else signified, then that liberty which every man hath to make use of his naturall faculties according to right reason: Therefore the first foundation of naturall Right is this, That every man as much as in him lies endeavour to protect his life and members." (DC 1/7, S. 4 7 )
Die hier verfolgte Argumentationskette läßt sich so wiedergeben: 1. 2. 3. 4.
Alle Menschen streben mit natürlicher Notwendigkeit nach Selbsterhaltung. Was mit natürlicher Notwendigkeit geschieht, ist vernunftgemäß. Was vernunftgemäß geschieht, geschieht zu Recht. Also streben alle Menschen mit Recht nach Selbsterhaltung. Oder: alle Menschen haben ein Recht auf das Streben nach Selbsterhaltung.
Da es sehr wahrscheinlich ist, daß ein vernunftgemäßes Streben auch einen vernunftgemäßen Zweck hat, kann man den letzten Punkt auch so formulieren: Alle Menschen haben ein Recht auf Selbsterhaltung. Daß dies selbstverständlich nicht bedeutet, ein Recht zu haben,
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von anderen erhalten zu werden, ist bereits im ersten Kapitel dieses Teils gezeigt worden. Das Recht auf Selbsterhaltung ist nicht gleichbedeutend mit einem Recht auf Leben oder auf ein angenehmes Leben, sondern ein individuelles Recht darauf, seine eigene Existenzsicherung selbst in die Hand zu nehmen. Nun wäre es absurd, jemandem, der das Recht auf einen Zweck hat, nicht auch das Recht auf den Gebrauch der zur Erreichung dieses Zwecks erforderlichen Mittel zuzugestehen (nicht das Recht darauf, diese Mittel zur Verfügung gestellt zu bekommen!). Wirklich problematisch wird das natürliche Recht erst durch seinen dritten Aspekt, nämlich die gänzliche Entscheidungsfreiheit eines jeden darüber, welche Mittel zu seiner Selbsterhaltung notwendig sind. Erst durch diese Dimension wird das Naturrecht zu einem Recht auf alles, also zum Kriegsrecht, was im staatlichen Zustand klarerweise nicht für jeden erhalten bleiben kann. Ein Naturgesetz wird von Hobbes auf folgende Weise definiert: „A LAW OF NATURE, lex naturalis, is a precept or general rule, found out by reason, by which a man is forbidden to do that, which is destructive of his life, or taketh away the means of preserving the same; and to omit that, by which he thinketh it may be best preserved." (Lev. 14, S. 1 16 f.)
Im Unterschied zum Naturrecht besteht ein Naturgesetz, wie Hobbes im Anschluß sagt, nicht in der Freiheit, etwas zu tun oder zu lassen, sondern in einer Verpflichtung. Die Naturgesetze sind demnach Normen, die jeden Menschen zur eigenen Selbsterhaltung verpflichten. Warum Hobbes bei der Erklärung des Naturgesetzbegriffs den Umweg über das Verbot wählt, ist unklar, denn die meisten Naturgesetze sind dann im einzelnen als Gebotsregeln formuliert, aus denen bestimmte Verbote abgeleitet werden können. Wichtiger ist aber ζ. B. die Frage, warum wir Gesetze brauchen, die uns zu etwas verpflichten, was wir nach Hobbes' Meinung ohnehin mit „natürlicher Notwendigkeit" versuchen zu tun: uns selbst zu erhalten. 2 Diese Frage läßt sich jedoch dadurch beantworten, daß zwischen dem allgemeinen menschlichen Streben nach Selbsterhaltung und dem Wissen über die richtigen Mittel zur Erreichung dieses Zwecks eine Lücke klafft. 3 Mit anderen Worten: Menschen wissen nicht unbedingt, was für sie gut ist. Deshalb muß es Regeln geben, die ihnen den rechten Weg zur Selbsterhaltung weisen, und eben diese Funktion sollen die Naturgesetze erfüllen. Das komplizierteste Problem, das mit den Hobbesschen Naturgesetzen verbunden ist, besteht in der Frage nach dem genauen Charakter ihrer „Verpflichtung". Mit der Verpflichtung, von der Hobbes spricht, kann keine formal-juristische gemeint sei, denn in diesem Sinne können nur staatliche Gesetze verpflichtend sein. Dies bedeutet nicht, daß die Naturgesetze nicht zu staatlichen Gesetzen werden können, im Gegenteil: Nach Hobbes schließt jedes bürgerliche Gesetz das gesamte Naturgesetz ein (vgl. Lev. 26, S. 253). Dennoch existieren die Naturgesetze vor und unabhängig von jedem staatlichen Zustand und verpflichten trotzdem. An einigen Stellen modifiziert Hobbes die Bezeichnung der Vemunftvorschriften als „Gesetze", ζ. B. an dieser:
Dieser Einwand wird Hobbes u. a. von Peters entgegengehalten. Siehe Peters: Hobbes, S. 161. So auch Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S. 306 Fn.
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„These dictates of reason, men used to call by the name of laws, but improperly: for they are but conclusions, or theorems concerning what conduceth to the conservation and defence of themselves; whereas law, properly, is the word of him, that by right hath command over others. But yet if we consider the same theorems, as delivered in the word of God, that by right commandeth all things; then are they properly called laws." (Lev. 15, S. 147)
Die lateinische Fassung des Leviathan enthält in dem entsprechenden Sinnzusammenhang den folgenden Passus: „Ein eigentliches Gesetz hängt allein von dem ab, der im Besitz der höchsten Gewalt ist; er gebe es mündlich oder schriftlich, wenn nur die, welche demselben gehorchen sollen, wissen, daß er es gegeben hat." (T. H.: Opera Latina III, Lev. 15, S. 122)
Eine Aussage oder ein Aussagenkomplex ist also nur dann ein Gesetz im eigentlichen Sinn, wenn es einen Befehlshaber gibt, der es erlassen hat. In diesem Sinn dürfen die Vernunftweisungen korrekterweise nicht als „Gesetze" bezeichnet werden, falls man bei einem Gesetzgeber an die souveräne weltliche Staatsgewalt denkt, wohl aber, wenn man diese Weisungen als Gesetze Gottes auffaßt, welcher die Befehlsgewalt über alles hat. Aus dieser und ähnlichen Aussagen haben einige Autoren geschlossen, daß der Verpflichtungscharakter der Naturgesetze bei Hobbes ausschließlich auf der Instanz Gott beruht. 4 Verpflichten können diese demnach nur in ihrer Dimension als Befehle Gottes. Nun ist das Mißliche an diesem Auslegungsstandpunkt, daß wir Menschen im Rahmen von Hobbes' philosophischem System Gott schlechterdings nicht erkennen können. Wir sind nach Hobbes grundsätzlich nur dazu in der Lage, Endliches zu denken (vgl. Lev. 3, S. 17). Gott ist jedoch unendlich (vgl. Lev. 31, S. 351), und daher können wir nicht wissen, wer oder was Gott ist (vgl. Lev. 34, S. 383). Der Gedanke einer Verpflichtung gegenüber einer für uns absolut unerkennbaren Instanz ist jedoch äußerst schwer nachvollziehbar. Man weiß einfach nicht, wie eine solche Verpflichtung zu denken ist und wie Verstöße gegen sie wirksam geahndet werden sollen. Aus diesen Gründen glaube ich, daß die zweifellos bei Hobbes auch vorhandene theologische Komponente der Naturgesetze deren Verpflichtungscharakter nicht plausibel zu erklären vermag. Eine andere Gruppe von Autoren vertritt die Ansicht, daß es sich bei Hobbes' Naturgesetzen nicht um eigentlich moralische Sätze handelt, die in einem entsprechend moralischen Sinn verpflichten können, sondern um hypothetische Imperative, d. h. um Aussagen, die vorschreiben, welche Mittel ergriffen werden müssen, um einen bestimmten Zweck zu ver-
siehe hierzu Taylor: Thomas Hobbes. Siehe auch Taylor: The Ethical Doctrine of Hobbes, S.32. - Vgl. Warrender: The Political Philosophy of Hobbes, S . 9 8 f . - Siehe auch Kodalle: Thomas Hobbes, S . 5 4 f f . Insbesondere Taylor und Warrender haben die Diskussion um den Status der Naturgesetze bei Hobbes sehr geprägt. Beide Autoren vertreten die Auffassung, daß Hobbes ein moralischer Objektivist ist. D.h. sie sind der Meinung, daß die Naturgesetze uns immer und überall verpflichten, also auch unabhängig von staatlicher Organisation und staatlichen Gesetzen. Beide gehen allerdings unterschiedlich vor. Nach Taylor arbeitet Hobbes der Kantischen Ethik vor. Dagegen ordnet Warrender Hobbes in die mittelalterliche Naturrechtstradition ein, nach der es eine von Gott geschaffene Rechtsordnung gibt, die für alle Menschen verbindlich ist und die Grundlage für jedes positive Recht bildet.
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wirklichen,5 wobei der übergeordnete Zweck die individuelle Selbsterhaltung ist. Die Naturgesetze erscheinen aus dieser Perspektive als Vernunftaussagen, die uns vorschreiben, was wir tun müssen, um das für uns jeweils Zuträgliche zu erreichen. Auch diese Position sieht sich mit Schwierigkeiten konfrontiert. Wenn die Hobbesschen Naturgesetze weder als physikalische noch als juristische noch (primär) als göttliche Gesetze aufgefaßt werden können, dann bleibt anscheinend kein anderer Gesetzesbegriff übrig, unter den man sie subsumieren könnte als der eines rein moralischen Gesetzes. Konsequent scheint es dann, bei der Charakterisierung dieser Vorschriften sowohl auf den Ausdruck „Gesetz" als auch auf den Terminus „Verpflichtung" zu verzichten, wie dies der Tendenz nach auch von David Gauthier vertreten wird.6 Mein Vorschlag zum Umgang mit diesem Problem ist folgender: Was wir nach Hobbesschen Kriterien hauptsächlich brauchen, um einsichtig zu machen, daß bestimmte Regeln verpflichtend sind, ist eine äußere Instanz, die in der Lage ist, Regelverstöße zu ahnden. Eine Verpflichtung gegenüber sich selbst kann es nach Hobbes nicht geben, wie ausdrücklich aus folgender Stelle hervorgeht: „(...) nor is it possible for any person to be bound to himself; because he that can bind, can release; and therefore he that is bound to himself only, is not bound." (Lev. 2 6 , S. 2 5 2 )
Im Falle staatlicher Gesetze ist nun die verpflichtende äußere Instanz die souveräne Staatsge wait bzw. deren Repräsentanten, und im Hinblick auf die Naturgesetze bietet sich als eine solche die menschliche Natur selbst an, deren generelles Grundprinzip die Selbsterhaltung ist. Die Naturgesetze verpflichten uns also insofern gegenüber der Natur, als diese uns aller Wahrscheinlichkeit nach schädigen wird, falls wir den ihr entnommenen Vorschriften dauerhaft zuwiderhandeln. Eine gute Analogie ergibt sich, wenn wir die so aufgefaßten Naturgesetze mit ärztlichen Vorschriften vergleichen.7 So wie uns die Regeln des Arztes vorschreiben, uns so oder so zu unserem Körper zu verhalten, wenn wir dieses oder jenes vermeiden oder erreichen wollen, so schreiben uns auch die Naturgesetze vor, dieses zu tun oder jenes zu unterlassen, wenn wir unsere Selbsterhaltung befördern wollen. Die naturgesetzlichen Verpflichtungen sind dann in der Tat keine moralischen; wohl aber können wir in einem übertragenen Sinn von Verpflichtung sprechen, insofern es etwas gibt, was Verstöße gegen diese Gesetze „ahnden" kann. Wenn wir ζ. B. den nach Hobbes sicher naturgesetzwidrigen Entschluß fassen, uns ohne große Not auf den Kampf mit einem sehr viel stärkeren Gegner einzulassen, dann können wir sagen, daß uns die Natur höchstwahrscheinlich aufgrund dieses Fehlverhaltens schädigen wird. Zwar mag es kaum intuitiv erscheinen, in diesem Fall davon zu sprechen, daß uns „die Natur" schädigt, ist doch die unmittelbar schädigende Instanz (mutmaßlich) der mächtigere Gegner, und trotzdem dürfte dies viele Leute nicht davon abhalten, der Formulierung zuzustimmen, Drogenkonsum sei „naturwidrig", weil er den Körper zerstöre. - Man wird dieser meiner Auslegung möglicherweise entgegenhalten, daß sie Hobbes nicht vor dem sog. „naturalistischen Fehlschluß" bewahrt, scheint er doch präskriptive
Vgl. Watkins: Hobbes' System of Ideas, S . 5 5 f f . In Anlehnung an Kant beschreibt Watkins 6
die Naturgesetze bei Hobbes als assertorische hypothetische Imperative. Vgl. Gauthier: The Logic of Leviathan, S. 6 7 f f . Mit diesem Vergleich arbeitet auch Watkins. Siehe Watkins: Hobbes's System of Ideas, S. 5 9 .
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Aussagen aus deskriptiven abzuleiten. In dem erläuterten Sinne begehen dann allerdings auch Mediziner ständig naturalistische Fehlschlüsse. Es soll hier nicht behauptet werden, daß der vorgetragene Denkansatz alle Schwierigkeiten lösen kann, die mit Hobbes' notorisch schwierigem und ambivalentem Begriff der Verpflichtung zusammenhängen. Dennoch war es Hobbes' eigene Wahl, bezüglich der Naturgesetze an dem Ausdruck „Verpflichtung" festzuhalten. Klar ist auch, daß wir einen übertragenen Sinn von „Verpflichtung" brauchen, wenn wir diese Redeweise inhaltlich füllen wollen, falls wir nicht (ausschließlich) auf Gott als verpflichtende Instanz zurückgreifen. In dieser Situation scheint mir der Begriff der Natur einen Ausweg zu weisen. 8
3.3.2. Friedensgebot und Kriegführungsrecht Das erste Naturgesetz wird von Hobbes mit den folgenden Worten eingeführt: „And consequently it is a precept, or general rule of reason, that every man, ought to endeavour peace, as far as he has hope of obtaining it; and when he cannot obtain it, that he may seek, and use, all helps, and advantages of war. The first branch of which rule, containeth the first, and fundamental law of nature; which is, to seek peace, and follow it. The second, the sum of the right of nature; which is, by all means we can, to defend ourselves." (Lev. 14, S. 117)
Nur ein Teil dieser Formulierungen bildet ein Naturgesetz (im Unterschied zum Naturrecht), und zwar die Regel: Suche Frieden und halte ihn ein. In der Folge soll aber Hobbes' Aussage in ihrer Gesamtheit zur Diskussion stehen. Wir können den von Hobbes an obiger Stelle vorgeführten Argumentationsgang etwa so rekonstruieren: Der Krieg läuft der Selbsterhaltung zuwider. Also ist Krieg naturgesetzwidrig. Also sind wir verpflichtet, das Gegenteil von Krieg, den Frieden, anzustreben. Hieran sind nun verschiedene Punkte erwähnenswert: Krieg ist naturgesetzwidrig. Allerdings ist dies mit der üblichen Einschränkung zu versehen, daß man nicht genau weiß, ob Hobbes an der zitierten Stelle etwas über alle Kriege aussagen wollte oder ausschließlich über den Krieg eines jeden gegen jeden, durch den der Naturzustand charakterisiert ist. Es kann als ziemlich sicher gelten, daß es eine Graduierung der Naturgesetzwidrigkeit gibt. An erster Stelle würde der „Idealkrieg" des Naturzustandes stehen, in dem ein jeder eines jeden Feind ist, an zweiter Stelle der Bürgerkrieg, der sich dieser Situation stark annähern kann. An letzter Stelle steht sicher der Staatenkrieg, der im Rahmen der Hobbesschen Theorie nur im übertragenen Sinn als Krieg von Individuum zu Individuum aufgefaßt werden kann, indem man die Staaten als vergrößerte Menschen (magni homines) betrachtet. Vom Krieg der Staaten untereinander schreibt Hobbes ausdrücklich in Kapitel 13: „But though there had never been any time, wherein particular men were in a condition of war one against another; yet in all times, kings, and persons of sovereign authority, because of their independency, are in continual jealousies, and in the state and posture o f gladiators; having their weapons pointing, and their eyes fixed on one another; that is,
Für eine neuere Diskussion um den argumentativen Status von Natur in verschiedenen Sachzusammenhängen vgl. Mohrmann (Hrsg.): Argument Natur - Was ist natürlich? Siehe hieraus insbesondere den Aufsatz von Ludwig Siep: Natur als Norm?
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KRIEG UND NATURGESETZE their forts, garrisons, and guns upon the frontiers of their kingdoms; and continual s p i e s upon their neighbours; which is a posture o f war. But because they uphold thereby, the industry of their subjects; there does not f o l l o w from it, that misery, which accompanies the liberty of particular men." (Lev. 13, S. 1 1 5 )
Der Krieg zwischen souveränen Staaten ist also nur begrenzt schädlich und kann sogar den Fleiß (industry) der Untertanen fördern. Dennoch ist in irgendeinem Sinne jeder Krieg naturgesetzwidrig. Denn, wie Hobbes an anderer Stelle schreibt: „For it can never be that war shall preserve life, and peace destroy it." (Lev. 15, S. 1 4 5 )
Diese Aussage ist sicher in einer Hinsicht falsch, denn man kann durch Krieg zwar sein Leben retten, aber eben nur, indem der Gegner getötet, unterworfen oder anderweitig geschädigt wird. Für irgendeine Partei ist Krieg daher immer selbsterhaltungs- und damit naturgesetzwidrig. Das naturgesetzliche Friedensgebot ist nur verständlich aus der allen Naturgesetzen zugrundeliegenden Verpflichtung zur Selbsterhaltung und diese wiederum nur aus der Tatsache, daß nach Hobbes alle Menschen notwendigerweise nach Selbsterhaltung streben. Der Frieden wird von Hobbes also als Mittel zur Selbsterhaltung begriffen (vgl. auch Lev. 15, S. 144), nicht als Zweck in sich selbst. Es ist deswegen nicht völlig treffend, wenn etwa Willms den Frieden als das „höchste Gut" bei Hobbes auffaßt 9 und seine Philosophie als eine der Freiheit und des Friedens charakterisiert, 10 oder wenn Kersting Hobbes' politische Philosophie als „methodische Friedenswissenschaft" bezeichnet." Der Ausdruck „Wissenschaft von der menschlichen Selbsterhaltung" wäre treffender, denn der Frieden ist für Hobbes kein Wert als solcher, sondern steht gänzlich im Dienst der Selbsterhaltung. Mit dem vorhergehenden Punkt hängt es zusammen, daß das Friedenspostulat bei Hobbes nur mit großen Schwierigkeiten als ein moralphilosophisches betrachtet werden kann. Hobbes gründet dieses Postulat auf das Interesse der Menschen und auf die hiermit untrennbar verknüpften Grundaffekte oder zumindest auf einen Appell an diese. Zunächst ist damit das jeweils einzelne Individuum angesprochen, dann in einem abgeleiteten Sinn auch das allgemeine, so wenn Hobbes sich der universalistisch anmutenden Redeweise vom „Frieden der Menschheit" bedient (vgl. ζ. B. Lev. 15, S. 130). Nun bezeichnet zwar Hobbes selbst die Naturgesetze als „moralische Gesetze" (vgl. Lev. 26, S. 271) und die Wissenschaft von ihnen als die „wahre und einzige Moralphilosophie" (vgl. Lev. 15, S. 146), doch seine diesbezüglichen Begründungen sind nur dann überzeugend, wenn man der Meinung ist, Moralphilosophie könne auf einem rein interesseorientierten Fundament aufbauen. Diese Möglichkeit kann wohl mit guten Gründen bezweifelt werden, 12 wobei diese Gründe als solche noch nichts über die Plausibilität einer nicht moralischen Begründung der Friedensforderung aussagen.
g
10
11
Siehe Willms: Das Reich des Leviathan, S . 172. Vgl. auch Willms: World-State or StateWorld, S. 131; S. I 3 7 f . Vgl. Willms: Das Reich des Leviathan, S. 1 8 8 . Siehe Kersting: Hobbes, S. 1 6 7 . Siehe hierzu Nagel: Hobbes' concept o f obligation. than, S. 8 9 f f .
Vgl. auch Gauthier: The Logic o f Levia-
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Die Vorschrift, sich um Frieden zu bemühen, ist nach Hobbes eine Regel, die auch den Kriegszustand selbst gilt, denn das Naturgesetz lautet: „Suche den Frieden und halte ein", und die Suche nach Frieden ist sicher auch dort verpflichtend, wo bereits Krieg Noch deutlicher wird dies anhand von Hobbes' Äußerungen über den Naturzustand in Cive, wo es heißt:
für ihn ist. De
„That which is done out of necessity, out of endeavour for peace, for the preservation of our selves, is done with Right; otherwise every damage done to a man would be a breach of the naturall Law, and an injury against God." (DC 3/27, S. 7 3 Fn.)
Dies bedeutet offenbar, daß auch das Vorliegen eines Kriegszustandes uns nicht dazu legitimiert, gegen die naturgesetzliche Friedensvorschrift zu verstoßen. Auch der Krieg soll demnach im Zeichen des Friedens stehen. Für Hobbes bedeutet das konkret, daß alle Handlungen und nur solche erlaubt sind, die aus Sorge um die eigene (wohl verstandene) Selbsterhaltung geschehen. Dies ist jedoch mit der wichtigen Einschränkung zu versehen, daß man einer Handlung als solcher im Kriegszustand nicht ansehen kann, ob sie durch wohl verstandene Selbsterhaltung motiviert ist oder nicht. Wie Hobbes selbst in dem oben zitierten Textzusammenhang schreibt: „Briefly, in the state of nature, what's just, and unjust, is not to be esteem'd by the Actions, but by the Counsell, and Conscience of the Actor." (DC 3/27, S. 7 3 Fn.)
Krieg ist nicht naturrechtswidrig. Wo der Frieden nicht hergestellt werden kann, darf zwar noch immer nicht die Friedensabsicht aufgegeben werden, aber wir sind berechtigt, uns mit allen Mitteln zu verteidigen. Konsequenterweise müßte Hobbes an dieser Stelle sagen, daß wir sogar verpflichtet sind, uns in einem solchen Fall zu verteidigen, denn der Gedanke einer Pflicht zur Selbsterhaltung liegt allen Naturgesetzen zugrunde. Wo wir nicht hoffen können, diese ohne Krieg zu sichern, sind wir also auch zur Kriegführung verpflichtet. Daß es nach Hobbes nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht zur Selbstverteidigung gibt, geht nicht nur aus der Charakterisierung der Naturgesetze als Verpflichtungen im Leviathan hervor, sondern wird exemplarisch deutlich auch an Hobbes' Aussagen über die Pflichten der staatlichen Souveräne in De Cive. Die Inhaber der obersten Staatsgewalt haben zunächst einmal die Pflicht, gründlich militärisch zu rüsten, um drohende Angriffe zu verhindern (vgl. DC 13/8, S. 59 f.). Mehr noch, Hobbes schreibt in demselben Zusammenhang: „To which also may be added, whatsoever shall seeme to conduce to the lesning of the power of forraigners whom they suspect, whether by sleight, or force. For Rulers are bound according to their power to prevent the evills they suspect, lest peradventure they may happen through their negligence." (DC 13/8, S. 160)
Die staatlichen Souveräne sind also verpflichtet, die kriegerischen Tugenden der List und Gewalt zur präventiven Verteidigung systematisch anzuwenden. Wir können hieraus schließen, daß Gewaltanwendung und Gewaltdrohung auch für „gewöhnliche" Individuen nicht nur erlaubt, sondern obligatorisch sind, falls es keine souveräne Gewalt gibt, welche die Aufgabe übernommen hat, stellvertretend für die Sicherheit der Individuen zu sorgen. An dieser Stelle ergibt sich allerdings ein Problem. Die Naturgesetze verpflichten angeblich, wie bereits zitiert, im Naturzustand nur der Absicht und dem Gewissen nach, nicht nach den Handlungen (vgl. DC 3/27, S. 73). Um es in der Terminologie des Leviathan zu sagen:
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sie verpflichten dort in foro interno, aber nicht in foro externo (vgl. Lev. 15, S. 145). Nun ist es aber absurd, eine Verteidigungspflicht als eine reine Gewissenspflicht zu konstruieren und nicht (auch) als eine Handlungspflicht, also eine Pflicht zur Gewaltausübung und Gewaltdrohung. Ein Widerspruch kann hier m. E. auf folgende Weise vermieden werden: Nicht immer ist Hobbes konsequent in seinen Aussagen darüber, ob die Naturgesetze in foro interno oder in foro externo verpflichten. Er sagt manchmal, daß sie nur in foro interno verpflichten (vgl. Lev. 15, S. 145), aber in demselben Kontext heißt es, daß sie nicht immer in foro externo verpflichten (vgl. Lev. 15, S. 145), was offensichtlich bedeutet, daß sie manchmal auch in foro externo, d. h. zur äußeren Anwendung verpflichten. Howard Warrender hat ein nicht unplausibles Kriterium dafür herausgearbeitet, unter welchen Bedingungen eine äußere Verpflichtung vorliegt. 13 Dieses Kriterium liegt in der Antwort auf die Frage, ob eine externe Anwendung die eigene Sicherheit gefährden würde oder nicht. Stehen einer solchen Anwendung keine schwerwiegenden Sicherheitsbedenken im Wege, so ist sie geboten, sonst nicht. Man kann möglicherweise dieses Kriterium folgendermaßen verstärken: Ein Naturgesetz verpflichtet genau dann (auch) in foro externo, wenn seine Nichtbefolgung ein persönliches Sicherheitsrisiko darstellen würde. Wairenders Bedingung ist offensichtlich schwächer als die letztere Formulierung. Während jene nur verlangt, daß durch eine äußere Befolgung die Sicherheit nicht gefährdet wird, beinhaltet diese, daß allein durch die Befolgung die Sicherheit gewährleistet werden kann. Die verstärkte Variante trägt eher dem Hobbesschen Gedanken einer Verpflichtung zur Selbsterhaltung Rechnung, während die schwächere nur das Recht auf Selbsterhaltung berücksichtigt. Nun klingt es seltsam, daß es überhaupt Situationen geben soll, in denen ausgerechnet die Naturgesetze, die ja nichts anderes sind als die richtigen Wege zur Selbsterhaltung, nicht in foro externo verpflichten. Man muß jedoch berücksichtigen, daß der Naturzustand von seiner ganzen Struktur her für die Individuen ein absolut selbsterhaltungswidriger ist, so daß hier meist oder häufig andere Kriterien greifen als die „eigentlich" richtigen. In den meisten oder zumindest in sehr v i e l e n Fällen kann nur der staatliche Zustand gravierende Sicherheitsbedenken ausräumen, die der äußeren Befolgung der Naturgesetze im Wege stehen; in manchen Fällen sind wir aber auch im Naturzustand hinsichtlich eines Naturgesetzes zu Handlungen und nicht nur zu inneren Dispositionen verpflichtet. Ganz sicher ist nun ein solcher Fall bei der Verteidigungspflicht gegeben, denn im Kriegszustand steht gewiß kein Sicherheits- bzw. Selbsterhaltungsinteresse der gewaltsamen Verteidigung entgegen. Es ist jedoch hinzuzufügen, daß die Naturgesetze durch Handlungen allein weder erfüllt noch gebrochen werden können; hinzukommen muß immer eine entsprechende Gesinnung. Anders ausgedrückt: Die Ausführung bestimmter Handlungen ist manchmal, wenn auch nicht immer, eine notwendige Bedingung zur Erfüllung eines Naturgesetzes, jedoch niemals eine hinreichende. So ist z. B. Rüstung für einen staatlichen Souverän eine notwendige Bedingung zur Erfüllung seiner Verteidigungspflicht, aber keine hinreichende. Rüstet er etwa aus reiner Freude an der Macht und nicht aus dem Verteidigungsgedanken heraus, so erfüllt er seine Pflicht nicht.
Vgl. Warrender: The Political Philosophy of Hobbes, S . 6 3 f f . Warrenders Analyse der Verpflichtungskategorie bei Hobbes ist detailliert und brillant. Dies gilt auch dann, wenn man nicht bereit ist, ihm in der Auffassung zu folgen, daß allein Gott für den verpflichtenden Charakter der Naturgesetze verantwortlich ist.
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Wenn Kriegführung nicht nur nicht naturrechtswidrig, sondern unter bestimmten Bedingungen auch naturgesetzlich geboten ist, so ergibt sich hieraus auf den ersten Blick ein Widerspruch zu der Naturgesetzwidrigkeit des Krieges. Tatsächlich liegt aber, so meine ich, nur ein Perspektivenwechsel vor. Krieg ist, aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen, immer naturgesetz-, weil selbsterhaltungswidrig, und zwar für alle beteiligten Parteien, selbst für den Sieger, der ja während des Krieges nicht sicher sein konnte zu siegen, und der auch nicht sicher sein kann, Sieger zu bleiben. Andererseits ist man dort, wo Krieg schlechterdings nicht vermeidbar ist, auch zu dessen Führung verpflichtet, weil hierin die einzige Chance zur Selbsterhaltung liegt. Es handelt sich hier sozusagen um den Unterschied zwischen einer Außen- und einer Binnenperspektive. Von außen gesehen stimmt Krieg grundsätzlich nicht mit dem Naturgesetz überein, da durch ihn immer Leben vernichtet oder zumindest gefährdet wird. Die Perspektive der jeweils handelnden Individuen, seien diese natürliche oder solche im übertragenen Sinn wie die Staaten, stimmt hiermit jedoch nicht immer überein, denn aus ihr heraus erscheint ausschließlich das jeweils eigene Leben als zentral. Aus den vorhergehenden Untersuchungen zur Funktion der Naturgesetze, zum Naturrecht und zum ersten Naturgesetz resultiert, daß Hobbes' Auffassungen zum Thema Krieg weder als bellizistisch noch als pazifistisch eingestuft werden können. Nahezu alles spricht gegen eine bellizistische Auslegung: die Behauptung einer allgemeinen Naturgesetzwidrigkeit des Krieges, das Friedensgebot, in dessen Zeichen auch der Krieg stehen soll, die Beschränkung des Naturrechts auf den Verteidigungsgedanken, die Abwesenheit von Aussagen über etwaige „identitätsstiftende" Funktionen von Krieg. Tatsächlich haben, soweit ich weiß, selbst Hobbes' schärfste Kritiker ihn nicht gerade bellizistischer Neigungen bezichtigt. Dagegen scheint es unter bestimmten Hobbes-Forschem eine Neigung zu geben, Hobbes' Positionen zumindest tendenziell als pazifistisch zu deuten. Solche Interpretationen können m. E. auf der Grundlage der bisherigen Ergebnisse nicht bestätigt werden. 14 Ein Hobbesscher „Pazifist" müßte (mindestens) die folgenden Ansichten teilen: 1. 2. 3. 4. 5.
Der Frieden ist ein reines Instrument der Selbsterhaltung, muß also interesse-funktional, nicht moraltheoretisch gedacht werden; es gibt ein Recht zum Verteidigungskrieg; es gibt eine Pflicht zum Verteidigungskrieg; Verteidigung schließt Präventivschläge ein; es gibt eine Pflicht zur Abschreckung.
Nimmt man die Resultate des vorigen Kapitels hinzu, dann müßte ein solcher „Pazifist" zusätzlich diese Behauptungen unterschreiben: 6.
Krieg ist im Verhältnis zu Frieden der Grundbegriff. Frieden ist also nicht mehr als die Abwesenheit von Krieg; Einen gewissen Sinn könnte man diesen Deutungen abgewinnen, wenn man die Wortgeschichte des Ausdrucks „pax" berücksichtigt. Dieser Terminus stammt von dem Verbum „pangere", was soviel bedeutet wie „einen Vertrag schließen". Siehe hierzu Frederick H. Russell: The Just War in the Middle Ages, S. 4. Solche Überlegungen führen in diesem Zusammenhang jedoch nicht weit. Zwar kann durch den Staatsvertrag nach Hobbes ein innerer Frieden begründet werden. Für das Verhältnis der Leviathane unter sich gilt dann jedoch, daß Verträge (in aller Regel) nur in foro interno verpflichtend sind, de facto also meistens gar nicht.
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7. 8.
9.
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nur durch die Ausübung (absoluter) Herrschaft kann Frieden hergestellt und gesichert werden; in jeder Form von Herrschaft bleibt das kriegerische Element des Rechtes auf alles sowie die dazugehörigen kriegerischen Tugenden enthalten, und zwar in der Hand des Souveräns; es gibt in der menschlichen Natur nichts, was nicht unter bestimmten Bedingungen kriegsverursachend und kriegsfördernd wirken kann.
Selbst wenn man einen moderaten Begriff von Pazifismus15 zugrundelegt, nach dem etwa der Verteidigungskrieg und gewisse Formen von Abschreckung erlaubt sind, 16 ist es nicht sinnvoll, jemanden, der sich die angeführten Auffassungen in ihrer Gänze zu eigen macht, als „Pazifisten" zu charakterisieren. Absolut inakzeptabel dürften für jeden Pazifisten die Punkte (3), (4) und (5) sein. Sehr wahrscheinlich ist es aber, daß auf der Basis der meisten pazifistischen Positionen auch (7) und (8) abgelehnt werden. Man muß sich in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß viele pazifistische Bewegungen sich gerade im Zusammenhang des gewaltlosen Widerstandes gegen staatliche Autoritäten entwickelt haben.17 Aus einer bestimmten Perspektive heraus ist jedoch die starke Betonung der Friedenskomponente bei Hobbes alles andere als unangemessen, und zwar dann, wenn man dabei im Sinn hat, daß das Hobbessche Philosophieren sich von dem Hintergrund sowohl des englischen Bürgerkrieges als auch der konfessionellen Bürgerkriege auf dem Kontinent abhebt. Der Bürgerkrieg und dessen Eindämmung ist in der Tat eine der wichtigsten Grundintentionen, aus denen heraus Hobbes' politische Theorie zu begreifen ist, und es ist vielleicht gerade das Verdienst bedeutender Teile der deutschen Hobbes-Forschung, dieses klar herausgearbeitet zu haben.18 Auch beschränken sich Hobbes' Gedanken dann nicht auf den Bürgerkrieg, sondern haben höchst wichtige Konsequenzen für die Auffassung des Staatenkrieges, doch „pazifistisch" in irgendeinem Sinn, den wir mit diesem Wort üblicherweise verbinden, sind sie nicht.
Zur Geschichte des Wortes „Pazifismus" siehe Holl: Artikel „Pazifismus". „Pazifismus" ist eine relativ junge Wortprägung, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts stammt und über das Französische die deutsche und andere Sprachen erreichte. Der Schöpfer des Ausdrucks war der französische Notar Emile Arnaud. Die erste (öffentliche) Verwendung des Terminus läßt s i c h anscheinend genau auf das Jahr 1901 datieren. Die Tatsache, daß ein Wort historisch erst relativ spät auftritt, spricht übrigens noch nicht unbedingt dagegen, daß man das entsprechende Phänomen schon eher ausmachen kann. Nach diesem Sprachgebrauch wäre dann allerdings auch ein äußerst große Anzahl von Soldaten pazifistisch. Siehe hierzu Chatterjee: The Viability of Nonviolence, hier bes. 130. Siehe hierzu Koselleck: Kritik und Krise, S . 3 2 f f . Dieser schließt deutlich an bestimmte Ausführungen Carl Schmitts an. Siehe Schmitt: Der N o m o s der Erde.
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3.3.3. Das Gebot zum Verzicht auf das Kriegsrecht und das Gerechtigkeitsgebot Das zweite Naturgesetz wird aus dem ersten abgeleitet und lautet folgendermaßen: „(...) that a man be willing, when others are so too, as far-forth, as for peace, and defence of himself he shall think it necessary, to lay down this right to all things; and be contented with so much liberty against other men, as he would allow other men against himself. For as long as every man holdeth this right, of doing any thing he liketh; so long are all men in the condition of war. But if other men will not lay down their right, as well as he; then there is no reason for any one, to divest himself of his: for that were to expose himself to prey, which no man is bound to, rather than to dispose himself to peace." (Lev. 14, S. 118)
Die von Hobbes hier angedeutete Ableitung ist diese: Jeder ist naturgesetzlich verpflichtet, sich um Frieden zu bemühen. Das Recht eines jeden auf alles ist ein Kriegsrecht, steht also dem Frieden entgegen. Deshalb soll jeder auf sein Recht auf alles verzichten, sofern auch andere dazu bereit sind. Es ist wichtig zu sehen, daß die Einschränkungsklausel „wenn andere ebenfalls dazu bereit sind" hier in die Formulierung des Naturgesetzes aufgenommen ist. Dies bedeutet, daß ein Verzicht auf das Recht auf alles naturgesetzwidrig ist, wenn nicht auch eine hinreichend große Anzahl anderer Menschen zum Verzicht bereit ist. Der Frieden, insofern er ein Instrument der Selbsterhaltung ist, wird durch „einseitige Abrüstung" keineswegs gefördert, sondern vielmehr behindert, weil durch diese die Selbsterhaltung gefährdet wird. 19 Dieser Punkt ist besonders relevant im Hinblick auf Hobbes' Sichtweise von Krieg und Frieden zwischen Staaten. Nach Hobbes ist es möglich, einen innerstaatlichen Frieden zu schaffen, denn mit der staatlichen Souveränität gibt es eine Instanz, die imstande ist, den Rechtsverzicht der Untertanen zu kontrollieren und im Konfliktfall zu erzwingen. Eine Instanz, die eine analoge Funktion auf globaler Ebene erfüllen würde, könnte im Rahmen der Hobbesschen Logik nur in einer Art „Superleviathan" bestehen, an den alle einzelnen staatlichen Souveräne ihr Recht auf alles übertragen würden. Ein zwischenstaatlicher Frieden ist nach Hobbes, streng genommen, nicht denkbar, was bedeutet, daß ein globaler Frieden nach dem Modell des innerstaatlichen Friedens gedacht werden müßte. Daß die hierzu erforderliche Einrichtung eines „Weltleviathan" von Hobbes aus zwingenden systemimmanenten Gründen nicht ins Auge gefaßt wurde, wird später noch gezeigt werden. An dieser Stelle sei nur ein pragmatisches Argument gegen diesen Typ von Institution erwähnt: zu groß wäre die Gefahr, daß eine solche Instanz das Gegenteil des Angestrebten befördern würde, einen Weltbürgerkrieg, und zwar deshalb, weil der „Überstaat" mit der Ausübung der ihm zugedachten Kontrollfunktionen restlos überfordert wäre. 20 Es scheint, als sei nach Hobbes auf der zwischenstaatlichen Ebene ein Kriegszustand unvermeidbar. Dies bedeutet jedoch nicht, daß hier der Frieden als Leitmaßstab aufgegeben werden darf. Auch die staatlichen Akteure sind naturgesetzlich gehalten, Gewalt untereinander 19 So auch Kersting: Hobbes, S. 134. Mit der Frage, ob ein Weltstaat auf der Grundlage Hobbesscher Kriterien gerechtfertigt werden könnte, setzt sich der Sammelband Airaksinen/Bertman (Hrsg.): War among Nations, auseinander. Die meisten Autoren dieses Bandes beantworten die Frage negativ. Für eine Ausnahme siehe Hungerland: Hobbes and the Concept of World Government.
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nur so weit anzuwenden, wie dies zu ihrer jeweiligen Erhaltung erforderlich ist. Sie sind also zu einer rationalen Begrenzung von Gewalt aufgefordert. An ein kodifiziertes Völkerrecht hat Hobbes hierbei allerdings nicht gedacht, doch aus verschiedenen Werkstellen kann man entnehmen, welche Art der Kriegsmotivation er ausgeschlossen wissen wollte. So bezeichnet er folgendes als eine „Krankheit des Staates": „We may further add, the insatiable appetite, or bulimia, of enlarging dominion; with the incurable wounds thereby many times received from the enemy; and the wens, of ununited conquests, which are many times a burthen, and with less danger lost, than kept (...)." (Lev. 29, S. 3 2 1 )
Hieraus geht deutlich hervor, daß Hobbes Raffgier als Kriegsmotiv ablehnte und daß er allen „imperialistischen" Bestrebungen mit größter Skepsis begegnet wäre. Dabei argumentiert er konsequent auf der Basis des Selbsterhaltungsprinzips: Die Eroberung von zu vielen, zu großen oder zu weit verstreuten Gebieten befördert nicht die Erhaltung des Staates, sondern gefährdet diese. Als diesbezügliche Negativbeispiele werden in der lateinischen Fassung Karthago und auch Athen erwähnt. Für den Thukydides-Übersetzer Hobbes war der Peloponnesische Krieg ein Exempel dafür, wie sich ein Gemeinwesen u. a. durch Machtgier und Habsucht selbst zerstören kann. Hobbes' drittes Naturgesetz steht in enger Verbindung mit dem Gerechtigkeitsbegriff und wird folgendermaßen eingeführt: „(...) that men perform their covenants made·, without which, covenants are in vain, and but empty words; and the right of all men to all things remaining, we are still in the condition of war." (Lev. 15, S. 130)
Wenig später definiert Hobbes Ungerechtigkeit als „Nichterfüllung eines Vertrages", und er bestimmt das Wesen der Gerechtigkeit als „Einhalten gültiger Verträge". In demselben Textzusammenhang heißt es: „(...) but the validity of covenants begins not but with the constitution of a civil power, sufficient to compel men to keep them: and then it is also that propriety begins." (Lev. 15, S. 131)
Aus diesen Äußerungen scheint sich zu ergeben, daß ein Krieg weder gerecht noch ungerecht sein kann, fehlt doch in diesem Zustand die von Hobbes angesprochene oberste Zwangsgewalt, weshalb es dort auch keine gültigen Verträge geben kann. Doch solche Schlußfolgerungen sind an dieser Stelle noch voreilig, denn im vorhergehenden Kapitel des Leviathan schreibt Hobbes: „Covenants entered into by fear, in the condition of mere nature, are obligatory. For example, if I covenant to pay a ransom, or service for my life, to an enemy; I am bound by it: for it is a contract, wherein one receiveth the benefit of life; the other is to receive m o n e y , or service for it; and consequently, where no other law, as in the condition of mere nature, forbiddeth the performance, the covenant is valid." (Lev. 14, S. 126 f.)
Hieraus geht hervor, daß es im Naturzustand sehr wohl gültige Verträge gibt, ζ. B. solche, die aus Furcht geschlossen werden, und alle Formulierungen deuten darauf hin, daß Hobbes hier eine Verpflichtung zu Handlungen und nicht nur eine solche in foro interno im Sinn hat. Es sieht ganz so aus, als seien wir wieder einmal bei einer widersprüchlichen Konstruk-
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tion gelandet: Entweder es existieren im nichtstaatlichen Zustand keinerlei gültige Verträge, woraus folgt, daß an Kriege keine Gerechtigkeitsmaßstäbe angelegt werden können, oder aber es sind manche Verträge auch unter nichtstaatlichen Bedingungen verpflichtend, in welchem Fall auch im Kriegszustand gewisse Gerechtigkeitsrichtlinien zu befolgen sind. Dieses Dilemma bezüglich der verschiedenen Aussagen über Verträge ist natürlich von der Hobbes-Forschung wahrgenommen worden. Hüning z. B. versucht es aufzulösen, indem er eine Unterscheidung zwischen Vertragsgeltung und Vertragswirksamkeit zieht.21 Seiner Meinung nach drückt Hobbes sich nur irreführend und gegen seine eigenen Intentionen aus, wenn er sagt, daß die Gültigkeit von Verträgen erst mit dem staatlichen Zustand beginne. Was er an solchen Stellen meine, sei, daß erst durch den Staat die (weitgehende) Wirksamkeit von Verträgen gewährleistet sei, also die Sicherheit, daß Verträge auch eingehalten werden. Dies bedeute aber nicht, daß unter nicht staatlichen Bedingungen alle Verträge ungültig seien. Vielmehr vertrete Hobbes die Ansicht, daß auch im Naturzustand Verträgen eine Gültigkeit „an sich" zukomme, die jedoch praktisch nicht umgesetzt werden könne. Hobbes sei eben kein Rechtspositivist, sondern wolle die „apriorischen Geltungsgründe allen positiven Rechts" freilegen. 22 Daß Verträge auch im Naturzustand „an sich" gültig sein könnten, sei für Hobbes die Bedingung der Möglichkeit der positiven staatlichen Gesetzgebung. Meiner Ansicht nach legt unsere oben ausgeführte Interpretation von naturgesetzlicher Verpflichtung zusammen mit der Hobbes-Lektüre eine viel simplere und bessere Auslegung von Hobbes' seltsam anmutenden Aussagen über Vertragsgültigkeit nahe als die soeben skizzierte kantianisierende Deutung. Schauen wir uns den folgenden Passus an, der in demselben Kapitel wie die zuletzt zitierte Textstelle zu finden ist: „The force of words, being, as I have formerly noted, too weak to hold men to the performance of their covenants; there are in man's nature, but two imaginable helps to strengthen it. And those are either a fear of the consequence of breaking their word; or a glory, or pride in appearing not to need to break it. This latter is a generosity too rarely found to be presumed on, especially in the pursuers of wealth, command, or sensual pleasure; which are the greatest part of mankind. The passion to be reckoned upon, is fear; whereof there be two very general objects: one, the power of spirits invisible; the other, the power of those men they shall therein offend." (Lev. 14, S. 128 f.)
Hieran wird deutlich, daß für Hobbes die Furcht vor den Folgen eines Wortbruches ein Faktor ist, der die Menschen zur Einhaltung ihrer Verträge anhalten kann. Im Naturzustand ist diese Furcht, da es keine staatliche Zwangsgewalt gibt, identisch mit der Furcht vor der Macht der Menschen, die durch den Vertragsbruch geschädigt würden. Von dieser Macht sagt Hobbes zwar, daß sie im Naturzustand nicht genügend vertragssichemdes Gewicht hat, weil dort ungleiche Macht erst am Ausgang eines Kampfes festgestellt wird (vgl. Lev. 14, S. 129). Doch die Situation, die Hobbes an der Stelle beschreibt, an der er behauptet, daß Verträge aus Furcht auch im Naturzustand gültig sind, ist offensichtlich von folgendem Typ: Β ist in der Gewalt von Α. A und Β vereinbaren, daß Β sein Leben oder seine Freiheit behalten kann, wenn er dafür A eine Dienstleistung erbringt oder Geld zahlt. Es handelt sich also um eine Lage, in der die Machtverhältnisse nach einem Kampf entschieden sind: A ist deutlich mächtiger als B. In solchen Fällen ist nun die Zwangsgewalt des Siegers bzw. die 21 22
Vgl. Hüning: Freiheit und Herrschaft, S. 1 21 f. Vgl. Hüning, ebd., S. 122.
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Furcht vor dieser ein partieller Ersatz für die staatliche Zwangsgewalt, denn es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß Β seine Vertragsbedingungen einhält, weil andernfalls seine Selbsterhaltung auf dem Spiele steht. Hier greift eben das Kriterium, daß ein Naturgesetz genau dann in foro externo verpflichtet, wenn seine Nichtbefolgung ein Sicherheitsrisiko darstellen würde. Die Wahrscheinlichkeit, daß Β seinen Vertrag einhält, reicht zumindest so lange, wie Β nicht berechtigterweise befürchten muß, daß A ihn töten oder gefangenhalten wird, obwohl Β seine Vertragsleistungen erbringen würde. Wenn Hobbes also schreibt, aus Furcht eingegangene Verträge seien auch im Naturzustand gültig, dann hat er dabei durchaus Gültigkeit im Sinne von (äußerer) Wirksamkeit im Kopf; er meint jedoch, daß es bewirkende Instanzen geben kann, die nicht mit einer staatlichen Zwangsgewalt identisch sind. Während Hüning der Meinung ist, daß Gültigkeit und Wirksamkeit verschieden sind und daß es Wirksamkeit erst im Staat gibt, denke ich, daß Gültigkeit und Wirksamkeit bei Hobbes dasselbe sind und daß es gewisse Grade an Wirksamkeit auch unter naturzuständlichen Bedingungen gibt. Die wesentliche Differenz zwischen status naturalis und status civilis besteht darin, daß die Vertragsgültigkeit nur in letzterem sowohl allgemein als auch stabil sein kann. Die Verbindungen zum Thema Krieg und Gerechtigkeit liegen nun auf der Hand. Auch im Kriegszustand kann es Gerechtigkeit im Sinne des Einhaltens gültiger Verträge geben; wie im staatlichen Zustand ist die äußere Ursache dieser Gerechtigkeit eine Zwangsgewalt und der innere Motor die Furcht. Allerdings läßt diese äußere Form von Gerechtigkeit noch nicht auf eine gerechte Gesinnung schließen. Hobbes unterscheidet zwischen der Gerechtigkeit von Handlungen und der von Menschen, wie sich an dieser Stelle zeigt: „The names of just, and injust, when they are attributed to men, signify one thing; and when they are attributed to actions, another. When they are attributed to men, they s i g n i f y conformity, or inconformity of manners, to reason. But when they are attributed to actions, they signify the conformity, or inconformity to reason, not of manners, or manner of life, but of particular actions. A just man therefore, is he that taketh all the care he can, that his actions may be all just: and an unjust man, is he that neglecteth it. And such men are more often in our language styled by the names of righteous, and unrighteous; than just, and unjust; though the meaning be the same. Therefore a righteous man, does not lose that title, by one, or a few unjust actions, that proceed from sudden passion, or mistake of things, or persons: nor does an unrighteous man, lose his character, for such actions, as he does, or forbears to do, for fear: because his will is not framed by the justice, but by the apparent benefit of what he is to do. That which gives to human actions the relish of justice, is a certain nobleness or gallantness of courage, rarely found, by which a man scorns to be beholden for the contentment of his life, to fraud, or breach of promise." (Lev. 15, S. 135 f.)
Es ist interessant, daß Hobbes die Unterscheidung zwischen forum internum und forum externum, die für alle Naturgesetze gilt, bezüglich der Gerechtigkeit besonders ausführt. Ein gerechter Mensch ist jemand, der sich redlich darum bemüht, daß all seine Handlungen gerecht sind, d. h. darum, daß er all seine abgeschlossenen Verträge einhält. Er ist rechtschaffen, tugendhaft, vornehm, edelmütig und besitzt Ruhmempfinden im positiven Sinn. Ein ungerechter Mensch ist demgegenüber jemand, der seine Verträge aus Furcht oder Vorteilsstreben einhält. Gerechte Menschen können oft ungerecht handeln, etwa dann, wenn sie von plötzlicher Leidenschaft oder von Irrtum hingerissen werden, und es ist möglich, daß ungerechte Menschen oft oder gar immer gerecht handeln. Gerechte Menschen sind selten und ungerechte
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häufig. Aus diesen Aussagen können wir schließen, daß die Menschen, die im Naturzustand Verträge aus Furcht eingehen, nicht oder nur zufällig gerechte Personen sind, denn das ausdrücklich erwähnte Handlungsmotiv ist die Furcht. Es zeigt sich einmal mehr, wie wenig Hobbes bei der Überwindung des Naturzustandes auf die Vernunft setzte und wie sehr auf die menschliche Leidenschaft der Furcht. Dies bedeutet jedoch nicht, daß zwischen Vernunft und Furcht ein im Prinzip unüberbrückbarer Graben klafft. Im Gegenteil: die Vernunft soll ja den Menschen Regeln für die Selbsterhaltung und Sicherheit an die Hand geben und baut somit auf dem Affekt der Furcht auf. Es kann daher auch nicht sein, daß Menschen, deren Gesinnungen, Wünsche und Bestrebungen mit der Vernunft übereinstimmen, nicht oder niemals von Furcht geleitet sind, und daß Menschen, die nur oder wesentlich aus Furcht handeln, niemals im Einklang mit der Vernunft stehen. Der Unterschied zwischen beiden Arten von Menschen besteht darin, daß erstere in der Regel reflektiert handeln und sich weniger darüber täuschen, was zu ihrer Selbsterhaltung wirklich beiträgt und was nicht, während letztere selbst dort, wo ihre Handlungen mit der Vernunft korrespondieren, oft nicht wissen, was sie tun, also vernünftig handeln, ohne vernünftig zu sein. Stellen wir uns zum Abschluß der Diskussion der ersten drei Naturgesetze noch einmal systematisch die Frage, welchen Status diese bezüglich der Kriegsfrage haben. Das erste Gebot „Suche den Frieden und halte ihn ein" hat offensichtlich zwei Bestandteile. Frieden einhalten kann man nur, wo Frieden bereits besteht, und dies ist nach Hobbes, streng genommen, nur im innerstaatlichen Bereich der Fall. Offensichtlich handelt es sich um eine Kriegspräventionsregel, bei Hobbes eigentlich um eine Vorschrift zur Prävention des Bürgerkrieges. Im staatlichen Zustand verpflichtet diese Regel die Untertanen einfach dazu, die jeweiligen staatlichen Gesetze zu befolgen, insbesondere dazu, sich jeglicher tätlicher oder verbaler Angriffe auf die souveräne Staatsgewalt zu enthalten. Auch der Souverän ist auf das Friedenseinhaltungsgebot nach innen verpflichtet. Diese Verpflichtung gilt für ihn zunächst einmal in foro interno, aber durchaus auch dann in foro externo, wenn der Einhaltung keine Sicherheitsbedenken entgegenstehen oder sogar nur die Einhaltung Sicherheit wahren kann, wobei aus Hobbesscher Perspektive die Sicherheit des Souveräns grundsätzlich mit der Sicherheit der Untertanen zusammenfällt. Die externe Verpflichtung entfällt für den Souverän dann, wenn er mit Aufrührern konfrontiert wird, denen gegenüber er sein ursprüngliches Kriegsrecht wahrzunehmen hat. Auf der zwischenstaatlichen Ebene könnte das Friedenseinhaltungsgebot nur für die staatlichen Souveräne gelten, scheint aber dort leer zu sein, da zwischen den Leviathanen niemals wirklich Frieden herrscht und herrschen kann. Die Regel „Suche den Frieden" verhält sich in gewisser Weise umgekehrt zu der Vorschrift „Halte den Frieden ein", da man in aller Regel nur etwas sucht, was noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist. Diese Vorschrift muß also in besonderer Weise für den einmal ausgebrochenen Kriegszustand gelten, und zwar gleichermaßen für Bürgerkrieg und Staatenkrieg. Sie soll die Kriegsteilnehmer allgemein dazu anhalten, nur solche Kriegshandlungen anzustreben und auszuführen, die zur eigenen Selbsterhaltung und Sicherheit erforderlich sind bzw. dafür gehalten werden. Somit ist diese Norm eigentlich eine Kriegsmäßigungsregel. Nach unserer Interpretation von externer Verpflichtung dürfte diese Regel grundsätzlich in foro externo verpflichten, denn es ist nicht möglich, daß im Kriege vernünftige Sicherheitsbedenken dagegen sprechen, nur das zu tun, was der eigenen Sicherheit förderlich ist. So wäre es selbst dann nicht vernünftig, sich im Krieg rachsüchtig zu verhalten, wenn alle anderen
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der Rachsucht frönten. Im Gegenteil, auf Dauer würden Handlungen dieses Typs die eigene Sicherheit gefährden statt sie zu gewährleisten. Das zweite Naturgesetz enthält die Aufforderung, auf sein Recht auf alles zu verzichten, falls auch andere hierzu bereit sind. Dies ist eine Kriegsbeendigungsregel, bei Hobbes speziell eine Vorschrift zum Austritt aus dem Krieg des Naturzustandes oder aus einem Bürgerkrieg. Diese Regel verpflichtet genauso in foro externo wie das Friedensgebot, aus dem es abgeleitet ist. Sind auch andere dazu bereit, auf ihr Kriegsrecht zu verzichten, so kann es keine rationalen Sicherheitsbedenken mehr dagegen geben, dies selbst auch zu tun. Das zweite Naturgesetz ist kraft der Klausel „wenn auch andere dazu bereit sind" auch ein Verteidigungsgebot. Ist jene Bedingung nicht erfüllt, so wäre es naturgesetzwidrig, sein eigenes Recht auf alles niederzulegen. Hinsichtlich der zwischenstaatlichen Ebene hat Hobbes nicht damit gerechnet, daß die einschränkende Bedingung jemals erfüllt sein könnte. Selbst dann wäre es jedoch im Rahmen der Hobbesschen Staatskonzeption fraglich, ob ein staatlicher Souverän sein Recht auf alles niederlegen dürfte, denn Hobbes sieht ausdrücklich vor, daß er dieses niemals darf (vgl. Lev. 30, S. 323). In der Tat ist es schwer zu sehen, wie dieses Gesetz staatliche Souveräne auch nur in foro interno verpflichten könnte. Das dritte Naturgesetz, das pacta sunt servanda-Prinzip bzw. das Gerechtigkeitsgebot, verpflichtet sowohl im Friedens- als auch im Kriegszustand auf jeweils verschiedene Weise. Unter innerstaatlichen Bedingungen verpflichtet es die Untertanen in foro interno sowie in foro externo, den Souverän verpflichtet es in foro externo dann, wenn die Vertragseinhaltung gegenüber einem oder mehreren Untertanen nicht die staatliche Sicherheit gefährdet. Dagegen verpflichtet dieses Gesetz unter naturzuständlichen oder naturzustandsähnlichen Bedingungen in der Regel nur in foro interno. Es gibt jedoch auch hier Umstände, die eine (äußere) Erfüllung dieses Gesetzes gebieten, z. B. dann, wenn eine Zwangsgewalt vorhanden ist, die bereit ist, mir mein Leben und meine körperliche Freiheit gegen bestimmte Gegenleistungen zu garantieren.
3.3.4. Die weiteren Naturgesetze Hobbes' viertes Naturgesetz ist das
Dankbarkeitsgebot:
„(...) that a man which receiveth benefit from another of mere grace, endeavour that he which giveth it, have no reasonable cause to repent him of his good will." (Lev. 15, S. 138)
Begründet wird diese Regel folgendermaßen: „For no man giveth, but with intention of good to himself; because gift is voluntary; and of all voluntary acts, the object is to every man his own good; of which if men see they shall be frustrated, there will be no beginning of benevolence, or trust; nor consequently of mutual help; nor of reconciliation of one man to another; and therefore they are t o remain still in the condition of war (...)." (Lev. 15, S. 138)
Diese Äußerungen zeigen, wie ausgesprochen weit Hobbes an manchen Stellen den Kriegsbegriff verwend et. Hier z. B. gilt sogar die Undankbarkeit eines Individuums gegenüber einem anderen als eine kriegsförderliche Haltung. Auf den ersten Blick handelt es sich hier um eine Regel, die
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im Kriegszustand selbst kaum eine Anwendung finden dürfte, steht dieser doch unter der Regie von Gewalt und List. Doch Hobbes versteht unter Gunst nicht eine Haltung aus Menschenfreundlichkeit an sich, sondern nur eine Schenkung, d. h. einen Akt, bei dem, im Unterschied zum Vertrag, von dem Empfänger keine Gegenleistung verlangt wird. Wie überhaupt alle menschlichen Handlungen geschehen auch Schenkungen von seiten des Schenkers um des eigenen Wohles willen. Dann kann es selbst in einer Kriegssituation zu solchen Begünstigungen kommen. Dies wäre ζ. B. dann der Fall, wenn Kriegsgefangenen überdurchschnittlich gute Lebensbedingungen gewährt werden. Das Dankbarkeitsgebot würde dann die Empfänger solcher Gunst etwa dazu verpflichten, keinen Fluchtversuch zu unternehmen, sich besonders dienstbeflissen zu zeigen etc. Das fünfte natürliche Gesetz schreibt Entgegenkommen (complaisance) vor: „A fifth law of nature, is COMPLAISANCE; that is to say, that every man strive to accommodate himself to the rest. For the understanding whereof, we may consider, that there is in men's aptness to society, a diversity of nature, rising from their diversity of affections; not unlike to that we see in stones brought together for building of an edifice. For as that stone which by the asperity, and irregularity of figure, takes more room from others, than itself fills; and for the hardness, cannot be easily made plain, and thereby hindereth the building, is by the builders cast away as unprofitable, and troublesome: so also, a man that by asperity of nature, will strive to retain those things which to himself are superfluous, and to others necessary; and for the stubbornness of his passions, cannot be corrected, is to be left, or cast out of society, as cumbersome thereunto. For seeing every man, not o n l y by right, but also by necessity of nature, is supposed to endeavour all he can, to obtain that which is necessary for his conservation; he that shall oppose himself against it, for things superfluous, is guilty of the war that thereupon is to follow; and therefore doth that, which is contrary to the fundamental law of nature, which commandeth to seek peace." (Lev. 15, S. 138 f.)
Dieses Gesetz kann im Kriegszustand offenbar nur in foro interno verpflichten. Es unterscheidet sich von dem Dankbarkeitsgebot dadurch, daß es die Menschen dazu auffordert, von sich aus, d. h. ohne unmittelbar gegebenen Grund, den anderen entgegenzukommen. Die Bedingungen, die eine solche Anpassung möglich machen, sind jedoch nach Hobbes erst durch die Institution des Staates gegeben. Herrscht erst einmal Krieg, so wäre Anpassungsverhalten genau das Falsche. Der Naturzustand ist dadurch charakterisiert, daß in ihm jeder selbst entscheidet, was für ihn notwendig ist. Es gibt in ihm keinen Raum für eine Unterscheidung zwischen dem, was für ein Individuum notwendig und was überflüssig ist. Hinzu kommt, daß es in einer Kriegssituation durchaus nicht überflüssig ist, dem anderen das für ihn Notwendige wegzunehmen, weil dies der beste Weg ist, ihn als Gegner auszuschalten. Wohl aber ist das fünfte Gesetz eine Warnung, einen vorhandenen Frieden durch einen Krieg um solcher Dinge willen zu unterbrechen, die man nicht braucht, und hat daher eher den Status einer Kriegspräventionsregel als den einer Kriegsbegrenzungsvorschrift. Beispielsweise dürfte die Entgegenkommensvorschrift hinsichtlich der im übertragenen Sinn als Individuen aufgefaßten Staaten die Forderung implizieren, nicht wegen überflüssiger und im Ergebnis sogar lästiger Territorien einen Krieg zu beginnen. Innerstaatlich scheint das fünfte Naturgesetz (auch) eine Regel zur Prävention sozial motivierter Bürgerkriege zu sein. Durch seine Befolgung soll verhindert werden, daß wegen einiger oder vieler raffgieriger Menschen sozial uner-
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trägliche Bedingungen für die meisten entstehen. Das sechste Naturgesetz wird von Hobbes folgendermaßen formuliert und begründet: „A sixth law of nature, is this, that upon causation of the future time, a man ought to pardon the offences past of them that repenting, desire it. For P A R D O N , is nothing but granting of peace; which though granted to them that persevere in their hostility, be not peace, but fear; yet not granted to them that give caution of the future time, is sign of an aversion to peace; and therefore contrary to the law of nature." (Lev. 15, S. 1 3 9 )
Dieses Verzeihungsprinzip ist natürlich im Hinblick auf jede Art von Krieg relevant, und zwar auf allen drei Ebenen der Kriegsprävention, der Kriegsbegrenzung und der Kriegsbeendigung. Es bedeutet nichts anderes als die Aufforderung, aus Nützlichkeitserwägungen heraus vorhergehende Feindschaft zu „begraben". Auf der zwischenstaatlichen Ebene könnte es heißen, daß ein Staat A auf ein vorteilhaftes Bündnisangebot eines Staates Β eingeht, der zuvor A angegriffen hat. Auf der innerstaatlichen Ebene könnte es ζ. B. bedeuten, daß ein Souverän Aufrührern ein Gnadenangebot macht, falls diese ihre Waffen niederlegen und glaubwürdig zusichern, sich in Zukunft loyal zu verhalten. Das siebte Naturgesetz wird von Hobbes so eingeführt: „A seventh is, that in revenges, that is, retribution of evil for evil, men look not at the greatness of the evil past, but the greatness of the good to follow. Whereby we are forbidden to inflict punishment with any other design, than for correction of the offender, or direction of others. For this law is consequent to the next before it, that commandeth pardon, upon security of the future time. Besides, revenge without respect to the example, and profit to come, is a triumph, or glorying in the hurt of another, tending to no end; for the end is always somewhat to come; and glorying to no end, is vain-glory, and contrary t o reason, and to hurt without reason, tendeth to the introduction of war; which is against the law of nature; and is commonly styled by the name of cruelty." (Lev. 15, S. 1 4 0 )
In De Cive legt Hobbes großen Wert darauf, daß dieses Grausamkeitsverbot bzw. Mäßigungsgebot selbst im Kriegszustand in foro externo verpflichtet (vgl. DC 3/27, S. 73 Fn.). Es kann niemals sein, daß irgendwelche Sicherheitsbedenken die Ausübung von Grausamkeit rechtfertigen können, weil diese nach Hobbes' Meinung niemandem nützen kann. Zwar ist Rache im Sinne der Vergeltung eines Übels erforderlich, doch muß diese sich stets am Motiv des zukünftigen Nutzens orientieren, nicht daran, wie groß das zu rächende Übel gewesen ist. Die einzigen Zwecke der Rache sind Besserung des Täters und Abschreckung anderer. Der Sühnegedanke kommt hier charakteristischerweise nicht vor; er ist nicht im Besserungskonzept enthalten, denn dieses ist zukunftsbezogen, während Sühne am Vergangenen orientiert ist. Man mag zwar der Meinung sein, daß Sühne die Voraussetzung für Besserung ist. Dennoch bleiben beide voneinander unterschieden. Sühne ist Buße für eine vergangene Übeltat; Besserung ist die wirksame Veränderung der Haltung, die zu einer solchen Tat geführt hat. Obwohl nun Hobbes an der zitierten Stelle primär die innerstaatliche Dimension anspricht, speziell das Strafrecht, hat das Mäßigungsgebot Konsequenzen für den Kriegsfall zwischen Staaten. Es ist eine Kriegsmäßigungsregel (die mittelbar sehr folgenreich fur Kriegsbeendigung und Kriegsprävention sein kann) und fordert dazu auf, Vergeltung nur soweit zu üben, wie dies den eigenen Zwecken nützt. In diesem Zusammenhang ist natürlich zu berücksichtigen, daß sich Vergeltung im Kriege von einer innerstaatlich verhängten Strafe dadurch unterscheidet, daß kein Kriegszustand bei Hobbes durch irgendwelche Strafrechts-
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n o r m e n reguliert ist und daher weder ein Krieg als Ganzer noch einzelne kriegerische Handlungen den Charakter von Strafaktionen haben können. Dieses ist in der T a t ein sehr gravierender Unterschied, doch hat H o b b e s selbst herausgestellt, daß das M ä ß i g u n g s p r i n z i p f ü r den Kriegsfall genauso gelten soll wie f ü r die Strafe. W i c h t i g ist, daß in H o b b e s ' Ausführungen die G r ö ß e f r ü h e r erlittenen Übels überhaupt keine Rolle spielt. Es nützt eben nichts, eine Tat auch nur durch eine ähnlich geartete T a t zu vergelten, w e n n die Sinnlosigkeit oder gar Schädlichkeit eines solchen Unterfangens zu Tage liegt. Auffällig ist, wie sehr in das siebte Naturgesetz und in viele andere dieser Vernunftvorschriften die bereits akzentuierte Hobbessche Haltung eingeht, daß der M e n s c h ein providentielles L e b e w e s e n ist, eine Kreatur, die wesentlich aus ihrem Z u k u n f t s b e z u g heraus zu begreifen ist. Das M ä ß i g u n g s g e b o t lenkt den Blick von V e r g a n g e n e m ausdrücklich ab, und Gleiches gilt auch schon f ü r das sechste Gesetz. A u c h die Dankbarkeitsvorschrift ist u n a b h ä n g i g d a v o n formuliert, was der S c h e n k e r einem selbst oder anderen zuvor an eventuellem Übel zugefügt hat. Im Grunde ist ein elementarer Z u k u n f t s b e z u g auch im zweiten Naturgesetz enthalten, das vorschreibt, aus d e m Naturzustand herauszutreten, indem man sein Recht auf alles niederlegt. Hier wird auf fiktive Weise die Möglichkeit anvisiert, daß Individuen durch einen „ S p r u n g " alles hinter sich lassen, was sie sich im vorhergehenden Kriegszustand an Elend zugefügt haben. Frieden ist nach H o b b e s , so scheint es, ein Zustand, dessen Herstellung und Sicherung wesentlich von der Fähigkeit und Bereitschaft der M e n s c h e n abhängt, V e r g a n g e n e s hinter sich zu lassen. Providentialität erscheint somit als eine elementare friedensstiftende K r a f t . Z w a n g s l ä u f i g fühlt m a n sich an die berühmte Amnestieklausel des Westfälischen Friedens erinnert, abgeschlossen drei Jahre vor d e m Erscheinen d e s Leviathan, in w e l c h e r das g e s a m t e dreißigjährige Kriegsgeschehen ausdrücklich einem allgemeinen „Vergessen und Vergeben" anheimgegeben wurde. Z u m achten Naturgesetz heißt es: „And because all signs of hatred, or contempt, provoke to fight; insomuch as most men choose rather to hazard their life, than not to be revenged; we may in the eighth place, for a law of nature, set down this precept, that no man by deed, word, countenance, or gesture, declare hatred, or contempt of another. The breach of which law, is commonly called contumely." (Lev. 15, S. 140) Dieses Gesetz steht in e n g e m Z u s a m m e n h a n g mit dem vorhergehenden, denn in beiden wird auf Rache Bezug g e n o m m e n . H o b b e s macht in dem zuletzt zitierten Passus, den wir schon aus der Diskussion u m die R u h m s u c h t kennen, deutlich, daß seiner M e i n u n g nach die meisten M e n s c h e n dazu neigen, gegen das siebte Gesetz zu verstoßen. W e n n sie lieber ihr Leben aufs Spiel setzen als sich nicht zu rächen, so ist dies ein klarer Beleg dafür, daß sie bei der R a c h e eben nicht nach vorne schauen, sondern nach hinten, nicht den z u k ü n f t i g e n eigenen Nutzen, sondern das v o r a n g e g a n g e n e Übel im Sinn haben. Z u m i n d e s t gilt dies f ü r solche F o r m e n von Rache, die aus H a ß oder Verachtung hervorgehen. H o b b e s ' diesbezügliche Ausf ü h r u n g e n scheinen in e i n e m Widerspruchsverhältnis zu der i m m e r wieder von ihm hervorgehobenen Zukunftsbezogenheit des M e n s c h e n zu liegen. D o c h liegt hier nicht unbedingt ein Konflikt vor. D i e m e n s c h l i c h e Providentialität ist eine j a n u s k ö p f i g e E i g e n s c h a f t , die aufgrund der ihr inhärenten ständigen Furcht sowohl z u m Kriege als auch z u m Frieden f ü h r e n kann. A u c h der m a ß l o s e n u n d vielleicht s e l b s t s c h ä d i g e n d e n R a c h e liegt n o c h die A n g s t zugrunde, in Z u k u n f t als ein Ehrloser dazustehen. Gerade dieser Furcht will H o b b e s durch ein generelles Beleidigungsverbot den B o d e n entziehen. Er hat bei der Niederschrift d e s achten
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Naturgesetzes vorwiegend Ideologiekämpfe im Sinn gehabt. In diesem Zusammenhang ist folgende Stelle aus De Cive interessant: „Furthermore, since the combate of Wits is the fiercest, the greatest discords which are, must necessarily arise from this Contention; for in this case it is not only odious to contend against, but also not to consent; for not to approve of what a man saith is no lesse then tacitely to accuse him of an Errour in that thing which he speaketh; as in very many things to dissent, is as much as if you accounted him a fool whom you dissent from; which may appear hence, that there are no Warres so sharply w a g ' d as between Sects of the same Religion, and Factions o f the same Commonweale, where the Contestation
is Either con-
cerning Doctrines, or Politique Prudence. And since all the pleasure, and j o l l i t y
o f the
mind consists in this; even to get some, with whom comparing, it may find somewhat wherein to Tryumph, and Vaunt it self; its impossible but men must declare sometimes some mutuali scorn and contempt either by Laughter, or by Words, or by Gesture, or some signe or other; then which there is no greater vexation of mind; and then from which there cannot possibly arise a greater desire to doe hurt." ( D C 1/5, S. 4 6 )
Ideologische Konflikte, für Hobbes aus historischen Gründen hauptsächlich solche religiöser Art, sind nach seiner Ansicht die schlimmsten. Als Bestätigung dafiir führt er den Umstand an, daß die aus solchen Konflikten resultierenden Kriege am heftigsten von allen geführt werden. Hobbes nennt Ursachen für diese Tatsache: Ideologiekriege sind ihrem Ursprung nach geistige Kämpfe, und zwar, wie man hinzufügen muß, Kämpfe um die Wahrheit von geistigen Konstrukten mit Welterklärungsanspruch, wie ihn üblicherweise die Religionen vertreten. Dies bedeutet, daß es in ideologischen Konflikten grundsätzlich um den gesamten Weltbezug der beteiligten Parteien geht. Ideologiekonflikte sind damit grundsätzlich „Identitätskämpfe" im umfassenden Sinn von sowohl personaler als auch kollektiver „Identität". In Kriegen, die aus Konflikten dieses Typs entstehen, sind Wertesysteme mit enorm hoher Integrationskraft am Werke, so daß die Frage nach Sieg oder Niederlage eine wahrhaft existentielle Dimension annimmt. Notwendigerweise gehören die intellektuelle und moralische Herabsetzung des Gegners zum Austragungsmodus dieser Kämpfe. Dies kann deshalb nicht anders sein, weil dort, wo sich Ideologien miteinander im Kampf befinden, die Perspektive auf den Gegner prinzipiell diejenige auf den dümmeren oder schlechteren Menschen ist. Hobbes war ganz offensichtlich der Auffassung, daß nichts kränkender sei als die hiermit verbundene Form von Erniedrigung. Er war folglich der Meinung, daß für Menschen nichts unerträglicher sei als an ihnen verübte ideologisch motivierte Gewalttaten, werden diese doch aus der Sichtweise des Ausführenden als Akte aufgefaßt, die der Betreffende aufgrund seiner menschlichen Minderwertigkeit verdient hat. Hobbes stand nichts so kritisch gegenüber wie ideologischen Legitimationen von Gewalt, die für ihn zwangsläufig auf eine Entgrenzung von Gewalt hinausliefen. Es gibt jedoch einen Trost; in der Regel scheren sich die meisten Menschen nach Hobbes nicht um Ideologien. In De Cive heißt es nämlich: „But the most frequent reason why men desire to hurt each other, ariseth hence, that many men at the same time have an Appetite to the same thing; which yet very often they can neither enjoy in common, nor yet divide it ( . . . ) . " ( D C 1/6, S. 4 6 )
Das häufigste Konfliktmotiv ist also Konkurrenz, die mit Weltanschauungen in der Regel nicht viel zu tun hat. Dies scheint zu bedeuten: W o Menschen nicht zu Haß oder Verachtung provoziert werden, neigen sie eher dazu, ihr natürliches Machtstreben in Form von Konkur-
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renz auszuleben, woraus an sich, zumindest nach Hobbes' Ansicht, weniger brutale und leichter begrenzbare Auseinandersetzungen folgen. Tatsächlich sind Ideologiekämpfe nach Hobbes in aller Regel wenigstens ursprünglich eine Sache von wenigen, und zwar die Angelegenheit eines Personenkreises, dessen Zugehörige man heute als „Intellektuelle" zu bezeichnen pflegt. Das achte Naturgesetz soll u. a. die präzise politische Funktion erfüllen, dem Treiben dieser Menschen entgegenzuwirken. Allerdings ist es allgemeiner formuliert und wendet sich gegen jede Art der Kundgabe von Haß oder Verachtung, auch wenn diese nicht weltanschaulich motiviert ist. Wäre Hobbes der Meinung gewesen, daß formelle Verbote und Gebote im Kriegsfall einen Sinn hätten, so hätte er vermutlich einem generellen Verbot von Kriegspropaganda zugestimmt: dem Verbot, den Kriegsgegner in irgendeiner Weise durch Wort, Schrift oder Bild zu diffamieren und zu entehren. 23 Nun kann für Hobbes ein Kriegszustand nicht durch Gesetze im juristischen Sinn geregelt werden, aber nach unserer Interpretation von externer Verpflichtung verpflichtet das achte Naturgesetz sicher alle beteiligten Parteien nicht nur in foro interno, sondern auch in foro externo. Das neunte Naturgesetz schließt sehr eng an das achte an. Es wird von Hobbes in dem folgenden Passus vorgestellt, der so berühmt ist, daß er hier in voller Länge zitiert werden soll: „The question who is the better man, has no place in the condition of mere nature; where, as has been shewn before, all men are equal. The inequality that now is, has been introduced by the laws civil. I know that Aristotle in the first book of his Politics, for a foundation of his doctrine, maketh men by nature, some more worthy to command, meaning the wiser sort, such as he thought himself to be for his philosophy; others to serve, meaning those that had strong bodies, but were not philosophers as he; as if master and servant were not introduced by consent of men, but by difference of wit: which is not only against reason; but also against experience. For there are very few so foolish, that had not rather govern themselves, than be governed by others: nor when the wise in their own conceit, contend by force, with them who distrust their own wisdom, do they always, or often, or almost at any time, get the victory. If nature therefore have made men equal, that equality is to be acknowledged: or if nature have made men unequal; yet because men that think themselves equal, will not enter into conditions of peace, but upon equal terms, such equality must be admitted. And therefore for the ninth law of nature, I put this, that every man acknowledge another for his equal by nature. The breach of this precept is pride." (Lev. 1 5, S. 140 f.)
Die Verbindung zur siebten Vernunftvorschrift liegt darin, daß Haß und Verachtung damit verbunden sind, andere als niedriger als sich selbst einzustufen, also gerade nicht als Gleiche zu betrachten. Hobbes behandelt Aristoteles an der zitierten Stelle als den Prototyp eines Philosophen, der seine Verachtung anderer Menschen, der Barbaren, in den Rang einer Weisheit erhoben hat. Aristoteles vertrat die Auffassung, es gebe Menschen und Völkerschaften, die von Natur aus zum Befehlen und solche, die von Natur aus zum Dienen geschaffen seien. Hobbes hält gegen Aristoteles das simple Argument: Wenn denn die Hierarchisierung in HerSchon Machiavelli hatte manifest vor Beleidigungen des Feindes im Kriegsfall gewarnt. In den Discorsi vertritt er die Position, daß ein solches Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit selbstschädigende Auswirkungen habe. Genau wie Hobbes empfiehlt Machiavelli dort sowohl Politikern als auch Feldherren, Schmähungen des Gegners unter allen Umständen zu vermeiden. Vgl. Machiavelli: Discorsi, S . 2 5 I f f .
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ren und Knechte so „natürlich" ist, wieso kommt es dann immer wieder vor, daß die „geborenen Herrscher" im Kampf gegen die angeblich „geborenen Diener" unterliegen? Es geht mir an diesem Punkt nicht darum zu prüfen, ob Hobbes mit dieser Kritik Aristoteles gerecht wird. Wichtig ist herauszustellen, daß es bei Hobbes verschiedene Ebenen oder Stufungen von Gleichheit gibt. Zunächst existiert der anthropologische Umstand, daß im Prinzip jeder von Natur aus in der Lage ist, den anderen zu töten oder zu unterwerfen. Diese anthropologische Dimension der Gleichheit ist absolut grundlegend und war auch der Ausgangspunkt von Kapitel 13 des Leviathan. Auch an der soeben zitierten Stelle ist es diese Gleichheit, die explizit von Hobbes angesprochen wird, wenn er sagt, daß der Sieg im Krieg von jedem errungen werden könne. Des weiteren gibt es die naturrechtliche Gleichheit, die im Naturzustand darin besteht, daß jedem Individuum in gleicher Weise ein Recht auf alles zukommt. Voraussetzung für den Eintritt in den Friedenszustand ist, daß die Individuen sich in diesen Hinsichten als gleich anerkennen, denn nur dann können sie sich entschließen, gleichermaßen ihr jeweiliges Recht auf alles niederzulegen, und dieser Schritt ist eben für den Frieden erforderlich. Selbst wenn die Menschen nicht oder nicht in jeder Hinsicht gleich wären, so müßte man nach Hobbes ihnen solche Gleichheit fiktiv zugestehen, weil andernfalls der Frieden unmöglich würde. Mit dem Vollzug der Rechtsniederlegung entsteht die innerstaatliche Gleichheit aller vor der souveränen Gewalt, an die jeder einzelne sein Recht auf alles übertragen hat. Diese Gleichheit fällt scheinbar paradoxerweise mit einer elementaren Form von Ungleichheit zusammen. Auf der einen Seite sind alle Individuen vor dem Souverän gleich, weil keines von ihnen sich gegenüber diesem ein Recht vorbehält, das es anderen nicht ebenso auch einräumen würde. Auf der anderen Seite ist das Verhältnis zwischen Souverän und Individuen selbstverständlich eines der (extremen) Ungleichheit. Dieses Zusammenspiel von Egalität und Herrschaft ist charakteristisch für den Hobbesschen Leviathan. Tatsächlich ist die vollständige Gleichheit der Individuen vor dem Souverän eine unabdingbare Voraussetzung dafür, daß der Souverän die ihm von Hobbes zugedachte absolute Herrschaft überhaupt ausüben kann. Alle hierarchischen Stufungen innerhalb der Untertanen würden jene Transparenz verhindern, ohne die absolute Macht nicht möglich ist. 24 Dieses bedeutet selbstverständlich nicht, daß es im Rahmen des Hobbesschen Staatsmodells hinsichtlich des Verhältnisses der Individuen untereinander keine sozialen Stufungen gibt, doch wird diese Art der Ungleichheit ausschließlich als ein Produkt souveräner Dezision gedacht, denn es ist der Souverän, der Vorrechte verteilt und sie auch wieder nehmen kann. Die so produzierte artifizielle Ungleichheit setzt gerade voraus, daß es zwischen den Untertanen keinerlei natürliche bzw. als natürlich angesehene Rangunterschiede gibt, die dem Souverän bei seinen Entscheidungen im Wege stehen könnten. Das neunte Naturgesetz läuft im Kriegszustand auf die Forderung an die Kriegsparteien hinaus, seien es natürliche Individuen oder Staaten, den oder die Gegner als Gleiche anzuerkennen, hinaus. In De Cive schreibt Hobbes diesbezüglich: „All men in the State of nature have a desire, and will to hurt, but not proceeding from the same cause, neither equally to be condemn'd; for one man according to that naturall equal-
Siehe hierzu Kondylis: Konservativismus, S . 7 7 . Kondylis arbeitet klar heraus, daß die Gleichheit der Individuen im Sinne von Staatsunmittelbarkeit die Grundlage für das Funktionieren der absolutistischen Souveränität ist. Er betont, daß die Idee des Individuums h i s t o risch in dem gleichen Zusammenhang entdeckt wird wie das Gleichheitskonzept.
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ity which is among us, permits as much to others, as he assumes to himself (which is an argument of a temperate man, and one that rightly values his power); another, s u p p o s i n g himselfe above others, will have a License to doe what he lists, and challenges Respect, and Honour, as due to him before others, (which is an Argument of a fiery spirit:) This mans will to hurt ariseth from Vain glory, and the false esteeme he hath of his owne strength; the other's, from the necessity of defending himselfe, his liberty, and his g o o d s against this mans violence." (DC 1/4, S. 4 6 )
Niemand soll also meinen, ihm allein stehe im Naturzustand aufgrund einer eingebildeten höheren Stellung das Recht auf alles zu, anderen jedoch ein Recht auf weniger oder gar auf nichts. Niemand soll im Kriegsfall denken, er allein habe das Recht zu schaden, andere aber nicht. Eine solche Haltung entsteht nach Hobbes hauptsächlich aus Selbstüberschätzung, was Verschiedenes bedeuten kann. Man kann ζ. B. meinen, man sei aufgrund seiner Klugheit und Weisheit berechtigt, andere durch Krieg zu unterwerfen; man kann aber etwa auch denken, man habe aus moralischen Gründen das Recht, seine Feinde zu töten oder zu unterwerfen; Mischformen zwischen beiden Haltungen sind denkbar und historisch häufig. Hobbes' neuntes Naturgesetz fordert statt solcher Überheblichkeit die Anerkennung des Feindes als iustus hostis, d. h. als eines solchen, dem im Kriege genau die gleichen Rechte zustehen wie einem selbst. 25 Das Gleichheitsanerkennungsgebot hat in gleicher Weise Bedeutung für die Kriegsmäßigung wie für die Kriegsbeendigung. Es kann zum einen dazu geeignet sein, das Ausmaß und die Qualität der im Krieg ausgeübten Gewalt zu beschränken. Denn wo sich die Belligerenten gegenseitig als Träger des gleichen Rechtes auf alles akzeptieren, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß sie im einzelnen darauf verzichten, ihr jeweiliges Recht voll auszuschöpfen, denn sie sind sich bewußt, daß nichts den Gegner davon abhalten kann, genauso zu handeln wie sie selbst. Auch dürfte der Gleichheitsgedanke als solcher bereits im Ansatz verhindern, daß die Gewalt ein Stadium erreicht, wie es für Kriege gegen Menschen oder Menschengruppen charakteristisch ist, die man auf irgendeine Weise für schlechter hält als sich selbst. Ob und wieweit die Gleichheitsregel im Kriegsfall allerdings auch in unserem Sinn in foro externo verpflichtet, ist in hohem Maße davon abhängig, daß alle Kriegsparteien sich an sie halten. Sobald einer sich für höher als die anderen hält, kann diese Regel zumindest diesem gegenüber nur noch in foro interno verpflichten. Zum zweiten kann das neunte Naturgesetz die Beendigung von Kriegen erleichtern. Der Gleichheitsgrundsatz schließt im Kriegsfall jede Bewertung von Handlungen nach dem Schuldprinzip aus. Wo alle ein Recht auf alles haben, kann niemand „schuldig" oder „unschuldig" sein. Dies gilt selbst für den, der sich für höher hält als andere und sich deshalb mehr anmaßt als diese, denn verbieten kann ihm dieses ihm Kriegszustand niemand. Da nun der Kriegszustand ein solcher jenseits von Schuld und Unschuld ist, muß niemand fürchten, durch einen Friedensschluß für seine Handlungen im Krieg zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das zehnte Naturgesetz leitet Hobbes aus dem neunten ab: „On this law, dependeth another, that at the entrance into conditions of peace, no man require to reserve to himself any right, which he is not content should be reserved to every one of the rest. As it is necessary for all men that seek peace, to lay down certain rights of nature; that is to say, not to have liberty to do all they list: so is it necessary for man's 25
Zum Begriff des iustus hostis vgl. Schmitt: Der Nomos der Erde, S. 1 2 4 f f .
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life, to retain s o m e ; as right to govern their o w n bodies; enjoy air, water, motion, w a y s t o g o from place to place; and all things else, without w h i c h a man cannot live, or not l i v e well. If in this case, at the making of peace, men require for t h e m s e l v e s , that w h i c h t h e y would not have to be granted to others, they do contrary to the precedent law, that c o m mandeth the acknowledgment of natural equality, and therefore also against the law of nature. The observers of this law, are those we call modest, and the breakers arrogant m e n . " ( L e v . 15, S. 1 4 1 f . )
Diese Regel, das Bescheidenheitsgebot, ist im Hinblick auf den Staatenkrieg bzw. dessen Überwindung nicht anwendbar, weil es Frieden zwischen Staaten im Sinne der Abwesenheit sowohl von Gewalt als auch von Gewaltdrohung nach Hobbes nicht geben kann. Warum letzteres so ist, läßt sich gerade am zehnten Naturgesetz und dessen Begründung besonders klar zeigen. Es gibt nach Hobbes bestimmte Rechte, die kein menschliches Individuum niederlegen kann, ohne dem Selbsterhaltungsprinzip zuwiderzuhandeln, und von diesen Rechten gilt, daß jeder sie in gleicher Weise auch allen anderen zugestehen muß. An erster Stelle nennt Hobbes diesbezüglich das Recht, über den eigenen Körper zu herrschen. Dieses Recht steht aufgrund der Analogie Individuum/Staat im übertragenen Sinn auch den Staaten zu. So wie ein natürliches Individuum einen Körper hat, so hat auch ein Staat einen Körper, den politischen Körper eben (body politics). Nun ist aber im staatlichen Fall das Recht auf Beherrschung des eigenen Körpers identisch mit dem Recht, sich selbst zu regieren bzw. dem Recht auf politische Souveränität. An diesem Punkt bricht die Analogie zwischen natürlichen Individuen und Staaten zusammen. Die Individuen im üblichen Sinn können ihr Recht auf Herrschaft über den eigenen Körper auch im Friedenszustand beibehalten, doch auf die Staaten trifft dies eben nicht zu. Ein Hobbesscher globaler Friede würde, wie gezeigt, voraussetzen, daß die einzelnen Staaten ihre Souveränitätsrechte auf einen „Superleviathan" übertragen, was sie aber nicht können, wenn sie denn notwendigerweise ihr Recht auf Herrschaft über den eigenen „Körper" beibehalten müssen. In Hinsicht auf die Staaten gibt es also bei Hobbes einen unauflösbaren Konflikt zwischen Frieden und dem Recht auf „Körperbeherrschung", der in bezug auf natürliche Individuen nicht existiert. Will man das zehnte Naturgesetz für zwischenstaatliche Verhältnisse fruchtbar machen, so muß man daraus den Bezug auf Frieden streichen. Es würde dann auf die Forderung an die Staaten hinauslaufen, sich gegenseitig als souveräne Einheiten anzuerkennen. Sicher hat Hobbes diese Auffassung vertreten, die noch immer dem modernen Völkerrecht zugrunde liegt, doch er hat nicht postuliert, daß hierdurch Frieden hergestellt würde. Auf der Grundlage Hobbesscher Begriffe wird man eher sagen müssen, daß durch das Souveränitätsprinzip der Kriegszustand fortgeschrieben wird.26 Zum elften Naturgesetz schreibt Hobbes:
Ganz unabhängig von den s y s t e m i m m a n e n t e n Gründen, die sich hierfür bei H o b b e s f i n d e n , wird die T h e s e v o m notwendigen Zusammenhang z w i s c h e n Staat und Krieg mit negativ kritischer T e n d e n z auch in neuerer Zeit vertreten. S i e h e hierzu Krippendorf: Staat und Krieg. Für Krippendorf war und ist die Institution Staat ein permanenter Kriegsprovokateur, der immer wieder für seine Herrschaftszwecke Menschenleben opfert und aufs Spiel setzt. Für eine m . E . fundierte Kritik an dieser äußerst e i n s e i t i g e n S i c h t w e i s e vgl. Münkler: Staat, Krieg und Frieden.
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„Also if a man be trusted to judge between man and man, it is a precept of the law of nature, that he deal equally between them. For without that, the controversies of men cannot be determined but by war." (Lev. 15, S. 142) Diese Vernunftvorschrift soll hier zusammen mit anderen Naturgesetzen betrachtet werden, die sich ebenfalls unmittelbar auf Richterfunktionen beziehen und daher eng zusammenhängen. So schreibt das sechzehnte Naturgesetz vor: „(...) that they that are at controversy, submit their right to the judgment of an arbitrator." (Lev. 15, S. 143) Die siebzehnte Vernunftregel besagt, daß niemand ein geeigneter Schiedsrichter in eigener Sache ist (vgl. Lev. 15, S. 143). Das achtzehnte Gebot formuliert, daß niemand im Konfliktfall als Schiedsrichter zugelassen werden darf, der offensichtlich vom Sieg der einen Partei mehr profitiert als vom Sieg der anderen (vgl. Lev. 15, S. 143 f.). Schließlich erhebt das neunzehnte Naturgesetz die Forderung, daß ein Richter bei Abwesenheit anderer Beweismittel Zeugenaussagen heranziehen soll (vgl. Lev. 15, S. 144). All diese Bedingungen haben offensichtlich in zentraler Weise die richterliche Unparteilichkeit zum Gegenstand. Sie bringen Friedenssicherungs- bzw. Kriegsverhinderungsstrategien zum Ausdruck. Das elfte Naturgesetz formuliert ganz allgemein ein Gleichbehandlungsgebot. Hiermit eng verbunden ist die sechzehnte Vernunftregel, denn die Aufforderung an Konfliktparteien, sich einem Schiedsrichter zu unterwerfen, ist klarerweise nur dann sinnvoll, wenn diese im allgemeinen mit gleicher Behandlung rechnen können. Die Gesetze 17 bis 19 präzisieren die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit Richter unparteilich sein können. Es liegt auf der Hand, was diese Regeln im Hinblick auf den innerstaatlichen Zustand bedeuten, auf den sie offenkundig zugeschnitten sind. Für Hobbes war der innere Frieden in hohem Maße von der Rechtssicherheit der Untertanen abhängig, die natürlich nur dann verwirklicht werden kann, wenn den mit Richterfunktionen beauftragten Personen eine umfassende Unabhängigkeit zukommt. Bei der Anwendung auf zwischenstaatliche Beziehungen stößt man wieder auf Schwierigkeiten. Über den Staaten kann es nach Hobbes keine echten Schiedsrichter geben, zumindest keine weltlichen. Die Forderung, sich dem Urteil eines Richters zu unterwerfen, kann für Staaten nicht gelten, weil die Souveräne dafür ihr Recht auf alles niederlegen müßten, welches das Recht einschließt, Richter in eigener Sache zu sein. Nur wenn man, anders als Hobbes selbst, zum Optimismus hinsichtlich der Funktionsfähigkeit eines Völkerrechts im Sinne eines kodifizierten, allgemein verbindlichen juristischen Regelwerks neigt, lassen sich die erwähnten Vernunftregeln auf Verhältnisse zwischen Staaten näherungsweise übertragen. Dabei würde ungefähr folgendes herauskommen: Alle miteinander im Konflikt befindlichen Staaten wären verpflichtet, ihre Streitigkeiten einer Art internationalem Gerichtshof vorzutragen und sich dessen Entscheidung zu beugen. Langfristig würde dieses darauf hinauslaufen, daß Kriege im Sinne gewaltsam ausgetragener Konflikte gar nicht mehr stattfinden würden, nämlich dann, wenn alle Staaten diese ihre Pflicht erfüllten. Krieg als Modus der Konfliktaustragung würde verschwinden, und an seine Stelle träte der Gerichtsprozeß. Kurz- und mittelfristig müßte ein solcher Gerichtshof aber auch in akuten Kriegsangelegenheiten schlichten, Kriege beenden und über das „gerechte" und „ungerechte" Kriegsverhalten der Belligerenten richten. Um Hobbes' Unparteilichkeitskriterium zu erfüllen, dürfte dieser Gerichtshof wohl grundsätzlich nicht aus Angehörigen derjenigen
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Staaten bestehen, die miteinander jeweils im Konflikt liegen, sondern müßte sich in jedem zu verhandelnden Einzelfall aus neutralen Staatsangehörigen zusammensetzen. Andernfalls wäre der Verdacht auf Befangenheit allzu groß. Offenkundig lag eine Institution des geschilderten Typs jedoch genausowenig im Horizont von Hobbes' Überlegungen wie die Instanz eines „Weltleviathan". Die genannten Gesetze könnten nach Hobbes in zwischenstaatlichen Verhältnissen allenfalls in foro interno verpflichten, und auch dies nur in einem äußerst vagen Sinn, etwa in Form der Vorstellung, daß es gut sei, wenn diese gelten würden. Mindestens genauso gute Gründe gibt es aber für die Auffassung, daß diese Regeln auf der zwischenstaatlichen Ebene weder in foro externo noch in foro interno verpflichten können, denn wenn ein Hobbesscher Souverän sein Recht auf alles nicht aufgeben darf, dann ist nicht einzusehen, warum er sich eine Situation herbeiwünschen sollte, in der er eben hierzu verpflichtet wäre. Das zwölfte und vierzehnte Naturgesetz gehören eng zusammen, weil sie sich speziell mit Fragen der Regelung von Besitzverhältnissen befassen. Das zwölfte Gesetz ist die Billigkeitsregel oder das Gesetz von der austeilenden Gerechtigkeit (vgl. Lev. 15, S. 142). Es besagt, daß die Güter so verteilt werden sollten, daß jeder bekommt, was ihm „vernünftigerweise" zusteht. Was damit gemeint ist, wird durch die Regeln dreizehn und vierzehn präzisiert. Das dreizehnte Gesetz lautet: „But some things there be, that can neither be divided, nor enjoyed in common. Then, the law of nature, which prescribeth equity, requireth, that the entire right; or else, making the use alternate, the first possession, be determined by lot." (Lev. 15, S. 1 4 2 )
Das vierzehnte Naturgesetz scheint nichts anderes auszusagen, als daß das Besitzrecht an einem Gegenstand, der weder geteilt noch gemeinsam genossen werden kann, dem Erstbesitzer zufallen soll. Zum fünfzehnten Naturgesetz schreibt Hobbes: „It is also a law of nature, that all men that mediate peace, be allowed safe conduct. For the law that commandeth peace, as the end, commandeth intercession, as the means', and to intercession the means is safe conduct." (Lev. 15, S. 1 4 3 )
Die Bedeutung dieses Gesetzes über Friedensmittler ist augenfällig. In einem gewissen abgeschwächten Sinn läßt es sich auf den Kriegszustand zwischen Staaten übertragen, wenn man unter Frieden eine Art Waffenstillstand versteht, eine vorübergehende Beendigung der physischen Gewalthandlungen. Die fünfzehnte Vorschrift fordert dann dazu auf, solche Waffenstillstandsvermittler in ihren Bemühungen nicht zu behindern und sie vor allem nicht durch Gewaltaktionen zu bedrängen. Es ist nicht einzusehen, so könnte man mit Hobbes argumentieren, warum sich Staaten nicht an diese Regel halten sollten, beinhaltet sie doch nur die Minimalforderung, eine bestimmte beschränkte Personengruppe von Kriegshandlungen auszunehmen.
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3.4. Der Staat durch Aneignung oder der Fall des Eroberungskrieges Bei Hobbes gibt es eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Typen von Staaten, die im Leviathan auf folgende Weise eingeführt wird: „The attaining to this sovereign power, is by two ways. One, by natural force; as when a man maketh his children, to submit themselves, and their children to his government, as being able to destroy them if they refuse; or by war subdueth his enemies to his will, giving them their lives on that condition. The other, is when men agree amongst themselves, to submit to some man, or assembly of men, voluntarily, on confidence to be protected by him against all others. This latter, may be called a political commonwealth, or commonwealth by institution·, and the former, a commonwealth by acquisition." (Lev. 17, S. 158 f.)
Staaten durch Einsetzung oder institutive Staaten beruhen demnach auf einer vertraglichen Übereinkunft zwischen Menschen, sich einer souveränen Macht zu unterwerfen, von der sie hoffen, geschützt zu werden. Die Staaten durch Aneignung (acquisition) erscheinen in zwei Arten. Der eine wird verkörpert durch die elterliche Herrschaft über Kinder und der andere durch die Sorte von Herrschaft, die man im Krieg über Feinde erringt. Beide Klassen von Staaten unterscheiden sich dadurch voneinander, daß im ersten Fall die Unterwerfung willentlich geschieht, im zweiten aber durch Zwang; zumindest legt Hobbes' oben zitierte Äußerung diese Interpretation nahe. Den Ausdruck „politisch" will Hobbes interessanterweise fur die Staaten durch Einsetzung reservieren, woraus folgt, daß es unpolitische Staaten gibt: eben jene durch Aneignung. Diese terminologische Unterscheidung ist eine Reminiszenz an Aristoteles' Differenzierung zwischen politischer und despotischer Herrschaft. In diesem Kapitel sollen Hobbes' Aussagen zum Staat durch Aneignung untersucht werden, und zwar insbesondere diejenigen zu dem Staat, der durch Gewalt gegenüber Feinden erworben wird. Dieser Fall verdient offenkundig die besondere Aufmerksamkeit einer Arbeit, die sich mit der Kriegsthematik bei Hobbes befaßt, handelt es sich doch hier um Henrschaft, die unmittelbar durch Krieg erworben wird, also um Herrschaft durch kriegerische Eroberung. Auch scheint eine genauere Analyse des Staates durch Aneignung gerade deshalb wichtig zu sein, weil ein großer Teil der einschlägigen Forschungsliteratur sich auf den Staat durch Einsetzung konzentriert, ein verständliches Vorgehen, da Hobbes selbst den institutiven Staat in den Mittelpunkt seiner politischen Philosophie rückt. 1 Im Kapitel 20 des Leviathan präzisiert Hobbes seine Überlegungen zum Staat durch Aneignung. Dort heißt es: „A COMMONWEALTH by acquisition, is that, where the sovereign power is acquired by force; (...) when men singly, or many together by plurality of voices, for fear of death, or bonds, do authorize all the actions of that man, or assembly, that hath their lives and liberty in his power. And this kind of dominion, or sovereignty, differeth from sovereignty by institution,
Siehe aber zum Staat durch Aneignung Gauthier: The Logic of Leviathan, S. 114 ff. Vgl. auch Hampton: Hobbes and the Social Contract Tradition, S. 166 ff.
D E R S T A A T DURCH A N E I G N U N G ODER DER F A L L DES EROBERUNGSKRIEGES
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only in this, that men who choose their sovereign, do it for fear of one another, and not o f him whom they institute: but in this case, they subject themselves, to him they are afraid of. In both cases they do it for fear: which is to be noted by them, that hold all such c o v e nants, as proceed from fear of death or violence, void: which if it were true, no man, in any kind of commonwealth, could be obliged to obedience." (Lev. 20, S. 185)
Hier erfahren wir, daß der wahre Unterschied zwischen Staaten durch Institution und Staaten durch Aneignung nicht in dem Vorhandensein oder Fehlen eines „freien Willens" der sich Unterwerfenden liegt, sondern allein in dem unterschiedlichen Objekt der Furcht. In dem einen Fall unterwerfen sich die Menschen aus Furcht voreinander und in dem anderen Fall aus Furcht vor demjenigen, dem sie sich unterwerfen. Tatsächlich scheint diese Art der Bestimmung der Differenz im Rahmen von Hobbes' Philosophie auch die einzig konsequente zu sein. Nach Hobbes kommt nämlich Menschen wohl ein Wille zu, aber kein freier (vgl. Lev. 21, S. 196 f.). Jeder menschliche Willensakt ist kausal determiniert, auch die Vertragshandlung, durch die sich Individuen aus gegenseitiger Furcht einer souveränen Gewalt unterwerfen. Die kausale Bestimmtheit ist bei denjenigen, die sich dem unterwerfen, den sie fürchten, nur unmittelbarer und daher augenfälliger. Die Differenz ließe sich auch nicht dadurch fassen, daß man sagt, Menschen, die ihren Souverän wählen, handelten aus einer besonderen Vernunft- oder Verstandeseinsicht heraus, die im andern Fall fehle. Auch der Staat durch Aneignung beruht darauf, daß Menschen eine vernünftige Einsicht in ihre ausweglose Lage haben. So bleibt denn als einzige Differenzmarke aus der Perspektive der sich Unterwerfenden nur der unterschiedliche Gegenstand der jeweiligen Furcht. Hobbes nähert institutive und angeeignete Herrschaft nicht nur hinsichtlich ihrer Entstehungsursachen an, sondern er will sie vor allem bezüglich ihrer Folgen und Wirkungen identifizieren: „But the rights, and consequences of sovereignty, are the same in both. His power c a n n o t , without his consent, be transferred to another: he cannot forfeit it: he cannot be accused by any of his subjects, of injury: he cannot be punished by them: he is judge of what is necessary for peace; and judge of doctrines: he is sole legislator; and supreme judge o f controversies; and of the times, and occasions of war, and peace: to him it belongeth t o choose magistrates, counsellors, commanders, and all other officers, and ministers; and t o determine of rewards, and punishments, honour, and order." (Lev. 20, S. 186)
Die hier aufgezählten Souveränitätsrechte sollen nicht nur für den Staat durch Einsetzung gelten, sondern in genau gleicher Weise für den Staat durch Aneignung. Dies bedeutet nichts anderes, als daß gewaltsam erworbene Herrschaft genauso legitim ist wie eingesetzte, falls ein Unterwerfungsvertrag aus Furcht vor dem Sieger stattgefunden hat. Die letzte Art von Herrschaft wird von Hobbes auch als „despotisch" bezeichnet: „Dominion acquired by conquest, or victory in war, is that which some writers call DESPOTICAL, from despotes, which signifieth a lord, or master; and is the dominion o f the master over his servant. And this dominion is then acquired to the victor, when the vanquished, to avoid the present stroke of death, covenanteth either in express words, or by other sufficient signs of the will, that so long as his life, and the liberty of his body is allowed him, the victor shall have the use thereof, at his pleasure. And after such c o v e n a n t made, the vanquished is a SERVANT, and not before: for by the word servant ( . . . ) is not meant a captive, which is kept in prison, or bonds, till the owner of him that took him, or bought him of one that did, shall consider what to do with him: for such men, c o m m o n l y
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called slaves, have no obligation at all; but may break their bonds, or the prison; and k i l l , or carry away captive their master, justly: but one, that being taken, hath corporal liberty allowed him; and upon promise not to run away, nor to do violence to his master, is trusted by him." (Lev. 20, S. 188 f . )
Hobbes zieht hier eine Unterscheidungslinie zwischen Sklaven und Knechten (vgl. auch DC 8/2, S. 118). Ein Sklave ist jemand, dem von seinem Herrn keine körperliche Freiheit zugestanden wird, sondern der im Gefängnis oder unter gefängnisähnlichen Bedingungen gehalten wird. Sklaven haben im Unterschied zu Knechten gegenüber ihren Herren keine Verpflichtungen, sondern sie haben das Recht zu fliehen und ihre Herren zu töten oder zu unterwerfen. Das Recht auf körperliche Freiheit gehört nach Hobbes ja zu denen, die von keinem Menschen niedergelegt werden können (vgl. Lev. 14/120; Lev. 15, S. 141). Durch keinen Herrschaftsvertrag kann die Bewegungsfreiheit einer beteiligten Partei zur Disposition gestellt werden, denn der Sinn eines jeden Herrschaftsvertrages ist von seiten der sich Unterwerfenden die eigene Sicherheit, zu der Hobbes grundsätzlich die körperliche Freiheit zählt. Ein Vertrag, in dem eine Partei auf ihre Freiheitsrechte verzichten wollte, wäre ein naturrechtliches und naturgesetzliches Paradoxon und nach Hobbesschen Begriffen immer ungültig und daher ohne ΒindungsWirkung. Nun besteht für Hobbes überall ein Kriegszustand, wo keine (gültigen) vertraglichen Bindungen existieren, und deshalb ist, so müssen wir schließen, das Verhältnis zwischen Herren und Sklaven ein Kriegsverhältnis.2 An diesem Punkt stellt sich die Frage, welchen Status die Sklaverei im Rahmen von Hobbes' politischem Denken überhaupt haben kann. Mir scheint die Annahme zwingend, daß es sich bei der Sklaverei überhaupt nicht um ein echtes Herrschafis\erhä\lms handelt, sondern um das exakte Gegenteil davon: um reine Anarchie. Herrschaft hat für Hobbes den zentralen Zweck, Krieg zu beenden und zu verhindern, und sie basiert darauf, daß Menschen ihr (Kriegs-)Recht auf alles auf einen Souverän übertragen. Eben dieses verhält sich in der Beziehung zwischen Herrn und Sklaven nicht so, denn der Sklave behält sein Recht auf alles gegenüber dem Herrn bei, womit hier nicht ein Fall von illegitimer Herrschaft vorliegt, sondern einfach ein Fall von Herrschaftslosigkeit. Gerade das, was viele als die extreme Form von Herrschaft überhaupt beschreiben würden, muß nach Hobbes aus rechtslogischen Gründen eine Situation des naturzuständlichen anarchischen Chaos sein. Solche Überlegungen liegen auch den folgenden Zeilen von Hobbes zugrunde: „It is not therefore the victory, that giveth the right of dominion over the vanquished, but his own covenant. Nor is he obliged because he is conquered; that is to say, beaten, and taken, or put to flight; but because he cometh in, and submitteth to the victor; nor is the victor obliged by an enemy's rendering himself, without promise of life, to spare him for this his yielding to discretion; which obliges not the victor longer, than in his own discretion he shall think fit." (Lev. 20, S. 189)
Aus dem Sieg im Kriege allein, also aus reiner Gewalt, folgt für Hobbes demnach außer einer Fortsetzung des Kriegszustandes gar nichts. Nicht jeder Sieg fällt deshalb mit der Beendigung eines Krieges zusammen. Zur Herstellung von Frieden ist vielmehr die vertragliche
Dieses ist dann ausdrücklich die Auffassung von Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 2 1 8 .
DER STAAT DURCH ANEIGNUNG ODER DER FALL DES EROBERUNGSKRIEGES
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Zustimmung des Besiegten erforderlich. Ist letztere Bedingung erfüllt, so liegt ein Frieden durch Eroberung vor. An anderer Stelle formuliert Hobbes kurz und prägnant: „So that conquest, to define it, is the acquiring of the right of sovereignty by victory." (Lev. Review, S. 705)
Der Sieg erscheint hier als der Weg zur Eroberung, nicht als deren Vollendung. Eine Eroberung ist erst dann bewerkstelligt, wenn ein Unterwerfungsvertrag stattgefunden hat, welcher die für echte Herrschaft erforderliche Rechtsgrundlage bildet. Gewalt als solche ist nach Hobbes hinsichtlich der Herstellung von Souveränität gänzlich unproduktiv, selbst dort, wo sie siegreich verläuft. Ein prinzipielles Argument gegen Sklaverei oder gegen das Töten von Besiegten im Krieg läßt sich allerdings aus Betrachtungen dieses Typs nicht ableiten. Es hängt von Nützlichkeitserwägungen des Siegers ab, ob er sich auf ein Unterwerfungsangebot von Seiten der Besiegten einläßt. Hat er gute Gründe, ihnen zu mißtrauen, so hat er auch gute Gründe, sie gefangenzuhalten (vgl. DC 8/3, S. 118) oder gar zu töten; sprechen aber alle Anzeichen dafür, daß er den Besiegten Vertrauen schenken kann, so wäre es irrational und gegen die eigenen Sicherheitsinteressen, ihnen dennoch Leben und Bewegungsfreiheit zu verweigern. Eine grundsätzliche naturgesetzliche Verpflichtung zur vertraglichen Unterwerfung bzw. zu deren Angebot besteht nach Hobbes eher für die Besiegten, denn wo es nur die Wahl zwischen Tod oder Freiheitsverlust auf der einen und Unterwerfung auf der anderen Seite gibt, da ist die Entscheidung für letztere aus Selbsterhaltungsgründen zwingend. Hat nun eine vertragliche Unterwerfung stattgefunden, so ist der Sieger hierdurch zum Souverän geworden und der Besiegte zum Knecht. Die mit der Souveränität verknüpften Rechte sind in diesem Fall, wie gezeigt, genau die gleichen als wäre der Souverän gewählt bzw. eingesetzt worden. Hierdurch werden die Souveränität durch Einsetzung und die Souveränität durch Aneignung einander maximal angenähert. Dieser Umstand läßt sich nun verschieden deuten. Auf der einen Seite scheint die besagte Parallelisierung alle Intuitionen über die Unterschiede zwischen demokratisch begründeter Herrschaft und mittels kriegerischer Gewalt erworbener Herrschaft zu zerstören. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß die demokratische Begründung einer Herrschaft Hobbes zufolge bekanntlich durchaus nicht die Staatsform der Demokratie zur Folge haben muß. Zumindest nach Hobbes' Aussagen aus De Cive (vgl. DC 7/11, S. 111) ist jede Herrschaftsform, auch die Monarchie und die Aristokratie, letztlich aus der Gewalt des Volkes abgeleitet. Solche Äußerungen werden zwar im Leviathan nicht wortwörtlich wiederholt, doch bleibt die Struktur der Argumentation dort m. E. genau dieselbe. Der ursprüngliche Akt der Staatsgründung geht von der Menge aus. Daß die Bürger eines so konstituierten Gemeinwesens sich in ihrem Status nicht von Knechten unterscheiden sollen, erscheint verblüffend. Die andere Seite der Annäherung ist jedoch, daß der Souverän von den Untertanen eines von ihm gewaltsam angeeigneten Staates eben nicht mehr und nichts anderes erwarten darf als von den Untertanen eines eingesetzten Staates. So schreibt Hobbes: „In sum, the rights and consequences of both paternal and despotical dominion, are the very same with those of a sovereign by institution; and for the same reasons: which reasons are set down in the precedent chapter. So that for a man that is monarch of divers nations, whereof he hath, in one the sovereignty by institution of the people assembled, and in another by conquest, that is by the submission of each particular, to avoid death or bonds; to demand of one nation more than of the other, from the title of conquest, as being
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a conquered nation, is an act of ignorance of the rights of sovereignty; for the sovereign is absolute over both alike; or else there is no sovereignty at all; and so every man may lawfully protect himself, if he can, with his own sword, which is the condition of war." (Lev. 20, S. 1 9 0 f.)
In der lateinischen Fassung des Leviathan heißt es: „Wollte ein Monarch zweier oder mehrerer Staaten, von denen der eine ein eingesetzter, der andere aber ein eroberter Staat ist, in demjenigen, welchen er durch Krieg erworben hat, strenger regieren, so würde er dies entweder aus Unbilligkeit oder aus Unkenntnis des Gesetzes der Natur tun." (T. H.: Opera Latina III, Lev. 20, S. 1 5 4 )
Solchen Aussagen liegt jene konsequent egalitäre Sichtweise zugrunde, die eine Voraussetzung jedes Konzeptes von absoluter Herrschaft ist. Untertanen sind vor dem Souverän als von Natur aus genau gleich zu behandeln, unabhängig davon, auf welche Weise diese ihren Untertanenstatus erlangt haben. Jedes andere Handeln wäre naturgesetzwidrig. Hieraus scheint zu folgen, daß in den durch Krieg erworbenen Staatsterritorien genau die gleichen Gesetzesprinzipien und Gesetzessysteme zu gelten haben wie im „Mutterstaat". Solche Gesetze können dann sehr wohl auch Statusunterschiede zwischen Untertanen festschreiben, doch dürfen diese sich eben nicht darauf gründen, daß bestimmte Untertanen zu einem eroberten Staatswesen gehören und andere nicht. Es ergibt sich hieraus auf jeden Fall auch, daß der erobernde Souverän gehalten ist, jede Form von Hochmut seiner ursprünglichen Untertanen gegenüber den „Knechten" zu unterbinden, ganz so, wie das neunte Naturgesetz es fordert. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß Erobererstaaten sich historisch nur in seltenen Fällen in diesem Hobbesschen Sinn verhalten haben. Überdurchschnittlich häufig scheinen Eroberungsprozesse mit moralischen, religiösen, zivilisatorischen oder ethnischen Überlegenheitsideologien von seiten der Erobernden verbunden zu sein, also mit oben/unten-Denkschemata und einer entsprechenden Praxis. Sehr oft ist mit einer solchen nach Hobbesschen Kriterien naturgesetzwidrigen Hochmutshaltung die feste Überzeugung verknüpft, der Eroberungskrieg sei gegenüber den Eroberten ein „gerechter" gewesen. Dieses ist nach Hobbes' Meinung höchst gefährlich. So heißt es diesbezüglich in der Schlußbetrachtung zum Leviathan: „(...) they [the sovereigns] will all of them justify the war, by which their power was at first gotten, and whereon, as they think, their right dependeth, and not on the p o s s e s s i o n . As if, for example, the right of the kings of England did depend on the goodness of the cause of William the Conqueror, and upon their lineal, and directest descent from him; b y which means, there would perhaps be no tie of the subjects' obedience to their s o v e r e i g n at this day in all the world: wherein whilst they needlessly think to justify t h e m s e l v e s , they justify all the successful rebellions that ambition shall at any time raise against them, and their successors. Therefore I put down for one of the most effectual seeds of the death of any state, that the conquerors require not only a submission of men's actions t o them for the future, but also an approbation of all their actions past; when there is scarce a c o m m o n w e a l t h in the world, w h o s e b e g i n n i n g s can in c o n s c i e n c e be justified." (Lev. Review, S. 7 0 6 )
Nach Hobbes' Auffassung ist die Verbreitung von Kriegsrechtfertigungsideologien durch Souveräne herrschaftstechnisch kontraproduktiv. Sein Argument hierfür ist simpel: Wer kundgibt, seine Souveränitätsrechte hinsichtlich eines gewaltsam eroberten Staates leiteten sich aus einer gerechten Kriegsursache (iusta causa belli) oder einer gerechten Kriegsabsicht
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{recta intentio) ab, der gefährdet langfristig u. U. seine Macht, denn er sät in den Herzen und Köpfen seiner Untertanen die Saat des Aufruhrs. So wie der erfolgreiche Eroberer Sieg und Herrschaft gerechtigkeitsideologisch untermauern kann, so kann dies auch der Aufrührer. Auch dieser wird sich des Modus der ideologischen Legitimierung von Krieg und Herrschaft bedienen und entsprechende Argumente seinen staatsfeindlichen Akten und auch deren möglichem Erfolg zugrundelegen. Tatsächlich begünstigt die Gerechtigkeitsstrategie der Begründung von gewaltsam angeeigneter Herrschaft den Aufruhr, und zwar aus zwei Gründen:
-
Sie hat zur Folge, daß es überhaupt zu Aufruhr kommt, denn gerade Hobbes hat klar gesehen, daß Menschen kaum etwas so schwer ertragen wie die Behauptung, sie hätten Gewalt „gerechterweise" erlitten. Sie wird, entgegen der ursprünglichen Intention, die Erfolgschancen von Aufruhr steigern, gerade weil sie ein so umfassendes Arsenal von geistigen Waffen zur Verfügung stellt, aus dem heraus das Feuer der Kanonen so wirkungsvoll ergänzt werden kann.
Hobbes vertritt also die Ansicht, daß die ideologische Legitimierung von gewaltsam erworbener Herrschaft für Souveräne eine gefährliche Waffe von der Art eines Bumerangs ist. Charakteristischerweise will er an die Stelle einer vergangenheitsorientierten Sichtweise eine zukunftsorientierte Haltung setzen, der gemäß von den Untertanen eines eroberten Staates nicht die Billigung des Krieges gegen sie verlangt werden soll, sondern lediglich die Unterwerfung unter alle zukünftigen Entscheidungen des Souveräns. Wir sind dieser providentiellen Perspektive bei Hobbes bereits mehrfach begegnet, und es hat sich gezeigt, daß diese im Rahmen des Hobbesschen Denkens eine friedensstiftende Funktion erfüllt. Ihr Zweck, Frieden zu stiften und langfristig zu sichern, tritt auch in dem gegenwärtigen Zusammenhang deutlich zu Tage. Krieg und Gewalt zukünftig zu verhindern, ist gleichermaßen für Sieger wie Besiegte identisch mit der Fähigkeit, vergangene Gewalt hinter sich lassen zu können. Hinsichtlich des Eroberersouveräns, dessen Perspektive Hobbes an der zuletzt zitierten Stelle einnimmt, ist diese Kompetenz gleichbedeutend mit der Bereitschaft und Fähigkeit zur konsequent pragmatischen Handhabung seiner Macht. D. h. er muß in der Lage sein, die Qualität seiner Handlungen an deren möglichen Folgen für die Stabilität seiner Herrschaft, also des (inneren) Friedens, zu messen. Kurz, pragmatisches Denken und Handeln bedeutet für den Eroberersouverän, wie übrigens in etwas weniger offensichtlicher Form auch für den eingesetzten Souverän, stets darauf bedacht zu sein, eine Mentalität des Krieges nicht in den inneren Friedenszustand hinein fortzupflanzen. Das Pragmatismuspostulat gilt selbstverständlich auch für die Besiegten. Es ist diesbezüglich identisch mit der Auffassung, zunächst eine Einsicht in die eigene Unterlegenheit zu haben, einen bereits verlorenen Kampf nicht weiterzuführen und dadurch Leben und Freiheit aufs Spiel zu setzen. Es ist also eine A u f f o r d e r u n g zum Unterwerfungsvertrag und auch eine dazu, diesen Vertrag zukünftig einzuhalten. Bisher haben wir die Gemeinsamkeiten zwischen Staaten durch Einsetzung und Staaten durch Aneignung herausgearbeitet, und diese sind es auch, die Hobbes selbst in den Vordergrund seiner Analysen rückt. Bei näherer Betrachtung gibt es jedoch gravierende Unterschiede. Zunächst bezeichnet Hobbes die gewaltsam erworbene Herrschaft ausdrücklich als „Despotie", und er will sie, im Unterschied zu der eingesetzten, nicht als eine politische verstanden wissen. Diese Punkte mögen noch als rein terminologische erscheinen, doch es gibt eine Differenz, die so wichtig ist, daß sie die gesamte Analogie ins Wanken bringt. Der Ver-
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trag, der zum eingesetzten Staat führt, ist im Kern anders beschaffen als jener Vertrag, der dem erworbenen Staat zugrunde liegt. Im ersteren Fall kommt der Vertrag nach Hobbes' eigenen Worten auf folgende Weise zustande: „(...) it is a real unity of them all, in one and the same person, made by covenant of every man with every man, in such manner, as if every man should say to every man, I authorise and give up my right of governing myself, to this man, or to this assembly of men, on this condition, that thou give up thy right to him, and authorize all his actions in like manner. This done, the multitude so united in one person, is called a COMMONWEALTH, in Latin CIVITAS." (Lev. 17, S. 158)
Und: „And in him consisteth the essence of the commonwealth; which, to define it, is one person, of whose acts a great multitude, by mutual covenants one with another, have made themselves every one the author, to the end he may use the strength and means of them all, as he shall think expedient, for their peace and common defence." (Lev. 17, S. 158)
Die hier geschilderte Konstruktion beinhaltet, daß es sich um einen Vertrag von jedem mit jedem handelt; daß jedes Individuum sein Recht auf alles auf einen oder auch mehrere Menschen (den zukünftigen Souverän) überträgt und daß jedes Individuum diesen oder diese Menschen autorisiert. Dies bedeutet bei Hobbes, daß es alle zukünftigen Entscheidungen und Handlungen des Souveräns als seine eigenen anerkennt, soweit diese Fragen des Friedens und der Verteidigung betreffen. In diesem Modell spielen drei Arten von Personen eine Rolle: -
Die natürlichen Personen, die Individuen; die Menge der Individuen, die durch den Vertrag zu einer Staatsperson wird; der Souverän, der diese Person verkörpert.
Hierbei sind für Hobbes die Individuen und die Staatsperson untrennbar miteinander verknüpft, denn ein Staat ist seiner Auffassung nach ohne die Verkörperung durch eine souveräne Gewalt nicht denkbar. Nun ist es innerhalb dieses Konstruktes höchst wichtig, daß der Souverän nicht selbst als Vertragspartner auftritt. Diesbezüglich schreibt Hobbes: „(...) because the right of bearing the person of them all, is given to him they make sovereign, by covenant only of one to another, and not of him to any of them; there can happen no breach of covenant on the part of the sovereign; and consequently none of his subjects, by any pretence of forfeiture, can be freed from his subjection." (Lev. 18, S. 161)
Da der Souverän nicht selbst Vertragspartner ist, ist er auch dem Vertrag nicht verpflichtet, und daher kann ihm keiner seiner Untertanen Widerstand leisten mit dem Argument, jener habe durch den Vertragsbruch seine souveräne Gewalt verwirkt. Nach Hobbes wäre es absurd, Souveränität durch Vertrag zu verleihen. Würde man dies versuchen, so gäbe es im Konfliktfall keine Instanz, die entscheiden könnte, ob der Souverän den Vertrag wirklich gebrochen hat oder nicht, und das Recht des Krieges träte wieder ein. Beim Staat durch Aneignung verhält es sich bezüglich der Vertragsgebundenheit des Souveräns anders. So schreibt Hobbes in Kapitel 21 des Leviathan:
DER STAAT DURCH ANEIGNUNG ODER DER FALL DES EROBERUNGSKRIEGES
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„First therefore, seeing sovereignty by institution, is by covenant of every one to every one; and sovereignty by acquisition, by covenants of the vanquished to the victor, or child to the parent (...)." (Lev. 21, S. 204/Hervorh. U. K.)
Und in der Schlußbetrachtung heißt es: „Which right [das Souveränitätsrecht], is acquired in the people's submission, by which they contract with the victor, promising obedience, for life and liberty." (Lev. Review, S. 705/Hervorh. U. K.)
Herrschaft durch Aneignung bzw. despotische Herrschaft beruht also auf einem Vertrag mit dem Souverän! Dieses Eingeständnis taucht selten und eher versteckt auf, vielleicht deshalb, weil Hobbes selbst die Inkonsistenz sah, die hierdurch in seine Staatstheorie kommt. 3 Sobald der Souverän selbst zum Vertragspartner wird, ist er auch an den Vertrag gebunden und damit ein Souverän unter Vorbehalt, also eigentlich kein Hobbesscher Souverän. Gesteht der Eroberer dem Besiegten die körperliche Freiheit zu und bricht dann dieses Zugeständnis, indem er ihn ohne Anlaß ζ. B. in Ketten legt, so wird der Knecht zum Sklaven und hat dann das Recht, zu fliehen oder seinen Herrn zu töten. Es besteht diesbezüglich ein diffiziler Unterschied zwischen dem Versprechen des Lebens und dem Einräumen der Bewegungsfreiheit. Das Versprechen des Lebens allein verpflichtet nach Hobbes den Sieger nur solange, wie er es nach eigenem Ermessen für richtig hält (vgl. Lev. 20, S. 190) und begründet daher kein Vertragsverhältnis, denn Verträge, die eine Partei nur nach Laune verpflichten, verpflichten überhaupt nicht. Mit dem Zugeständnis der körperlichen Freiheit verhält es sich anders. Hobbes schreibt in dieser Hinsicht folgendes: „And then only is his life in security, and his service due, when the victor hath trusted him with his corporal liberty. For slaves that work in prisons; or fetters, do if not of duty, but to avoid the cruelty of their task-masters." (Lev. 20, S. 190)
Wenn also der Sieger dem Besiegten erlaubt, sich frei zu bewegen, dann entsteht hierdurch eine Vertragsbeziehung, die aus dem Umstand des reinen Überlebenlassens noch nicht folgt. Die Differenz liegt darin, daß das Lebenlassen noch kein Vertrauensverhältnis begründet, das Lebenlassen in Freiheit aber sehr wohl (vgl. hierzu DC 8/3, S. 118). Von dem Zeitpunkt, an dem das Zugeständnis der körperlichen Freiheit erfolgt, wird aus der Sklaverei eine Knechtschaft und damit auch ein Dienstleistungsverhältnis. Gleichzeitig ist von diesem Punkt an eben auch der Souverän vertraglich verpflichtet und damit nicht wirklich ein Souverän im absoluten Hobbesschen Sinne.4 Man könnte gegen diese Überlegungen den folgenden Einwand ins Feld führen: Der erwähnte Unterschied zwischen eingesetzten und angeeigneten Staaten existiert nur scheinbar.5 Auch der Untertan des eingesetzten Staates hat das Recht, sich gegen Gefangennahme oder andere Beschränkungen der körperlichen Freiheit gewaltsam zur Wehr zu setzen, weil niemand durch irgendeinen Vertrag sein Recht auf Bewegungsfreiheit niederlegen kann (vgl. Lev. 14, S. 127). Dem ist entgegenzuhalten: Es ist zwar richtig, daß den Untertanen institutiver Staaten ζ. B. im Fall der Gefangennahme das Recht zusteht, sich auch gegen den Sou-
Siehe zu diesem Problem auch Gauthier: The Logic of Leviathan, S. 1 1 4 . Vgl. hierzu auch Hampton: Hobbes and the Social Contract Tradition, S. 1 7 0 . Dieses wird z.B. von Gauthier so gesehen. Vgl. Gauthier: The Logic of Leviathan, S. 1 14.
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verän bzw. dessen ausführende Organe mit Gewalt zur Wehr zu setzen. Dennoch hat hier der Souverän das Recht, jeden jederzeit festzusetzen, weil er notwendigerweise ein Recht auf alles hat. Deswegen kann auch das Recht eines jeden, sich immer mit Gewalt gegen Gewalt zu verteidigen, dort nicht als ein Widerstandsrecht gegen den Souverän konstruiert werden, denn gegen das Recht auf alles kann es kein Widerstandsrecht geben. Im Fall des Staates durch Aneignung gibt es aber definitiv ein solches (bedingtes) Widerstandsrecht gegen die Staatsgewalt. Wenn der Sieger den Besiegten körperliche Freiheit verspricht, in welcher Form des Versprechens auch immer, so ist er hieran gebunden; im Gründungsvertrag des eingesetzten Staates verspricht der (zukünftige) Souverän dagegen gar nichts, sondern tritt weder durch Worte noch durch andere Zeichen überhaupt in Erscheinung. Auf der Grundlage der vorhergehenden Untersuchungen läßt sich das Verhältnis von Sklaverei, Despotie und eingesetzter Herrschaft folgendermaßen beschreiben: Die Sklaverei kann im Hobbesschen begrifflichen Rahmen überhaupt kein Herrschaftsverhältnis sein. Sie ist einfach eine spezifische Form des Kriegszustandes. Es handelt sich um eine anarchische Gewalt, die von ein oder mehreren Individuen über andere Individuen ausgeübt wird. Der Grund für diesen anarchischen Charakter ist nicht, daß der Versklaver ein Recht auf alles hat, sondern daß ein solches auch dem Sklaven zusteht. Die Despotie unterscheidet sich dadurch von der Sklaverei, daß ihr ein Vertragsverhältnis zugrunde liegt, das jedoch keine Souveränität im vollen Hobbesschen Sinne begründen kann, weil es den Untertanen, wenn auch gegen Hobbes' eigene Intentionen, de facto ein Widerstandsrecht einräumt. Es handelt sich um einen Grenzfall zur Herrschaft, weshalb wir es hier auch nicht mit wirklichem Frieden, sondern mit einer Gemengelage aus Krieg und Frieden zu tun haben. Dieser aus Hobbesscher Sicht zweifellos problematische Status von Staaten durch Aneignung war dem Autor des Leviathan wohl zumindest halb bewußt, womit es vermutlich zusammenhängt, daß er Eroberungen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil für nutzlos und gefährlich hielt (vgl. Lev. 29, S. 321). Der eingesetzte Staat ist schließlich das Hobbessche Paradigma für Herrschaft schlechthin. Erst hier haben wir es mit Herrschaft in ihrer absoluten Form zu tun, weshalb uns hier auch der innere Frieden in seiner denkbar stabilsten Ausprägung entgegentritt. Es verbleibt am Ende dieses Kapitels noch die Aufgabe, kurz Hobbes' Aussagen über den Typus der elterlichen Herrschaft zu betrachten. Hobbes schreibt diesbezüglich: „Dominion is acquired two ways; by generation, and by conquest. The right of d o m i n i o n by generation, is that, which the parent hath over his children; and is called PATERNAL. And is not so derived from the generation, as if therefore the parent had dominion over h i s child because he begat him; but from the child's consent, either express, or by other sufficient arguments declared. For as to the generation, God hath ordained to man a helper; and there be always two that are equally parents: the dominion therefore over the child, should belong equally to both; and he be equally subject to both, which is impossible; for no man can obey two masters. And whereas some have attributed the dominion to the man only, as being of the more excellent sex; they misreckon in it. For there is not always that difference of strength, or prudence between the man and the woman, as that the right can be determined without war. In commonwealths, this controversy is decided by the civil law; and for the most part, but not always, the sentence is in favour of the father; because for the most part commonwealths have been erected by the fathers, not by the mothers of families. But the question lieth now in the state of mere nature; where there are supposed no laws of matrimony; no laws for the education of children; but the law of nature, and the natural inclination of the sexes, one to another, and to their children. In this condition o f
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mere nature, either the parents between themselves dispose of the dominion over the child by contract; or do not dispose thereof at all. If they dispose thereof, the right passeth according to the contract. We find in history that the Amazons contracted with the men o f the neighbouring countries, to w h o m they had recourse for issue, that the issue male should be sent back, but the female remain with themselves: so that the dominion of the females was in the mother." (Lev. 20, S. 1 8 6 f.)
Hieraus geht zunächst hervor, daß die Zeugung bezüglich der elterlichen Herrschaft einen ähnlichen Status hat wie die Gewalt hinsichtlich der eroberten Herrschaft. Zwar ist die Zeugung das Mittel zum Erwerb elterlicher Herrschaft, doch kann das entsprechende Herrschaftsrecht durch sie nicht begründet werden. Hierfür führt Hobbes spezifische Gründe an: Wollte man das Recht zur Herrschaft über Kinder aus der Zeugung ableiten, so müßte es naturgemäß beiden Elternteilen zukommen, da an der Zeugung beide beteiligt waren. Nun ist geteilte Herrschaft im Rahmen von Hobbes' politischer Theorie unmöglich, und daher ist die Zeugung als solche keine Grundlage für das elterliche Herrschaftsrecht. Den Gedanken, daß jenes Recht automatisch dem Manne aufgrund seiner höheren physischen und geistigen Qualitäten zufalle, will Hobbes ausschließen. Seiner Auffassung nach kann zwischen Männern und Frauen eine so weitgehende Gleichheit der Fähigkeiten bestehen, daß der Mann im Konfliktfall damit rechnen muß, mit der Frau Krieg um die Kinder zu führen und wohl auch damit, in diesem Kampfe unter Umständen der Unterlegene zu sein. Im Prinzip handelt es sich hier um eine egalitäre Sichtweise des Geschlechterverhältnisses, die ja auch in der Konsequenz von Hobbes' anthropologischer Grundauffassung liegt, daß die Menschen hinsichtlich ihrer gegenseitigen Tötungsfähigkeiten gleich sind. Eine natürliche Friedfertigkeit des weiblichen Geschlechtes, durch die dieses der naturzuständlichen Kriegsdynamik entzogen wäre, gibt es nicht. Die zitierte Stelle kann u. a. als eine Warnung an Männer ausgelegt werden, hinsichtlich des anderen Geschlechtes nicht gegen das neunte Naturgesetz zu verstoßen, also nicht hochmütig zu sein, und sicher nicht zufallig führt Hobbes in diesem Kontext als historisches Exempel die Amazonen an. Daß im staatlichen Zustand meistens das elterliche Herrschaftsrecht den Vätern zufällt, führt Hobbes schlicht darauf zurück, daß die meisten Staaten von Männern gegründet wurden. Dafür, daß letzteres notwendigerweise so bleiben muß, gibt es im Rahmen von Hobbes' Konstruktion politischer Herrschaft kein einziges Argument. Die leviathanische Staatsmaschine ist ein Modell, in dessen Zentrum keine geschlechterideologischen Bestimmungen eingehen; nichts hängt davon ab, ob die „Seele" des Mechanismus männlich oder weiblich ist.
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3.5. Aufruhr und Bürgerkrieg Kein politisches Problem lag Hobbes unmittelbar so sehr am Herzen wie die Frage nach der wirksamen Verhinderung und Bekämpfung von Aufruhr (sedition) und Bürgerkrieg (civil war). Dabei ist zwischen Aufruhr und Bürgerkrieg nur graduell zu unterscheiden. Ersterer ist nach Hobbes eine Krankheit des Staates, letzterer aber bereits dessen Tod (vgl. Lev. Introduction/X). Ist ein Bürgerkrieg in vollem Gange, so ist dies ein sicheres Zeichen dafür, daß die ehemals souveräne Staatsgewalt keine solche mehr ist, weil sie ihre friedenssichernden Funktionen offensichtlich nicht mehr ausübt. Für den ausgebrochenen Bürgerkrieg gilt das, was im zweiten Kapitel dieses Teils über das Verhältnis von Krieg und Naturgesetzen gesagt worden ist. Im gegenwärtigen Zusammenhang gilt es, Hobbes' Theorie der besonderen Eigenschaften und der Prävention von Bürgerkriegen herauszuarbeiten.
3.5.1. Bürgerkrieg, Staatenkrieg und der Krieg des Naturzustandes Zunächst bietet sich ein skizzenhafter Vergleich zwischen den drei bei Hobbes relevanten Typen des Staatenkrieges, des Bürgerkrieges und des Modellkrieges eines jeden gegen jeden im Naturzustand an. Leider wenden Hobbes selbst und mit ihm verständlicherweise seine Interpreten oft auf diese drei Arten des Krieges gleichermaßen den Ausdruck „Naturzustand" an, was dazu verleitet, gravierende Unterschiede zu übersehen. Der naturzuständliche Krieg hat offensichtlich den Status eines Paradigmas oder eines Idealtypus, dem sich reale Kriege nur mehr oder weniger annähern, dessen Merkmale sie aber niemals vollständig erfüllen: Im Krieg des Naturzustandes ist jedes Individuum Kriegsteilnehmer. Staatenkriege haben diese Eigenschaft nur in einem übertragenen Sinn, d. h. aufgefaßt als Konflikte zwischen künstlichen Individuen. Dieses ist jedoch nicht dasselbe; es handelt sich eben um eine bloße Analogie. Die Menschen des Naturzustandes kennen keine staatliche Herrschaft. Das gesamte Naturzustandsmodell läuft auf einen Gründungsakt hinaus: die Gründung des eingesetzten Staates. Dagegen liegt dem Zustand des Bürgerkrieges nach Hobbes immer ein re-bellare, eine Wiedererweckung des Krieges zugrunde (vgl. Lev. 28, S. 305). Diese ist natürlich von Seiten ihrer Verursacher ein Schwerstverbrechen, das im Fall des Krieges im Naturzustand keine Entsprechung hat, den Hobbes ausdrücklich nicht als Verbrechen begreift. Ein zentrales Kennzeichen von Bürgerkriegen ist nach Hobbes die Verwendung von Ideologien als Waffen. Ideologien setzen jedoch sowohl hinsichtlich ihrer Entstehung als auch ihrer Wirkungskraft kollektive Bindungen voraus, die es im Naturzustand aufgrund der dort fingierten menschlichen Vereinzelung nicht geben kann. Jedoch ist Hobbes selbst bezüglich dieses Punktes schlicht inkonsistent. Es scheint in diesem Zusammenhang, als solle das Naturzustandsmodell bei Hobbes zwei unterschiedliche Funktionen erfüllen. Einerseits dient es als Grundlage für die Konstruktion des Staatsgründungsaktes; andererseits spielt es die Rolle eines umfassenden Schreckbildes, in dem alles Elend zusammengefaßt wird, das Menschen sich gegenseitig zufügen können. Weil Hobbes das Bild des Naturzustandes so schwarz wie möglich malen wollte, hat er auch auf solche Elendsfaktoren zurückgegriffen, die nach seinen
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eigenen Voraussetzungen erst unter Bedingungen staatlicher oder zumindest gemeinwesenähnlicher Organisation die Chance haben, sich herauszubilden. Kein Staatenkrieg kann nach Hobbes' eigenen Aussagen soviel Leiden über die Menschen bringen wie das bellum omnium contra omnes des Naturzustandes. Im Gegenteil: die staatlichen Souveräne können durch eine kriegerische Haltung sogar den Fleiß ihrer Untertanen fördern (vgl. Lev. 13, S. 115). Der äußere Krieg kann für Hobbes unter Umständen eine in mancher Hinsicht konstruktive Rolle spielen. Im Naturzustand muß jedes Individuum jedes andere permanent fürchten. Selbst wenn man Hobbes die Analogie Individuum/Staat zugesteht, so muß letztere Behauptung hinsichtlich zwischenstaatlicher Verhältnisse doch stark abgeschwächt werden. Zwischen Staaten kann es längerfristig stabile Macht- und Ohnmachtsverhältnisse geben, von deren Existenz Hobbes bezüglich des Naturzustandes nicht ausging, obwohl auch dort kurzfristige Zweckbündnisse existieren. Mögen natürliche Individuen einander in ihren Fähigkeiten, sich gegenseitig zu vernichten und zu unterwerfen, weitgehend gleich sein, für Staaten gilt dies de facto längst nicht immer. 1 Man braucht in diesem Zusammenhang nur an Unterschiede der territorialen Größe, der natürlichen Ressourcen, der ökonomischen Entwicklung oder des Standes der Wissenschaften zu denken. Schließlich muß beachtet werden, daß sowohl der Krieg des Naturzustandes als auch der Bürgerkrieg im Unterschied zum Staatenkrieg die Eigenschaft haben, im Prinzip beendbar zu sein. Dagegen kann zumindest die gegenseitige Bedrohung und Abschreckung, die für Hobbes bereits unter den Kriegsbegriff fallt und die für ihn charakteristisch für das Verhältnis zwischen Staaten ist, nicht aus der Welt geschafft werden, und zwar gerade aus Gründen der Analogie Individuum/Staat. Der zwischenstaatliche Kriegszustand kann nur „gehegt" und begrenzt werden, z. B. indem man ihn soweit wie möglich in einem „kalten" Stadium hält, aber eliminierbar ist er nicht. Es gibt nur ein einziges Merkmal, welches sowohl das bellum omnium contra omnes als auch der Bürgerkrieg als auch der Staatenkrieg gemeinsam haben, und dies ist die Abwesenheit einer souveränen Zwangsgewalt, die über den Kriegsparteien steht. Insofern also der Naturzustand als einer der gänzlichen Ermangelung staatlicher Herrschaft gedacht ist, kann der Terminus „Naturzustand" auf alle drei Formen des Krieges angewendet werden. Dieses ist ein Minimalmerkmal, das nach Hobbes jeder Zustand erfüllen muß, um Krieg zu sein. Hobbes denkt jedoch im Begriff des Naturzustandes, so wie er etwa im Kapitel 13 des Leviathan entwickelt wird, mehr als nur die Abwesenheit einer souveränen Zwangsgewalt. Aus diesem Grund wäre es genauer zu sagen, daß sowohl Bürgerkrieg als auch Staatenkrieg sich in ihren jeweils eigenen Hinsichten und Graden dem Naturzustand bzw. dem naturzuständlichen Krieg annähern. Hierdurch würde man der allgemein geteilten Überzeugung gerecht, daß der Hobbessche Naturzustand nicht als historisch realer Zustand aufzufassen ist, sondern als ein hypothetisches Konstrukt. 2 Auch kann auf dieser Grundlage eine rudimentäre Kriegstypolo-
Siehe hierzu auch Sackstedter: Mutually Acceptable Glory, S. 109. Sackstedter betont, daß Staaten nicht gleich sind, wobei er allerdings statt „Staat" den Terminus „Nation" verwendet. Er vertritt im Anschluß an Hobbes die Meinung, daß bei aller faktischen Ungleichheit im internationalen Bereich an der Fiktion der Gleichheit festgehalten werden muß. Tatsächlich ist im Bereich der Hobbes-Forschung mittlerweile die Standardmeinung, daß Hobbes mit der Beschreibung seines Naturzustandes keine empirisch-historischen Intentio-
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gie entfaltet werden, die es bei Hobbes gibt, die aber immer wieder durch den egalisierenden Gebrauch des Ausdrucks „Naturzustand" verdeckt wird.
3.5.2. Spezifika des Bürgerkrieges In Anlehnung an Hobbes lassen sich fünf spezifische, eng miteinander verflochtene Merkmale des Bürgerkrieges 3 herausarbeiten. Die hohe Ideologielastigkeit von Bürgerkriegen ist bereits erwähnt worden. Allerdings wird man gerade aus heutiger Perspektive sagen müssen, daß es sich hierbei durchaus nicht um eine Eigenschaft handelt, die ausschließlich Bürgerkriegen im Sinne von gewaltsamen Konflikten innerhalb eines Gemeinwesens eigen ist. Bekanntlich können auch Konflikte zwischen Staaten in hohem Maße ideologiebelastet sein. Will man jedoch Hobbes stark machen, so kann man seine Position durch die Überlegung verteidigen, daß Ideologiehaltigkeit auch dort, wo sie in Staatenkriegen auftritt, ein bürgerkriegsurspriingliches Element ist. Anders formuliert: Aus Hobbesscher Sicht läßt sich argumentieren, daß die Grenze zwischen Staaten- und Bürgerkriegen so verwischbar ist, daß Staatenkriege Bürgerkriegscharakter annehmen können. 4 In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß nach Hobbes der Krieg zwischen Staaten weder rechtlich noch moralisch diskriminiert werden kann. Jeder Staat verfügt grundsätzlich über ein ius ad bellum gegenüber anderen Staaten, das wahrgenommen werden kann, wenn der staatliche Souverän es für richtig hält. Dieses Hobbessche Modell ist keine rein gedankliche Fiktion geblieben, sondern hat sich in Europa zumindest annähernd in der Folge des Westfälischen Friedens verwirklicht. Durch diesen Friedensschluß, der die religiösen Bürgerkriege in Europa beendete, sollte religiösen (Pseudo)-Legitimationen von Kriegen fortan dadurch der Boden entzogen werden, daß die Staaten sich wechselseitig als gleichberechtigte Akteure anerkannten, deren Recht zum nen verfolgte, also etwa eine Situation darstellen wollte, wie sie vor aller Vergesellschaftung bestanden hat oder bestanden haben könnte. Vereinzelt gibt es allerdings immer wieder Auffassungen, die Hobbes in dieser Richtung zu interpretieren scheinen. Siehe z . B . S o f s k y : Traktat über die Gewalt, S . 7 ff. Sofsky versteht Hobbes' Naturzustandstheorie offenbar als einen Geschichtsmythos. Ich verstehe das Wort „Bürgerkrieg" hier durchaus nicht ausschließlich in dem engen S i n n von „gewaltsame Auseinandersetzung größeren Ausmaßes zwischen Bürgern eines Staates". Dieser Begriff eines Bürgerkrieges ist sicher zu beschränkt, weil er auf viele Phänomene nicht zutrifft, die wir als Bürgerkriege klassifizieren. S o war etwa der Spanische Bürgerkrieg ( 1 9 3 6 - 1 9 3 9 ) keineswegs nur ein bewaffneter Konflikt zwischen spanischen Staatsbürgern, sondern die j e w e i l i g e n Bürgerkriegsparteien bekamen aktive internationale W a f f e n h i l f e . Selbst der englische Bürgerkrieg ( 1 6 4 0 - 1 6 6 0 ) blieb insofern nicht auf Engländer beschränkt, als sowohl die Royalisten als auch die Puritaner Unterstützung v o m Kontinent erfuhren. - Sir George Clark weist übrigens darauf hin, daß gerade im Europa von Hobbes sich zwischen Bürgerkrieg und äußerem Krieg generell schwer unterscheiden ließ. Vgl. Clark: War and S o c i e t y in the Seventeenth Century, S. 21. Hobbes greift mit seinem Postulat der Bändigung des Krieges zum reinen Staatenkrieg vor und beschreibt (noch) keine gegebene Realität. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine Staatenkriegspartei als Kriegsziel die internationale Befreiung des Proletariats auf ihre Fahnen schreibt. Kriegsziele dieses Typs betreffen grundsätzlich alle Bürger aller Staaten überall und sind daher tendenziell immer bürgerkriegsträcht'g·
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Kriege nicht an eine iusta causa belli in irgendeinem inhaltlichen Sinn gebunden war. Die leidvolle Erfahrung hatte gezeigt, daß die Berufung auf eine gerechte Kriegsursache ein Instrument war, dessen sich jede Kriegspartei bediente und das im Effekt eine Verschärfung der Konflikte bewirkte. Die durch den Westfälischen Frieden eingeleitete Epoche der Staatsräson und der sogenannten „Kabinettskriege" stand im Zeichen der Nicht-Diskriminierung des Krieges. Die sich herausbildenden territorialen Flächenstaaten bedurften fortan keiner moralischen Legitimation, um gegeneinander Krieg zu führen. Es ist allerdings festzuhalten, daß sie im konkreten Fall selten auf solche Legitimationen verzichteten, doch richtete sich die entsprechende Diskriminierung des Feindes dann nie gegen dessen Existenz in ihrer Gesamtheit, sondern stets gegen bestimmte seiner Handlungen. Im innerstaatlichen Bereich verhielt es sich selbstverständlich anders. In dem Maße, in dem der äußere Krieg moralisch entlastet wurde, wuchs die Ächtung von Aufruhr und Bürgerkrieg. Kollektive Angriffe auf das staatliche Ordnungsgefüge bedurften nun von seiten ihrer Träger noch mehr als zuvor einer umfassenden Legitimationsgrundlage, und zwar gerade aufgrund ihrer vollständigen Illegalität. Das in vieler Hinsicht äußerst Hobbesianische Staatskonzept des Westfälischen Friedens ermöglicht eine strikte Unterscheidung zwischen Staatenkriegen und Bürgerkriegen auf der Grundlage des Kriteriums der Ideologiehaltigkeit. Auf der einen Seite befindet sich der souveräne Staat mit seinem freien Recht zum äußeren Kriege, das an Weltanschauungsfragen nicht gebunden ist; auf der anderen Seite liegt der scharf abgetrennte Binnenraum der Staatsmaschine, dessen eventuelle Störungen einer enorm hohen Begründungslast unterliegen. Nun scheint die Rechtfertigungsschranke für gewaltsame innere Eingriffe in ein Gemeinwesen schon immer recht hoch gewesen zu sein, doch wurde sie eben auch immer wieder um den Preis der politischen Selbstzerstörung überwunden. Die Personen, die durch den Westfälischen Frieden die europäischen religiösen Bürgerkriege beendeten, waren von dem Willen motiviert, Schrecken wie die vergangenen zukünftig ein für allemal unmöglich zu machen. Mittel zu diesem Zweck waren die völlige Ausschaltung religiöser Inhalte aus der äußeren Kriegführung und die Domestizierung solcher Inhalte nach innen, entweder durch Einführung einer Staatsreligion oder aber durch staatlicherseits auf die Bürger ausgeübten Toleranzzwang. Für die jeweiligen Untertanen entstand durch diese Maßnahmen ein zunächst strikt vom Politischen abgetrennter privater Innenraum, in dem man denken konnte, was man wollte, solange man sich nach außen den staatlichen Vorgaben beugte. Daß gerade innerhalb dieses Innenraumes sich neue ideologische Bürgerkriegsgrundlagen bilden konnten, die eines Tages auf die politische Bühne drängen sollten, hat Reinhart Koselleck eindrucksvoll gezeigt. 5 Die Epoche des Westfälischen Friedens mit ihrem Konzept des agonalen Staatenkrieges ist endgültig erst im 20. Jahrhundert zu Ende gekommen, und zwar durch die völkerrechtliche Diskriminierung des Krieges. 6 Doch schon die Französische Revolution brachte (vorüberge5
Siehe Koselleck: Kritik und Krise, S . 4 1 ff. Wesentliche Elemente der Westfälischen Ordnung haben sich jedoch bis in das heutige Völkerrecht hinein fortgesetzt. S o hält die Charta der Vereinten Nationen in Artikel 2.7 die territoriale Integrität der Nationalstaaten fest. Festgeschrieben ist auch in Artikel 51 der Charta das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung der Mitgliedsstaaten. Geradein der Verbriefung dieses Rechts ist eine klare Absage an ein zentrales Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu sehen. Eine solche Absage ist implizit auch in Artikel 2 enthalten, durch den sich die Nationen freiwillig dazu verpflichten, ihre Konflikte gewaltfrei beizulegen. Das Prinzip der einzelstaatlichen Souveränität, auf dem auch die Westfälische Friedensordnung
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hend) neue Vorstellungen und eine neue Praxis in die äußere Kriegführung. Erstmals drängten hier wieder ideologische Inhalte in den bewaffneten Konflikt zwischen Staaten, war doch auf französischer Seite die Überzeugung dominant, man führe den Krieg im Zeichen einer Ordnungsvorstellung des vollkommen „Guten" gegen die Träger des vollkommen „Schlechten".7 Aus Hobbesscher Perspektive wird man den Revolutionskrieg als einen beschreiben müssen, der konsequent in einer Bürgerkriegshaltung vorangetrieben wurde. Es handelte sich um einen Staatenkrieg, der den Charakter eines Bürgerkrieges annahm, da von der französischen Partei ein inneres Feindbild auf den äußeren Gegner übertragen wurde. Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß nach Hobbes jeder bewaffnete Konflikt zwischen Staaten, in dem Ideologeme umfassender Art eine tragende Rolle spielen, wie ein Bürgerkrieg ist. Mit der hohen Ideologielastigkeit von Bürgerkriegen hängt es untrennbar zusammen, daß es in Bürgerkriegslagen zu einer eigentümlichen Verschränkung von individualistischer und universalistischer Ausrichtung auf einer oder mehreren Seiten kommt. Auf der einen Seite sind geistige Systeme mit Welterklärungsanspruch oder Weltveränderungsanspruch naturgemäß universalistisch orientiert; kommt es aber zu einer vollständigen Identifikation mit solchen Systemen, so fällt das gesamte Selbstwertgefühl der Individuen mit dem Wahrheitsanspruch der betreffenden Ideologie zusammen. Man kann diesen Vorgang auch als einen der Grenzsprengung zwischen privaten und öffentlichen Räumen beschreiben. Die für jede innerstaatliche pax civilis (auch heute) konstitutiven Schranken zwischen einem politischen Handlungsfeld und einer hiervon unberührten Privatsphäre werden aufgelöst. Tiefste persönliche „Betroffenheit" wird zur politischen Kategorie; allgemeinste Wert- und Ordnungsvorstellungen nehmen die Form von Fragen individueller Identität an. Gleich ob man solche Prozesse als Privatisierung des Politischen oder als Politisierung des Privaten beschreibt, sie fußte, ist also nicht tot, sondern bislang lediglich stark eingeschränkt und modifiziert worden. Es ist darauf hinzuweisen, daß besonders Staaten der sog. „Dritten Welt" sowie ehemalige sozialistische Satellitenstaaten sich auf den Souveränitätsgrundsatz berufen, um Interventionen vorzubeugen. Siehe zu diesem Komplex Eisele: Friedensmissionen der Staatengemeinschaft, bes. 66. Vgl. hierzu Schnur: Revolution und Weltbürgerkrieg. Schnur bezeichnet das Kriegskonzept des Revolutionskrieges als das eines „Weltbürgerkrieges", in dem es keinen Krieg von Staaten gegen Staaten gibt, sondern vielmehr einen Konflikt zwischen Parteien, nämlich der Partei der „Freiheit" und der Partei der „Unterdrücker" (vgl. S.28). Zum Verhältnis der Französischen Revolution zum Krieg siehe auch Fehrenbach: Die Ideologisierung des Krieges, b e s . 61 ff. Fehrenbach stellt fest, daß die Wortführer des Krieges in diesem ein Mittel zur Radikalisierung der Revolution sahen und daher den Krieg, wie z . B . Brissot, als eine „nationale Wohltat" betrachteten (vgl. S.61). Vgl. zu diesem Thema auch Furet: 1789 - Jenseits des Mythos. Furet bezeichnet die Ideologie der Französischen Revolution als „weltliche Eschatologie" (vgl. S.81), in deren Zeichen auch der Krieg gestanden habe. Der Krieg habe in Frankreich die Kreuzzugsideologie zum neuen Leben erweckt (vgl. S.89). Es habe sich um den ersten „demokratischen Krieg der Neuzeit" gehandelt, und dieser habe kein anderes Ziel gekannt als „den totalen Sieg oder die totale Niederlage" (vgl. S.88). Zum Verhältnis von Revolution, Krieg und Schreckensherrschaft vgl. auch Thamer: Revolution, Krieg, Terreur. Für Thamer ist der Krieg der Französischen Revolution ein Beispiel für eine Ideologisierung des Krieges. Dieser habe unter der zweidimensionalen Perspektive vom „Joch des Despotismus" und der „gerechten nationalen Interessen" stattgefunden (vgl. S.632). Thamer betont vor allem, daß auch die Ästhetisierung des Krieges mit der Französischen Revolution begonnen hat.
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sind jedenfalls normalzuständlichen Denkfiguren nicht zugänglich. Hobbes selbst hätte Entgrenzungsphänomene dieser Art vermutlich unter den Begriff des Wahnsinns (madness) gefaßt (vgl. Lev. 8, S. 63). Ein weiteres Merkmal von Bürgerkriegen ist die besondere Perhorreszierung des Gegners, eine Konsequenz des Umstandes, das hier das gesamte Selbstverständnis von Menschen zur Disposition steht. Natürlich kann ein ideologischer Feind in einer Bürgerkriegssituation nicht als gleichrangig beurteilt werden, sondern muß aus der Perspektive der Gegenparteien als irgendwie minderwertig erscheinen. Üblicherweise wird der Feind zum Verbrecher, schlimmstenfalls zum Unmenschen oder Untermenschen, mit dem ein gemeinsames Leben unmöglich ist. Von dem spezifischen Haßpotential von Ideologien ist bereits im zweiten Kapitel dieses Teils die Rede gewesen. Tatsächlich ist es sehr schwer, ein einziges Beispiel für einen Bürgerkrieg zu finden, in dem nicht eine breite Skala von Verteufelungspraktiken des Feindes in seiner gesamten Existenz zum Einsatz gekommen ist. Wohl aber ist es möglich, traditionelle Staatenkriege anzuführen, denen dieses Merkmal gänzlich abgeht. Spezifisch für Bürgerkriege ist des weiteren ein Merkmal, das gerade nach Hobbes sehr wichtig ist: ein äußerst unpräziser politischer Sprachgebrauch. Hobbes hat Sprache als Kriegsfaktor sehr ernst genommen, 8 wie sich ζ. B. an der folgenden Stelle aus De Cive zeigt: „But the tongue of man is a trumpet of warre, and sedition; and it is reported of Pericles, that he sometimes by his elegant speeches thundered, and lightened, and confounded whole Greece it selfe." (DC 5/5, S. 8 8 )
Es gibt nach Hobbes vier Arten, durch Sprache „Verwirrung" zu stiften (vgl. Lev. 4, S. 20), die hier sinngemäß wiedergegeben seien: -
schwankender Gebrauch von Ausdrücken übertragener Gebrauch von Ausdrücken Lüge Beleidigung/V erletzung
Diese vier Arten des Umgangs mit Sprache sind nach Hobbes' Auffassung mißbräuchlich. Zum letzten Punkt schreibt Hobbes: „Fourthly, when they use them [words] to grieve one another; for seeing nature hath armed living creatures, some with teeth, some with horns, and some with hands, to grieve an enemy, it is but an abuse of speech, to grieve him with the tongue (...)." (Lev. 4, S. 2 0 )
Abgesehen davon, daß diese Aussagen zu den zahlreichen Sarkasmen gehören, die im Leviathan enthalten sind, drücken sie eine durchaus ernstgemeinte Hobbessche Auffassung aus: Sprache ist kein Kriegsinstrument. Daß sie sehr wohl als solches gebraucht werden konnte, war Hobbes natürlich bewußt. Ebenso war ihm klar, daß die Verwendung von Sprache als Waffe die physische Gewalt nur verschärfen konnte. Wer eine Entideologisierung der Kriegführung anstrebt, muß konsequenterweise auch auf eine Vermeidung des entsprechenden Vokabulars hinwirken.
Zur politischen Bedeutung der Sprache bei Hobbes siehe Münkler: Hobbes, S . 8 2 f f . ; S . 8 6 f f .
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Was den dritten Punkt, die Lüge, betrifft, so ist offenkundig, daß in Kriegssituationen überaus häufig zu diesem Mittel gegriffen wird. Es braucht hierzu weiter nichts gesagt zu werden. Hinsichtlich der mißbräuchlichen Sprachverwendungen ist zu bemerken, daß überall dort, wo globale Weltanschauungskomplexe relevant werden, in der Tat mit einer äußerst unklaren Semantik operiert wird. In Kombination mit Kriegslagen kann dies zu einer Begünstigung und Steigerung von Gewalt führen. Scheinbar paradoxerweise ist es möglich, daß die Massenattraktivität bestimmter Ausdrücke mit der Häufigkeit und dem Ausmaß ihres unpräzisen Gebrauchs steigt. Wird beispielsweise der Terminus „Freiheit" von bestimmten Wortführern in zwanzig oder mehr verschiedenen Bedeutungszusammenhängen verwendet, so kann dies für ein breites Publikum gerade deshalb interessant sein, weil nun jeder in diesen Ausdruck hineinlegen kann, was er will. Terminologische Unklarheit schafft Raum für Phantasmen und Wunschvorstellungen aller Art; sie produziert eine unendliche Palette von Identifizierungsangeboten und ist aus diesem Grund breitenwirksam. Sie kann eben darum ein kollektives Pathos entstehen lassen, weil sie den einzelnen Individuen ein so weites Auslegungsfeld überläßt. Selbstverständlich ist die begriffliche Unscharfe auch geeignet, umfassende Feindbilder zu bewirken. Ist erst einmal durch einen gänzlich überzogenen Gebrauch des Ausdrucks „Freiheit" ein Pathos der Freiheit entstanden, so gibt es auch ein entsprechendes Anti-Pathos gegen Unfreiheit. So objektiv diffus die Liebe zur Freiheit ist, so wird es auch der Haß gegen Unfreiheit sein. Nun bleibt Haß selten und schon gar nicht in Kriegslagen abstrakt, sondern er erfordert Objekte, und zwar „Feinde der Freiheit". Das herrschende Bedeutungschaos von „Freiheit" kann dazu beitragen, daß die Menge der „Freiheitsfeinde" allmählich immer größer wird und ihr die diversesten Gruppierungen und Individuen zugeordnet werden. Sprachdiffusion stellt sich so als ein gefährlicher Kriegsfaktor heraus. Nach Hobbes läßt sich Bedeutungsverwirrung in politischen Begriffen beschreiben, und zwar als eine bestimmte Ausprägung von Anarchie, die Anarchie des Sprachgebrauchs. Anarchie ist Abwesenheit von Herrschaft und Ordnung und als solche charakteristisch fur Krieg, insbesondere für den Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg konfrontiert auch die ursprünglich und unmittelbar nicht an ihm Beteiligten in besonderem Maße mit einem Entscheidungszwang. Die bisherige Rechtssicherheit ist aufgelöst, und wo Parteien sich wechselseitig als Todfeinde bekämpfen, kann Neutralität unter Umständen lebensgefährlich werden. 9 Gilt die Regel „Wer nicht für mich ist, ist wider mich", so sind selbstverständlich unparteiliche Personengruppen doppelt bzw. mehrfach bedroht, ganz besonders dann, wenn nicht abzusehen ist, wer aus der Kriegssituation wahrscheinlich als Sieger hervorgehen wird. Unparteilichkeit in einer Bürgerkriegssituation ist ein Risikofaktor ersten Ranges. Es sei zum Abschluß dieses Abschnittes erwähnt, daß jene zahlreichen Kleinkriegsformen der Gegenwart, die ζ. B. von Trotha unter den Ausdruck „Neo-hobbescher Krieg" subsumiert hat,10 nur partielle Ähnlichkeiten mit einem Hobbesschen Bürgerkrieg aufweisen. Das Herzstück der Hobbesschen Bürgerkriegskonzeption ist der Ideologiefaktor, um das sich fast alle anderen Merkmale ranken. Gerade Ideologien spielen aber nur in einem Teil der heutigen low intensity conflicts eine Rolle, und zwar primär dort, wo sog. „Befreiungsarmeen" agieren.
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Siehe zu diesem Aspekt des Bürgerkrieges insbesondere Schnur: Revolution und Weltbürgerkrieg, S. 13 5 f. Vgl. von Trotha: Formen des Krieges, hier bes. 87ff.
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Der andere Teil ist dadurch charakterisiert, daß in ihm die Grenzen zwischen Krieg und Kriminalität vollständig verschwimmen, und zwar in einem sehr simplen Sinn von „Kriminalität", denn hier kämpfen Menschen unter Einsatz von offenkundig verbrecherischen Mitteln (ζ. B. Menschenhandel und Drogenhandel) für ihre ganz individuellen Interessen. Um jene Atmosphäre von allgegenwärtigem Terror zu erfassen, die solche schlicht kriminellen bewaffneten Organisationen unter Anführung von sog. „warlords" verbreiten, erscheint es angemessener, begrifflich auf den Hobbesschen naturzuständlichen Modellkrieg zurückzugreifen, in dem jeder jederzeit Opfer von Gewalt werden kann, die ganz und gar nicht ideologisch motiviert sein muß. Die Kombination der Hobbesschen Konzeptionen des naturzuständlichen Krieges einerseits und des Bürgerkrieges andererseits bietet aber vielleicht ein geeignetes Begriffsinstrumentarium zur Beschreibung eines großen Teils bewaffneter Konflikte der Gegenwart.
3.5.3.
Bürgerkriegspräventionsstrategien
Im folgenden sollen Hobbes' Vorstellungen darüber rekonstruiert werden, wie Bürgerkriege und Aufruhr verhindert werden können. Einschlägig für diese Fragestellung ist das 29. Kapitel des Leviathan, das den Titel „Of those things that weaken, or tend to the dissolution of a commonwealth" trägt. Wie dieser Titel vermuten läßt, geht es hier zwar um die Untersuchung von Faktoren, die der Staatsgewalt abträglich sind, doch erlauben Hobbes' diesbezügliche Äußerungen natürlich positive Umkehrschlüsse hinsichtlich dessen, was unbedingt getan bzw. verhindert werden muß, um die Stabilität des Staates zu gewährleisten. Zu den staatsgefährdenden Dingen zählt Hobbes an erster Stelle „(...) that a man to obtain a kingdom, is sometimes content with less power, than to the peace, and defence of the commonwealth is necessarily required. From whence it cometh to pass, that when the exercise of the power laid by, is for the public safety to be resumed, it hath the resemblance of an unjust act; which disposeth great numbers of men, when occasion is presented, to rebel; in the same manner as the bodies of children, gotten by diseased parents, are subject either to untimely death, or to purge the ill quality, derived from their vicious conception, by breaking out into biles and scabs." (Lev. 29, S. 309) Hobbes spricht sich an dieser Stelle dafür aus, daß ein staatlicher Souverän seine Macht sichtbar machen muß, wenn er sie denn stabil halten will. Greift er erst in besonders problematischen Situationen ein, so ist es in der Regel bereits zu spät, denn nun werden die Bürger solche Aktionen als ungerechte Gewalthandlungen empfinden und erst recht zur Rebellion neigen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu bemerken, daß Hobbes hier nicht die Stabilität der Macht um der Macht willen anvisiert, sondern aus der Perspektive der Untertanen heraus argumentiert. Um Schutz und Sicherheit der letzteren zu gewährleisten, ist es eine naturgesetzliche Pflicht des Souveräns, das ihm übertragene Machtpotential von vornherein zu nutzen und nicht brachliegen zu lassen. Nicht Machtverzicht, sondern die permanente Präsenz von Macht sichert den inneren Frieden. Hobbes argumentiert für ein autoritäres Staatsmodell unter Berufung auf das Staatsbürgerinteresse an Frieden. An zweiter Stelle führt Hobbes als Beispiele für „Staatskrankheiten" eine Reihe von bürgerkriegsträchtigen Theorien bzw. Meinungen an, welche im Falle ihrer Verbreitung die
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staatliche Souveränität untergraben und daher den inneren Frieden bedrohen. Zu diesen Ansichten zählen die folgenden Lehren: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Privatpersonen sind Richter darüber, ob Handlungen gut oder böse sind (vgl. Lev. 29, S. 310 f.). Alles, was man gegen sein Gewissen tut, ist Sünde (vgl. Lev. 29, S. 311). Glaube wird nicht durch Studium und Vernunft erlangt, sondern durch übernatürliche Eingebung (vgl. Lev. 29, S. 311 f.). Der staatliche Souverän ist den bürgerlichen Gesetzen unterworfen (vgl. Lev. 29, S. 312 f)· Jede Privatperson hat ein uneingeschränktes Eigentumsrecht an ihrem Vermögen (vgl. Lev. 29, S. 313). Die souveräne Gewalt ist teilbar (vgl. Lev. 29, S. 313). Die Demokratie ist die einzig legitime Staatsform (vgl. Lev. 29, S. 314 f.).
In dieser Liste der „sieben Todsünden" gehören die ersten drei Punkte sehr eng zusammen. Das Prinzip des privaten Richtertums gehört nach Hobbes zum Recht des Naturzustandes, ist also ein Kriegsrecht. Greift der Glaube an dieses Prinzip innerhalb eines Staates um sich, so ist dieser auf Dauer nicht mehr lebensfähig. Das Prinzip vom Primat des Gewissens ist eine spezifische Ausgestaltung der Überzeugung von der Richtigkeit privaten Richtertums." Die Instanz des privaten Gewissens ist nach Hobbesschen Begriffen potentiell ein bürgerkriegsstiftender Faktor ersten Ranges. Was Hobbes in Gestalt des Gewissens bekämpft, ist das oben erwähnte Eindringen von Kategorien der Innerlichkeit in den politischen Raum. Hobbes glaubte, daß die religiösen Bürgerkriege seiner Zeit zu einem wesentlichen Teil durch die private Suche nach Wahrheit hervorgerufen wurden und dadurch, daß viele Menschen bereit waren, solche „Wahrheit" höher zu schätzen als den Frieden (vgl. Lev. Review, S. 711). Er hat seinen Leviathan auch als einen Beitrag zur Entwirrung der beiden Sphären von Innerlichkeit und Öffentlichkeit, von Privatheit und Politik verstanden, und er bestand in Umkehrung des erwähnten Prinzips auf einem Primat des Politischen. Die dritte von Hobbes bekämpfte Überzeugung könnte man als das Prinzip vom irrationalen Ursprung des Glaubens klassifizieren. Auch dieses läuft im Ergebnis auf eine besondere Form des privaten Richtertums hinaus. Ist Glaube ausschließlich auf übernatürliche Eingebung zurückzuführen, so ist er jeder staatlichen Ordnung entgegengesetzt und bildet für diese eine ständige Gefahrenquelle. Für den religiös „Inspirierten" ist der Schritt von der Eingebung zum Angriff auf die Staatengewalt unter Umständen klein, wenn die existierende politische Ordnung zu seinen Inspirationen im Widerspruch steht. Hobbes will daher statt der Auffassung von der ursprünglichen Irrationalität des Glaubens die Überzeugung verankern, daß der Glaube kein Wunder ist, sondern durch Lernprozesse entsteht. Auf dieser rationalistischen Grundlage will Hobbes offensichtlich die Macht selbsternannter „Erleuchteter" untergraben. Will ein staatlicher Souverän Aufruhr und Bürgerkrieg verhindern, so muß er Hobbes zufolge die Verbreitung der drei schädlichen Theorien einfach verbieten und Verstöße gegen diese Verbote rigoros ahnden. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu bemerken, daß der
Ein Vertreter dieses Prinzips war übrigens Grotius: V o m Recht des Krieges und des Friedens, Zweites Buch, 23. Kapitel, S . 3 8 9 .
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Souverän nach Hobbes diesbezüglich weder mehr tun kann noch mehr zu tun versuchen sollte als Befehle und Verbote zu erteilen. So heißt es in Hobbes' Spätwerk Behemoth: „A state can constrain obedience, but convince no error, nor alter the mind of them that believe they have the better reason. Suppression of doctrines does but unite and exasperate, that is, increase both the malice and power of them that have already believed them." (EW VI/Beh., S. 242)
Was Hobbes hier unter „Unterdrückung" versteht, ist nicht das gesetzliche Verbot, bestimmte Lehren in Wort, Schrift oder Tat öffentlich zu verbreiten. Ein staatlicher Souverän muß sogar solche Verbote erlassen, wenn er für Frieden und Sicherheit seiner Untertanen sorgen will. Er soll jedoch nicht mehr tun als Gehorsam im äußeren Sinn zu erzwingen und nicht versuchen, in die Herzen und Köpfe seiner Untertanen einzudringen, um auch innere Loyalität zu bewirken. Insbesondere ist nach Hobbes jeder Versuch, religiösen Glauben zu erzwingen, zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. So schreibt Hobbes bezüglich der Frage, wie sich Christen verhalten sollen, wenn sie einem Souverän unterstehen, der ihnen den Glauben an Christus verbietet: „To this I answer, that such forbidding is of no effect; because belief and unbelief follow men's commands. Faith is a gift of God, which man can neither give, nor take by promise of rewards, or menaces of torture. And if it be further asked, what if we be manded by our lawful prince to say with our tongue, we believe not; must we obey command? Profession with the tongue is but an external thing, and no more than any gesture whereby we signify our obedience (...)." (Lev. 42, S. 493)
never away comsuch other
Hieraus geht klar hervor, daß Glaube nach Hobbes eine rein innerliche Haltung ist, die sich dem Einflußbereich von Befehlen entzieht (vgl. Lev. 26, S. 273). Glaube ist wohl zu unterscheiden von äußeren Bekenntnissen, und nur letztere können durch Befehle erzwungen oder durch Verbote ausgeschaltet werden. Mit dieser strikten innen/außen-Differenzierung wendet sich Hobbes sowohl an Souveräne als auch an Untertanen, an Herrscher und Beherrschte gleichermaßen. Für die Untertanen bedeutet sie, daß kein Widerspruch zwischen Glauben und Staatsbürgerpflichten besteht. Der zitierte Passus aus dem Behemoth ist eher an die Adresse der Souveräne gerichtet. Diese will Hobbes davon überzeugen, daß Herrschaft mit der Anerkennung eines unerforschlichen Gewissensbereichs auf Seiten der Untertanen vereinbar ist. Mehr noch, Hobbes argumentiert mit der Überlegung, daß der ohnehin aussichtslose Versuch der staatlichen Gewissenskontrolle langfristig Herrschaft eher destabilisiert als festigt. Dieser Gedanke mutet uns heute klassisch liberal an, und in der Tat steht Hobbes' Versuch der rigiden Ausgrenzung eines privaten Binnenraums aus dem Bereich des genuin Politischen in krassem Gegensatz zu „totalitären" Auffassungen und Theorien, denen wesentlich eine „ganzheitliche" Betrachtung von Politik zu eigen ist.12 Doch nicht jede politische Theorie, die sich diesseits der „Totalitarismusgrenze" bewegt, kann deshalb schlechthin als „liberal"
Dennoch hat es diverse Versuche gegeben, Hobbes in die Tradition „totalitärer" politischer Theorien einzuordnen oder ihn sogar als einen der Väter des „Totalitarismus" auf philosophischer Ebene aufzufassen. Siehe etwa Vialatoux: La Cité de Hobbes. - Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S.241 ff. - Braun: Der sterbliche Gott, S. 160ff. - Für m.E. überzeugende Argumentationen gegen solche Auslegungen vgl. Kersting: Hobbes, S.166 und Esfeld: Mechanismus und Subjektivität, S . 3 4 9 f .
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eingestuft werden. Mir scheint, daß Hobbes' Überlegung, Versuche staatlicher Gewissenskontrolle seien kontraproduktiv, sehr spezifische Gründe hat, die aus der Hobbesschen Auffassung von Souveränität resultieren. Hobbes' Souveränitätskonzept ist durch den Gedanken der uneingeschränkten Ausübung der Staatsgewalt charakterisiert. Diesbezügliche Einschränkungen können auf verschiedene Weisen zustande kommen, ζ. B. auch dadurch, daß ein Souverän meint, für seine Entscheidungen und Befehle argumentieren zu müssen oder den Anschein erweckt, als seien seine Befehle nur deshalb zu befolgen, weil sie auf einer so überzeugenden Grundlage beruhen. Befehlen und Argumentieren gehören für Hobbes zwei völlig unterschiedlichen Sphären an. Ein Befehl ist nicht das Ergebnis eines Argumentes, sondern er ist das Resultat einer souveränen Entscheidung und eine Aufforderung zum Gehorsam. Ein Argument dagegen ist ein Ableitungszusammenhang, dessen man sich häufig bedient, um zu überzeugen. Der Hobbessche politische Raum ist ein Bereich von Entscheidung, Befehl und Gehorsam. Argumentation und Überzeugung gehören dagegen in den Raum der Wissenschaft, der für Hobbes auf wenige Menschen beschränkt war. Programme staatlicher Gewissenskontrolle und Gesinnungsbestrafung sprengen nun deshalb den politischen Raum, weil sie dazu einladen, souveräne Befehle wie begründbare Thesen zu behandeln. Wo ein Befehl nicht mehr ausschließlich auf äußeren Gehorsam verweist, und nur dies ist Gehorsam im eigentlichen Sinn, da bleibt nur noch die Sphäre des argumentativen „Diskurses" übrig. Innerhalb dieser kann man aber, sofern sie nicht auf den engen Raum der Wissenschaft begrenzt ist, nahezu jede These belegen oder widerlegen. Deshalb untergräbt jeder staatliche Souverän, der auf Gesinnungskontrollprojekte setzt, letztlich seine eigene Macht, weil er in dem von ihm geschaffenen Raum der Diffusion auch seine eigenen Entscheidungen zur Disposition des Zweifels stellt. Es besteht die Gefahr, daß der systematische Versuch der Gewissenserforschung das Gewissen als sowohl pseudo-politische wie auch pseudo-wissenschaftliche Kategorie überhaupt erst auf den Plan ruft. Hobbes' Ausgangspunkt für die Behauptung, daß die Unterdrückung einer Lehre kontraproduktiv ist, ist also nicht der Schutz der „Privatsphäre" oder der individuellen „Gewissensfreiheit". Diese Sphäre bedarf seiner Meinung nach gar keines besonderen Schutzes, weil sie sowohl der Erforschung als auch dem Befehl gänzlich unzugänglich ist. Worum es Hobbes geht, ist gerade die Wahrung der Unumschränktheit staatlicher Macht. Hierzu ist es erforderlich, daß der Kontaktraum zwischen Staatsgewalt und Untertanen von einer Befehl-Gehorsam-Struktur beherrscht bleibt, und es ist zu vermeiden, daß diese sich auf Umwegen in ihr Gegenteil verwandelt, also in ein Argumentationsfeld. Dabei ist das übergeordnete Ziel selbstverständlich die Prävention des inneren Krieges. In diesem Kontext sollte die folgende Textstelle aus De Homine nicht unzitiert bleiben: „Eine dritte, und zwar die größte Wohltat der Sprache ist, daß wir befehlen und Befehle verstehen können. Denn ohne diese gäbe es keine Gemeinschaft zwischen den M e n s c h e n , keinen Frieden und folglich auch keine Zucht, sondern erstens Wildheit, zweitens Einsamkeit und anstelle von Wohnstätten Schlupfwinkel." (DH 10/3, S. 17/Hervorh. U. K.)
Und in De Cive heißt es: „(...) but each man is an enemy to that other whom he neither obeys nor commands." (DC 9/3, S. 122)
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An diesen Stellen wird in aller Kürze das Verhältnis von Befehl und Gehorsam als notwendige Voraussetzung des (inneren) Friedens präsentiert. Der Passus aus De Homine drückt eine sprachbezogene Variante der Auffassung aus, daß allein Herrschaft den Frieden herstellt und sichert, denn Herrschaft schlägt sich nach Hobbes sprachlich im Modus des Befehls nieder. Auf dieser Linie liegt es auch, wenn Hobbes im 26. Kapitel des Leviathan die bürgerlichen Gesetze als Befehle des Souveräns auffaßt (vgl. Lev. 26, S . 251). D i e These, daß nach Hobbes der innere Frieden zwar nicht durch eine militaristische, wohl aber nur durch eine militäranaloge Ordnung eines Gemeinwesens gesichert werden kann, erscheint auf diesem Hintergrund alles andere als weit hergeholt. 13
Gegen solche militärischen Assoziationen wendet sich Willms: Das Reich des Leviathan, S. 166. Er bezieht sich hauptsächlich auf das Kapitel 28 des Leviathan und meint, es ginge dort nicht um „Kommandostrukturen", um „reine Willkür" oder „Kadavergehorsam", sondern um eine Erklärung und Abgrenzung des Gesetzesbegriffs. Doch ist nun wirklich auffällig, daß dort ein Begriff aus der Rechtssphäre mittels einer mit dem militärischen Bereich so eng verknüpften Terminologie erläutert wird. Es sollte aber nicht übersehen werden, daß die Bestimmung von Gesetzen als Befehlen auch eine theologische Komponente hat. Sie verweist auf die jüdisch-christliche Tradition, innerhalb derer die zehn Gebote als Befehle Gottes gelten. Verallgemeinert man diese Auffassung, um mit ihr den Charakter aller Gesetze, auch der weltlichen, zu erklären, so erhält man als Resultat die Hobbessche Position. Siehe hierzu auch Arendt: Macht und Gewalt, S.40. Diese Autorin hält die alttestamentarische Identifizierung von Gesetzen mit Befehlen für einen politisch verhängnisvollen Traditionsbestand. Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß es in der Hobbes-Literatur eine Debatte um das Verhältnis von Politik und Theologie bei Hobbes gibt. Dabei geht es um die Fragen, ob eine politische Theologie bei Hobbes existiert, wenn ja, welche, welchen Stellenwert Gott in der Konstruktion des Leviathan hat, ob Hobbes Atheist war oder nicht, etc. In bezug auf diese Diskussion, die sich teilweise sehr eng mit der Auseinandersetzung um den Status der Naturgesetze bei Hobbes überschneidet, spaltet sich die Hobbes-Forschung. Es gibt Autoren, die Hobbes' Werk durchgehend theologisch erklären. Siehe hierzu die wichtige Studie von Hood: The Divine Politics of Thomas Hobbes. Vgl. auch Kodalle: Thomas Hobbes. Beide Autoren vertreten den Standpunkt, daß Hobbes ein genuin christlich-protestantischer Denker gewesen ist, der sein wissenschaftliches System letztlich auf religiöse Überzeugungen gründet. Kodalle erklärt die Hobbessche Vertragstheorie durch den alttestamentarischen Gedanken eines Bundes mit Gott. - Zu dieser theologischen Deutungslinie gibt es scharfe Gegenpositionen. Siehe z.B. Strauss: The Political Philosophy of Hobbes, S . 7 4 f f . Nach Strauss war Hobbes alles andere als ein gläubiger Christ, sondern im Ergebnis ein Atheist. Für eine kritische Auseinandersetzung insbesondere mit den Auffassungen von Kodalle siehe Großheim: Religion und Politik im Leviathan. Großheim macht sich für eine nicht theologische Interpretation von Hobbes' Werk stark, will aber dennoch die Bedeutung der theologischen Dimension herausarbeiten. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen von Schelsky: Thomas Hobbes, S . 2 8 4 f f . Schelsky argumentiert dafür, daß Hobbes einen rein politischen Zugriff auf Religion vertreten hat (vgl. S.289). Nach Schelsky, so scheint mir, kann man sehr wohl davon sprechen, daß es bei Hobbes eine politische Theologie gibt, doch ist diese ganz unabhängig von der Frage zu erörtern, ob Hobbes persönlich ein Atheist gewesen ist oder nicht. Meiner Ansicht nach spricht tatsächlich vieles dafür, beide Fragestellungen voneinander abzukoppeln. Gegen die Position, daß Hobbes eine politische Theologie oder überhaupt irgendeine Form von Theologie vertreten habe, wenden sich eindeutig mit Bezug auf De Cive Geismann/Herb: Hobbes über die Freiheit, S . 5 2 f f . (Scholion 38). Ihrer Meinung nach bedient
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Die vierte von Hobbes als „aufrührerisch" bekämpfte Lehre ist das Prinzip von der Gesetzesbindung des Souveräns, wobei die bürgerlichen Gesetze, nicht die Naturgesetze, angesprochen sind. Für die Falschheit dieser Idee führt Hobbes zwei unterschiedliche Argumente an. Zum einen versucht er, aus ihr eine Art Paradoxie herzuleiten: Die bürgerlichen Gesetze stammen von der souveränen Staatsgewalt selbst. Ist sie diesen Gesetzen unterworfen, so ist sie sich selbst unterworfen. Diese Unterwerfung unter die eigenen Gesetze wäre aber Freiheit von denselben, was logisch unmöglich ist. Wichtiger und praxisnäher scheint mir das zweite Argument zu sein, das uns im Kern bereits aus Hobbes' Staatsvertragstheorie vertraut ist. Stellt man die Gesetze über den Souverän, so braucht man auch einen Richter, der den Souverän bestrafen kann, also einen neuen Souverän, und zu dessen Bestrafung braucht man wieder einen Richter, also einen dritten Souverän usw. ad infinitum. Die Unterordnung eines Souveräns unter die Staatsgesetze läßt das Problem der Letztentscheidung aufkommen, ein Problem, das in der Realität nach Hobbes' Meinung zwangsläufig zur Zerstörung eines jeden Staatswesens führen muß. Hieraus folgt, daß jeder Souverän, der den inneren Frieden erhalten will, darauf achten muß, daß ihm allein in Konfliktfragen die Letztentscheidungskompetenz zukommt. Die fünfte gefahrliche Lehre ist das Prinzip des unumschränkten privaten Vermögensrechtes. Hobbes hat an dieser Stelle keine sozialismusähnlichen Vorstellungen im Sinn. Es ist zu vermuten, daß er sehr offensichtliche Erfordernisse im Auge hatte, wie ζ. B. den Umstand, daß eine Strafgesetzgebung auch Vermögensstrafen vorsehen muß, oder die Notwendigkeit von Steuereinnahmen. Explizit wird in diesem Zusammenhang von Hobbes das Recht des Staates erwähnt, bei äußerer Kriegsgefahr oder zu deren Vorbeugung von den Untertanen Mittel einzutreiben (vgl. Lev. 29, S. 313; S. 319). Die sechste bürgerkriegsträchtige Idee ist das Prinzip der Teilbarkeit der Souveränität. Von diesem Prinzip ist schon der Grundsatz von der Gesetzesbindung des Souveräns eine besondere Variante. Doch was Hobbes unter (6) insbesondere ansprechen will, ist die Konfrontation von weltlicher und geistlicher Gewalt innerhalb eines Staates. Diese Gegenüberstellung ist nach Hobbes' Meinung für jedes Gemeinwesen äußerst schädlich, insofern beide Instanzen bestimmen wollen, was Gesetz ist, und hierdurch die Untertanen zwingen, zwei Herren zu dienen, was unmöglich ist. Nach Hobbes liegt unter solchen Bedingungen im Grunde nur die Illusion eines Staates vor, denn es gibt zwei Autoritäten mit gleichen Machtansprüchen. Dieser Konflikt muß nach Hobbes durch eine Unterordnung der kirchlich/geistlichen Gewalt unter die bürgerliche Autorität gelöst werden, denn diese ist die Seele eines jeden Staatswesens (vgl. Lev. 29, S. 317). Hobbes denkt also keineswegs an eine Trennung von Kirche und Staat, wie sie in modernen, westlich geprägten Gesellschaften heute weitgehend üblich ist, sondern, im Gegenteil, an eine zwangsweise Integration der Kirche in den Staat. In der Praxis muß dies auf die Festlegung einer für alle Untertanen (äußerlich) verbindlichen Staatsreligion hinauslaufen. Was Hobbes um jeden Preis verhindern wollte, war die Herausbildung einer mächtigen potestas indirecta im Schöße eines Staates, die auf Dauer in der Lage ist, die staatliche Macht zu untergraben. Deshalb ging es ihm um Einheit, nicht um Differenzierung von Staatspolitik einerseits und Kirche bzw. religiösem Kultus andererseits.
sich Hobbes (pseudo)-theologischer Ausführungen lediglich als rhetorischer Unterstützung seiner philosophia civilis. - Zum Begriff der politischen Theologie vgl. Böckenförde: Politische Theorie und politische Theologie. Vgl. auch Meier: Was ist politische Theologie?
AUFRUHR UND BÜRGERKRIEG
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Das Prinzip von der alleinigen Legitimität der demokratischen Staatsform ist nach Hobbes eine Lehre, die speziell zur Rebellion gegen Monarchien führt. Er führt ihren Einfluß fast ausschließlich auf die Lektüre des politischen Schrifttums der griechischen und römischen Antike zurück (vgl. Lev. 29, S. 314 f.). Hobbes' zentrales Feindkonzept ist diesbezüglich die klassische Lehre vom Tyrannenmord, also die Auffassung, daß sich ein Tyrann von einem Monarchen durch die Unrechtmäßigkeit seiner Herrschaft unterscheide und daß dessen Tötung daher sowohl legitim als auch begrüßenswert sei. Diese Theorie ist nach Hobbes eng verbunden mit der Überzeugung, daß die demokratische Verfassung die wünschenswerteste sei, wobei er, zumindest in dem gegenwärtigen Textzusammenhang, die Aristokratie übergeht. Aus Hobbes' Perspektive sind solche Auffassungen gänzlich unzutreffend. Sein einziges Bewertungskriterium für die Qualität einer Verfassungsform ist deren Eignung zur Sicherung des inneren Friedens (vgl. Lev. 19, S. 173), wobei Demokratien seiner Meinung nach schlecht abschneiden. Als historische Beispiele hatte er diesbezüglich die attische Demokratie und das republikanische Rom vor Augen, zwei äußerst unbeständige Regierungstypen. Hobbes' persönlicher Favorit unter den Verfassungsformen war die Monarchie (vgl. Lev. 19, S. 173 ff.), weil diese seiner Ansicht nach ihren Untertanen größtmögliche innere Sicherheit bieten kann. 14 Neben diesen sieben bürgerkriegsträchtigen Lehren gibt es nach Hobbes noch weitere weniger unmittelbar gefährliche „Staatskrankheiten". Als solche erwähnt er die Orientierung an Beispielen von Regierungsänderungen in Nachbarländern (vgl. Lev. 29, S. 313 f.), die Monopolisierung eigentlich öffentlicher Gelder bei Privatpersonen (vgl. Lev. 29, S. 320), die zu große Beliebtheit eines mächtigen Untertanen beim Volk (vgl. Lev. 29, S. 320 f). wobei als warnendes Beispiel die Figur Julius Cäsars erwähnt wird, die zu große territoriale Ausdehnung einer einzelnen Stadt (vgl. Lev. 29, S. 321) und die in anderem Zusammenhang bereits berücksichtigte Unersättlichkeit bei der Vergrößerung des eigenen Herrschaftsbereichs (vgl. Lev. 29, S. 321). Es ist charakteristisch, daß Hobbes die seiner Ansicht nach wichtigsten Bürgerkriegsfaktoren in der Form von Meinungen präsentiert. Hobbes' ideologiebetonte Auffassung des Bürgerkrieges ist bekannt, und seine Vernachlässigung anderer, ζ. B. sozioökonomischer Elemente, wurde oft kritisiert. 15
Zwischen Hobbes und Machiavelli gibt es zwar etliche Gemeinsamkeiten, doch die Einschätzung innerpolitischer Konflikte gehört nicht dazu. Machiavellis Ausführungen in den Discorsi sind geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie man Auseinandersetzungen innerhalb eines Gemeinwesens in einer Hobbes genau entgegengesetzten Weise bewerten kann. Siehe Machiavelli: Discorsi, S. 1 8ff. Für den Florentiner sind die zahlreichen Streitigkeiten zwischen Volk und Senat im republikanischen Rom ein Faktor, der Rom nicht geschadet, sondern dasselbe überhaupt erst groß gemacht hat. Parteienkämpfe, so meint er, würden häufig viel zu unbedacht verurteilt. Tatsächlich seien sie aber in Rom der Ursprung guter Gesetze gewesen, die wiederum der allgemeinen Freiheit und damit der Größe Roms gedient hätten (vgl. S. 19). Es ist nicht klar, ob Hobbes diese Aussagen Machiavellis bekannt waren, aber er hätte für sie sicher kein Verständnis aufgebracht, sondern deren Autor vielmehr als einen potentiellen Aufrührer betrachtet. Ganz allgemein hat Machiavelli innerpolitische Kämpfe als eine Chance zur Herausbildung von kollektiver virtù betrachtet. Es gibt kaum eine Einstellung, die H o b b e s fremder wäre. Zu Hobbes' an ideologischen Kontroversen orientierten Auffassung des englischen krieges vgl. Münkler: Thomas Hobbes' Analytik des Bürgerkrieges, hier bes. 2 3 I f f .
Bürger-
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3.6. Soldat und Militär Bisher sind mit Bezug auf Hobbes solche Fragen erörtert worden, die das Wesen des Krieges sowie Kriegsursachen, Kriegstypen, aber auch Möglichkeiten der Beendigung, Prävention und Begrenzung von Kriegen betreffen. Dabei wurde jedoch der Umstand außer acht gelassen, daß es bestimmte Menschen und Instanzen gibt, die in aller Regel maßgeblich mit der Planung und Durchführung von Kriegen betraut sind, und zwar Soldaten bzw. die Institution des Militärs. In Hobbes' abstraktem Modellkrieg des bellum omnium contra omnes kommen natürlich Soldaten und Militärs nicht vor, da dieser nicht als ein Staatenkonflikt und auch nicht als ein Bürgerkrieg gefaßt ist. Doch selbstverständlich spielt das Militär im Staatenkrieg und nach Hobbes' Vorstellungen auch in Situationen des inneren Aufruhrs und des Bürgerkrieges eine wichtige Rolle. Es ist nun auffällig, daß Hobbes zwar viel über den Krieg im allgemeinen und über besondere Kriege schreibt, doch, ganz anders als Piaton, nur wenig über diejenigen, denen in zentraler Weise die Aufgabe der Führung von Kriegen zukommt. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, daß seine diesbezüglichen Aussagen, so quantitativ begrenzt sie auch sein mögen, dennoch in mancher Hinsicht höchst aufschlußreich im Hinblick auf das Gesamtsystem von Hobbes' politischer Theorie sind. Der Untersuchung sollen die folgenden Leitfragen zugrundegelegt werden: Welche Bedeutung hat im allgemeinen das Militär im Rahmen von Hobbes' staatstheoretischen Überlegungen? Welche Organisationsform des Militärs befürwortet Hobbes aus welchen Gründen? Welche spezifischen Eigenschaften und Verpflichtungen machen einen Soldaten bzw. einen guten Soldaten aus, und wie läßt sich deren Verhältnis zum Naturrecht auf Selbsterhaltung beschreiben? Die ersten beiden Problemkomplexe können thematisch zusammengefaßt werden, weil sie eher institutionenbezogen sind. Es geht hier um den Status der militärischen Organisation im ganzen. Die dritte Frage ist schwerpunktmäßig personenbezogen. Sie ist von dem Interesse an den Pflichten, Rechten und Spielräumen des einzelnen Soldaten in konkreten militärischen Handlungszusammenhängen geleitet. Diesbezüglich sollen auch Hobbes' Äußerungen über solche Personen einbezogen werden, die nicht den Status von Soldaten im engeren Sinne von Berufssoldaten haben.
3.6.1. Status und Organisationsform des Militärs Wie bedeutsam die Institution des Militärs für Hobbes ist, läßt sich vor allem an dem Stellenwert ablesen, den die Frage des Oberbefehls über das Militär für ihn hat. Im Leviathan heißt es im Hinblick hierauf: „Ninthly, is annexed to the sovereignty, the right of making war and peace with other nations, and commonwealths; that is to say, of judging when it is for the public good, and how great forces are to be assembled, armed, and paid for that end; and to levy money upon the subjects, to defray the expenses thereof. For the power by which the people are to be defended, consisteth in their armies; and the strength of an army, in the union of their strength under one command; which command the sovereign instituted, therefore hath; because the command of the militia, without other institution, maketh him that hath it sov-
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ereign.
And therefore whosoever is made general o f an army, he that hath the sovereign
power is always generalissimo." (Lev. 18, S. 1 6 6 / H e r v o r h . U. K . )
Hobbes argumentiert hier folgendermaßen: Mit der Souveränität ist unabdingbar der Oberbefehl über das Militär verbunden, denn die zentrale Aufgabe des Souveräns besteht in der Sorge für die Sicherheit und Verteidigung des Volkes, welche er ohne die Verfügung über das Militär nicht erfüllen könnte. Aber es scheint auch das Umgekehrte zu gelten: wer den Oberbefehl über das Militär hat, ist hierdurch automatisch souverän. Im Behemoth wird hinsichtlich der Frage des militärischen Oberbefehls eine noch deutlichere Sprache gesprochen. Der Dialogpartner A behauptet hier vom königlichen Recht Uber das Heerwesen, daß dieses „(...) is in effect the whole sovereign
power.
For he that hath the power of levying and
commanding the soldiers, has all other rights of sovereignty
which he shall please t o
claim." ( E W V I / B e h „ S. 2 6 4 / H e r v o r h . U. K . )
In derselben Schrift läßt Hobbes A ebenfalls sagen: „ ( . . . ) but I make account that the legislative power, and indeed all power possible,
is c o n -
tained in the power of the militia." ( E W V I / B e h „ S. 2 9 0 )
Schließlich heißt es im Behemoth bezüglich der vom Parlament an den englischen König gestellten Forderung, die Militärhoheit für zwanzig Jahre an das Parlament zu übertragen: „The first article takes from the King the militia and consequently
the whole s o v e r e i g n t y
for ever." ( E W V I / B e h „ S. 3 4 4 / H e r v o r h . U. K . )
Die aus den soeben zitierten Textstellen erschließbare Hobbessche Lehre ist einfach: Souverän ist die Person oder Personengruppe, die in der Lage ist, ihren Willen zu erzwingen. Deshalb ist der Kern der Souveränität die Militärhoheit. Anders formuliert: Das Wesen der Souveränität besteht im „Schwert des Krieges". Die zentrale Bedeutung der Institution des Militärs für Hobbes' Staatskonzeption dürfte hieraus offensichtlich sein; diese ist der Garant der Souveränität und damit gleichzeitig der Garant von Frieden und Sicherheit des Volkes. Es ist allerdings hier nochmals zu betonen, daß eine Unterscheidung zwischen Polizei und Militär im Rahmen von Hobbes' politischem Denken nicht sinnvoll zu ziehen ist. Was Hobbes als „militia" bezeichnet, ist eine Organisation, die sowohl nach außen als auch nach innen eingesetzt wird. Nur in dieser Doppelfunktion kann sie so überwältigend wichtig werden, wie sie es bei Hobbes ist. Die bisherigen Ergebnisse könnten den Eindruck erwecken, als sei der Hobbessche Leviathan als ein Militärstaat konzipiert. Dieser Eindruck täuscht jedoch durchaus. Der Kern der Souveränität besteht nicht im Militär als solchem, sondern in der Verfügung über dieses. Hobbes war selbstverständlich der Auffassung, daß die militärische Organisation ein Instrument in der Hand des Souveräns zu sein hat; das Verhältnis zwischen Staat und Militär sollte sich seiner Meinung nach auf der Grundlage eines Primats der Politik gestalten. Militärische Befehlshaber sind Diener des Souveräns (vgl. Lev. 42, S . 539). Hobbes' Ansichten über das Verhältnis von Militär und souveräner Staatsgewalt schlagen sich vielleicht nirgends so deutlich nieder wie in den folgenden Aussagen: „Also the popularity of a potent subject, unless the commonwealth
have very
good
caution of his fidelity, is a dangerous disease; because the people, which should receive
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their motion from the authority of the sovereign, by the flattery and by the reputation of an ambitious man are drawn away from their obedience to the laws, to follow a man, of whose virtues, and designs they have no knowledge. (...) By this means it was, that Julius Caesar, who was set up by the people against the senate, having won to himself the affections of his army, made himself master both of senate and people. And this proceeding of popular, and ambitious men, is plain rebellion; and may be resembled to the effects of witchcraft." (Lev. 29, S. 3 2 0 f.)
Im 30. Kapitel heißt es dann über die Volkstümlichkeit von militärischen Befehlshabern: „A commander of an army in chief, if he be not popular, shall not be beloved nor feared as he ought to be by his army; and consequently, cannot perform that office with good success. He must therefore be industrious, valiant, affable, liberal and fortunate, that he may gain an opinion both of sufficiency, and of loving his soldiers. This is popularity, and breeds in the soldiers both desire, and courage, to recommend themselves to his favour; and protects the severity of the general in punishing, when need is, the mutinous, or negligent soldiers. But this love of soldiers, if caution be not given of the commander's fidelity, is a dangerous thing to sovereign power; especially when it is in the hands of an assembly not popular. It belongeth therefore to the safety of the people, both that they be good conductors, and faithful subjects, to whom the sovereign commits his armies." (Lev. 30, S. 341)
Aus diesen Passagen geht hervor, daß die Volkstümlichkeit militärischer Führer möglicherweise häufig mit einem spezifischen Konflikt verbunden ist. Einerseits ist Beliebtheit unerläßlich, und zwar gerade aus Gründen der Staatsräson. Auf der anderen Seite kann diese auch gegen die Staatsgewalt gewendet werden, wie Hobbes am Beispiel Cäsars ausführt. Es ist nicht zufallig, daß Hobbes die Risiken, die aus der Volkstümlichkeit hervorgehen können, gerade im militärischen Zusammenhang akzentuiert. Die enorme Wichtigkeit der militärischen Instanz verhält sich genau proportional zu deren potentieller Gefährlichkeit für den Staat. Deshalb muß der Souverän dafür sorgen, daß seine militärischen Befehlshaber gleichzeitig gute Führer und maximal loyale Untertanen sind. Jeder Verselbständigung des militärischen Instrumentes muß auf jeden Fall vorgebeugt werden. Insofern ist Hobbes' Leviathan kein Militärstaat. Hinsichtlich der Organisationsform der Streitkräfte favorisierte Hobbes zahlenmäßig relativ begrenzte Berufsheere. Die Gründe für diese Option hängen zum Teil eng mit der gerade erörterten Thematik zusammen. Quantitativ große Heere sind, so meint Hobbes, für die Staatssicherheit gefährlicher als kleine und elitäre. Das Risiko, daß ein beliebter Armeefiihrer sich die Staatsmacht aneignet, ist nach Hobbes' Ansicht in Demokratien größer als in Monarchien: „And this is commonly of more danger in a popular government, than in a monarchy; because an army is of so great force, and multitude, as it may easily be made believe, they are the people." (Lev. 29, S. 320)
Dies scheint mir eine klare Stellungnahme gegen Volksheere und jede Form allgemeiner Wehrpflicht zu sein. Es liegt in der Konsequenz leviathanischer Denkweise, daß jede groß angelegte Integration von Volkskräften in die Streitkräfte als ein politisch gefährlicher Akt erscheinen muß, durch den sich die Staatsgewalt unter Umständen ihr eigenes Grab gräbt.
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3.6.2. Soldat und Selbsterhaltung Soldaten, so wie wir sie verstehen, sind Menschen, die ihrem politischen Verband gegenüber eine Verpflichtung doppelter Art eingehen. Zum einen verpflichten sie sich, unter bestimmten Bedingungen ihr Leben zu riskieren, und zum anderen verpflichten sie sich, unter denselben Umständen auch fremdes Leben zu töten.' Auch Hobbes hat dieses so gesehen und das entsprechende Verhalten von Soldaten eingefordert. Doch führt das so aufgefaßte Soldatentum unmittelbar zu einem Konflikt mit Hobbes' Konzept von Selbsterhaltung. Wie wir bereits wissen, kann nach Hobbes das individuelle Recht, sich mit allen Mitteln vor Tod, Verletzung und dem Verlust der körperlichen Freiheit zu schützen, durch keinen Vertrag übertragen oder überlassen werden (vgl. Lev. 14, S. 127 f.), auch nicht durch einen Vertrag, der sich auf die Staatsgewalt bezieht. Denn der einzige Zweck eines jeden Staates ist der Schutz der ihm unterworfenen Individuen vor eben diesen Gefahren, und wenn sich daher Menschen gegenüber ihrem Souverän verpflichten, die erwähnten Risiken einzugehen, dann, so scheint es, hätten sie ebensogut im Naturzustand verbleiben können. 2 Auch verstoßen sie mit einer Verpflichtung dieses Typs sogar gegen die Grundlage aller Hobbesschen Naturgesetze, die in der Vorschrift besteht, alles zu unterlassen, was sich gegen die eigene Selbsterhaltung richtet. Hobbes schreibt hinsichtlich des Rechts auf Selbsterhaltung ausdrücklich folgendes: „If a man, by the terror of present death, be compelled to do a fact against the law, he is totally excused; because no law can oblige a man to abandon his own preservation. And supposing such a law were obligatory; yet a man would reason thus, If I do it not, I die presently; if I do it, / die afterwards; therefore by doing it, there is time of life gained; nature therefore compels him to the fact." (Lev. 27, S. 2 8 8 )
Wenn eine Person aus unmittelbarer Todesfurcht eine gesetzeswidrige Handlung begeht, dann ist das also gerechtfertigt. Hobbes geht es dabei nicht oder weniger um eine Rechtfertigung im legalistischen Sinn, denn jeder Souverän hat im Prinzip das Recht, auch solche Gesetzesbrecher mit dem Tode zu bestrafen. Wohl aber ist derjenige, der aus Selbsterhaltung gegen ein staatliches Gesetz verstößt, im naturgesetzlichen und naturrechtlichen Sinn vollständig entschuldigt. Um zu verstehen, in welche Widersprüche Hobbes hierdurch mit den soldatischen Verpflichtungen gerät, muß man sich seine Äußerungen über Militärdienst und die
Man kann darüber streiten, ob das eigentliche Spezifikum des Soldatenberufs nicht ausschließlich in der zweiten dieser Verpflichtungen besteht, also darin, unter bestimmten Bedingungen töten zu müssen. Die Verpflichtung, das eigene Leben zu riskieren, teilen Soldaten mit vielen anderen, z . B . mit Feuerwehrleuten, Vertretern humanitärer H i l f s o r g a n i s a t i o n e n , und, wenn man, anders als Hobbes, zwischen Polizei und Militär unterscheidet, auch mit Polizisten. Siehe zu diesem Problem Beck: Ausbildung und Erziehung in der Bundeswehr, S. 1 14. Zu diesem Konflikt zwischen der soldatischen Verpflichtung zu kämpfen und zu sterben und dem Selbsterhaltungsprinzip siehe Walzer: The Obligation to Die for the State.
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Rolle von Soldaten genau ansehen. 3 Im Leviathan gibt es diesbezüglich in der Hauptsache zwei Aussagenkomplexe, einen im 21. Kapitel, den anderen im Rückblick. Im 21. Kapitel will Hobbes dafür argumentieren, daß die Unterwerfungsformel des Staatsvertrages, nach der jeder einzelne Untertan alle Handlungen des Souveräns autorisiert, niemanden dazu verpflichtet, gegen seine eigene Selbsterhaltung zu verstoßen. In diesem Zusammenhang ist für unser Thema der folgende lange Passus relevant: „No man is bound by the words themselves, either to kill himself, or any other man; and consequently, that the obligation a man may sometimes have, upon the command of the sovereign to execute any dangerous, or dishonourable office, dependeth not on the words of our submission; but on the intention, which is to be understood by the end thereof. When therefore our refusal to obey, frustrates the end for which the sovereignty was ordained, then there is no liberty to refuse: otherwise there is. Upon this ground, a man that is commanded as a soldier to fight against the enemy, though his sovereign have right enough to punish his refusal with death, may nevertheless in many cases refuse, without injustice; as when he substituteth a sufficient soldier in his place: for in this case he deserteth not the service of the commonwealth. And there is allowance to be made for natural timorousness; not only to women, of whom n o such dangerous duty is expected, but also to men of feminine courage. When armies f i g h t , there is on one side, or both, a running away; yet when they do it not out of treachery, but fear, they are not esteemed to do it unjustly, but dishonourably. For the same reason, to avoid battle, is not injustice, but cowardice. But he that inrolleth himself a soldier, or taketh imprest money, taketh away the excuse of a timorous nature; and is obliged, not only to go to the battle, but also not to run from it, without his captain's leave. And when the defence of the commonwealth, requireth at once the help of all that are able to bear arms, every one is obliged; because otherwise the institution of the commonwealth, which they have not the purpose, or courage to preserve, was in vain." (Lev. 21, S. 2 0 4 f.) Hobbes führt hier zunächst aus, daß es bei souveränen Befehlen, die zu gefährlichen Handlungen auffordern, einen gewissen Interpretations- und Verhaltensspielraum gibt. Zweck und Absicht des Befehls sind zu berücksichtigen. Individuelle Gehorsamsverweigerung ist dann legitim, wenn der Befehlszweck dennoch erfüllt wird. S o kann ζ. B. jemand, der als Soldat in den Krieg eingezogen wird, einen kompetenten Ersatzmann stellen. In diesem Fall hat er zwar den Befehl verweigert, aber keine Ungerechtigkeit begangen. Es ist klar, daß Hobbes hier einen gedanklichen Drahtseilakt vollführt. Welchen Sinn von „ungerecht" legt er zugrunde, wenn er sagt, man könne in manchen Fällen den Befehl verweigern, ohne ungerecht zu handeln? Was geschieht, wenn sich kein oder kein geeigneter Ersatzmann findet oder wenn jemand nicht über das Geld verfügt, um diesen zu bezahlen? Ist er aufgrund solcher Zufälle verpflichtet, gegen seine Selbsterhaltung zu handeln? Warum eigentlich meint Hobbes, man sei nicht unbedingt verpflichtet, alle souveränen Befehle zu befolgen, wenn doch der Souverän jederzeit das Recht hat, den Gehorsamsverweigerer mit dem Tode zu bestrafen? Dies ist ein Komplex von Fragen, die sich an dieser Stelle nicht beant-
Siehe hierzu auch den hervorragenden Aufsatz von Baumgold: Subjects and Soldiers. Baumgold geht, anders als ich, werkgeschichtlich vor und zeichnet Entwicklungen in Hobbes' Zugriff auf dieses Thema von den Elements of Law über De Cive bis zum Leviathan nach, wobei bestimmte Veränderungen deutlich werden.
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worten lassen, die aber darauf hindeuten, daß Hobbes sich hier auf einem für ihn selbst höchst unsicheren Terrain bewegt. Hobbes' weitere Aussagen an der zitierten Stelle beziehen sich auf konkrete Kampfsituationen. Die natürliche Furchtsamkeit der Menschen, die von ihm auch sonst so hervorgehoben wird, muß berücksichtigt werden. Läuft man aus der Schlacht davon, so ist dies „nur" ehrlos, aber nicht ungerecht, falls das Fluchtmotiv Furcht und nicht Verrat ist. Ähnliches gilt, wenn man Gefechten überhaupt aus dem Wege geht. Auch im Krieg, so können wir schließen, gibt es also keine allgemeine Pflicht zur Tapferkeit. Aus den unmittelbar folgenden Äußerungen geht aber ebenso deutlich hervor, daß es nach Hobbes ebensowenig ein „Recht auf Feigheit" im Kriege gibt, wie es manchmal behauptet wird.4 Berufssoldaten dürfen ausdrücklich nicht feige sein. Zwar dürfen sie fliehen, aber eben nicht ohne die Erlaubnis ihres Vorgesetzten, d. h. sie verfügen nicht über das Recht, selbst über die Berechtigung der Flucht zu entscheiden. Für sie gibt es eine Pflicht zur Tapferkeit. Schließlich: Wenn der Staat in Not ist, sind alle Waffenträger verpflichtet, wobei Hobbes an dieser Stelle nicht genau sagt, auf was sich diese Pflicht bezieht. Handelt es sich nur um eine Verpflichtung zur Teilnahme an bewaffneten Kämpfen oder auch um eine zu tapferem Verhalten? In der Schlußbetrachtung zum Leviathan differenziert Hobbes noch einmal zwischen den Anforderungen an Soldaten und „normale" Untertanen im Kriegszustand. Er schreibt: „But if a man, besides the obligation of a subject, hath taken upon him a new o b l i g a t i o n of a soldier, then he hath not the liberty to submit to a new power, as long as the old o n e keeps the field, and giveth him means of subsistence, either in his armies, or garrisons: for in this case, he cannot complain of want of protection, and means to live as a soldier." (Lev. Review, S. 7 0 4 )
Es geht hier um die Frage, wann man berechtigt ist, sich im Krieg einem Feind zu unterwerfen. Hobbes stellt im Kontext der zitierten Textstelle fest, daß diese Freiheit bei gewöhnlichen Untertanen dann gekommen ist, wenn der Feind ihr Vermögen oder einen großen Teil desselben für seine Zwecke beschlagnahmt hat. Dann ist nach Hobbes' Meinung die Situation gegeben, daß der frühere Souverän diese Untertanen nicht mehr schützt, sondern der Gegner. Hobbes scheint hier davon auszugehen, daß dort, wo Zahlungen an einen Feind geleistet werden, die Zwangsgewalt und auch die Schutzpflicht an diesen übergegangen sind. Für Soldaten gelten jedenfalls andere Regeln. Diese müssen sich der Unterwerfung solange widersetzen wie ihre Streitmacht noch kampffähig ist. Erst wenn dies nicht mehr der Fall ist, wenn man also von einer militärischen Niederlage sprechen kann, hat auch der Soldat das Recht, sich dem neuen Herrn zu unterwerfen. Ähnlich gelagert ist für Hobbes die Situation der Kriegsgefangenschaft. Auch in dieser Lage ist die eigene Staatsmacht, zumindest vorübergehend, nicht mehr fähig, den erforderlichen Schutz zu gewährleisten, denn der Soldat befindet sich nun in der Gewalt des Feindes und darf sich diesem deshalb unterwerfen. In solchen Fällen dürfte sogar eine naturgesetzliche Pflicht zur Unterwerfung bestehen. Nicht nur an Soldaten, sondern an alle Untertanen wenden sich jedoch die folgenden Worte der Schlußbetrachtung:
Siehe hierzu Fetscher: Einleitung zu Thomas Hobbes: Leviathan, S.XXXII. - Münkler: Hobbes, S . 3 6 . Euchner: Einleitung zu John Locke, S . 3 9 .
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„To the Laws of Nature, declared in Chapter XV. I would have this added, that every man is bound by nature, as much as in him lies, to protect in war the authority, by which he is himself protected in time of peace. For he that pretendeth a right of nature to preserve his own body, cannot pretend a right of nature to destroy him, by whose strength he is preserved: it is a manifest contradiction of himself. And though this law may be drawn by consequence, from some of those that are there already mentioned; yet the times require to have it inculcated, and remembered." (Lev. Review, S. 703) Diese Stelle schließt an j e n e n P a s s u s an, in d e m es heißt, d a ß in extremen N o t l a g e n die Hilfe aller W a f f e n f ä h i g e n erforderlich ist, geht jedoch darüber in gewisser W e i s e hinaus. Sie enthält eine A u f f o r d e r u n g an alle Untertanen, im Kriegsfall grundsätzlich die e i g e n e Streitmacht nach Kräften zu unterstützen, also in j e d e m Krieg und nicht nur in Situationen gefährlicher militärischer S c h w ä c h e . Solche Unterstützung m u ß aber sicher nicht in aktiver W a f fenhilfe b z w . im K a m p f bestehen, sondern kann sich in a n d e r e m Verhalten niederschlagen, z. B. darin, daß man Kontributionen an den Feind erst dann zahlt, w e n n es gar nicht anders m ö g l i c h ist, d a ß m a n an den Feind keine G e h e i m n i s s e verrät etc. Nicht u n w i c h t i g ist, d a ß j e d e r nur verpflichtet ist, d a s zu tun, was in seiner M a c h t steht ( a i much as in him lies). H o b b e s fordert hier also nicht zur absoluten Selbstaufgabe auf, sondern die zitierte Stelle enthält k r a f t dieser E i n s c h r ä n k u n g eine B e g r e n z u n g auf das M ö g l i c h e , auch in Kriegssituationen. Z u berücksichtigen ist der unmittelbare T e x t z u s a m m e n h a n g , in d e m der zitierte P a s s u s steht. H o b b e s hat kurz zuvor die Leistungen von Sidney Godolphin während des englischen Bürgerkrieges lobend hervorgehoben. Godolphin 5 war ein englischer Dichter, mit d e m Hobbes befreundet war und dessen Bruder Francis er den Leviathan gewidmet hat. Jener M a n n war niemals Berufssoldat g e w e s e n u n d wies in seinem Privatleben eher s o g e n a n n t e „ w e i b i s c h e " Züge auf. 6 So fürchtete er sich beispielsweise vor Regen und W i n d und verhielt sich in jeder denkbaren Situation mit äußerster S a n f t m u t . Politisch war er Royalist, und im Bürgerkrieg schloß er sich freiwillig den T r u p p e n des K ö n i g s an. R i s k a n t e r w e i s e schlug er sich ausgerechnet auf die Seite einer bereits durch Desertion stark geschwächten Kompanie, 7 w o er nach zeitgenössischen Z e u g n i s s e n im R a h m e n eines W i n t e r f e l d z u g e s das Ä u ß e r s t e an M u t bewies, i n d e m er vor keiner G e f a h r und Strapaze zurückschreckte. Sein Vorgesetzter stellte ihm d a s glänzendste Zeugnis aus. E r sei „das m a k e l l o s e s t e u n d v o l l k o m m e n s t e M u s t e r der Tugend, das unsere Nation j e m a l s hervorgebracht hat". 8 Als Godolphin a m 10. Februar des Jahres 1643 zu Grabe getragen wurde, 9 e m p f a n d e n R o y alisten aller Spielarten den Tod dieses Mannes, der sich vor d e m Wind, aber nicht vor d e m T o d gefürchtet hatte, als einen s y m b o l i schen. G o d o l p h i n und H o b b e s waren exakte m e n s c h l i c h e G e g e n p o l e . Royalisten w a r e n sie beide, doch gehörte ersterer zu denen, die dem K ö n i g im Krieg ihr Leben opferten, letzterer aber zu denen, die vor den Gefahren des Krieges ins Ausland flohen. 1 0
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Zu Sidney Godolphin siehe die Ausführungen von Irene Coltman: Zwischen Rebellion und Unterordnung, S. 147 ff. Vgl. Coltman, ebd., S. 15 1. Vgl. Coltman, ebd., S. 150. Vgl. Coltman, ebd., S. 150. Vgl. Coltman, ebd., S. 149. Vgl. Coltman, ebd., S. 206.
SOLDAT UND MILITÄR
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Es ist im Kontext der Würdigung seines ehemaligen Freundes Godolphin, daß Hobbes die allgemeine Pflicht, im Krieg den Staat zu schützen, den bereits von ihm angeführten Naturgesetzen hinzufügt. Offensichtlich handelte es sich bei Godolphin um einen Mann, der in einer Kriegslage seinem Souverän aktiven Waffenbeistand leistete und dabei auch noch das Äußerste wagte. Wir können mit Hobbes annehmen, daß eben dieses in seiner Macht stand. Hobbes wollte wohl kaum Godolphin als realistisches Beispiel für alle hinstellen; wohl aber wollte er denjenigen ehren, der in einer Notlage für seinen König das Maximum an Opfern erbracht hatte. Bisher können wir als Ergebnis unserer Untersuchung folgendes festhalten: Es gibt einen Unterschied zwischen Soldaten und gewöhnlichen Untertanen. Dieser liegt darin, daß letztere ausschließlich durch den Staatsvertrag an den Souverän gebunden sind, während erstere mit der Staatsgewalt zusätzlich einen besonderen Vertrag abgeschlossen haben, durch welchen sie sich verpflichten, im Kriegsfall sowohl ihr eigenes Leben zu riskieren als auch das Leben bestimmter anderer Menschen unter Umständen zu vernichten. Hieraus folgen für den Soldaten spezifische Verhaltensanforderungen. Er darf sich in keiner Weise feige verhalten; er muß auf Befehl in die Schlacht ziehen und in ihr ausharren, bis sein Vorgesetzter den Befehl zum Abzug gibt. Handelt er anders, so ist dies weder juristisch noch naturrechtlich gerechtfertigt. Hobbes zieht Situationen in Betracht, in denen die Grenze zwischen Soldaten und „Normaluntertanen" verwischt werden kann. Dies ist zum einen dann der Fall, wenn der Souverän aus irgendwelchen Gründen solche Untertanen, die sich nicht als Soldat verpflichtet haben, qua Befehl zum Kriegsdienst einzieht. Diese Untertanen haben manchmal bestimmte Möglichkeiten, sich einem Befehl dieser Art zu entziehen. Nehmen sie diese wahr, so sind sie in einem naturrechtlichen Sinne gerechtfertigt, aber nicht auf der strikt legalistischen Ebene, denn der Souverän hat grundsätzlich das Recht, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Verweigern die Untertanen den souveränen Befehl auf „ungerechte" Weise, d. h. bemühen sie sich nicht darum, zumindest dem Zweck des Befehls Rechnung zu tragen, so sind sie sowohl naturgesetzlich als auch legalistisch verantwortlich. Eine ähnliche Argumentation greift für den Fall, in dem Nicht-Soldaten sich im Gefecht befinden. Sie dürfen in solchen Lagen feige sein, ohne sich vor den Naturgesetzen schuldig zu machen, können aber dennoch bestraft werden. Der zweite Fall, in dem gewöhnliche Untertanen in den Krieg bestellt werden, ist derjenige einer extremen militärischen Notlage, in der dann alle tauglichen Männer aus dem Volk benötigt werden. Als sicher kann gelten, daß Hobbes der Meinung war, der Souverän solle auf den bewaffneten Beistand der zivilen Bevölkerung im Kriegsfall verzichten, wenn dies irgend möglich ist, und sich statt dessen auf seine regulären Streitkräfte stützen. Zwar ist das Volk generell zur Unterstützung der eigenen Staatsmacht im Krieg aufgefordert, doch muß diese nicht in Waffenhilfe bestehen. Auch ist jeder Untertan nur zu der Unterstützung angehalten, die in seiner Macht steht. Unser Ausgangsproblem ist noch immer ungelöst. Es lautet: Wie ist auf der Grundlage von Hobbes' Selbsterhaltungskonzeption Tapferkeit, unter der Hobbes die Verachtung von gewaltsamem Tod und Wunden versteht (vgl. Lev. Review, S. 701 ), überhaupt möglich geschweige denn eine Verpflichtung zu ihr? Hobbes' Auffassung von dem Angelegtsein der menschlichen Natur auf Selbsterhaltung, vom Recht auf sie und der naturgesetzlichen Verpflichtung zu ihr scheint in diametralem Widerspruch zur Qualität der Tapferkeit zu stehen. Für den Umgang mit diesem Problem ist es wichtig, bestimmte Aussagen von Hobbes über
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Tapferkeit aus dem Behemoth sprächspartner A fragen:
KRIEG U N D MILITÄR IN H O B B E S '
LEVIATHAN
zur Kenntnis zu nehmen. Hobbes Iäßt dort Β seinen Ge-
„It seems you make a difference between the ethics of subjects, and the ethics of sovereigns." (EW VI/Beh., S. 219)
Darauf antwortet A: „So I do. The virtue of a subject is comprehended wholly in obedience to the laws of the commonwealth. (...) The virtues of sovereigns are such as tend to the maintenance of peace at home, and to the resistance of foreign enemies. Fortitude is a royal virtue; and though it be necessary in such private men as shall be soldiers, yet, for other men, the less they dare, the better it is both for the commonwealth and for themselves." (EW VI/Beh., S. 219)
Tapferkeit ist also zunächst eine königliche, im weiteren Sinn eine Herrschertugend. Diese Auffassung stimmt mit entsprechenden Äußerungen von Hobbes aus dem Leviathan überein. Der mythische Name „Leviathan" mit dem Hobbes das gedankliche Konstrukt seines Staates belegte, stammt aus dem 41. Kapitel des Buches Hiob. Aus diesem Kapitel zitiert Hobbes folgendermaßen: „There is nothing, saith he, on earth, to be compared with him. He is made so as not to be afraid. He seeth every high thing below him; and is king of all the children of pride." (Lev. 28, S. 307, Hervorh. U. K.)
Der Leviathan bzw. dessen Repräsentant, der Souverän, ist also gänzlich ohne Furcht, also auch frei von Furcht vor Tod und Wunden, also tapfer. Tapferkeit ist ein Merkmal des Hobbesschen Begriffs des souveränen Herrschers. Ein Hobbesscher Souverän ist somit jener individuellen Selbsterhaltungsdynamik, der er überhaupt seine Existenz verdankt, nicht selbst unterworfen. Wäre er dies, so könnte er nicht angemessen seine Aufgabe erfüllen, für Sicherheit und Verteidigung der Untertanen zu sorgen. Dies bedeutet aber vielleicht nicht, daß er von überhaupt keinem Selbsterhaltungsprinzip geleitet ist. Er muß sich selbst als Souverän erhalten, was für ihn gleichbedeutend damit ist, Bedingungen dafür zu schaffen und zu sichern, daß seine Untertanen sich selbst erhalten könne. Die Selbsterhaltung als Souverän ist nun ein Modus der Selbsterhaltung, der Tapferkeit erfordert. Unterwirft er sich ζ. B. kampflos einem anderen Souverän, der ihm dafür ein Leben in Ruhe und Freiheit zusichert, so ist das für ihn kein angemessenes Verhalten, weil er hierdurch seine Pflicht verletzt, die Souveränität solange wie möglich zu bewahren. Ein oberflächlicher Einwand könnte lauten, daß durch ein solches Verhalten ja nur ein Souveränitätswechsel stattfindet, die Souveränität als solche aber erhalten bleibt. Der Gegeneinwand liegt auf der Hand: Wenn jeder Souverän in bedrohlichen Situationen so handeln würde, wäre jede Souveränität jederzeit zerstörbar, wodurch der Zweck der Souveränität, die Überwindung des Naturzustandes, niemals erreicht würde. Der leviathanische Souverän muß kämpfen, auch wenn er dabei unter Umständen sein persönliches Leben riskiert. Man kann möglicherweise formulieren, daß die Selbsterhaltung des Souveräns nicht die übliche Gestalt der Bewahrung eines menschlichen Individuums hat, sondern die Form der Bewahrung einer politischen Funktion annimmt, eben der Souveränität. Zwischen beiden Modi besteht durchaus ein gravierender Unterschied. So kann eine Funktion unabhängig von einem spezifischen Funktionsträger erhalten bleiben. Ja, man kann eine Funktion, die man ausübt, über den eigenen Tod hinaus bewahren. Beispielsweise
SOLDAT UND MILITÄR
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wird ein monarchischer Souverän seine Souveränität auf seinen Nachfolger vererben. Es ist allerdings zuzugeben, daß die soeben skizzierte Auffassung von Selbsterhaltung die bei Hobbes übliche individualistische und konkrete Selbsterhaltungskonzeption zu sprengen droht. Wie verhält es sich mit dem zweiten Personenkreis neben dem der Souveräne, bei dem man Tapferkeit voraussetzen und einfordern kann, demjenigen der Soldaten? Man wird die soldatische Berufsverpflichtung kaum mittels eines rein individuenbezogenen Begriffs von Selbsterhaltung erklären können. Der folgende Gedankengang vermag nicht zu überzeugen: Mein Souverän schützt mich. Also ist mein Schutz in Gefahr, wenn der Souverän in Gefahr ist. Deshalb schütze ich mich, wenn ich in dieser Lage den Souverän schütze. - Ganz offensichtlich schützt und erhält der Soldat nicht sich selbst persönlich, wenn er in der Schlacht sein Leben riskiert oder gar in ihr getötet wird. Der Soldat vollbringt hierdurch ein Opfer für die Erhaltung des Staates, das auf der Grundlage Hobbesscher Kriterien nicht faßbar ist. Was Hobbes dazu fehlt, ist das Konzept einer mehr als rein individuellen Staatsbindung, was seine atomistische Staatskonstruktion letztlich nicht leisten kann. Die Figur des Soldaten muß ein Staatsmodell wie das Hobbessche mit unüberwindbaren und paradoxen Schwierigkeiten konfrontieren. Auf der einen Seite ist der Soldat unendlich wichtig, wie man daraus ersieht, daß der Oberbefehl über das Militär den Kern der Souveränität ausmacht. Hobbes mag seinen Souverän noch so sehr als „sterblichen Gott" überhöhen; ohne seine Soldaten ist er de facto nichts. Andererseits fügen sich die spezifisch soldatischen Tugenden ganz und gar nicht nahtlos in die rein individualistisch verstandene staatliche Selbsterhaltungsmaschine ein. Der Soldat ist wichtig, weil er tapfer ist, aber aus demselben Grund ist er auch eine potentielle Gefahrenquelle für den Staat. So wie Tapferkeit einen Staat erhalten kann, so ist sie im Prinzip auch geeignet, ihn zu zerstören (vgl. DH 13/9, S. 42). Es gibt bei Hobbes nichts, was diesen prinzipiellen Konflikt überbrücken könnte. Und Sidney Godolphin? Godolphin ist für Hobbes eine besondere Figur." Hobbes zollt ihm deshalb so viel Ehre, weil in ihm zivile und kriegerische Tugenden auf ideale Weise vereint waren. Er war gesetzestreu, und zwar nicht aus Furcht, sondern aus Überzeugung; er war klug und sanftmütig, und selbst in den Krieg trug er diese Tugenden hinein, haßte er doch niemanden und wurde von niemandem gehaßt. Dennoch verhielt er sich im Krieg tapferer als die meisten Berufssoldaten, denn er wagte alles, ohne entsprechend für Gefahren ausgebildet zu sein. Hobbes' Lob des sanften und kühnen Dichters erreicht beinahe hymnische Dimensionen, doch wiederum im scharfen Kontrast hierzu steht die Hobbessche Staatstheorie, die für Menschen wie Godolphin keinen Ort bereitstellt. Godolphins Tapferkeit muß auf der Grundlage Hobbesscher Denkmuster noch unverständlicher erscheinen als diejenige des Soldaten; beruht letztere immerhin noch auf einem Vertrag, so opfert Godolphin sein Leben dem König als Geschenk, also als eine Gabe jenseits aller Rechtskonstruktionen. Männer wie Godolphin brauchen keinen Leviathan, und der Leviathan ist so konzipiert, daß er letztlich Männer wie Godolphin nicht braucht. Nur geringfügige Korrekturen an Hobbes' Aussagen über Godolphin sind erforderlich, um eine Würdigung in eine Persiflage auf eine als obsolet empfundene Gestalt zu verwandeln.
Zu den folgenden Bemerkungen über Hobbes' Verhältnis zu Godolphin siehe Coltman, ebd. S.210.
4. Die Theorie des Krieges bei Clausewitz
4.1. Einleitung Als der preußische General Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz am 16. November 1831 in Breslau an der Cholera starb, ließ er ein Leben hinter sich, das mit dem Phänomen des Krieges untrennbar und auf mehrschichtige Weise verknüpft war. Mit zwölf Jahren als Berufssoldat in die preußische Armee eingetreten, erlebt er als Fähnrich ein knappes Jahr später den Revolutionskrieg im Rahmen des Rheinfeldzuges 1792-1795, dann den militärischen Zusammenbruch Preußens bei Jena/Auerstedt ( 1806) gegen Napoleon und schließlich in diversen militärischen Funktionen den Untergang Bonapartes in den Jahren 1812-1815. Da Krieg, Politik und Persönlichkeit bei Clausewitz eine selten enge Symbiose eingingen, erfuhr er jene Konflikte wie kaum ein anderer als seine ureigensten. Clausewitz hat einen großen Teil seiner Zeit damit verbracht zu lesen und zu schreiben. Dieser Umstand schlägt sich darin nieder, daß seine Hinterlassenen Werke zehn Bände umfassen und dabei längst nicht vollständig sind. Der Soldat analysierte nicht weniger als 130 Schlachten, und seine Studie über die Geschichte des Feldzuges von 1796 in Italien weist gedruckt mehr als 950 Seiten auf. Er produzierte viele Feldzugspläne gegen Frankreich, von denen kein einziger in die Tat umgesetzt wurde. Daneben fand er Zeit, über Fragen der Politik, aber auch der Kunsttheorie, der Architektur, der Pädagogik etc. zu schreiben. Zu seinen Lebzeiten aber veröffentlichte dieser General drei Schriften - und diese anonym. Auch sein Meisterwerk Vom Kriege, ausgearbeitet hauptsächlich in den Jahren 1818-1830, blieb während seiner dreiundfünfzigjährigen Lebensspanne sowohl unvollendet als auch unveröffentlicht, und Clausewitz wollte es auch erst nach seinem Tode publizieren lassen. Die Gründe für diesen Entschluß lagen sowohl in seinem Perfektionismus als auch in dem Wissen darüber, daß seine Ansichten in der sogenannten „Fachwelt" bei weitem nicht nur auf Verständnis stoßen würden. Geschriebenes aus seiner Hand gab Clausewitz nur engsten Freunden und Vertrauten, zu denen u. a. Scharnhorst und Gneisenau zählten. Seine Gattin, die Gräfin Marie von Brühl, war es dann, die auf Clausewitz' ausdrücklichen Wunsch ein Jahr nach seinem Tode sein Hauptwerk dem Publikum präsentierte. Clausewitz war also ein Mann, der bei aller Brillanz als Theoretiker kaum öffentlich in Erscheinung trat. Als Praktiker andererseits, als Soldat also, war er weit entfernt davon, ein gefeierter Feldherr etwa vom Range eines Blücher zu sein. Im folgenden Teil dieser Arbeit wird es weniger um die Biographie und die schwierige Persönlichkeit von Clausewitz gehen, sondern um dessen Werk, und zwar schwerpunktmäßig
EINLEITUNG
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um Grundzüge seiner in Vom Kriege entwickelten Theorien.' Die posthume Karriere des Buches Vom Kriege dürfte auch die kühnsten Erwartungen seines Verfassers übertroffen haben. Diese Abhandlung darf durchaus als das Standardwerk der Kriegstheorie schlechthin gelten. Aus der westlich-liberalen Tradition der Militär- und Kriegstheorie ist sie mittlerweile nicht mehr wegzudenken. Offenbar zählt die Clausewitz-Lektüre heute zum Kanon der amerikanischen Offiziersausbildung. 2 Daneben gibt es auch einen marxistisch-leninistischen Strang der Clausewitz-Aneignung, der von Marx und Engels über Franz Mehring zu Lenin reicht, und über den sich Clausewitz einen gewissen Status in der ehemals sowjetischen Militärdoktrin erobert hat.3 Auch zu Zeiten des Nationalsozialismus gab es eine Clausewitz-Rezeption. In diesen zeitlichen Rahmen fallen etwa einschlägige Bezugnahmen auf Clausewitz durch Angehörige jenes konspirativen Kreises, der zum 20. Juli 1944 führte, zum Beispiel durch Generaloberst Ludwig Beck. 4 Nicht zu vergessen ist der Umstand, daß direkt oder indirekt Einflüsse Clausewitzschen Denkens bei den namhaften Kleinkriegsführern dieses Jahrhunderts von Mao Tse Tung bis zu Ernesto „Che" Guevara spürbar sind.5 Der internationale Ruf der Schrift Vom Kriege kann sich auf gute objektive Gründe stützen. Zum erstenmal behandelte ein Autor so viele für die Kriegsthematik relevante Gebiete in zusammenhängender Form. Die Clausewitzsche Kriegstheorie umfaßt eine Palette von zum Teil eng miteinander zusammenhängenden Themen, die stichwortartig folgendermaßen zusammengefaßt werden können: -
Der Kriegsbegriff; das Verhältnis von Krieg und Politik; die Friktion oder das Verhältnis von Theorie und Praxis des Krieges; der Status „moralischer Größen" im Kriege; die Beziehungen von Zweck, Ziel und Mittel im Krieg; der Status des Vernichtungsprinzips; das Verhältnis von Angriff und Verteidigung; die Unterscheidung von Strategie und Taktik; die Lehre vom sogenannten „kleinen Krieg". Die Lebensgeschichte von Clausewitz ist mittlerweile in einem so hohen Maße erforscht wie bei kaum einem anderen Autor. Fast jede einschlägige Clausewitz-Monographie enthält einen mehr oder weniger ausführlichen biographischen Abriß. Für eine stark biographisch geprägte Clausewitz-Studie, die sich gezielt an ein breiteres Publikum wendet siehe von Schramm: Clausewitz. Leben und Werk. So ist es zumindest nachzulesen bei Dörnen Carl von Clausewitz, S.l 18. Zum Ansehen von Clausewitz im amerikanischen Militär vgl. auch van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S. 6 4 . Zum marxistischen Clausewitzbild vgl. Kondylis: Theorie des Krieges, S . l 4 6 ff. - Kersch: Zum Clausewitzschen Theorie-Begriff; Ancona: Der Einfluß Clausewitz' „Vom Kriege"; Hahlweg: Lenin und Clausewitz; Rehm: Clausewitz in der DDR. Siehe hierzu Ludwig Beck: Die Lehre vom totalen Kriege. Analogien zwischen Clausewitz' und Maos Denken sind der Forschung bereits früh aufgefallen. Seit 1989 konnte jedoch definitiv nachgewiesen werden, daß Mao ein Exemplar der chinesischen Ausgabe von „Vom Kriege" persönlich gelesen hat. Siehe hierzu Schössler: Carl von Clausewitz, S. 129. Zum Verhältnis Mao/Clausewitz vgl. auch Haffner: Mao und Clausewitz. Sehr detailliert zu diesem Thema ist auch Zhang: Mao Zedongs Bezugnahme auf Clausewitz.
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DIE THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
Im folgenden werde ich mich zunächst um eine detaillierte Analyse des Clausewitzschen Kriegsbegriffes bemühen, so wie er uns auf den allerersten Seiten des Hauptwerkes Vom Kriege präsentiert wird. Eines der Ergebnisse dieser Analyse wird sein, daß sich Clausewitz' Kriegskonzept von ideengeschichtlich vorhergehenden wie auch von zeitlich parallelen durch seinen dynamisch-aktivistischen Charakter unterscheidet, d. h. dadurch, daß Krieg von Clausewitz wesentlich als eine Handlung und nicht etwa als ein Zustand begriffen wird. Hier handelt es sich um einen Umstand, der in der einschlägigen Forschungsliteratur bisher entweder gar nicht berücksichtigt oder aber in seiner Bedeutung zwar erkannt, aber noch immer nicht genügend gewichtet wurde.6 In einem zweiten Schritt werde ich mich dem Problem des Abstandes zwischen dem reinen Kriegsmodell und der Wirklichkeit des Krieges zuwenden, aber auch der Frage, mit welchen Kräften Menschen diese Differenz verringern können. Mit anderen Worten: Im zweiten Kapitel dieses Teils wird es um die Themen Friktion und moralische Größen gehen. Diese beiden Bereiche gehören meiner Meinung nach zusammen, denn Friktionen entstehen in der Regel nicht von selbst, sondern hauptsächlich durch menschliche Schwächen, die durch gegenläufige Stärken, also durch soldatische Tugenden und Fähigkeiten, wieder ausgeglichen werden müssen. Clausewitz' Theorie der Friktionen und des Umgangs mit ihnen ist im Kern, so lautet eine der Leitthesen dieses Kapitels, eine anthropologische Theorie über das Verhältnis zwischen menschlicher Natur und Natur des Krieges. Diese These ist zwar bereits im Ansatz vertreten worden, und zwar von Kondylis, 7 wurde jedoch längst nicht in all ihren Konsequenzen systematisch durchdacht. Insbesondere die Theorie der moralischen Größen, das unverzichtbare Gegenstück zur Friktionstheorie, ist noch immer ein Stiefkind der Clausewitz-Forschung, die sich lieber auf Clausewitz' Auffassungen über Krieg und Politik konzentriert. Vor allem ist in diesem Zusammenhang zu zeigen, daß in Clausewitz' Betrachtungen der moralischen Größen den Gemüts- und Gefühlsfaktoren eine bislang vollkommen unterschätzte Bedeutung zukommt. Das dritte und abschließende Kapitel des Clausewitz-Teils hat jenen Aspekt der Clausewitzschen Kriegstheorie zum Gegenstand, der noch immer die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht: das Verhältnis von Krieg und Politik. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen sowohl die verschiedenen Bedeutungsdimensionen der Krieg/Politik-Formel, wie sie sich in
Eine Ausnahme ist Schering: Die Kriegsphilosophie von Clausewitz. Schering sieht zwar die Wichtigkeit des Handlungsaspektes, macht diesen dann aber im Verlauf seiner Interpretation dennoch m. A. nicht hinreichend stark oder mißversteht ihn. Dennoch enthält die Studie wertvolle Ansätze und Überlegungen. So ist Schering der erste gewesen, der konsequent versucht hat, die Clausewitzsche Kriegstheorie als eine philosophische zu analysieren. Zu Schering vgl. neuerdings die ausführliche und faktenreiche Untersuchung von Gyldenfeldt: Von Alfred Vierkandt zu Carl ν . Clausewitz. Walther Malmsten Schering und die Quellen gemeinschaftlichen Handelns in Frieden und Krieg. Zur Clausewitzschen Handlungstheorie siehe auch Vollrath: „Neue Wege der Klugheit" und Vollrath: Carl von Clausewitz. Doch Vollrath arbeitet auf einem ganz anderen theoretischen Hintergrund und mit einem anderen begrifflichen Instrumentarium als ich. Er vertritt eine handlungstheoretische Deutung der Clausewitzschen Kriegstheorie, die im Grundsatz von Aristoteles ausgeht und stark von Hannah Arendts p o l i t i scher Theorie geprägt ist. Vollrath fördert dabei sehr wichtige Einsichten zutage, doch ist sein Ansatz letztlich nicht der meine. Siehe hierzu Kondylis: Theorie des Krieges, S. 5 0 .
EINLEITUNG
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Vom Kriege präsentiert als auch die Frage nach möglichen Unterschieden zu den Politikauffassungen des frühen Clausewitz. Ich werde dafür argumentieren, daß es trotz einiger Differenzen zentrale Figuren und Linien gibt, die sich von der Bekenntnisschrift bis in die spätesten Teile des Hauptwerks fortsetzen. Der thematische Aufbau des Clausewitz-Teils orientiert sich an Clausewitz' berühmter „Dreifaltigkeitsbestimmung" des Krieges, die hier zitiert sei: „Der Krieg ist also nicht nur ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle s e i n e Natur etwas ändert, sondern er ist auch seinen Gesamterscheinungen nach, in Beziehung auf die in ihm herrschenden Tendenzen eine wunderliche Dreifaltigkeit, zusammengesetzt aus der ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elementes, dem Haß und der Feindschaft, die wie ein blinder Naturtrieb anzusehen sind, aus dem Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls, die ihn zu einer freien Seelentätigkeit machen, und aus der untergeordneten Natur eines politischen Werkzeuges, wodurch er dem bloßen Verstände anheimfällt." (VK I, 1, S. 2 1 2 f.)
Die erste Tendenz, von der Clausewitz hier spricht, ist diejenige der ursprünglichen Natur des Krieges, die zweite diejenige der Friktionen und die dritte diejenige der Politik. Diesen drei Seiten werden von Clausewitz drei subjektive menschliche „Vermögen" zugeordnet, und zwar der gewaltsamen Natur des Krieges der Naturtrieb, der Friktion die freie Seelentätigkeit, die praktisch mit den moralischen Größen zusammenfällt, und schließlich der Politik der Verstand. Des weiteren ordnet Clausewitz im unmittelbaren Zusammenhang des obigen Zitats die erwähnten drei Tendenzen und die ihnen entsprechenden Kräfte noch verschiedenen Trägern zu, nämlich der Reihenfolge nach dem Volk, dem Feldherrn bzw. seinem Heer und der Regierung. Wir können also folgende Reihen aufstellen: Gewalt - Naturtrieb - Volk; Friktion - freie Seelentätigkeit - Streitkräfte; Politik - Verstand - Regierung. Bei der Dreifaltigkeitsbestimmung handelt es sich übrigens nicht um einen neuen Kriegsbegriff, sondern um einen erweiterten und angereicherten. Es gibt in dieser Konzeption nichts, was Clausewitz nicht auf einer allgemeineren Ebene bereits vorher ausgeführt hat. Er bezweckt mit der „wunderlichen Dreifaltigkeit" eine Zusammenfassung aller Elemente, die jedem Krieg der Wirklichkeit in mehr oder weniger ausgeprägter Form zueigen sind und will damit auch der Theorie des Krieges Richtlinien weisen: „Die Aufgabe ist also, daß sich die Theorie zwischen diesen drei Tendenzen wie z w i s c h e n drei Anziehungspunkten schwebend erhalte." (VK I, 1, S. 2 1 3 )
Diesem von Clausewitz selbst vorgezeichneten Weg werde auch ich in meiner Rekonstruktion der Clausewitzschen Kriegsauffassung folgen. Deshalb steht an erster Stelle dieser Untersuchungen das, was Clausewitz als das ursprüngliche Charakteristikum des Krieges betrachtete, nämlich der Kampf, an zweiter Friktion und moralische Größen und an dritter Stelle Krieg und Politik.
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D I E THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
4.2. Krieg und Kampf: Kriegsbegriffe bei Clausewitz Das erste Kapitel des Clausewitzschen Hauptwerkes Vom Kriege ist mit dem Titel „Was ist der Krieg?" überschrieben. Clausewitz beabsichtigt dort, eine Zusammenschau aller dem Krieg wesentlichen Elemente zu geben. Es geht ihm um einen Blick auf das „Wesen des Ganzen" (vgl. VK I, 1, S. 191). Clausewitz selbst betrachtete dieses Kapitel als das einzig vollendete seines Hauptwerkes (vgl. VK, Nachricht, S. 181). Dennoch hat dessen Lektüre den Lesern stets mannigfaltigen Anlaß zur Verwirrung geboten. Wir werden in der Folge sehen, warum sich dieses so verhält und versuchen, zumindest etwas Licht in das Dunkel zu bringen. Zunächst soll der Clausewitzsche Kriegsbegriff in seiner Gesamtheit untersucht und dann in einen allgemeineren und einen „reinen" Begriff aufgespaltet werden. In einem zweiten Abschnitt will ich mich unterschiedlichen Deutungen des reinen Kriegsbegriffes in der Forschungsliteratur zuwenden. Die leitenden Fragestellungen des gesamten Kapitels lauten: Wie unterscheidet sich Clausewitz' begrifflicher Zugriff auf das Kriegsphänomen von anderen Ansätzen? Wie leistungsstark ist dieser Zugriff? Welche Funktion erfüllt insbesondere das reine Kriegsmodell, das ein ausschließlich fiktives zu sein scheint und in gewisser Weise auch ist?
4.2.1. Begriff und reiner Begriff des Krieges Clausewitz führt eine erste Bestimmung des Krieges mit den folgenden Worten ein: „Wir wollen hier nicht erst in eine schwerfällige publizistische Definition des Krieges hineinsteigen, sondern uns an das Element desselben halten, an den Zweikampf. Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf. Wollen wir uns die Unzahl der einzelnen Zweikämpfe, aus denen er besteht, als Einheit denken, so tun wir besser, uns zwei Ringende vorzustellen. Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen. Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen." (VK I, 1, S. 191 f.)
Bereits die erste Aussage dieses Zitats gibt uns einen zentralen Hinweis darauf, was für die Analyse des Kriegsphänomens als relevant betrachtet wird und was hingegen ausgeschlossen werden soll. Wenn Clausewitz eine „schwerfällige publizistische" Definition des Krieges ablehnt, so grenzt er sich damit von staats- und völkerrechtlichen Definitionsversuchen ab. Der Ausdruck „publizistisch" bedeutete nach dem damaligen Wortverständnis nicht dasselbe wie heute „journalistisch" oder „populär", sondern wurde gewöhnlich unmittelbar in Anlehnung an „ius publicum" aufgefaßt, was das Staatsrecht bzw. das öffentliche Recht im Unterschied zum Privatrecht bezeichnet. 1 Da Clausewitz den Krieg offensichtlich auch nicht in privatrechtlichen Kategorien denken will und übergreifende naturrechtliche Konzeptionen in Vom Kriege keine Rolle spielen, können wir schließen, daß der General sich dem Gegenstand Krieg grundsätzlich und bewußt nicht auf rechtstheoretische Weise nähern will. Der klassische überlieferte Inhalt von bellum als Rechtsstreit geht in den Kern der Clausewitzschen
Vgl. Stumpf: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, S . 7 3 5 .
KRIEG UND KAMPF: KRIEGSBEGRIFFE BEI CLAUSEWITZ
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Kriegstheorie nicht ein. Auf diese Weise bricht Clausewitz mit einer langen Tradition, in die zumindest teilweise auch Hobbes einzuordnen ist und die zu Clausewitz' eigenen Lebzeiten noch sehr lebendig war. 2 Das Element bzw. die Natur des Krieges liegt nach Clausewitz nicht in rechtlichen Denkfiguren, sondern im Zweikampf. Unter gezielter Ausschaltung des hergebrachten Inhalts von bellum wird hier also wieder an die etymologische Wurzel von bellum angeknüpft, nämlich an die wörtliche (nicht rechtlich aufgeladene) Bedeutung von duellum. Dieses ist eine äußerst bedeutsame Veränderung, stellte sich doch nach der traditionellen rechtstheoretischen Auffassung der Krieg als ein Zustand (status) dar. Auf diese statische Konzeption konnte sich schon Grotius berufen, wenn er schrieb: „Jedoch wurde es Brauch, nicht die Handlung, sondern den Zustand mit diesem Namen zu belegen, so daß also der Krieg den Zustand von Personen bezeichnet, die miteinander gewaltsam kämpfen." 3 Nach dieser Bestimmung, der sich Grotius anschließt, rückt ausdrücklich nicht die Kampfhandlung als solche in den Mittelpunkt des Interesses, sondern der Zustand der kämpfenden Personen. Nicht der Akt des Kämpfens erscheint hier als eigentlich relevant, sondern vielmehr die unterschiedlichen (Rechts-)Standpunkte, die zur Legitimierung dieses Aktes herangezogen werden. In dieser Begriffstradition steht teilweise auch Hobbes, denn er faßt ebenfalls den Krieg als einen status auf. Zumindest gebraucht Hobbes noch die entsprechende Terminologie, auch wenn über das mechanistische Weltbild in zentraler Weise Bewegungskategorien in seine Kriegstheorie eindringen. Für Clausewitz ist Krieg dagegen wesentlich Handlung, und zwar extrem beschleunigte Handlung. 4 Das Kriegsmodell, mit dem uns Clausewitz zu Beginn seines Hauptwerkes konfrontiert, ist ein aktivistisches und dynamisches Konzept. 5 Dieser Perspektivenwechsel v o m status belli zum actus belli ist festzuhalten.
So definiert etwa Wilhelm Traugott Krug den Krieg als „einen großen Rechtsstreit (Prozeß) zwischen ganzen Völkern oder Staaten", zitiert nach Stumpf: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, S.736. Auch bei August Rühle von Lilienstern: Apologie des Krieges, S.71 heißt es: „Wie demnach das Wort bellum nach dem Zeugnis der Sprachforscher ursprünglich duellum hieß, so soll jeder wahre Krieg betrachtet werden als ein Völkerzweikampf, als ein großes Ehren· und Gottesgericht, als eine erhabene offene Fehde im ritterlichen Sinne (...)." Zwar ist Krug deutlich weniger emphatisch in seiner Beschreibung der Rolle des Krieges als Lilienstern, doch beiden ist gemeinsam, daß sie von einem Begriff des Krieges als Rechtsstreit ausgehen. Grotius: Vom Recht des Krieges und des Friedens, Erstes Buch, 1. Kap., §11, S.47. Siehe hierzu auch schon Schering: Die Kriegsphilosophie von Carl von Clausewitz, S. 13; sowie Stumpf: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, S.740. Zwar betonen beide Autoren, daß Clausewitz den Krieg als Handlung auffaßt, doch droht dieser wichtige Punkt dann besonders bei Stumpf völlig unterzugehen. Bei einem so exponierten Clausewitz-Interpreten wie Aron spielt der Aspekt des Krieges als Handlung gar keine Rolle. Mit seiner Betonung des Gefechts grenzt Clausewitz sich nicht nur von rechtstheoretischen Kriegskonzeptionen ab, sondern auch und zentral von jenen Kriegs- und Militärtheoretikern seiner Zeit, welche meinten, die Schlacht ganz und gar vermeiden zu können. An erster Stelle ist hier zu nennen Clausewitz' „Lieblingsfeind" Dietrich Heinrich Adam Freiherr von Bülow. In dessen Schrift: Lehrsätze des neuern Krieges oder reine und angewandte Strategie aus dem Geist des neuern Kriegssystems hergeleitet von 1805 heißt es z.B.: „Man vermeide Schlach-
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D I E THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
Der Zweikampf ist nun zu denken als wechselseitiger Austausch physischer Gewalt. Als solcher ist er auf doppelte Weise „elementar" für den Krieg. Zum einen stellt er dessen kleinsten Baustein dar, der zusammen mit anderen Akten seiner Art das Ganze des Krieges ausmacht. Zum zweiten kann er als Bild für die Ganzheit des Krieges stehen, der nach Clausewitz nichts anderes ist als ein quantitativ erweiterter Zweikampf. Clausewitz verfolgt hier die Strategie, im Teil das Ganze aufzuspüren, ein Verfahren, das er zuvor auch ausdrücklich angekündigt hatte: „Aber e s ist hier mehr als irgendwo nötig, mit einem Blick auf das W e s e n des Ganzen anzufangen, weil hier mehr als irgendwo mit dem Teile auch zugleich immer das Ganze gedacht werden muß." (VK I, 1 , S . 191 ) 6
Wollen wir das „Wesen" des Krieges verstehen, so ist es nach Clausewitz erforderlich, sich zwei individuelle Kämpfer vorzustellen, die uns plastisch im Bild der beiden Ringer vor Augen geführt werden. Das Beispiel des Ringkampfes wird in der Forschungsliteratur meistens nur oberflächlich behandelt, ist aber m. E. äußerst genau gewählt und aufschlußreich. Es verdeutlicht u. a., daß die Waffe im Sinne eines äußeren Instrumentes für den Kampf und damit für den Krieg im Prinzip unwesentlich ist. Kampf ist seinem Verlauf nach ein gegenseitiges Kräftemessen, wobei es auf die Art der angewendeten Mittel nicht ankommt. Aus dem Begriff des Krieges sollen also offensichtlich nicht nur Rechtskategorien, sondern auch technische Faktoren ausgegrenzt werden (vgl. auch VK II, 1, S. 269). Positiv enthält das Bild der Ringer, daß Kampf in einem ganzheitlichen Gebrauch aller verfügbaren Kräfte besteht, die darüber hinaus gleichzeitig zum Einsatz kommen. Es gibt ja im Akt des Ringens weder einen Körperteil der Kämpfenden, der nicht am Kräftemessen beteiligt wird, noch einen sukzessiven Gebrauch der Kräfte. Vielmehr handelt es sich dort um ein geballtes und simultanes Aufeinanderprallen von Stärken. Das unmittelbare Ziel der Kämpfer beim Ringen ist es, den Gegner niederzuwerfen und hierdurch wehrlos zu machen. In diesem Sinne von Niederwerfung bzw. Wehr losmachung will Clausewitz später ausdrücklich und ausschließlich den Ausdruck „Vernichtung" gebrauchen (vgl. VK I, 2, S. 215). Wir können an dieser Stelle also bereits sagen, daß die Kämpfer das Ziel verfolgen, den Gegner zu vernichten. Hierbei ist wichtig, daß somit zwar das Vier-
ten und verlege sich aufs Manövrieren." Zitiert nach Aron: Clausewitz, S . 6 1 2 . Billow haßte sogar das Wort „Schlacht", das er für einen „ungeschlachten Metzgerausdruck" hielt, „den man verbannen sollte". Siehe hierzu Stumpf: Kriegstheorie und K r i e g s g e s c h i c h t e , S . 8 0 3 .
Clause-
witz war in seinen Jugendjahren selbst einmal Anhänger verschiedener Gedanken B i i l o w s g e w e s e n , schrieb aber 1805 eine vernichtende Kritik an dessen „Lehrsätzen". S i e h e C l a u s e w i t z : Bemerkungen über von Bülow. A u c h Georg Venturini lehnte die Schlacht ab. In seinem Lehrbuch der angewandten Taktik schreibt er, man m ü s s e die S c h l a c h t „eher vermeiden als suchen". Dort heißt e s auch: „Eine Schlacht ist das g e w a g t e s t e Mittel unter allen, ( . . . ) um e i n e n K r i e g s z w e c k zu erreichen." Zitiert nach Stumpf: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, S . 8 0 3 . A n a l o g e methodische Vorstellungen in bezug auf die Geschichtsschreibung vertrat auch Claus e w i t z ' Z e i t g e n o s s e und Bekannter W i l h e l m v o n Humboldt. B e i H u m b o l d t heißt es z . B . seiner Schrift Über
die Aufgabe
des Geschichtsschreibers
in
( 1 8 2 1 ) : „Der Geschichtsschreiber,
der dieses N a m e n s würdig ist, m u ß jede Begebenheit als Teil eines Ganzen oder, was d a s s e l b e ist, an jeder die Form der G e s c h i c h t e überhaupt darstellen." Zitiert nach K o s e l l e c k : Historia Magistra Vitae, S . 5 4 .
KRIEG U N D KAMPF: KRIEGSBEGRIFFE BEI CLAUSEWITZ
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nichtungsprinzip in den Begriff des Krieges als Merkmal eingeht, nicht aber die Vorstellung der Tötung. Auch hier erfüllt das Bild der Ringer eine präzise Funktion. Die Niederwerfung, die im Ringkampf ganz dem Wortsinn entsprechend geschieht, ist kein Akt der Tötung und nicht einmal einer Verwundung des Gegners. Sie ist eine Handlung, mittels derer der Gegner in eine Lage versetzt wird, in der er den (Ring-)Kampf nicht mehr fortsetzen kann. Es ist daher unrichtig, wenn etwa Kondylis meint, daß Clausewitz' (reiner) Kriegsbegriff die im Töten kulminierende Gewalt als notwendiges und sogar als entscheidendes Merkmal enthalte. 7 Orientiert man sich am Bild des Ringens, so kommt es allein darauf an, die Widerstandsfähigkeit des Gegners zu brechen, wobei es nicht von Belang ist, durch welche konkreten Schädigungshandlungen dieses erfolgt. Richtig ist zwar, daß Clausewitz wenig später vor der Vorstellung warnt, „es gebe ein künstliches Entwaffnen oder Niederwerfen des Gegners, ohne zuviel Wunden zu verursachen." (VK I, 1, S. 192)
Mit dieser Äußerung befinden wir uns jedoch auf der Ebene des konkreten Falles, der in der Tat meistens Tötung und Verwundung als Wege zur Vernichtung erfordert. Begriffsnotwendig ist dieses jedoch keinesfalls. 8 Nach Clausewitzschen Maßstäben ist es deshalb unrichtig, wenn etwa ein Autor wie van Creveld meint, der Krieg bestehe per definitionem darin, jemanden zu töten und das Blut von Mitmenschen zu vergießen. 9 Wesentlich für den Krieg, so wie Clausewitz ihn am Modell des Ringkampfes entwickelt, ist begrifflich nicht die Tötung des Gegners, wohl aber der Umstand, daß beide Gegner eine schnelle Entscheidung anstreben, was in der Vorstellung des Niederwerfens deutlich vor Augen tritt. Diese ist ein plötzlicher Akt von minimaler zeitlicher Ausdehnung, den Clausewitz an anderer Stelle als einen „Schlag ohne Dauer" charakterisiert (vgl. VK I, 1, S. 197). Des weiteren verfolgen die Kämpfenden mit der Gewalt einen bestimmten Zweck, dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen. Clausewitz führt die Kategorie des Willens ein, um das Worum des Krieges im allerallgemeinsten Sinne zu bestimmen. Offenbar wollte der Kriegstheoretiker hierdurch von vornherein die politisch-soziale Einbettung des Krieges, also das, was mit Gewalt überhaupt erreicht werden soll, in den Kriegsbegriff integrieren. Tatsächlich erlaubt es nur eine solche Einbettung, Krieg von sportlichen Auseinandersetzungen bestimmten Typs zu unterscheiden. Betrachtet man etwa das Ringen als einen rein sportlichen Wettkampf, so erschöpft sich dessen Ziel im Sieg, der hier (idealerweise) durch Niederwerfung erfolgt. Es gibt keine Willensbestrebung, die darauf gerichtet ist, die Niederwerfung wiederum als Mittel zu benutzen, um dem Gegner etwas aufzuzwingen. Man will vielleicht den Sieg gebrauchen, um in der sportlichen Karriereleiter aufzusteigen, doch richtet sich diese Absicht nicht unmittelbar gegen den Gegner. Was beim Sportkampf fehlt, ist ein casus belli, eine Angelegenheit, die den Kampf zu etwas mehr und zu etwas anderem macht als zu einem reinen Kräftemessen, zu einem echten Konflikt zwischen widerstrebenden Interessen,
Siehe Kondylis: Theorie des Krieges, S. 14. Siehe hierzu auch klärend Stumpf: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, S.770. Vgl. ebenfalls Nohn: „Moralische Größen" im Werk „Vom Kriege", S . 4 0 . Vgl. van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S.140. Anders als Kondylis unterstellt van Creveld diesen Standpunkt jedoch nicht Clausewitz.
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D I E THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
die über eine erfolgreiche Gestaltung und Beendigung des Kampfgeschehens hinausreichen.' 0 Streng genommen ist bereits der Gewaltbegriff, den wir grundsätzlich mit Krieg verbinden, nur dann sinnvoll auf ein Kampfgeschehen anwendbar, wenn wir voraussetzen, daß die Kämpfenden einander mit Feindseligkeit entgegentreten, wie immer diese auch genau beschaffen und woraus sie sich auch herleiten mag. Erst mittels dieser Annahme wird es möglich, einen Kampf nicht lediglich als einen Austausch von physischer Kraft zu betrachten, sondern gleichzeitig als eine wechselseitige Gewaltaktion. In diesem Sinne könnte etwa ein gänzlich unbeteiligter Beobachter selbst großer kollektiver Kämpfe, in denen es häufig auch zu Tötungen kommt, durch die Beobachtung allein nicht wirklich wissen, ob es sich hierbei um gewalttätige Auseinandersetzungen handelt. Hierzu bedürfte es einer Deutung, die z. B. auf der Grundlage eines allgemeinen Menschenbildes erfolgen könnte, die sich aber eben nicht aus den Kampfhandlungen als solchen erschließen ließe. Tatsächlich scheinen Gewalt und damit auch Krieg Begriffe zu sein, die sich einer Bestimmung durch reine Beobachtungskriterien entziehen." An dieser Stelle droht die Übertragbarkeit des Ringkampfbildes auf das Kriegsphänomen ins Wanken zu geraten. Die Zweckdimension kann durch dieses Bild z. B. nicht erfaßt werden. Tatsächlich scheint Clausewitz auch kurz nach den eingangs zitierten Bemerkungen das Element des Zwecks wieder aus dem Begriff des (reinen) Krieges eliminieren zu wollen, wenn er schreibt: „Gewalt ( . . . ) ist also das Mittel, dem Feinde unseren Willen aufzudringen, der Zweck. Um diesen Zweck sicher zu erreichen, müssen wir den Feind wehrlos machen, und dies ist dem Begriff nach das eigentliche Ziel der kriegerischen Handlung. Es vertritt den Zweck und verdrängt ihn gewissermaßen als etwas nicht zum Kriege selbst Gehöriges." (VK I, 1, S. 192)
Es sieht ganz so aus, als sei Clausewitz, der am Bild des Ringens festhalten will, hier dazu gezwungen ist, die gerade eingeführte Zweckdimension aus dem Kriegsbegriff wieder zu entfernen. Bei genauerer Hinsicht ist dieses jedoch nicht der Fall. Die Wehrlosmachung des Gegners wird auch hier als Mittel zur Willensdurchsetzung aufgefaßt, und das Ziel soll den Zweck „vertreten", was offensichtlich voraussetzt, daß dieser Zweck weiter existent und auch wesentlich bleibt. Kein Krieg ist politikfrei im Sinne von zwecklos, auch der „reine" Krieg
Gegen eben diesen Clausewitzschen Standpunkt, daß Krieg zwar wesentlich Kampf sei, aber dennoch mehr als Kampf, wendet sich van Creveld, wenn er meint, der Krieg sei gar kein Mittel zu irgendeinem politischen Zweck, sondern ein Phänomen, das seinen Zweck in s i c h selbst trage und daher auf der Ebene von Spiel und Sport anzusiedeln sei. Vgl. van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S. 243; S . 2 4 5 ; S . 2 5 2 ; S . 2 7 9 . Selbstverständlich gilt die Unmöglichkeit der unmittelbaren Reduktion auf empirische Beobachtungssätze auch für viele andere Begriffe, und zwar gerade auch für den Begriff der Kraft, den wir bisher schon häufiger bei der Rekonstruktion des Clausewitzschen Textes benutzt haben (obwohl Clausewitz selbst ihn nicht gebraucht). Der Kraftbegriff wie z . B . auch derjenige der Masse hat in der klassischen Mechanik den Status eines theoretischen Konstruktes. Er kann nicht mittels Observablen eingeführt werden, sondern erhält vielmehr eine empirische Bedeutung erst durch eine erfahrungsmäßige Gesamtinterpretation des axiomatischen Systems, in dem er vorkommt. Vgl. zu diesem Thema Hempel: Grundzüge der Begriffsbildung, S.35ff.
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nicht. Kriege dieser Art existieren nicht einmal als Fiktionen. Es ist in diesem Zusammenhang nicht unwichtig zu erwähnen, daß der Ausdruck „reiner Krieg" bei Clausewitz deutlich weniger häufig vorkommt als die Formulierung „reiner Begriff des Krieges". Beide Ausdrücke unterscheiden sich semantisch durchaus. Die Wendung „reiner Krieg" suggeriert, es könne politikfreie Kriege geben, was in der Tat nach Clausewitz unmöglich ist. Wohl aber ist es möglich, und hier ist der Terminus „reiner Begriff des Krieges" angemessener, eine theoretische Perspektive auf Krieg zu entwickeln, welche die politische Dimension gezielt ausblendet und sich auf den Krieg als Kampfhandlung konzentriert, ohne dabei allerdings die Relevanz der Zweckebene zu leugnen. Theorieverfahren dieses Typs sind keineswegs unüblich, wie eine kleine sprachtheoretische Analogie verdeutlichen mag. Es ist sicher richtig, daß der (primäre) Zweck einer normalen Sprache darin besteht, daß Menschen sich in ihr und mit ihr verständigen. Mit sehr guten Gründen kann man aber auch die Auffassung vertreten, daß eine Sprache eine gewisse Eigengesetzlichkeit aufweist, die überaus häufig nicht mit der Art und Weise harmoniert, in der Sprecher die Sprache zu Kommunikationszwecken benutzen. Beispiele hierfür ließen sich häufen. Man kann nun sein Interesse darauf richten, die erwähnte Eigengesetzlichkeit der Sprache so klar wie möglich theoretisch herauszufiltem. Niemand, der ein solches Projekt verfolgt, würde sich auf die Behauptung verpflichten, der Verständigungszweck von Sprache sei nebensächlich oder etwa gar nicht existent. Im Gegenteil, ein Programm dieses Typs könnte von der Absicht geleitet sein, eine Art idealisierte Umgangssprache zu konstruieren, deren Befolgung die Kommunikation unter Sprachbenutzern dann gerade wesentlich erleichtern würde. Vergegenwärtigen wir uns in diesem Zusammenhang auch, daß aus der kampftheoretischen Perspektive das Kriegsziel der Niederwerfung nur deshalb den politischen Zweck zu verschlingen scheint, weil vorausgesetzt wird, daß jener Zweck durch die Niederwerfung gerade so sicher wie möglich erreicht werden soll. Wenden wir uns dem Zweck der Willensdurchsetzung inhaltlich noch etwas genauer zu. Es ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß die Clausewitzsche Formulierung „den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen" auf den Machtbegriff Max Webers vorweist. 12 Tatsächlich erklärt Weber Macht als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht."13
In diesem Weberschen Sinn läßt sich der Zweck der Kriegführenden bei Clausewitz als Macht kennzeichnen und ihre entsprechende Absicht als Machtstreben. Clausewitz selbst gebraucht allerdings die Machtterminologie nicht, sondern er erklärt das Bestreben der Willensdurchset-
13
Siehe hierzu Herberg-Rothe: Das Rätsel Clausewitz, S. 56. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, daß Clausewitz mit solchen Antizipationen von Weberschen Kategorien zu seiner Zeit nicht allein stand. So heißt es etwa im Lehrbuch der angewandten Taktik oder eigentlichen Kriegswissenschaft des Kriegstheoretikers Georg Wilhelm Freiherr von Valentini: „Der Krieg ist aber der Streit zweyer Völker, in welchem sie ( . . . ) einander zur Befolgung ihres Willens mit Gewalt zwingen, oder sich gegen diesen Zwang zu sichern suchen." Zitiert nach Stumpf: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, S.739. - Zu den oft verblüffenden sachlichen und terminologischen Parallelen zwischen Clausewitz und Weber vgl. auch Hetzler: „Bewegung im erschwerenden Mittel" und Ahrweiler: Clausewitz als Repräsentant des wissenschaftlichen Weltverhältnisses der beginnenden Moderne. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S . 2 8 .
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zung als feindselige Absicht, welche seiner Meinung nach für jeden Krieg charakteristisch ist (vgl. VK I, 1, S. 193). Die unterschiedliche Ausdrucksweise und die zeitliche Differenz zwischen den beiden Autoren sollen uns jedoch nicht daran hindern, sachlich ähnliche Dinge unter denselben Begriff zu subsumieren. Der machttheoretische Zugriff kann in gewisser Weise als eine Art Substitut für den zurückgewiesenen rechtlichen Ansatz betrachtet werden. An die Stelle der Vorstellung einer Konfrontation zweier gegensätzlicher Rechtsstandpunkte tritt das Konzept des Aufeinanderprallens gegensätzlicher Willensbestrebungen. Beide Ansatzweisen haben miteinander gemein, daß sie sich auf eine Dimension beziehen, die sich einer rein empirischen Analyse von Kampfgeschehnissen entzieht. Durch eine Beschreibung von Kampfaktionen als solchen können wir eine Menge herausfinden, aber weder erhalten wir dadurch eine Antwort auf die Frage, wodurch die Kämpfenden ihre Handlungen als legitimiert ansehen noch darauf, welche längerfristigen Absichten sie mit ihnen verfolgen. Sowohl Recht als auch Macht sind wesentlich abstraktere Kategorien als etwa diejenige der Niederwerfung eines Gegners. Anscheinend brauchen wir jedoch solche Abstrakta, um die Ereignisse, die wir als „Krieg" klassifizieren, angemessen begreifen zu können. Die rechtstheoretische und die machttheoretische Analyse unterscheiden sich auf folgende Weise voneinander: Erstere geht von einem normativen Fundament aus, aus dem dann der Zweck der Kampfhandlungen abgeleitet wird. Innerhalb des machttheoretischen Modells steht dagegen allein der Zweck im Mittelpunkt des Interesses, der hier nicht als eine abgeleitete Größe erscheint, sondern als etwas Eigenständiges. So ist für Weber Macht eine Chance, bei der es nicht darauf ankommt, woher sie stammt, sondern worauf sie gerichtet ist: auf die Durchsetzung des eigenen Willens. Macht wird primär als eine Möglichkeit zu etwas, nicht als eine Möglichkeit aus etwas bestimmt. Obwohl Clausewitz den Ausdruck „Macht" nicht gebraucht und daher auch keine Bestimmung des Machtbegriffs intendierte, denkt er in seiner Kriegsanalyse der Sache nach ähnlich, wenn er den Zweck der Willensaufzwingung ins Zentrum rückt und die Herleitung dieses Zwecks bzw. der entsprechenden Absicht ausblendet. Macht wird auf diese Weise wesentlich zu einem Zukunfts- und Handlungsbegriff, kann doch Macht nicht getrennt von zukünftigen Handlungen bestimmten Typs verstanden werden, in denen sie sich manifestiert. Es gibt keine Macht ohne die (reale) Möglichkeit zu ihrer Verwirklichung durch Handlung. Mit dem Rechtsbegriff verhält es sich unmittelbar anders, wie sich u. a. daran zeigt, daß häufig von Rechten ausgegangen wird, die solche sind und bleiben, auch wenn sie faktisch nicht realisiert sind. 14 Zwar kann man diesen Standpunkt bestreiten und eine Rechtsauffassung vertreten, die Recht und Rechtsdurchsetzung aneinander koppelt, doch ist dies anscheinend nur um den Preis möglich, daß man seine Rechtstheorie durch machttheoretische Betrachtungen ergänzt. Macht jedenfalls läßtsich nicht einmal im Prinzip unabhängig von Durchsetzung denken. Dieses gilt auch dann, wenn Macht, wie bei Weber, als eine Chance expliziert wird, denn diese Chance wird dann ausdrücklich als ein Handlungspotential aufgefaßt. Fügen wir nun auf der Grundlage der vorhergehenden Untersuchungen diejenigen Merkmale zusammen, die Clausewitz als wesentlich für den Krieg anzusehen scheint:
D i e Annahme von Menschenrechten ist hierfür ein paradigmatisches Beispiel, geht man doch davon aus, daß diese auch dort Rechte sind, wo sie nicht einmal näherungsweise verwirklicht werden.
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
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Handlungscharakter („Akt"); kollektiver Charakter („erweiterter Zweikampf'); Wechselseitigkeit („jeder sucht den anderen..."); Zweck: Durchsetzung des eigenen Willens (Macht im Weberschen Sinn); Mittel: physische Gewalt; Ziel: Niederwerfung des Gegners (Vernichtung/Wehrlosmachung); Anwendung aller verfügbaren Gewaltmittel ; simultaner Einsatz aller Gewaltmittel; ununterbrochener Einsatz von Gewalt.
Zwar werden nicht alle dieser Charakteristika von Clausewitz in der anfangs zitierten Passage explizit erwähnt, aber sie ergeben sich zwangsläufig aus dem Bild der beiden Ringer und gehen außerdem aus den sich unmittelbar anschließenden Erörterungen des Autors über die drei Wechselwirkungen zum Äußersten hervor (vgl. VK I, 1, S. 194 ff.). Die ersten drei Merkmale beziehen sich auf den Krieg als soziales Phänomen, die drei folgenden auf dessen rationale Einbettung und die drei letzten auf seine physisch-instrumentelle Gestaltung. Durch die Betonung des Handlungscharakters soll, wie bereits gezeigt, jeder Kriegsbegriff ausgeschlossen werden, nach dem der Krieg eine Art Zustand ist. So wäre z. B. eine Formulierung wie „Kalter Krieg" nach Hobbes durchaus sinnvoll, aber nicht nach Clausewitz. Wir werden zwar noch sehen, daß auch Clausewitz die Drohung mit Gewalt selbst als eine Form von Gewalt auffaßt, aber diese Drohung wird von ihm eben als ein actus begriffen. Selbst Kriege, die sich einem zermürbenden (Dauer-)Zustand sehr stark annähern, verlieren nach Clausewitz ihren Handlungscharakter niemals ganz, auch wenn sie sich vom Typus einer idealen Handlung stark entfernen. Das Merkmal des kollektiven Charakters soll gewährleisten, daß nicht etwa ein Zweikampf im Wortsinne als Krieg verstanden werden kann. Hier unterscheidet sich Clausewitz ζ. Β. von Grotius, dessen Begriff eines bellum privatum es erlaubt, auch bestimmte kämpferische Auseinandersetzungen zwischen zwei Personen als ein bellum zu klassifizieren. 15 Keineswegs aber schließt dieses Kriterium aus, daß beispielsweise auch größere bewaffnete Auseinandersetzungen nicht zwischenstaatlicher Art unter den Kriegsbegriff subsumiert werden. Ebensowenig erfüllt eines der anderen Merkmale eine solche Ausschlußfunktion. Der Clausewitzsche Kriegsbegriff läßt also Raum für solche Konflikte, die wir häufig mittels des Ausdrucks „Bürgerkrieg" klassifizieren. Es ist unbedingt davon auszugehen, daß Clausewitz diese Offenheit bewußt intendiert hat. Sie liegt schon in der Akzentuierung des Kampfes begründet, die es als unsinnig erscheinen läßt, das Vorhandensein von Krieg an bestimmte politische Subjekte zu binden, wie es die Staaten sind. Dies ist Clausewitz- Kritikern wie van Creveld entgegenzuhalten, die gegen Clausewitz geltend machen, sein Kriegsbegriff sei untrennbar mit der Institution des Staates verknüpft und deshalb heute obsolet. 16 In diesem ZuSiehe hierzu Grotius: V o m Recht des Krieges und des Friedens, Erstes Buch, 3. Kap., § I, S. 8 3 f. Wenn z . B . ein Dieb nachts in mein Haus einbricht, um etwas zu stehlen, und es kommt zu einem Kampf zwischen ihm und mir, so handelt es sich nach Grotius hierbei um einen Krieg. Streng genommen schließt selbst Grotius' Begriff des öffentlichen Krieges gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Einzelpersonen nicht aus. Vgl. Grotius, ebd., Erstes Buch, 3, Kap., § IV, S. 87. Vgl. van Creveld: D i e Zukunft des Krieges, S. 66. Hier heißt es: „Daß man organisierte
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sammenhang ist der Umstand wichtig, daß Clausewitz zu seiner Zeit sehr wohl kriegerische Konflikte nicht oder nicht rein staatlichen Typs vor Augen hatte, deren Verlauf und Motivation ihn stark interessierten, so z. B. den spanischen Volkskrieg gegen Napoleon, bei dem letztlich nur eine Kriegspartei von einer staatlichen Obrigkeit geleitet war. Der spanische Guerillakampf diente dem preußischen Offizier zeitweise sogar als partielles Vorbild für die preußische Seite im Falle einer möglichen Auseinandersetzung zwischen Preußen und Frankreich und hat nicht zuletzt auch Clausewitz' Vorlesungen über den kleinen Krieg theoretisch beeinflußt, die von ihm in den Jahren 1810/11 an der Allgemeinen Kriegsschule zu Berlin gehalten wurden. 17 Zwar war Clausewitz der Auffassung, daß Volkskrieg und kleiner Krieg 18 keine eigenständig sinnvollen Projekte seien, sondern letztlich stets der Unterstützung durch reguläre Armeen bedürften, doch geht es mir an dieser Stelle nur um den Hinweis, daß der
Gewalt nur dann als .Krieg' bezeichnen sollte, wenn sie vom Staat, für den Staat und gegen den Staat ausgetragen wird, war ein für Clausewitz fast selbstverständliches Postulat." Siehe auch van Creveld, ebd., S. 84; S. 186. Siehe hierzu Werner Hahlwegs Vorbemerkung zu diesen Vorlesungen in Clausewitz: Schriften - Aufsätze - Studien - Briefe, Bd. 1, S. 2 0 8 ff. Vgl. zu diesem Thema auch Hahlweg: Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg. Hahlweg zeigt m. E. allerdings eine allzu starke Neigung, Clausewitz' Interesse am Volkskrieg und an der mit ihm verbundenen Taktik des sog. „kleinen Krieges" auf politisch revolutionäre Weise zu deuten. Die Ausdrücke „kleiner Krieg" und „Volkskrieg" sind semantisch zu unterscheiden. Ersterer bezeichnet bei Clausewitz einfach den Krieg mit kleinen Truppeneinheiten (vgl. Vorlesungen über den kleinen Krieg, S. 231). Diese Einheiten können Bestandteile ganz regulärer Armeen sein, und solche hatte Clausewitz in seinen Vorlesungen über den kleinen Krieg auch im Auge. Für eine informative historische Studie zum kleinen Krieg in eben diesem Sinne vgl. Kunisch: Der Kleine Krieg. Nach Hahlweg, der sich hierbei auf Max Jahns beruft, waren Franzosen die Erfinder des Ausdrucks „la petite guerre". Der Terminus „Volkskrieg" ist wesentlich unspezifischer. Offenkundig bezieht er sich auf eine Kriegsform, die von Volkskräften getragen wird. Häufig denkt man dann dabei an Einheiten, die außerhalb von regulären Truppen operieren und sich der Taktik des kleinen Krieges bedienen, weil ihnen andere Mittel in aller Regel nicht zur Verfügung stehen. Man kann unter einem Volkskrieg aber auch einen Krieg verstehen, der bis zu einem bestimmten Ausmaß Volkskräfte in die regulären Streitkräfte integriert oder mit ihnen kombiniert. In diesem Sinn scheint Clausewitz den Ausdruck in Vom Kriege zu verwenden (vgl. Vom Kriege VI, S. 799 ff.). Möglich ist es auch, unter die Rubrik „Volkskrieg" nur solche Kriege zu subsumieren, die von einer oder mehreren Seiten mit Wehrpflichtigenarmeen geführt werden. In diesem letzteren Fall haben die Bedeutungen der Wörter „Volkskrieg" und „kleiner Krieg" gar nichts mehr miteinander zu tun. Der Terminus „Partisanenkrieg" stammt von „Partheygänger" und bezieht sich bei Clausewitz und anderen Militärschriftstellern seiner Zeit, soweit ich sehe, auf den kleinen Krieg unter Benennung von dessen militärischer Trägerschicht. Der Ausdruck „Guerillakrieg" ist keine Clausewitzsche Wendung, bezeichnet und bedeutet aber, wörtlich genommen, genau dasselbe wie „kleiner Krieg", da er aus der Diminutivform des spanischen „la guerra" abgeleitet ist. Wir sind es heute gewohnt, zumindest mit den Ausdrücken „Partisanenkrieg" und „Guerillakrieg" weitgehend Irregularität und auch Illegalität zu verbinden. Beide Verbindungen waren zu Clausewitz' Zeiten keineswegs zwingend. Zum Komplex Partisanen, Guerilla, Volkskrieg vgl. auch Gerhard Schulz: Einleitung zu Schulz (Hrsg.): Partisanen und Volkskrieg, S. 9 ff.
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General aus eigener zeitgeschichtlicher Erfahrung wußte, daß Krieg im Sinne von Kampf nicht nur von der Institution Staat ausgehen kann. 19 Das Element der Wechselseitigkeit ist sehr wichtig, denn es dient im Ergebnis dazu, einen Krieg von einseitigen Gewaltaktionen aller Art zu unterscheiden. Krieg, sofern er (gewaltsamer) Kampf ist, setzt die gegenseitige Zufiigung von Gewalt voraus, wie auch immer diese begründet wird.20 Verhält sich eine Partei lediglich passiv duldend, so kommt es vielleicht zu einem Massenmord, einem Massaker oder anderen Gewalttaten, aber eben nicht zum Kriegsfall. Möglich und sogar wahrscheinlich ist es auch, daß der Angreifer angesichts der Passivität des Angegriffenen seine Gewalt sofort einstellt und auf andere Weise durchsetzt, was er will, doch auch dann haben wir es nicht mit Krieg zu tun. Hier liegt der Grund dafür, daß Clausewitz im sechsten Buch von Vom Kriege, das von der Verteidigung handelt, ausführen kann, daß der eigentliche Krieg erst mit der Verteidigung entsteht (vgl. VK VI, 7, S. 644 f.). Der Angreifer will nicht primär kämpfen, sondern seine Zwecke, wie diese auch beschaffen seien, im Grunde viel lieber auf leichtere Art erreichen. Deshalb kommt es zum Krieg im Sinne von Kampf erst durch die Entschlossenheit zur Verteidigung. Dieses Clausewitzsche Argument ergibt sich konsequent aus einer Konzeption von Krieg, die diesen als Wechselwirkung auffaßt. Im Bild der beiden Ringer tritt diese Wechselbeziehung besonders plastisch und extrem vor Augen, denn hier tut tatsächlich jeder der Kämpfer in spiegelbildlicher Form genau das gleiche wie der Gegner. Durch das Merkmal der physischen Gewalt als Mittel kann das Kriegsphänomen von gewaltlos ausgetragenen Konflikten, wie etwa Rechtsstreitigkeiten, abgegrenzt werden. Dieses Kriterium ist nur scheinbar trivial. Wenn wir sagen, daß einem Menschen Gewalt zugefügt wird, dann gehen wir dabei grundsätzlich davon aus, daß er sich dieser Zufügung nicht freiwillig bzw. aus eigenem Antrieb aussetzt, sondern daß er sie zwangsweise hinnimmt. Aus der Perspektive des Objektes ist die Unfreiwilligkeit bzw. der Zwang ein notwendiges Merkmal des Begriffs einer gewalttätigen Handlung. Tatsächlich ist wohl Gewalt das einzige, was ein Mensch unter keinen Umständen genießen oder sich wünschen kann, sofern sie ihm selbst widerfährt. Menschen mögen sich aus irgendwelchen Gründen nach dem Tod sehnen oder ein Bedürfnis nach Schmerz oder gar nach einer schweren Krankheit verspüren. Die Zufügung von Gewalt können sie sich jedoch buchstäblich nicht wünschen, weil der Begriff der Gewalt den Verstoß gegen alle Wünsche und Vorstellungen des Gewaltopfers schon beinhaltet. Aus diesem Grund ist es auch unangemessen, den Gewaltbegriff auf Sportkämpfe wie etwa das Ringen oder Boxen anzuwenden, weil hier in der Regel die Gegner auf freiwilliger 19
Ganz anders Rousseau: V o m Gesellschaftsvertrag, Erstes Buch, Kap. 4, S. 12 f.: „Der Krieg ist also keine Beziehung von Mensch zu Mensch, sondern eine Beziehung von Staat zu Staat, in der die Einzelnen nur durch Zufall Feinde sind, nicht als Menschen und nicht einmal als Bürger, sondern als Soldaten; nicht als Glieder des Vaterlandes, sondern als seine Verteidiger. Kurz, ein Staat kann in Anbetracht dessen, daß sich zwischen Dingen unterschiedlicher Natur auf die Dauer keine wahre Beziehung herstellen läßt, nur andere Staaten zu Feinden haben und nicht Menschen." Für Vollrath ist diese Wechselseitigkeit ein Merkmal, das grundsätzlich auf alles Handeln zutrifft. Jedes Handeln ist immer auch Gegenhandeln, doch wird dieser Umstand im Alltag fast immer übersehen, während er im Krieg auf denkbar extreme Weise ins Auge fällt. Aus diesem Grund ist nach Vollrath die Clausewitzsche Kriegstheorie eine paradigmatische Handlungstheorie. Siehe Vollrath: Eine mit dem Handeln befreundete Theorie, S. 64.
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Basis gegeneinander kämpfen. Insofern Clausewitz uns den Krieg nicht einfach als Kampf, sondern als gewaltsamen Kampf präsentiert, führt er uns gleichzeitig vor Augen, daß Krieg etwas Furchtbares ist, weil die unmittelbar an ihm Beteiligten stets damit rechnen müssen, Objekt von Gewalt zu werden. In der Tat ist erst der Gewaltfaktor dasjenige Element, das den Krieg als ein Ereignis der extremen menschlichen Krise ins Blickfeld rückt. Das Kriterium des Zwecks der Willensdurchsetzung bringt eine politische Komponente im weitesten Sinn in den Kriegsbegriff hinein. Streng genommen wird der Zweck erst in Kombination mit dem Kriterium des kollektiven Charakters zu einem politischen, da man bei kollektiven Kämpfen größeren Ausmaßes, sollten diese überhaupt kampfexterne Absichten verfolgen, davon ausgehen muß, daß die leitenden Absichten hier nicht (ausschließlich) individueller Art sein können, sondern sich auf eine Gemeinschaft oder einen Verband beziehen. Es ist ausschließlich das Zweckkriterium, was die Anwendung des Ausdrucks „Krieg" auf (kollektive) Kämpfe überhaupt sinnvoll macht. Dieses Merkmal eignet sich dazu, Krieg gegenüber zwei geradezu entgegengesetzten Phänomenen abzugrenzen, zum einen gegen Spiel- oder Sporthandlungen bestimmten Typs, zum anderen gegen Mordaktionen. Handlungen der ersten Art, die schon mittels des Kriteriums der physischen Gewalt vom Krieg ausgeklammert sind, verfolgen nicht eine Absicht, die sowohl jenseits des Kampfgeschehens selbst liegt als auch sich feindselig gegen den konkreten Kampfgegner selbst, aufgefaßt als Repräsentanten eines größeren Verbandes, richtet. Die Mordhandlung, die im übrigen bereits durch das Kriterium der Wechselseitigkeit von der Kriegshandlung unterschieden ist, erfüllt ihren Zweck in der Tötung, denn dieses liegt im Begriff des Mordes. Wohl können mit einem (individuellen oder kollektiven) Mord Zwecke verfolgt werden, die über den Mordakt selbst hinauszielen, doch der Mord als solcher erschöpft sich in der Tötung. Um nach Clausewitz Krieg und Mord zu differenzieren, reicht die Feststellung aus, daß nach der Zweckbedingung das „telos" des Krieges nicht in der Tötung besteht, sondern in der Aufzwingung eines Willens, der ja immer als ein politischer gedacht wird, und hierzu ist die Tötung allenfalls ein Mittel, und nicht einmal ein begrifflich notwendiges. Man kann jedoch weitergehen und argumentieren, daß die Zwecke der Tötung und der Willensaufdringung einander sogar wechselseitig vereiteln können, wie zunächst am Beispiel einer Auseinandersetzung zwischen Einzelpersonen besonders deutlich wird. Will eine Person A einer Person Β ihren Willen aufzwingen, so wird dieser Wille, falls er nicht darin besteht, Β zu töten, durch die Tötung von Β nicht nur nicht erfüllt, sondern geradezu untergraben, weil ein totes Objekt zu nichts gezwungen werden kann. 21 Diese Überlegung läßt sich mit Einschränkungen und Modifikationen auf den kollektiven Fall des Krieges übertragen. Als analog zu der Tötung eines Individuums in einem Konflikt zwischen Einzelpersonen wäre hier die vollständige physische Eliminierung des Gegners anzusehen.
Eine entfernt ähnliche Überlegung findet sich auch bei Hegel: Enzyklopädie der p h i l o s o p h i schen W i s s e n s c h a f t e n , § 4 3 2 , Zusatz, S. 2 2 1 . - Zu e i n e m diesbezüglichen Vergleich zwischen Hegel und Clausewitz siehe Herberg-Rothe: Das Rätsel Clausewitz, S. 1 1 8 ff. — Generell ist bei Vergleichen Clausewitz/Hegel eher Vorsicht angebracht. Für einen in der Forschung fast allgemein als mißlungen angesehenen und fehlerhaften Analogisierungsversuch siehe Creuzinger: Hegels Einfluß auf Clausewitz. - D i e bisher beste und detaillierteste Studie ist diesbezüglich m . E . Herberg-Rothe: Clausewitz und Hegel - Ein heuristischer Vergleich.
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Zu beachten ist, daß auf der Zweckebene bei Clausewitz der Gegner der feindliche politische Verband ist und nicht primär die feindlichen Streitkräfte, die nur als Stellvertreter dieses Verbandes fungieren. 22 An den gegnerischen Verband richtet sich der Anspruch der Willensaufzwingung. Nehmen wir der Einfachheit halber den Fall an, daß es sich bei den Kriegsparteien um Staaten handelt. In der Tat wäre nun die Tötung der Regierungsangehörigen eines solchen Staates buchstäblich unzweckmäßig, denn die Regierung bzw. Obrigkeit ist es ja, die unseren Willen erfüllen soll. Diese Argumentation ist durchaus mehr als ein Sophismus, denn tatsächlich kann Zwang im politischen Sinn nur gegenüber lebendigen Individuen gedacht werden.23 Clausewitz hätte sein Zweckkriterium anders formulieren müssen, wenn er die Tötung der politischen Führungsschicht eines Verbandes in den Bereich sinnvoller Zwecke hätte aufnehmen wollen. Die Absetzung oder Ersetzung einer solchen Schicht kann nach Clausewitzschen Maßstäben sehr wohl ein politisch sinnvolles Unterfangen sein. Deren physische Eliminierung wäre jedoch entweder ein Verbrechen oder vielleicht das Resultat eines Gerichtsprozesses und in beiden Fällen nicht politisch, denn der aufgezwungene Wille ist im ersten Fall krimineller, im zweiten rechtlicher Art. Das nächste Merkmal (6) können wir im Unterschied zum Zweckkriterium als das „Zielkriterium" bezeichnen. Es bezieht sich auf die dem Krieg immanente Absicht, den Gegner niederzuwerfen bzw. zu vernichten, und aus dieser Perspektive erscheinen dann tatsächlich die Streitkräfte und nicht der hinter ihnen stehende politische Verband als der unmittelbare Gegner. Auch auf dieser Ebene geht es nicht primär um die Tötung des Gegners, sondern darum, dessen Kampfkraft so zu schwächen, daß er den Kampf nicht mehr fortsetzen kann. Abgesehen davon, daß wir also auch das Zielkriterium dazu benutzen können, den Krieg von einer Mordaktion abzugrenzen, spielt dieses Merkmal ebenso in anderer Hinsicht eine wichtige Rolle. Es ergänzt nämlich die Auffassung des Krieges als actus im Unterschied zu einem status. Die Zielbedingung beinhaltet, daß im Krieg eine Entscheidung angestrebt wird, und dieses Streben fällt zusammen mit der Absicht, die Kriegshandlung (möglichst schnell) einem definitiven Ende zuzuführen. Tatsächlich scheint es im Begriff einer Handlung zu liegen, daß Handlungen in zeitlicher Hinsicht relativ begrenzt sind, was sich etwa daran zeigt, daß wir den Ausdruck „Dauerhandlung" nicht recht verstehen. Dagegen finden wir den gängigen Ter-
Zu betonen ist hier die Formulierung „auf der Z w e c k e b e n e " . A u f der Ebene des Mittels, also des K a m p f e s , erscheint dann sehr wohl die feindliche Streitkraft als Gegner, und, ganz anders als bei Rousseau, erscheint in dieser Dimension dann durchaus der Krieg als eine Beziehung
von
M e n s c h zu Mensch. Genau deshalb allerdings kann die Ausübung von Zwang extrem schwierig werden, wenn m a n es mit solchen Individuen oder Kollektiven zu tun hat, die den eigenen Tod der Unterwerfung vorziehen. W ä h r e n d der preußischen Befreiungskriege wurde eine Haltung dieses T y p s u. a. von F i c h t e eingefordert. S o heißt es bei diesem: „Nur frei hat das L e b e n W e r t h : ich muß darum, da die Ueberwindung meiner Freiheit mich beraubt, nicht leben, ohne als Sieger. Der T o d ist d e m M a n g e l der Freiheit weit v o r z u z i e h e n . " U n d : „Kein Friede, kein V e r g l e i c h
von
Seiten des Einzelnen zuvörderst. Das, worüber gestritten wird, leidet keine Theilung: die Freiheit ist, o d e r ist nicht. Kein K o m m e n und Bleiben in der Gewalt, v o r allem diesem steht j a der Tod, und wer sterben kann, wer will denn den z w i n g e n ? ( . . . ) Anstrengung aller Kräfte, K a m p f auf Leben und Tod, keinen Frieden ohne vollständigen
Sieg ( . . . ) . Keine S c h o n u n g , weder des
Lebens, noch Eigenthums, keine Rechnung auf künftigen F r i e d e n . " - B e i d e Zitate nach Münkler: „ W e r sterben kann, wer will denn den z w i n g e n " , S. 2 5 7 , S.
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minus „Dauerzustand" keineswegs semantisch absurd. Man könnte ihn eher für redundant halten, denken wir doch im Begriff des Zustandes die Ausdehnung in der Zeit automatisch mit. Auf jeden Fall ist es mit dem Begriffeines status belli vereinbar, daß sich ein Kriegszustand prinzipiell endlos fortsetzt. Es ist in diesem Zusammenhang sinnvoll, sich an Thomas Hobbes zu erinnern, der die Auffassung vertrat, daß ein Krieg, wenn überhaupt, dann nur von außen beendbar ist. So kommt das bellum omnium contra omnes des Naturzustandes nur deshalb zu einem Ende, weil die Naturzustandssubjekte irgendwann zu der Einsicht gelangen, daß sie aus sich heraus zu einer Beendigung nicht in der Lage sind. Deshalb setzen sie einen Souverän ein und schaffen sich mit diesem selbst eine äußere Kraft, die durch ihre Macht befähigt ist, die Menschen von dem Schreckenszustand zu erlösen. Der äußere Krieg zwischen Staaten oder Gemeinwesen ist nach Hobbes grundsätzlich nicht beendbar, weil es die Instanz eines Weltleviathan, die außerhalb und oberhalb der Staaten liegen würde, nicht geben kann. Nach Hobbes ist der Krieg aus sich heraus ewig, und deshalb ist es eine Illusion zu meinen, man könne durch die Niederwerfung eines Gegners einen status belli beenden, kann doch eine solche Handlung höchstens einen einzelnen Akt in einem Dauerdrama darstellen. Der Clausewitzsche Kriegsbegriff beinhaltet das exakte Gegenteil dieser Auffassung, und zwar den Gedanken, daß dem Krieg das Streben nach einer Entscheidung immanent ist und daß eine solche Entscheidung auch herbeigeführt werden kann. Die Hobbessche und die Clausewitzsche Kriegskonzeption sind kraß gegensätzlich hinsichtlich der Rolle, welche die Dimension der Zeit in ihnen spielt. Die Ausdrücke „Dauer" und „Schlag ohne Dauer" können stichwortartig diese Differenz markieren. Wir werden im folgenden Kapitel dieses Teils sehen, wie eng diese Differenz mit unterschiedlichen anthropologischen Grundannahmen zusammenhängt. Während die Kriterien (1) bis (3) sich auf den sozialen Charakter des Krieges beziehen und die Merkmale (4) bis (6) auf die Relation zwischen Zweck, Ziel und Mittel, richten die Bedingungen (7) bis (9) den Blick auf Gestaltung und Verlauf des Kampfaktes. Diese letzteren sind am spezifischsten von allen, weil sie ausschließlich anhand des Ringkampfbildes gewonnen zu sein scheinen, wogegen wir die vorhergehenden Kriterien wohl durchaus auch ohne dieses Bild verstehen könnten, auch wenn es zur Veranschaulichung viel beiträgt. Der ununterbrochene und simultane Einsatz aller verfügbaren Gewaltmittel von beiden Seiten ist jedoch nur dem Bild der Ringer zu entnehmen. Es ist zu bemerken, daß Clausewitz auch hier einen „idealen" Ringkampf im Auge hat. So beschränkt er sich z. B. auf den tatsächlichen Akt des Ringens und spart jene Perioden aus, in denen die Kämpfer umeinander herumlaufen und auf einen günstigen Moment zum Zufassen warten. Auch berücksichtigt er nicht Möglichkeiten von der Art, daß etwa einer der beiden Ringer keine Neigung verspürt, seine äußerste Körperkraft beim Ringen einzusetzen, weil er aus irgendwelchen Gründen den Kampf verlieren will. Das Ringerbild steht, ins Allgemeine gewendet, für den denkbar konzentriertesten wechselseitigen Einsatz von Gewalt. Man kann sich vorstellen, daß ein Krieg, der nach diesem Modell verläuft, sich sozusagen im Zeitraffertempo abspielt und von äußerst begrenzter Dauer ist. Angesichts der soeben aufgelisteten und kommentierten komplexen Merkmalliste wirkt nun die Formulierung, auf die sich Clausewitz dann als seine „Definition" des Krieges bezieht, sehr knapp und unvollständig. Geben wir diese Explikation (E) in nur geringer Modifikation des Wortlautes folgendermaßen wieder: (E) Der Krieg ist ein Akt der Gewalt mit dem Zweck, dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen.
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Signifikanterweise enthält diese Bestimmung sehr viele der aufgezählten Bedingungen nicht. Der Krieg wird in ihr reduziert auf den Modus der Handlung, auf sein spezifisches Mittel, also die (physische) Gewalt, und auf seinen Zweck: die Durchsetzung des jeweils eigenen Willens. Gewalt, Macht und (wechselseitige) Handlung scheinen die einzigen Elemente der Explikation zu sein. Es fehlt die Komponente des Niederwerfungsziels, und insbesondere sind alle Aspekte eliminiert, die ganz speziell aus dem Ringkampf gewonnen sind, die äußerste und ununterbrochene Anwendung der Gewalt und der gleichzeitige Einsatz aller verfügbaren Gewaltmittel. In der einschlägigen Forschungsliteratur geht man offenbar zu einem großen Teil davon aus, daß Clausewitz die Ergänzung der erwähnten Komponenten stillschweigend voraussetzte. Statt dessen möchte ich die (spekulative) These vertreten, daß jene fraglichen Elemente von Clausewitz aus der Bestimmung (E) bewußt entfernt worden sind. Die Kriterien (7) bis (9) machen m. E. das aus, was Clausewitz den „reinen", „absoluten" oder „idealen" Begriff des Krieges nennt. Anders ausgedrückt: Ein Krieg entspricht nur dann dem reinen Modell, wenn er außer den ersten sechs Eigenschaften zusätzlich diese Merkmale aufweist. Wie man mit etwas Überlegung leicht zeigen kann und wie uns Clausewitz selbst demonstriert, erfüllen Kriege der Wirklichkeit diesen Begriff niemals. Es gibt keine realen Kriege und hat (sehr wahrscheinlich) nie welche gegeben, die in einem pausenlosen Kampfgeschehen bestehen, in dem alle Seiten alle ihnen verfügbaren Gewaltmöglichkeiten gleichzeitig nutzen. Der reine Kriegsbegriff ist also empirisch leer. Mit dem Kriterium der Niederwerfung verhält es sich etwas anders. Tatsächlich würde jeder Krieg, der nach dem reinen Modell verliefe, immer auch ein Niederwerfungskrieg sein, doch es gibt auch in der Realität Niederwerfungskriege, also solche, deren Ziel in der gänzlichen Vernichtung des Gegners besteht. Die napoleonischen Kriege werden hierfür häufig als paradigmatische Beispiele herangezogen. Doch längst nicht jeder Krieg verfolgt das Ziel der Vernichtung. Wir haben hier also ein Merkmal, das auf einige, aber nicht auf alle Kriege zutrifft. Die Bedingungen ( 1 ) bis (5) dagegen werden, zumindest nach Clausewitz' eigener Ansicht, durch alle Kriege erfüllt. Genau jene Elemente werden durch die Bestimmung (E) ausgesondert, wenn wir denn das Merkmal des kollektiven Charakters ergänzen. Die Kriegskonzeption, die uns Clausewitz zu Beginn von Vom Kriege präsentiert, ist also doppelbödig und wesentlich „liberaler" als bisher angenommen wurde. Ein sehr spezifischer „reiner" Kriegsbegriff steht neben einer Explikation, die so offen ist, daß sie tatsächlich mit allem übereinstimmt, was Clausewitz über Krieg und Kriege schreiben wird. Eine Art Bindeglied zwischen beiden liegt im Vernichtungsprinzip, das sich in dem sechsten Kriterium niederschlägt.
4.2.2. Der Status des reinen Kriegsbegriffs Wozu aber braucht Clausewitz das reine Modell des Krieges, wenn doch wirkliche Kriege es nicht erfüllen? Welche Funktion kommt dieser Konzeption im Rahmen seiner Kriegstheorie zu? Soweit ich sehe, kennt die Sekundärliteratur drei verschiedene Antworten auf diese Frage: 1.
24
Raymond Aron und andere analogisieren oder identifizieren sogar den reinen Kriegsbegriff mit einem Idealtypus im Weberschen Sinn. 24
Vgl. Raymond Aron: Clausewitz, S. 80. Siehe auch Ahrweiler: Clausewitz, S. 1 0 7 f f .
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2.
3.
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Hans Rothfels ist der Auffassung, der reine Begriff des Krieges sei eine regulative Idee im kantischen Sinn, analog etwa zur Idee der vollkommenen Schönheit in der Kunst. Die wirkliche Kriegführung könne und müsse sogar versuchen, sich dieser Idee anzunähern, obwohl sie niemals vollständig realisiert werden kann. 25 Panajotis Kondylis vertritt den Standpunkt, der reine Kriegsbegriff verkörpere eben keinen außerhalb der Wirklichkeit liegenden Idealtypus, sondern beinhalte gerade den Kern aller wirklichen Kriege, dasjenige, ohne dessen Präsenz kein Krieg denkbar ist. Dieser Kern sei die Anwendung äußerster Gewalt, des Tötens aus Feindschaft. 26
In diesen drei unterschiedlichen Stellungnahmen wird dem reinen Kriegsmodell jeweils ein fiktiver, ein normativer oder ein deskriptiver Charakter zugesprochen. Theoretisch bestehen zwischen den drei Optionen gewiß Kombinationsmöglichkeiten, doch legen die erwähnten Autoren bewußt den Akzent auf eine von ihnen. Jede dieser Positionen wirft gewisse Schwierigkeiten auf und kann, für sich genommen, nicht voll befriedigen. Kondylis' Interpretation beruht sicherlich in einer Hinsicht auf einer Verwirrung. Der Akt des Tötens geht auf keiner Ebene in Clausewitz' Kriegsbegriff ein, weder in das reine Modell noch in die allgemeinere Explikation (E). Die reine Konzeption ist dadurch charakterisiert, daß in ihr ein bestimmtes gewaltimmanentes Ziel gedacht wird, dasjenige der Niederwerfung des Gegners, und vor allem eine spezifische Art des Einsatzes von Gewalt. Zwar verwendet Clausewitz in diesem Zusammenhang den Ausdruck „äußerste Gewalt", doch dieser Terminus wird mißverstanden, wenn man wie Kondylis meint, solche Gewalt müsse im Töten bestehen, da es ja keinen Gewaltakt gebe, der über das Töten hinauskann. Was Clausewitz mit dem „Äußersten" bezeichnet, ist eine beidseitige maximale Anstrengung aller jeweils verfügbaren Kräfie. Auf diese extreme Anspannung zum Ziel der Wehrlosmachung des Gegners kommt es ihm im reinen Kriegsmodell an, nicht auf das Töten. Wäre letzteres der Fall, so würden tatsächlich die meisten Kriege das Prädikat „rein" verdienen, und es bliebe ganz unklar, wieso Clausewitz in aller Regel darauf bestand, daß Kriege der Wirklichkeit sich der abstrakten Konzeption immer nur annähern, diese aber nicht vollständig erfüllen. 27 Nach Rothfels hat der reine Kriegsbegriff (auch) praktische normative Implikationen im Sinne von Forderungen an die reale Kriegführung. Dieser Auffassung widersprechen zunächst jedoch viele Stellen des Clausewitzschen Werkes. So heißt es im ersten Kapitel des ersten Buches über das Verhältnis zwischen dem reinen Modell des Krieges und der Wirklichkeit: „Allein so ist es nicht, und diese Vorstellung ist eine grundfalsche. Der Krieg der wirklichen Welt ist, wie wir gesehen haben, kein solches Äußerstes, was seine Spannung in einer einzigen Entladung löst, sondern er ist das Wirken von Kräften, die nicht v o l l k o m m e n gleichmäßig sich entwickeln, sondern die jetzt hinreichend aufschwellen, um den Widerstand zu überwinden, den die Trägheit und die Friktion ihr entgegenstellen, ein anderes Mal aber zu schwach sind, um eine Wirkung zu äußern; so ist er gewissermaßen ein Pulsieren der Gewaltsamkeit, mehr oder weniger heftig, folglich mehr oder weniger schnell die Span-
25
Siehe Rothfels: Clausewitz, S. 273. Siehe auch Rothfels: Carl von Clausewitz, S. 1 8 2 . Siehe Kondylis: Theorie des Krieges, S. 1 1 ff., S. 14.
"7
Der Clausewitz des ersten Kapitels von Vom Kriege besteht grundsätzlich auf dieser Differenz zwischen Begriff und Wirklichkeit. In den früher verfaßten Teilen des Hauptwerkes gibt es allerdings Stellen, an denen er noch die Kriegführung Napoleons als eine Realisierung des reinen Modells ansieht (vgl. z. B. VK V i l i , 3B, S. 973).
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nungen lösend und die Kräfte erschöpfend; mit anderen Worten: mehr oder weniger schnell ans Ziel führend, immer aber lange genug dauernd, um auch noch in seinem Verlauf Einfluß darauf zu gestatten, damit ihm diese oder jene Richtung gegeben werden könne, kurz, um dem Willen einer leitenden Intelligenz unterworfen zu bleiben." (VK I, 1, S. 209 f.) Ist nun die Vorstellung, die uns der reine Kriegsbegriff vermittelt, eine „grundfalsche", wie Clausewitz hier sagt, so kann man kaum annehmen, daß sie in irgendeiner Weise als Grundlage für praktische Handlungsnormen der Kriegführung dienen kann. In den Nachrichten über Preußen in seiner großen Katastrophe, entstanden um 1823/24, kritisiert Clausewitz das preußische Vorgehen gegen die napoleonischen Truppen bei Jena im Jahre 1806 folgendermaßen: „Der sukzessive Gebrauch der Streitkräfte in einer Schlacht hat sich in der neueren Zeit besonders unter Bonaparte ausgebildet und ist ein an sich so starker Methodus, daß er fast jedesmal über eine aufbrausende Kraftverschwendung den Sieg davonträgt. Aber das ist offenbar etwas ganz anderes, als hier statthatte. (...) Nichts aber ist zu einer solchen sukzessiven Verwendung der Streitkräfte weniger geeignet, wie die damalige preußische Taktik, wo man mit den vollen Massen vorging, alles mit ein paar Bataillonssalven abzumachen glaubte und dann mit dem Bajonett siegen wollte, also alles mit einem Male und in wenig Minuten in den Schlund des Gefechts hineinwarf; da blieb, wenn das zweite Gefecht anfing, von dem ersten kaum noch die Spur einer Wirkung übrig." Hier ist es gerade der sukzessive taktische Gebrauch von Gewaltmitteln, den Clausewitz an Napoleon lobt, und die konzentrierte Kräfteverschwendung, die er den Preußen vorwirft. Das preußische Vorgehen kommt dem im Bild der beiden Ringer komprimierten Gefechtsvorstellung jedoch anscheinend sehr viel näher als das napoleonische. Aus dem reinen Kriegsmodell wird, so sieht es aus, nicht nur keine Handlungsanweisung abgeleitet, sondern das genaue Gegenteil ist der Fall. In Vom Kriege gibt es folgende Beschreibung der damaligen durch die napoleonische Kriegführung geprägten Hauptschlacht: „Was tut man jetzt gewöhnlich in einer großen Schlacht? Man stellt sich in großen Massen neben- und hintereinander geordnet ruhig hin, entwickelt verhältnismäßig nur einen geringen Teil des Ganzen und läßt sich diesen ausringen in einem stundenlangen Feuergefecht, welches durch einzelne kleine Stöße von Sturmschritt, Bajonette und Kavallerieanfall hin und wieder unterbrochen und etwas hin und her geschoben wird. Hat dieser eine Teil sein kriegerisches Feuer auf diese Weise nach und nach ausgeströmt, und es bleiben nichts als die Schlacken übrig, so wird er zurückgezogen und von einem anderen ersetzt. (...) Auf diese Weise brennt die Schlacht mit gemäßigtem Element wie nasses Pulver langsam ab ..." (VK IV, 2, S. 420) Auch in dieser Charakteristik dominiert das Prinzip der relativ langsamen sukzessiven gegenseitigen Abnutzung, das auch auf viele der sog. „Ermattungsschlachten" des Ersten Weltkrieges zutreffen würde. 29 Offensichtlich hat Clausewitz das Bild des konzentrierten simultanen Kräfteeinsatzes, das für das reine Kriegsmodell spezifisch ist, gerade nicht aus der napoleoni-
Clausewitz: Verstreute kleine Schriften, S. 4 3 7 f. Vgl. hierzu Paret: Die Darstellung des Krieges in der Kunst, S. 9 7 .
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sehen Gefechtstaktik abstrahiert.30 Weder an der soeben zitierten noch an anderen Werkstellen gibt es irgendwelche Hinweise darauf, daß Clausewitz die geschilderten Aspekte des reinen Kriegsverlaufes als „regulativ" im Sinne eines Fundamentes für taktische Handlungsnormen auffaßte. Allerdings ist es in diesem Zusammenhang unerläßlich, den Unterschied zwischen taktischer und strategischer Ebene zu beachten. Clausewitz bestimmt die Taktik als „die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht" (VK II, 1, S. 271 )
und die Strategie als „die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges" (VK II, 1, S. 271 )
Das Bild der Ringer, mit dem das reine Kriegskonzept so eng zusammenhängt, ist nun sicherlich ein taktisches, steht es doch für einen einzelnen Zweikampf. Aber man muß sich daran erinnern, daß dieses Bild eben nicht ein Sinnbild für ein einzelnes Gefecht sein soll, sondern die Funktion erfüllt, den ganzen Krieg zu repräsentieren. In bezug auf diese ganzheitliche strategische Dimension des Krieges schreibt Clausewitz an Gneisenau: „Es ist überhaupt gegen die Natur des Krieges seine Kräfte successiv zu brauchen; sein natürliches Prinzip ist die höchste Anstrengung in Raum und Zeit zu konzentriren. Seitdem die Kriege wieder für große d. h. allgewaltige Interessen geführt worden sind, hat er seine konventionelle halb diplomatische Gestalt verlohren, ist zum natürlichen ungebundenen Element geworden, und seitdem sehen wir überall eine beispiellose Kraftanstrengung. Dieß ist eine Steigerung des Krieges, aber nicht eine Steigerung des Kriegs-Uebels, wie man wohl hin und wieder vorgestellt hat. Je heftiger und entscheidender der Krieg ist, um so weniger kann er dauern, um so seltener wird er wieder kehren; wer kann dieses natürliche Gesetz läugnen? Nun ist es aber unstreitig für das Daseyn der Gesellschaft heilsamer und naturgemäßer, daß der Krieg einer einzelnen Handlung gleiche als daß er zum Zustand werde."
Eine Aussage wie diese stünde nun in flachem Widerspruch zu den vorher zitierten Äußerungen von Clausewitz, wenn dort die Rede vom individuellen Gefecht und nicht vom Ganzen des Krieges wäre. Tatsächlich vertrat Clausewitz den Standpunkt, daß der sukzessive Gebrauch von Kräften in einer einzelnen Schlacht unausweichlich und sinnvoll ist. Hinsichtlich der strategischen Ebene sieht es aber anders aus. Hier scheint das reine Kriegsmodell insofern eine normative Orientierungshilfe zu sein, als der Krieg als Ganzes, wo immer es möglich ist, auf eine entscheidende Hauptschlacht ausgerichtet sein sollte, die am Anfang des Krieges steht (vgl. VK III, 13, S. 399). Die Annäherung an das reine Kriegskonzept besteht dann darin, daß mit großer Schnelligkeit und großer Anstrengung ein entscheidender kriegerischer Akt angestrebt wird. Man darf keinen Kraftaufwand scheuen und keine Verzögerung eintreten lassen, um diese Entscheidung zu erzwingen. Innerhalb dieses Hauptaktes ist es dann geboten, die Streitkräfte sukzessiv zu gebrauchen, aber widersinnig ist es, eine Reserve von Streitkräften zurückzuhalten, die gar nicht für die Hauptschlacht vorgesehen sind.
30
Vgl. auch Feldzug von 1812 in Rußland, in: Schriften - Aufsätze - Studien - Briefe, Bd. 2 , 2. Teilband, S. 842. - Feldzug von 1815, in: ebd., S. 1008; S. 1064. Korrespondenz mit Gneisenau, in: Schriften - Aufsätze - Studien - Briefe, Bd. 2, 1. Teilband, S. 3 9 9 .
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Nun ist es klar, daß die Orientierung an einer Hauptschlacht nur dann sinnvoll ist, wenn man die Absicht verfolgt, den Gegner vollständig zu vernichten bzw. niederzuwerfen. Der Gedanke der Hauptschlacht setzt das Vernichtungsprinzip voraus. Wollte Clausewitz also aus seinem reinen Kriegsmodell eine grundsätzliche Empfehlung zur Vernichtung der feindlichen Streitkräfte ableiten? Das Clausewitzsche Werk in seiner Gesamtheit erlaubt keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Es scheint im Denken von Clausewitz eine Entwicklung zu geben, die von einer starken Akzentuierung des Vernichtungsgedankens hin zu einer gleichberechtigten Bewertung ganz gegensätzlicher Kriegsziele zu geben. Für die erste Tendenz können die folgenden Äußerungen stehen: „Die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte ist das Hauptprinzip desselben [des Krieges] und für die ganze Seite des positiven Handelns der Hauptweg zum Ziel." (VK IV, 11, S. 467) „Das Ziel des Krieges sollte nach seinem Begriff stets die Niederwerfung des Gegners sein; dies ist die Grundvorstellung, von der wir ausgehen." (VK VIII, 4, S. 975). Im ersten Kapitel des ersten Buches von Vom Kriege tritt dagegen die Betonung des Vernichtungsprinzips augenscheinlich fast ganz zurück. Clausewitz bemerkt hier, daß selbst in Verhältnissen, die im Prinzip das Ziel der Niederwerfung erlauben würden, es oft unnütz und unangemessen wäre, dieses Ziel wirklich zu verfolgen, und zwar dann, wenn man mit dem Krieg einen relativ geringen politischen Zweck erreichen will: „Gesetzt auch, jenes Äußerste der Anstrengungen wäre ein Absolutes, was leicht gefunden werden könnte, so muß man doch gestehen, daß der menschliche Geist sich dieser logischen Träumerei schwerlich unterordnen würde. Es würde in manchen Fällen ein unnützer Kraftaufwand entstehen, welcher in anderen Grundsätzen der Regierungskunst ein Gegengewicht finden müßte; eine Anstrengung des Willens würde erfordert werden, die mit dem vorgesetzten Zweck nicht im Gleichgewicht stände und also nicht ins Leben gerufen werden könnte, denn der menschliche Wille erhält seine Stärke nie durch logische Spitzfindigkeiten." (VK I, 1, S. 196) In demselben Kapitel erkennt Clausewitz auch ohne ein Wort des normativen Kommentars an, daß die Skala der faktischen Kriege vom Vernichtungskrieg bis zur bloßen bewaffneten Beobachtung reicht (vgl. VK I, 1, S. 201). In den Gedanken zur Abwehr von 1827 werden Niederwerfungskriege ganz ausdrücklich als prinzipiell gleichberechtigt mit anderen Kriegstypen betrachtet: „Nach diesen Entwicklungen brauche ich nicht zu beweisen, daß es Kriege geben kann, wo das Ziel ein noch geringfügigeres ist, eine bloße Drohung, eine bewaffnete Unterhandlung oder, in Fällen von Bündnissen, eine bloße Scheinhandlung. Es wäre ganz unphilosophisch zu behaupten, diese Kriege gingen die Kriegskunst nichts mehr an. Sobald die Kriegskunst sich einmal genötigt sieht, einzuräumen, daß es vernünftigerweise Kriege geben kann, die nicht das Äußerste, das Niederwerfen und Vernichten des Feindes zum Ziele haben, so muß sie auch zu allen möglichen Abstufungen hinuntersteigen, die das Interesse der Politik fordern kann. Die Aufgabe und das Recht der Kriegskunst der Politik gegenüber ist hauptsächlich zu verhüten, daß die Politik Dinge fordere, die gegen die Natur des Krie-
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ges sind, daß sie aus Unkenntnis über die Wirkungen des Instruments, Fehler begeht in 32 dem Gebrauch desselben." Unglücklicherweise stehen selbst in ein und derselben Werkphase scheinbar widersprüchliche Aussagen zum Status des Vernichtungsprinzips bei Clausewitz gegenüber. S o heißt es einerseits im zweiten Kapitel des ersten Buches von Vom Kriege: „Aber dieser Zweck des abstrakten Krieges, dieses letzte Mittel zur Erreichung des politischen Zwecks, in dem sich alle anderen zusammenfinden sollen, das Wehrlosmachen des Gegners, ist in der Wirklichkeit keineswegs allgemein vorhanden, ist nicht die notwendige Bedingung zum Frieden und kann also auf keine Weise in der Theorie als ein Gesetz aufgestellt werden." (VK I, 2, S. 216) „Uns kommt es hier nur darauf an, zu zeigen, daß unter Voraussetzung gewisser Bedingungen andere Wege zum Ziele möglich, kein innerer Widerspruch, kein Absurdum, auch nicht einmal Fehler sind." (VK I, 2, S. 219) Andererseits aber schreibt Clausewitz in demselben Kapitel: „(...) daß also, mit einem Wort, die Vernichtung der feindlichen Streitkraft unter allen Zwecken, die im Kriege verfolgt werden können, immer als der über alles gebietende erscheint." (VK I, 2, S. 229) „Aber wir dürfen nicht unterlassen, schon hier die blutige Entladung der Krise, das Bestreben zur Vernichtung der feindlichen Streitkraft, als den erstgeborenen Sohn des Krieges geltend zu machen. Mag bei kleinen politischen Zwecken, bei schwachen Motiven, geringen Spannungen der Kräfte ein behutsamer Feldherr geschickt alle Wege versuchen, wie er ohne große Krisen und blutige Auflösungen, durch die eigentümlichen Schwächen seines Gegners, im Felde und im Kabinett, sich zum Frieden hinwindet; wir haben kein Recht, ihn darüber zu tadeln, wenn seine Voraussetzungen gehörig motiviert sind und zum Erfolg berechtigen; aber wir müssen doch immer von ihm fordern, daß er sich bewußt bleibe, nur Schleifwege zu gehen, auf denen ihn der Kriegsgott ertappen kann, daß er den Gegner immer im Auge behalten, damit er nicht, wenn dieser zum scharfen Schwerte greift, ihm mit einem Galanteriedegen entgegentrete." (VK I, 2, S. 229/30) Unmittelbar im Anschluß hieran formuliert Clausewitz, daß der Krieg in der Wirklichkeit sich zwar immer mehr oder weniger von seinem „ursprünglich strengen B e g r i f f ' entferne, „aber immer unter jenem strengen Begriff wie unter einem höchsten Gesetz steht (...)." (VK I, 2, S. 230) Offenkundig hielt Clausewitz die letztere Behauptung für genauso wahr w i e die vorherige Aussage, man könne das Vernichtungsprinzip auf keine Weise in die Theorie der Kriegführung als ein allgemeingültiges Gesetz einführen. Versuchen wir, diese scheinbaren Paradoxien auf die folgende Art zu lösen. Tatsächlich leitet (zumindest der späte) Clausewitz aus dem reinen Kriegsbegriff keinen allgemeinen Grundsatz ab, der aussagen würde, daß die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte prinzipiell das Ziel eines jeden Krieges sein müsse. Ob das Kriegsziel der Vernichtung angemessen ist und gewagt werden darf, hängt von vielen Faktoren und immer v o m individuellen Fall ab. Gedanken zur Abwehr, in: Verstreute kleine Schriften, S. 4 9 9 .
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Welchen Zweck auch immer wir jedoch mit dem Krieg verfolgen und welches Ziel wir ihm auch setzen, wir kommen nach Clausewitz um ein Mittel nicht herum: um den Kampf bzw. das Gefecht (vgl. VK I, 2, S. 222). Oberflächlich gesehen hat Clausewitz in diesem Punkt schlicht unrecht. Wie er selbst sagt, gibt es Kriege, die in bloßer „bewaffneter Beobachtung" bestehen, in denen also das Gefecht keine namhafte Rolle spielt. Doch zu den Gefechten zählt Clausewitz auch bloß gedachte Auseinandersetzungen. So gibt es im dritten Buch von Vom Kriege den etwas kryptisch anmutenden Satz: „Mögliche Gefechte sind der Folgen w e g e n als wirkliche zu betrachten." (VK III,
1,
S.351)
Hier ist zunächst der simple Umstand gemeint, daß ein Gegner aus faktischer oder vermeintlicher Schwäche ein angebotenes Gefecht nicht annimmt. Geschieht dieses, so hat die bloße Vorstellung des Gefechts dieselben Wirkungen gehabt wie ein reales. Auch „fiktive" Gewalt ist also wirklich im Sinne von kausal aktiv. Es ist hier allerdings zu erwähnen, daß zwar Clausewitz davon ausgeht, daß die Drohung mit Gewalt selbst Gewalt ist, sich jedoch z. B. von Hobbes dadurch unterscheidet, daß seiner Meinung nach eine solche Drohung, ein angebotenes Gefecht, nicht in der bloßen Rüstung bestehen kann. Damit man nach Clausewitz von einem möglichen Gefecht sprechen kann, muß mehr vorliegen als der Umstand, daß eine oder beide Seiten sich bewaffnen, und zwar ein klares verbales oder andersartiges Kundtun der Absicht, die Waffen in absehbarer Zeit auch praktisch anzuwenden. Die Integration bloß möglicher Gefechte in die Kriegstheorie ist ein wichtiger Punkt, denn er verdeutlicht noch einmal, daß es im Krieg, rein begrifflich gesehen, auf das Töten als solches nicht ankommt, kann doch der Kriegszweck manchmal auch durch die Vorstellung des (unmittelbar bevorstehenden) Gefechts erreicht werden. Clausewitz formuliert diesen Umstand mittels eines ökonomischen Vergleichs: „Die Waffenentscheidung ist für alle großen und kleinen Operationen des Krieges, was die bare Zahlung für den Wechselhandel ist; wie entfernt diese Beziehungen auch sein, wie selten die Realisationen eintreten mögen, ganz können sie niemals fehlen." (VK I, 2, S. 2 2 6 )
Nun ist ein Gefecht immer unmittelbar auf die Vernichtung des Gegners ausgerichtet, unabhängig davon, ob das gesamte Kriegsziel die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte ist oder etwas anderes. Zwar läßt sich ein ganzer Krieg ohne das Ziel der Wehrlosmachung des Feindes denken, ein einzelner Waffengang jedoch nicht. Wer im Gefecht eine geringere Absicht verfolgt als diejenige, den Gegner wehrlos zu machen, setzt sich der dringenden Gefahr aus, selbst wehrlos gemacht zu werden und somit den Kampf zu verlieren. Auf der Makroebene mag es gute Gründe geben, die es erlauben oder gar nahelegen, auf eine globale Vemichtungsstrategie zu verzichten, auf der Mikroebene aber nicht. Wenn nun im Kriege das Gefecht, sei es gedacht oder faktisch, das einzige Mittel ist, das einzige Mittel oder unmittelbare Ziel des Gefechts aber die Vernichtung des Gegners ist, dann regiert das Vernichtungsprinzip das Kriegsgeschehen in der Tat wie ein „höchstes Gesetz". Das Spezifische des Krieges ist dessen Mittel, also das Gefecht bzw. die (wechselseitige kollektive) Gewalt. Ohne diese Gewalt würde der Krieg schlicht mit Politik zusammenfallen. Die Politik kann zwar dem Krieg bestimmte Zwecke setzen, die u. U. die Wirkungskraft des Vernichtungsprinzips hemmen und begrenzen, aber ganz eindämmen kann Politik diese Wirkung nie, wenn sie überhaupt sich des Krieges als Mittel bedient. Insofern ist die Dominanz des Vernichtungsprinzips im
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Kriegsfall etwas Gegebenes und nichts, was man wählen könnte. Selbst einem Krieg, der sich einem status sehr stark annähert, liegt immer noch die Grundvorstellung eines actus zugrunde, oder er hört auf, ein Krieg zu sein. In dieser Hinsicht hat das reine Kriegsmodell tatsächlich deskriptive Funktionen und beschreibt den Kern eines jeden wirklichen Krieges. An einigen Stellen erklärt Clausewitz jedoch eine Verstärkung des Vernichtungsprinzips für generell wünschenswert, und erst auf dieser Ebene erhält das reine Kriegsmodell so etwas wie einen „regulativen" Charakter. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Passus aus dem bereits zitierten Brief an Gneisenau, denn es handelt sich hier um eine der wenigen Stellen, an denen Clausewitz seine kriegstheoretischen Überlegungen in einen im weitesten Sinne „ethischen" Rahmen einbettet. Der General wendet hier die Ausdrücke ,.Natur" und „naturgemäß" sowohl auf den Krieg als auch auf die Gesellschaft an. Wenn er sagt, daß es für die Gesellschaft „naturgemäßer" sei, daß der Krieg nicht zum Zustand werde, so drückt sich hierin nichts anderes aus als der Gedanke, daß ein Zustand der Abwesenheit von Gewalt für eine Gesellschaft der angemessenste ist. Hieraus ergibt sich, daß im Kriegsfall eine Steigerung der Natur des Krieges das adäquateste Verfahren ist, und diese Natur besteht in der Konzentration von Kräften in Raum und Zeit zum Zweck einer schnellen und möglichst dauerhaften Entscheidung. Die Verstärkung des Vernichtungsprinzips wird hier also gerade im Sinne einer Strategie der Begrenzung von Gewalt eingefordert, einer Begrenzung des Krieges im Hinblick auf seine räumliche und zeitliche Ausdehnung und in Hinsicht auf einen möglichst stabilen Frieden. Tatsächlich ist Clausewitz' reines Kriegsmodell, an dem sich seine Bemerkungen an Gneisenau orientieren, bei genauer Betrachtung eben alles andere als das gedankliche Konstrukt einer vollkommenen Entgrenzung von Gewalt, obwohl es in der Literatur häufig so ausgelegt wird. 33 Jenes Modell visiert einen räumlich und zeitlich äußerst begrenzten Krieg an, bei dessen Realisierung sich die dauerhafte Verankerung kriegerischer Prinzipien in einer ganzen Gesellschaft nicht durchsetzen kann. Zwar wird das äußerste Ziel der gänzlichen Niederwerfung der feindlichen Streitkräfte verfolgt, doch bietet gerade diese Strategie die Chance, daß der Krieg nicht nach seinem Ende bald wieder aufflammt, also die Chance eines relativ sicheren Friedens. Insofern fällt eine Steigerung des Krieges eben nach Clausewitz' Ansicht nicht mit einer Steigerung des Kriegsübels zusammen, sondern mit einer Mäßigung desselben. Die politische Voraussetzung dafür, daß es zu einer Steigerung des Krieges kommen kann, die diesen seinem reinen Begriff nahebringt, ist ein umfassender politischer Wille, der dem Krieg solche Zwecke setzt, die mit den Interessen der ganzen Gesellschaft harmonieren und nicht nur mit denjenigen eines kleinen Teiles. Gerade ein in gewissem Sinn gesteigertes Machtstreben, um die Webersche Terminologie zu gebrauchen, kann also zu einer Beschränkung des Kriegsübels führen. Zusammenfassend läßt sich zu diesem Themenkomplex folgendes sagen: Der reine Begriff des Krieges spielt bei Clausewitz nicht die Rolle einer regulativen Idee im kantischen Sinne. Hätte er diese Funktion, dann wäre er eine Norm, deren Realisierung die wirkliche Kriegführung grundsätzlich und immer anzustreben hätte. Dieses ist jedoch nach Clausewitz nicht der Fall. Mit der Dominanz des Vernichtungsprinzips beschreibt Clausewitz zunächst nur ein Charakteristikum, das für jeden, auch den scheinbar „begrenztesten" Krieg spezifisch ist. Insofern ist der Vernichtungsgedanke tatsächlich der „Kern" aller wirklichen Kriege, soweit
So etwa von van Creveld, der Clausewitz generell den Gedanken unterstellt, der Krieg sei ein „Akt zügelloser Gewalt". Vgl. van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S. 7 4 .
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diese im Einzelfall auch davon entfernt sein mögen, sich Vernichtung de facto als Ziel zu setzen. Diese Argumentation gründet sich wesentlich auf die Identifizierung von möglichen mit wirklichen Gefechten und fällt ohne diese in sich zusammen. Neben dieser deskriptiven Komponente stellt sich die Frage, ob und wieweit das Vernichtungsprinzip im Sinne des reinen Kriegsmodells verstärkt werden sollte, und diese Frage kann nur in bezug auf den Einzelfall entschieden werden. Auf einer bestimmten Ebene erfüllt das reine Kriegskonzept allerdings auch normative Funktionen im Sinne praktischer Handlungsnormen. Dort wo es militärisch möglich ist und wo die politischen Zwecke entsprechend groß sind, ist es im Prinzip auch wünschenswert, den Krieg im Sinne einer raschen und konzentrierten Erledigung von Feindschaft voranzutreiben. Hierfür sprechen bei Clausewitz durchaus nicht nur Gründe des militärischen Erfolges, sondern auch solche der Kriegsschadensbegrenzung und der langfristigen Friedenssicherung. Wenden wir uns nun der Frage zu, ob der reine Kriegsbegriff als ein Idealtypus im Sinne Max Webers aufgefaßt werden kann. Weber hat die idealtypische Methode speziell für die Bedürfnisse der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung entwickelt. 34 Idealtypen weisen die folgenden Merkmale auf: -
Sie sind Gedankenmodelle, die durch begriffliche Steigerung bestimmter Aspekte der empirischen Wirklichkeit gewonnen werden; 35 sie sind begriffliche Mittel zur Ordnung und Messung der Wirklichkeit; 36 sie beruhen letztlich auf Wertideen, anhand derer der Forscher entscheidet, welche Elemente der Wirklichkeit wesentlich sind und haben insofern „subjektiven" Charakter. 37
Die so beschaffenen Idealtypen sollen drei unterschiedliche Funktionen erfüllen. Zum einen haben sie die Aufgabe, ein Maximum an begrifflicher Klarheit bereitzustellen. Dieses kann gerade dadurch gewährleistet werden, daß Idealtypen bestimmte Komponenten in ,/einer" Form zusammenfassen, denen im Chaos der empirischen Realität so nichts entspricht. Zum zweiten sollen sie eine komparative Analyse von Erscheinungen der Wirklichkeit ermöglichen, indem sie als eine Art „Lineal" an diese angelegt werden. Sie sind somit das methodische Fundament einer Forschung, die graduelle Entwicklungen berücksichtigen kann und dem starren Entweder-Oder klassifikatorischer Begriffsbildung nicht ausgeliefert ist. Schließlich sind Idealtypen immer auch Ausdrucksmittel subjektiver Voraussetzungen von Forschung, insofern sie in bewußter Einseitigkeit einige Aspekte der Wirklichkeit modellhaft steigern. Deshalb sind grundsätzlich mehrere verschiedene Idealtypen ein und desselben Phänomens denkbar. In der Tat nimmt sich das Clausewitzsche reine Kriegsmodell zumindest in den ersten beiden Hinsichten wie ein Anwendungsfall der idealtypischen Methode aus. Oder andersherum: Der Webersche Methodenansatz ist eine Theorie dessen, was Clausewitz am Beispiel des reinen Kriegsbegriffs praktiziert. Clausewitz gewinnt sein Konzept durch gedankliche Steigerung bestimmter Faktoren der Kriegswirklichkeit, nämlich der Wirksamkeit des Vernichtungsprinzips und, damit zusammenhängend, der Schnelligkeit, Kontinuität und
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Siehe hierzu vor allem Weber: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Vgl. Weber, ebd., S. 7 3 . Vgl. Weber, ebd., S. 83, S. 8 5 . Vgl. Weber, ebd., S. 6 5 .
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D I E THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
Konzentration der Kampfhandlungen. Es entsteht hierdurch ein durchaus präzises begriffliches Instrumentarium, mit dessen Hilfe einzelne Kriege der Realität untereinander mit bezug auf die Frage verglichen werden können, in welchen Hinsichten und wie weit sie sich dem Modellfall annähern. Die reine Kriegskonzeption liefert uns somit ein Ordnungsprinzip, das uns erlaubt, innerhalb der großen Vielfalt der wirklichen Kriege zu differenzieren und uns nicht mit der Banalität „Krieg ist Krieg" zufriedenzugeben. Insofern erfüllt das Clausewitzsche reine Kriegsmodell analoge Funktionen wie Webers Paradebeispiel für einen Idealtypus, der Begriff des freien Marktes. Letzterer Begriff enthält als Merkmale u. a. die Annahmen der freien Konkurrenz und des ausschließlich zweckrationalen Handelns der Individuen. Keine faktische Marktgesellschaft entspricht diesem Modell vollständig, doch von Wirtschaftswissenschaftlern wird es immer wieder als Grenzbegriff benutzt, anhand dessen dann die Modifikationen des Marktes in der ökonomischen Wirklichkeit untersucht werden. Soweit ist der Vergleich von Clausewitz mit Weber durchaus ergiebig. Sowohl der General als auch der Soziologe versuchten, zwei unterschiedlichen Erfordernissen Rechnung zu tragen, die sich verschärft in bezug auf jeden Gegenstandsbereich stellen, der nicht unmittelbar mathematisch-naturwissenschaftlich erschließbar ist. Es gibt für die Theorie zum einen die Notwendigkeit, die Variation von Erscheinungen in der Wirklichkeit zu berücksichtigen, zum anderen die Notwendigkeit des ordnenden Zugriffs auf diese Variation. Clausewitz und Weber haben zur Lösung dieses Doppelproblems Strategien entworfen, die sich teilweise bis in die Terminologie hinein ähnlich sind. Jedoch gibt es zwischen beiden Autoren eine Differenz, die sich auf die dritte der oben aufgezählten Eigenschaften von Weberschen Idealtypen bezieht, also deren zwangsläufige Subjektivität, ihre Fundierung auf durch Wertideen geleitete Forschungsinteressen. 38 Der Neukantianer Weber lehnte ganz im Sinne der kantischen Erkenntnistheorie die Auffassung ab, daß die empirische Welt durch in ihr selbst liegende „objektive" Ordnungsprinzipien gegliedert sei. Für Weber sind es nicht „die sachlichen Zusammenhänge der Dinge", sondern „die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme", die den Wissenschaften zugrunde liegen. 39 Hieraus ergibt sich natürlich auch, daß es nach Webers Meinung keine in den Dingen selbst liegende „essentielle" Eigenschaften gibt, die durch Verstandestätigkeit nur herausgesondert werden müßten. Idealtypen drücken daher keinesfalls Wesenserkenntnisse von Objekten etwa im aristotelischen Sinn aus. Im Unterschied hierzu gibt es kaum Wendungen, die in Vom Kriege und anderen Schriften von Clausewitz so häufig vorkommen wie „Natur der Sache" oder „naturgemäß" etc. Ganz offensichtlich faßte Clausewitz seinen idealen Kriegsbegriff nicht als ein reines Konstrukt des Geistes auf, sondern er beanspruchte, mit ihm das wahre Wesen des Krieges erschlossen zu haben, für das er überdurchschnittlich häufig den Ausdruck „Natur" gebraucht. Clausewitz' Standpunkt ist also durchaus essentialistisch und somit im Grundsatz denselben Einwänden ausgesetzt wie essentialistische Auffassungen im allgemeinen, wie sie z. B. auch mit der traditionellen antiken Idee der physis verbunden sind.
Diese Differenz wird auch von Aron betont. Siehe Aron: Clausewitz, S. 80. Dagegen identifiziert Petra Ahrweiler vorschnell die Clausewitzschen Begriffe mit Weberschen Idealtypen. Siehe Ahrweiler: Clausewitz als Repräsentant des wissenschaftlichen Weltverhältnisses der beginnenden Moderne, S. 1 0 7 . Vgl. Weber: D i e „Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, S . 4 4 .
KRIEG U N D KAMPF: KRIEGSBEGRIFFE BEI CLAUSEWITZ
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Der für unseren Zusammenhang zentralste Einwand lautet: Wie ist es angesichts der Mannigfaltigkeit der äußeren Welt möglich, objektiv wesentliche Eigenschaften von Dingen oder Arten von Dingen herauszulösen? In bezug auf Clausewitz' Anliegen stellt sich diese Frage folgendermaßen: Wie ist es angesichts der historischen Vielfalt von Ereigniskomplexen, die als „Krieg" klassifiziert werden, ohne subjektive Wertentscheidungen möglich, die Natur des Krieges herauszudestillieren? Wir wollen versuchen, den Clausewitzschen reinen Kriegsbegriff gegen diesen Einwand zu verteidigen. Was heißt es denn, sich die Frage nach der Natur eines Dinges oder einer Art von Dingen zu stellen, wobei wir den Ausdruck „Ding" hier so weit fassen wollen, daß darunter auch Prozesse, Handlungen etc. fallen? Es bedeutet, sich zu fragen, wie es sich verhalten und entwickeln würde, wenn es allein seinen inneren Gesetzmäßigkeiten überlassen bliebe, wenn also alle äußeren „Störfaktoren" ausgeschaltet und statt dessen „ideale" Entwicklungsbedingungen gegeben wären. Wie würde sich dieses Objekt sozusagen unter Laborbedingungen verhalten? Offenkundig setzen wir bei dieser Art der Problemstellung bereits einen bestimmten vortheoretischen Begriff des zu untersuchenden Dinges voraus. Wir müssen Entscheidungen darüber treffen, was als „Störfaktor" zu gelten hat und was als „ideale" Bedingung. Wir müssen wissen, was wir im Labor untersuchen wollen. Clausewitz' intuitive Antwort auf die Frage nach dem Gegenstand Krieg ist, daß Krieg in (kollektivem) Kampf besteht, wobei Kampf als ein Akt wechselseitig ausgeübter Gewalt aufgefaßt wird. Diese Antwort ist aus der Erfahrung gezogen, allerdings sicher nicht aus einer Erfahrung, die sich unmittelbar auf die Dinge selbst bezieht, sondern aus einer semantisch vermittelten. Clausewitz gewinnt sie aus der Beobachtung, daß in allen Prozessen, die unter den Kriegsbegriff subsumiert werden, der Kampf zumindest der Idee nach eine nicht wegzudenkende Rolle spielt. Dieses gilt selbst für rechtstheoretische Konzeptionen wie die grotianische, in der zwar der Schwerpunkt vom Kampf selbst hin auf den Zustand (status) der Kämpfenden verlagert wird, wohl aber der Bezug auf die wechselseitige Gewalt erhalten bleibt. Nun betont Clausewitz ebenso, daß die Gewalt immer Mittel zum Zweck ist, ein Gedanke, der sich am deutlichsten in der berühmten Clausewitz-Formel vom „Krieg als der Fortsetzung der Politik mit Einmischung anderer Mittel" dokumentiert. Auch die Ebene des politischen Zwecks kann aus dem Krieg weder faktisch noch begrifflich eliminiert werden. Wie gezeigt, wäre selbst ein Krieg, der das reine Modell vollständig erfüllen würde, ein politisches Phänomen. Der Ausdruck „reiner Kriegsbegriff' steht somit nicht für den Begriff eines politikfreien Krieges, dem keine gewaltexternen Zwecke gesetzt sind. Er steht vielmehr für eine Perspektive, die sich auf die Analyse der Gesetzmäßigkeiten des Mittels, des gewaltsamen Kampfes, richtet. Doch obwohl nach Clausewitz kein politikunabhängiger Krieg gedacht werden kann, spricht der General dennoch davon, daß die Gewalt im Sinne von Kampf das „ursprüngliche" oder das „natürliche Element" des Krieges ausmacht. Offensichtlich versucht er, mit dem reinen Kriegsbegriff den Krieg über dessen Mittel, die Gewalt, und nicht über dessen Zweck zu begreifen. Hierfür gibt es bei näherer Hinsicht gute Gründe. Es existieren kaum Zwecke, die von kriegführenden Parteien in der Geschichte nicht verfolgt oder propagiert worden wären: Aneignung fremden Territoriums, Unabhängigkeit von Fremdherrschaft, Freiheit, Gerechtigkeit, Glück, rechter Glaube etc. Keiner dieser Zwecke könnte nicht zumindest im Prinzip auch gewaltlos bzw. „friedlich" angestrebt werden. Wollen wir also das Spezifische des Krieges über dessen Zweckdimension auffassen, so scheitert dieses daran, daß wir letztlich über keine Kriterien mehr verfügen, die
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es uns erlauben, Krieg von Politik überhaupt zu unterscheiden. Nun ist zwar nach Clausewitz der Krieg eine Fortsetzung von Politik, doch die Umkehrung dieser Aussage gilt nicht. Wir müssen uns also zwangsläufig am Mittel des gewaltsamen Kampfes orientieren, wenn wir etwas über die Natur des Krieges herausfinden wollen. Die Frage lautet demnach: Wie würde ein solcher Kampf unter idealen Entwicklungsbedingungen ablaufen? Wir schlagen die folgenden Kriterien vor: 1.
Den Kämpfern müssen Zwecke gesetzt sein, die für sie lebenswichtig sind oder die sie wenigstens für lebenswichtig halten. Nur unter dieser Bedingung kann man annehmen, daß auch die Austragung des Kampfes selbst mit denkbar größter Intensität vor sich gehen wird. Wir gehen also nicht davon aus, daß eine gewaltexteme Zwecksetzung zu den „Störfaktoren" bei der Entwicklung eines Kampfes gehört, sondern setzen im Gegenteil die Existenz besonders großer und zentraler Interessen voraus. Die Grundhypothese ist hierbei: Je größer die Zwecke sind, desto perfekter wird auch das Mittel gebraucht werden.
2.
Ausgeschaltet aus dem Kampfgeschehen sind alle Faktoren, die Clausewitz mittels des Terminus „Friktion" klassifiziert,40 also solche Ereignisse, die eine oder beide Parteien davon abhalten können, ihre Zwecke und internen Kampfziele so zu verfolgen, wie sie es wollen oder planen. Hierzu kann z. B. ein plötzlicher Regenschauer gehören, eine Fehlinformation über die Absichten des Gegners etc. Ganz im Unterschied zur Politik müssen Friktionen selbstverständlich eliminiert sein, wenn es zu einem Krieg kommen soll, der dem Clausewitzschen reinen Modell vollständig entspricht.
3.
Schließlich setzen wir voraus, daß die Gegner von ungefähr gleicher Anfangsstärke sind. Diese Bedingung liegt z. B. auch allen Einteilungen sportlicher Wettkämpfe in Leistungsgruppen zugrunde. Man geht offenkundig davon aus, daß Sport sich nur dann adäquat entfalten kann, wenn nicht ein Gegner bedeutend schwächer ist als der andere.
Gehen wir zunächst wieder wie Clausewitz selbst vom Bild der beiden Ringer aus, das natürlich immer wieder auf den kollektiven Fall des Krieges übertragen werden muß. Unter den gegebenen Bedingungen wird keiner der beiden Kämpfer den Ring mit dem ernsthaften Wunsch betreten, der Kampf möge möglichst lange dauern. Vielmehr wird jeder das Interesse haben, ihn möglichst schnell für sich zu entscheiden. Dieses gilt natürlich nur unter der Modellbedingung, daß beide Gegner anfänglich ungefähr gleich stark sind. Ist einer bedeutend schwächer als der andere, so wird er eher ein Interesse an Verzögerung haben, um Zeit zu gewinnen, doch bei gleichen Kräften ist dies mehr als unwahrscheinlich. Genauso verhält es sich im Kriegsfall. Keine Kriegspartei hat ein natürliches Interesse an einem langen Kriegsverlauf. W o dennoch ein solches Bestreben nach Verlängerung vorliegt, handelt es sich immer um ein Sekundärinteresse, eine Verfolgung der zweitbesten Lösung. Hiermit hängt die Kontinuität der Kriegshandlungen eng zusammen. Wer eine schnelle Entscheidung herbeizwingen will, der wird sowohl im Ringkampf als auch im Krieg versuchen, so ununterbrochen wie möglich aktiv zu sein. Was die Anwendung aller Gewaltmittel bzw. Kräfte angeht, so müssen die beiden Ringer sich entsprechend verhalten, da beide zu Beginn gleich stark sind. Analog würden die Dinge im Kriegsfall liegen. Sicher gibt es viele Sachverhalte, die von ununterbrochener und vor allem von umfassender Gewaltanwendung abhalten können, 40
Siehe hierzu das folgende Kapitel dieses Teils.
KRIEG U N D KAMPF: KRIEGSBEGRIFFE BEI CLAUSEWITZ
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etwa eine politische Entscheidung, doch setzen wir hier voraus, daß die Politik nicht so beschaffen ist. Statt dessen haben wir eine Politik im Auge, die aufgrund der großen Interessen, die auf dem Spiele stehen, stets zum Äußersten drängt. Warum aber gehört das Ziel der Niederwerfung zur Natur des Krieges? Ungefähr gleiche Kräfteverhältnisse vorausgesetzt, muß jeder Gegner dieses Ziel verfolgen, weil er ansonsten damit rechnen muß, selbst niedergeworfen zu werden. Es ist möglich, daß für einen der Punkt kommt, an dem er am Ziel der Niederwerfung nicht mehr festhalten kann, weil er aus gewaltintemen Gründen dazu nicht mehr in der Lage ist. Jedenfalls ist es undenkbar, daß das Niederwerfungsziel aus Gründen aufgegeben wird, die nicht aus der Gewalt selbst hervorgehen, also nicht daraus, daß die Gewalt des Gegners einen bereits sehr geschwächt hat. Insgesamt gesehen scheint es mir sehr plausibel zu sein, daß Clausewitz' reines Kriegsmodell den Krieg tatsächlich so darstellt, wie er sein würde, wenn die „Modellbedingungen" gelten würden. In bezug auf die Wirklichkeit bleibt diese Konzeption als Ganzes eine Fiktion, wenn auch eine, die immer im Hintergrund auch des noch so „begrenzten Krieges" schwebt. Unter einer Bedingung jedoch kann sich ein Krieg dem Modell relativ stark annähern, und zwar dann, wenn die Politik ihm Zwecke setzt, die aus sich heraus geeignet sind, die gewaltinternen Faktoren zur möglichst vollen Geltung zu bringen.
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DIE THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
4.3. Krieg, Friktion und moralische Größen Dieses Kapitel wird sich mit den Gründen für die Kluft zwischen Theorie und Praxis des Krieges befassen, aber auch mit den Kompetenzen, die Menschen nach Clausewitz haben, um mit dieser Kluft zu leben und diese sogar zu verringern. In einem ersten Abschnitt weide ich herausarbeiten, inwiefern mit Clausewitz' Friktionsbegriff eine anthropologische Theorie über menschliche Schwäche und Größe verbunden ist, die schließlich mit einer Theorie des Handelns im Kriege oder allgemeiner: des Handelns in Krisensituationen zusammenfällt. Zweitens wird ein Vergleich mit Machiavelli viele Gemeinsamkeiten bezüglich des Themas moralische Größen ergeben, aber auch zeigen, in wie ausgeprägter Weise Clausewitz individuelle und innerseelische Faktoren berücksichtigt, ebenso, wie „weltimmanent" Clausewitz im Unterschied selbst zu dem „Machttheoretiker" Machiavelli denkt. In einem dritten Komplex werden die moralischen Größen im einzelnen detailliert untersucht.
4.3.1. Clausewitz' Theorie der Friktion als eine Theorie menschlicher Schwäche und Größe Wenden wir uns nun den Gründen für die Kluft zwischen reinem Krieg und wirklichen Kriegen zu. Zu nennen ist hier zunächst der wichtige Clausewitzsche Begriff der Friktion.' Friktion ist nach Clausewitz sowohl der Abstand zwischen reinem Kriegsbegriff und wirklichem Krieg als auch die Differenz zwischen irgendeinem speziellen Kriegsplan und dem, was tatsächlich daraus wird. Friktion ist ein Sammelbegriff für eine bestimmte Gruppe von Faktoren, die sich zwischen Theorie und Wirklichkeit schieben. Clausewitz hebt beständig den enormen Gegensatz zwischen der Einfachheit militärischen Handelns in der Theorie und dessen Schwierigkeiten in der Praxis hervor: „Es ist alles im Kriege sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig. Diese Schwierigkeiten häufen sich und bringen eine Friktion hervor, die sich niemand richtig vorstellt, der den Krieg nicht gesehen hat." (VK I, 7, S. 261) „Diese entsetzliche Friktion, die sich nicht wie in der Mechanik auf wenig Punkte konzentrieren läßt, ist deswegen überall im Kontakt mit dem Zufall und bringt dann Erscheinungen hervor, die sich gar nicht berechnen lassen, eben weil sie zum großen Teil dem Zufall angehören." (VK I, 7, S. 262) „Das Handeln im Kriege ist eine Bewegung im erschwerenden Mittel. Sowenig man imstande ist, im Wasser die natürlichste und einfachste Bewegung, das bloße Gehen, mit Leichtigkeit und Präzision zu tun, sowenig kann man im Kriege mit gewöhnlichen Kräften auch nur die Linie des Mittelmäßigen halten." (VK I, 7, S. 263)
Vgl. zu diesem Thema auch Baumann: Friktion und Chaos. Baumann vertritt eine interessante Interpretation der Clausewitzschen Friktionstheorie in naturwissenschaftlichen Begriffen, die von meiner Deutung vollständig divergiert.
KRIEG, FRIKTION U N D MORALISCHE G R Ö S S E N
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Typische Ursachen für Friktion im Kriege sind z.B. die Gefahr (vgl. VK I, 4, S. 253ff.), die körperliche Anstrengung (vgl. VK I, 5, S. 256ff.) und das Nachrichtensystem (vgl. VK I, 6, S. 258 ff.). Zur Gefahr und zur körperlichen Anstrengung sei nur soviel gesagt, daß kein Kriegsplan im voraus berechnen kann, wie viel Anstrengung und Gefahr Menschen gewachsen sind. Was das Nachrichtensystem betrifft, so ist dieses nach Clausewitz nirgendwo so schlecht wie im Kriege (vgl. VK I, 6, S. 258). 2 Manchmal faßt Clausewitz auch den Zufall 3 als Friktionsfaktor auf (vgl. VK I, 3, S. 234). Zufälle sind z. B. der plötzliche Einbruch von Witterungen wie Nebel, Regen etc. Ein berühmter von Clausewitz nicht erwähnter Zufall war aber z. B. auch der Tod der Zarin Elisabeth im Jahre 1762 während des Siebenjährigen Krieges, der diesem Konflikt eine gänzlich unerwartete Richtung gab. Wie im normalen Leben, so gibt es auch im Krieg zahllose „Zufälle", doch können sie naturgemäß im Kriege gravierendere Auswirkungen haben, so daß der Zufallscharakter dort viel deutlicher zu Tage tritt. 4 Solche scheinbaren Trivialitäten faßt Clausewitz durch die Modalkategorie der Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit. Während im abstrakten Gebiet des reinen Kriegsbegriffs das strenge Gesetz der Notwendigkeit gilt, ist der wirkliche Krieg gebrochen zwischen Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit. Wenn man sich den Krieg der Wirklichkeit vorstellt als „aufgehängt" 5 zwischen den Notwendigkeitsgesetzen, d. h. den ureigensten Gesetzen der Gewalt, und den Möglichkeiten der Friktion, so kommt man vielleicht nahe an die Intention von Clausewitz heran. Es ergibt sich das Bild eines Pendels, das den wirklichen Krieg jeweils zur einen oder zur anderen Seite zieht. Je nachdem, wie groß die Friktionen sind, wird der Krieg zur Seite der Notwendigkeit und Gesetzlichkeit oder zur Seite der Möglichkeit ausschlagen und damit aus der Perspektive der an ihm Beteiligten auch zur Seite des Spiels. Ί
Clausewitz war ein echter Informationsskeptiker. Seiner Ansicht nach waren die meisten Informationen im Krieg, sofem sie denn überhaupt verfügbar waren, entweder falsch oder widersprüchlich. Für eine interessante Studie zum Informationsproblem im militärischen Bereich vgl. Maase: Information als operativer Faktor. Maase liefert hier unter anderem auch einen historischen Überblick über die Entwicklung der Informationstechnik zu Clausewitz' e i g e n e n Lebzeiten.
4
Der Zufall wurde besonders in der Militärgeschichts- und Theorieschreibung des 1 8. Jahrhunderts oft und gern bemüht. Siehe z.B. Archenholtz: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Zu nennen ist hier auch und vor allem der Militärtheoretiker Georg Heinrich von Berenhorst, der in seinen Betrachtungen über die Kriegskunst, über ihre Fortschritte, ihre Widersprüche und ihre Zuverlässigkeit den Krieg insgesamt vom Zufall bestimmt sieht. Folgerichtig lehnt Berenhorst jede Möglichkeit einer „Wissenschaft" v o m Kriege ab. Manchmal erinnern Clausewitz' systemfeindliche Äußerungen an Berenhorst, doch unterscheidet er sich von ihm grundsätzlich in der Annahme, daß eine Theorie des Krieges sehr wohl möglich sei, wenn s i e es denn nur vermeide, ein „System" sein zu wollen. In gewisser Weise nimmt Clausewitz eine Mittelstellung zwischen „Systemfreunden" wie Bülow und „Zufallsfreunden" wie Berenhorst ein. Zur Kategorie des Zufalls in der Geschichte vgl. den aufschlußreichen Aufsatz von Reinhart Koselleck: Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung. Siehe hierzu Jürgen Frese: Clausewitz' Theorie des politischen Handelns, S. 14. Aus diesem Text entnehme ich den Terminus „aufgehängt". Die Abhandlung von Frese zeichnet sich überhaupt dadurch aus, daß sie den Clausewitzschen Modalkategorien eine noch immer in der Literatur nicht erkannte Relevanz zuschreibt.
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DIE THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
Im Begriff der Friktion wird durch Clausewitz ein großer Teil des überlieferten Inhalts von werra transportiert. Während das reine Kriegsmodell an die Wortbedeutung von „duellum" anknüpft und für Gesetzlichkeit, Übersichtlichkeit und Ordnung steht, vermittelt das Konzept des von Friktionen erschütterten wirklichen Krieges das Bild von Unordnung, Chaos, Verwirrung, von plötzlichen Einbrüchen des Unerwarteten in das Geschehen. Nun ist Clausewitz' Theorie der Friktion nicht einfach ein Komplex von Aussagen darüber, daß es im Kriege eben anders kommt als man denkt. Sie ist trotz ihrer mechanistischen Anklänge auch keine Theorie über objektive Kräfte, die störend in den Ablauf eines Uhrwerks eingreifen. Auch und vor allem ist sie eine Theorie der menschlichen Schwäche und dann eine Theorie der moralischen Größen, die jene Schwäche ausgleichen können. Menschliche Schwäche durchzieht den gesamten Krieg von Anfang bis Ende: „Der ganze Krieg setzt menschliche Schwäche voraus, und gegen diese ist er gerichtet." (VK IV, 10, S. 465) „Aber so wild die Natur des Krieges ist, so liegt sie doch an der Kette der menschlichen Schwächen, und der Widerspruch, der sich hier zeigt, daß der Mensch die Gefahr sucht und schafft, die er gleichwohl fürchtet, wird niemand befremden." (VK III, 16, S. 407)
Menschliche Schwäche ist denn auch die eigentliche Ursache für die vielen im Krieg vorkommenden Friktionen. So ruft etwa die körperliche Anstrengung nicht als solche Friktionen hervor, sondern deshalb, weil Menschen oft aus verschiedensten Gründen sich nicht in der Lage sehen, sie auszuschalten. Das Nachrichtensystem im Kriege ist nicht von ungefähr so schlecht, sondern u.a. deswegen, weil viele Menschen schwatzhaft sind und die meisten von ihnen furchtsam, so daß sie die schlechten Nachrichten eher glauben und weitererzählen als die guten (vgl. VK I, 6, S. 259). Auch und vor allem die Gefahr ist keine Größe an sich, sondern nur in bezug auf Menschen, die sie als solche empfinden. Gefahr ist auch und vielleicht sogar ausschließlich ein subjektiver Faktor, der deshalb wirksam ist, weil Menschen Furcht empfinden. Selbst der sogenannte Zufall ist nicht unabhängig von menschlichen Perspektiven und Verhaltensdispositionen.6 Der plötzliche Einbruch von Nebel etwa mag den an einer Schlacht beteiligten Soldaten als ein (glücklicher oder unglücklicher) Zufall erscheinen; aus der Sichtweise eines Meteorologen erscheint er vielleicht als ein voraussagbares Ereignis. Darüber hinaus existiert meistens eine breite Palette von Möglichkeiten, mit „Zufällen" umzugehen; man kann sich beispielsweise passiv ausliefern, aber auch versuchen, ihre negativen Folgen auszugleichen oder sie sogar als Chance zu nutzen. Clausewitz' Theorie der Friktion ist also im Kern eine anthropologische Theorie über die Natur des Menschen und deren Verhältnis zur Natur des Krieges.7 Verantwortlich für die Friktionen ist nicht die in der militärischen Geschichtsschreibung so oft bemühte launische Göttin Fortuna, die über den Ereignissen steht, schon gar nicht eine christliche Providentia dei, aber auch keine letztlich doch berechenbaren kausalen Naturabläufe. Friktionen werden von empfindenden und handelnden Menschen geschaffen.
Siehe hierzu Koselleck: Der Zufall als Motivationsrest, S. 158. Die anthropologische Dimension von Clausewitz' Friktionstheorie wird auch von Kondylis betont. Siehe Kondylis: Theorie des Krieges, S. 50.
KRIEG, FRIKTION U N D MORALISCHE GRÖSSEN
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Das Verhältnis zwischen menschlicher und kriegerischer Natur gestaltet sich nun im einzelnen auf der Grundlage von Clausewitz' Beschreibungen äußerst ambivalent. Einerseits entfernen Menschen den Krieg von seiner reinen Gestalt, weil sie sich vor einem schnellen, alles entscheidenden Gewaltakt fürchten. Die Opfer und Risiken, die mit einer solchen in Raum und Zeit maximal komprimierten und auf Niederwerfung gerichteten Aktion verbunden sind, erscheinen ihnen als zu hoch, die Folgen als zu endgültig. Daher dehnen sie den kriegerischen Akt aus, wodurch Raum für eine unendliche Fülle neuer Friktionen entsteht. Das friktionale Chaos wird geschaffen, das bis zu einem gewissen Grad für jeden wirklichen Krieg charakteristisch ist. Dieses ruft Verwirrung in den Köpfen und Gemütern der beteiligten Personen hervor und ist vor allem geeignet, eine neue Art von Furcht zu bewirken. Bei ihr handelt es sich nicht mehr um die lokalisierbare Furcht vor einer entscheidenden Gewalthandlung, sondern um jene spezifische Angst, die mit Desorientierung verbunden ist. Nichts ist sicher, doch in jedem Moment erscheint vieles als möglich. Das hiermit verbundene Gefühl einer permanenten Unsicherheit ist jener Furcht sehr verwandt, die Hobbes so wirkungsvoll am Modell des Naturzustandes beschrieben hat. Bei Clausewitz ist die Ausbreitung dieser Gefühlsqualität auf jeden Fall ein Gradmesser dafür, wie weit sich der Krieg von seiner ursprünglichen Natur einer Handlung entfernt und sich in einen Zustand (status) verwandelt. Dieser Modifikationsprozeß hat ein Janusgesicht. Einerseits wirkt er begrenzend und ermäßigend auf den Krieg ein, weil der höchste Intensitätsgrad der Gewalt vermieden wird. Andererseits erzeugt er eine Ausdehnung des Gewaltprinzips in Raum und Zeit, die erst jene langfristige Grundempfindung von Ohnmacht und Instabilität hervorruft, der im Paradigma des reinen Kriegsmodells nichts entsprechen kann. Diese Überlegungen zeigen einmal mehr, wie wenig angemessen es ist, den Clausewitzschen reinen Kriegsbegriff einseitig unter den Begriff der Gewallentgrenzung zu fassen und die von ihm abweichenden wirklichen Kriege unter den Begriff der mehr oder weniger großen Gewaltbegrenzung. Diese Alternative ist zu schlicht, weil sie nicht berücksichtigt, daß es unterschiedliche Ebenen von Begrenzung und Entgrenzung gibt. Ambivalent ist nicht nur die Frage zu beantworten, ob der friktionale Charakter des wirklichen Krieges diesen zu einem „entgrenzten" oder „begrenzten" macht. Doppelbödig sind auch Clausewitz' Überlegungen zum Verhältnis Friktion/Mensch. Zum einen hebt Clausewitz deutlichst die lähmenden Ohnmachtsgefühle und die handlungshemmenden Einflüsse hervor, denen Menschen durch Friktionen ausgesetzt sein können. Dieses verbindet ihn mit Hobbes, der in der Schilderung des Naturzustandes ähnliche Elemente akzentuiert, wenn auch keineswegs mittels des Begriffs der Friktion. Andererseits ist das friktionale Reich der mannigfaltigen Möglichkeiten nach Clausewitz für Menschen auch Chance und Herausforderung. So heißt es in Vom Kriege: „Obgleich sich unser Verstand immer zur Klarheit und Gewißheit hingedrängt fühlt, s o fühlt sich doch unser Geist oft von der Ungewißheit angezogen. Statt sich mit dem Verstände auf dem engen Pfade philosophischer Untersuchung und logischer Schlußfolgen durchzuwinden, um, seiner selbst sich kaum bewußt, in Räumen anzukommen, wo er sich fremd fühlt, und wo ihn alle bekannten Gegenstände zu verlassen scheinen, weilt er lieber mit der Einbildungskraft im Reiche der Zufälle und des Glücks. Statt jener dürftigen Notwendigkeit schwelgt er hier im Reichtum von Möglichkeiten; begeistert davon, beflügelt sich der Mut, und so wird Wagen und Gefahr das Element, in welches er sich wirft wie der mutige Schwimmer in den Strom." (VK I, 1, S. 208)
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„(...) dagegen sind Wagen, Vertrauen auf Glück, Kühnheit, Verwegenheit nur Äußerungen des Mutes, und alle diese Richtungen der Seele suchen das Ungefähr, weil es ihr Element ist." (VK I, 1, S. 2 0 8 )
Es gibt in den Menschen also gegensätzliche Tendenzen. Zwar drängt der Verstand zu Klarheit und Gewißheit, aber bestimmte Seelenkräfte fühlen sich gerade vom Ungefähren und Ungewissen angezogen. Der in diesem Zusammenhang vorkommende kantische Begriff der Einbildungskraft kann hier in seinem allerweitesten Sinne ausgelegt werden, wonach er sich auf die menschliche Fähigkeit bezieht, Vorstellungen auch ohne Gegenwart des entsprechenden Objektes zu haben. 8 Man sollte ihn, wie viele kantische Formulierungen, die von Clausewitz verwendet werden, allerdings nicht überstrapazieren. Zu den erwähnten Seelenkräften gehört nun ausgerechnet der Mut bzw. die Kühnheit, eine der nach Clausewitz „edelsten kriegerischen Tugenden" (vgl. VK I, 1, S. 209). Wir haben es mit einer scheinbar paradoxen Situation zu tun: Einerseits schafft menschliche Unzulänglichkeit erst jenes Chaos von Eventualitäten, durch das bis zu einem gewissen Grade jeder wirkliche Krieg gekennzeichnet ist. Andererseits können sich Mut und damit untrennbar verknüpfte Kräfte erst in dieser Atmosphäre der Möglichkeiten entwickeln. Die Kühnheit ist kein Vermögen der berechnenden Klugheit, die auf maximale Sicherheiten abzielt, sondern sie braucht sozusagen ein „flüssiges" Element, um sich darin entfalten und bewähren zu können. Sie ist im Wortsinn auf einen Spiel-Raum angewiesen, auf einen Bereich, in dem naturgemäß das Unberechenbare und mit ihm sowohl Glück wie Unglück zu Hause sind. Durch die Kalkulierbarkeit aller Handlungsresultate würde der Tugend des Mutes geradezu ihr Nährboden entzogen. Mittels der Konstatierung eines engen Zusammenhanges von Spiel und Mut rückt Clausewitz hier das Bild des homo ludens ins Zentrum seiner Kriegstheorie, wobei selbstverständlich zu betonen ist, daß Clausewitz den Krieg nicht auf ein Spiel reduzieren will, wohl aber beabsichtigt, die Relevanz des spielerischen Elementes zu akzentuieren. 9 Der Krieger, sofern er mutig ist, ist auch einem Kartenspieler ähnlich, der einen hohen Einsatz wagt, obwohl er nicht sicher sein kann zu gewinnen. Dennoch ist der Krieg als Ganzes gesehen für Clausewitz kein Spiel. Er ist es schon deshalb nicht, weil er als ein Gewaltakt bestimmt wird, und auch, weil er Zwecke verfolgt, die über ihn selbst hinausreichen. Die Stärke des Clausewitzschen Denkansatzes liegt gerade darin, daß er die Bedeutung der im Krieg vorhandenen Spielelemente klar sichtbar macht, ohne dabei einseitige Reduktionen vorzunehmen. Hierdurch unterscheidet er sich z.B. von der Theorie van Crevelds, in deren Lichte der Krieg einfach als eine besondere Form des Spiels erscheint. 10 Theorien dieser Art sind nicht nur unfähig, den Einfluß politischer Entscheidungen auf das Kriegsgeschehen zu erfassen, sondern sie können vor allem auch nicht den von Menschen tief emp-
Vgl. Eisler: Kant-Lexikon, S. 1 0 5 .
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Siehe zu diesem Thema auch Huizinga: Homo Ludens, bes. 90ff. Huizinga stellt hier einige interessante Überlegungen kulturhistorischer Art zum Zusammenhang von Krieg und Spiel an. Van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S. 319: „Er [der Krieg] hat zu allen Zeiten und an allen Orten die Menschen in seinen Bann geschlagen. Im Grunde läßt sich diese Faszination nur erklären, wenn man den Krieg als das Spiel mit dem höchsten Einsatz überhaupt betrachtet." Van Creveld, ebd., S. 279: „Sofern Krieg vor allem anderen aus dem Kämpfen besteht - mit anderen Worten, einem freiwilligen Umgang mit Gefahr - , ist er nicht die Fortsetzung der Politik, sondern des Sports."
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fundenen Unterschied zwischen Situationen einfangen, in denen die eigene Existenz gar nicht oder nur fiktiv bedroht ist, und solchen, in denen dieses wirklich der Fall ist. Deshalb werden Positionen wie diejenige van Crevelds gerade der Perspektive des kämpfenden Soldaten nicht gerecht. Nichtsdestotrotz kommt auch nach Clausewitz dem Spielfaktor im Krieg eine Rolle zu. Es ist an dieser Stelle lohnend, den Vergleich mit Hobbes etwas weiter zu treiben. Die Vorstellung des homo ludens ist, wenn überhaupt, dann nur mit großen Schwierigkeiten in die Hobbessche Anthropologie integrierbar. Der Hobbesianische Mensch wird so sehr von seinem individuellen Sicherheitsstreben umgetrieben, daß ihm der Gedanke des spielerischen Risikos wesensfremd sein muß. Wo er seiner Sicherheit zuwider handelt, tut er es, weil er sich über seine „wahren" Interessen täuscht. Dementsprechend ist auch Hobbes' Schilderung des Krieges im Naturzustand die Beschreibung des denkbar größten menschlichen Elends. Die Subjekte dieses Zustandes haben sich in eine Lage manövriert, die dem für sie als Menschen spezifischen Sicherheitsbedürfnis diametral zuwiderläuft. Gleichzeitig verfügen sie aus sich heraus über kein Instrumentarium, durch das sie dieser Lage Herr werden könnten. Sie sind vielmehr dem Elend von werra hilflos ausgeliefert. Auch nach Clausewitz weist jeder wirkliche Krieg zahlreiche Elemente des Hobbesschen bellum omnium contra omnes auf. Doch Clausewitz arbeitet mit einem anderen Menschenbild. Es gibt nach Clausewitz in der menschlichen Natur Kräfte, die an Sicherheit orientiert sind, sei es auf der theoretischen Ebene oder im Bereich des praktischen Lebens, aber es existieren auch solche, die in der Atmosphäre der bloßen Möglichkeit gedeihen. Damit besitzen Menschen potentiell auch Kompetenzen, die in Kriegssituationen nutzbar gemacht werden können und dort überhaupt erst zu vollster Geltung gelangen. Chaos und Verwirrung erscheinen daher nicht nur als Faktoren, die auf das Handlungsvermögen der Menschen lähmend einwirken, sondern auch als solche, die geeignet sind, es zu beflügeln. Die durch Friktionen hervorgerufene scheinbare Willkür ist immer auch eine Chance für jene menschlichen Geistes- und Seelenkräfte, die in der philosophischen Tradition häufig mittels der Ausdrücke „andreia", „virtus", „fortitudo" oder eben „Tapferkeit" klassifiziert wurden. Deshalb stellt Clausewitz seiner Theorie der Friktionen eine Theorie moralischer Größen zur Seite, kraft derer Menschen befähigt sind oder sein können, dem Chaos des Krieges die Stirn zu bieten. Bei Hobbes gibt es keine solche Theorie. Zwar verschwindet die Tapferkeit keineswegs aus dem Horizont seines philosophischen Systems, doch in der großen Masse der Menschen ist diese Tugend nach Hobbes weder weitverbreitet noch überhaupt angemessen. Dort, wo sie dennoch eine Rolle spielt, beim staatlichen Souverän und bei den Soldaten, wird ihre Präsenz und ihre genaue Beschaffenheit nicht recht verständlich. Kategorien wie diejenige der Tapferkeit und der kriegerischen Tugend im allgemeinen können keinen klar identifizierbaren Ort im Rahmen einer Anthropologie haben, die in so zentralem Maße auf die Furcht als Motor menschlichen Handelns und Leidens setzt.
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4.3.2. Clausewitz und Machiavelli Während Hobbes die Clausewitzsche Art, über das Verhältnis von Krieg und moralischen Größen zu reflektieren, aus diversen Gründen fremd war, besteht diesbezüglich eine große Verwandtschaft zwischen dem preußischen General und dem Renaissance-Florentiner Machiavelli." Eine in gewisser Hinsicht analoge Rolle spielen der Begriff der Friktion bei Clausewitz einerseits und die Kategorie der Fortuna bei Machiavelli andererseits. Allerdings soll durch das Friktionskonzept hauptsächlich Kriegsgeschehen erfaßt werden, während Machiavelli dem Fortuna-Begriff eine breitere Anwendung auf politische Ereignisse im allgemeinen gibt, dennoch ist vieles übertragbar, zumal Machiavelli in großer Selbstverständlichkeit den Krieg als eine Form von Politik behandelt. In bestimmter Weise ähnlich sind sich des weiteren der Inhalt des Ausdrucks „moralische Größen" bei Clausewitz und die Konnotationen des Machiavellischen Ausdrucks „virtù". Selbstverständlich zeigt ein Vergleich auch gravierende Unterschiede auf, doch können gerade auch die Grenzen der Analogisierbarkeit in diesem Fall sehr aufschlußreich sein. Fortuna steht bei Machiavelli für den Einbruch des Unerwarteten, Plötzlichen, Zufälligen und Unberechenbaren in den Bereich des Politischen. Nach Münkler ist sie als der „Inbegriff der politischen Variablen" zu interpretieren.12 Fortuna ist ein Sammelbegriff für das, was sich dem kalkulierenden menschlichen Verstand weitgehend entzieht. Das Herrschaftsgebiet von Fortuna ist der Bereich der Unsicherheit, der Verwirrung, des Chaos. Von Machiavelli wird Fortuna nicht etwa mit göttlicher Fügung identifiziert, sondern vielmehr mit einem Naturereignis verglichen, z.B. mit einer Überschwemmung : „Ich vergleiche sie mit einem reißenden Strom, der bei Hochwasser das Land überschwemmt, Bäume und Häuser niederreißt, hier Land fortträgt und dort anschwemmt; alles ergreift vor ihm die Flucht, jeder weicht seinem Ungestüm aus, ohne nur den geringsten Widerstand leisten zu können. Obwohl die Dinge so liegen, bleibt doch nichts anderes übrig, als daß die Menschen in ruhigen Zeiten durch den Bau von Deichen und Dämmen Vorkehrungen treffen, und zwar derart, daß die steigenden Fluten entweder durch einen Kanal abgeleitet werden oder ihre Wucht gehemmt wird, damit sie nicht so rasend und verheerend wird."13
Das Bild der Überschwemmung zeigt eine Naturalisierung des Fortuna-Begriffs an oder jedenfalls den Versuch, sich ihm durch einen naturalistischen Zugriff zu nähern. Solche Katastrophen können zwar durch Menschen nicht verhindert werden; wohl aber ist es möglich, ihren Folgen vorzubeugen und diese abzumildern. Fortuna entzieht sich also bei Machiavelli
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Clausewitz hatte Machiavellis Schriften studiert, wie u. a. sein bekannter Brief an Fichte aus dem Jahre 1809 belegt, in dem sich Clausewitz auf Fichtes Machiavelli-Aufsatz bezieht. Vgl. dazu: Ein ungenannter Militär an Fichte als den Verfasser des Aufsatzes über Machiavell, in: Verstreute kleine Schriften. - Zum Vergleich Machiavelli/Clausewitz siehe auch Kleemeier: Krieg und Politik bei Machiavelli. Vgl. Münkler: Machiavelli, S. 3 0 2 . Machiavelli: Der Fürst, S. 103.
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durchaus nicht gänzlich dem Zugriff der Menschen, wodurch sie sich wesentlich von einer göttlichen Fügung unterscheidet. Nicht immer läßt sich allerdings Fortuna auf so rationale und langfristig planende Weise begegnen wie im Fall der Überschwemmung. Fortuna hat viele Gesichter, und sie konfrontiert Menschen oft mit Situationen, auf die sie schlicht nicht vorbereitet sein können. Bei Machiavelli ist gerade der Krieg das paradigmatische Wirkungsfeld von Fortuna in einem Sinn, der oft keine längerfristige Vorbereitung erlaubt. Es sei an dieser Stelle nur eines von vielen Beispielen Machiavellis für das Wirken von Fortuna im Krieg erwähnt.14 Erzählt wird es eher beiläufig; der Begriff der Fortuna kommt gar nicht ausdrücklich in ihm vor, und dennoch ist es bezeichnend. Im Jahre 423 v. Chr. schlagen die Römer eine Schlacht gegen die Aequer. Bei Einbruch der Nacht sind beide Heere halb geschlagen, doch beide glauben, der Feind hätte gesiegt. Deshalb ziehen sich beide Streitkräfte gegen Morgen zurück und lassen ihre jeweiligen Lager im Stich. Durch puren Zufall erfährt der römische Centurio Tempanius von einigen verwundeten Aequern, daß auch die Anführer der Aequer abgezogen seien. Daraufhin kehrt Tempanius um, rettet das römische Lager, plündert das der Aequer und kehrt als Sieger nach Rom zurück. Dieser Sieg schien allein davon abzuhängen, wer zuerst von der Lage des Feindes erfuhr. Fortuna war in diesem Falle den Römern hold. Es hätte auch umgekehrt kommen können, und es hätte auch so kommen können, daß beide Heere unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt wären. Gibt es überhaupt Möglichkeiten, Fortuna zu beeinflussen? Für Machiavelli war dies eine zentrale Frage, und er hat ihr ebensoviele Überlegungen gewidmet wie Clausewitz dem Problem des Umgangs mit Friktion. Seine Antwort hat er im Begriff der virtù zusammengefaßt. Als politischer Begriff steht virtù ganz allgemein für den Willen und die Kompetenz politischer Subjekte, einen politischen Verband aufzubauen oder zu erhalten.'5 In einem noch weiteren Sinn bedeutet virtù soviel wie Willenskraft oder Energie. Vom traditionellen Konzept der virtus unterscheidet sich Machiavellis Verständnis dadurch, daß in seinen Begriff der virtù keine moralischen Konnotationen im Sinne der Kategorien „gut" und „böse" eingehen. S o ist die Zuschreibung von virtù ζ. Β. unabhängig davon, ob jemand auf gerechte Weise für den Erhalt oder den Aufbau eines Gemeinwesens sorgt; entscheidend hierfür ist nur, daß und mit wieviel Energie er es tut. Am nächsten kommt Machiavellis virtù in der Tat der klassischen Kardinaltugend der Tapferkeit (andreia, fortitude), die in der Tradition als ein Bestandteil von virtus angesehen wurde.16 So ist es auch kein Zufall, daß Machiavelli virtù immer wieder anhand von Personen und Handlungen aus dem kriegerisch/militärischen Bereich verdeutlicht, wie ζ. B. an dem berühmten Condottiere Francesco Sforza. Ein Teil von Machiavellis Vorstellungen über virtù wird an dem folgenden berühmten Passus aus dem Principe deutlich:
14
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Vgl. Machiavelli: Discorsi, S. 3 3 9 . Vgl. Münkler: Machiavelli, S. 3 1 4 . Allerdings ist hier sehr stark der graduelle Aspekt des „noch am nächsten" zu betonen. So hat etwa Piatons Begriff der andreia äußerst manifeste moralische Konnotationen und unterscheidet sich auch sonst von Machiavellis viVfii-Konzept. Würde man jedoch gedrängt, die virtù mit einer traditionellen Begrifflichkeit zu analogisieren, so würde nur die Tapferkeit übrigbleiben.
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„Denn Fortuna ist ein Weib; um es unterzukriegen, muß man es schlagen und stoßen. Man sieht auch, daß es sich leichter von Draufgängern bezwingen läßt als von denen, die kühl abwägend vorgehen. Daher ist Fortuna immer, wie jedes Weib, den jungen Menschen freund; denn diese sind weniger bedächtig und draufgängerischer und befehlen ihr mit größerer Kühnheit."17
In Gestalt des draufgängerischen und gebieterischen jungen Mannes (Herkules) begegnen wir hier dem machiavellischen uomo virtuoso, dem mit virtù begabten Mann, der in der Lage ist, jene Göttin des Chaos zu bezwingen. Die Terminologie von „schlagen" und „stoßen" bedeutet hier soviel wie „Fortuna beim Schöpfe fassen". Nicht immer wird das Verhältnis von Fortuna und virtù in der gleichen auf Unterwerfung zielenden Ausdrucksweise geschildert wie im Principe. In den zur gleichen Zeit verfaßten Discorsi heißt es, daß die Menschen Fortuna nur unterstützen, aber sich nicht ihr widersetzen, daß sie ihre Fäden spinnen, nicht aber zerreißen können. 18 Machiavelli hat diese Ambivalenz von Fortuna als zu unterwerfendem Objekt einerseits und tonangebender Freundin andererseits nie aufgelöst. Wie dem auch sei, auf jeden Fall erscheint die Fortuna dem uomo virtuoso nicht als ein allgewaltiges Schicksal, sondern als eine Instanz, die immer wieder occasioni liefert, die es zu ergreifen gilt, um sich hierbei auszuzeichnen. 19 Es ist wichtig, daß Machiavelli den Typus des uomo virtuoso an der soeben zitierten Stelle aus dem Principe eher als Draufgänger denkt, nicht als kühl kalkulierenden Menschen. Die Art von virtù, um die es hier geht, unterscheidet sich durchaus von derjenigen, die erforderlich ist, um Dämme zur Vorbeugung gegen Überschwemmungen zu bauen. Machiavelli hat hier Situationen im Sinn, die erstens so undurchschaubar sind, daß keine Berechnung Zweck hat, und zweitens so schnelle Entscheidungen erfordern, daß der Einsatz des kalkulierenden Verstandes viel zu lange dauern würde. Erforderlich sind statt dessen Gefühle, Intuitionen, Entscheidungsfreude, also Qualitäten der unmittelbaren Handlungswirksamkeit. Der bereits erwähnte Centurio Tempanius hatte ζ. B. virtù in diesem Sinne. Dieses wird deutlich, wenn man bedenkt, daß er auch hätte anders handeln können bzw. gar nicht handeln können. Er hätte den verwundeten Aequern nicht trauen müssen; es hätte sich auch um eine Falle handeln können. Er hätte so lange überlegen können, bis es zu spät gewesen wäre. Tatsächlich hat er aber trotz des Risikos schnell gehandelt und hierdurch den Römern den Sieg errungen. Er hat den Faden Fortunas weiter gesponnen, und so war denn dieser Sieg doch nicht nur ein Ergebnis von Fortuna, sondern das Resultat einer Kombination von Fortuna und virtù. Aus den bisherigen Betrachtungen können wir schließen, daß die konkrete Funktion der virtù in bezug auf Fortuna darin besteht, Unwägbarkeit und Verwirrung in zumindest teilweise Verläßliches und Überschaubares zu verwandeln. Dieses kann auf sehr verschiedene Weisen geschehen: zum einen durch rationales und planendes Kalkül, wie es etwa ein Ingenieur verfolgt, der zum Schutz gegen Überschwemmungen Dämme baut, aber auch durch spontanes entschlossenes Handeln, wie uns der Fall des Centurio Tempanius demonstriert. Im einen Fall wird primär der rechnende Verstand gegen zukünftiges Chaos mobilisiert, im
17 I g Machiavelli: Der Fürst, S. 106. Vgl. Machiavelli: Discorsi, S. 199. 19 Der Begriff der occasione wird manchmal neben Fortuna, virtù und necessità als der vierte Kernbestandteil von Machiavellis begrifflichem Instrumentarium aufgefaßt. Siehe hierzu Knauer: Das magische Viereck.
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anderen die Intuition und die Kraft der eigenen Entscheidung. Der Dammbauer begrenzt und kanalisiert die schädlichen Folgen von Fortuna durch vorbeugende Planung; Tempanius aber bringt durch seinen schnellen und festen Entschluß Klarheit und Struktur in eine konkrete undurchschaubare Situation. Insgesamt gesehen beinhaltet Machiavellis Lehre, daß Fortuna, im Unterschied zur göttlichen Vorsehung, wenigstens partiell dem Zugriff menschlicher Tatkraft ausgesetzt ist. Daher hielt es der Florentiner für möglich, „(...) daß Fortuna zur Hälfte Herrin über unsere Taten ist, daß sie aber die andere Hälfte oder 20 beinahe so viel uns selber überläßt."
Unsere Überlegungen zur Rolle der virtù sind zu ergänzen, denn noch ist das Bild des uomo virtuoso nicht vollständig. Planende Rationalität, Intuition und Entschlußfreude sind keine hinreichenden Qualitäten. Im Principe schildert Machiavelli in (unausgesprochener) Anlehnung an Cicero, daß es zwei Arten von Auseinandersetzung gibt, diejenige mit Hilfe des Rechts und diejenige mit Gewalt. 21 Die erstere entspricht den Menschen, die letztere den Tieren. Da das Recht oft nicht zum Ziele führt, muß man nach Machiavelli oft zur zweiten Art der Auseinandersetzung greifen. Ein Herrscher muß also verstehen, die Natur des Tieres und die des Menschen anzunehmen. In diesem Zusammenhang heißt es: „Wenn sich also ein Herrscher gut darauf verstehen muß, die Natur des Tieres anzunehmen, soll er sich den Fuchs und den Löwen wählen; denn der Löwe ist wehrlos gegen Schlingen, der Fuchs ist wehrlos gegen Wölfe. Man muß also Fuchs sein, um die Schlingen zu wittern, und Löwe, um die Wölfe zu schrecken."22
Das hier gebrauchte Bild vom Löwen und dem Fuchs geht auf Plutarch zurück, der seinerseits von dem spartanischen Feldherrn Lysander berichtet, dieser habe gesagt: „Wo das Löwenfell nicht zureicht, muß man den Fuchspelz anziehen". 23 Die Metapher des Löwen steht bei Machiavelli für den geraden Weg zum Ziel, für den vollen Kräfteeinsatz in gefährlichen Situationen, für die direkte Auseinandersetzung mit dem Gegner, Qualitäten, über die beispielsweise der Centurio Tempanius verfügte. Das Bild des Fuchses dagegen steht für die Fähigkeit, Listen zu erspüren und natürlich auch selbst anzuwenden, Umwege zu denken und zu beschreiten, Schein und Sein voneinander zu unterscheiden und gleichzeitig mit beiden zu spielen. Der Fuchs ist ein perfekter Schauspieler, und er demonstriert dementsprechend die theaterhafte Dimension von Politik. Zur Natur des Fuchses gehört es selbstverständlich auch, daß er seine Fuchsnatur verbirgt. Er sagt nicht, was er tut, und er tut nicht, was er sagt, doch im optimalen Fall trägt er die Maske der vollkommenen Aufrichtigkeit. Als Urbild eines Fuchses hat Machiavelli offenbar Papst Alexander VI. angesehen. Dieser hatte, so Machiavelli, nie etwas anderes im Sinn als Menschen zu hintergehen, und da er immer dankbare Objekte fand, gelangen ihm seine Betrügereien stets nach Wunsch. 24 Der vollkommene uomo virtuoso setzt sich nach Machiavelli immer auch aus löwischen und füchsischen Qualitäten zusammen. Nur im Verein sind diese in der Lage, Fortuna für 20 21 22
23
24
Machiavelli: Der Fürst, S. 103. Vgl. Machiavelli, ebd., S. 7 1 f. Machiavelli, ebd., S. 7 2 . Zur Rezeption der machiavellischen Metaphorik von Löwe und Fuchs im Frühabsolutismus vgl. Stolleis: Löwe und Fuchs. Vgl. Machiavelli: Der Fürst, S. 73.
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sich zu gewinnen. Es ist dabei wichtig zu sehen, daß Löwe und Fuchs nicht die Opposition Gewalt/List oder gar diejenige von Gewalt/Intelligenz versinnbildlichen. Beide sind ausdrücklich dem Bereich der Gewalt (forza) zugeordnet, aber sie stehen für divergente Umgangsweisen mit dieser. Die Linie verläuft zwischen Offenheit und Verstecktheit, zwischen Direktheit und Umweg. Intelligenz braucht man zu beidem, doch diese hat verschiedene Gesichter. Die Kombination von Löwe und Fuchs, das ist die ultimative Weisheit der Gewalt und nach Machiavelli auch diejenige der Politik. Dabei hat Machiavelli die füchsische Komponente stets (mindestens) genauso betont wie die löwische. Tatsächlich ist Machiavelli der Theoretiker des listigen Umgangs mit Gewalt schlechthin. Wenigstens in der abendländischen Ideengeschichte gibt es meines Wissens keinen Autor, der die Rolle von Betrug, Intrigen, Lügen, Täuschungen und Ränkespielen bei der Austragung gewaltsamer Konflikte mit so geduldiger und feiner Hand beschrieben hat wie Machiavelli. 25 Es bleibt noch die Aufgabe, etwas über den dritten zentralen Faktor in Machiavellis politischer Theorie zu sagen, über necessità, die ebensowenig wie Fortuna unabhängig von ihrer Beziehung zur menschlichen virtù begriffen werden kann. Necessità ist bei Machiavelli zum einen ein Geschichtsbegriff,,26 der in Anlehnung an antike Kreislauftheorien gefüllt wird, spielt darüber hinaus aber auch eine allgemeinere Rolle als politischer Handlungsbegriff. Die Geschichte besitzt eine interne, sich zyklisch abwickelnde Gesetzmäßigkeit, nach der verschiedene Verfassungsformen aufeinander folgen. 27 Der Weg der Verfassungen verläuft ganz im Sinne von Polybios von der Monarchie über die Aristokratie, die Oligarchie, die Demokratie und die Anarchie hin zurück zur Monarchie. Hierbei gelten die Oligarchie und die Anarchie als entartete Formen von Aristokratie respektive Demokratie. Anders als bei Polybios ist Machiavelli aber bei der Verfassungsanalyse von einem politisch-pragmatischen Interesse geleitet. Was ihn antrieb, war die Frage, wie man ein politisches Gemeinwesen so stabil halten kann, daß es dem skizzierten Zyklus nicht unterworfen ist. Oberflächlich gesehen scheint sich hiermit ein Widerspruch zur Wortbedeutung von „necessità" zu verbinden, verweist doch dieser Ausdruck auf etwas, dem man auch beim besten Willen nicht entgehen kann. Diese scheinbare Paradoxie ist jedoch weitgehend auflösbar. Notwendig im Sinne von unentrinnbar
27
Es sei an dieser Stelle erwähnt, daß der Umweg, von dem die List eine Form ist, offenbar in der chinesischen Ideengeschichte und insbesondere im chinesischen Kriegsdenken eine ungleich prominentere Rolle spielt als in der europäischen Tradition. Siehe hierzu Jullien: Umweg und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland. Jullien charakterisiert in dieser umfangreichen Studie den zentralen Unterschied zwischen abendländischen und chinesischen Traditionen mittels der b e g r i f f l i c h e n Kontrastpaare Geradheit/Umweg sowie Direktheit/Indirektheit. Dabei widmet er ein ganzes Kapitel den überlieferten chinesischen Vorstellungen über militärische Strategie (vgl. S. 3 7 ff.). In diesem Zusammenhang führt er aus, daß die Kriegskunst des chinesischen Altertums gerade nicht auf das Gefecht setzte, sondern darauf, die Verteidigungsfähigkeit des Gegners zu zerstören, bevor überhaupt eine Kampfhandlung stattgefunden hat. Das chinesische Kriegsdenken, so Jullien, setzte auf die Vereitelung, nicht auf die direkte Konfrontation. Im krassen Kontrast hierzu stehe z. B. die sich ungefähr im siebten Jahrhundert v. Chr. entwickelnde griechische Struktur der Phalanx, in der zwei Verbände von Hopliten frontal aufeinanderprallen, um durch den Kampf eine unzweideutige Entscheidung herbeizuführen. Vgl. hierzu Münkler: Machiavelli, S. 2 4 6 f f . Siehe Münkler, ebd., S. 3 7 4 ff.
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ist der Kreislauf erst und nur dann, wenn ein politischer Körper ausschließlich nach dem Modell irgendeiner der in ihm vorkommenden Verfassungen eingerichtet wird, wenn also ζ. B. ein Gemeinwesen rein monarchisch oder rein demokratisch strukturiert ist. In diesem Fall wird die gewählte Verfassung zwangsläufig in ihre Degenerationsform umschlagen, und der Zyklus nimmt seinen Lauf. Machiavelli plädiert deshalb für eine Mischverfassung, die alle Elemente der drei „guten" Verfassungen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) in sich vereinen soll. Gelingt es, ein Gemeinwesen in dieser gemischten Form zu gestalten, dann ist es stabil und dem zyklischen Wechsel von Aufstieg und Verfall entzogen. Der Rückgriff auf die antike Idee der Mischverfassung erfüllt im Rahmen von Machiavellis Denken die Funktion, die Möglichkeit aktiven menschlichen Zugriffs auf Geschichte hervorzuheben. So läuft auch Machiavellis Verständnis von necessità nicht auf einen puren Geschichtsdeterminismus hinaus.28 Wohl steht necessità für Gesetzmäßigkeit, damit aber auch für Berechenbarkeit, wodurch der kalkulierende menschliche Verstand eine Chance zum Eingriff in den Lauf der Dinge erhält. Als politischer Handlungsbegriff steht necessità bei Machiavelli ganz allgemein für das unbedingte Erfordernis, auf bestimmte Weise zu handeln, wenn man bestimmte Ziele erreichen will. Während das Reich der Fortuna das Feld der unberechenbaren Dinge, aber auch der großen Chancen ist, dominiert die Notwendigkeit das Gebiet der berechenbaren, aber auch unvermeidlichen Dinge. Fortuna entzieht sich allem Rechnen, aber sie läßt uns den Reichtum der Möglichkeiten. Die menschliche virtù muß sich zwischen diesen beiden Räumen bewegen. Im Hinblick auf Fortuna bedeutet virtù, seine Chance zu erkennen und zu ergreifen. In bezug auf necessità bedeutet sie, das Unabwendbare zu erkennen und handelnd zu vollziehen. Die auf Notwendigkeit bezogene virtù umfaßt z. B. weniger die Kompetenzen des Löwen und des Fuchses selbst, sondern die Einsicht, daß man überhaupt diese beiden Gestalten annehmen muß, wenn man denn politisch erfolgreich sein will. In letzter Instanz ist diese Einsicht identisch mit dem Wissen, daß der politische Raum eben nur zum geringeren Teil einer von Recht und Gerechtigkeit ist, sondern zu zwei Dritteln durch Kombinationen von List und Gewalt beherrscht wird. Zwar hat Machiavelli immer wieder betont, daß List und Gewalt schlecht seien und daß sie nur im Notfall zum Einsatz kommen sollten, aber wenigstens in den politischen Verhältnissen seiner Zeit sah er einen einzigen Notfall. Genau hier liegt der Grund, warum für Machiavelli die virtù der Politik und die virtù des Krieges zusammenfallen. Ein Vergleich von Machiavellischen und Clausewitzschen Denkmustem ergibt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Zunächst ist festzustellen, daß in Machiavellis Fortuna-Begriff noch immer gewichtige religiös-theologische Komponenten enthalten sind.29 So sehr Machiavelli auch die alte Schicksalsgöttin der virtù der Menschen preisgeben mag, zur Hälfte bleibt sie dennoch seiner Meinung nach Herrin unserer Geschicke, woran auch ihr Hineinholen in das Innere der Welt eben nichts ändert. Clausewitz' Begriff der Friktion soll natürlich hauptsächlich das Kriegsgeschehen bzw. einen Teil von diesem erfassen, während 2Ä 29
So richtig Münkler, ebd., S. 2 4 9 . Siehe hierzu Mayer: Machiavellis Geschichtsauffassung, S. 57. Vgl. auch Huovinen: Der Einfluß des theologischen Denkens der Renaissance-Zeit auf Machiavelli, S. 2 ff. Beide Autoren betonen in unterschiedlicher Weise den Einfluß theologischer Konzeptionen auf das Denken Machiavellis.
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Machiavellis Fortuna eine umgreifende Kategorie ist, doch liegt hierin eher ein Unterschied in der Themenzentrierung. Wesentlicher ist der Umstand, daß theologische und quasi-religiöse Aspekte in Clausewitz' Friktionskonzept nicht vorkommen. 30 Auch bezieht sich Friktion nicht in erster Linie auf außermenschliche Naturkräfte. Friktionen werden vor allem durch menschliche Unzulänglichkeit hervorgerufen und fortgesetzt. Allerdings rechnete Clausewitz mit der Dauerhaftigkeit menschlicher Schwäche und war deshalb davon überzeugt, daß wirkliche Kriege immer von Friktionen durchzogen sein würden, dennoch sind diese letztlich von Menschen „hausgemacht". Clausewitz' Friktionstheorie ist im Kern anthropologischer Art,31 während Machiavellis Fortuna eine dem Menschen selbständig gegenübertretende Größe bleibt, auch dann, wenn er sich diese unterwerfen kann. Machiavelli und Clausewitz liegen auf einer Linie, da beide ursprünglich als transzendent Gedachtes in die Immanenz der Welt hineinholen, doch verfahrt der preußische General hierbei radikaler als der italienische Politiker. So wie Machiavelli der Fortuna die menschliche virtù gegenüberstellt, so fordert Clausewitz den Ausgleich von Friktionen im Krieg durch moralische Größen, von denen eine besonders wichtige der Mut ist: „Wie dieses Ungefähr auf der einen Seite steht, muß Mut und Selbstvertrauen auf die andere treten und die Lücke ausfüllen. So groß wie diese sind, so groß darf der Spielraum für jenes werden." (VK I, 1, S. 208f.)
Virtù und moralische Größen spielen tatsächlich ähnliche Rollen. Beide stehen für die Möglichkeit, durch menschliche Tatkraft handelnd die Welt zu gestalten. Beide haben mit herkömmlichen Moralvorstellungen nicht oder nicht viel zu tun, obwohl die Terminologie dieses suggerieren könnte. Sowohl virtù bei Machiavelli als auch die moralischen Größen bei Clausewitz haben ihren Ort zwischen einem Bereich des Notwendigen und Berechenbaren und einer Welt des verwirrenden Ungefähre. Machiavelli wie Clausewitz wollen mit ihren Konzepten darauf verweisen, daß Menschen nicht auf doppelte Weise an blindes Geschehen ausgeliefert sind, einerseits an das, was zwar berechnet, aber nicht geändert werden kann, andererseits an das, was weder berechnet noch geändert werden kann. Menschen verfügen potentiell über die Fähigkeit zu handeln, auch und gerade in unübersichtlichen und gefahrlichen Situationen. Dieses ist die aktivistische Grundüberzeugung, die Machiavelli und Clausewitz verbindet. Auch Hobbes' Selbsterhaltungskonzeption ist, wie im zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, eine aktivistische. Doch was Hobbes sowohl von dem RenaissancePolitiker als auch von dem General trennt, ist die Auffassung, daß die Überschaubarkeit und Geordnetheit von Verhältnissen eine unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung menschlicher Handlungskompetenzen ist. Hiermit hängt es zusammen, daß Hobbessche Denkmuster nur sehr begrenzt tauglich sind, wenn man daran interessiert ist, eine Theorie des Handelns in einem „erschwerenden Element", wie es der Krieg ist, zu begründen. Es scheint, als sei für
Die Abwesenheit solcher Dimensionen gilt für die Clausewitzsche Kriegsbetrachtung in ihrer Gesamtheit. Keineswegs war solches zu den Lebzeiten des Generals völlig selbstverständlich. Siehe etwa die Schrift seines Zeitgenossen Ernst Moritz Arndt: Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann, worin gelehret wird, wie ein christlicher Wehrmann sein und mit Gott in den Streit gehen soll. Siehe auch Kondylis: Theorie des Krieges, S. 5 0 .
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die Entwicklung einer solchen Theorie das Operieren mit Kategorien w i e Machiavellis
virtù
oder Clausewitz' moralischen
Größen zwingend erforderlich.
So sehr virtù und moralische Größen einander in gewissen Hinsichten ähnlich sind, so zeigen sich doch bei genauerer Prüfung wichtige Differenzen. Es ist unübersehbar, daß Machiavelli in seiner Darstellung des Verhältnisses von Fortuna und virtù o f t Bilder verwendet, die dem Bereich der physischen Unterwerfung entnommen sind. D i e Göttin Fortuna soll von einem draufgängerischen Mann geschlagen und gestoßen und hierdurch g e f ü g i g gemacht werden. Selbstverständlich muß berücksichtigt werden, daß es sich hier um ein Bild handelt, doch es ist ein Bild für ein sehr martialisch gedachtes Herrschaftsverhältnis, das allerdings von Fortuna auch g e w o l l t wird, die denjenigen hold ist, die ihr zu befehlen verstehen. Bei Clausewitz gibt es zu dieser Vorstellungsweise keine A n a l o g i e . Für den mutigen Soldaten nach Clausewitz ist das Ungefähr
ein Element,
in dem er schwimmt, nicht gerade w i e ein
Fisch im Wasser, wohl aber w i e ein mutiger Schwimmer im Strom. In dieses Element wirft er sich hinein;
er fühlt sich von ihm angezogen,
begeistert,
beflügelt,
nicht
umgekehrt.
W e n n bei Clausewitz überhaupt von „Herrschaft" über Friktionen die Rede sein kann, so resultiert diese nicht aus Befehl und Z w a n g , sondern aus Anpassung, Einfühlung und Spiel. Natürlich hängt diese Haltung untrennbar mit dem anthropologischen Fundament der Clausewitzschen Friktionstheorie zusammen. W i e gezeigt, treten Friktionen den Menschen in letzter Instanz nicht als eigenständig agierende Entitäten gegenüber, sondern sind Produkte menschlicher Unzulänglichkeit. Deshalb ist eine Auseinandersetzung mit Friktionen immer auch ein Konflikt zwischen Stärke und Schwäche, der sich in ein und demselben Individuum abspielen kann. M a n kann aber die Schwäche und Furchtsamkeit nicht ohne weiteres bezwingen und beherrschen. Es gibt nach Clausewitz sogar viele Fälle, in denen man ihr bewußt nachgeben muß, w i e die folgenden Stellen belegen können: „ M i c h dünkt, es sei also, daß d i e K r i e g s k u n s t zu uns redet: G e h e d e m g r ö ß t e n ,
entschei-
dendsten Z w e c k nach, w e l c h e n du zu erreichen, w ä h l e den kürzesten W e g dazu, den du zu g e hen dich getraust. D i e s letztere ist ein Punkt der i n d i v i d u e l l e n E i g e n t ü m l i c h k e i t ,
und es ist also
vergebens,
daß m a n e i n e m f u r c h t s a m e n M e n s c h e n e i n e n kühneren K a l k ü l v o r m a c h t , als der s e i n i g e ist; f ü r ihn ist d e r s e i n i g e v i e l w a h r e r . "
32
„ E i n i g e L e u t e m e i n e n , die T h e o r i e riete i m m e r z u m V o r s i c h t i g s t e n ; das ist falsch: w e n n die T h e o r i e e t w a s rät, so liegt es in der N a t u r des K r i e g e s , daß sie das Entscheidendste, also das Kühnste raten w ü r d e ; aber die T h e o r i e überläßt es hier d e m Feldherrn, nach dem M a ß s t a b e seines e i g e n e n M u t e s , s e i n e s U n t e r n e h m u n g s g e i s t e s , s e i n e s S e l b s t v e r t r a u e n s zu W ä h l e n S i e also nach d e m M a ß e dieser inneren K r a f t , aber v e r g e s s e n
wählen.
Sie nicht, daß k e i n
F e l d h e r r g r o ß g e w o r d e n ist o h n e K ü h n h e i t . " 3 3
„ D a r ü b e r kann nichts A l l g e m e i n e s b e s t i m m t w e r d e n , es ist v i e l m e h r das I n d i v i d u e l l s t e
im
g a n z e n K r i e g e . E i n m a l b e s t i m m e n es die V e r h ä l t n i s s e , die in manchen Fällen das g r ö ß t e W a g n i s zur N o t w e n d i g k e i t machen k ö n n e n ,
und z w e i t e n s ist der U n t e r n e h m u n g s g e i s t
der M u t e t w a s rein S u b j e k t i v e s , was nicht v o r g e s c h r i e b e n w e r d e n kann. M a n kann v o n
32
33
Strategie aus d e m Jahre 1804 mit Zusätzen v o n
1808 und 1809, in: Verstreute k l e i n e
ten, S. 19. D i e w i c h t i g s t e n Grundsätze des K r i e g f ü h r e n s , A n h a n g zu Vom
Kriege,
S. 1 0 4 9 .
und ei-
Schrif-
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D I E THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
nem Führer fordern, daß er seine Mittel und Verhältnisse mit Sachkenntnis beurteile, ihre Wirkungen nicht überschätze; tut er das erstere, so muß man ihm überlassen, was er vermöge seines Mutes damit auszurichten denkt."
An Stellen wie diesen wird zwar deutlich, einen wie hohen Stellenwert Clausewitz der Kühnheit beimißt, aber auch, daß er davon abrät, kühne Entschlüsse zu fordern oder zu fassen, hinter denen keine wahre innere Größe steht. Die Frage des Umgangs mit Friktionen im Krieg ist also immer relativ zu dem Charakter des jeweiligen Individuums zu stellen, und die einzig angemessene Antwort hierauf kann letztlich nur dieses Individuum selbst geben. Handelt es sich etwa um einen Feldherrn, der ein eher vorsichtiger Spieler ist, also lieber weniger einsetzt und sich dafür seiner Erfolge sicher sein will, dann wäre der Mißerfolg im Falle allzu kühner Entschlüsse vorprogrammiert. Der Krieg erfordert von den ihn Führenden eine möglichst genaue Kenntnis der eigenen Persönlichkeitsstruktur, wodurch allein fehlgeleitete Entscheidungen verhindert werden können. Bei der Überwindung von Friktionen bewirkt der Modus des inneren (oder auch äußeren) Befehls nichts oder gar Kontraproduktives, wenn er nicht harmoniert mit den inneren Kräften des jeweiligen Subjektes; gibt es aber eine solche Harmonie, so handelt es sich eben nicht mehr um ein Befehlsverhältnis, sondern um eine Ausgewogenheit von Person und Entscheidung. Weil der Weg zum angemessenen Umgang mit Friktionen mitten durch die eigene Person hindurchführt, kann das Vorbild für den Clausewitzschen Feldherm kein auf Fortuna einschlagender Herkules sein, so wie ihn Machiavelli im Sinne hatte. Die Natur von Friktionen verlangt nach Clausewitz von den Menschen, die mit ihnen konfrontiert sind, ein „freies Spiel der Seelenkräfte", keinen inneren Zwangsmechanismus, der entweder ein künstlicher sein würde oder gar nicht erst erforderlich wäre. Im Vergleich zu dem Kriegstheoretiker des 19. Jahrhunderts war dem Renaissance-Florentiner Machiavelli die Entdeckung des unverwechselbaren Individuums mit all den Subtilitäten, die sich in dessen Binnenraum abspielen können, noch unvertraut. Diese Differenz schlägt sich auch in dem unterschiedlichen Zugriff beider auf menschliches Handeln in komplexen Situationen nieder, der bei Machiavelli streckenweise deutlich brachialer ausfällt als bei dem ihm sonst sehr geistesverwandten preußischen General. Ein noch fundamentalerer Unterschied zwischen Machiavelli und Clausewitz ergibt sich hinsichtlich der Rolle der List. Für Machiavelli war diese selbstverständlich ein zentraler Bestandteil von virtù, und zwar gerade im Fall des gewaltsamen Konflikts. Die List und damit auch die Fähigkeit zu Lug und Trug erschienen ihm als politische und gleichzeitig kriegerische Tugenden par excellence. Clausewitz dagegen, obwohl ein aufmerksamer Leser Machiavellis, wischt in Vom Kriege die List im bewaffneten Konflikt als bloße Spielerei beiseite, die noch nie viel gebracht habe (vgl. VK III, 10, S. 385 ff.), und um die zahlreichen Intrigen, die oft erst zu Kriegen führen, kümmert er sich gar nicht, als habe er als Soldat damit nichts zu tun. Machiavelli hat diese sog. „Spielereien" überaus ernst genommen. Diese Differenzen haben viel mit den verschiedenen historischen Ausgangslagen beider Autoren zu tun. Wenn man jedoch an einer systematischen Theorie des Krieges interessiert ist, dann wird man sagen müssen, daß das Desinteresse des großen Preußen an allen Variationen von List und Tücke ein gravierender Mangel ist. Um es positiver zu formulieren: in dieser Hinsicht ergänzen sich der Clausewitzsche und der Machiavellische Denkansatz.
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Leitfaden zur Bearbeitung der Taktik oder Gefechtslehre. Anhang zu Vom Kriege, S. 11 36.
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Machiavellis zentrale Kategorie der necessità findet im Clausewitzschen Denken keine genaue inhaltliche Entsprechung. Zwar spielt der Ausdruck „Notwendigkeit" auch bei Clausewitz eine wichtige Rolle, doch steht dieser Terminus in einem wesentlich anderen Sinnzusammenhang als bei Machiavelli. Während „necessità" von Machiavelli auf die Geschichte bezogen wird, sind gerade Geschichtsabläufe nach Clausewitz nicht von Notwendigkeit durchzogen. Die Geschichte, wobei Clausewitz' theoretisches Interesse der Kriegsgeschichte galt, ist der Raum des Individuellen, Kontingenten, Unwiederholbaren. Deshalb ist auch der wirkliche Krieg, also der Krieg im historischen Raum, keiner kausalen Gesamtberechnung zugänglich. Die starke Akzentuierung des Singulären im geschichtlichen Geschehen verbindet Clausewitz zweifellos mit der Romantik wie auch mit der historischen Schule des 19. Jahrhunderts und trennt ihn von Machiavellis Geschichtsdenken. Wo Clausewitz die Worte „Notwendigkeit", „Gesetz" oder „Gesetzmäßigkeit" gebraucht, geschieht es fast ausschließlich im Zusammenhang mit seinem reinen Kriegsmodell. Der reine Kriegsbegriff hat jedoch bezüglich der historischen Wirklichkeit nur partiell und aus einer bestimmten Deutungsperspektive heraus eine beschreibende Funktion und stellt in der Gesamtheit seiner Merkmale ein Abstraktum dar. Im Unterschied zu Machiavellis necessità ist Clausewitz' reines Kriegskonzept also kein Geschichtsbegriff, obwohl es an manchen Punkten Berührungen mit der empirischen Wirklichkeit aufweist. Insofern necessità bei Machiavelli auch die Funktion eines politischen Handlungsbegriffs hat, gibt es allerdings gewisse Berührungspunkte zu dem Clausewitzschen reinen Kriegsmodell. Machiavelli wollte mit der Kategorie der necessità auch daraufhinweisen, daß der politische Raum kein Gebiet beliebiger Handlungsoptionen ist, sondern daß dem politischen Handeln ein Rahmen gesetzt ist, innerhalb dessen es sich bewegen muß, wenn es denn erfolgreich sein will. Ebenso will Clausewitz mit seinem reinen Kriegsbegriff daran erinnern, daß alles Handeln im Kriege, so moderat es sich auch ausnehmen mag, unter dem höchsten Gesetz des Kampfes steht, dem man sich nun einmal nicht entziehen kann.
4.3.3. Die einzelnen moralischen Größen Nachdem wir bisher die Beziehungen von Friktion und moralischen Größen im allgemeinen betrachtet haben, wenden wir uns nun Clausewitz' Analyse der kriegsrelevanten moralischen Größen im einzelnen zu,35 wobei wir nur die wesentlichsten dieser Faktoren in Betracht ziehen werden. Clausewitz thematisiert die moralischen Größen explizit an zwei verschiedenen Orten in seinem Hauptwerk Vom Kriege, im dritten Kapitel des ersten Buches (vgl. VK I, 3, S. 231 ff.) und in den Kapiteln vier bis sieben des dritten Buches (vgl. VK III, 4 - 7 , S. 359 ff.). Sein Vorgehen im dritten Buch legt es nahe, die moralischen Größen in Rubriken einzuteilen, und zwar in solche, die entweder dem Talent des Feldherm oder der kriegerischen Tugend des Heeres oder dem Volksgeist des Heeres zuzuordnen sind (vgl. VK III, 4, S. 359). Im ersten Buch reiht er dagegen die moralischen Faktoren kommentierend aneinander, ohne sie überall nach dem erwähnten Muster zu klassifizieren, obwohl dieses Muster dort teilweise auch präsent ist. Wir orientieren uns im folgenden an dem zweiten, eher locke-
Siehe zu diesem Thema auch Kleemeier: Takt und Tapferkeit. Soldatische Tugenden bei Clausewitz.
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D I E THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
ren Verfahren und greifen auf das dritte Buch und andere Stellen des Clausewitzschen Gesamtwerkes zurück, wo dies erforderlich scheint. 4.3.3.1.
Der kriegerische Genius
Auf einer ganz allgemeinen Ebene bestimmt Clausewitz den kriegerischen Genius zunächst einmal als einen harmonischen Verein von Verstandes- und Gemütskräften (vgl. VK I, 3, S. 232), in dem weder eine bestimmte Kraft dominieren noch widerstreben darf. Diese generelle Erläuterung ist wichtig, denn sie enthält im Kern wesentliche Grundlagen für das Verständnis von Clausewitz' Theorie moralischer Größen. Die Clausewitzsche Charakterisierung des kriegerischen Genius, oder, wenn man einen moderneren Ausdruck wählen will, der (optimalen) militärischen Führungskraft, läßt sich mittels der folgenden Schlagworte skizzieren: Totalität, Autonomie des Ganzen vor seinen Teilen, Lebendige Dynamik sowie Egalität. Zumindest die ersten drei dieser Merkmale sind auch Eigenschaften eines Organismus im Sinne Kants.36 Wir wollen jedoch die obigen Stichworte nicht dazu benutzen, eine Abbildung auf das kantische oder irgendein anderes Denksystem zu erstellen, sondern dazu, uns die Clausewitzsche Gedankenwelt zu erschließen. Der kriegerische Genius stellt insofern eine Totalität dar, als er die Gesamtheit von Persönlichkeitsfaktoren umfaßt, also sowohl Verstandes- als auch Gemütsgrößen. Es gibt keine geistigen oder seelischen Anteile, die sich der Mitwirkung am kriegerischen Genius entziehen würden oder könnten. Augenfällig ist hierbei vor allem, daß nicht nur Verstandes-, sondern eben auch Gemütskräfte relevant sind, wodurch sich Clausewitz deutlich vom rationalistischen Strang der Kriegs- und Militärtheorie abhebt. Der kriegerische Genius ist ein autonomes Ganzes, denn er ist von Clausewitz nicht konzipiert als ein Agglomerat von Eigenschaften, sondern als ein Kräfteverein, in dem es nicht auf die Teile als solche ankommt, sondern auf deren Zusammenstimmung. Während es zum Begriff eines Agglomerats gehört, daß man aus ihm Teile herauslösen kann, die dann selbständig funktionierende Entitäten bleiben, trifft dieses auf das Konzept des kriegerischen Genius nicht zu. Die Isolation eines Teiles ergibt hier unmittelbar ein Gebilde, das so dysfunktional ist wie ein von einem lebendigen Körper abgetrenntes Bein. In dem organismusanalog gedachten kriegerischen Genius existieren die Teile ausschließlich in Beziehung auf das Ganze. Der kriegerische Genius ist ein vital bewegtes Ganzes. Deutlich wird dieses an der Verwendung des Ausdrucks „Kraft". Anders als eine Eigenschaft kann eine Kraft nicht als in sich selbst ruhend gedacht werden, sondern hat eine bestimmte Richtung, der sie folgt. Eng zusammen mit dem Begriff der Kraft hängen die Ideen der Außenorientierung, der Entwicklung
Dieses hat Massimo Mori in einem sehr anregenden Aufsatz hervorgehoben. Siehe Mori: Das Bild des Krieges bei den deutschen Philosophen, hier bes. 233 f. Allerdings geht es in diesem Artikel gar nicht um Clausewitz, sondern um das Bild des Krieges und die S t a a t s k o n z e p t i o n e n bei deutschen Philosophen des 19. Jahrhunderts. Mori hebt hervor, daß der Begriff des Organismus bei Kant selbst noch auf die Natur eingegrenzt ist, dann aber von deutschen P h i l o s o phen, insbesondere durch Schelling, verstärkt auch auf politische Strukturen angewendet wurde.
KRIEG, FRIKTION UND MORALISCHE GRÖSSEN
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und des Wachstums. Clausewitz' Konzeption des kriegerischen Genius ist also keineswegs so auschließlich innerlich, wie sie mancher spontan empfinden mag. Vielmehr hat der dynamische Charakter des Clausewitzschen Kriegsbegriffes in dieser Konzeption eine genaue Entsprechung. So wie der Krieg seiner Natur nach ein actus und kein status ist, so ist auch der Kriegführende kein Komplex statischer Eigenschaften, sondern ein nach außen gerichtetes und handlungsorientiertes Kraftfeld, allerdings nicht im mechanischen, sondern im vitalistischen Sinn von „Kraft". Der kriegerische Genius ist egalitär strukturiert, weil keine in ihm vorhandene Kraft ausschließlich dominieren oder dienen soll. Hierdurch unterscheidet sich Clausewitz' Modell der militärischen Führungspersönlichkeit eindeutig von der platonischen Kategorie der sophrosyne. Auch letztere steht für eine vollkommene Harmonie der Teile der Einzelseele (und der Polis), doch besteht diese Harmonie letztlich in einem Konsens aller Teile darüber, wer herrschen und wer beherrscht werden soll. Die Clausewitzsche Harmonie ist kein solcher Herrschaftskonsens, sondern ein letztlich gleichberechtigtes Zusammenwirken aller beteiligten Faktoren.
4.3.3.2.
Mut gegen körperliche
Gefahr
Bisher haben wir Clausewitz' Begriff des Mutes sehr allgemein und unbestimmt gelassen. Wir werden nun untersuchen, wie er diesen Begriff genau bestimmt. Clausewitz bedient sich einer Zweiteilung des Mutes, und zwar differenziert er zwischen Mut gegen persönliche physische Gefahr und Mut gegen Verantwortung, welchen letzteren er auch als „Entschlossenheit" bezeichnet (vgl. VK I, 3, S. 233 ff.). Gegenwärtig wollen wir uns nur mit der ersten Kategorie befassen. Der Mut gegen Gefahr für Leib und Leben unterliegt wieder einer Zweiteilung (vgl. VK I, 3, S. 233). Er kann in Gleichgültigkeit gegen die Gefahr bestehen und geht dann z. B. aus Gewohnheit hervor; er kann aber auch eine Gemütsbewegung sein, die dann aus positiven Motiven resultiert, von denen Clausewitz als Beispiele Ehrgeiz, Vaterlandsliebe oder Begeisterung irgendeiner Art anführt. Im ersten Fall ist der Mut auf jeden Fall ein bleibender Zustand, den Clausewitz treffend mit einer zweiten Natur vergleicht; im zweiten Fall ist er aufgrund der manchmal schwankenden Natur der Gemütsbewegungen weniger verläßlich. Setzt man diese knappen referierenden Bemerkungen in Beziehung zu dem, was wir bereits über das Verhältnis von Friktion und moralischen Größen erfahren haben, so liegt es auf der Hand, daß es nicht der Mut im Sinne von Gleichgültigkeit ist, der sich in der Auseinandersetzung mit Friktionen hauptsächlich bewährt. Es kann nicht sein, daß Gleichgültigkeit jenen aktiv-dynamischen Typus hervorbringt, der das Ungefähr sucht, Einsätze wagt und mit Chancen spielt. Gleichgültigkeit hat, und dieses liegt beinahe in ihrem Begriff, keinen Bewegungskoeffizienten, sondern ist eine statisch-passive Kategorie. Innerhalb von Clausewitz' Theorie moralischer Größen kann man sie vielleicht als einen stoizistischen Restbestandteil im Rahmen eines ansonsten durch Bewegungsindices geprägten Kategoriengerüstes auffassen. Tatsächlich ist in der militärischen Tradition immer wieder auf stoische Tugenden als Vorbilder für den Krieger oder Soldaten zurückgegriffen worden. Besonders nachdrücklich geschah dies in der Oranischen Heeresreform, die durch Justus Lipsius eine ideentheoretische Fundierung erfuhr, welche Ideale der stoischen Lebensphilosophie als Orientierungsgrundlage
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DIE THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
fiir den Soldatenstand postulierte. 37 Geduld, Mäßigung und Tapferkeit im Sinne der Fügung auch in das Geschick des sicheren Todes galten hiernach als paradigmatische Tugenden des Kriegers. Während es sich hierbei schwerpunktmäßig um Tugenden des Ausharrens und Hinnehmens handelt, schwebt Clausewitz das Leitbild des selbständig denkenden und individuell agierenden Soldaten vor Augen. Wenn er schreibt, daß nur beide Arten des Mutes zusammen die vollkommene Art des Mutes ergeben (vgl. V K I, 3, S . 233), so darf dieses nicht darüber hinwegtäuschen, daß es die zweite, die positiv motivierte Sorte des Mutes ist, die im Rahmen von Clausewitz' Gesamtkonzept den ersten Rang einnimmt, und die er oft auch mittels des Ausdrucks „Kühnheit" klassifiziert. Die Kühnheit charakterisiert er im dritten Buch als „eine wahrhaft schöpferische Kraft" (VK III, 6, S . 366). Dieses ist ein ganz und gar unstoischer Gedanke, und er findet auch im platonischen Tapferkeitsmodell keine Entsprechung, in dem andreia gerade als eine bewahrende arete beschrieben wird. Mut oder Tapferkeit erschöpft sich bei Clausewitz keineswegs im Ausharren angesichts der Gefahr von Tod und Wunden. Zwar gibt es auch diese Dimension des Mutes, doch dient sie lediglich dazu, der höherstehenden Kühnheit ein dauerhaftes Fundament zu verschaffen. Aufschlußreich sind die von Clausewitz genannten Motive für Kühnheit: Ehrgeiz, Vaterlandsliebe, Begeisterung jeder Art. Über den Ehrgeiz und die eng mit diesem verwandte Ruhmsucht heißt es an anderer Stelle bei Clausewitz: „Von allen großartigen Gefühlen, die die menschliche Brust in dem heißen Drange des Kampfes erfüllen, ist, wir wollen es nur gestehen, keines so mächtig und konstant wie der Seelendurst nach Ruhm und Ehre, den die deutsche Sprache so ungerecht behandelt, indem sie ihn in Ehrgeiz und Ruhmsucht, durch zwei unwürdige Nebenvorstellungen, herabzusetzen strebt. Freilich hat der Mißbrauch dieser stolzen Sehnsucht gerade im Kriege die empörendsten Ungerechtigkeiten gegen das menschliche Geschlecht hervorbringen müssen; aber ihrem Ursprünge nach sind diese Empfindungen gewiß zu den edelsten der menschlichen Natur zu zählen, und im Kriege sind sie der eigentliche Lebenshauch, der dem ungeheuren Körper eine Seele gibt. Alle anderen Gefühle, wieviel allgemeiner sie auch werden können, oder wieviel höher manche auch zu stehen scheinen, Vaterlandsliebe, Ideenfanatismus, Rache, Begeisterung jeder Art, sie machen den Ehrgeiz und die Ruhmbegierde nicht entbehrlich. Jene Gefühle können den ganzen Haufen im allgemeinen erregen und höherstimmen, aber geben dem Führer nicht das Verlangen, mehr zu wollen als die Gefährten, welches ein wesentliches Bedürfnis seiner Stelle ist, wenn er Vorzügliches darin leisten soll; sie machen nicht, wie der Ehrgeiz tut, den einzelnen kriegerischen Akt zum Eigentum des Anführers, welches er dann auf die beste Weise zu nutzen strebt, wo er mit Anstrengung pflügt, mit Sorgfalt sät, um reichlich zu ernten. Diese Bestrebungen aller Anführer aber, von dem höchsten bis zum geringsten, diese Art von Industrie, dieser Wetteifer, dieser Sporn sind es vorzüglich, welche die Wirksamkeit eines Heeres beleben und erfolgreich machen." (VK I, 3, S. 239 f.) Dieser Passus macht auf eindrucksvolle Weise deutlich, ein wie hoher Status der Idee des Individuums im Rahmen von Clausewitz' Kriegsbild zukommt. Der Ehrgeiz und die mit ihm Siehe Justus Lipsius: Justi Lipsi De militia romana. Vgl. hierzu Oestreich: Der römische Stoizismus und die oranische Heeresreform. - Derselbe: Justus Lipsius als Theoretiker des neuzeitlichen Machtstaates. - Siehe auch Fiedler: Kriegswesen und Kriegführung im Zeitalter der Landsknechte, S. 144ff. Eine einschlägige Arbeit zur Oranischen Heeresreform ist Hahlweg: Die Heeresreform der Oranier und die Antike. - Derselbe: Die Heeresreform der Oranier.
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untrennbar verknüpfte Konkurrenz, das Wetteifern, das Bestreben, sich vor anderen auszuzeichnen, gelten Clausewitz als die Seele des Krieges, als die entscheidende Antriebskraft, die den Krieg am Leben erhält. Deutlich wird in diesem Zusammenhang auch, welcher Graben Clausewitz von Piaton trennt. Dieser hatte in der Ehre keine eigenständig sinnvolle Größe gesehen, sondern einen Faktor, der dem Vernünftigen in der Seele zur Herrschaft verhelfen soll. Bei Clausewitz dagegen wird das Streben nach Ehre in einem durchaus subjektiven Sinn (legitimerweise) zu einem selbständigen Motivationsfaktor im Krieg. Auch Hobbes faßt die Ehrsucht besonders militärischer Führer als eine potentielle Bedrohung der Souveränität des politischen Herrschers auf und stand ihr deshalb äußerst reserviert gegenüber. Aus der Perspektive von Clausewitz verschwinden nicht nur solche Bedenklichkeiten, sondern das Streben nach individueller Ehre und damit die Individualisierung des kriegerischen Aktes wird bei ihm zur Selbstverständlichkeit. Interessant ist, daß Clausewitz an der zitierten Stelle den Ehrgeiz letztlich höher bewertet als sogar die Vaterlandsliebe. Letztere scheint nur moralisch höher zu stehen als der Ehrgeiz. Vor allem ist sie, zumindest für Leistungen auf der militärischen Führungsebene, entbehrlich, der Ehrgeiz aber niemals. Die Vaterlandsliebe ist eher in bezug auf den „großen Haufen" von Bedeutung, weniger entscheidend im Hinblick auf den Anführer. Es gibt an diesem Punkt eine sichtbare Verschiebung gegenüber dem jungen Clausewitz, dessen Schriften durchgängig im Lichte einer innigen Verschmelzung von Nationalgeist und persönlichem Ehrstreben stehen. So schreibt der junge Offizier in seiner Bekenntnisdenkschrift von 1812, in der er dazu aufruft, gegen Napoleon die Waffen zu ergreifen, folgendes: „Der Kampf fürs Vaterland ist der höchste Lohn fürs Verdienst, der mächtigste Reiz fürs Talent." (BS/PSB, S. 105)
In demselben Text heißt es: „Ich sage mich los (...) von der schamlosen Aufopferung aller Ehre des Staates und Volkes, aller persönlichen und Menschenwürde." (BS/PSB, S. 85)
Hier fällt offenbar die Ehre des Staates und Volkes mit der persönlichen Würde zusammen oder steht mit ihr zumindest in unauflöslicher Verbindung. Solche Koppelung durchzieht auch den (frühen) Briefwechsel des Offiziers mit seiner Braut und späteren Gattin Marie von Brühl, dem die folgenden Auszüge entnommen sind: „Verwaist irren wir Kinder eines verlorenen Vaterlandes umher, und der Glanz des Staates, den wir bilden halfen, ist erloschen. Wie an des Tempels edlem Gebäude der kleinste Schmuck seine edle Bestimmung mit Stolz zu fühlen scheint, so schwang sich mit des Staates Hoheit auch unser Bewußtsein empor, und jetzt, wie die Ruinen eines verfallenen Tempels, sind wir kaum gut genug, einer ärmlichen Hütte das hölzerne Dach zu stützen."38 „Peinlicher ist auf Erden kein Augenblick gewesen als der, in welchem ich lebe; nicht als ob Furcht und Hoffnung sich zweifelnd die Hand reichten, sondern weil ich gelähmt hier liege, während alles zusammenstürzt, was mir heilig ist, und ich mich dem Abgrunde nicht nahem darf, der dies alles verschlingt. Es ist, als wäre mir die Zukunft auf tausend Meilen weit entrückt, und bodenlos liegt's zwischen mir und ihr. So weit liegt jede Hoffnung, Karl und Marie von Clausewitz. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebuchblättern, 9. Jan. 1807, S. 7 9 .
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DIE THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
selbst die, das Ende zu beginnen. Ein spurloses Dasein ist mein Leben. Ein Mann ohne Vaterland, entsetzlicher Gedanke! Sein Leben ist der Faden eines aufgelösten Gewebes, zu 39 nichts mehr tauglich." „(...) denn kein Mensch in der Welt hat mehr das Bedürfnis der Nationalehre und -würde als
„Doch es scheint kleinlich, sein eigenes Schicksal zu nennen, was doch das Schicksal aller Vaterlandsgenossen ist. Freilich haben ihren Blick nicht alle so starr darauf hingewendet als ich, nicht alle sind so unfähig, ihn davon abzuwenden und noch etwas zu sein unabhängig von Vaterland und Nationalehre. Alles, was ich bin oder sein könnte, verdanke ich diesen beiden Erdengöttern, und ohne sie wird nichts als eine kern- und saftlose Hülse von mir übrigbleiben. Ich bin durchaus für dies Verhältnis geschaffen, und nur zu sehr überzeugt, daß außer ihm kein Mensch Wohlgefallen an mir haben kann." (ebd., 3. Okt. 1807, S. 138 f.) Unübersehbar ist das tiefe Bedürfnis nach einer vollkommenen Symbiose zwischen Ehre von Staat und Vaterland auf der einen und persönlicher Ehre auf der anderen Seite, der Wunsch nach einer perfekten Verschmelzung zwischen Gemeinwesen und Individuum. Hans Rothfels hat dieses enthusiastische, jedoch stets von tiefer Melancholie begleitete Nationalempfinden des jungen Clausewitz auf besonders sensible Weise nachgezeichnet und akzentuiert. 41 An die Stelle dieses Enthusiasmus tritt im ersten Buch von Vom Kriege ein etwas anderer Ton. Zwar werden Vaterlandsliebe und Ehrgeiz nicht als einander ausschließende Größen aufgefaßt, wohl aber als Gemütsbewegungen, die nicht ineinander aufgehen müssen. Hierin schlägt sich möglicherweise die Atmosphäre der Restauration nieder, die das Konzept des nationalidentifizierten Individuums zurücktreten läßt.
4.3.3.3.
Takt des Urteils und
Entschlossenheit
Der kriegerische Genius benötigt nicht nur Mut angesichts der Gefahr an Leib und Leben, sondern auch zwei andere Kräfte, um im Wirrwarr des Krieges zu bestehen, und diese werden von Clausewitz folgendermaßen zusammengefaßt: „einmal ein Verstand, der auch in dieser gesteigerten Dunkelheit nicht ohne einige Spuren des inneren Lichts ist, die ihn zur Wahrheit führen, und dann Mut, diesem schwachen Lichte zu folgen. Der erstere ist bildlich mit dem französischen Ausdruck coup d'œii bezeichnet worden, der andere ist die Entschlossenheit." (VK I, 3, S. 234) Der Verstand, von dem hier die Rede ist, wird von Clausewitz auch oft als „Takt des Urteils" bezeichnet (vgl. V K I, 3, S. 233). Der Ausdruck und dessen Gebrauch weisen auf eine gewisse Nähe zu Kants Begriff des logischen Taktes hin. 42 Kant verstand unter logischem Takt eine Fähigkeit, durch „im Dunkeln des Gemüts" liegende Bestimmungsgründe zu einem Ur39 40 41
42
Karl und Marie von Clausewitz, ebd., 25. Juni 1807, S. 125f. Karl und Marie von Clausewitz ebd., 1. Sept. 1807, S. 135. Vgl. Rothfels: Carl von Clausewitz, S. 7 7 f f . Ernst Vollrath will Clausewitz' Takt des Urteils von Kants Begriff der reflektierenden Urteilskraft her aufschlüsseln. Vgl. Vollrath: Neue Wege der Klugheit, S. 62; S. 64.
KRIEG, FRIKTION U N D MORALISCHE GRÖSSEN
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teil zu kommen, ohne sich dieser Gemütsfaktoren dann bewußt zu werden.43 Auf jeden Fall ist der coup d'oeil bei Clausewitz die Kompetenz zum schnellen, unmittelbaren Finden einer Wahrheit, welche sich einem gewöhnlichen Geist, wenn überhaupt, erst durch lange Überlegungen erschließen würde (vgl. VK I, 3, S. 235). Schnelligkeit und Spontaneität sind Kennzeichen des Clausewitzschen Urteilstaktes, und dessen Produkte charakterisiert Clausewitz denn auch an einer Stelle als „Blitze des Geistes, die fast unbewußt entstehen und also nicht an einer langen Gedankenkette fortlaufen." (VK VI, 30, S. 8 5 5 )
Am besten beschreibt man den Takt des Urteils als eine Art Legierung von Gefühl und Verstand. So sagt Clausewitz auch, daß man mit dem Takt des Urteils die Wahrheit „herausfühlt" (vgl. VK I, 3, S. 233). Des weiteren ist der Takt des Urteils kein analytisches Vermögen, sondern eine Fähigkeit zur Vereinheitlichung, die dem kriegerischen Genius dazu verhilft „sich des Wahren und Rechten wie eines einzelnen klaren Gedankens bewußt zu werden." (VK VIII, 1, S. 9 5 1 )
Angesichts dieser Merkmale bietet sich zur Kennzeichnung des Taktes des Urteils tatsächlich der Ausdruck „Intuition" an. Zwar gebraucht Clausewitz selbst diesen Terminus selten, doch wir benutzen ihn üblicherweise, um mit ihm geistige Akte zu bezeichnen, die eben durch Schnelligkeit, Spontaneität, Gefühlsverbundenheit und vereinheitlichende Kraft charakterisiert sind. Dieser Takt des Urteils ist nun von Clausewitz als ein Gegenmodell zu jenem zerlegenden, langfristig planenden und berechnenden Verstand entworfen worden, den so mancher rationalistische Kriegstheoretiker als allein maßgeblich für die Leitung eines Kriegsgeschehens ansehen wollte. Gerade jener Typus von Verstand ist nach Clausewitz im Kriege zwar auf einer bestimmten Ebene auch erforderlich, aber in vielen Situationen fast gänzlich unbrauchbar, weil er wesentlich friktionsfremd beschaffen ist. Er benötigt zu lange Zeit zu seiner Entfaltung und arbeitet zu unflexibel, um dem Chaos, das bis zu einem gewissen Grade für jeden Krieg spezifisch ist, gewachsen zu sein. Das Handeln im „erschwerenden Mittel", wie der Krieg eines ist, erfordert eine andere, eben intuitivere Art des Denkens. Ganz anders als Hobbes, der Denken grundsätzlich nach dem Modell des Rechnens konstruieren wollte, besteht Clausewitz darauf, daß es eine Sorte von Denken gibt, die, nahe am Gefühl gelegen, zumindest nicht unmittelbar als Schlußfolgern beschrieben werden kann. Der Clausewitzsche Urteilstakt ist eine echte Krisenreaktionskraft, die speziell auf die Erfordernisse des Handelns in Grenzsituationen eingestellt ist. Er gehört zu den Fähigkeiten, die in manchen Menschen durch Not und Gefahr aktiviert werden (vgl. VK VIII, 1, S. 951), in solchen Lagen nämlich, in denen der Einsatz des rechnenden Verstandes geradezu kontraproduktiv wirken würde. Vgl. Eisler, Kant-Lexikon, S. 526. Helmuth von Moltke verwendet später in Anknüpfung an Clausewitz den Ausdruck „militärischer Takt". Bei ihm heißt es: „Alle aufeinander f o l g e n d e n Akte des Krieges sind sonach nicht prämeditierte Ausführungen, sondern spontane Akte, geleitet durch militärischen Takt. Es kommt darauf an in lauter Spezialfällen die in den Nebel der Ungewißheit gehüllte Sachlage zu durchschauen, das Gegebene richtig zu würdigen, das Unbekannte zu erraten, einen Entschluß schnell zu fassen, und dann kräftig und unbeirrt durchzuführen." (Moltke: Über Strategie. Zitiert nach Stumpf, S. 4 3 0 . )
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Allein der treffende Blick des geistigen Auges reicht jedoch nicht aus, um Handeln im Kriege zu ermöglichen, sondern hinzukommen muß der Mut, seiner Erkenntnis auch zu folgen, die Entschlossenheit. Bei der Entschlossenheit handelt es sich um eine Art des Mutes, jedoch nicht um den unmittelbaren Mut gegen Gefahr an Leib und Leben, sondern um Mut gegen die Verantwortung oder, wie Clausewitz sagt, gegen „Seelengefahr" (vgl. VK I, 3, S . 235). Die Entschlossenheit hat die Aufgabe, jene Zweifel zu überwinden, die eine Person auch mit den eigenen Intuitionen, also mit sich selbst, entzweien können. Von Entschlossenheit kann nur dort die Rede sein, wo es vorher Zaudern und Zweifeln gegeben hat, was nicht bei jeder mutigen Handlung der Fall sein muß. Über diesen Mut gegen Seelengefahr schreibt Clausewitz: „Man hat diesen oft courage d'esprit genannt, weil er aus dem Verstände entspringt, aber er ist darum kein Akt des Verstandes, sondern des Gemüts. B l o ß e r Verstand ist noch
kein
Mut, denn wir sehen die gescheitesten L e u t e oft ohne Entschluß. Der Verstand muß a l s o erst das Gefühl des Mutes erwecken, um von ihm gehalten und getragen zu werden, weil im Drange des Augenblicks Gefühle den Menschen stärker beherrschen als Gedanken." (VK I, 3, S. 2 3 5 )
Die Entschlossenheit ist also wohl ein Produkt des Verstandes, selbst aber ein Gemütsakt bzw. ein Gefühl. Des weiteren heißt es über Entschlossenheit: „Diese Entschlossenheit nun, welche einen zweifelhaften Zustand besiegt, kann nur durch Verstand hervorgerufen werden, und zwar durch eine ganz eigentümliche Richtung desselben. W i r behaupten, daß das bloße Beisammensein höherer Einsichten und nötiger Gefühle immer noch nicht die E n t s c h l o s s e n h e i t
macht. ( . . . ) Diese entsteht erst durch den Akt des
Verstandes, der die Notwendigkeit des W a g e n s zum Bewußtsein bringt und durch sie den W i l l e n bestimmt. Diese ganz e i g e n t ü m l i c h e R i c h t u n g des Verstandes, die j e d e andere Scheu im Menschen niederkämpft mit der Scheu vor dem Schwanken und Zaudern, ist es, welche in kräftigen Gemütern die Entschlossenheit ausbildet; darum können Menschen m i t wenig Verstand in unserem Sinne nicht e n t s c h l o s s e n
sein. Sie können
in
schwierigen
Fällen ohne Zaudern handeln, aber dann tun sie es ohne Überlegung, und es können freilich den, w e l c h e r unüberlegt handelt, keine Zweifel mit sich selbst e n t z w e i e n . "
( V K I,
3,
S.236)
Wir haben es hier mit einer etwas komplizierten Konstruktion zu tun. Jener Akt des Verstandes, der die Entschlossenheit hervorruft, die selbst ein Gefühl ist, ist sicher nicht identisch mit dem bereits skizzierten Takt des Urteils, denn letzterer ist definitiv anders bestimmt. Der Urteilstakt bzw. dessen Produkt ist das intuitive Erfassen eines Gedankens. Zu diesem muß sich jedoch, so Clausewitz an obiger Stelle, die gedankliche Klarheit darüber gesellen, daß nun ein riskantes Handeln unausweichlich ist. Die Entschlossenheit selbst entsteht dann durch eine Art Transformation dieses zweiten Gedankens in eine Gefühlsdisposition. Clausewitz entwirft hier im Grunde ein dreistufiges Modell, obwohl sich die verschiedenen Ebenen in der Praxis sicher innerhalb von Minuten oder gar Sekunden zusammenziehen können. Die intuitive Einsicht reicht als Handlungsmotivation noch nicht aus, denn man kann an ihrer Richtigkeit zweifeln. Ergänzt werden muß sie durch das Bewußtsein, daß eine Entscheidung unbedingt erforderlich ist und daß diese, wie Entscheidungen im Krieg typischerweise, auf ein Wagnis hinauslaufen wird. Auch das reicht noch nicht hin, denn die-
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ses Bewußtsein muß sich in jenes Gefühl der Entschlossenheit umsetzen, den Willen, seine Handlungen entsprechend der eigenen Intuition zu gestalten. Zwei Dinge sind an diesen Überlegungen von Clausewitz augenfällig. Zum einen ist es das Ausmaß, in dem in ihnen das innere Erleben des Soldaten ins Zentrum des Interesses rückt. Die Entschlossenheit ist ein Produkt eines Kampfes gegen Selbstunsicherheit und das zwangsläufig mit ihr verbundene Zögern und Zaudern. Mittelbar ist auch sie gegen das feindliche Handeln gerichtet; unmittelbar aber entsteht sie durch einen inneren Kampf. Dagegen finden wir bei dem Clausewitz in mancher Hinsicht geistig so verwandten Machiavelli kaum Möglichkeiten, dieses innerpersonale Drama begrifflich zu erfassen. Die Machiavellische virtù ist zu ausschließlich extern bestimmt, ist sie doch ausgerichtet auf das mantenere lo stato. Bei der Betrachtung jenes Kampfes der virtù gerät nicht in den Blick, daß er durch die Person des Kämpfenden hindurchführt. Auch Hobbes verfügte bei allem psychologischen Scharfsinn, den er sicherlich hatte, über kein begriffliches Instrumentarium zur Beschreibung des Mutes als innerer Größe. Clausewitz dagegen analysiert die moralischen Größen stets in ihrer Doppelorientierung nach außen und nach innen. Dabei rückt er den Umstand ins Visier, daß Krieg und Kampf immer auch personeninteme Konflikte bewirken und erfordern. Die zweite hervorstechende Tatsache ist der hohe Status, der beim Austragen solcher inneren Kämpfe den Gefühls- oder Gemütsfaktoren zukommt, eine Tatsache, die etwa von van Creveld vollkommen ignoriert wird, wenn dieser das Clausewitzsche Gedankengut umstandslos als „rationalistisch" charakterisiert. 44 So ist die Entschlossenheit zwar das Produkt eines Verstandesaktes, an sich selbst aber ein Gemütsakt. Es gibt spezifische Gründe dafür, warum Clausewitz Gefühlen eine so entscheidende Rolle zuspricht: „Den stärksten Anlaß zum Handeln bekommt der Mensch immer durch Gefühle (...)." (VK I, 3, S. 2 5 2 )
Der Verstand allein, wie auch immer er beschaffen sei, reicht nach Clausewitz als Handlungsmotivation nicht hin, gerade nicht in Situationen, die durch Turbulenz und Verwirrung besonders gekennzeichnet sind. Deshalb schreibt Clausewitz auch, daß das Gefühl der Entschlossenheit den Verstand halten und tragen muß (vgl. VK I, 3, S. 235), damit der kriegerische Genius in der Lage ist, den Anforderungen des Augenblicks standzuhalten. Die Begrifflichkeit des Haltens und Tragens weist darauf hin, daß hier eben nicht der Verstand, sondern das Gefühl als der konstante und verläßliche Faktor gedacht wird. Was Clausewitz erkannte, ist die enorme Funktionalität von Gefühlen in Situationen der Unüberschaubarkeit und Unberechenbarkeit.45 Diese Funktionalität hat vor allem mit der hohen Intensität zu tun, in der Gefühle erlebt werden, und diese ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Gefühle die Grenzen zwischen psychischem und physischem System sprengen, insofern sie nicht nur psychisch, sondern auch körperlich empfunden werden. 46 Dieser grenzübergreifende Charakter des Gefühlserlebnisses ermöglicht es, daß Gefühle in optimaler Weise zu Handlungsimpul-
44
46
Vgl. van Creveld: Die Zukunft des Krieges, S. 1 0 4 . Siehe zu diesem Thema Ruth Großmaß: Sind Gefühle funktional? Großmaß setzt sich hier nicht mit Clausewitz auseinander, doch sie arbeitet die erwähnte Funktionalität von Gefühlen in sehr klarer Form heraus, indem sie u. a. auch an Luhmann anschließt. Siehe hierzu Luhmann: Soziale Systeme, S. 3 6 2 f f . Siehe Großmaß, ebd., S. I 6 8 .
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sen überleiten, und dies nicht nur, aber auch und besonders in Krisenlagen. Verstandesprozesse wie Gedanken können, für sich allein genommen, diese Funktion aufgrund ihres relativ abstrakten Charakters nicht übernehmen; sie sind nicht imstande, den überwältigenden Eindrücken von Unübersichtlichkeit etwas entgegenzusetzen, denn diese Eindrücke wirken grundsätzlich auf Psyche und Physis zugleich und sind daher zwangsläufig stärker als reine Verstandesvorgänge. Zu erwähnen ist in dem gegenwärtigen Zusammenhang zweierlei. Erstens haben sich die Clausewitzschen Einsichten über die Bedeutung des menschlichen Gefühlslebens im Kontext des bewaffneten Konflikts im deutschen militärischen Führungsdenken bis heute niedergeschlagen. So schreibt der ältere Moltke in den Verordnungen für die höheren Truppenführer von 1869: „Im Kriege wiegen die Eigenschaften des Charakters schwerer als die des Verstandes." 47
Und in der Dienstvorschrift Nr. 316 der Hdv 100/100 von 1998 heißt es: „Tapferkeit, Entschlußfreude, Durchsetzungsvermögen und persönliche Ausstrahlung wiegen oft schwerer als die Fähigkeiten des Verstandes." 48
Zwar ist in beiden Texten nicht ausdrücklich die Rede von Gefühlen oder Emotionen, aber sowohl der „Charakter" als auch die in der neueren Dienstvorschrift im einzelnen aufgezählten Qualitäten beruhen in letzter Instanz auf nichts anderem als auf emotionalen Faktoren. Leider arbeiten sowohl Moltke als auch der zeitgenössische Text mit einer Entgegensetzung von Gefühl bzw. Gemüt und Verstand, die es bei Clausewitz so nicht gibt. Ganz generell sah der preußische General Gefühl und Verstand nicht als Kontrastfaktoren an. Vielmehr verhält es sich nach Clausewitz so, daß jemand, der nicht über ausgeprägte Affekte und Leidenschaften verfügt, auch ein Mensch mit wenig Verstand ist, ein relativ dummer Mensch also. Und keineswegs hätte Clausewitz geglaubt, ein tapferer, entschlußfreudiger, durchsetzungsfähiger und persönlichkeitsstarker Mensch könne gleichzeitig geistig etwas schwach sein, wie es die Dienstvorschrift von 1998 suggeriert. Aber dennoch: Die deutsche Führungstradition hat an der Clausewitzschen Akzentuierung von Gefühlsfaktoren festgehalten, und dies mit Recht. Zweitens ist zu bemerken, daß gerade die moralische Größe der Entschlossenheit, verstanden als Mut zu eigenverantwortlichem militärischen Handeln, eine überaus wichtige Rolle in der Entwicklung der Führungsauffassungen und Führungsvorschriften des deutschen Militärs gespielt hat.49 Die ausdrückliche Forderung nach Entschlossenheit findet sich in Form einer allgemeinverbindlichen Dienstvorschrift z. B. in der Nr. 38 der Felddienstordnung von 1908, in der es heißt: „So bleibt entschlossenes Handeln das erste Erfordernis im Kriege. Ein jeder, der h ö c h s t e Führer wie der jüngste Soldat, muß sich stets bewußt sein, daß Unterlassen und Versäumnis ihn schwerer belasten als Fehlgreifen in der Wahl der Mittel." 50
47 48
49
Zitiert nach Millotat: Das preußisch-deutsche Generalstabssystem, S. 1 4 8 . Zitiert nach Millotat, ebd., S. 1 4 8 . Für einen sehr informativen diesbezüglichen Uberblick vgl. Christian von Gyldenfeldt: Entschlossenheit. Der Autor verfolgt die Entwicklung der Entschlossenheitsforderung von Friedrich dem Großen bis hin zur Vorschrift für die Führung im Gefecht von 1973. Zitiert nach Millotat: Ausbildung und Erziehung im Reichsheer, S. 4 1.
KRIEG, FRIKTION UND MORALISCHE GRÖSSEN
269
Aus diesen Formulierungen geht hervor, daß die Forderung nach Entschlossenheit höchste und niedrigste Dienstgrade zusammenbindet, insofern sie explizit an alle Soldaten gerichtet wird. Es ist nicht klar, ob Clausewitz in dieser Hinsicht bereits ähnlich radikal gedacht hat. Wohl aber hat er das vorgedacht, was in der zitierten Führungsvorschrift dann inhaltlich unter Entschlossenheit verstanden wird: der Mut zu riskantem Handeln oder auch die Bereitschaft, lieber einen Fehler in Kauf zu nehmen als gar nichts zu tun. Natürlich geht der Reichtum der Clausewitzschen Auffassung von Entschlossenheit in der Felddienstordnung verloren, vor allem der bei Clausewitz so wichtige Gefühlsbezug dieser Größe; der militärisch unmittelbar relevante Kern bleibt jedoch erhalten. Nun gibt es an obiger Vorschrift einen weiteren bemerkenswerten Punkt, der in dem Ausdruck „Wahl der Mittel" versteckt liegt. Diese Wendung bedeutet im Ergebnis, daß der Soldat, der einen Befehl befolgen soll, über die Art der Ausführung dieses Befehls selbst entscheidet. Tatsächlich heißt es in Artikel Nr. 49 derselben Dienstordnung: „Ein Befehl soll alles das, aber nur das enthalten, was der Untergebene wissen muß, um zur Erreichung des Zwecks selbständig handeln zu können." '
In diesem Passus wird deutlich ein deutsches militärisches Führungsprinzip zum Ausdruck gebracht, das häufig mittels des Wortes „Auftragstaktik" charakterisiert wird. 52 Diesem Grundsatz liegt das Bestreben zugrunde, dem militärischen Führer, gleich welchen Dienstgrades, einen größtmöglichen Handlungsspielraum bei der Befehlsausführung zu verschaffen. Es ist nicht zufällig, daß das Prinzip der Auftragstaktik von Anfang an im Verband mit der Forderung nach Entschlossenheit auftritt. Beide gehören zusammen, denn offenkundig ist die Gewährleistung von Entscheidungsfreiheit bei der Befolgung von Befehlen die Voraussetzung dafür, daß eine moralische Größe wie Entschlossenheit überhaupt auf breiter Front verwirklicht werden kann. Es gibt bei Clausewitz keinen präzisen Vorgriff auf das Prinzip der Auftragstaktik, so wie es dann in der zitierten Felddienstordnung formuliert ist. Dennoch handelt es sich dabei um einen äußerst Clausewitzianischen Grundsatz. Es liegt ihm der Gedanke zugrunde, daß militärisches Handeln im Krieg nicht bis ins Detail vorgeschrieben werden kann und sollte, weil der Planung und Berechnung von Ereignissen im Krieg generell Grenzen gesetzt sind. Deshalb muß der militärische Befehl stets den friktionalen Charakter eines jeden Krieges berücksichtigen. Dies bedeutet auch, daß der Befehlsgeber in letzter Instanz auf jene Faktoren vertrauen muß, die allein in der Lage sind, der Friktion Widerstand entgegenzusetzen, auf die moralischen Größen, von denen jene verantwortungsbewußte Risikofreudigkeit, die Clausewitz im Begriff der Entschlossenheit denkt, vielleicht die entscheidendste ist.
Zitiert nach Greiner: Zeitgemäße Führungsprobleme, S. 1 2 3 . Für gründliche und ausführliche Überlegungen zu Geschichte und Bedeutung des Prinzips der Auftragstaktik siehe die beiden in den vorhergehenden Fußnoten erwähnten Artikel von Millotat und Greiner. Bei Gyldenfeldt (siehe Fn. 49) kommt zwar der Ausdruck „Auftragstaktik" nicht vor, doch geht es sehr wohl (auch) um diese Sache. Zum ganz aktuellen Status der Auftragstaktik in der Bundeswehr vgl. Millotat: Die neuen Führungsgrundlagen der Bundeswehr, bes. 9 I f f .
270
4.3.3.4.
D I E THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
Die
Gemütsstärke
Gemüts- oder Seelenstärke bestimmt Clausewitz als „das Vermögen, auch bei den stärksten Anregungen, im Sturm der heftigsten Leidenschaft, noch dem Verstände zu gehorchen." (VK I, 3, S. 241)
Des weiteren heißt es über dieses Vermögen: „Sollte dies Vermögen bloß von der Kraft des Verstandes herrühren? Wir bezweifeln es. (...) Aber wir glauben der Wahrheit doch näher zu sein, wenn wir annehmen, daß die Kraft, sich auch in den Augenblicken der heftigsten Gemütsbewegung dem Verstände noch zu unterwerfen, welche wir die Selbstbeherrschung nennen, in dem Gemute selbst ihren Sitz hat. Es ist nämlich ein anderes Gefühl, was in starken Gemütern der aufgeregten Leidenschaft das Gleichgewicht hält, ohne sie zu vernichten, und durch dieses Gleichgewicht wird dem Verstände erst die Herrschaft gesichert. Dieses Gegengewicht ist nichts anderes als das Gefühl der Menschenwürde, dieser edelste Stolz, dieses innerste Seelenbedürfnis, überall als ein mit Einsicht und Verstand begabtes Wesen zu wirken. Wir würden darum sagen: ein starkes Gemüt ist ein solches, welches auch bei den heftigsten Regungen nicht aus dem Gleichgewicht kommt." (VK I, 3, S. 241)
Statt „Gemütsstärke" können wir also auch „Selbstbeherrschung" sagen. Die Selbstbeherrschung ist die Kraft, sich auch bei heftigen Gemütsregungen noch dem Verstände zu unterwerfen. Diese moralische Größe unterscheidet sich von den bisher erwähnten. Der Mut gegen physische Gefahr im Sinne von Gleichgültigkeit hat offenkundig mit Gemütsstärke, aufgefaßt als Selbstbeherrschung, nichts zu tun. Wer gleichgültig ist oder geworden ist, hat keine Mühe damit, seine Leidenschaften dem Verstand zu unterwerfen, weil er von Leidenschaften gar nicht erst bewegt wird. Der Mut gegen äußere Gefahr im Sinne eines positiv motivierten Gefühls ist eben ein Gefühl und beruht nicht, wie die Selbstbeherrschung, auf einer Wechselbeziehung zwischen Gemüt und Verstand. Wie Clausewitz selbst sagt, kann diese Art des Mutes, die Kühnheit nämlich, den Verstand sogar oft verblenden (vgl. VK I, 3, S. 233). Außerdem ist die Kühnheit oft nur punktuell und nicht von Dauer, während es sich bei der Gemütsstärke um ein konstant vorhandenes Vermögen handelt. Der Takt des. Urteils ist ein intuitiv arbeitender Verstand, der zu seiner Vervollkommnung vielleicht einer langen Erfahrung bedarf, aber nicht notwendigerweise der Selbstbeherrschung. Die Entschlossenheit ist, obwohl sie aus dem Verstand entspringt, ebenfalls ein Gefühl, und es ist möglich, daß sie nur im Einzelfall zum Tragen kommt. Die Selbstbeherrschung bzw. Gemütsstärke unterscheidet sich von den anderen moralischen Größen durch die Kombination zweier Merkmale. Sie ist erstens von Clausewitz als eine dauerhaft wirksame Kraft konzipiert, und zweitens ist sie ein koordinatives Vermögen, insofern durch sie Gefühl und Verstand in die rechte Beziehung zueinander gesetzt werden. Es überrascht nicht, im Rahmen einer Abhandlung über kriegerisch-soldatische Tugenden auf die Kategorie der Selbstbeherrschung zu stoßen. Wir verbinden sie intuitiv mit der Vorstellung von Disziplin, welche gemeinhin als der „Klassiker" unter den militärischen Tugenden gilt. Abgesehen davon, daß die Selbstbeherrschung bei Clausewitz nur als einer von mehreren entscheidenden Faktoren im Kräfteverband des kriegerischen Genius fungiert, ist es interessant, wie er die Idee der Selbstbeherrschung mit Inhalt füllt.
KRIEG, FRIKTION U N D MORALISCHE GRÖSSEN
271
Die Selbstbeherrschung ist zwar eine Kraft, sich auch bei heftigen Gefühlen dem Verstand zu unterwerfen, aber diese Kraft ist selbst im Gemüt ansässig. Was Clausewitz also in seiner Konzeption der Gemütsstärke im Sinn hat, ist ein Balanceakt zwischen Gefühlen, der die starke Leidenschaft eben nicht vernichtet, nicht einmal deren Intensität abschwächt, sondern diese durch ein Gegengewicht ausgleicht. Clausewitz erkennt die hohe Funktionalität, die gerade auch starken Affekten innewohnt, und es geht ihm darum, diese Funktionalität zu bewahren, gleichzeitig aber deren mögliche negative Wirkungen zu neutralisieren. Der General ist der Auffassung, daß der Verstand aus sich heraus nicht die Kraft hervorbringt, sich Gefühle zu unterwerfen, und meint daher folgerichtig, daß es sich bei der neutralisierenden Kraft selbst um ein Gefühl handeln muß. Er charakterisiert jene Leidenschaft mittels des Ausdrucks „Menschenwürde", worunter wir uns selbstverständlich nicht das denken dürfen, was heute mit diesem Ausdruck verbunden wird. 53 Was Clausewitz so bezeichnet, läßt sich als eine spezifische Form von Ehrgeiz bzw. Ehrstreben auffassen, und zwar als das ausgeprägte psychische Bedürfnis, von anderen Menschen als intelligent anerkannt zu werden. Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, wo und wie sich diese Clausewitzschen Analysen von dem in manchen Hinsichten verwandt scheinenden platonischen Modell der Einzelseele aus der Politela unterscheiden. So wie bei Piaton der vernünftige Seelenteil (logistikon) den begehrlichen Teil (epithymetikon) beherrschen soll, so ist auch bei Clausewitz von einer Herrschaft des Verstandes über (bestimmte) Leidenschaften bzw. heftige Gefühle die Rede. Auch nach Piaton herrscht das Vernünftige nicht völlig allein, sondern hat (zumindest idealerweise) als Verbündeten den eifrigen bzw. mutigen Teil der Seele (thymoeides). Piaton wie auch Clausewitz geht es um die rechte Ordnung, die Harmonie der innerseelischen Dinge. Doch wir wollen diese Analogien hier dazu benutzen, um die Eigenart der Clausewitzschen Denkweise aufzuzeigen. Um exakte Analogien handelt es sich ohnehin nicht, denn in diesem Fall müßten die platonische und die Clausewitzsche Begrifflichkeit weitgehend ineinander übertragbar sein, wovon natürlich keinesfalls die Rede sein kann. Höchstens kann man von Strukturähnlichkeiten sprechen. Der Gedanke, das Vernünftige könne durch irgend etwas anderes als sich selbst herrschen, nämlich dadurch, daß es weise ist, ist Piaton fremd. Auch der mutige Seelenteil hat ja den Status eines Befehlsempfängers und ausführenden Organs und sorgt nicht etwa dafür, daß sich die Herrschaft des Vernünftigen überhaupt erst etablieren kann. Ganz und gar unplatonisch ist die Vorstellung, daß das Vernünftige seine Herrschaft ausgerechnet dem Streben nach irgendeiner Art von Ruhm verdankt, ist solches Verlangen doch immer auf doxa, auf Schein gerichtet. Ebenso unbekannt scheint mir Piaton das Modell von sich gegenseitig ausbalancierenden Gefühlen oder Affekten zu sein.
Der Ausdruck „Menschenwürde" gehört auch zum kantischen Vokabular und wird von Kant auf folgende Weise verwendet: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; ( . . . ) der Mensch ( . . . ) ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem andern Menschen praktisch anzuerkennen." (Kant: Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, § 38, Akademieausgabe, hrsg. von Paul Natorp, Bd. VI, S. 462. Zitiert nach: Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, S. 6 0 0 f.).
DIE THEORIE DES KRIEGES BEI CLAUSEWITZ
272
4.3.3.5.
Vier
Gemütskonstitutionen
Im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Gemütsstärke bzw. Selbstbeherrschung legt Clausewitz eine Unterscheidung von vier Gemütskonstitutionen dar (vgl. VK I, 3, S. 241 ff.), die sich ähnlich auch in Kants Temperamentenlehre findet, 54 in der Anthropologie zu Clausewitz' Zeit überhaupt recht gängig war, 55 in letzter Instanz jedoch schon auf die ärztlichen Theoretiker der griechischen Antike zurückgeht. 56 Das erste Temperament ist dasjenige des Phlegmatikers, das generell durch geringe Regsamkeit gekennzeichnet ist. Bei Kant kann Phlegma unter Umständen auch eine Stärke sein, 57 und zwar dann, wenn Menschen zwar nicht schnell, sondern langsam, dann aber dauernd bewegt werden. Clausewitz dagegen betrachtet den Phlegmatiker augenscheinlich als weitgehend unempfindlich gegenüber Gemütsregungen. Zweitens gibt es jene Menschen, die zwar gefühlvoll sind, deren Gefühle jedoch niemals ein gewisses Maß überschreiten. Bei Kant entspricht dem das sanguinische Temperament. 58 Nach Kant ist der Sanguiniker in der Regel gutmütig, hilfsbereit und freundschaftlich, aber zu oberflächlich, um irgendeiner besonderen Sache eine große Bedeutung beizumessen. Als einen dritten Typus Mensch charakterisiert Clausewitz sehr reizbare Personen, deren Gefühle sich äußerst schnell und heftig entzünden, aber nicht von Dauer sind. In der kantischen Anthropologie korrespondiert diesem das cholerische Temperament. 59 Schließlich beschreibt Clausewitz die Gemütsdisposition solcher Menschen, die nur langsam in Bewegung kommen, deren Gefühle dafür aber dauerhaft, energisch und tief sind. Diesem Typus entspricht bei Kant am ehesten das melancholische Temperament. 60 Allerdings fällt Kants Skizze des zur Melancholie Gestimmten deutlich weniger positiv aus als diejenige von Clausewitz. So sind Menschen dieser Art nach Kant zwar niemals oberflächlich, aber andererseits auch stark egozentriert, unempfänglich für Freude und Frohsinn und nicht sehr menschenfreundlich. Clausewitz interessiert sich für diese vier Temperamente nicht um ihrer selbst willen, sondern es beschäftigt ihn die Frage, welche Art von Mensch die besten Anlagen zur Entfaltung des kriegerischen Genius hat, insbesondere hier zu dem, was er unter Gemütsstärke versteht. Clausewitz' Antwort auf diese Frage ist, kurz gefaßt, folgende (vgl. VK I, 3, S. 242 ff.): Die zum Phlegma bzw. zur Indolenz neigenden Menschen befinden sich zwar mit sich im Gleichgewicht, doch hat dies nichts mit Seelenstärke zu tun, weil sie eben überhaupt nicht leicht bewegt werden können. Da ihnen jedes positive Handlungsmotiv fehlt, sind sie im militärischen Bereich in Führungspositionen nicht zu gebrauchen. Die sanguinischen Menschen verfügen sowohl über ein gewisses Gleichgewicht des Gemütes als auch über ein bestimmtes Maß an Tatkraft, aber von großen Anforderungen werden sie eher erdrückt als angespornt. Deshalb können sie im Kriege selten etwas Bedeutendes vollbringen. Die Choleriker haben zwar starke Antriebe, doch sind diese nicht von Dauer, und daher können Menschen dieser Art im Kriege nur kurzfristige Erfolge erzielen. Sie gehören nach Clausewitz
57