Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter: 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der Oder 9783050049892, 9783050043302

Grenze und Grenzüberschreitung war das Thema des 11. Symposiums des Mediävistenverbandes, das im März 2005 in den beiden

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Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter: 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der Oder
 9783050049892, 9783050043302

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Ulrich Knefelkamp, Kristian Bosselmann-Cyran (Hg.)

Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter

Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt an der Oder Herausgegeben von Ulrich Knefelkamp und Kristian Bosselmann-Cyran

Akademie Verlag

Zur Einbandgestaltung ist ein Motiv der Schedelschen Weltchronik, 1493, fol. CCLIII, verwendet worden. Entwurf von Kristian Bosselmann-Cyran. Gefördert durch die Europäische Union im Rahmen des Interreg III A Projektes für Brandenburg-Lubuskie.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-05-004330-2 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2007 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Scheffler, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“ GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

X

Eröffnungsvortrag KARL SCHLÖGEL Grenzen und Grenzerfahrungen im alten und neuen Europa

3

Sektion 1: Leben an Grenzen GERHARD W OLF Ein Kranz aus dem Garten des Gramoflanz. Grenzen und Grenzüberschreitung zwischen Mythos und Literatur in der Gauvain/Gawan-Handlung des Perceval/Parzival. Reale, literarische und symbolische Grenzen

21

GEORG JOSTKLEIGREWE „Ganzer frid noch staeter suon ... wirt nimmer ûf der riviere der zweier rîche gemerke“ – eine deutsch-französische Erbfeindschaft ante litteram? Ottokar von Steiermark und die problematische Konstruktion „nationaler“ Grenzen in vornationaler Zeit

37

ADAM SZWEDA Methoden der Schlichtung von Grenzstreitigkeiten zwischen Polen-Litauen und dem Deutschen Orden nach Abschluss des Friedens von Brze+) im Jahre 1435 am Beispiel des in Toru* und Nieszawa wirkenden Grenzgerichts

54

VI

Inhalt

MARIO MÜLLER Beziehungsgrenzen der Kurfürsten von Brandenburg (15./16. Jahrhundert)

66

ALINE KOTTMANN Materielle Kultur und soziale Affiliation. Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich einer sozialen Grenzziehung aus archäologischer Perspektive

81

RAFA* SIMI,SKI Die lokalen Grenzen in Livland im 13. und 14. Jahrhundert. Entstehung und Funktion

93

Sektion 2: Grenzen der Gesellschaft HEIKE JOHANNA MIERAU Gerüchte als Medium der Grenzüberschreitung im Bonifaz-Prozeß

109

KIRSTEN O. FRIELING Zwischen Abgrenzung und Einbindung: Kleidermoden im Reichsfürstenstand des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts

122

WIES*AW D*UGOK+CKI Die Bildung der Grenze zwischen dem Deutschordensland Preußen und dem Herzogtum Masowien in den Jahren 1343-1422

136

SILKE WINST Die Topographie des Selbst: Zur Ausdifferenzierung von Außen- und Innenräumen in spätmittelalterlichen Liebes- und Reiseromanen

152

PETER KLEIN Rand- oder Schwellenphänomene? Zur Deutung der Randbilder in der mittelalterlichen Kunst

166

MARTIN PRZYBILSKI Leben auf der Grenze. Die mentale Landkarte des jüdischen Konvertiten in der Literatur des europäischen Hoch- und Spätmittelalters

188

RUTH SASSENHAUSEN Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Periodisierung menschlicher Lebensalter. Zu ‘Schwellenzuständen’ in der Artusepik des hohen Mittelalters

200

Inhalt

VII

Sektion 3: Grenzen der Kommunikation JOERN-MARTIN B ECKER, DORIS B ULACH, ULRICH MÜLLER Wissenstransfer, Integration und Ausgrenzungen im Handwerk der südlichen Ostseeküste und Brandenburgs

215

ROMEDIO SCHMITZ-ESSER Ein Beispiel für Grenzüberschreitung im 12. Jahrhundert: Arnold von Brescia

243

MARCELLO GARZANITI Slavia latina und Slavia orthodoxa: Sprachgrenzen und Religion im Mittelalter

256

KATHARINA PHILIPOWSKI Die Grenze zwischen histoire und discours und ihre narrative Überschreitung. Zur Personifikation des Erzählens in späthöfischer Epik

270

FELICITAS SCHMIEDER Die Welt des Codex Cumanicus. Außereuropäische Kontexte lateinischchristlicher Sprachgrenzüberwindungen

285

CHRISTIANE WITTHÖFT An den Grenzen symbolischer Kommunikation: Verstehen und Missverstehen als Thema von gestischen Disputationen

296

HEIKE SCHLIE Welcher Christus? Der Bildtypus des „Schmerzensmannes“ im Kulturtransfer des Mittelalters

309

CORINNA LAUDE Sye kan ir sprache nyt verstan ‚Grenzsprachen‘ und ‚Sprachgrenzen‘ im Mittelalter

331

HANNS PETER NEUHEUSER Grenze und Grenzüberschreitung im Umfeld von sakralen und profanen Zeichenhandlungen

345

VIII

Inhalt

Sektion 4: Grenzen des Wissens MECHTHILD DREYER, STEFAN SEIT, MATTHIAS VOLLET Diesseits und jenseits des allgemein Zugänglichen – Vom Umgang mit dem arcanum in Wissenschaft und Weisheit

361

ROLF DARGE Überschreitung der Kategoriengrenze. Neuerungen in der spätmittelalterlichen Lehre vom transzendentalen Guten

385

ORTRUN RIHA Nächstenliebe und Ausgrenzung. Aussatz als soziale Krankheit im Mittelalter

400

FLORIAN STEGER Von Grenzüberschreitungen. Kulturtransfer medizinischer Theorie im Mittelalter

414

MARZENA GORECKA Mystik als grenzüberschreitendes Phänomen - exemplarisch dargestellt an der Deutschen Mystik des Mittelalters

428

GERHARD KRIEGER Die Rückkehr des Sokrates. Oder: Wo liegen die Grenzen mittelalterlichen Denkens?

439

FOLKER R EICHERT Der eiserne Sarg des Propheten. Doppelte Grenzen im Islambild des Mittelalters

453

PATRIZIA LICINI A full image of a cultural space: the Sawley Mappa Mundi as a global memory hypertext

470

SILKE GROTHUES Grenzüberschreitungen in Hartmanns von Aue ‚Gregorius’ und Grenzauflösungstendenzen in Thomas Manns ‚Gregorius’-Adaption ‚Der Erwählte’

490

Inhalt

IX

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

504

Register der Personennamen

508

Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter

Einleitende Bemerkungen Das 11. Symposium des Mediävistenverbandes hat vom 14. bis 17. März 2005 in den beiden Grenzstädten Frankfurt und S"ubice an der Oder stattgefunden. Die Frankfurter Viadrina-Universität, die im Jahr 2006 ihre Gründung vor 500 Jahren feierte, hat ihre Gäste auf einer Grenze mitten in Europa begrüßen dürfen. Die Grenze zwischen den beiden gastgebenden Städten bildet die Oder, einer der großen, weitgehend ungezähmten Ströme des europäischen Kontinents. Überquert wird der Fluss von der deutschpolnischen Grenzbrücke, die die sehr konkrete Anschauung des Tagungsthemas demonstriert hat: Grenze und Grenzüberschreitung stehen hier in sehr enger Verbindung. Der Mediävistenverband hat sich dem Thema bei seinem 11. Symposium – wie bei all seinen Konferenzen – interdisziplinär genähert. Der Gegenstand implizierte nicht nur räumlich-geographische, sondern auch soziale, kulturelle und intellektuelle Grenzen und Grenzüberschreitungen. Die Beiträge, ausgewählt von den Veranstaltern in Abstimmung mit Vorstand und Beirat des Verbandes, sollten zu einer fachübergreifenden Diskussion anregen und sich in die vier vorgeschlagenen Sektionen einfügen. Folgende Stichworte haben dazu den Rahmen vorgegeben: 1. Sektion Leben an Grenzen • Marken und Grenzen • Natürliche Grenzen • Brücken und Wege • Grenzstreit

2. Sektion Grenzen der Gesellschaft • Transformationen • Gesellschaftliche Tabus und Zwänge • Normative Grenzen

3. Sektion: Grenzen der Kommunikation • Sprachgrenzen und Übersetzungen • Verstehen und Missverstehen • Handel und Reisen • Wissenstransfer und Motivwanderung

4. Sektion: Grenzen des Wissens • Religion • Weltbild • Bildung und Wissensvermittlung • Vernunft und Erfahrung • Scientia und Sapientia • Technik

Grenzen und Grenzerfahrungen im alten und neuen Europa – eine Meditation –

XI

Angesichts der vielen vorgeschlagenen Themen konnten nicht alle in die vier Sektionen themengenau eingepasst werden. Daher haben die Veranstalter versucht, die Sektionen gleichmäßig mit Beiträgen auszustatten. Für den Eröffnungsvortrag im Collegium Polonicum auf der polnischen Seite der Oder konnte mit Karl Schlögel vor Ort ein Wissenschaftler gefunden werden, der aus der Sicht des Zeithistorikers das Kommen und Gehen von Grenzen und die neue Kartierung in der Mitte Europas im Visier hat und die Teilnehmer auf beeindruckende Weise in die Begrifflichkeit und die verschiedenen Bereiche der Thematik der Tagung mit Verweisen auf die besondere Lage des Tagungsortes einführen konnte. Die weiteren Vorträge von teils arrivierten, teils jungen Wissenschaftlern zeigten die breite Palette der Möglichkeiten auf, wie diese Thematik von verschiedenen Disziplinen angegangen werden kann. Im Verlauf der Sektionen entwickelte sich daher das interdisziplinäre Gespräch, das den Mediävistenverband auszeichnet. Dieser wichtige Austausch über die Disziplinen hinaus, also grenzüberschreitend, verdeutlichte die aktuellen methodischen Ansätze und Entwicklungen in den einzelnen Disziplinen, die sonst von anderen kaum wahrgenommen werden. Ein besonderer Aspekt angesichts des Tagungsortes war die Teilnahme mehrerer polnischer Wissenschaftler, die auf diese Weise unterschiedliche Herangehensweisen, eher traditionell oder eher neue Wege suchend, ihrer Disziplinen verdeutlichen konnten. Weitere ausländische Referenten unterstrichen den internationalen Charakter des Geschehens an der Europa-Universität Viadrina. Der vorliegende Band fasst die zur Publikation überarbeiteten Tagungsbeiträge zusammen, die schließlich eingereicht worden sind. Die Herausgeber danken allen Kolleginnen und Kollegen für die ausgezeichnete Zusammenarbeit und das Verständnis für editorische Zwänge, die – wie leider üblich – aus Kostengründen mitunter schmerzhafte Kürzungen der Texte nötig gemacht haben. Tagung und Tagungsband sind von der Europa-Universität Viadrina dankenswerterweise aus Mitteln der Interreg III-Förderung der Europäischen Union am Europäischen Wissenschaftszentrums (EWZ) des Collegiums Polonicum unterstützt worden. Die redaktionelle Gesamtverantwortung für den Tagungsband hatte Monika Cyran M.A. inne. Für ihre umsichtige und sorgfältige Arbeit (die bereits den reibungslosen und rundum erfolgreichen Ablauf der Tagung selbst ermöglicht hat) schulden die Herausgeber besonderen Dank. ULRICH KNEFELKAMP KRISTIAN B OSSELMANN-CYRAN

Frankfurt an der Oder, im Oktober 2006

I. Eröffnungsvortrag

KARL SCHLÖGEL

Grenzen und Grenzerfahrungen im alten und neuen Europa – eine Meditation –

Vortrag zum 11. Symposium des Mediävistenverbandes in Frankfurt an der Oder am 14. März 2005 Meine sehr verehrten Damen und Herren, Grenze, im Russischen und Polnischen: granica, ist eines der nicht sehr zahlreichen slawischen Vokabeln, die ins Deutsche Eingang gefunden haben. Das mag seine Bedeutung haben. Grenzüberschreitung ist in Europa, besonders in Mitteleuropa, etwas geradezu Alltägliches. Aber wie wir aus Erfahrung wissen, wird gerade das, was sich Tag für Tag ereignet, was zur Routine geworden ist, was sich wie von selbst versteht, am allerwenigsten Gegenstand der Reflexion. Alltagsvorgänge sind in der Regel unspektakulär, nicht der Rede wert. Dinge werden in der Regel erst zur Sprache gebracht, wenn sich etwas Besonderes, meist etwas Dramatisches, oder gar Katastrophisches ereignet hat. Wenn Mediävisten von weither sich zum Thema „Grenze und Grenzüberschreitungen im Mittelalter“ hier eingefunden haben, dann sicher nicht nur deshalb, weil es ein paar Forschungsdesiderate auf- oder nachzuarbeiten gibt, sondern weil das Thema der Grenze und der Grenzüberschreitung zu einer ganz neuen Aktualität gelangt ist. Ich meine damit weniger die tages- und parteipolitische Aktualität, die sich derzeit um Visavergabe, Schleuser, Illegalität, Kriminalität und die Allüren eines Außenministers dreht, sondern jene großen Veränderungen, die mit der Jahreszahl 1989, also mit einem Epochenende bezeichnet sind. 1989 ist gefasst worden als das definitive Ende des Kalten Krieges, als das Ende der Teilung Europas, als Ende der Nachkriegszeit und folglich als Neuordnung auch der räumlich-territorialen Verhältnisse, die damit gegeben waren. Auch für die Beschäftigung mit ferner liegenden Epochen gilt, dass die Fragen, die die Historiker an die Vergangenheit richten, nicht allein von der Logik der Forschung vorgegeben, sondern auch von der Gegenwart her, von der in ihr lebenden Generation gestellt werden.

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Karl Schlögel

„1989“ hat den Lebenshorizont der heute lebenden Generationen verändert. Die Grenzen, innerhalb derer wir bis dahin gelebt haben, die unseren Erwartungshorizont, den Radius unserer Aktivitäten definiert hatten, haben sich verändert. Der Raum, in dem die Europäer bis dahin, mehr als ein halbes Jahrhundert gelebt hatten, war zusammengebrochen, ein neuer begann sich zu bilden. Ich habe im Folgenden vor, Ihnen einige Beobachtungen über die Grenzen und Grenzerfahrungen „davor“ und „danach“ mitzuteilen; ich hoffe, sie sind nicht so banal, dass ich Sie damit langweile. Ich werde nicht über das Mittelalter sprechen, in dem ich nicht zuhause bin, sondern über die mir durch Ausbildung und Reisen besser vertrauten Welt des mittleren und östlichen Europa. Mich interessieren dabei folgende Aspekte, die ich Ihnen in einer Art kreisender, reflexiver, meditativer Bewegung vortragen möchte. Erstens: Ich möchte mit einer Erfahrung beginnen, die zeigt, dass es ganz verschiedene Umgänge mit Grenze geben kann. Zweitens: Ich möchte als Phänomenologe weniger mit einer Definition als mit Beobachtungen von der Grenze fortfahren, mit einer Art Phänomenologie der Grenzüberschreitung. Drittens: Ich möchte dann doch etwas systematischer den Komplex „Grenze“ und „Grenzüberschreitung“ entfalten, um deutlich zu machen, dass es sich im Grunde um einen riesenhaften kulturellen Komplex handelt, der eigentlich nur in einer multidisziplinären Perspektive bearbeitet werden kann. Viertens: Ich möchte etwas zur Verwandlung der Grenzen in der Zeit „davor“ und in der Zeit „danach“ sagen, wie aus einer großen Grenze viele kleine wurden. Fünftens: Ich möchte abschließend ein Plädoyer für eine Kultur der Grenzüberschreitung formulieren, die unabdingbar ist, wenn wir nicht zurückfallen wollen in die Zeit der Teilung der Welt von einst. Es folgt ein kleines Postskriptum, das sich mit dem Erkenntnisprivileg des Ortes, also eines Grenzortes beschäftigt, und mit der Frage, was eine Universität wie die OderUniversität – nichts anderes bedeutet ja: Viadrina - leisten könnte. Frankfurt ist eine Grenzstadt, wie Sie aus eigener Anschauung schon wissen. Die Filmemacher haben das längst entdeckt. Die Märkische Oderzeitung führt Tag für Tag ein genaues und aufschlussreiches Protokoll über die molekularen Vorgänge auf beiden Seiten der Grenze. Als Leser erfährt man fast jeden Tag etwas Neues: über die List, die erforderlich ist zur Überschreitung einer ziemlich gut bewachten Grenze; über die Differenz der Preise von Zigaretten in verschiedenen Ländern; über das Raffinement der Schmuggler - sei’s von Ikonen oder Jagdfalken. Die Journalisten haben längst – manch-

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mal etwas zu viel – den Sexappeal, den Kick, die erhöhte Temperatur an der Grenze herausgefunden, halten die Hand am Puls der Befindlichkeiten beidseits des Stromes. Hier gibt es immer etwas zu berichten über Prostitution, Nachtklubs, Autoschiebereien, Bestechung, und über die Melancholie der Straßenmusikanten auf der polnischen Seite der Brücke, die freilich alle von weither kommen: aus Galizien, aus Moldawien, aus der Gegend um Minsk oder nur aus dem nicht allzu fernen Zielona Góra. Ich will damit sagen: es gibt hier reichlich Stoff für alle, deren Sinne wach und aufmerksam sind. Grenzen generell, so auch diese, sind ein anregendes Mikroklima, es gibt einen Eros der Grenze. An Grenzen ist eine Welt nicht zu Ende, sondern fängt eine andere an. Man hat es ohne eigenes Verdienst an einem Ort immer schon mit zwei Welten zu tun. Das ist eigentlich spannend und steht zu einer nicht wenig verbreiteten Jammerstimmung an der Grenze in Widerspruch. Nun aber zu meiner Ausgangsbeobachtung.

Glücklich das Land, das Grenzen hat – Lob der Grenze Nicht überall gilt die allgemeine Grenzüberschreitungs-Erfahrung der Mitteleuropäer. Ich erinnere mich, als ich zum ersten Mal nach Kaliningrad/Königsberg fuhr. Das war kurz nach der Öffnung der Stadt im Jahre 1992. Ich fuhr im Bus aus Vilnius über Kaunas zur Grenzstadt Sowjetsk, das alte Tilsit an der Memel, die hier von der alten KöniginLuise-Brücke überquert wird. Die litauische Souveränität war noch sehr frisch. Die Grenzkontrollen noch sehr improvisiert, die Handlungen der Grenzbeamten noch etwas unsicher. Betonblocks zwangen den Bus zum Slalom. Die Zoll- und Passbeamten in ihren ebenfalls ganz frischen Uniformen mit den neuen Hoheitszeichen kamen in den Bus und verlangten die Pässe. Für die meisten Passagiere war dies eine völlig neue Erfahrung: sie waren ihr Leben lang von Vilnius, Kaunas oder Klajpeda nach Kaliningrad gefahren und noch nie hatte man sie nach ihrem Pass gefragt. Die allermeisten hatten auch gar keinen Auslandspass. Zwei Frauen waren so empört und begannen in ihrer Wut und Hilflosigkeit zu schreien und zu weinen: „Was! Warum brauchen wir hier einen Pass! Hier hat es nie eine Grenze und nie eine Kontrolle gegeben. Es ist unglaublich.“ Die beiden Russisch sprechenden Frauen waren auf dem Weg zu ihren Verwandten im Kaliningrader Gebiet, das nun für litauische Staatsbürger zum Ausland geworden war. Sie mussten schließlich den Bus verlassen und zurückbleiben. Sie hatten noch nicht verstanden, dass das Reich, in dem es nur einen endlosen und grenzenlosen Raum, nicht aber souveräne Staaten mit eigenen Grenzen gab, zu existieren aufgehört hatte. Sie hatten ihr Lebtag lang in einem Reich gelebt, in dem es mehr als Hundert Völkerschaften, Dutzende Sprachen, religiöse Bekenntnisse gab, nicht aber Grenzen – es sei denn die Grenzen, die um geschlossene Städte und Sperrbezirke gezogen waren. Dies bedeutete, dass obwohl die Sowjetunion von einem „Eisernen Vorhang“ umgeben war, der in der Tat unüberwindlich war, die Erfahrung der Grenze und der Grenzüberschreitung etwas

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Karl Schlögel

ganz Neues war. Es war für die einen eine großartige, befreiende, für andere eine beklemmende, beängstigende Erfahrung – in jedem Falle aber ein den ganzen Lebenshorizont erschütternder Vorgang. Unterwegs in der Sowjetunion bzw. Russland hatte ich immer das Gefühl, dass der weite, endlose Raum des Reiches etwas sehr Ambivalentes ist. Viele Probleme der russischen Geschichte und Gegenwart scheinen etwas mit der Größe, der Grenzenlosigkeit, der Abwesenheit von inneren Grenzen und Schranken, mit der mangelnden Gliederung von Regionen als autonomen Einheiten zu tun zu haben. Hierzu zählen die Schwäche von Infrastruktur, Verwaltung, auch Durchherrschung und verkehrsmäßiger Bewältigung. Good Governance scheint an bestimmte „checks and balances“, eine gewisse innere Gliederung gebunden. Ich empfand die Auflösung der UdSSR nicht nur als legitim im Sinne der Selbstbestimmung der Völker, sondern vor allem im Sinne der Entwicklungsmöglichkeiten Russlands selbst, als Befreiung von der Bürde des Imperiums. Zurück im Westen dieses „Lob der Grenze“ anzustimmen, war nicht nur politisch inkorrekt, sondern grenzte an eine Blasphemie, waren doch Aufhebung der Grenzen, grenzenlose Mobilität, schrankenlose Grenzüberschreitung zentrale Elemente einer insgesamt universalistisch-kosmopolitisch gestimmten Öffentlichkeit, die den engen Nationalstaat hinter sich bringen wollte. Grenzen sind das denkbar Eindeutige. Sie trennen Drinnen und Draußen. Sie verlaufen zwischen Diesseits und Jenseits. Sie sind der Limes, der die zivilisierte Welt von den Barbaren trennt. Sie sagen einem, wer dazu gehört und wer nicht. Grenzen sind die wichtigste Raumerfahrung, ebenso wie ihr Gegenteil: die Grenzenlosigkeit. Sie besagen: hier hört etwas auf, hier fängt etwas an. Sie gliedern Territorien, die sonst nur formloser, leerer Raum wären. Sie geben etwas Gestalt. Wir können ohne Grenzen nicht leben. Ohne Grenze wären wir verloren. Und doch wird Grenze meist assoziiert mit Beschränkung, mit Einschränkung, mit beschränkt. Grenze ist ein Codewort für Unfreiheit, für Barriere, für Enge, während Grenzüberschreitung, Grenzenlosigkeit, gar Entgrenzung einen semantischen Mehrwert enthält und positiv aufgeladen ist. Noch nie ist ein Lob der Grenze gesungen worden, obwohl klar ist, dass es Kultur ohne Respektierung von Grenzen und eine Kultur der Grenze nicht geben kann. Und in der Tat leben wir ja schon in einer weitgehend entgrenzten Welt. Die Grenzposten auf der Autobahn Aachen – Liège oder Charleroi – Lille sind verwaist und schon in einem Zustand der Verwahrlosung: Ruinen und Denkmäler des alten Europa. Wir zeigen an vielen Stellen, an denen man vor einem Menschenalter nicht passieren konnte, keine Pässe mehr vor. Und dennoch möchte ich meine Rede von einer „Kultur der Grenze“ und mein Lob der Grenze aufrechterhalten. Die Welt von Brüssel-Europa ist nicht die ganze Welt. Aber auch Europa hätte sich glücklich preisen können, wenn es in den 1990er Jahren zur Bildung ganz normaler Grenzen gekommen wäre. Stattdessen fiel Europa zurück in die Zeit der Frontbildung, der Schützengräben, der Scharfschützen, die es auf Grenzgänger abgesehen hatten. Grenzüberschreitung in Groznyj, in Sarajewo, Pristina, Mitrovica, Suchumi, Berg-Karabach war wieder mit Lebensgefahr verbunden. Das Gegenteil von Eisernem Vorhang ist nicht die Grenzenlosigkeit, sondern die kleine Grenze. Das Gegen-

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teil zu beschränkter Mobilität ist nicht Allerwelts-Mobilität, sondern eine kontrollierte Mobilität. Es geht nicht um die Abschaffung der Grenzen in einem utopisch-universalistischen Projekt, sondern um die Kultivierung der Bewegungsformen, um die zivile Meisterung der Grenzen, um eine Kultur der Grenzen, die der Wucht der in Gang gekommenen großen Wanderung Rechnung trägt. Die Vorstellung, dass sich die große Wanderung durch Ukas aufhalten oder gar verhindern lasse, ist ganz weltfremd und kindisch. Politiker, auch die mächtigsten, sind nicht Herren der globalen Migration, nicht die Regisseure, sondern allenfalls die Moderatoren von Bewegungen dieser Dimension. Niemand hält sie auf, und es kann allein um die Bestimmung der Formen, den Modus, die Maßverhältnisse gehen. Daher die Rede von der „Kultur der Grenzüberschreitung“.

Phänomenologie der Grenze Die Bürger Zentraleuropas sind Spezialisten in Sachen Grenze und Grenzüberschreitung. Sie haben viel Lebenszeit mit Grenzübertritten und den dafür notwendigen Prozeduren und Ritualen verbracht und verbraucht. Sie haben Stunden, zusammengerechnet vermutlich Tage an Grenzübergangsstellen verbracht. Sie sind fast berufsmäßige Komparatisten, die ihre Feldstudien in höchster Aufmerksamkeit, ja Anspannung durchgeführt haben. Sie haben verglichen: worin sich Berlin-Friedrichstraße von Dover-Calais unterschied und dieses wiederum von Odessa-Istanbul. Wir hatten lang genug Zeit, um Notizen zu machen. Wir haben verstanden, dass es einen Unterschied zwischen wohleingerichteten, seit Jahrhunderten existierenden Grenzübergängen gibt und solchen an ganz jungen und künstlichen Grenzen. Wir können unterscheiden zwischen der Entstehungszeit einer Grenze und ihrer Verfallszeit, denn wir haben den Bau der Mauer von Berlin und ihre Perfektionierung und ihre Demontage binnen weniger Tage mit angesehen. Wir haben verstanden, dass man per Ukas eine Mauer errichten kann, die man innerlich nie akzeptieren wird, aber dann leben wir mit der Mauer im Kopf noch Jahre, nachdem sie längst abgerissen worden ist. Wir haben Langzeitstudien getrieben, wir haben Lektionen fürs Leben erteilt bekommen. An der Grenze hatte man es noch im entferntesten Winkel mit den Auswirkungen der Weltpolitik zu tun, und jede Veränderung der Großwetterlage hatte dort unmittelbare Auswirkungen. Es waren die Grenzen und die Reisebedingungen, die uns gelehrt hatten, dass der Kalte Krieg eine Art auf Dauer gestellter Ausnahmezustand war. Wir haben das ganze Spektrum von Neuerungen studieren können, die der Phantasie der Grenzbürokratie entsprungen waren: Die Bindung der Grenzüberschreitung ans Rentenalter, die Erfindung einer neuen Spezies: der Reisekader, die Erneuerung des Instituts der Sippenhaft, die Leibesvisitation und Durchleuchtung. Ostblock – das war: Visumpflicht, allerlei Bedingungen, die einem den Entschluss zur Reise schwer machten – eine Einladung, irgendwelche Benzin- und Hotelvouchers, die Schlangen vor den Konsulaten, die Willkür, der man ausgeliefert war. Wir sollten diese Erfahrung nicht vergessen: Grenzüberschreitung war ein rite de passage sui generis.

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Karl Schlögel

Grenzen sind die Außenhaut von Staaten, ihre Kontakt- und Reibefläche. Sie verraten uns, wohin die Reise geht, auch wenn wir in der Landeshauptstadt noch nicht angekommen sind. Sie sind wie die Staatswesen, die sie nötig haben. Die Stabilität der Grenzanlagen steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem inneren Gleichgewicht und in direktem Verhältnis zum im Inneren herrschenden Druck. Die Imposanz der Befestigungsanlagen besagt nur, dass das, was sie schützen sollen, hinfällig ist. Ihre Hoheitszeichen sind Drohgebärden oder Verheißungen - je nachdem und je nach Bewegungsrichtung. Diktaturen erkennt man von weitem - an ihren Pforten. Sie verbarrikadieren das Tor, sie verstellen den Durchblick mit Milchglas und Sichtblenden. Sie lassen die Autos, die sich auf den Grenzübergang zubewegen, Slalom fahren. Reisende werden in Kabinen und Verschläge aus Resopal geleitet. Dort wird der Leib von fremden Händen nach Druckwerken abgetastet. Der Gedanke, dass jederzeit etwas passieren könnte, wenn man sich nicht richtig verhält, wird auch dem Sorglosesten implantiert - für die Zeit des Aufenthalts wenigstens. Die Jovialität der Grenzbeamten ist zu jovial, um wahr zu sein. Der rasche Wechsel im Minenspiel bedeutet, dass sie ganz andere Saiten aufziehen können. Der Grenzgänger aus der anderen Welt ist das einzige Objekt, an dem der ohnmächtige Subalterne seine Macht demonstrieren kann. Der technische Fortschritt auch der zurückgebliebensten Diktaturen zeigt sich zuerst an der Grenze, im Übergang von der handgeschriebenen Kartei zum Computer. Die Grenzöffnung schreckt ab: wer hindurch will, passiert einen Lichtkegel, in dem er geblendet und wie ein Insekt von allen Seiten zu sehen ist; er bewegt sich vorsichtig, denn er könnte ins Niemandsland geraten, in dem Gefahren lauern; er unterdrückt seinen spontanen Protest gegen die Prozeduren der Entwürdigung, da er ankommen möchte. Wie sich all die Eingangspforten der einstigen Hemisphäre doch alle glichen! Mit ihrem weißen Licht, mit der Neugier, mit der die Reisenden erwartet wurden, mit dem Geruch aus Lysol und Hausbrand, mit den vielen Schalterfenstern, hinter denen kein Gesicht, sondern eine Maske platziert war, und den vielen Formularen, die auszufüllen und zu unterzeichnen waren, bevor man eingelassen wurde! Wie haben wir geseufzt in jenen Jahren der künstlichen Ermattung, der Demütigung und den Tag herbeigesehnt, an dem das Tor aufgeht und wir gehen können, wo wir wollen. 1989 meint gerade dieses und wer es nicht glaubt, muss sich nur noch einmal die Bilder ansehen: die deutsche Botschaften in Prag und Warschau, die österreichisch-ungarische Grenze, schließlich die Öffnung der Mauer selbst – eine Ikone des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts.

Grenzen als Gegenstand der Forschung – einige systematische Gesichtspunkte Grenzen sind nicht einfach eine Linie, die man überschreitet, sondern ein Feld, eine Institution, ein Symbol, ein Ritual der Demonstration von Hoheit und Souveränität, von

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Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein. Sie sind ziemlich genaue Indikatoren der Macht, sie sind gleichsam das peripherische Organ, die Haut der Macht, die im Zentrum sitzt. In der Grenze läuft alles zusammen: die Fragen der Bildung des Territoriums, die Geschichte des Verkehrs und der Kommunikation, die Welt der Übergänge, die Rolle der Peripherie, die Ikonographie der Staatlichkeit und Herrschaftsausübung, die Geschichte von Nationsbildung und Freiheitsbewegungen, des Exils, der Emigration, von Flucht und Vertreibung, von „imagined communities“ und „imagine-nations“. Grenzen haben selbstverständlich auch eine technologische Seite: von der Markierung durch den Grenzpfahl bis zur unsichtbaren, mit Infrarotkameras gesicherten Demarkationslinie ist es ein langer Weg. Daher lässt sich der Grenze als wissenschaftlichem Gegenstand nur multidisiziplinär beikommen. Sie ist ein Gegenstand par excellence, an dem sich Interdisziplinarität bewähren könnte. Es bedürfte der Zusammenarbeit von Staatsrechtlern und Anthropologen, von Detektiven des Schmuggels und Ökonomen, von Demographen und Geographen, von Migrationsspezialisten und Sprachkundlern. Schon heute ist die wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der border studies riesenhaft und es gibt kaum einen Aspekt – nicht einmal sexing borders oder gendering borders, Grenzen als Imagination und Konstruktion – der nicht thematisiert wird. Hier ging es zunächst nur darum, der eigenen Erfahrung zu folgen und sie in eine Reflexion hineinzuziehen. Am einfachsten ist es mit der Grenze in reiner und eindeutiger Gestalt zu beginnen. Wir haben alle solche Grenzen der Eindeutigkeit vor Augen. Die Berliner Mauer, diese Grenze ohne Wenn und Aber, diese Grenze im reinsten Zustand, die West und Ost trennt und deren symbolische Kraft vielfältig beglaubigt ist: man vergeht sich nicht ungestraft an ihr. Es wird geschossen auf den, der die Hoheitsrechte missachtet und die Linie einfach überschreitet oder über sie zu fliehen versucht. Sie ist ein markantes Bauwerk, das die Trennung einer Stadt in zwei Teile fast mit chirurgischer Präzision bewerkstelligt hat. Wie mit dem Stift auf die Karte eingezeichnet. Mit einem kunstvoll aufgebauten Glacis, Beleuchtungs- und Warnvorrichtungen, einer nach Tausenden zählenden Mannschaft der Instandhaltung, Perfektionierung und Bedienung, versehen mit Vorrichtungen der Durchschleusung und Kontrolle. Sie ist ein Instrument der Sicherung, der Abschnürung und des kontrollierten Durch- und Übergangs. Neben den Mauern, die kämpfende und aktuell im Konflikt liegende Parteien oder Staaten auseinander halten – Ost und West in Berlin, Türkei und Griechenland in Zypern/Nikosia, die moderne Grenzanlage, die Nordamerika von Mexiko trennt - gibt es die bewegliche, die ambulante, die task force Form in Gestalt von Stacheldraht. Er ist weniger kostspielig, lässt sich überall und zu jeder Zeit ausrollen und bei Bedarf, nach Abkühlung der Spannungen, auch wieder einrollen. Stacheldraht gesicherte Grenzen bezeichnen eher Kampflinien, Konfliktlinien. Solche Grenzen können sich von heute auf morgen verwandeln: aus Demarkationslinien können Kampflinien und aus Kampflinien Frontlinien werden, wie umgekehrt aus Frontverläufen irgendwann wieder harmlose Brachen und Areale werden können, denen nicht mehr anzumerken ist, dass hier einmal die Grenze verlaufen ist: zwischen Gut und Böse, Rechts und Links, Freiheit und Unfreiheit usf.

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Der gewöhnliche Fall der Grenze ist die Linie, die verschiedene staatliche Territorien abgrenzt und Hoheitsgebiete voneinander trennt. In der Regel genügt die Markierung des Grenzverlaufs durch Grenzpfähle, vielleicht einen Wachturm im Gelände, einen Gitterzaun. Doch die meisten Grenzen in der Welt sind unsichtbare Grenzen, grüne Grenzen, verlaufen eher auf unseren inneren Karten, im Kopf, manifestieren sich in unseren Zugehörigkeits- und Loyalitätsverhältnissen. Die meisten Grenzverläufe der Welt kann man nicht sehen: sie verlaufen auf den Meeren und trennen die allgemeinen von den Hoheitsgewässern, sie gehen durch wilde Gebirgslandschaften und Wüsten, in denen kein Grenzpfahl die Territorialität markiert. Grenzen, etwas außerordentlich Festes, Hartes und physisch Unüberwindbares sind zugleich das Gedachte, Unsichtbare, nur in unserem Kopf und in unseren und durch unsere Konventionen Existierende. Auf die Spitze getrieben ist die Grenze als ein Phänomen der Eindeutigkeit und Klarheit in den Kartenbildern, insbesondere jener wie mit dem Rasiermesser gezogenen Linien, die die „paper partitions“ der kolonialen Welt fixiert haben. Sie markieren Einflusssphären und Herrschaftsansprüche, stecken keine durch inneren Landesausbau gestalteten Territorien ab. In der Regel sind sie vereinbart worden, weitab vom Schuss, auf internationalen Konferenzen. Es sind Oktroys, von außen auferlegt, eine Territorialität entwerfend, die nichts zu tun hat mit der Territorialität von Stammesgesellschaften, Clans und nomadisierenden Völkerschaften. Es sind Limitierungen, die auf Delimitierungen basieren. Die gewaltigen und beispiellos gewalttätigen Machtverschiebungen im 20. Jahrhundert sind sekundiert und markiert von Grenzverschiebungen, die ihrerseits wieder mit Bevölkerungsverschiebungen großen Ausmaßes verbunden waren. Auch hier spielten – mehr oder weniger genaue und intelligente – „paper partitions“ eine große Rolle. Das 20. Jahrhundert in Europa ist reich an markanten Grenzverschiebungen, und für die meisten von ihnen gibt es sogar ein präzis angebbares Copyright oder einen Urheber, der sich auf seine Autorschaft etwas einbilden darf und in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Solche Grenzen sind: die Curzon-Linie, die 1920 entlang der ethnischen Verhältnisse Polen und der UdSSR – erfolglos – auferlegt wurde und erst nach den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs Wirklichkeit werden sollte. Eine solche Grenze ist die „OderNeisse-Grenze“ hinter der die Arbeit der Planungsstäbe von Außenministerien und der großen internationalen Konferenzen von Teheran über Jalta bis Potsdam steht. Hierher gehört im Grunde auch das Kartenwerk der Pariser Friedenskonferenzen von 1919/1920: Versailles, Trianon, St. Germain, Sevres. Und es ist kein Zufall, dass Geographen und Kartographen in den jeweiligen Delegationen prominent vertreten waren. Mit der eindeutigen, wissenschaftlich begründeten Grenze, sollten Reibungsflächen, Konfliktpunkte und Konfliktfelder beseitigt werden. Die Grenzen im Europa des 20. Jahrhunderts sind allesamt Linien, deren Zeichnung mit Umsiedlungen, Vertreibungen, großen Wanderungen, verbunden waren. Sie sind die Linien, entlang derer die Entfernung von Minderheiten, die Säuberung im großen Stil, die ethnische Homogenisierung vollzogen wurde. Man sieht es diesen harmlosen, wie in einem Strich gezogenen Linien, nicht mehr an, durch wie viel Gewalt sie zustande gekommen sind.

Grenzen und Grenzerfahrungen im alten und neuen Europa – eine Meditation –

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Die Grenze als Strich auf der Karte ist jene unverzeihliche und zugleich unverzichtbare Reduktion von Komplexität, ohne die Karten nicht funktionieren. Territoriale und staatliche Grenzen sind nur eine Form von Grenzen unter vielen. Es gibt so viele verschiedene Formen von Grenzen, wie es einschließende und ausgrenzende Subjekte und ein- oder ausschließende Räume gibt, d.h. unendlich viele. Sprachkarten zeigen uns den Verlauf von Sprachgrenzen, Sprachinseln, Sprachgemeinschaften. Bevölkerungskarten führen uns die Grenzlinien und Kontaktzonen von ethnischen Gemeinschaften vor Augen. Auf Konfessions- und Religionskarten sehen wir die Verläufe der Grenzen des Verbreitungsgebietes von religiösen und konfessionellen Überzeugungen. Jede Karte hat ihre eigene Grenze: die Bevölkerungskarte, die Religionskarte, die Kulturkarte, die Karten der Wirtschaftsformen, die Karten der „politischen Landschaften“. Physische Karten halten den Verlauf der tektonischen Linien, die Grenzlinien von Einzugsgebieten von Flüssen usf. fest. Wie immer ist das Leben komplexer als die Darstellungsformen, die einem zur Verfügung stehen. Und schon ein paar Überlegungen zeigen, wie wenig oder wie selektiv die gängigen Repräsentationsformen auf die Lage der Dinge einzugehen vermögen. Wo der Kartenzeichner mit einem dick eingezeichneten Strich eine Grenze markiert, die den einen Staat vom anderen abgrenzt, verläuft in Wahrheit eine Landschaft, in der nicht einmal Grenzpfosten zu sehen sind: ein unmerklicher Übergang, und die Grenze als reine Kopfgeburt und Konstruktion. Sprachkarten, und seien sie noch so akribisch erstellt – und es gibt wahre Wunderwerke – sagen nichts über die Akzent- und Lautverschiebungen in Grenzgebieten, die einen fast unmerklich von der einen in die andere Sprache hinüberführen. Und gewöhnliche Karten sagen schon gar nichts aus über die Karten im Kopf, in denen es Zugehörigkeiten und Loyalitäten gibt, die über jede Kartendarstellung hinausgehen. Die Grenze und die Grenzziehung hat selber eine Geschichte. Es gab Herrschaftsbildungen, die keine feste Grenze kannten. Es gab ein Zentrum, einen Hof, von dem aus regiert und Tribut erhoben wurde, aber Grenzen an sich sind eine sehr späte Erfindung, im Grunde eine Erfindung und Errungenschaft des territorialen Nationalstaates und dann des Kolonialismus und Imperialismus. Die Nationalisierung der Massen im 19. und 20. Jahrhundert ist ohne Kartenbilder und die Einprägung von Grenzverläufen nicht denkbar. Die Vorstellung, dass Staaten durch Grenzen definiert sind, wandert über die Schulwandkarten der europäischen Nationalstaaten in die Köpfe der Menschen, die nun Bürger ihrer Nation geworden sind. Der moderne Staatsbürger trägt die Grenzen im Kopf. Und viele Grenzen, gerade umstrittene, werden im Zeitalter der Massen und der Massendemokratie plebiszitär eruiert und affirmiert - wie die vielen Abstimmungen in den strittigen Gebieten nach den Pariser Friedensverträgen zeigen. Der moderne Staatsbürger identifiziert sich mit seinem Staat und das heißt vor allem: mit seinen Grenzen nach außen. Grenzen, auch wenn sie wie mit dem Lineal gezogen scheinen, sind nicht pure Willkür und Zufall. Die Grenze zwischen den USA und Kanada einerseits und den USA und Mexiko andererseits ist nicht nur wie mit dem Lineal gezogen, sondern auch mit dem

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Lineal gezogen, und dennoch ist es eine stimmige, akzeptierte Grenze, der niemand etwas Gewalttätig, Aufgesetztes und Erzwungenes zusprechen würde, gleichwohl sie von keinem Fluss, keinem Meer, keinem Bergkamm gestützt wird. Der Rhein trennt in seinem Oberlauf Frankreich und Deutschland. Die Donau bildet die Grenze zwischen Rumänien und Bulgarien. Die Sahara trennt den Maghreb von Schwarzafrika. Der Bosporus, jenes Flusstal, das das Schwarze mit dem Mittelmeer verbindet, trennt die Kontinente Europa von Asien. Der Mississippi, später die Rocky Mountains, dann der Pazifische Ozean waren für bestimmte Zeiten die äußerste Linie des Fernen Westens. Irgendwo an der Oder wechseln wir aus dem germanischen in das slawische Sprachgebiet. Im Gebirge spricht man von Baumgrenze. Bei der Beschreibung der Reliefs von Landschaften zeichnen wir die Grenzen ein, die sich aus Niederschlagsmengen, Isothermen, Kälteund Wärmeschwankungen, dem Verbreitungsgrad bestimmter Pflanzen- oder Tierarten ergeben. Das Ausbreitungsgebiet bestimmter untergegangener Kulturen definieren wir über archäologische Fundstellen und die Linien, die sie miteinander verbinden. Die Epoche der Entdeckungen könnte man gleichsam als Epoche beschreiben, in der die Grenzen der terra cognita verschoben werden, eine Epoche der Grenzverschiebungen – im buchstäblich-räumlichen und im übertragenen Sinn. Flüsse und Ströme dienten lange und oft als Grenzen. Gebirgszüge wirkten als Barrieren und wurden auch so verstanden. Küsten waren Grenzlinien, aber auch die vom Nordpol zum Südpol gezogene Linie, die im Vertrag von Tordesillas die bekannte Welt zwischen der spanischen und portugiesischen Krone aufteilte, bekanntlich mit weitgehenden, welthistorischen Folgen. Die Grenze verläuft aber auch zwischen Altstadt und Neustadt, zwischen Downtown und Suburbia, zwischen Schwarzen-Ghetto und weißer Vorstadt. Es gibt Grenzen, die nirgends verzeichnet sind, und die doch von allen respektiert werden. Und es gibt Grenzen, denen die Anerkennung verweigert wird, und deren Legitimität herausgefordert wird. Man muss eine Grenze überschritten haben, wenn man untertauchen will. In Grenzüberschreitungen können sich säkulare Erschütterungen ankündigen. Grenzen bezeichnen die „heiligen Räume“ von Tempelbezirken und Verbotenen Städten. In manchen Metropolen sind es oft nur wenige Blocks, und man wechselt aus „einer Welt in eine andere“. Solche unsichtbaren Grenzen können zu wirklichen Grenzen werden, Zonen und Kampfgebiete des innerstädtischen Bürgerkriegs. Grenzen können sogar durch Heime und Behausungen verlaufen, durch die innersten Bezirke des privaten und intimen Lebens, wie der orientalische Serail oder das Berberhaus Pierre BOURDIEUs zeigt. Überhaupt ist die Grenze zwischen Öffentlich und Privat eine der delikatesten, subtilsten und zugleich massivsten Grenzen: an ihren Verschiebungen kann man die Intaktheit oder Erosion ganzer Kulturen ablesen. Dem Geheimnis der Schwelle liegt die Grenze zwischen Drinnen und Draußen zugrunde. Die Unsicherheit, die im Umgang mit der Grenze zutage tritt, resultiert aus diesem Reichtum und dieser Vieldeutigkeit der Bezüge und Bedeutungen: Was abgrenzt, schließt aus. Was trennt, verbindet. Was sich berührt, ist immer auch Distanz. Wir können diesem Paradox nicht entgehen. Es wäre ganz unsinnig zu leugnen, dass natürliche Bedingungen – Flussverläufe, Küsten, Bergmassive - eine Rolle bei der Entwicklung geschichtlicher Aktionen und Formatio-

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nen spielen; und ebenso unsinnig wäre es, Grenzen und Grenzverläufe als etwas Ewiges Gegebenes und Übergeschichtliches anzusehen. Alle Grenzen haben ihre Genese, die Zeit ihrer Wirkung und Geltung, und ihre Verfallszeit. Grenzen werden „gemacht“. Es gibt dauerhaftere und weniger dauerhafte, stabilere und weniger stabile, elastischere und weniger elastische Grenzen. Wenn man sagt, dass alle Grenzen eine Geschichte haben, sagt man auch, dass Grenzen historisch sind. Das ist natürlich eine beunruhigende, beängstigende Aussicht: die Verflüssigung all dessen, was fest ist und dem Zusammenleben einen Bezugsrahmen, eine Ordnung gibt. Die Verflüssigung von Grenzen ist beängstigend wie alles Relativistisch-Relativierende. Es lebt sich komfortabler, wenn die Dinge feststehen und Grenzen ewig sind. Historisierung von Grenzen - das könnte sein: Gebrauchsanweisung und Legitimation für Revisionismus und Irredentismus; das könnte sein: Aufkündigung von stillschweigend anerkannten und legitimen Grenzen, die Unruhe, Chaos und Bürgerkrieg heraufbeschwört; das könnte sein: Infragestellung von stillschweigend funktionierenden Routinen und Regeln. Grenzen sind Überlebensbedingungen geordneten menschlichen Lebens, und Grenzüberschreitungen sind in Wahrheit etwas höchst Gefährliches und Riskantes. Im Zeitraffer betrachtet, ist die ganze europäische Geschichte eine ununterbrochene Geschichte der Macht- und Grenzverschiebungen, der Aufkündigung der lange respektierten Abgrenzungslinien, einer nie zum Stillstand kommenden bald friedlicher, bald gewalttätiger Revision. Geschichtsschreibung ist über weite Strecken Rekonstruktion dieser Entwicklungs- und Revisionsbewegungen. Sie ist spezialisiert auf Grenzverschiebungen. Sie nimmt sie als die exaktesten Indikatoren für Dynamik, für Vorstöße und Rückzüge. Alexander KULISCHER hat das die Flut und Ebbe der geschichtlichen Bewegung genannt, und die ewige Wanderung war für ihn das Hauptagens geschichtlicher Bewegung und Grenzverschiebung. Noch in einem anderen Punkt sind Grenzen bevorzugte Orte: hier kann man Durchmischungsprozesse, Transferprozesse, Amalgamierungen studieren, aus denen gewöhnlich etwas Neues hervorgeht. Die Grenze bietet einen Erkenntnispunkt besonderer Qualität. An der Peripherie sieht man anders und anderes als im Zentrum, das sich oft selbst genügt. Vielleicht stimmt es, dass viele neue Entwicklungen an der Peripherie, an der Außengrenze einsetzen, und dass die Kerne neuer Reiche sich an der Außengrenze alter Reiche bilden. Man kann aus dieser Eigenschaft der Peripherie und der Grenze freilich selber wieder eine Ideologie machen und die Peripherie zum wahren Zentrum, die Marginalität zum „Eigentlichen“ stilisieren: Die Grenze als der Ursprungsort des Originalen und Originellen, das Hybrid als das Superiore. Der Meister, der aus der Grenze eine ganze Gesellschaft erklärt, ist Frederick Jackson TURNER. Er ist weit mehr als der Autor einer provozierenden These. Man versteht im Nachhinein wohl, warum für viele Europäer die amerikanische Raumerfahrung so wichtig geworden ist. Hier war man Augenzeuge einer Gesellschaftsbildung in nuce. Hier konnte man mit blankem Auge verfolgen, gleichsam im Zeitraffer, wie eine Gesellschaft alle Entwicklungsstufen, die in Europa bereits im Dunkel der geschichtlichen Epochen verschwunden waren und durch mühsame Rekonstruktionsarbeit der Geschichtswissen-

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schaft wieder zu Tage gefördert werden mussten, im Eiltempo aber Stufe für Stufe sichtbar durchlief. TURNER hat mit seinem Essay aus den 1890er Jahren einen Schlüssel für die amerikanische Geschichte geliefert. Man kann daran erkennen, was Grenze - ob front, frontier, border, boundary etc. impliziert. TURNER liest sie rückwärts, er dechiffriert sie, er entfaltet sie. Was im Gemeinverstand nur eine Linie ist, verwandelt er in eine Schnittfläche, an der er das amerikanische Epos entfaltet. In TURNERs Analyse werden die Elemente der Dynamik – demographisch, verkehrsgeographisch, juristisch, sozial, institutionell, mentalitätsmäßig – sichtbar, die Amerika geformt haben. Alle Stufen werden durchlaufen, alle Stufen haben ihr charakteristisches Personal, ihre typischen Wege. „Die Grenze ist die Linie der schnellsten und effektivsten Amerikanisierung. Die Wildnis beherrscht den Siedler. Sie findet einen Europäer, was Kleidung, Fertigkeiten, Handwerk, Reisegewohnheit und Denkgewohnheiten angeht. Es holt ihn aus dem Eisenbahnwaggon und setzt ihn ins Birkenkanoe.... Er muss die Bedingungen, die er vorfindet, hinnehmen oder zu Grunde gehen, und so findet er den Weg auf die indianischen Lichtungen und folgt den Indianerpfaden. Schritt für Schritt verändert er die Wildnis, aber das Ergebnis ist nicht das alte Europa, nicht einfach die Entwicklung der germanischen Keime... Tatsache ist, dass etwas Neues entstanden ist, das amerikanisch ist.“ Die amerikanische Frontier kann einen lehren, was auch für andere Grenzen und Grenzen überall zutrifft: dass sie nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches sind, ein ziemlich guter Indikator für die Reichweite der dahinter verborgenen Energien.

Die Transformation des Raumes und die neuen Grenzen Den politischen Umwälzungen im östlichen Europa ist die Transformation des Raums, in dem sie sich ereignet haben, gefolgt. Nachdem der Eiserne Vorhang weggezogen war, zeigte sich, was Europa war: ein Kontinent, der ohne Grenzen nicht leben kann. Über die Demarkationslinie von der Ostsee bis zum Adriatischen Meer wächst Gras, aber die Differenz, die sie in den Köpfen der jetzt lebenden Generationen produziert hat, ist noch lange nicht getilgt. Die Mauer scheint ostwärts zu wandern: aus dem Berliner Stadtzentrum an die Oder, und von da noch weiter an den Bug. Die Embleme der Teilung der Welt sind zwar abmontiert, aber nur um den Emblemen neu geteilter Welten Platz zu machen. Die Freude über den Sturz der Tyrannen und ihrer Befestigungen ist übergegangen in die Leidenschaft für die Errichtung neuer Grenzanlagen. Nun, da die Zeitschranke, die Ost und West getrennt hatte, niedergerissen war, konnten die unterschiedlichen Zeiten erst aufeinanderprallen. Die alten Autoritäten waren gestürzt – also musste man sich neue suchen. Jeder durfte endlich sagen, was er immer schon sagen wollte, also durfte man auch zum Massaker aufrufen. Auf die große Einheit, die im Kampf gegen etwas zu Stande gekommen war, folgte rasch die Vielheit alt-neuer Rivalitäten. Im Europa der Selbstbestimmung griff die Feind- und Fremderklärung um sich. Die Entdeckung des Eigenen war ohne die Verdammung des Anderen offenbar nicht zu haben. Die Tole-

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ranz, die man so lange gefordert hatte, sollte nun nur noch für einen selber gelten. Wir waren die Augenzeugen nicht des Verschwindens der Grenze, sondern ihrer Metamorphose. Das Europa, das entstanden ist, ist nicht das grenzenlose, sondern eines, das – hoffentlich – lernt, mit seinen Grenzen auf eine humane Weise zu leben – oder auch nicht. Der Eiserne Vorhang war so einfach, wie der Zustand, den er fixierte, elementar. Das geteilte Europa war übersichtlich. Über Touristen wurden Akten geführt, auch wenn sie sich bloß nur für harmlose Sehenswürdigkeiten interessierten. Nie zuvor war soviel Intelligenz und Kraft in wechselseitige Feindbeobachtung und Belagerung investiert worden. Zur wechselseitigen Belagerung hatten Disziplin und Präzision gehört. Das Management des Ausnahmezustandes beruhte auf der Einhaltung von Regeln des Entweder/Oder. Die Grenze, die durch Nachkriegseuropa ging, war die dem Ausnahmezustand angemessene Grenze. Sie hat unser Leben bestimmt, sie ging mitten durch unser Leben, selbst wenn wir nicht an der Grenze lebten. An ihr teilte sich die Welt, die schwarz oder weiß, gut oder böse, frei oder unfrei war. Wir konnten uns im schwierigen Alltag verlieren, aber was unverrückbar blieb, war die Einfachheit jener Grenze. Der „Eiserne Vorhang“ war die geheime innere Achse, sein Rückgrat. Diese innere Achse ist verschwunden, weil die Welt, die sie nötig hatte, sie nicht mehr braucht. Die osteuropäische Revolution hat die klar gezogene Grenze unterlaufen und den hermetischen Raum zerfallen lassen, aber nicht eigentlich gesprengt. Die Vermischung von Reinen und Unreinen hat begonnen. Die ostmitteleuropäischen Revolutionäre waren auf der Höhe der Zeit, sie hatten das Entweder/Oder, das für die Militärstrategen überlebenswichtig war, längst hinter sich gebracht. Sie waren die Meister der Zweideutigkeit. Ihnen war die Bewegung, von der alles abhing, mehr als das Ziel, das sich von selbst verstand. Sie waren Genies der Taktik, noch mehr aber des Takts. Sie haben der Geschichte der politischen Theorie den lebensrettenden Kompromiss der "sich selbst beschränkenden Revolution" (Jadwiga STANISZKIS) hinzugefügt. Sie waren souverän genug, es auch mit den Generälen, den Peinigern, den verhassten Kreaturen aufzunehmen. Sie haben den Mächtigen den Weg in den Rücktritt eröffnet und dem Zerfall der alten Ordnung eine Form gegeben. Sie haben das in der Geschichte Menschenmögliche getan: dem Prozess, der im Gange war, ihre Stimme zu leihen und ihm die Chance abzugewinnen, die sich nach soviel Scheitern endlich bot. Sie haben ein Wunder zu Stande gebracht: die Entstehung einer neuen Staatenwelt, die nicht aus dem Krieg geboren wurde, und einen „Systemwechsel“, in dem es fast überall ohne Aufstand und Terror abging. In dem Europa, das in die Zeit nach der Großen Grenze entlassen ist, ist alles in Bewegung geraten: Das fängt an mit dem Raum, in dem wir leben. Das Verschwinden der Mauer konstituiert einen anderen Raum. Von Berlin nach Posen sind es jetzt etwas mehr als zwei Stunden Fahrtzeit. Es gibt die Grenze als Zone des angehaltenen Atems, der Einschüchterung, der Umstellung der inneren Zeituhr, der Demütigung durch das Beamtenpersonal nicht mehr. In Hegyeshalom, Cheb und Zgorzelec kann man noch die Ruinen der bürokratischen Reiseerschwerung besichtigen, Helmstedt ist bloß noch ein Parkplatz oder ein schönes Städtchen, von dem nur ältere Reisende wissen, dass er einmal

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mehr war: Grenzschleuse zwischen den Welten. Der Raum, in dem wir arbeiten, uns erholen, studieren, leben, wird anders - damit auch die Welt in unserem Kopf. Der Tourismus, der etwas erleben will, geht in die nächste Nachbarschaft, nicht unbedingt nach Übersee. Nachdem man New York schon gesehen hat, kann man sich endlich Prag vornehmen. Man ist dort jetzt nicht mehr ausschließlich als Tourist unterwegs, sondern aus Arbeits- und Geschäftsgründen. Das steigert die Ansprüche an ungehinderte und praktische Kommunikation. Die Grenzüberschreitung hat pragmatische Gründe, nicht gut gemeinte: es gibt etwas zu tun. Man lernt sich kennen, unabsichtsvoll, einfach so - beim Einkaufen, Studieren, im Urlaub, auf der Arbeitssuche. Eine exotische Zone, über die böse und sympathische Vorurteile geherrscht haben, löst sich auf, und es bilden sich neue Urteile und Vorurteile - wiederum sympathische und böse. Es entstehen neue Wirtschaftsräume. Man merkt es auf der Autobahn, man merkt es an der Beschleunigung des innereuropäischen Austausches, an den LKW-Kolonnen aus Polen, Skandinavien, Südosteuropa, die auf dem Berliner Ring aufeinander treffen. Grenzländer werden wieder zu Achsen intensivierten Menschen- und Güterverkehrs. Das feinste Barometer für die Ausbildung des neuen Raumes ist wahrscheinlich die Warenzirkulation, die millionenfache Vermittlung von Allerweltsgegenständen, die Bewegung der Händler zwischen St. Petersburg und Berlin, zwischen Istanbul und Odessa, zwischen Posen und Rotterdam, zwischen Sinkiang und Kasachstan. Die alten Routen - die Bernsteinstraße, die Seidenstraße - werden wieder in Betrieb genommen. Die Staus an der Grenze, früher am Frankfurter Tor, jetzt in Terespol/Brest zeigen an, dass das Straßen- und Schienensystem dem gesteigerten Bedürfnis nach Austausch längst nicht mehr genügt. Man muss sich etwas Neues einfallen lassen. Block-Europa von einst ist in einen Archipel zerfallen und fügt sich neu. Regionen driften auseinander, andere wachsen zusammen. Die Grenze verschwand, sie kehrte wieder in anderer Form. Das Verschwinden der großen Grenze gibt den Blick frei auf eine Kluft, die nachhaltiger ist als das martialische Bauwerk mit Wachtürmen und Stacheldraht. Am Rande Europas sind in den 1990er Jahren neue Grenzen zwischen neuen Staaten mit Abertausenden von Flüchtlingen und Toten gezogen worden. Die Front, die tödliche Form der Grenze, war nach Europa zurückgekehrt. Aber die maßgebliche neue Teilung ist eine andere. Sie drückt sich aus im digital gap. Europa teilt sich neu in die Zonen der Hochgeschwindigkeit, des Hightech, der rasenden Beschleunigung und hoch verdichteten Kommunikation und jene weiten Zonen, die abgehängt werden, nicht mithalten können. Ein neues Gefälle deutet sich an, nun nicht mehr an der Grenze zwischen den Staaten, sondern entlang der metropolitan corridors, die Europa durchschneiden – von den Midlands über die Rheinschiene bis nach Mailand und Barcelona, oder von Rotterdam über Berlin nach Warschau und Moskau. Die Globalisierung schafft sich ihr eigenes Territorium, ihre eigene Territorialität mit ganz eigenen Grenzen, die nicht mehr identisch sind mit den Grenzen der Nationalstaaten. Man kann die Grenze sehen, wenn man nachts über Europa hinweg fliegt, etwa von London nach Moskau: der Korridor glitzert wie eine Perlenschnur in einem weithin verdunkelten Gelände. Vielleicht entzünden sich an den Grenzen und Kanten der metropolitan corridors die Konflikte der

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Zukunft weit mehr als an den wohl installierten Grenzübergängen von einst. Man kann schon jetzt einen Vorgeschmack über die Formen und Praktiken der Grenzüberschreitung des 21. Jahrhunderts bekommen, wenn man in das Land des 11. September reist. Europa steht bevor, was dort schon eingeübt und Routine geworden ist. Die neue Technologie der Grenzüberschreitung und Grenzkontrolle mit Biometrik, Kamera, Fingerprint. Es gibt eine neue Stufe von Surveillance, des Durchschleusens, der Kontrolle, des Auf-Nummer-Sicher-Gehens. Diese fängt nicht erst am Kontrollpunkt an, sondern lange davor: in der Schlange vor dem Konsulat oder der Visumsstelle. Wir wissen alle, was der Grund dafür ist: die neue Lage nach dem 11. September, der einen neuen Kampfplatz mit neuen Grenzen und Frontlinien hat entstehen lassen.

Mit der Grenze leben können – Kultur der Übergänge – Lob der Grenze Das Andere zur Grenze, die abschreckt, ist nicht die Grenzenlosigkeit, sondern die Grenze, die Schwelle, die sich einigermaßen kommod überschreiten lässt. Es geht nicht um das Entweder/Oder, sondern um das angemessene und mögliche Maß von Mobilität. Globalität ohne Mobilität gibt es nicht, und der wichtigste Verbündete, wenn nicht gar Motor der großen Wanderung ist das weltweit agierende Kapital. Nomade und global player gehören zusammen. Nicht der kosmopolitische Traum, der immer einer der wenigen ist, ist die Alternative, sondern die Grenze, mit der sich leben lässt. Die Grenze macht den Raum, in dem man lebt. In grenzenlosen oder unbegrenzten Räumen lebt es sich schlecht. Die Grenze, auf die wir angewiesen sind, markiert nur den Übergang, den Umschlagspunkt, sie ist Gliederung des Unförmigen und Formlosen. Grenzen sind Zeichen des Reichtums an Differenz. Grenze ist die Verpflichtung, für das eigene Haus verantwortlich zu sein und die Möglichkeit, anderswo Gast sein zu können. Grenzüberschreitung macht einen Sinn nur in einem durch Grenzen gegliederten Raum. Ohne die Erfahrung der Übergänge wäre Europa ärmer. Der Reichtum Europas bemisst sich nach seinen Übergangslandschaften. Sie sind dort, wo man dazugehören kann, auch wenn man nicht die Sprache des Landes spricht. Sie bringen Kunstwerke zustande, die nur dort möglich sind, wo sich etwas mischt. An der Grenze liegen die Landschaften, in denen das ungeübte Ohr in der eigenen Sprache schon das fremde Idiom vermutet, und in denen der Lebensweg eines einzigen Menschen viele Staatsangehörigkeiten durchlaufen haben kann, bevor er zu Ende kommt. Europa hat die Grenzen, die es verdient. Sie variieren von Grenzdiffusion bis Front. Welche obsiegen werden, wird sich zeigen. Aber das wird sich nicht an den Grenzen entscheiden, sondern in den Gemeinwesen, die die Grenzen haben werden, die sie für nötig halten. Wenn wir wissen wollen, wie die Grenzen im künftigen Europa aussehen, brauchen wir nur die Gesellschaften anzusehen, die sich durch sie voneinander abgren-

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zen. Von Gesellschaften, die mit sich selber nicht fertig werden, ist nicht zu erwarten, dass sie dem neuen, komplexeren Europa gewachsen sein werden.

Postskriptum: Frankfurt an der Oder ist durch die geschichtlichen Umstände, die allen bekannt sind, zu einer Grenzstadt geworden, sogar zu einer geteilten Stadt. Das bedeutet, dass die Stadt heute zur Doppelstadt in einem veränderten Europa werden könnte. Die Universität könnte der Ort sein, an dem eine „Landkarte, schwer gebügelt“ (Adam ZAGAJEWSKI ), lesbar gemacht wird, in der die Grenze neu gedacht, geradezu entfaltet wird. Dazu müsste die Universität noch viel entschiedener als bisher andocken an der Grenze und an dem Ort. Die Viadrina könnte der Ort oder jedenfalls einer der eminenten Orte sein, an dem Europa intellektuell neu zusammengesetzt wird. Ich danke dem Initiator und den Teilnehmern, dass sie für drei Tage die Grenzstadt Frankfurt zum Versammlungsort ihres Gesprächs über Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter gemacht haben. Ich wünsche mir, dass für Frankfurt und die Viadrina etwas abfallen wird vom Reichtum der Grenzen, und ich wünsche Ihnen, dass der Ort etwas zurückgibt an Inspiration für Ihr Gespräch.

Sektion 1: Leben an Grenzen

GERHARD W OLF

Ein Kranz aus dem Garten des Gramoflanz. Grenzen und Grenzüberschreitung zwischen Mythos und Literatur in der Gauvain/GawanHandlung des Perceval/Parzival

Reale, literarische und symbolische Grenzen Im Mittelalter wurden Herrschaftsgebiete selten durch lineare Grenzen voneinander geschieden.1 Territoriale Herrschaft war in der Regel punktuell beschränkt auf bewohnte Orte und das dazugehörige bestellte Land, an den Rändern existierten Grenzzonen bzw. Marken, die in Mitteleuropa vornehmlich aus unbewohnten Waldgebieten bestanden. Die ‚Territorien‘ selber waren unfeste Gebilde, deren Umrisse sich häufig änderten und deren Ränder oft nicht klar bestimmt waren. Angesichts der beschränkten militärischen Ressourcen war eine permanente Herrschaft über die Fläche fast ausgeschlossen, im Kriegsfall beschränkte sich die Verteidigung auf die befestigten Plätze oder auf eben jene topographischen Gegebenheiten, die einen natürlichen Schutz boten und – wie Höhenlinien, Bergpässe oder Flüsse – am ehesten für Abwehrmaßnahmen geeignet waren. An derartigen geologischen Gegebenheiten bildeten sich dann auch Grenzen. So verlief z. B. am Lech schon seit dem 6. Jahrhundert eine Grenze zwischen Alemannen und Bayern. Diese Situation, die angefangen von der Zeit der Völkerwanderung bis ins Spätmittelalter für Mitteleuropa charakteristisch war, spiegelt sich auch in der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts wider. Neben politischen und natürlichen Grenzen, die erst in den späten Artusromanen wirklich handlungsrelevant werden, gibt es noch einen anderen Grenztypus, dem eine übernatürliche Qualität zuzuschreiben ist und der als Reminiszenz an eine aus dem Mythos bekannte Transgression des Helden in eine ‚andere Welt‘ gelten kann. Dieser Übergang kann, aber muss nicht durch die Überschreitung einer geographischen Linie gekennzeichnet sein, sondern kann auch narrativ durch eine Änderung der Raum-Zeit-Struktur signalisiert werden.2 Derartige Grenzen oder der dazugehörige Grenzwächter können nur von dem Helden mit der entsprechenden Bestimmung überwunden werden. Das Reich jenseits der Grenze kann die Züge eines mythi1 2

Bayerischer Geschichtsatlas. Hrsg. v. Max Spindler. München 1969, S. 70. Der bekannteste Beleg hierfür ist der Ritt Parzivals von seiner Gattin Condwiramurs zur Gralsburg (Parzival [wie Anm. 24] vv. 224,19-25).

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schen Totenreichs oder einer Unterwelt tragen, in jedem Fall ist es ein Land, dessen Normen nicht mehr vollständig denen der Artuswelt entsprechen. Bei Chrétien und seinen Nachfolgern wird es als Ort bezeichnet, „la dont chevaliers ne repaire“.3 Mit einer solchen Abgrenzung wird metaphorisch auch eine Gattungstransgression angekündigt, die eine andersartige narrative Organisation des Geschehens im Folgenden erwarten lässt. Das arthurische Handlungsmodell gerät in eine Spannung mit Erzählmustern anderer Provenienz, die im Widerspruch zum Ascensus-Descensus-Modell des ‚doppelten Cursus‘ stehen und daher potentiell eine kontrastive Funktion erfüllen können.4 Welcher Herkunft freilich diese anderen Erzählmuster sind, ist immer wieder Gegenstand von Forschungsdebatten, die letztlich in der kontroversen Beschreibung des Verhältnisses von Literatur und Mythos münden. Auf der einen Seite könnte man mit Kurt HÜBNER hinter jeder Literatur die Wahrheit eines Mythos und damit ein ontogenetisches System sehen,5 in dem die Literatur lediglich eine auf höherem ästhetischen Niveau stehende Bearbeitung des Mythos ist. Auf der anderen Seite könnte man mit Gerhart VON GRAEVENITZ dieses Ursache-Wirkungs-Prinzip genau umgekehrt darstellen und „die ‚Idee‘ oder die ‚Fiktion‘ des ‚Mythos‘ [...] als eine riesige, kollektiv erzeugte ‚biographie romancée‘, fundiert im Faktischen und Bezeugten, geformt nach uralten literarischen Modellen“ verstehen.6 In jedem Fall scheint Literatur ohne Mythos nicht denkbar zu sein, aber ebenso sicher lässt sich das eine nicht aus dem anderen ableiten. Ausgeklammert werden muss mit der geistesgeschichlichen Entwicklung des Mythos auch die in letzter Zeit wieder verstärkt diskutierte These Clemens LUGOWSKIs, der das Erzählen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Roman als „mythisches Analogen“ versteht, das die Strukturen des Mythos ästhetisch wiederholt, und der den Verlauf der Literaturgeschichte analog zu einer Entwicklung vom ‚mythischen‘ Kollektiv zur Individualität sieht: Indem in der Literatur der Mythos schrittweise verabschiedet wird, öffnet sich der Weg zur individuellen Persönlichkeit. Im Folgenden kann der Blick nur auf zwei Aspekte der Thematisierung von Grenzen gerichtet werden, auf ihre handlungsimmanente Bedeutung und auf die narratologische Verweisfunktion dieser Grenzen als Transgression der Erzählung von einer rationalliterarischen in eine irrational-mythologische Erzählform. Als Textgrundlage wähle ich

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Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Felicitas Olef-Krafft (RUB 8649). Stuttgart 1991, v. 8460 [Abk. Chr]. Vgl. zur Thematik Walter Haug, Das Land, von welchem niemand wiederkehrt. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chrétiens Chevalier de la Charrete, im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven und im Lancelot-Prosaroman (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 21). Tübingen 1978. Haug (S. 44 f.) vertritt die Ansicht, dass Chrétien die Krise des arthurischen Doppelwegs gegen den Mythos setzt und ihn aufhebt. Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos. München 1985. Gerhart von Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987, S. IX f.

Ein Kranz aus dem Garten des Gramoflanz

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dabei Gauvains/Gawans Grenzüberschreitungen auf seinem Weg zu Guiromelant/Gramoflanz.7

Chrétien de Troyes – Perceval Der zweite Teil der Gauvain-Handlung setzt ein, nachdem Perceval bei dem Eremiten die wichtigsten Informationen über seine Situation erfahren hat. Bereits diese Stelle enthält einen Hinweis darauf, dass sich die Erzählung auf eine metaphysische Dimension zubewegt: Der Eremit lehrt Perceval ein magisches Namensgebet, das ihn unverwundbar machen soll.8 Diesen Weg vollzieht nun Gauvain, der jetzt zum Protagonisten des Geschehens wird und der bei seinem ziellosen Ritt auf einem Hügel zu einem verwundeten Ritter mit einer „pucele“ gelangt. Der Ritter warnt Gauvain vor der Überschreitung der hier verlaufenden Grenze zu dem Land Galvoie (Chr 660-6610): Genregerecht missachtet Gauvain diese Warnung. Anstatt jedoch auf einen Grenzwächter trifft er in einem Weingarten auf eine Dame, die sich selbst im Spiegel betrachtet und ihm sofort auf den Kopf zusagt, er wolle sie als seine Minnedame entführen und zu seiner Geliebten machen. Paradoxerweise erklärt sie sich dennoch bereit diesem unausgesprochenen Wunsch zu folgen. Gauvains implizite Erwartung, die Dame würde nach einer ritterlichen Bewährung ihre ständigen Schmähungen beenden und ihn als ihren Minneritter akzeptieren, wird enttäuscht. Zuerst muss er sich von einem missgestalteten Knappen beleidigen lassen, dann raubt ihm der verwundete Ritter, nachdem er ihn geheilt hat, sein Pferd Gringalet und er muss zu seiner Schande auf einem Packtier weiterreiten. Aber auch der explizite Wunsch der „male pucele“ nach einer Niederlage Gauvains (Chr 6716-6719) bleibt unerfüllt: Als er von einem fremden Ritter angegriffen wird, siegt er trotz des minderwertigen Reitpferdes. Die Dame ist danach entgegen jeder höfischen Regel verschwunden, sodass er um die Anerkennung für seinen Sieg fürchten muss. Er sieht sie erst wieder, nachdem er die Aventiure des Wunderschlosses bestanden hat. Der Ritter, mit dem sie jetzt zusammen in der Nähe des Schlosses unterwegs ist, ist jener Wächter

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Die Figur dieses zweiten Helden im Perceval/Parzival-Roman ist von der Forschung bereits ausführlich untersucht worden: Bonnie C. Buettner, Gawan in Wolfram’s Parzival. Diss. Masch. Ann Arbor 1985. Keith Busby, Gauvain in Old French Literature. Amsterdam 1980. Friedrich M. Dimpel, Dilemmata. Die Orgeluse-Gawan-Handlung im Parzival. ZfdPh 120 (2001), S. 39-59. Isolde Neugart, Wolfram, Chrétien und das Märchen. Erzählstrukturen und Erzählweisen in der Gawan-Handlung. Frankfurt a. M. u. a. 1996. – Eine ausführliche Bibliographie zur Forschung über den Gauvain-Teil des Perceval bietet Ermuthe DöffingerLange, Der Gauvain-Teil in Chrétiens Conte du Graal. Forschungsbericht und Episodenkommentar (Studia Romanica 95). Heidelberg 1998. Chrétien [Anm. 3] 6480-6494 u. Anm. z. St. (S. 623 f.).

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des Landes Galvoie, der den Ritter an der Grenze so zugerichtet hat.9 Nach dem Sieg über ihn verlangt die „male pucele“ von Gauvain als letzte Probe, er solle sie zu einem nahe gelegenen Baum begleiten. In der kommentierenden Klage der Damen aus dem Wunderschloss, die Gauvains Aufbruch beobachten, wiederholt sich jetzt die Warnung vor dem Ritt an einen Ort, von dem kein Ritter zurückkehrt (Chr 8460). Die von Gauvain geforderte Aventiure ist die Überquerung der nahe des Baumes gelegenen „Guez Perillous“, von der die „male pucele“ provozierend behauptet, ihr Geliebter hätte sie schon mehrfach überquert.10 Die Überquerung scheint jedoch unmöglich, weil der Fluss tief eingeschnitten zwischen zwei Steilufern liegt. Wenn Gauvain es trotzdem wagt, dann ist dies das Ergebnis eines rationalen Überlegungsprozesses: Gauvain vergleicht die Breite des Grabens mit anderen, die das Pferd schon gemeistert hat, und kalkuliert das Risiko gegenüber den mit einem Erfolg verbundenen Ansehensgewinn als grenzwertig. Nachdem er die ‚Absprungenergie‘ berechnet hat, nimmt er Anlauf. Aber die Planung ist die Ursache des Scheiterns – Gauvain hat falsch gerechnet und landet mit seinem Pferd mitten im Fluss: „Lors s’enlonge de la riviere / Et vient les grans galos arriere / Por salir oltre, mais il faut, / Qu’il ne prist mie bien son saut, / Ains sali tot enmi le gué“ (Chr 851-8515). Der Text schreibt die Rettung des Helden aus „Guez Perillous“ ausschließlich dem Tierhelfer zu: Das Pferd erreicht schwimmend eine Sandbank,11 von der aus ihm der Sprung auf das gegenüberliegende Ufer gelingt. Im Wortsinn hätte Gauvain trotz des missglückten Sprungs damit die Aventiure bestanden – die Furt ist überquert, aber nach einem ausgiebigen Pferdedienst an der völlig erschöpften Gringalet12 (Chr 8520-8533) kehrt er nicht zur „male pucele“ zurück, sondern reitet weiter in das Land jenseits des Flusses hinein. Dort trifft er dann auf Guiromelant,13 der den Furtsprung als ‚Schlüsselaventiure‘ definiert, da bisher niemand dem tosenden Wasser der 9

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Dieser Ritter befürchtet, Gauvain habe das Land Galvoie beireits wieder verlassen. Als ihn seine Begleiterin über die Identität des Heranreitenden informiert, freut er sich (Chr 83808391). Et la pucele li dist puis: / „Veez vos la cel gué parfont / Dont les rives si hautes sont? / Mes amis passer le soloit, / Si ne sai ou il plus bas soit.“ / – „Ha! bele, on ne porroit, ce dolt, / Car la rive est haute par tot / Si c’on n’i puet mie avaler.“ / – „Vos n’i oserliiez passer, / Fait la pucele, bien le sai. / Onques certes nel me pensai / Que vos tant de cuer eüssiez / Que vos passer i osissiez, / Car ce est li Guez Perillous [...]. (Chr 8478-8495) Eine auffällig ähnliche Schilderung findet sich im mittelniederländischen Walewein von Penninc und Pieter Vostaert, wo Gawan ebenfalls von seinem Pferd aus einem reißenden Fluss gerettet wird, indem es zu einer Sandbank schwimmt und von dort an Land kommt. Penninc en Pieter Vostaert, De jeeste van Walewein en het Schaakbord. 2. Bde. Hrsg. v. G. A. van Es. Zwolle 1957, vv. 720-737. Zum Verhältnis Gawan-Pferd vgl. Beate Ackermann-Arlt, Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 19). Berlin u. New York 1990, S. 310-312. Guiromelant nennt ihm den Namen des tückischen Fräuleins, l’Orgueilleuse De Logres, klärt ihn über ihr Verhalten sowie über die Geheimnisse des Wunderschlosses auf (Chr 85358824).

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gefährlichen Furt lebendig entkommen ist. Obwohl Guiromelant die Furt erneut als unpassierbar bezeichnet, die Aventiure also nicht aufgehoben ist, lehnt Gauvain die Benutzung einer nahen Brücke ab, weil ihm dies die „male pucele“ als Feigheit auslegen könnte. Gauvain bleibt also Gefangener seiner Ehre, aber wie er den erneuten Sprung bewältigt, lässt auf einen ‚Erkenntnisgewinn‘ schließen. Im expliziten Kontrast zum Hinsprung berechnet Gauvain nicht mehr selbst den Sprung, sondern überlässt sich der animalischen ‚Weisheit‘ Gringalets: „Lors point et li chevax sali / Oltre l’eve delivrement / Que point n’i ot d’arestement“ (Chr 8914 ff.). Nicht durch eigene Leistung, sondern nur mittels des Tierhelfers Pferd kann der Fluss bzw. die Grenze überquert werden,14 der Verzicht auf die ‚Selbsterlösung‘ ist Voraussetzung für den Erfolg. Nach Gauvains Rückkehr erfolgt die völlige Verwandlung der „male pucele“, die jetzt um Gnade bittet. Ihr bisheriges Verhalten begründet sie damit, dass sie – wegen des Todes ihres Geliebten völlig desperat – einen Ritter durch Demütigungen so provozieren wollte, dass er ihrem Leben ein Ende bereite. Diese scheinbar rationale Erklärung wirft dennoch Fragen auf. Wenn die „male pucele“ einen Selbstmord plante, warum hat sie sich dann in den Schutz eines neuen „amie“, des unbesiegbaren Grenzwächters von Galovie, begeben und welchen Gewinn zieht sie aus einem erfolgreichen Furtsprung?15 Eine Antwort auf diese Frage kann an dieser Stelle nicht gegeben werden, aber sie ist genauso wenig in einer ‚psychologischen Einheit‘ der Figur zu finden,16 wie der Versuch scheitert, die Funktion der Grenze aus einer einzigen Tradition heraus zu definieren. Die Grenzen bei Chrétien beziehen ihren Motivgehalt aus Sage oder Mythos, in denen die Grenzverletzung also solche einen Tabubruch darstellt und damit eine Herausforderung an sich bedeutet.17 Auf dieses Muster bezieht sich der Dialog zwischen Gauvain und dem verwundeten Ritter. Dessen Bemerkung, Gauvain kämpfe um sein gesellschaftliches Ansehen, ist jedoch bereits eine Rationalisierung im höfischen Kontext und bietet mithin eine soziale Kontextualisierung des Motivs. Chrétien verknüpft zudem das mythische Motiv des Grenzschutzes mit dem der höfischen Ehre zu einer spannungsvollen Kombi-

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Auch im Walewein [Anm. 11] gelangt der Held nur mittels eines Tierhelfers, eines in einen Fuchs verwandelten Menschen, über einen Feuerfluss, der die Grenze zu dem Land „Endi“ (Indien?) bildet (vv. 6012-6031). Nach einer psychologischen Lesart ist die „male pucele“ nach dem Tod ihres Geliebten selbst zum ‚männermordenden Vamp‘ geworden. Vgl. Döffinger-Lange [Anm. 7], S. 313317. Zur Problematik psychologischer Lektüre vgl. Rüdiger Schnell, Die ‚höfische Liebe‘ als Gegenstand von Psychohistorie. Sozial- und Mentalitätsgeschichte. Eine Standortbestimmung. Poetica 23 (1991), S. 374-424. Hier wird deutlich auf das Motiv der Heiligkeit der Grenze, deren Überschreitung ein nicht revidierbarer Akt ist, angespielt. Vgl. Ines Köhler, Art. Grenze. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 6 (1990), Sp. 134-142, hier: Sp. 135.

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nation. Der Grenzwächter, li Orguelleus del Passage a l’Estroite Voie (Chr 8646),18 ist zum höfischen Begleiter der „male pucele“ mutiert und bewacht nun nicht mehr vorrangig „les pors de Galvoie“ (Chr 8385), sondern zieht als „amie“ mit seiner Minnedame umher. Mit dieser Adaption an ein höfisches Muster verliert die Grenze ihren magischen Charakter und wird in der Erzählung von einem topographischen Ort zu einem ideologisch besetzten Wert, an dem sich der Protagonist beweisen muss. Einem ähnlichen hybriden Muster folgt das Geschehen an der „Geuz Perillous“. Das Motiv für den Furtsprung entspricht im Mythos der Freierprobe, die Grenze, die auf der Ebene ritterlicher Aventiure als durchaus bewältigbar erscheint – hat selbst einen magischen Charakter, die demjenigen, der allein auf seine ritterlichen Fähigkeiten vertraut, den Zugang ins andere Land verweigert. Aber die Freierprobe wird von Chrétien mit der Bewährung vor der höfischen Gesellschaft verbunden und erst recht der Rücksprung beweist, dass im Gegensatz zur Freierprobe die ritterliche Ehre permanent bestätigt werden muss.19 In der chrétienschen Fassung des Stoffes erscheint das Land Galvoie als eine hybride Konstruktion, die sich aus einem höfisierten Raum ohne klare politische Konturen und den Reminiszenzen einer Anderweltvorstellung zusammensetzt.20 Letzteres ist nicht in sich konsistent.21 So warnen etwa die Frauen in der Anderwelt des Wunderschlosses vor einem Ritt in ein Land ohne Wiederkehr. In der Forschung hat man zwar zu Recht von einer ‚Verritterlichung‘ oder ‚Profanisierung‘ der aus der Sage und dem Mythos stammenden Jenseitsmotive gesprochen,22 allerdings ist zu überlegen, ob im narrativen Ge-

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Dieser Ritter (bei Wolfram der Turkoyte) wird in der Forschung gelegentlich mit dem Neffen des Greoreas verwechselt, mit dem Gauvain zuvor gekämpft hat. Vgl. Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach (Sammlung Metzler 36). Stuttgart, Weimar 82004, S. 99. Der Held des Mythos muss sich seiner Geliebten als würdig erweisen und dazu eine meist von deren Eltern verfügte Freierprobe bestehen. So hat etwa der strahlende Jüngling Cuchulinn aus dem irischen Ulsterzyklus vor der Werbung eine Schlucht zu überwinden. Nur seinem ungewöhnlichen Geschick verdankt er den Übergang. „Die verlangten Prüfungen [...] scheinen eine unbedingte Ablehnung von seiten des elterlichen Ogers [Menschenfresser] darzustellen, bestimmt, das Leben seinen alten Weg gehen zu lassen. Wenn aber ein tauglicher Freier erscheint, geht keine Aufgabe der Welt über seine Kraft.“ Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a. M., Leipzig 1999, S. 328 f. Vgl. Döffinger-Lange [Anm. 7], S. 238-246. Bei Chrétien de Troyes ist die Grenze des Landes Galvoie deutlich als eine Linie im Raum markiert. Jedoch ergibt sich daraus keine eindeutige Kontur des Landes. Es bleibt unbestimmt, wie die Teile von Galvoie, der Bereich der „male pucele“, das Wunderschloss ‚La Roche de Champguin‘ und das Land des Guiromelant zueinander in Beziehung stehen. Vgl. Döffinger-Lange [Anm. 7], S. 284-287. Zur Korrelation von Gauvains Reise in das Land Galvoie mit einer mythischen Jenseitsreise vgl. Paule Le Rider, Le chevalier dans le Conte du Graal de Chrétien de Troyes. Paris 1978. Jacques Ribard, Un personnage paradoxal, le Gauvain du Conte du Graal. In: ders. (Hg.), Lancelot, Yvain et Gauvain (Colloque arthurien belge de Wégimont). Paris 1984, S. 5-18. Auch im Walewein [Anm. 11] hat der Held einen Grenzfluss zu überqueren, der explizit als

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samtzusammenhang diese Motive nicht doch einen neuen Stellenwert bekommen und in ein gezieltes Spannungsverhältnis zur höfischen Dimension gesetzt werden. Vieles spricht für eine Transformation der Jenseitsreise zu einem Herausforderungsmotiv innerhalb eines epischen Bewährungsweges: Der verwundete Ritter, der als Wegweiser zur Aventiure fungiert, bemerkt selbst, dass Gauvain den Mustern der höfischen EhreAkkumulation folgt (Chr 6625ff.), anstelle der Geister wird die Kampfkraft des Grenzwächters als realistisches Motiv für die Unmöglichkeit der Wiederkehr aus Galvoie genannt. Wenn aber dennoch nicht allein das Motiv der Kampfherausforderung, sondern der Grenzüberschreitung hervorgehoben wird, dann kann dies als Signal an den Rezipienten verstanden werden, dass hier nicht mehr die Regeln der Artuswelt gelten. Dazu gehört der Gegner, der trotz seiner Niederlage weiterkämpft, die „male pucele“ mit den versteckten Suizidwünschen, die die Ritter in den Tod führen will, ihr Begleiter, der ohne Kampfansage angreift, oder das Wunderschloss „la Roche de Canguin“.23 Gauvain betritt also in Galvoie kein magisch-mythisches Jenseitsland, sondern ein Land der Kontrafaktur der Artusnorm.

Wolfram von Eschenbach – Parzival Wolfram hat jene Partien seiner Vorlage, die auf das Eindringen Gawans in eine Anderwelt hinweisen, erheblich geändert. So gibt es in seinem so namensfreudigen Werk keine Bezeichnung für das Land noch hat es eine Grenze zur Artuswelt. Weder charakterisiert es der verwundete Ritter als Land ohne Wiederkehr, noch weist sonst irgendein Indiz auf ein Verlassen der höfischen Welt. Mit dem Verschwinden der Grenze verlangt auch Gawans Verfolgung des siegreichen ‚Grenzwächters‘ eine neue Motivation. Während bei Chrétien jede Grenze als Herausforderung gilt und eine Überschreitungsverweigerung das öffentliche Ansehen des Helden beschädigen würde, nennt Gawan gegenüber dem verletzten Ritter Erkenntnisgewinn als Grund für seine Verfolgung: „ich frâge in waz er ræche an dir“24 (Wo 507,16) Im Folgenden trifft er auf eine zur Landesherzogin Orgeluse mutierte „male pucele“, womit eine politische Dimension eröffnet wird. Das Motiv der ‚Anderwelt‘ bleibt beschränkt auf Schastel marveile,25 dessen Geheimnis von einer

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Fluss aus der Hölle gekennzeichnet ist (v. 5953). Das Land auf der anderen Seite trägt ebenfalls Merkmale einer Anderwelt. Diesen Aspekt wird Wolfram verstärkend fortführen, indem er Gurnemanz mit der ‚Marotte‘ ausstattet, nur mit zwei Gegnern zu kämpfen (Wo 603,27 u. 606,17-20). Der Text Wolframs wird zitiert nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn (Bibliothek des Mittelalters 8.1 u. 8.2). Frankfurt a. M. 1994, vv. 224,19-25 [Abk. Wo]. Wenn der Fährmann hier das ganze Land jenseits des Flusses als Aventiure bezeichnet (Wo 548,10), dann ist dies eine der wenigen Reminiszenzen an die Anderweltvorstellung des My-

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opaken Transzendenz in den Bereich der Magie transformiert wird, der mit Clinschors Verödungszauber als Gegenmodell zur höfischen Vergesellschaftung der Geschlechter in der „hoves vroide“ gestaltet ist. Auch Chrétiens zweite Erwähnung eines Ortes ohne Wiederkehr hat Wolfram gestrichen: Die Damen auf Schastel marveile beklagen zwar auch den Aufbruch nach „Li gweiz prelljus“, aber der Erzählerkommentar rechtfertigt dies als natürliches Aventiureverhalten – „nach prîs bejage“ (Wo 600,16) – eines Ritters. Joachim BUMKE hat darauf hingewiesen, „Wolfram habe das Land Galvoie durch eine reichgegliederte politische Landschaft ersetzt, die aus dem Herrschaftsbereich von Clingsor um Schastel marveile, dem Königreich von Gramoflanz um Roger Sabins und dem Herzogtum Orgeluses um Logroys besteht.“26 Dementsprechend verläuft die Grenze nicht mehr zwischen einer diesseitigen höfischen und einer nicht näher definierten Anderwelt, sondern zwischen drei souveränen Herrschaftsgebieten, die aber mehr oder weniger der höfischen Welt zuzuordnen sind. Die politische Dimension dieser Zutat Wolframs wird durch einen kurzen ‚Geschichtsabriss‘ unterstrichen: Gramoflanz’ Vater hat das Land, auf dem Schastel marveile steht, Clinschor geschenkt und damit einen Frieden zwischen beiden Parteien begründet, an den sich auch der Sohn gebunden fühlt. Die sakrosankte Grenze dazwischen bildet eben jener Fluss, den Gawan auf Wunsch Orgeluses überqueren soll und dem vielleicht wegen seiner politischen Bedeutung ein Name, Severs, verliehen wurde. Während bei Chrétien die Grenzen noch eine metaphysische Qualität haben, werden sie bei Wolfram zu politischen Gebilden materialisiert. Diese wirken aber nicht weniger als in der Vorlage als handlungsinitiierend. So ist das Reich Clinschors durch seine Grenzen von acht Meilen um das Schloss definiert und als der Turkoyte hier auftaucht, agiert Gawan sofort als der feudale Landesherr, der diese ‚Grenzverletzung‘ als Herausforderung begreift. Das bei Chrétien allein dominierende Minne- bzw. Eifersuchtsmotiv wird durch eine politische Begründung ergänzt. Die Grenze ist bei Wolfram zu einer Institution geworden, die sich im Raum materialisiert hat und die auf diesem Weg eine nicht weniger metaphysische Bedeutung gewinnt als die zwischen Diesseits und Anderwelt. Auch die Überquerung von „Le gweiz prelljus“ wird von Wolfram entscheidend verändert. Die ‚Politisierung‘ der Topographie hat dabei unmittelbare Auswirkung auf die Handlung: Eine Abmachung zwischen Gramoflanz’ Vater Irôt und Clinschor verhindert es, dass sich der Sohn der Aventiure von Schastel Marveile gestellt hat. Die Grenzüberschreitung bleibt deswegen Gawan vorbehalten. Aber sie ist als solche nicht mehr das Hauptmotiv der Aventiure, vielmehr wird die ‚Mutprobe‘ der Furtüberquerung ersetzt und übertroffen durch einen symbolischen Herausforderungsakt. Wenn Gawan für Orgeluse einen Kranz aus den Zweigen eines Baums auf der anderen Seite der Schlucht bringen soll, dann erwartet der Zuhörer/Leser von Anfang an eine Konfrontation mit dem Herrn des Gartens. Der Furtsprung und Gawans Rettung werden dadurch sekundär und

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thos bei Chrétien. Dieser Hinweis widerspricht der geographischen Logik, denn am Fluss vor Schastel marveile endet das Reich Clinschors keineswegs, sondern erstreckt sich noch ca. 8 Meilen jenseits davon. Bumke [Anm. 18], S. 98.

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konsequenterweise streicht Wolfram die ausgeklügelten Überlegungen Gauvains vor dem Sprung und lässt ihn einfach bedenkenlos drauflos reiten: fürbaz reit hêr Gâwân. er rehôrte eins dræten wazzers val: daz het durchbrochen wît ein tal. tief, ungeverteclîche. Gâwân der ellens rîche nam daz ors mit den sporn: ez treip der degen wol geborn, daz ez mit zwein füezen trat hin über an den andern stat. der sprunc mit valle muoste sîn. des weinde iedoch diu herzogîn. der wâc was snel unde grôz. Gâwan sîner kraft genôz: doch truoger harnasches last. dô was eines boumes ast gewahsen in des wazzers trân: den begreif der starke man, wander dennoch gerne lebte. sîn sper dâ bî im swebte: daz begreif der wîgant, er steic hìn ûf an daz lant. Gringuljet swam ob und unde, dem er helfen dô begunde. daz ors sô verr hin nider vlôz: des loufens in dernâch verdrôz, wander swære harnas truoc: er hete wunden ouch genuoc. nu treib es ein werve her, daz erz erreichte mit dem sper, aldâ der regen unt des guz erbrochen hete wîten vluz an einer tiefen halden: daz uover was gespalden; daz Gringuljeten nerte. mit dem sper erz kêrte sô nâhe her zuo an daz lant, den zoum ergreif er mit der hant. sus zôch mîn hêr Gâwân daz ors hin ûz ûf den plân. (Wo 602,8-603,16)

Im Unterschied zur Vorlage wird die Perspektive also auf die ‚heroische‘ Leistung des Protagonisten gelegt, dessen Versuch, die unpassierbare Furt zu überqueren, erscheint fast als Akt der Hybris. Die Reflexion wird von der Seite der Figur auf die Seite des Erzählerkommentars verlegt und hier die Leistungen Gawans („der ellen riche“, „sîner

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kraft genôz“) durch seine Handikaps („harnasches last“, „er hete wunden ouch genouc“) besonders hervorgehoben. Der entscheidende Eingriff in die Vorlage aber ist der Rollentausch bei der Rettung aus dem Fluss: Nicht das Pferd rettet den Reiter, sondern umgekehrt: Gawan zieht sich mit enormer Kraftanstrengung an einem Ast selbst aus dem Wasser, dann läuft er mit seiner schweren Rüstung seinem davontreibenden Pferd hinterher und dirigiert es schließlich mit seiner Lanze an einer seichten Stelle ans Ufer. Wie bei einer Kampfbeschreibung werden die zahlreichen Wunden Gawans als Handikap hervorgehoben, anstelle der ‚magischen‘ Kräfte des Pferdes tritt hier die rationale Bewältigung der Gefahr durch den Helden. Gawan rückt so in die Rolle des souveränen Herrn des Geschehens, was bei Wolfram auch in dem gegenüber Chrétien fast völlig verschwundenen Pferdedienst zum Ausdruck kommt.27 Allerdings geschieht der Rollenwechsel nicht bruchlos. Da sich die Klugheit Gawans erst in der Notsituation beweist – und nicht zuvor wie bei Chrétien – bleibt am Protagonisten der Makel des unüberlegten Handelns haften, die Souveränität ist mithin nur eine partielle. Aus dem unverwundeten Helden bei Chrétien, der von seinem Tierhelfer fast mühelos durch diese Aventiure getragen wird, ist bei Wolfram der leidende Minneritter geworden, dessen Existenz unter den Stichworten „pîn“, „kumber“, „ungemâch“ steht, bei dem aber seine Kampfeswunden und die Ungunst der Verhältnisse dazu dienen, seine Außergewöhnlichkeit unter Beweis zu stellen. Gawan gewinnt den Status des allen Situationen gewachsenen Musterritters eben nicht durch seine Unbezwingbarkeit oder eine Nonchalance, mit der Parzival seinen Weg geht, sondern durch seine Leidensfähigkeit. In eine derartig weltliche Konzeption passen weder Tierhelfer noch die magisch-mythischen Motive der Vorlage. Deswegen wird die Bewährung an der ‚Gefährlichen Furt’ in den höfischen Bereich verschoben und deshalb wird auch der ‚Mythos‘ Grenze ‚wegrationalisiert‘. Die Figur Gawans bleibt jedoch weiterhin – und hier ähnlich wie bei Chrétien – mit einer markanten transgressiven Komponente versehen: Gawan ist geradezu ein ‚Borderline-Fall‘. Er überwindet die Grenzen zwar nicht mehr als mittelalterlicher Odysseus wie im Mythos oder auch noch bei Chrétien, um sich dem Unbekannten auszusetzen, sondern zur Lösung konkreter Fragen (Grund für den Kampf mit dem verwundeten Ritter) oder Aufgaben (Kranz als Voraussetzung für Orgelouses Minnelohn). Gawans Grenzüberschreitungen bleiben eindeutig auf die innerhöfische Bewährung und insbesondere auf die Akkumulierung gesellschaftlichen Ansehens ausgerichtet. Da diese aber nicht in der Bewältigung natürlicher Hindernisse, sondern nur im Sieg über den höfischen Rivalen bestehen kann, wird der Furtsprung zum bedeutungslosen Beiwerk und sind dementsprechend weder für Gramoflanz einer weiteren Erwähnung wert, noch für Gawan ein Grund, seinen Verzicht auf den Weg über die Brücke irgendwie zu begründen (Wo 610,28 f.). Ein Vergleich zwischen Wolfram und Chrétien lässt demnach einen Wandel in der Verwendung des Grenzmotivs sichtbar werden. Bei Chrétien und vielleicht in dessen Quelle – wenn es sie denn im Buch des Grafen Philipp gab –, ist jene mythische Grenze zwi27

Chrétien [Anm. 3], vv. 8520-8533 u. Wolfram [Anm. 24], v. 603,19.

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schen Diesseits und Jenseits noch sichtbar, wenngleich es im Perceval nur noch ein ‚halbblindes‘ Motiv ist und ihre Überschreitung schon weitgehend in das höfische Aventiuresystem integriert ist. Bei Wolfram verschwindet mit den Namen und Begriffen diese an das Grenzmotiv angelagerte Bedeutungsschicht. Das Motiv wird damit frei für eine zweifache Neubesetzung. Die Grenze wird zum einen zu einer politischen Institution, deren rechtliche Aspekte in die Handlung hineinspielen. Zum anderen wird sie – ihrer metaphysischen Komponente entkleidet – zu einer in den Bewährungsweg als Helden integrierten Station, an der sich die Leistung und der momentane Status des Protagonisten ablesen lässt. Die Grenzüberschreitung weist damit nicht mehr über sich hinaus, die Grenze wird von einer eigenständigen transzendenten Kategorie zu einem nachrangigen Attribut einer ritterlichen Aventiure.

Grenzüberschreitung zwischen Mythos und Literatur Das Verhältnis zwischen Literatur und Mythos entlang einer Differenzlinie von natürlich/übernatürlich, rational/irrational, christlich/heidnisch etc. zu beschreiben, hat in der Literaturwissenschaft Tradition. Eingebürgert hat sich dabei die Vorstellung eines allmählichen Übergangs vom mythischen zu einem rationalen und kausalen Erzählen sowie eine je unterschiedliche Positionierung der einzelnen Werke auf dem literaturgeschichtlichen Zeitpfeil einer Mythos-Logos-Teleologie. Betrachtet man unter diesem Aspekt die Literaturgeschichte des Mittelalters, dann liegt es nahe, von einer „Positivierung des Mythos“28 oder einer „Arbeit am Mythischen“29 zu sprechen. Diesem Gedanken liegt jedoch als Apriori die Vorstellung der endgültigen Überwindung des Mythos durch eine vom rationalen Denken beherrschte Gegenwart zugrunde. Angesichts einer solchen Verdrängung des Mythischen ins Historisch-Überwundene ist es wenig verwunderlich, dass die Mediävistik sich sehr distanziert gegenüber jenen Arbeiten verhält, die dem Mythos eine anthropologische Qualität zuschreiben und gegenwärtige politische, religiöse oder psychologische Denkformen und Dispositionen auf ihn zurückführen. Diese Diagnose gilt besonders für die deutsche Parzival-Forschung und ihre Reaktion auf die mythenpsychologische Deutung des Gralstoffes. Hier liegt zwar seit 1960 eine auf der Basis der Jungschen Mythendeutung entstandene Arbeit von Emma JUNG und

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Werner Röcke, Positivierung des Mythos und Geburt des Gewissens. Lebensformen und Erzählgrammatik in Hartmanns Gregorius. In: Matthias Meyer u. Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. FS für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Tübingen 2002, S. 627-647. Udo Friedrich u. Bruno Quast, Mediävistische Mythosforschung. In: dies. (Hgg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit (Trends in Medieval Philology 2). Berlin, New York 2004, S. IX-XXXVII, hier: S. XXXVII.

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Marie-Louise VON FRANZ vor,30 aber die zünftige Forschung scheut sich offenbar vor einem Gegenstand, dem der Ruch der Esoterik anhaftet. Dabei fehlt es nicht an Versuchen einen mythenpsychologischen Ansatz auch für die Parzival-Forschung produktiv zu machen. So haben Gérard CHANDÈS, Jean-Guy GOUTTEBROZE und Friedrich WOLFZETTEL dafür plädiert, die mythenpsychologische Interpretation des Perceval mit der literaturhistorischen Analyse zusammenzuführen, weil damit Leerstellen der jeweils anderen Methode ausgefüllt werden könnten.31 Mit dem Motiv des in einer tiefen Schlucht tosenden Wassers hat die Furtsprungaventiure naheliegenderweise das besondere Interesse dieser Forschungsrichtung erregt. Das Wasser der dunklen Furt wird hier als Symbol des mütterlichen Elements, in das der Ritter eintaucht, verstanden. JUNG und VON FRANZ interpretieren in Anlehnung an C.G. JUNG die „Furt als Ort eines gefährlichen Übergangs in ein anderes Gebiet.“ Die Furt symbolisiert „jene seelischen Bereiche, in denen eine Einstellungsänderung notwendig wird und wo zugleich die noch unassimilierten Komplexe gefährlich werden können.“32 Gauvains Sturz in den Fluss wäre dann Indiz dafür, dass er die animalische Dimension seines Seins noch nicht ganz assimiliert hat. Nach CHANDÈS überlagern sich „im Bild der reißenden Tiefe [...] die Angst des Mannes vor der Frau und die Angst des Ritterstandes vor Veränderung.“33 DÖFFINGER-LANGE fasst diese Interpretationen mit den Worten zusammen: „Die Gefährliche Furt und der Sturz in das trügerisch tiefe Wasser bezeichnen im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinn die Bedrohung, die von der male pucele für den um sie werbenden und ihrem tyrannischen Treiben sich unterwerfenden Mann (Gauvain) ausgeht. Für einen Augenblick ist der Ritter nicht mehr Herr der Lage. Er ertrinkt aber nicht in dem tiefen Wasser – das war die Absicht der male pucele und ist die Angstvorstellung, aus der die Szene ihre Spannung bezieht –, vielmehr rettet ihn sein Pferd (das Alter Ego des Ritters), indem es aus der tiefen Furt ans Ufer springt.“34 Mehr Gewicht haben mythentheoretisch geleitete Überlegungen im Rahmen jener Untersuchungen, die den Status des Werkes innerhalb des Individualisierungsprozesses und der Entwicklung literarischer Fiktionalität bestimmen wollen. Rainer WARNING etwa sieht in der Konstruktion einer hybriden Erzählwelt zwischen Kerygma und Mythos sowie in der „konterdiskursiven Selbstartikulation“ des Autors ein Indiz für dessen (selbst)reflexive Erkenntnis der Literatur als spielerisches Medium für die Befreiung von

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Emma Jung u. Marie-Louise von Franz, Die Graalslegende in psychologischer Sicht. Olten, Freiburg i. Breisgau 51991 (Neuaufl. 1960). Zu den Arbeiten der drei genannten Autoren vgl. Döffinger-Lange [Anm. 7], S. 106-114. Jung/von Franz [Anm. 30], S. 274. Gérard Chandès, Recherches sur l’imagerie des eaux dans l’œuvre de Chrétien de Troyes. Cahiers de civilisation médiévale 19 (1976), S. 151-164; zit. nach Döffinger-Lange [Anm. 7], S. 107. Döffinger-Lange [Anm. 7], S. 291.

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dogmatischen Vorgaben oder traditionell mythisch-magischen Elementen.35 Der Unterschied zwischen Chrétien und Wolfram liege dabei darin, dass „Chrétiens Unzuverlässigkeit [...] wesentlich die eines ironischen Spiels sei, wogegen bei Wolfram „Magisches und Kerygmatisches zu zwei semantischen Räumen gespreizt“ sei36, aber beide Räume, die Artuswelt, zu der auch die Gawan-Handlung gerechnet wird, und die des Grals von der Ironisierung erfasst werden. Der semantische Raum der Gawan-Handlung erscheine insbesondere im Umfeld des Orgeluse-Komplexes angesichts seiner Verwurzelung im Bereich des Mythos als zwar „nicht unmotiviert, wohl aber [als] schlecht motiviert.“37 Nach W ARNING will „der Erzähler das mythische Analogon nicht in sich zersetzen. Wohl aber geht er über die Pragmatik auf ironische Distanz. Sein ‚bricolage‘ mit magischen und kerygmatischen Elementen ist spielerisch grundiert. Er wird in seiner Fiktivität bloßgelegt, ohne insgesamt als unwahr diskreditiert, in seiner Bedeutsamkeit in Frage gestellt zu werden.“38 Das Problem dieser These liegt zunächst in der Indifferenz hinsichtlich der Funktionalität des Mythischen in der Literatur. Einerseits will der Autor seinem Publikum den Fiktionalitätscharakter seines Werkes kenntlich machen und geht dabei auf eine spielerische Distanz zu jeder mit dem Werk vermittelten ,Wahrheit‘, andererseits soll das ‚mythische Analogon‘ (Clemens LUGOWSKI) weiter bestehen. Dieser Widerspruch könnte aber auch als Gegenstand einer inhaltlichen Aussage, die jenseits von Ironisierung und einer allgemeinen spielerischen Relativierung der Inhalte liegt, gedeutet werden. Mit dem Argument, wonach die mangelhafte kausale Motivierung der Gawan-Orgeluse-Handlung auf Spiel und Ironisierung weise, könnte man schließlich die Funktion nahezu der gesamten höfischen Literatur mit ihren zahlreichen Widersprüchen auf die Entdeckung der Fiktionalität als Selbstzweck oder eine bloße Unterhaltungsfunktion reduzieren. Dabei legt man jedoch einen modernen Begriff der kausalen und rationalen Motivierung zugrunde, der den Autoren der volkssprachigen Literatur des Mittelalters nicht geläufig war. Die Definition von Rationalität ist nicht zeitlos, sondern abhängig vom jeweiligen historischen Kontext. Es ist mithin zu fragen, ob der „bricolage“ zwischen Mythos, Heilsgeschichte und weltlich-höfischen Normen seinen Endzweck nur im literarisch-fiktionalen Spiel, vulgo: in der Unterhaltung,39 hat oder ob mit der Hybridität auch innerliterarische Diskurse be35

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Vgl. Rainer Warning, Narrative Hybriden. Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma (Der arme Heinrich/Parzival). In: Friedrich/Quast [Anm. 29], S. 1934; bes. S. 32 f. Warning [Anm. 35], S. 30. Warning [Anm. 35], S. 32. Die mangelhafte Motivierung erschwert freilich eine Zurechnung von Verantwortung und Schuld. Vermutlich widerlegt der Autor in der Gawan-OrgeluseHandlung die Vorstellung von einer direkten Zurechenbarkeit einer Schuld für den Helden. Warning [Anm. 35], S. 32. Vgl. dazu Rainer Warning, Heterogenität des Erzählten – Homogenität des Erzählens. Zur Konstitution des höfischen Romans bei Chrétien de Troyes. Wolfram Studien 5 (1979), S. 79-95.

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dient werden, die darüber hinausweisen. Ich versuche eine Antwort anhand der Eingriffe Wolframs ins ‚mythische Analogon‘ seiner Vorlage. Wolfram hat – wie oben an einigen Beispielen gezeigt – erhebliche erzählerische Mühe darauf verwendet, den chrétienschen Gauvain zu einem Helden zu machen, der unabhängig ist von den Launen des Schicksals oder der Hilfe eines Pferdes und der in seiner souveränen Ritterlichkeit Parzival ebenbürtig ist. Wäre es ihm nur darum gegangen, das „mythische Gefühl der freien Lüge wieder lebendig zu machen“40, hätte er es bei Übernahme der Vorlage bewenden lassen können, die nicht weniger, wenngleich andere argumentative Schwachstellen aufweist. Hybridität im Parzival entsteht jedoch fast zwangsläufig aus der Kontamination zweier verschiedener Figuralschemata durch Wolfram: Der mythisch konfigurierte Gauvain wird an dem Kompass des höfischen Helden Parzival ausgerichtet. Die Hybridität nötigt demnach eher zur intertextuellen Lektüre, sie kann bestenfalls in zweiter Linie als „ein historischer Index, der auf die Souveränität solch konterdiskursiver Selbstartikulation zielt“,41 verstanden werden. Zudem bedient sich Wolfram mythischer Schemata, um Gawan in dieses neue Figuralschema einzufügen. Dekonstruktion und Konstruktion des Mythos folgen hier unmittelbar aufeinander. Auf der einen Seite verschwindet zwar die narrative Funktion der magischen Grenze zur Anderwelt, die Dimension der „male pucele“ als der mythischen Königin der Unterwelt sowie die Existenz eines Tierhelfers. Auf der anderen Seite aber besetzt Gawan die Rolle der mythischen Erlösergestalt. 42 Deswegen erscheint es mir fraglich, ob im Parzival „Magisches und Kerygmatisches zu zwei semantischen Räumen gespreizt“43 wird. Zumindest ist selbst Wolframs Gawan-Figur ein Beleg dafür, dass die Grenzen dazwischen fließend bleiben. Hybridität als Folge der Kontamination zweier Schemata lässt sich auch anhand der Entwicklung der Orgeluse-Figur beobachten. Eine rationale Erklärung für das Verhalten Orgeluses als Königin einer Anderwelt ist innerhalb eines Mythos, insofern er nicht auf konkrete historische Fragen antwortet,44 unnötig, innerhalb eines höfischen Aventiureund Minne-Systems, mit dem um 1220 innerhalb einer Adelskultur über Normen und Werte verhandelt wird, aber sehr wohl. Das Suizidmotiv der „male pucele“ im Perceval war deswegen für Wolfram dysfunktional.45 Ein Minnesystem, dessen Basis der Tod eines der beiden Partner ist, konnte keine sinnstiftende gesellschaftliche Wirkung entfal40

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Warning [Anm. 35], S. 32 bezieht sich hier auf eine von Blumenberg [Anm. 44], S. 269 zitierte „schöne Formel Nietzsches“. Warning [Anm. 35], S. 33. Campbell [Anm. 19], S. 333-359. Warning [Anm. 19], S. 30. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 41986, S. 303. Schon Chrétien hat damit eine rationale Erklärung versucht für ein Verhalten, das dem Mythos offenbar selbstverständlich war. In welche Aporien Wolfram – und der Interpret – bei dem Versuch, eine Einheit der Figur der Orgeluse herzustellen, gerät, demonstriert Martin Baisch, Orgeluse. Aspekte ihrer Konzeption in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Alois Haas u. Ingrid Kasten (Hgg.), Schwierige Frauen – schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Bern u. a. 1999, S. 15-34.

Ein Kranz aus dem Garten des Gramoflanz

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ten. Wolfram verschiebt denn auch die Argumentation auf das Treue- und Rachemotiv. Damit handelt er sich allerdings logische Brüche ein, denn wenn niemand die gefährliche Furt überwinden kann und Gramoflanz nur gegen zwei Gegner kämpft, läuft Orgeluses Plan ins Leere. Auf diese Weise entstehen „narrative Hybride“, die dann dem Verdikt der schlechten Motivation verfallen, wenn man den Maßstab einer kausalen Motivierung anlegt. Der Prozess der Hybridisierung beginnt nicht erst bei Wolfram, sondern kann schon bei Chrétien beobachtet werden, der die Grenze zwischen Mythos und Literatur funktionalisiert, um literarische Muster mit den mythologischen zu dialogisieren. Gauvain bewegt sich jenseits der Grenze von Galvoie in einem Raum, in dem die höfischen Konventionen der Artuswelt in der Weise durchbrochen werden, dass das den arthurischen Normen zugrunde liegende Kausalitätsprinzip nur partiell funktionieren bzw. in seiner Wirksamkeit dekonstruiert wird.46 Die „male pucele“ erkennt Gauvains erotische Begierde sofort, aber sie folgt ihm dennoch. Der verwundete Ritter wird von Gauvain geheilt, aber zum ‚Dank‘ stiehlt er ihm sein Pferd. Gauvain wird durch seine ritterliche Leistung zwar Herr des Wunderschlosses, aber damit auch gleichzeitig dessen Gefangener. In der Furtsprungaventiure hält Gauvain den Graben für schmal und für sein Pferd als leicht zu bewältigen – dennoch geht der genau berechnete Sprung schief. Es ist hier gerade der Verzicht auf den eigenen Willen und das Vertrauen auf die animalische ‚Kraft‘ des Unbewussten, die zum Bestehen dieser Aventiure und zum „tot le pris del monde“ (Chr 8510) führt. In der Welt von Galvoie entspricht das Ergebnis der Handlungen also nicht den Intentionen, die Folgen sind nicht kontrollierbar. Dadurch entsteht bei Chrétien eine Form der paradoxen Kommunikation,47 die ihre eigenen Widersprüche ständig mit sich transportiert. Der Text demonstriert, wie wenig der Held über die Umstände verfügt, von denen sein ‚Geschick‘ abhängt. Da jene aber nicht beschrieben werden, die kausalen Zusammenhänge nur im Kopf des modernen Rezipienten entstehen, aber nicht in einem Erzählerkommentar vorgegeben werden, ist diese Form der Kommunikation zwischen Werk und Rezipient in der Tat unschlagbar. Wolfram hat diese Konstellation in Richtung auf Systematisierung und Diskursivierung verändert. Damit wird zwar der Diskurs über höfische Normen, Macht, Minne und Religion neu situiert, aber die Diskrepanzen, die sich jetzt zur mythologischen Ebene ergeben, werden umso transparenter. Insofern bewirkt auch das Verschwinden der Grenze zur Anderwelt keine Linearisierung und Rationalisierung des Geschehens, sondern für die Erreichung dieses Ziels wird ein Aufwand notwendig, der hinter dem Rücken des Textes erst recht einer Rationalisierung zuwider46

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Die Hybridität des Textes wird vor allem dann unbeachtet gelassen, wenn der Stoff einer einheitlichen Aussage im Rahmen eines methodologischen Ansatzes unterworfen werden soll. Den immanenten Textwidersprüchen versucht man dann mittels einer identifikatorischen Lektüre, dem Rückgriff auf Empathie oder anthropologische Grundkonstanten beizukommen. Vgl. dazu Sonja Emmerling, Geschlechterbeziehungen in den Gauvain-Büchern des Parzival. Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell (Hermea 100). Tübingen 2003, S. 148-152. Niklas Luhman, Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2002, S. 171.

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läuft. Denn die Grenze zwischen den Welten wird jetzt in die eine höfische Welt selbst hineinverlegt und wirkt dort als Treibsatz gegen die Allgültigkeit kausaler und finaler Erklärungen. Betrachtet man die Gawein-Handlung auf einer mythentheoretischen Ebene, dann wird man Wolframs Änderungen auf den ersten Blick als Reduzierung des mythischen Anteils und Ausgrenzung des Wunderbaren oder chaotisch Entdifferenzierten zugunsten einer Rationalisierung der Handlung deuten können. Paradoxerweise löst Wolfram damit aber auch die Grenze zwischen Mythos und Literatur. Die Grenze erweist sich als der blinde Fleck der gesamten Konstruktion, ohne die weder die Differenzierung von arthusischer Welt und dem Land Galvoie noch die zwischen Literatur und Mythos wahrnehmbar ist. Der Vorteil, der in diesem Verschwinden der Grenze liegt, besteht darin, dass der mit der Literatur verschmolzene Mythos die Perspektivität, Bedeutungs- und hermeneutische Anschlussfähigkeit und Opakheit des Textes erhöht. Der Text gewinnt an Polyvalenz und dies erklärt auch, warum er heute noch als aktueller Text gelesen werden kann. Bei einer mythentheoriekritischen Lektüre ist aber auch mit allem Nachdruck auf die Fragwürdigkeit sowohl des Kausalitäts- wie vor allem des Rationalitätsbegriffs hinzuweisen. Bruno LATOUR hat bemerkt, dass in den modernen Wissenschaften der Mythos selbst eine Konstruktion zum Zwecke der Differenzierung zwischen rational und irrational ist und es dem Bedürfnis der Neuzeit geschuldet ist, sich gegenüber den Vorfahren abzugrenzen.48 Genau gesehen lässt sich der Unterschied zwischen mythischem und poetischem Erzählen dann auch nicht an der Grenze zwischen Irrationalität und Rationalität festmachen, denn schon eine pragmatische Definition der modernen Rationalität scheitert an den empirischen Befunden. Solange man sich aber nicht darüber verständigt, was man unter mythischer und poetisch-erzählerischer Rationalität versteht, wird auch die Grenze dazwischen genauso fließend sein wie die zwischen Anderwelt und Artuswelt im höfischen Roman. Es ist die besondere Leistung Wolframs, die Spannung zwischen personaler Verantwortung, anthropologischen Bedingtheiten, wie sie im Mythos ihren Niederschlag gefunden haben, und religiösen Heilserwartungen aufrecht zu halten und aus den je unterschiedlichen Gewichtungen immer wieder das narrative Potential für die Gestaltung seines Textes zu beziehen. Wolframs Text wäre demnach auch ein Indiz für die Begrenztheit aller Rationalisierungsversuche angesichts der Kontingenz menschlicher Handlungen und Begründungen.

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Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 1998, S. 152-156.

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„Ganzer frid noch staeter suon ... wirt nimmer ûf der riviere der zweier rîche gemerke“ – eine deutsch-französische Erbfeindschaft ante litteram? Ottokar von Steiermark und die problematische Konstruktion „nationaler“ Grenzen in vornationaler Zeit Grenzen und Grenzüberschreitungen werden in den beinahe 100.000 Versen der reichsgeschichtlich angelegten Steirischen Reimchronik, deren Berichtszeitraum von etwa 1250 bis 1309 reicht, immer wieder thematisiert1. Der in den ersten beiden Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts im südöstlichen Grenzraum des Reiches schreibende Verfasser Ottokar „ouz der Geul“ beschäftigt sich mit sprachlichen Barrieren der Kommunikation2, er problematisiert die sozialen Grenzen der Gesellschaft, deren Aufhebung oder Überwindung er nachdrücklich kritisiert3, ja, er berichtet sogar von Jenseitserfahrungen, die die Grenzen des in dieser Welt gültigen Wissens sprengen4. Die Grenzlinie aber, die den steirischen Reimchronisten am meisten beschäftigt, ist eine politische: Sie verläuft im Westen und trennt das römisch-deutsche Imperium vom französischen Königreich. Bei der mediävistischen Beschäftigung mit dem Phänomen ‚Grenze’ ist die Untersuchung solcher politisch-geographischen Grenzziehungen in den letzten Jahrzehnten hinter die Aufarbeitung sozialer und kultureller Differenz zurückgetreten und weitgehend einer positivistisch ausgerichteten (Landes-) Geschichtsschreibung überlassen worden 5. Spätestens seit dem linguistic turn in den Geschichtswissenschaften ist jedoch die Ein1

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Für einen allgemeinen Überblick über die Steirische Reimchronik vgl. Ursula Liebertz-Grün, Das andere Mittelalter. Erzählte Geschichte und Geschichtserkenntnis um 1300. München 1984, S. 101-167. Vgl. Ottokar, Steirische Reimchronik. Hrsg. v. Joseph Seemüller, Ottokars Österreichische Reimchronik (Monumenta Germaniae Historica. Deutsche Chroniken V, 1/2). Hannover 1890/3, V. 75.625-75.631. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 64.956-64.64.993; vgl. dazu Liebertz-Grün [Anm. 1], S. 159f. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 33.538-33.841. Vgl. zur Entwicklung linearer Grenzziehungen im späteren Mittelalter: Hans-Jürgen Karp, Grenzen in Ostmitteleuropa während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Grenzlinie aus dem Grenzsaum. Köln u. a. 1972; Reinhard Schneider, Lineare Grenzen – Vom frühen bis späten Mittelalter. In: Wolfgang Haubrichs u. a. (Hgg.), Grenzen und Grenzregionen. Frontières et régions frontalières. Borders and Border Regions. Saarbrücken 1993, S. 51-68.

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sicht unabweisbar, dass auch die vermeintlich objektiv gegebenen, materiell fundierten politischen Grenzen den Charakter eines kulturellen Konstrukts aufweisen, insofern sie nämlich nach Maßgabe der jeweiligen Raumwahrnehmungsmodi als mittel- oder großräumliche Strukturen in die mental map der mittelalterlichen Zeitgenossen integriert werden und von dort als kulturell überformte mentale Konzepte für den weiteren Gebrauch abgerufen werden können6. Besonders deutlich tritt dieser Konstruktcharakter dort hervor, wo räumliche und politische Abgrenzungen zugleich tendenziell als trennscharfe Linien zwischen sprachlichen, ethnischen und kulturellen Einheiten wahrgenommen werden. Ob solche Vorstellungen im Mittelalter eine Rolle gespielt haben und ob sie gegebenenfalls mit Hilfe ‚nationaler’ Begrifflichkeiten zu fassen sind, ist kontrovers diskutiert worden 7. Allerdings sollte die Anwendung nationaler Untersuchungskategorien auf das Mittelalter nicht bereits deshalb verworfen werden, weil die quellenmäßig erfassbaren Realitäten in vielen Punkten nicht dem Idealtypus der modernen Nation zu entsprechen scheinen. Vielmehr können die verschiedenen Formen mittelalterlichen Nationalbewusstseins mit Joachim EHLERS als je unterschiedliche „additive Verbindungen“ einzelner Elemente begriffen werden 8. Wo, wie und in welchem Maße die Quellen auf Erklärungsmuster zurückgreifen, die als Bestandteile eines genuin nationalen Diskurses gedeutet werden können, muss daher jeweils in Einzeluntersuchungen geprüft werden. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, eine solche Analyse exemplarisch durchzuführen. Die Darstellung der westlichen Reichsgrenze in der Steirischen Reimchronik ist hier ein besonders geeigneter Untersuchungsgegenstand. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Ottokar die Grenze zwischen Frankreich und dem Reich zwar in einer für die Historiographie ungewöhnlichen Weise als lineare Grenze konstruiert und mit einer besonderen Bedeutung aufgeladen, aber nicht schlechterdings „erfunden“ hat. Vielmehr besitzt das Konzept einer geographisch genau fixierbaren Grenzlinie zwischen Imperium und Regnum Franciae im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert bereits auf unterschiedlichen 6

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Zum Konzept des mental mapping und seiner Anwendung für die Analyse spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Textzeugnisse vgl. Bernhard Jahn, Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen. Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 11-21. Zu den Modi der nichtkartographischen Raumwahrnehmung vgl. Kai Brodersen, Terra Cognita. Studien zur römischen Raumerfassung (Spudasmata 59). Hildesheim 2003. Vgl. dazu den ausführlichen Forschungsüberblick bei Claudius Sieber-Lehmann, Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft. Göttingen 1995, S. 11-18; daneben Simon Forde u. a. (Hgg.), Concepts of National identity in the Middle Ages. Leeds 1995, sowie Jean-Marie Moeglin, Nation et nationalisme du Moyen Age à l'époque moderne (France/Allemagne). Revue historique 301 (1999), S. 537553, und id., Die historiographische Konstruktion der Nation – „französische Nation“ und „deutsche Nation“ im Vergleich. In: Joachim Ehlers (Hg.), Deutschland und der Westen Europas (Vorträge und Forschungen 56). Stuttgart 2002, S. 353-377. Vgl. Joachim Ehlers, Elemente mittelalterlicher Nationsbildung in Frankreich. Historische Zeitschrift 231 (1980), S. 565-587, hier S. 587.

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Ebenen politische Relevanz. Dies wird in einem ersten Untersuchungsschritt anhand von urkundlichem Material aufgezeigt. Vor diesem Hintergrund wird dann in einem zweiten Schritt dargelegt, wo und wie Ottokars Vorstellung von der Grenze zwischen Frankreich und dem Reich im historiographischen Medium zum Ausdruck kommt. Da die so konstruierte Grenze vom Reimchronisten mit einer spezifischen Bedeutung aufgeladen wird, ist schließlich in einem letzten Schritt einerseits nach den Beziehungen zwischen der Grenze und dem von ihr umgrenzten Raum mit seinen Bewohnern und politischen Strukturen, andererseits nach der Bedeutung der Grenzlinie für das Verhältnis der durch sie getrennten politischen Einheiten von Imperium und Regnum Franciae zu fragen.

1. Der diplomatische Blick auf die Reichsgrenze Dass es im Spätmittelalter eine (wie auch immer geartete) Grenze zwischen Frankreich und dem Reich gegeben hat, bedarf keines eigenen Beweises. Weniger selbstverständlich ist hingegen die Tatsache, dass die Vorstellung einer linearen 9 Außengrenze des Reiches in verschiedenen Kontexten eine beachtliche lebensweltliche und politische Bedeutung erlangt hat. Interessanterweise findet das genuin „großräumliche“ Konzept der Reichsgrenze auch auf der regionalen und lokalen Ebene Verwendung, obwohl sich die Modi der kognitiven Erfassung von Groß-, Mittel- und Nahraum grundsätzlich voneinander unterscheiden 10. Dies wird an einer Reihe von Dokumenten deutlich, die seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Interventionen der erstarkten kapetingischen Monarchie im westlichen Grenzraum des Reiches entstanden sind11. Im Jahre 1286 hatte Philipp IV. von Frankreich die Abteien Montfaucon und Beaulieu neben einigen anderen von Verdun abhängigen Klöstern in seine garde genommen und 1287 durch Parlamentsbeschluss ihre Zugehörigkeit zum französischen Königreich feststellen lassen 12. Graf Thibaut von Bar, der ebenfalls Anspruch auf die Schutzherrschaft 9

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Anders als Schneider [Anm. 5], S. 51f., bezeichne ich mit dem Begriff der „linearen Grenze“ nicht nur „gedachte [gerade] Linien zwischen fixierten Markierungen“, sondern jede als zusammenhängende Linie gedachte Grenze. Zu den aus der kognitiven Geographie entlehnten Begriffen Groß-, Mittel- und Nahraum vgl. ausführlich Brodersen [Anm. 6], S. 44-68. Aus mediävistischer Perspektive ist diese Unterteilung der Wahrnehmungsräume kürzlich von Helmut Reimitz in einem auf dem Historikertag 2004 in Kiel gehaltenen Vortrag „Zur Vergegenwärtigung von Raum und Konstruktion von Identität in der fränkischen Historiographie“ aufgegriffen worden. Vgl. dazu die Untersuchung von Fritz Kern, Die Anfänge der französischen Ausdehnungspolitik bis zum Jahr 1308. Tübingen 1910, die durch Bertram Resmini, Das Arelat im Kräftefeld der französischen, englischen und angiovinischen Politik nach 1250 und das Einwirken Rudolfs von Habsburg. Köln u. a. 1980 nur teilweise ersetzt worden ist. Vgl. Kern [Anm. 11], S. 117f.

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über die Argonnenklöster erhob, hatte – vermutlich ebenfalls vor dem Parlament – dagegen protestiert13 und schließlich mit Unterstützung lothringischer Herren und Prälaten an den römischen König Rudolf von Habsburg appelliert14. Dieser setzte daraufhin eine Untersuchungskommission ein 15, die am 25. Mai 1288 aufgrund zahlreicher Zeugenaussagen die Reichszugehörigkeit der umstrittenen Gebiete statuierte16. Das von Rudolfs Kommissaren erarbeitete Notariatsinstrument beschränkt sich nicht darauf, die Abhängigkeit der strittigen Klosterlande von Verdun und damit deren feudalrechtliche Zugehörigkeit zum Lehensverband des Reiches festzustellen. Vielmehr zeigen die Aussagen der befragten Zeugen, dass im lothringischen Raum die Vorstellung einer linearen Grenze lebendig ist – einer Grenze, die nicht nur die regionalen Herrschaften Bar bzw. Verdun und Champagne voneinander trennt, sondern ausdrücklich auf die übergeordneten Einheiten von Imperium und Regnum Franciae bezogen ist. Im Bereich des Bistums Verdun folgt die Reichsgrenze dem Verlauf des Baches Biesme: Während das jenseitige Ufer – „par delai le dit ru de Bienme“ – französisches Territorium darstellt, erstreckt sich das Reich diesseits des Flusses – „par desai le dit ru devers Verdun“17. Auch der Wasserlauf selbst ist keine herrschaftsfreie Übergangszone, vielmehr wird er von der Grenze in der Mitte zerschnitten. So hätten die Leute des Grafen von Champagne in ihren Fehden mit Bar mehrfach die Grenzbrücken abgebrochen, jedoch nur bis zur Mitte des Flusses. Die gegenüberliegenden Hälften seien als dem Reich gehörig intakt gelassen worden 18. Darüber hinaus hätten die französischen Untertanen und die Reichsangehörigen jeweils nur in ihrer Hälfte des Flusses Fischfang getrieben, eben weil sie aus dem Reich bzw. aus Frankreich stammten19. Diese lineare Grenze, die die lothringischen Zeugen der Grenzenquête von 1288 in ihrem heimatlichen Mikroraum geographisch genau verorten konnten, trennt jedoch sehr viel größere Rechts-, Herrschafts- und Verwaltungsräume voneinander. So unterscheiden sich – ebenfalls nach Aussage der lothringischen Zeugen – die Rechtsgewohnheiten „im Reich“ und „im Königreich Frankreich“ zum Teil erheblich voneinander. Gesetze und Verbote des französischen Königs – etwa das Turnierverbot – gelten bis an die Reichs13 14

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Vgl. Kern [Anm. 11], S. 118. Vgl. Monumenta Germaniae Historica. Constitutiones et acta publica imperatorum et regum. Legum sectio IV, Bd. III, Nr. 408, S. 390f.; dazu Kern [Anm. 11], S. 119. Vgl. Constitutiones III [Anm. 14], Nr. 409, S. 391f. Vgl. Constitutiones III [Anm. 14], Nr. 410, S. 392-405. Vgl. Constitutiones III [Anm. 14], Nr. 410, S. 393, ähnlich S. 394, 396. Zur modernen Form des Flußnamens „Biesme“ vgl. Kern [Anm. 11], S. 120. Vgl. Constitutiones III [Anm. 14], Nr. 410, S. 393: „Quant werre at estei entre ces de Champengne et le conte de Bar, cil de Champengne les pons fais sor le dit ru de Bienme deffirent plusors fois la moitiei par devers aus, et l’autre moitiei par desai devers Verdun lassoient entiere, por ce que elle estoit de l’empire“. Vgl. Constitutiones III [Anm. 14], Nr. 410, S. 399f.: „Cil de desai le dit ru de Byeme par devers Verdun peichent ou dit ru de Byeme en la moitiei par devers aus, por ce qu’il sont de l’empire, et cil de par delai le dit ru peichent en l’autre moitiei par devers aus, por ce qu’il sont dou royalme de France“.

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grenze, aber natürlich nicht im Reich. Auch dürfen Pfänder aus dem einen Reich nicht auf das Gebiet des anderen transferiert werden 20. Schließlich verlieren diejenigen, die ihren Wohnsitz über die Grenze ins jeweils andere Reich verlegen, ihre bewegliche und unbewegliche Habe in der alten Heimat und können sich im Nachbarland einen neuen Herrn wählen 21. Darüber hinaus erinnern sich die Zeugen daran, dass die durch die Biesme bezeichnete Grenze auch kirchlicherseits respektiert worden sei. So seien auf französischer Seite mehrfach Kreuzzugszehnte gezahlt worden, während die lothringischen Klöster ebenso wie die anderen Kirchen im Reich nur zur Abgabe eines Zwanzigsten verpflichtet waren. Auch die Interdikte, die über das französische Königreich verhängt worden seien, habe man „dem Hörensagen zufolge“ bis zur Reichsgrenze, aber nicht darüber hinaus beachtet22. Dass einige der zitierten Zeugenaussagen in sachlicher Hinsicht mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden müssen, ist für die weiteren Überlegungen nicht von Belang. Wichtig ist vielmehr die Tatsache, dass der Grenze zwischen dem Reich und Frankreich – also zwischen zwei makroräumlichen Einheiten – von den mittelalterlichen Zeitgenossen eine erhebliche lebensweltliche Bedeutung im lokalen Mikroraum zugemessen wird. Dass die lothringischen Zeugen der Grenzuntersuchung von 1288 mit ihrer hohen Meinung von der Bedeutung der Reichsgrenze keineswegs allein standen, wird an weiteren, allerdings weniger detaillierten Belegen aus anderen Zusammenhängen deutlich. So umfasst das deutsch-französische Vertragswerk, das im Vorfeld des Treffens von Albrecht I. und Philipp IV. in Quatrevaux (1299) beschlossen wurde, neben einem Beistandspakt und einer Ehevereinbarung auch einen Schiedsvertrag. Allein die „occupaciones vel supprisiae aut usurpaciones (...) que de imperii et regni Francie iuribus facte dicuntur“ können die „mutue caritatis amicicia“, die von beiden Vertragspartnern ange20

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Vgl. Constitutiones III [Anm. 14], Nr. 410, S. 396f.: „Tous coumandemens, qui sont fait (...) ou roialme de France (...) ne furent onques tenu par desai le dit ru de Byeme devers Verdun (...), por ce qu’il sont et estoient de l’empire, si comme des deffenses, qui ont estei faites en France des chevaliers, qui (!) n’alassent mie as tornois, et d’altres deffenses asseis. Et dit encor, que cil dou roialme (...) ne soffrirent onques ne volrent soffrir, que gaige, qui fuissent pris ou roialme de France (...) fuissent aportei (...) en l’empire; et autreteil (...), on n’at mie soffert, [que des waiges] aient estei portei par delai le dit ru ou roialme de France“. Vgl. Constitutiones III [Anm. 14], Nr. 410, S. 394: „Se aucuns homs ou borgois, qui estoit demorans desai le dit ru de Byeme devers Verdun, alat demorer oultre le dit ru en Champengne ou roialme de France, il faisoit signor de cui qu’il voloit, mais cil qui ensi s’en aloit, perdoit moble et heritaige, qu’il avoit au leu dont il estoit partis; et en teil maniere at-on usei de ces, qui venoient de par delai le dit ru (...) demorer par desai (...) devers Verdun; et est por la raison de ce qu’il aloient dou roialme d’Alemengne et de l’empire ou roialme de France et en Champengne et dou roialme de France et de Champengne ou roialme d’Alemengne et en l’empire, en passant le dit ru“; ähnlich S. 397. Vgl. dazu Kern [Anm. 11], S. 120. Vgl. Constitutiones III [Anm. 14], Nr. 410, S. 393: „Et si at oï dire plusors fois que, quant on at cessei de faire le devin ofice ou roialme de France por aucuns meffais, que on ne cessoit mie en l’ecglise de Montfalcon, por ce qu’il estoient et sont de l’empire“.

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strebt wird, zunichte machen. Die Schlichtung etwaiger Grenzstreitigkeiten wird daher einer paarig besetzten Kommission übertragen, die deren gütliche Beilegung gewährleisten soll23. Dasselbe Instrument einer (paarigen) Schiedskommission fasst etwa eine Generation später auch Ludwig der Bayer ins Auge. In zwei Diplomen von 1324 und 1330 überträgt er seinem Schwiegervater Wilhelm von Hennegau das Recht, im Gebiet von Hennegau und Ostrevant bzw. Hennegau und Cambrésis zusammen mit dem jeweiligen französischen König oder dessen Vertretern die Grenze zwischen Regnum und Imperium einvernehmlich festzulegen 24. Anders als Albrecht dürfte der Bayer mit dieser Maßnahme weniger die Bereinigung seines eigenen Verhältnisses zum französischen Königtum als vielmehr die territorialpolitische Unterstützung seines Schwiegervaters angestrebt haben. Dass die Definition der Reichsgrenze dabei offenkundig als Mittel zum (politischen) Zweck dienen soll, macht aber deutlich, dass die Scheidelinie zwischen dem Reich und Frankreich auch im vergleichsweise königsfernen niederländischen Raum keine bedeutungslose Abstraktion darstellt, sondern durchaus politische Relevanz besitzt. Die drei urkundlichen Belege, die hier kurz vorgestellt wurden, zeigen, dass das vom Großraum her gedachte Konstrukt der „deutsch-französischen“ Reichsgrenze auch im Nah- und Mittelraum eine Rolle spielt. Im lokalen Nahraum besitzt es eine beachtliche lebensweltliche Relevanz, wie das Beispiel der Grenzenquête in der Grafschaft Bar zeigt. Im regionalen Mittelraum kann es zu einem Instrument fürstlicher Territorialpolitik werden, wie die Diplome Ludwigs des Bayern für Wilhelm von Hennegau vermuten lassen. Trotz der machtpolitischen Schwäche des Reichsoberhauptes im Spätmittelalter ist daher eine auf das Reich bezogene „Grenzidee“ in den urkundlichen Quellen zweifellos als politisch bedeutungsvoll nachzuweisen 25.

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Vgl. Constitutiones IV [Anm. 14], Nr. 72, S. 56. Zum Instrument der paarig oder unpaarig besetzten Schiedskommissionen im europäischen 13. Jahrhundert vgl. ausführlich Martin Kaufhold, Deutsches Interregnum und europäische Politik. Konfliktlösungen und Entscheidungsstrukturen 1230-1280 (Schriften der MGH 49). Hannover 2000, der die Verhandlungen von 1299 aufgrund seines zeitlichen Untersuchungsrahmens jedoch nicht mehr berücksichtigt. Vgl. Constitutiones V [Anm. 14], Nr. 864, S. 680f.; Constitutiones VI, Nr. 792, S. 670. Eine entgegengesetzte Deutung vertritt Hans-Werner Nicklis, Von der ‚Grenitze’ zur Grenze. Die Grenzidee des lateinischen Mittelalters (6.-15. Jhdt.). Blätter für deutsche Landesgeschichte 128 (1992), S. 1-30, hier S. 23, der die „lineare Fixierung“ der Westgrenze des Reiches als von außen aufgezwungene Entwicklung deutet: „Das spätmittelalterliche Reich existierte nur noch im Pluralis der deutschen Lande, es suchte seine Grenzen im Innern. Im gleichen chronologischen Umfeld beginnen die aufstrebenden Nationalstaaten im Westen und Osten, die Idee einer nationalstaatlichen frontière (...) von außen an die zersplitterten deutschen Territorien heranzutragen“.

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2. Der historiographische Blick auf die Reichsgrenze Aus den historiographischen Texten des Mittelalters die Raumkonzeptionen ihrer Autoren zu erheben, ist zumeist problematisch. Dies hat zum einen mit der spezifischen Funktion dieser weitgehend narrativ angelegten Texte zu tun. Zwar schildern die Geschichtsschreiber stets Ereignisse im Raum, doch bildet der Raum selbst mit seinen Abgrenzungen in der Regel nicht den Gegenstand ihres Berichtes. Zudem ist das mittelalterliche Publikum von Werken wie der Steirischen Reimchronik an einer detaillierten Beschreibung des Raumes um der Beschreibung willen wohl nicht interessiert. Zum anderen wirft die Darstellung großräumlicher Grenzen im historiographischen Bericht auch praktische Probleme auf. Obwohl Ottokar häufig über ausgezeichnete Kenntnisse der zeitgenössischen französischen Geschichte verfügt, kennt er den französischen Raum ebenso wie die Gebiete an der Reichsgrenze wohl nicht aus eigener Anschauung. Frankreich ist für den Chronisten daher nur auf der Makroebene als ferner Großraum greifbar. Nach Kai BRODERSENs Überlegungen zur antiken Raumerfassung wird ein solcher Raum im nichtkartographischen Modus der Raumwahrnehmung als Summe der in ihm enthaltenen landmarks – d. h.: erinnerungswürdiger Punkte – konzipiert26. Den auf diese Weise definierten fernen Großraum auf der individuellen mental map durch das Konstrukt einer Grenze abzuteilen, fällt darum naturgemäß schwer. Umso auffälliger ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, dass die geographischen Grenzen des französischen Königreichs große Bedeutung für Ottokars Frankreichwahrnehmung besitzen. An einer Stelle führt er diese Grenzen auch seinem Publikum sinnfällig vor Augen. Im Bericht über die französisch-flämischen Konflikte des frühen 14. Jahrhunderts erwähnt der Reimchronist verschiedene Hilfstruppen, die vor der so genannten Goldsporenschlacht von Courtrai (1302) zum königlichen Heer stoßen. Er nennt dabei Kontingente aus „Brâbant“, „Saphoy“, „Hanegeu“, „Lutzelburge“, „Waskoni“ (Gascogne), „Hôhenburge“ (Hohenburg im Elsaß?), „Holland“, „Burgunden“ (vermutlich der nördliche Teil Niederburgunds), „Geler“ (Geldern), „Sêlant“, „Arel“ (wohl der südliche Teil des Arelat), „Navarn“ und „Burgoni“ (bei Ottokar immer die Freigrafschaft). In dieser bunten Reihenfolge scheint die Aufzählung der einzelnen Landschaften zunächst mehr oder minder zufällig; doch fügt Ottokar als ausdrücklichen Kommentar die Bemerkung hinzu, alle diese Länder seien „dem von Francrîch (...) gelegenlich“27, d. h. benachbart. Markiert man die genannten Regionen daher auf einer Karte, so wird der Verlauf der französischen Nord- und Ost-, aber auch der Südgrenze durch diese Liste tatsächlich in groben Zügen umrissen (vgl. Abbildung 1). Mit den Mitteln der nichtkartographischen Raumwahrnehmung – nämlich durch die ungeordnete Aufzählung von 26

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Vgl. Brodersen [Anm. 6], S. 49-53, besonders S. 53: „Für die Erfassung des Großraums (...) bedarf es zumindest der Kenntnis einzelner landmarks, deren absolute Lage im geographischen Koordinatensystem dabei freilich ebensowenig bekannt sein muß wie ihre relative Position zum Betrachter oder zueinander“. Ottokar [Anm. 2], V. 64.378.

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landmarks28 – lässt Ottokar also das Konzept der Grenz(lini)e hervortreten, das wir üblicherweise gerade mit der kartographischen Erfassung des Raumes verbinden. Indem er eine Anzahl kleiner und mittlerer Landschaften ausdrücklich als Grenzregionen kennzeichnet, führt er die Vorstellung eines durch seine Grenzen definierten französischen Raumes als geographische Ordnungskategorie in den historiographischen Bericht ein. Dass dieses Grenzkonstrukt das Frankreichbild der Steirischen Reimchronik durchgängig prägt, wird bei der Betrachtung des geographischen Horizonts von Ottokars Frankreichwahrnehmung deutlich. Dieser erfasst sämtliche Orte und Landschaften, die im Zusammenhang mit dem französischen Königreich und dessen Vertretern genannt werden. Frankreich selbst wird in der Reimchronik sehr häufig genannt; sein Name fällt insgesamt 192 Mal. Zum Vergleich: In der Sächsischen Weltchronik (Rezension C) und den Grandes Chroniques de France – zwei etwas älteren volkssprachlichen Prosachroniken – sind die entsprechenden Zahlen viel niedriger; sie liegen jeweils bei etwa 30 Nennungen. In den beiden letztgenannten Chroniken werden die Erwähnungen von Alemagne und Germanie bzw. Vrancrike jedoch von einer großen Zahl weiterer Ortsnennungen flankiert, die sich über den gesamten deutschen bzw. französischen Raum oder doch über größere Gebiete desselben verteilen. Dies gilt sowohl für den gesamten Berichtszeitraum wie für einzelne Epochenschnitte (vgl. Abbildungen 2 und 3)29. Ottokar hingegen erwähnt im französischen Königreich mit Ausnahme Flanderns praktisch keine weiteren Orte oder Regionen (vgl. Abbildung 4). An einer einzigen Stelle nennt er „Pikardî“, an einer anderen „Waskoni“, daneben einmal das vermutlich dem Reich zugerechnete „Tischou“ (Dijon)30. Nur Paris und Reims werden als Zentralorte der französischen Monarchie mit 30 bzw. 3 Nennungen vergleichsweise häufig genannt31. Stattdessen rückt der Reimchronist den burgundischen und lothringischen Grenzraum ins Blickfeld. Ottokar erwähnt hier eine Vielzahl von Städten und Gebieten, deren Herren als Partner, Gegner oder Opfer des französischen Königtums in Erscheinung treten. Diese verschiedenen Orte bilden einen lang gestreckten Saum, in dem die Aktivitäten des spätkapetingischen Königtums für den Reimchronisten und sein Publikum geographisch greifbar werden, 28

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Brodersen [Anm. 6], S. 53, unterstreicht ausdrücklich, daß die „absolute Lage [der landmarks] im geographischen Koordinatensystem (...) ebensowenig bekannt sein muß wie ihre relative Position zum Betrachter oder zueinander“. Die geographischen Horizonte verzeichnen alle Orte, die im Zusammenhang mit dem jeweiligen Nachbarn genannt werden, unter Angabe der Häufigkeit der Erwähnung; mehrfache Erwähnungen innerhalb einer historischen „Szene“ werden jedoch nur einfach gewertet, um nicht aus stilistischen Unterschieden zwischen den Texten unzulässige inhaltliche Schlüsse zu ziehen. Zur besseren Orientierung ist der Verlauf der hochmittelalterlichen Reichsgrenze in die Abbildungen eingetragen. Vgl. dazu Ottokar [Anm. 2], V. 39.533, 64.369, 32.996ff. Der ungenannte Herzog (Hugo IV. bzw. dessen Sohn Robert II.) von Burgund bzw. „Tischouwe“, Schwiegervater Rudolfs v. Habsburg, tritt als eloquenter Verteidiger der Reichsrechte in „Burgoni“ auf. Vgl. zu Paris als Königssitz, Reichshauptstadt und Versammlungsort der Stände Ottokar [Anm. 2], V. 64.902, 65.457ff., 75.171, 75.255; zu Reims als Weihe- und Krönungsort V. 63.601ff., 91.471f.

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zugleich aber auch einen Raum, welcher die Grenzen des französischen Königreichs bezeichnet. Indem Ottokar auf diese Weise die Konturen des französischen Raumes hervorhebt und innerhalb dieses Raumes zugleich auf weitere regionale Differenzierungen verzichtet, lässt er Frankreich als monolithischen Block außerhalb der Reichsgrenzen erscheinen.

3. Die Funktionalisierung der Grenze im historiographischen Bericht So sehr der Gegensatz zwischen den unterschiedlichen Arten der Raumerfassung in der Steirischen Reimchronik einerseits und den zum Vergleich herangezogenen Prosachroniken andererseits ins Auge sticht: Er könnte doch als vergleichsweise belanglos abgetan werden, wenn Ottokar die Grenze zwischen Frankreich und dem Reich nicht in charakteristischer Weise mit Bedeutung auflüde. So umgibt die französische Grenze der Steirischen Reimchronik zufolge eine Einheit, die im Inneren nicht nur geographisch, sondern auch politisch und ethnisch weitgehend homogen ist. Politisch besitzt der König – abgesehen vom Sonderfall Flandern – innerhalb des französischen Raumes keinen ernsthaften Konkurrenten. Zwar werden wiederholt Herren und Bürger von allem dem lant/unde ûz den steten32 als politische Akteure erwähnt, doch bleiben sie anonym und in ihren Handlungen jeweils auf die Institution des Königtums ausgerichtet: Sie stellen die königlichen Heere33, bilden das Gefolge des Königs34 oder kommen als Ständeversammlung zusammen 35. Dabei ist die politische Institution des Königtums nicht nur auf den beherrschten Raum, sondern auch auf die ethnische Gruppe der „Franzoisaere“ bezogen. Philipp IV. wird von Ottokar mehrfach als „der Franzoisaer herre“36 bzw. „kunic der Franzois“37 oder einfach nur „der Franzois“ bezeichnet38; er gebietet über „aller der Franzoisaere maht“, sendet Truppen „ûz der Franzoisaere lant“ und handelt auch ansonsten durch die „Franzoise“39. Im Gegenzug gilt die Loyalität der französischen Untertanen ausdrücklich Krone und Land, der Institution des Königtums und dem Gebiet des Königreichs zugleich. Obwohl die französischen Herren die Flandernkriege Philipps IV. keineswegs mit unge-

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Ottokar [Anm. 2], V. 64.900f. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 32.759ff., 64.207ff., 64.245ff., 64.322ff., 65.209 et passim. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 74.961. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 64.893ff. Ottokar [Anm. 2], V. 32.670, 35.219, 74.621. Ottokar [Anm. 2], V. 33.416. Ottokar [Anm. 2], V. 74.806, 74.825, 74.844, 74.961, 91.273. Ottokar [Anm. 2], V. 33.026, 32.889, 39.768.

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teilter Zustimmung betrachten 40, reagieren sie auf die Niederlagen des königlichen Heeres unverzüglich mit Solidaritätsbekundungen: „Die herren algelîche/lobten bî ir triwen,/si liezen sich immer riwen/die smaehe und die schande,/diu der krône und dem lande/waere widervarn“41. In ähnlicher Weise fühlt sich auch das einfache Volk Königtum und Königreich verbunden 42. Indem Ottokar das französische Königreich als eine zugleich räumlich, ethnisch und politisch abgegrenzte Einheit darstellt, die von ihren Bewohnern mit Identitätsbezügen aufgeladen wird, greift er ein Deutungsmuster auf, das Jean-Marie MOEGLIN kürzlich in Anlehnung an die Definition des regnum bei Fulbert von Chartres als das „ideelle Denkmodell (...) des ‚nationalen Staats’“ in der mittelalterlichen Historiographie bezeichnet hat43. Ohne die Differenzen zwischen mittelalterlichen und modernen Vorstellungen zu übersehen, kann man Ottokars Frankreichbild daher zweifellos als Ergebnis einer frühnationalen Geschichtssicht interpretieren. Dieser Feststellung kommt insofern große Bedeutung zu, als die Grenze des Königreichs, die nach innen hin den Zusammenhalt der „(früh-)nationalen“ Einheit Frankreich sichert, zugleich im Außenverhältnis extreme Spannungen erzeugt. Ottokars Darstellung zufolge wird das Verhältnis von Imperium und Regnum Franciae in starkem Maße durch die französischen Expansionsbestrebungen im Bereich der lothringischen und burgundischen Grenze beeinträchtigt. Der steirische Reimchronist deutet die verschiedenen territorialpolitischen Auseinandersetzungen im Grenzraum konsequent als Episoden einer mit militärischen und diplomatischen Mitteln durchgeführten Auseinandersetzung zwischen Frankreich und dem Reich. Bisweilen selbständig, häufiger aber in Zusammenarbeit mit einzelnen Fürsten nimmt der französische König grenznahe Reichsgebiete in Besitz. Im Gegenzug besteht eine der Hauptaufgaben des Reichsoberhauptes in der Revision dieser Übergriffe. Der Erzbischof von Trier, der in der Reimchronik als Sprachrohr der Reichsinteressen an der westlichen Grenze fungiert, fordert seine kurfürstlichen Kollegen daher ausdrücklich dazu auf, nur einen solchen König zu wählen, der auch die

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Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 64.207ff. Ottokar [Anm. 2], V. 64.253. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 63.945ff. (zur Reaktion der französischen Bevölkerung auf die Ermordung königlicher Truppen in Flandern während der sogen. Mette von Brügge): „Dô man [des kunigs schaden unde leit] dô innen wart,/nû wart von herzen beswârt/daz lantvolc über al./michel jâmer unde quâl/huop sich in dem lande“; V. 63.962ff.: „Sich huop angst unde nôt./nieman gedâhte noch enweste,/(...)/daz dheinem kunic von Francrîch/dehein sache sô smaelich/waere widervarn/bî deheinen jârn“. So Moeglin 2002 [Anm. 7], S. 354; vgl. Fulbert von Chartres, Tractatus contra Judaeos. Hrsg. von Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 141). Paris [1880], Sp. 307: „Tria ergo sunt sine quibus regnum esse non potest, terra videlicet, in qua regnum sit; populus, qui terram ipsam inhabitet; et persona regis electi, qui terram vindicet, et populum regat“.

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Reichslehen zurückerobern könne, die „der von Francrîch“ „mit sîner sterke (...) und mit gâb“ dem Reich abspenstig gemacht habe44. Wie eine solche erfolgreiche Revindikationspolitik aussehen kann, führt Ottokar am Beispiel des Streites zwischen Rudolf von Habsburg und Pfalzgraf Otto von Burgund vor. Otto habe dem römischen König die schuldige Lehenshuldigung verweigert und sein Land dem französischen König aufgetragen, der ihm daraufhin Truppen unter Führung des Grafen von Artois zu Hilfe gesandt habe45. Bereit, es zur Not auch mit dem französischen König und „aller der Franzoisaere maht“ aufzunehmen46, zwingt Rudolf den Pfalzgrafen jedoch in einem raschen Feldzug zur Huldigung. Ähnlich wie Ottokar stilisiert der zeitgenössische Verfasser des Straßburger Ellenhardi Chronicon Rudolfs Intervention gegen den Pfalzgrafen zu einem Konflikte zwischen „omnis Gallia“ und „tota Theutunia“47. Doch entwirft der steirische Reimchronist in bestimmter Hinsicht ein weit radikaleres Bild, als er den französischen König – unhistorisch 48 – zum Drahtzieher und Hauptverursacher dieser und anderer Auseinandersetzungen im Grenzraum erklärt. So deutet er beispielsweise die Fehde zwischen Reinald von Mömpelgard und dem Bischof von Basel (1287) zu einem Angriff um, den Graf Reinald auf Veranlassung des französischen Königs gegen den Bischof von Trier – den Verteidi44

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Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 39.732ff.: „Der bischolf von Trier,/(...)/der meinte die rehtikeit,/wand im von herzen was leit,/daz der von Francrîche/rômischem rîche/sô vil des sînen vor hât;/darumb er die fursten bat,/daz ein solher helt/ze kunic wurd erwelt,/dem man erkande der kraft,/daz er mit reht und ritterschaft/dem rîche braehte in/den saeldenrîchen gewin“; V. 39.773ff.: „... wande mit sîner sterke/der von Francrîch und mit gâb/dem rîche hât betwungen ab/sîner liute unde lande“. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 32.628: „Darnâch sich (...)/dem kunic fürwâr seiten si;/daz der grâf von Burgoni/der selben grâfschaft/und aller sîner hêrschaft/hete gejehen/von dem von Frankenrîch ze lêhen./daz geloubt der kunic von êrste niht,/doch sand er algeriht/boten durch ervaren dar,/die mit frâge naemen war,/ob er dem rîche taet die smaehe,/daz er sîner hêrschaft jaehe/ze lêhen durnehticlich/von dem von Francrîch./die erfuoren, sô man seit,/ab dem grâven die wârheit,/daz er des was âne lougen,/offenlich und tougen/wold er niht anders jehen,/wan daz Burgoni waer sîn lêhen/von der Franzoisaere herren;/er enwold ouch sich niht kêren/mit dienste ninder anderswar“; V. 32.755: „In übermuotiger gelfe/von Francrîch Philip sprach:/’dir sol dhein ungemach/darumbe niht geschehen,/daz dû hâst gejehen/dîner hêrschaft von mir’./manigen Franzoisaere zier,/ze strîte wol bereit und bewart,/die hiez zuo der vart/der von Francrîch bereiten./die sold ouch dâhin leiten/ein herre mehtic erkant,/der von Artus genant/der selbe herre was“. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 33.051ff. Vgl. Ellenhardi Chronicon. Hrsg. v. Philippe Jaffé (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 17), S. 130. Wie Resminis Untersuchung der Auseinandersetzungen im Arelat gezeigt hat, waren weder der französische König noch weitere Kronvasallen auf Seiten Ottos unmittelbar in den Konflikt mit Rudolf von Habsburg involviert; ihr „verschleiertes Einwirken“ im Hintergrund ist ebenso unbeweisbar wie unwahrscheinlich; vgl. Resmini [Anm. 11], S. 244-252, besonders S. 244, Anm. 1.

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ger der Reichsrechte im romanischen Raum – geführt habe49. Ottokar zieht daher ein resigniertes Fazit: „Ganzer frid noch staeter suon“ zwischen Frankreich und „den helden kurtoisen“, die zusammen mit dem Trierer Erzbischof die Reichsgrenze verteidigen, „wirt nimmer ûf der riviere der zweier rîche gemerke“50. Die Vorstellung eines national motivierten Konfliktes zwischen Deutschen und Franzosen, wie sie im Ellenhardi Chronicon vielleicht schon zum Ausdruck kommt, geht damit gleichwohl nicht einher. Antifranzösische Vorurteile und Ressentiments kommen in der Reimchronik nirgends zum Tragen; Ottokars schroffe Abneigung bleibt auf den König Philipp (IV.) beschränkt51. Die Auseinandersetzungen an der Reichsgrenze sind das Ergebnis eines politischen und historischen, nicht aber ethnischen Gegensatzes zwischen Frankreich und dem „rîche“. Die französische Expansion in die Reichsromania wird nirgends damit gerechtfertigt, dass dort „Walhe“ oder gar „Franzoisaer“ leben. Umgekehrt wird auch die Parteinahme einzelner Grenzfürsten zugunsten Frankreichs nie mit einer kulturellen, sprachlichen oder ethnischen Verwandtschaft begründet. Die Argumente, mit denen der französische König im Grenzraum „liute und lande“ auf seine Seite zu zwingen versucht, sind vielmehr „sterke“ und „gab“52. Ob sich die einzelnen politischen Akteure von den Drohungen und Versprechungen des französischen Königs beeinflussen lassen, hängt auch nicht davon ab, ob es sich um „Walhe“ oder „Tiutsche“ handelt. Während etwa Albrechts deutsche Räte ihren Herrn an der konsequenten Verfolgung der Reichsinteressen hindern, weil sie vom französischen König bestochen worden

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Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 35194: „Dô kom (...) der bischolf von Triere/zuo dem kunig und klagte/(...) daz er sêre waer beswârt/von dem grâven von Mumpelgart./er tet dem kunic kunt,/daz er in ze maniger stunt/het (...) gemant/daz er an im erkant/des rîches reht und êre,/(...)./zuo dem kunig er sprach:/ ’ich weiz wol den ungemach,/den mir der selbe grâve tuot,/daz vert niht von sîn selbes muot:/in reizet darzuo/beide spât und fruo/der Franzoisaere her“. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 39.766ff. Vgl. hierzu meine demnächst erscheinende Dissertation: Georg Jostkleigrewe, Untersuchungen zur wechselseitigen Wahrnehmung von „empire d’Alemaigne“ und „francrîche“ in der volkssprachlichen Historiographie und Literatur des 12.-14. Jahrhunderts (Arbeitstitel). Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 39.772ff.

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sind53, ist ausgerechnet der „welsche“ Herzog von Burgund in der Steirischen Reimchronik einer der eloquentesten Verteidiger des Reiches54. Ist die Grenze zwischen Frankreich und dem Reich in Ottokars Augen also eine nationale Grenze oder ist sie es nicht? Eine in dieser Weise dichotomisch zugespitzte Frage greift angesichts des differenzierten Quellenbefundes zu kurz. Mit den Mitteln der nichtkartographischen Raumwahrnehmung konstruiert der steirische Reimchronist eine lineare Grenze, die in beinahe moderner Manier zwei verschiedene „wir-Gruppen” scharf von einander trennt. Im Blick auf Frankreich bezeichnet diese Grenze zweifellos auch die Konturen eines geographisch, ethnisch und politisch weitgehend homogenen Raumes, der mit den Identitätsbezügen seiner Bewohner aufgeladen ist. Sie ist insofern Bestandteil eines Frankreichbildes, das Ottokar unter Rückgriff auf nationale Deutungsmuster konstruiert. Hinsichtlich des Reiches scheinen die Möglichkeiten einer nationalen Deutung hingegen erheblich eingeschränkt. Dass der Wahrnehmung des französischen (und in eingeschränktem Maße auch des deutschen) Raumes durch den steirischen Chronisten nationale Ordnungskategorien zugrunde liegen, bedeutet jedoch nicht, dass auch seine Deutung des Geschichtsverlaufs notwendig durch nationale Vorstellungen geprägt ist. Bezeichnenderweise zieht Ottokar es nicht einmal als Möglichkeit in Betracht, dass die französische Politik an der Reichsgrenze durch spezifisch nationale Überlegungen motiviert sein könnte: So deutet er die Konflikte im Grenzraum zwar als Episoden einer säkularen Auseinandersetzung zwischen Imperium und Regnum Franciae, nicht aber als Ausdruck einer „Erbfeindschaft” von Deutschen und Franzosen. In Ottokars Werk sind Elemente, die das Nationalbewusstsein späterer Zeiten prägen, also durchaus vorhanden – vielleicht sogar in stärkerem Maße, als die Forschung üblicherweise zuzugestehen bereit ist. Von einer a priori nationalen Geschichtsdeutung ist der steirische Chronist aber noch durch mehrere Jahrhunderte getrennt.

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Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 75.083: „Der kunic Albreht/alliu diu reht,/diu an gehôrten daz rîche/iesch an den von Francrîche;/er vorderte ouch an in/den schaden und den ungewin,/den daz rîche von im truoc./des was vil und genuoc./dô man offenbâr/vor den fursten gar/daz allez betrahte,/die wîl ez heimlich ahte/kundiclich alsus/der kunic Philippus/mit den râtgeben,/die in der ahte leben,/daz si sich lânt gezemen/durch valschen rât miet ze nemen,/die gingen dâmit umb,/daz si machten krump/alli diu reht,/diu ê waren sleht,/swaz daz rîch gieng an,/daz daz müest undergân;/ez wart ûf ander teg gezogen“, sowie V. 74764: „Ich hôrte alsô sagen,/daz der von Francrîch/sînen brief heimlich/den râtgeben sande,/die man im nande,/daz si im möhten sîn gereht/gegen dem kunig Albreht/in tiutscher lande kreizen“. Vgl. Ottokar [Anm. 2], V. 33.099ff.

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Abb. 1

Steirische Reimchronik, Ortsnamen nach V. 64.365

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Abb. 2

Sächsische Weltchronik, Horizont der Erwähnungen Frankreichs und der Franzosen

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Abb. 3

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Grandes Chroniques de France, Horizont der Erwähnungen Deutschlands und der Deutschen

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Abb. 4

Steirische Reimchronik, Horizont der Erwähnungen Frankreichs und der Franzosen

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ADAM SZWEDA

Methoden der Schlichtung von Grenzstreitigkeiten zwischen Polen-Litauen und dem Deutschen Orden nach Abschluss des Friedens von Brze%. im Jahre 1435. Am Beispiel des in Toru$ und Nieszawa wirkenden Grenzgerichts Am 31. Dezember 1435 wurde in Brze%. (Brest) in Kujawien ein Friedensschluss geschlossen, mit dem einer der vielen Kriege zwischen dem im Staatsbündnis vereinigten Polen-Litauen und dem Deutschen Orden beendet wurde. Der Friedensschluss wurde dann im Frühjahr des darauf folgenden Jahres von beiden Parteien ratifiziert.1 Der erschöpfende Konflikt trug dazu bei, in den Inhalt des Friedensvertrages unterschiedliche Sicherungsklauseln einzubeziehen, um den Frieden auf Dauer aufrechtzuerhalten. Eine große Bedeutung kommt im Zusammenhang damit einigen Artikeln (Paragraphen) dieses umfangreichen Textes zu. Im Artikel 31 wurde vorbehalten, dass die Straftaten der Untertanen des Königs oder des Hochmeisters, die an Vertretern der jeweils anderen Partei verübt werden, den Friedensvertrag nicht beeinträchtigen, die Straftäter sollen allerdings von entsprechenden Beamten bestraft werden.2 Zwar ist eine vergleichbare Regelung schon in der früheren Waffenstillstandsvereinbarung von 1433 zu finden,3 aber mit den Bestimmungen des nächsten Artikels, die die Gründung von Grenzgerichten voraussahen, wurde in die Beziehungen zwischen dem Königreich Polen-Litauen und dem Deutschorden ein völlig neues Schlichtungsinstrument eingeführt. Dem Wortlaut dieses Artikels gemäß sollten sich an der Besetzung der zu gründenden Grenzgerichte Vertreter beider Parteien beteiligen und jedes Jahr am Heiligen-Michaeli-Tag (am 29. September) in bestimmten Ortschaften auf beiden Seiten der Grenze beraten. Erwähnte Gerichte sollten sich aus zwei Komturen „guten Rufes und Gewissens“ („duos ex comendatoribus viros boni testimonii et consciencie“) und aus zwei polnischen Woiwoden 1

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Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, hrsg. v. Erich Weise, Bd. I, 2 Marburg 1970; Bd. II, Marburg 1955, hier Bd. I, Nr. 181; zum Ratifizierungsverfahren s. Antoni G#siorowski, Formularz dokumentów traktatów polsko-krzy&ackich z XIVXV wieku, Archeion 66 (1978), S. 171-184, hier S. 178; Klaus Neitmann, Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen 1230-1449. Studien zur Diplomatie eines spätmittelalterlichen Territorialstaates (Neue Forschungen zur Brandenburg – Preussische Geschichte 6), Köln - Wien 1986, S. 208-219. Die Staatsverträge [Anm. 1] I, Nr. 181, § 31. Ebenda, Nr. 176, § 11.

Grenzstreitigkeiten zwischen Polen-Litauen und dem Deutschen Orden

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oder anderen vergleichbaren Beamten zusammensetzen. Daran ist sehr interessant, dass die ersteren vom polnischen König, die letzteren vom Hochmeister bestellt werden sollten. Die Wahl der Richter sollte jeweils zu Pfingsten stattfinden. Die Grenzgerichte, die in den deutschsprachigen Quellen „Richttag“ und in den lateinischen Quellen „iudicia“ oder „dieta“ genannt werden, sollen einmal im Jahr am Michaeli-Tag wechselweise auf polnischem Gebiet (Nieszawa) und im - zum Deutschordensstaat gehörenden - Culmer Land (Toru*) verhandeln. Nach der Eidesleistung auf das Evangelium sollten die Richter alles pro conservatione … iurate pacis perpetue tun. Dem Friedensvertrag gemäß sollten analoge Gerichte in acht weiteren Orten zusammenkommen, die sich auf beiden Seiten der Grenze befanden. Darunter waren auch Ortschaften an der Grenze zwischen Preußen und Herzogtümern in Masowien und zwischen Pommerellen und dem Herzogtum Stolp. Die Richttage wurden als eine Berufungsinstanz für diejenigen Fälle konzipiert, bei denen die zuständigen polnischen Beamten oder die Beamten des Deutschen Ordens „ihre Rechtsprechungspflicht vernachlässigten“.4 Das Neue an der erwähnten Lösung beruhte nicht auf der Einberufung von Richttagen als Schlichtungsinstitution, denn vergleichbare Lösungen waren im mittelalterlichen Europa, z. B. im spanischen Grenzbereich zwischen Islam und Christentum, gang und gäbe. In der Fachliteratur wird angenommen, dass „diese Lösungen aus Angst der Grenzgebietseinwohner vor Räubern hervorgingen. Man wollte auch verhindern, dass Raubzüge der in Grenzgebieten tätigen bewaffneten Räuber größere Konflikte vom Zaum brachen“.5 Ähnliche Schlichtungsinstitutionen sind auch aus den Beziehungen zwischen dem Deutschen Orden und Polen im 15. Jahrhundert bekannt. Als Beispiel hierfür kann das im Vertrag von Toru* 1411 vorgesehene und aus 12 Mitgliedern (sechs von beiden Parteien) bestehende Schlichtungsgericht angeführt werden. In diesem Fall waren allerdings die Vertreter des Deutschen Ordens vom Hochmeister und die Vertreter Polens vom polnischen König bestellt. Dies war eine der Ursachen dafür, warum das in dieser Gestalt nur einmal (September 1411) zusammengekommene Schlichtungsgericht gescheitert war.6 Das Neue an der Lösung von Brze+) (Brest) ist vor allem in der reifen organisatorischen Form der Richttage sowie in der Gewährleistung der Unparteilichkeit und der gerechten Urteile zu sehen. Davon ist man zumindest ausgegangen. Im folgenden Paragraphen des Friedensvertrages von 1435 wird festgestellt, dass der Grenzverlauf – wenn nötig – alle fünf Jahre erneuert werden sollte. So sollen mögliche Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den Grenzverlauf von vornherein beseitigt werden.7 Die letzte Bestimmung, die einen langjährigen Frieden sichern sollte, enthält der Artikel 42. Dieser Artikel bestimmte die Art der Eides4 5

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Ebenda, Nr. 181, § 32; Neitmann [Anm. 1], S. 476-480. Jerzy Rajman, „In confinio terrae“. Definicje i metodologiczne aspekty bada* nad +redniowiecznym pograniczem, Kwartalnik Historyczny 109 (2002), Nr. 2, S. 79-96, hier S. 94. Adam Szweda, Po „wielkiej wojnie”. Zjazdy polsko – krzy#ackie w 1411 roku. In: Kancelaria krzy#acka i polska kancelaria królewska w XV wieku, Red. J. Trupinda, Malbork 2006, S. 267-298. Die Staatsverträge [Anm. 1] I, Nr. 18,1 § 33.

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leistung auf Friedenseinhaltung durch den König und seine Nachfolger sowie durch den jeweiligen Hochmeister. Alle 10 Jahre sollten darüber hinaus die Friedensbestimmungen von den Würdeträgern beider Staaten und vom Adel und Städte durch einen Eid bestätigt werden.8 Die größte Rolle in bilateralen Beziehungen nach 1435 spielte zweifelsohne die Entscheidung über Einberufung von gemeinsamen Richttagen. Die im Friedensvertrag festgelegten Richtlinien in Bezug auf deren Funktion wurden von Anfang an durch die vorhandene Realität korrigiert. Die Korrekturen betrafen vor allem Regelmäßigkeit, Beratungstermine sowie den allgemeinen Charakter. Sollte man von mehr oder weniger richtigem Funktionieren dieser Institutionen sprechen, so kann der Begriff lediglich auf Richttage von Toru# und Nieszawa bezogen werden. Auf diese Richttage soll daher im Folgenden unser Hauptaugenmerk gelenkt werden. Aus den erhaltenen Quellen ist ersichtlich, dass es zwischen dem Wortlaut des Vertrages und dem Funktionieren dieser Institution erhebliche Diskrepanzen gab. Schon beim ersten Richttag, der 1437 in den beiden Städten Nieszawa und Toru# stattfand, wurde der vereinbarte Termin nicht eingehalten, denn die Richter kamen Ende Juni/Anfang Juli zusammen. Auch in den nächsten Jahren ist eine konsequente Vorgehensweise in Bezug auf die Einhaltung von vorgesehenen Terminen nicht feststellbar. Die oben erwähnte erste Sitzung des Gerichts fand am 24. Juni statt.9 Der weitere Verlauf der Verhandlungen wird mit einer Reihe von Urkunden belegt, die von vier Richtern ausgestellt worden waren. Von der polnischen Seite waren es: der Woiwode von Inowroc,aw (Jungleslau) Jarand von Brudzewo und der Richter aus Pozna# (Posen) Abraham von Zb-szy#. Der Deutsche Orden war hingegen durch den Komtur von Althaus, Konrad von Erlichshausen, und den Landesritter Hans von Baisen vertreten. Die polnische Seite hat also von Anfang an darauf verzichtet, zwei Komturen als Richter zu bestellen und hat statt eines Komturs den oben genannten Landesrichter Hans von Baisen, der als Berater einiger Hochmeister in der Diplomatie des Deutschen Ordens sehr aktiv war, vorgeschlagen.10 Er wurde allerdings vom Deutschen Orden akzeptiert. Die vier Richter stellten bereits am 1. Juli 1437 in Toru# (Thorn) eine Urkunde aus, in der das Problem der leibeigenen Bauern geregelt wurde, die ohne Zustimmung der Grundherren entflohen waren, ohne vorher alle sich aus ihrer Leibeigenschaft ergebenden Verpflichtungen erfüllt zu haben. Gleichzeitig wurde darin das Übergabeverfahren an ihre Grundherren mit geregelt. In der Urkunde wird an gewisse Bestimmungen des Friedensvertrages erinnert, die beiden Parteien untersagten, entflohene Bauern aufzunehmen, und die Komturen und andere Beamte des Deutschen Ordens 8

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Ebenda, Nr. 181, § 42; Die Umsetzung dieses Paragraphen wird bei Neitmann [Anm. 1], S. 279-302 und bei A. Szweda, Wielkopolscy gwaranci pokoju brzeskiego z 1435 roku, Roczniki Historyczne 67 (2001), S. 197-213, hier S. 198-200. Berlin-Dahlem, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz , XX. Hauptabteilung, Ordensfoliant (im Folgenden OF; weiter werden auch Pergamenturkunden – PU und Ordensbriefarchiv – OBA ausgenutzt) 13, S. 450-451; Neitmann [Anm. 1], S. 486. Marian Biskup, Ba%y#ski Jan, In: S,ownik Bibliograficzny Pomorza Nadwi$la#skiego, Red. Stanis,aw Gierszewski, Bd. I, Gda#sk 1992, S. 70-72.

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verpflichteten, sie zurück an die Grundherren zu schicken. In der Urkunde wurde auch ein Verfahren festgelegt, dass dann anzuwenden war, wenn die Entflohenen inzwischen in neue Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber den Grundherren in Preußen geraten seien sollten 11. Die nächsten Urkunden wurden in Toru# gegenüber auf der anderen Weichselseite gelegenen Nieszawa (Nessau) ausgestellt und stammen vom 4. Juli 1437. Die erste dieser Urkunden betrifft die Klage des Komturs von Cz*uchów (Schlochau), Heinrich von Rabenstein, die gegen den bekannten Zänker und zugleich Starosten von Wa*cz (Deutsch Krone), Piotr Polak von Lichwin gerichtet war12. Der Beklagte soll nach der Vereinbarung des Waffenstillstandes und nach dem Friedensschluss das unter der Verwaltung des Komturs stehende Land verwüstet und dort großen Schaden herbeigeführt haben. Piotr Polak ist vor Gericht nicht erschienen. Als sein Bevollmächtigter traf Schwertherr von Inowroc*aw Miko*aj Modlibog von Modliborzyce ein, der allerdings keine schriftliche Vollmacht hatte. In diesem Falle stellten die Richter fest, dass sie in dieser Sache nicht urteilen konnten und verschoben die diesbezügliche Verhandlung 13. Die nächste Urkunde betrifft einen Streitfall, bei dem der oben erwähnte Komtur von Cz*uchów (Schlochau) verklagt wurde. Die Klage gegen ihn brachte Szymon von Staw, der Domherr von Kalisz, Stellvertreter des Erzbischofs von Gnesen in Kamie#, vor.14 Nach seiner Aussage wurde S,pólno (Sempelburg), wo er amtierte, nach dem Friedensschluss durch eine Heeresgruppe angegriffen, die unter dem Befehl des Komturs stand. Geraubt wurden Pferde, Geld und Tafelgeschirr. Beleidigt wurde auch der Notar des Klägers, dem eine Kette mit bischöflichen Gewaltsymbolen vom Hals gerissen wurde. Auch in diesem Falle konnte aus formellen Gründen die Verhandlung nicht durchgeführt werden. Als Bevollmächtigter erschien ein berühmter Jurist und Diplomat, der Pfarrer aus Danzig Andreas Pfaffendorf15, der auch keine schriftliche Beglaubigung seiner Vollmacht besaß. Der Domherr Szymon hat einen Einspruch gegen seine Feststellungen erhoben, dass sich die Vollmacht aus der Zugehörigkeit zum selben Orden ergeben würde. Aus diesem Grunde musste die Verhandlung bis zur nächsten am 10. September festgelegten Sitzung verschoben werden 16. Die letzte Urkunde, die Tätigkeiten des ersten Richttages bezeugt, kann die Ratlosigkeit der Richter beispielhaft unter Beweis stellen. Am 5. Juli 1437 stellten die Richter fest, dass in Anbetracht der Tatsache, dass Vorgeladene teilweise nicht erschienen waren und teilweise ihre Bevollmächtigten mit der 11

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Die Quelle wurde von M. Biskup veröffentlicht, Zjednoczenie Pomorza Wschodniego z Polsk+ w po*owie XV wieku, Warszawa 1959, S. 110, Anm. 316. Mehr über ihn vgl. A. G+siorowski, Piotr Polak, In. Polski s*ownik biograficzny, Bd. 26, Wroc*aw 1981, S. 678-680. PU [Anm. 9], Schiebl. 92, Nr. 1. Mehr zu ihm s. A. G+siorowski, Izabela Skierska, Pocz+tki oficjalatu kamie#skiego archidiecezji gnie$nie#skiej (wieki XIV-XVI), Kwartalnik Historyczny 103 (1996), Nr. 2, S. 321, hier S. 18-20. Bernhart Jähnig, Andreas Pfaffendorf O.T. Pfarrer der Altstadt Thorn (1425-1433), Beiträge zur Geschichte Westpreussens 7 (1981), S. 161-188. PU [Anm. 9], Schiebl. 51, Nr. 16.

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Rechtfertigung hinschickten, dass die Verhandlungen bis zum 10. August eingestellt würden.17 Die vereinbarte Beratung fand allerdings nicht statt, so dass erst Ende November 1437 vier Richter in einer leicht veränderten Zusammensetzung in Toru( und Nieszawa zusammenkamen. Abraham von Zb'szy( wurde durch den Sieradzer Kastellan Wawrzyniec von Kalinowa ersetzt. Über die Hintergründe dieser Bestellung ist wenig bekannt. Die vier Richter haben am 30. November eine Urkunde ausgestellt, nach der alle Entscheidungen bis zur Einberufung des neuen Richttages in Nieszawa am 24. Juni 1438 eingestellt wurden. Bei dieser Gelegenheit sollte gleichzeitig der polnische König W&adys&aw III. aus der Jagiellonendynastie mit dem Hochmeister Paul von Rusdorf zusammenkommen. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die verkündeten Urteile vollstreckt werden. In dieser Urkunde wurde das Problem der entflohenen leibeigenen Bauern erneut aufgegriffen. Es wurde entschieden, dass sie innerhalb von vier Wochen den Grundherren zurückgegeben werden sollen. In der Urkunde wurde auch, den Bestimmungen des Friedensschlusses gemäß, Handelsfreiheit garantiert18. Der geplante Richttag fand wahrscheinlich gar nicht statt, denn der Hochmeister beklagte sich im Juli 1438 darüber, dass seine Untertanen, denen die Untertanen des Königreichs PolenLitauen Schaden zugefügt hatten, ewig auf ein Urteil warten müssten.19 Von diesem Zeitpunkt an gab es eine längere Pause in der Durchführung der Richttage an der Grenze zwischen dem Culmer Land und Kujawien. Erst die Bemühungen des neuen Hochmeisters Konrad von Erlichshausen brachten eine gewisse Wende mit sich. In diesem aus Buda am 24. Juli 1441 an den Hochmeister geschickten Gratulationsbrief des polnischen Königs W&adys&aw III., der damals auch König von Ungarn war, wurden die Untertanen verpflichtet, alle Friedensbestimmungen einschließlich der Einberufung von Richttagen einzuhalten.20 In der ersten Septemberhälfte 1441 besuchte ein Gesandter des Erzbischofs von Gniezno (Gnesen), der Reppiner Kastellan Jakub von Strzygi den Hochmeister Konrad von Erlichshausen. Der Erzbischof war während der Auslandsaufenthalte des Königs für Koordination der Kontakte mit dem Deutschen Orden verantwortlich. Der Kastellan schlug vor, den nächsten Richttag am 6. Januar 1442 einzuberufen.21 Der Deutsche Orden wollte zwar einen früheren Termin durchsetzen, aber letztendlich wurde der Vorschlag angenommen. Die Gesandten des Königs, die den Hochmeister im November 1441 besuchten, teilten ihm die Entscheidung des Königs über die Besetzung der freien Stelle des Richters, die zuvor Konrad von Erlichshausen innehatte, mit. Er stellte zwei Kandidaten zur Wahl vor. Es waren der Komtur von Elbing, Heinrich Reuss von Plauen, und der Komtur von Christburg, Wilhelm von Helfenstein.22 Bestellt wurde der Erstere. Bei dieser Gelegenheit dürfte der Hochmeister die Richter der polnischen Seite bestellt haben; es fehlen allerdings in den Quellen eindeutige Beweise hier17 18 19 20 21 22

Ebenda, Schiebl. 66, Nr. 20. OBA [Anm. 9], Nr. 7388; Neitmann [Anm. 1], S. 487-488. OF [Anm. 9] 13, S. 120. Ebenda 15, S. 32-33. Ebenda, S. 34-35. Ebenda, S. 34-35.

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für. Die Vorbereitungen des Richttages verliefen nicht reibungslos, denn am 21. Dezember 1441 baten die Komturen von Cz&uchów (Schlochau) und Tuchola (Tuchel) den Hochmeister um Informationen, ob der Richttag überhaupt stattfinden werde. Dabei verwiesen sie darauf, dass ihre Untertanen eine Reihe von Vorwürfen an die polnische Seite herantragen würden.23 Die Ergebnisse des Richttages wurden in einer am 10. Januar 1442 in Toru( von vier Richtern – Jarand von Brudzewo, damals schon Woiwode von Sieradz, dem Komtur von Elbing, Heinrich Reuss von Plauen, dem Kastellan von Brze)', Miko&aj von Warzymowo, und Hans von Baisen – ausgestellten Urkunde zusammengefasst. In dieser Urkunde wurde festgestellt, dass angesichts der komplizierten Fälle, die an sie herangetragen wurden, die Entscheidung auf den nächsten Sankt Michaelitag (29. September 1442) verlegt werde. An diesem Tag sollte es auch zu einem Treffen zwischen W&adys&aw III. und dem Hochmeister kommen. Gleichzeitig wurde vorbehalten, dass der König seine Vertreter cum pleno mandato delegiere, falls er doch nicht selbst kommen sollte, damit über alle Streitfälle ohne weitere Verzögerung entschieden werden könne. Darüber hinaus wurde die Regelung der Frage der entflohenen leibeigenen Bauern erneut aufgegriffen und genauer bestimmt. Ihre neuen Grundherren sollen mit Geldstrafen belegt werden, sollten sie mit der Rückgabe zögern.24 Für die Sitzung der Gerichtes hat der Deutsche Orden als Partei relativ viele Klagen seiner Untertanen zusammengestellt, die sich vorwiegend auf polnische Beamte, Städte, neue Zollgebühren, durch polnische Städte angewandten Straßenzwang sowie auf das Verhalten des Burggrafen von Nieszawa, der die Untertanen des Ordens zu berauben pflegte, bezogen.25 Die Entscheidungen über diese Fälle sollten allerdings auf sich warten lassen. Am 7. September 1442 hat zwar Konrad von Erlichshausen den preußischen Ständen noch mitgeteilt, dass der Richttag und das Treffen mit dem König plangemäß stattfinden würde,26 zu direkten Gesprächen kam es jedoch nicht (W&adys&aw III. war die ganze Zeit in Ungarn). Das gleiche kann wahrscheinlich in Bezug auf die Sitzung des Richterkollegiums festgestellt werden. Im Februar 1443 fand allerdings erneut ein Treffen in Nieszawa statt, an dem Bevollmächtigte beider Parteien teilnahmen. Am 19. Februar bestätigten sie in einer Urkunde, dass alle Streitfälle bis zum darauf folgenden Richttag am Sankt Michaeli-Tag verschoben würden. Sie gaben gleichzeitig eine Erklärung ab, dass sie sich bemühen würden, den Richttag mit dem Treffen der beiden Herrscher zu verbinden. Sollte das letztere schei23 24

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OBA [Anm. 9], Nr. 8011. PU [Anm. 9], Schiebl. 67, Nr. 1 – s. Die Staatsverträge [Anm. 1] II, Nr. 203 (Regest); Biskup [Anm. 11], S. 112; Neitmann [Anm. 1], S. 490. Die Verlegung des Termins der Entscheidung wurde bereits am Tage zuvor im Verzeichnis der verlegten Fälle erwähnt vgl. Die Staatsverträge [Anm. 1] II, Nr. 202. OF [Anm. 9] 15, S. 96-100; vgl. Regesta historico – diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum, P. I, Vol. 1, bearb. von Erich Joachim, hrsg. von Walter Hubatsch, Göttingen 1948, Nr. 8040. Acten der Ständetage Preussens, hrsg. von M. Toeppen, Bd. II, Leipzig 1880 (weiter wird auch Bd. III, Leipzig 1882 ausgenutzt), Nr. 332, S. 504.

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tern, so kämen deren Bevollmächtigte zusammen27. Bereits am folgenden Tag teilte der Komtur von Toru# dem Hochmeister diese Entscheidung mit. Er fügte hinzu, dass zu Richtern, die die polnische Seite verträten, Kastellan von Brze%. Miko-aj von Warzymowo und Kastellan von Bydgoszcz (Bromberg) Miko-aj Kie-basa gewählt wurden, während die Seite des Ordens der Komtur von Schwetz, Hans von Reibnitz, und der Komtur von Strasburg, Leonhard von Parsberg, als Richter vertreten sollten 28. Das Fehlen der Möglichkeit der Veranstaltung solch eines Treffens (der polnische König, W-adis-aw III. war in Ungarn) gab den Anlass zum Verzicht auf die Einberufung dieses Richttages. Bereits am 13. September informierte der Hochmeister den Stadtrat von Toru# darüber.29 Dann fiel der junge König im Kampf gegen die Türken bei Warna (10. November 1444), was eine königlose Zeit in Polen herbeiführte. Die Übernahme der königlichen Krone durch den jüngeren Bruder des verstorbenen Königs Kasimir IV. aus der Jagiellonendynastie brachte erneut die Hoffnung auf Einberufung weiterer Richttage. An seinen Krönungsfeierlichkeiten beteiligten sich auch Vertreter des Deutschen Ordens. Es waren Heinrich Reuss von Plauen und der Komtur von Gniew (Mewe) Ludwig von Erlichshausen. Eines der angesprochenen Hauptthemen (neben der mit dem abgelegten Eid beglaubigten Bestätigung des „ewigen“ Friedens durch den neuen König und bedeutende Würdenträger) betraf die Fortsetzung der Einberufung von Richttagen. Die genannten Vertreter des Deutschen Ordens beschränkten sich nicht nur auf Richttage von Toru# und Nieszawa, sie forderten darüber hinaus die Einberufung von Richttagen in zwei anderen Grenzgebieten, nämlich in den Grenzgebieten zwischen Preußen und dem Dobriner Land sowie zwischen Großpolen und Neuer Mark. In den Anweisungen für seine Vertreter betonte der Hochmeister, dass er jeden Tag Klagen von seinen Untertanen erhielte und dass es angebracht wäre, wenn in diesen Angelegenheiten möglichst bald gerechte Urteile herbeigeführt werden könnten. Die früheren Briefe an die polnischen Adligen wurden in der Regel mit dem Hinweis beantwortet, dass diese Angelegenheiten erst nach der Krönung des neuen Königs entschieden werden sollten. Nun war es allerdings soweit. Der Deutsche Orden schlug überdies vor, den nächsten Richttag bereits im nächsten September einzuberufen.30 In Krakow ist dieses Thema nicht aufgegriffen worden, denn die Organisation von Richttagen (Terminfestlegung, Richterbestellung) wurde erneut in den neuen Anweisungen, die für die nächste Botschaft des Komturs von $wiecie (Schwetz), Hans von Reibnitz, im August 1447 verfasst worden waren, thematisiert31. In dieser Angelegenheit scheiterte jedoch auch seine Mission. Die Ver27 28 29

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OF [Anm. 9] 15, S. 189-190. Ebenda, S. 188-189; vgl. Regesta [Anm. 25], Nr. 8224. OBA [Anm. 9], Nr. 8317; Andrzej Radzimi#ski, Janusz Tandecki, Katalog dokumentów i listów krzy&ackich Archiwum Pa#stwowego w Toruniu, Bd. I, Warszawa 1994, Nr. 228. OBA [Anm. 9], Nr. 9361. Ebenda, Nr. 9377a. über die Gesandtschaften s. Klaus E. Murawski, Zwischen Tannenberg und Thorn. Die Geschichte des Deutschen Ordens unter dem Hochmeister Konrad von Erlichshausen 1441-1449 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung 3), Göttingen 1953, S. 315-317.

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handlungen der königlichen Gesandten (Königreichskanzler und Bischof von W*oc*awek [Leslau]) mit dem Hochmeister in Brodnica (Straßburg), die Ende September 1447 stattfanden, brachten keine Wende in dieser Frage mit sich. Sie akzeptierten zwar die Durchführung von Richttagen unter Beteiligung der Machthaber, aber erst nach der Rückkehr des polnischen Königs aus Litauen.32 Als Ende Dezember 1447 die Gesandten des Hochmeisters, bestehend aus dem Obersten Marschall Kilian von Exdorf und dem Komtur von Ragnith, Erhardt Pfersfelder, in Wilnas weilten und das Problem der Einberufung von Richttagen zur Sprache brachten, bezog der polnische König diesbezüglich keine Stellung und verwies dabei auf die Abwesenheit seiner polnischen Berater, die ihm nicht erlaubte, eine Entscheidung zu treffen. Der Hochmeister sollte eine Antwort erst nach der Rückkehr des Königs nach Polen erhalten.33 Erst nach einigen Jahren gab der Hochmeister während der Versammlung der Stände in Grudzi,dz (Graudenz) den Versammelten bekannt, dass er die Gesandten des polnischen Königs empfangen und mit ihnen die Einberufung eines Richttages in Toru# vereinbart habe, der am Heiligen Martinstag (11. November 1448) geplant war. „Dorczu man vorboten sal alle, die czu clagen haben“.34 Beide Seiten fingen an, die Richttagberatungen vorzubereiten. Der Stadtrat von Toru# teilte dem Hochmeister mit, dass er entsprechende Vorwürfe gegenüber den Polen in einem getrennten Brief schicke. Er stellte überdies fest, dass Ludwig von Erlichshausen einen Brief an den polnischen König schreiben solle, der ihn zur Entschädigung für den durch den damals bereits verstorbenen Starosten von Bydgoszcz, Dobek Pucha*a, verursachten Schaden veranlassen würde.35 Die Komturen von Schlochau und Tuchel berichteten darüber, dass sie trotz ihrer Bemühungen nur einzelne Personen gefunden hatten, die bereit waren, ihre Ansprüche vor dem Richttag zu erheben.36 Wenn es um die polnische Seite geht, so habe der Starost von Dobrin Stanis*aw von Chodecz dem Komtur von Toru# Klagen gegen Beamte des Deutschen Ordens zukommen lassen. Die meisten dieser Klagen betrafen die Zurückhaltung der entflohenen leibeigenen Bauern, die die polnische Grundherren verlassen hatten, ohne ihre finanziellen Verpflichtungen erfüllt zu haben.37 Dem Zustandekommen des Richttages standen diesmal Schicksalsschläge im Wege. Komtur Reibnitz verstarb und einer der polnischen Richter – Woiwode von Sieradz, Jarand von Brudzewo, erkrankte schwer. Seinem eigenen Brief nach war er weder im Stande zu gehen noch richtig zu reden.38 Der Woiwode von Brze$+, Jan Kretkowski, bat deswegen bereits am 7. Septem-

32 33 34 35 36 37 38

OBA [Anm. 9], Nr. 9399; Murawski [Anm. 31], S. 317. OBA [Anm. 9], Nr. 9424. Acten [Anm. 26], Bd. III, Nr. 73. OBA [Anm. 9], Nr. 10284. Ebenda, Nr. 10287, 10289. Ebenda, Nr. 10360. Ebenda, Nr. 10387 – Anlage im Brief von Jan Kretkowski an den Komtur von Toru#. Daraus ist ersichtlich dass die Bestellung von Miko*aj Kie*basa nicht mehr galt.

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ber 1450 den Hochmeister, den Termin der Richttagsberatung zu ändern. Als Grund hierfür wurde auch die in Toru, um sich greifende Seuche angegeben.39 In der gleichen Angelegenheit schrieben bald die Adligen aus Großpolen an den Hochmeister. Sie rieten, den Termin zu verschieben, damit König und Hochmeister Zeit hätten, je einen neuen Richter anstelle von Hans Reibnitz (König) und von Jarand von Brudzewo (Hochmeister) zu bestellen.40 Es war also offensichtlich, dass es unter diesen Umständen nicht zur Richttagberatung kommen konnte. Der Hochmeister arrangierte unter Vermittlung des Komturs von Toru, ein Treffen des letzteren mit dem Woiwoden von Brze#+, Jan Kretkowski41, das am 30. September 1450 in Nieszawa bei Toru, stattfand. Kretkowski erklärte dem Komtur, dass der Versuch des Hochmeisters, ihn zum Richter anstelle des erkrankten Woiwoden Jarand zu bestellen, nicht gelingen könne, weil er diese Funktion ohne Zustimmung des Königs nicht wahrnehmen dürfe.42 Sonst hat sich aus diesem Treffen nichts ergeben. Im Oktober 1450 schrieb Kasimir IV., der damals in Litauen war, an Ludwig von Erlichshausen, dass man sich erneut über die Bestellung von Richtern und die Einberufung des Richttages Gedanken machen solle. 43 Der Prozess der Überlegungen war wie üblich von langer Dauer, denn über die zu diskutierenden Angelegenheiten wurde erst bei einem Treffen des polnischen Königs mit dem Hochmeister im Juli 1452 in Nieszawa und Toru, gesprochen. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass der polnische König dieses Treffen, das kurzfristig vorzubereiten war, initiierte. Die Gesandten des Königs erschienen mit diesem Vorschlag in Marienburg am 1. Juli 1452.44 Sowohl den polnischen (Chronik von Jan D*ugosz45) als auch den Quellen des Deutschen Ordens (der Briefwechsel zwischen Erlichshausen und Ordensmeister von Livland 46) ist zu entnehmen, dass sie Verhandlungen in einer sehr guten Atmosphäre verlaufen sind. Man legte den Termin für die Einberufung des gemischten Richttages auf den 29. September 1452 fest. Noch drei Wochen vor diesem Termin wandte sich der Komtur an den Hauptsitz des Deutschen Ordens in Marienburg mit der Bitte, einen Dolmetscher für die Beratungen hinzuschicken.47 Anfang Oktober wurde schon wieder in 39 40 41 42 43 44

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Ebenda, Nr. 10352. Ebenda, Nr. 10369. Ebenda, Nr. 10389. Ebenda, Nr. 10393. Codex epistolaris saeculi decimi quinti, Bd. III, hrsg. Antoni Lewicki, Kraków 1894, Nr. 41. OBA [Anm.9], Nr. 11284; A. Szweda, Listy króla Kazimierza Jagiello,czyka do wielkich mistrzów zakonu krzy$ackiego z lat 1447-1454, In: Bitwa pod Chojnicami (18 IX 1454 r.) w tradycji historycznej i regionalnej, Red. Jacek Knopek, Bogdan Kuffel, Chojnice 2004, S. 28. J. D*ugosz, Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae, liber XII, hrsg. Jerzy Wyrozumski, Cracoviae 2003, S. 133. Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch, Bd. XI, hrsg. Philip Schwartz, Riga – Moskau 1905, Nr. 229. Acten [Anm. 26], Bd. III, Nr. 212.

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einem Brief an den Ordensmeister von Livland darauf verwiesen, dass die polnischen Gesandten den Termin der Einberufung des Richttages verschoben hatten, ohne den neuen Termin zu bestimmen.48 Der Grund für die Verschiebung des geplanten Richttages dürfte im Zusammenhang mit der umstrittenen Gestalt des von der polnischen Seite empfohlenen neuen Richters namens Gabriel von Baisen, der den verstorbenen Komtur von $wiecie ersetzen sollte, gestanden haben. Aus dem Brief Ludwigs von Erlichshausen an Kasimir IV., der am 3. September 1452 verfasst wurde, ist ersichtlich, dass die polnischen Adligen bei ihrer Zusammenkunft in Toru# und Nieszawa auf Gabriel von Baisen als Richterkandidat verwiesen, was der Hochmeister in seinem Brief in Frage stellte. Dabei berief er sich auf eine Klausel des Friedensvertrages, in der von zwei Komturen als Richter die Rede war und bat daher den König, einen anderen Kandidaten zu erwägen.49 Gabriel war der Bruder von Hans von Baisen, der selbst Richter bei früheren Richttagen war. Eine strikte Interpretation des Wortlautes des Friedensvertrages war die Folge der innenpolitischen Lage in Preußen. Gabriel von Baisen, der zuvor als Diplomat im Dienste des Deutschen Ordens tätig war, gehörte damals zu den aktivsten Mitgliedern des gegen den Deutschordensstaat gerichteten Preußischen Bundes.50 In den nächsten anderthalb Jahren, die bis zum Ausbruch des 13jährigen Krieges übrig blieben, gab es wohl keine Versuche mehr, die Richttage wieder zu beleben. Der Richttag von Nieszawa und Toru# kam unregelmäßig zustande und war in seiner Arbeit äußerst unwirksam. Seine Unwirksamkeit resultierte aus der Komplexität vieler zu verhandelnder Fälle. In den Schadenverzeichnissen und in den Zusammenstellungen von Personen, die durch Beamte des Deutschordens verklagt wurden, sind auch polnische Beamte registriert. Sie wurden verschiedener Straftaten sowie des Begehens von Raubüberfällen bezichtigt. Wenn es unmöglich war, Schadenersatz von einem beklagten Beamten zu bekommen, ging man davon aus, dass der polnische König, dem er unterstand, dazu verpflichtet werden sollte. Ein Anfang der 40er Jahre verfasstes Register ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Eine gewisse Dorota Jaschenynne und ihre Kinder beantragten, den König zu verklagen und zum Richttag vorzuladen. Als Grund hierfür wurde die Beschlagnahme eines auf der Weichsel verkehrenden Schiffes, die der Starost, Hauptmann von Brze%., Jakub von Koniecpol, während des Friedens durchführte, genannt. Er bekleidete allerdings dieses Amt im zweiten Jahrzehnt des 15. Jhs. Der Antrag der Klägerin stützte sich auf eine Urkunde des 1434 verstorbenen Königs W-adys-aw II., in der er sich verpflichtete, die Kosten des Schiffs zu tragen. Dies galt auch für seine Nachfolger, erfolgte jedoch nicht. Es gab auch andere Gründe, den König zu verklagen. So hat ein Kaufmann namens Mathias Teschner seine Ansprüche gegen einen Burggrafen aus Krzepice erhoben, der ihm an der schlesischen Grenzen Waren im Wert von 200 Florinen entwendet haben sollte. Bei dieser Gelegenheit stellte man fest, dass der Burggraf mehrmals zum Richttag vorge48 49 50

S. Anm. 46. OBA [Anm. 9], Nr. 11401; vgl. auch Biskup [Anm. 11], S. 178. Teresa Borawska, Ba&ynski Gabriel, In: S-ownik biograficzny Pomorza Nadwi%la#skiego, Bd. I, S. 68-69.

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laden worden war. Da er jedoch nie erschien, wurde seine Verhaltensweise von beiden Seiten scharfer Kritik unterzogen. Sollte der Beklagte dem Richttag weiterhin fernbleiben, wollte man den König zum Schadenersatz verpflichten.51 Der Verzicht des Gerichts, über die herangetragenen Streitfälle verbindlich zu entscheiden, beweist, dass es seine Aufgaben nicht effizient erfüllen konnte. Als ein Paradebeispiel für die Unwirksamkeit des Richttages kann die Tatsache angesehen werden, dass in einem Klageverzeichnis von 1450 ein Streitfall zwischen dem ehemaligen Domherrn von Kamie,, Szymon, und dem Komtur von Schlochau, Heinrich von Rabenstein, der damals dieses Amt auch nicht mehr bekleidete. Die Entscheidung über diesen Fall wurde bis zum Richttag von 1437 verlegt.52 In die Verhandlungen über schwierige Fälle sollten auch die Herrscher involviert werden, was ihrem Erscheinen zu den Richttagen gleichkam. Zu den Treffen der Herrscher kam es oft nicht, auch wenn in der Regel objektive Gründe hierfür vorlagen (ungarische Wahl des Königs W*adys*aw III., Interregnum 1444-1447, dann die langen Aufenthalte von Kasimir IV. in Litauen). Daher war es kaum möglich, die Wirksamkeit der Richttage zu erhöhen. Die Abneigung der Richter, verbindliche Urteile zu fällen, mag sich aus ihrer Angst ergeben haben, dass ihre Urteile von den Herrschern nicht akzeptiert würden. Die Ineffizienz der Richttage ergab sich höchstwahrscheinlich auch aus der Tatsache, dass sie nicht regelmäßig zustande kamen, wodurch sie nicht als eine wichtige Institution in den gegenseitigen Beziehungen galten. Solche Denkweise war bei polnischen Richtern charakteristisch, denn die polnische Seite war weit davon entfernt, den Wortlaut des Vertrages genau zu erfüllen. Die deutsche Seite dachte in dieser Hinsicht anders, insbesondere unter dem Hochmeister Konrad von Erlichshausen, bei dem eine Neigung zur genauesten Erfüllung der Bestimmungen des Friedensvertrages von Brze#+ zu verzeichnen war.53 Die unregelmäßigen Zusammenkünfte der Richttage sind als einer der Gründe anzusehen, warum man die meisten Streitfälle ohne ihre Vermittlung zu lösen suchte, indem man sich auf traditionelle briefliche Interventionen beschränkte. Es gibt allerdings Beispiele für eine Berücksichtigung dieser Institution. Der Bischof von Krakóv (Krakau), Zbigniew Ole#nicki schlug in seinem Antwortbrief an den Hochmeister vom 8. November 1440, in dem er sich in der Sache der Festname der Untertanen des Deutschen Ordens durch den Burggrafen von Nieszawa äußerte, vor, die Festgenommenen unter der Bedingung zu entlassen, dass sie zu einem bestimmten Termin vor dem Richttag erschienen, wenn sich „iudices ex utraque parte iuxta pacis perpetue disposiciones ad iudicandas decidendasque subditorum iniurias” versammeln, dann soll darüber entschieden werden, ob sie bestraft oder freigesprochen würden.54 Manchmal wurden Versuche unternommen, sich auf eigene Faust Gerechtigkeit zu verschaffen, was nicht immer erwartete Ergebnisse mit sich brachte. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Klage, die der Kastellan von Kalisz, Piotr von $erniki, vorbrachte. Seine Untertanen 51 52 53 54

OBA [Anm. 9], Nr. 8000. S. Anm. 37. Biskup [Anm. 11], S. 140-142. OBA [Anm. 9], Nr. 7764.

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wurden vom Komtur von Schlochau beraubt. Der Kastellan beklagte sich zuerst bei den polnischen Adligen, die einen Brief an den genannten Komtur verfassten. In dem Antwortbrief stellte der Komtur allerdings fest, dass er mit seiner Tat nur die Raubüberfälle der Starosten von Deutsch Krone und Nakel vergelten wollte. Der Kastellan wandte sich mit diesem Brief an die Gesandten des Deutschen Ordens, die in Kujawien weilten. Die Gesandten, oberster Marschall Konrad von Erlichshausen und Hans von Baisen, haben den Inhalt des Briefes gelesen, lehnten jedoch die Einleitung jeglicher Maßnahmen ab. Daher wollte Piotr von (erniki nach &'czyca (Lentschütz) gehen, um mit seiner Angelegenheit vor den polnischen König zu treten. Der anwesende Komtur von Elbing bat den Kastellan, dies zu unterlassen und verfasste selbst einen Brief an den Komtur, in dem er ihn zur Rückgabe der geraubten Gegenstände aufforderte. Der Komtur leistete jedoch dieser Aufforderung keine Folge, so dass der resignierte Kastellan sich an den Hochmeister wandte, in der Hoffnung, dass Konrad von Erlichshausen, Hans von Baisen sowie der Komtur von Elbing ihm die ganze Wahrheit mitteilte.55 Sein Fall zeigt, dass weder das im Friedensvertrag festgelegte Schlichtungsverfahren noch Versuche, die Streitfälle auf eigene Faust zu lösen, erfolgreich zum Abschluss gebracht werden konnten. Viele Streitfälle in den Grenzregionen wurden erst im Laufe des 13jährigen Krieges gelöst. Der Krieg ist jedoch nicht wegen schlechter Lösungen im Friedensvertrag ausgebrochen, denn der Vertrag und entsprechende diplomatische Handlungen reichten für die Sicherung des Friedens zwischen den beiden Seiten aus. Die Auflehnung der preußischen Stände gegen die territoriale Oberhoheit des Deutschen Ordens war der eigentliche Grund dafür.

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Ebenda, Nr. 7902.

MARIO MÜLLER

Beziehungsgrenzen der Kurfürsten von Brandenburg (15./16. Jahrhundert)

Grenzziehungen zielen auf ein pragmatisches Miteinander.1 Sie provozieren jedoch Konkurrenzen; dadurch werden Grenzen dynamisch. Grenzen beruhen auf Ordnungsmodellen, die eine Vielfalt von Beziehungen mehr oder weniger befördern. Das Festlegen von Grenzen ermöglicht menschliche Beziehungen, sie werden durch Grenzen mit Bedeutungen ausgestattet. Grenzziehung ist daher ein kommunikativer Akt, der durch geografische, sprachliche, politische Faktoren etc. beeinflusst wird und nicht selten scheitert. Wichtigstes Charakteristikum für das Fortbestehen von Kommunikation und damit der ordnungsstiftenden Versuche durch Grenzziehungen ist der Wille zur Selbsterhaltung von gesellschaftlichen Ordnungen.2 Spätmittelalterliche Grenzziehungen lassen sich vereinfacht an zwei Gruppen von Grenzen erläutern: materielle Grenzen (Flüsse, Stadt- oder Burgmauern) und herrschaftsrechtlich gebundene Grenzen (Herr – Grundholde, Geleit). Während die erste Gruppe eine Fläche deutlich sichtbar bezeichnen konnte, wurde die zweite Gruppe besonders durch den Eid geprägt. Materielle Grenzen waren klein und überschaubar im Vergleich zu den herrschaftsrechtlichen; sie gehörten zu den ordnungsstiftenden Grenzen innerhalb eines Herrschaftsbereiches und bestimmten nur einen kleinen Teil von Herrschaft wie den Burg- oder Klosterbezirk, die Stadt mit ihren Umfassungsmauern. Seltener waren weiträumige materielle Grenzen. Es gab in der Mark Brandenburg zwar beständige sichtbare Grenzmarkierungen, aber nicht flächendeckend. Weitreichende natürliche Grenzen wa1

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Vgl. beispielsweise Schmidt, Hans-Joachim, Kirche, Staat, Nation. Raumgliederung der Kirche im mittelalterlichen Europa, Weimar 1999 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, 37), S. 13: Die „Festlegung von Grenzen“ stellt ein „Verfahren dar, um soziale Sonderung sowohl plausibel als auch praktikabel zu machen.“ Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 7 1999, S. 265-269; Pohl, Walter, Soziale Grenzen und Spielräume der Macht. In: Grenze und Differenz im frühen Mittelalter, hg. von Walter Pohl und Helmut Reimitz, Wien 2000 (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1), S. 11-18; Depkat, Volker, Kommunikationsgeschichte zwischen Mediengeschichte und der Geschichte sozialer Kommunikation. Versuch einer konzeptionellen Klärung. In: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Medien der Kommunikation im Mittelalter, Wiesbaden, Stuttgart 2003 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 15), S. 9-48.

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ren für das Spätmittelalter ungewöhnlich. Aber auch zuvor scheinen natürliche Grenzverläufe auf eine wenig durchdrungene Herrschaft hinzuweisen. So lässt sich für die Ostgrenze des Reiches zwischen Franken und Slawen, der Mark Brandenburg, Sachsen und den östlichen Nachbarn vom 8. bis 13. Jahrhundert folgender Wandel beobachten: Am Ende des 8. Jahrhunderts säumten Burgen und Heiligtümer die Grenzen, von den Sachsenkriegen Kaiser Karls bis in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts wurden mit Kastellen befestigte Flüsse zu Grenzlinien. An ihre Stelle rückten „Heeresaufmärsche, Gesandtschaften und Geschenke, Bündnisse mit den sächsischen und slawischen Großen“; Orientierungspunkte für Grenzen in diesem Zeitraum waren Flüsse, Seen, Zeichen an Bäumen oder Steinen. Vom 9. bis 12. Jahrhundert überwogen Grenzwälder, besonders in Mecklenburg, Preußen, Schlesien, Böhmen und Ungarn; die Verkehrswege durch die Wälder konnten durch befestigte Kontrollpunkte gesichert sein. Im 12./13. Jahrhundert waren im Besonderen Landesherren und eigenständige Adlige bemüht, durch Rodungen der Grenzwälder ihre Herrschaftsbereiche zu erweitern.3 Walter KUHN bemerkte für die Mark Brandenburg im 13./14. Jahrhundert Ähnliches: Während der Besiedlung der östlichen Grenzwälder wurden Grenzen in Urkunden mit Naturmerkmalen angegeben (Seen, Waldstücke etc.), in späteren Besitzbestätigungen aber mit neu entstandenen Dörfern und Städten.4 Die spätmittelalterlichen Landesherrschaften beschleunigten diese Entwicklung weiter; der Ver- und Zukauf bzw. die Verpfändungen von Rechten und Besitz veränderten das Beziehungsgefüge. Ab dem 14. Jahrhundert zeichnete sich bei den brandenburgischen Markgrafen und märkischen Bischöfen von Brandenburg, Havelberg und Lebus die Tendenz ab, Besitz im Umland der Residenzen zu wahren und zu mehren. In umstrittenen Grenzräumen der Landesherrschaft wie dem schlesischen Herzogtum Crossen waren die Markgrafen bemüht, ein dichtes rechtliches Herrschaftsgefüge zu schaffen. Dabei spielten strategische Momente eine entscheidende Rolle. Die starke Privilegierung der Stadt Frankfurt im 15. Jahrhundert durch die Markgrafen basierte vor allem auf ihrer Grenzlage im Südosten der Mark: von hier aus expandierten sie und verteidigten ihre landesherrlichen Rechte in Schlesien und der Niederlausitz. Im Westen sollten etwa mit der Gründung des Domstifts Stendal die Gerichtsrechte der Bischöfe von Halberstadt und Verden in der Altmark eingeschränkt werden.5 Die Landesherrschaft der Kurfürsten war auf Schwerpunkte konzentriert, die sich je nach politischer Situation verlagern konnten. Eine 3

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Hardt, Matthias, Linien und Säume, Zonen und Räume an der Ostgrenze des Reiches im frühen und hohen Mittelalter. In: Pohl und Reimitz, Grenze [Anm. 2], S. 39-56, hier S. 42-54. Kuhn, Walter, Kirchliche Siedlung als Grenzschutz 1200 bis 1250 (am Beispiel des mittleren Oderraumes). In: Walter Kuhn, Vergleichende Untersuchungen zur mittelalterlichen Ostsiedlung, Köln, Wien 1973 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, 16), S. 369418, hier S. 377. Zu markgräflicher Politik und geistlicher Gerichtsbarkeit: Hennig, Bruno, Die Kirchenpolitik der älteren Hohenzollern in der Mark Brandenburg und die päpstlichen Privilegien des Jahres 1447, Leipzig 1906 (Veröffentlichungen des Vereins für Geschichte der Mark Brandenburg).

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flächenmäßige Erschließung der Mark gelang nicht, wenn das überhaupt Ziel markgräflicher Politik war. Herrschaftsrechtliche Grenzen wiesen eine große Durchlässigkeit auf. Sie waren an personengebundene Herrschaftsformen, Verträge oder Regalien gekoppelt. Zu den wichtigsten personengebundenen Herrschaftsformen zählten Grundherrschaft und Huldigung der landschafft. In Brandenburg war es den Hohenzollern im 15. Jahrhundert gelungen, die Angehörigen der landschafft fester an sich zu binden, als es die Luxemburger bis dahin vermocht hatten. Noch am Beginn des 15. Jahrhunderts waren Rechte und Freiheiten der landschafft groß, die Grenzen der landesherrlichen gewalt hingegen eng. Mit der Zeit aber konnten zum Beispiel die märkischen Bischöfe in ein nicht konkret fassbares Abhängigkeitsverhältnis zu den Kurfürsten gedrängt werden. Die Bischöfe zeichneten sich überwiegend durch ihre Dienste als Rat, Statthalter und finanzielle Leihgeber aus; sie stellten Aufgebote für die Kriege der Hohenzollern. Doch blieb die Durchlässigkeit dieser Beziehungsgrenzen kennzeichnend. Die Bischöfe übten weiterhin richterliche Funktionen aus, vergaben Lehen und waren Grundherren. Bedeutende Adlige wie Werner von der Schulenburg ließen sich trotz enger Gebundenheit an den brandenburgischen Kurfürsten Lehen vom pommerschen Herzog Bogislaw X. antragen und traten in seine Dienste; die Städte der Altmark schlossen sich zu überregionalen Bündnissen zusammen, die nicht selten gegen den eigenen Landesherrn gerichtet waren. 6 Die Bindungen zwischen Landesherr und Untertanen waren unterschiedlicher rechtlicher Qualitäten. Die Grundherrschaft bzw. das landesherrliche Kammergut, zu dem im weitesten Sinn auch Städte, Klöster und andere geistliche Stiftungen und Patronate zählten, charakterisierte ein intensiver Zugriff durch den Landesherrn. Dementsprechend waren die Grenzen klarer abgesteckt als bei Lehnsbindungen, denn Herren und Ritter verfügten über Eigenbesitz, bedurften weniger Schutz, sie waren waffenfähig, landrechtlich eingebunden, fehdefähig und häufig mehreren Herren zugleich verpflichtet.7 Gemeinsam war allen Bindungen der Eid. Dass der Eid in seinen verschiedenen Formen nicht als zeitlose Konstante, sondern als Phänomen „dynamischer Wirklichkeit“ verstanden werden kann, zeigte Paolo PRODI auf. Für das 15./16. Jahrhundert räumte er einen wichtigen Wandel in der Geschichte des Eides ein: immer mehr Personen huldigten ihren Herren, die Formeln der Eide wurden detaillierter und umfangreicher. Der Eid sei „entscheidendes Mittel ... für die Umformung der Untertanen in Gläubige/Getreue geworden, welche dem Staat 6

7

Heidemann, Julius, Werner von der Schulenburg. In: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. [s. Anm. 2] durch die historische Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften, Bd. 32, unveränderter ND der 1. Aufl. von 1891, Berlin 1971, S. 674-76; Hahn, Peter-Michael, Struktur und Funktion des brandenburgischen Adels im 16. Jahrhundert, Berlin 1979 (Historische und Pädagogische Studien, 9), S. 184; Krüger, Klaus, Zwischen Herren und Hanse. Studien zur Bündnispolitik der Städte in der Mark Brandenburg im 14. und 15. Jahrhundert, unveröffentlichte Habilitationsschrift, eingereicht an der Philosophischen Fakultät der Universität Jena im Jahr 2000. Brunner, Otto, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, Wien 51965 (ND Darmstadt 1990), S. 240-254 und 356.

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gehörten und von ihm ... diszipliniert, kontrolliert und regiert wurden.“8 Spätmittelalterliche Eidesformeln fanden immer häufiger schriftlichen Niederschlag bei einhergehender „Ausdifferenzierung der Eidesinhalte. Die inhaltliche Erweiterung wie die Vermehrung der Huldigungs-, Bürger-, Amts- und Diensteide sind Voraussetzung wie Ergebnis der Verdichtung von Herrschaft, gerade auf der Ebene der Gemeinden. Es geht dabei um die Einbindung aller, auch der Minderberechtigten, Fremdleibeigenen und Dienstboten in der Gerichtspflicht der Orts- und Landesherren. Die einheitlichere territoriale Gerichtsbarkeit und die deutlichere Beschreibung der Pflichten der Gerichtsangehörigen wie der übrigen Gemeindeämter führte ... zu größerer Kontrolle der Untertanen und stärkte so nochmals die Bindungen an die Herrschaft.“9 Huldigungen banden Untertanen und Landesherrn zusammen, machten die landschafft zu Teilhabern der Macht: Für Württemberg sind im Zeitraum zwischen 1457 und 1552 mehrere starke Veränderungen in den Vereinbarungen vor den Huldigungen zu verzeichnen. Inhalte waren zum Beispiel 1457: Treue und Freizügigkeit der Untertanen (das eigene Vermögen der Herrschaft nicht durch Abzug oder Flucht zu entziehen). 1514 wurden die Vereinbarungen um eine Finanzhilfe für landesherrliche Schuldentilgung und die „Empörerordnung“ (Mithilfe der Stände zur Unterdrückung des „Armen Konrads“) ergänzt. Der Landesherr verpflichtete sich, den Ständen Mitsprache bei der Landesverteidigung zu gewähren, Landschaden abzuschaffen, Sicherheiten vor willkürlicher fürstlicher Strafgewalt zu garantieren. Eingeschlossen in die Huldigung war das „Widerstandsrecht“ der landschafft, den Landesherrn abzusetzen, wie es 1498 tatsächlich geschehen ist.10 Für Brandenburg ist ein vergleichbarer Abschied vom 24. August 1472 bekannt: Kurfürst Albrecht Achilles handelte mit der brandenburgischen landschafft einen Kompromiss aus, wonach er auf regelmäßig gezahlte Landbede und weitere Steuerzahlungen verzichtete, aber eine einmalige außerordentliche Zahlung von 100.000 Gulden – zahlbar in vier Jahren – forderte. Weitere außerordentliche Leistungen könnten nur dann angemahnt werden, wenn mit Rat der landschafft ein Krieg zu führen sei, die Fürstenkinder zur Heirat ausgestattet werden müssten oder so wir [Kurfürst Albrecht] ... eine treffliche Niederlage nehmen, durch uns selbst oder die unsern. Der Kurfürst und seine Erben verpflichteten sich zudem, ihre erblich Schöße, Landt und Leuthe nicht ohne Rat der landschafft zu veräußern. Kurfürst und landschafft anerkannten ihre bestehenden 8

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10

Prodi, Paolo, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents, Berlin 1997 (Schriften des Italienisch-Deutschen Instituts in Trient, 11), S. 198. Schaab, Meinrad, Eide und andere Treuegelöbnisse in Territorien und Gemeinden Südwestdeutschlands zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. In: Elisabeth MüllerLuckner und Paolo Prodi (Hg.), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1993 (Schriften des Historischen Kollegs, 28), S. 11-30, hier S. 29. Holenstein, André, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung 800-1800, Stuttgart, New York 1991 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 36), S. 281-285 und 328.

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Rechte und Freiheiten.11 In den württembergischen wie brandenburgischen Vereinbarungen wurden verfassungskonstituierende Elemente schriftlich fixiert. Landesherr und landschafft traten gleichermaßen als politische Träger auf, sie legten ihre gemeinsamen politischen Grenzen fest und formulierten damit gemeinsame Ziele, die zum Substrat des Landesbewusstseins heranreiften. Neben der Huldigung gab es Eide, die einerseits wie die Huldigung Abschließung und Durchdringung eines Rechtsraumes förderten, andererseits Mittel sein konnten, die Grenzen dieses Rechtsraumes zu überwinden. Dazu zählten Dienst- und Amtseide. Unabhängig vom Aufenthaltsort oder von anderweitigen Bindungen konnten Personen dauerhaft verpflichtet werden, zum Beispiel Räte, die als Gesandte und Informanten fungierten. Der langjährige brandenburgische Rat Albrecht Klitzing war sächsischer und burgundischer Vermittler sowie in den Diensten des dänischen Königs anzutreffen.12 Sein angereichertes Wissen stellte eine wichtige Quelle für das Informationsbedürfnis des Kurfürsten dar. Die Indienstnahme von Informanten war ein verbreitetes Mittel, um an Nachrichten von entferntern Orten zu gelangen. Die Hohenzollern verfügten über ein weites Netz von Informanten, bestehend aus den verwandtschaftlichen Bindungen, Boten, Gesandten, Angehörigen städtischer Oberschichten, Kanzlern, Notaren und anderweitigen Amtsträgern.13 Folge und Ziel dieser Vernetzungen war eine universal funktionierende Kommunikation. Die Informanten zählten zu wesentlichen Stützen der Herrschaft in Spätmittelalter und Neuzeit. Denn Landesherrschaft war expansiv ausgerichtet und auf Informationen angewiesen. Die hohe Fluktuation von Besitz und Rechten in der spätmittelalterlichen Landesherrschaft, die Nichtexistenz von linearen Territorialgrenzen, die Durchlässigkeit von Herrschaftsgrenzen sowie der hohe Bedarf an Naturalien und barer Münze der Landesherren ließen eine Eigendynamik entstehen, die Expansionen zur Existenzgrundlage der Herrschaft machten. Expansion war kein einseitig ausgerichtetes Phänomen, sondern gründete in gegenseitigen Beziehungen. Die Kommunikation innerhalb dieser Beziehungen bestimmte die Art und Weise der Beziehungen, aber auch der Expansionen. Der materiellen Expansion ging die kommunikative voraus. Welche räumlichen Ausmaße und Qualitäten sie besitzen konnte, hing vom „Eigenwert“ der Landesherrschaften ab. Das Kurfürstentum Brandenburg besaß einen vergleichsweise hohen „Eigenwert“, bedingt durch die Anhäufung der Ämter und das familiäre Herkommen der Kurfürsten.

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12 13

Original verschollen. Mehrere gleich lautende Abschriften aus dem 16. Jahrhundert erhalten in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 23 A Kurmärkische Stände, Nr. A 37, fol. 1-4, A 43, fol. 39-41, A 44, fol. 2-5, A 51, A 96/1, fol. 1-5. B 96. Fehlerhaft gedruckt in: Riedel, Adolph Friedrich (Hg.), Codex diplomaticus Brandenburgensis, 41 Bde., Berlin 1838-69, hier Bd. C II, Nr. 63, S. 62-63. Zitiert nach Nr. A 43, hier fol. 40-41. Hahn, Struktur [Anm. 6], S. 184. Müller, Mario, Herrschermedium und Freundschaftsbeweis. Der hohenzollerische Briefwechsel im 15. Jahrhundert. In: Karina Kellermann (Hg.), Medialität im Mittelalter (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 9 [2004]), S. 44-54, hier S. 49-50.

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Heiratsverbindungen und Freundschaftsbündnisse sind wichtige Indikatoren, an denen der „Eigenwert“ der Landesherrschaften gemessen werden kann, denn sie beruhten auf Gegenseitigkeit, bildeten eine fruchtbare Grundlage für Beziehungen und öffneten Beziehungsgrenzen. Die brandenburgische Landesherrschaft überwölbten dynastische Beziehungen, die – so hoch auch der „Eigenwert“ der Landesherrschaft und ihrer Dynastie gewesen sein mochte – in vielen Fällen abhingen erstens von den Befähigungen des Familienoberhauptes abhingen und zweitens von den Beziehungen der Familienmitglieder untereinander. So hatten es die Hohenzollern verstanden, im Familienverband wirksam für die zahlreichen Landesherrschaften in Franken, Brandenburg, Preußen, Schwaben, Schlesien etc. gemeinsame politische Ziele zu verfolgen. Im 15. Jahrhundert lag der kommunikative Mittelpunkt in den fränkischen Fürstentümern Ansbach und Bayreuth; im 16. Jahrhundert intensivierte der Brandenburger Zweig seine Beziehungen zu Nachbarn und Reichsoberhaupt. Bestimmend für diese Entwicklung waren Weite und Intensität politischer Kommunikation besonders zu tragenden Persönlichkeiten des Reiches. Im 15. Jahrhundert waren es die Kurfürsten Friedrich I. und Albrecht Achilles, die unter anderem mit ihrer Nähe zu Kaiser und Reichskanzler Ansehen erlangten. Die Heiratsverbindungen mit den Königshäusern von Dänemark, Böhmen und Polen bekräftigten das.14 Ohne angesehenes Reichsamt war das politische Ansehen von Herrschern gering. Königs- oder Kurfürstenwürde überragten in dieser Hierarchie alle anderen. Das Entstehen von „Großdynastien“ am Ausgang des Mittelalters beruhte darauf. Amt und politischer Einfluss passten häufig nicht zueinander, konnten aber über längere Zeiträume für eine Familie zu wichtigen Ergänzungen führen. Die Würde eines Amtes überwog aber und ordnete Personen wie Familien in die Gesellschaft ein. Nachdem 1486 mit Albrecht Achilles der letzte Hohenzoller verstorben war, der fränkische und brandenburgische Herrschaften der Familie in einer Person vereinte, gelang der Brandenburger Linie mit der Kurwürde trotz ihrer oft finanziell bedrückenden Situation der Aufstieg zur Königswürde (1701). Ohne Helfer vermochten die Regenten nicht, ihre weit gespannten Beziehungen und Herrschaftsrechte zu pflegen. Wie Schneider nähten politische Helfer kontinuierlich Herrschaftsrechte zusammen und legten die Beziehungsfäden zurecht. Ihre Kompetenz entschied über die Konsistenz von Beziehungen und Durchsetzung von Herrschaftsrechten. So wertvoll die Helfer für die Herrschaft auch waren, ihre Position als politische 14

Zur politischen, Verwaltungs- und Dynastiegeschichte der Hohenzollern aktuell mit umfangreichen Literaturverzeichnissen: Neugebauer, Wolfgang, Die Hohenzollern, Bd. 1, Stuttgart, Berlin, Köln 1996; Moraw, Peter, Die Mark Brandenburg im späten Mittelalter. Entwicklungsgeschichtliche Überlegungen im deutschen und europäischen Vergleich. In: Akkulturation und Selbstbehauptung. Studien zur Entwicklungsgeschichte der Lande zwischen Elbe/Saale und Oder im späten Mittelalter, hg. von Peter Moraw, Berlin 2001 (Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Sonderband 6), S. 13-36; Nolte, Cordula, Familie, Hof und Herrschaft. Das verwandtschaftliche Beziehungsund Kommunikationsnetz der Reichsfürsten am Beispiel der Markgrafen von BrandenburgAnsbach (1440-1530), Ostfildern 2005 (Mittelalter-Forschungen, 11).

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Vermittler befand sich an einer gefährdeten Bruchstelle von Herrschaftsausübung. Denn „es waren vom Herrn oder der Obrigkeit persönlich überblickbare, vielfach von Angesicht zu Angesicht organisierte Gemeinschaften“ wie „Haus, Familie, Gemeinde, Grundherrschaft und Stadt“, die „der abstrakten Legitimation aus der Ferne weit überlegen“ sein konnten.15 Umso weiter Herrscher ihre politischen Grenzen ausdehnten und nicht ständig präsent sein konnten, desto entscheidender wurde die Suche nach wirkungsvollen Mitteln, Herrschaft und politische Repräsentation zu gewährleisten. Das Bedürfnis der Landesherren, ihren Einfluss zu optimieren, führte daher einerseits zu einer Verdichtung und Intensivierung von Kommunikationsnetzen, anderseits zur Ausbildung von notwendigen Spezialisten, den politischen Helfern. Dazu zählten Räte, Kanzleipersonal, Gesandte, Boten, Informanten etc. Ihr Wissen und ihre Tätigkeit förderten die universale Grundlage politischer Kommunikation, die zur Basis der politischen Beziehungen werden sollte. Sie häuften Sprachkenntnisse, topografisches Wissen, kulturelle Informationen, Rechtskenntnisse und überregionales Wissen zur Schriftsprache an. Das ermöglichte eine weit ausgreifende Kommunikation und führte zu universalen Kommunikationsgrundlagen, durch die Fürsten aus unterschiedlichen Regionen Europas miteinander in Beziehungen treten konnten. Dauer verliehen diesen Beziehungen vertragliche Bindungen wie Hochzeiten, Einungen, Freundschaftsverträge, Huldigungen. Rechtliches Instrument zur Absicherung dieser Bindungen war ähnlich dem kleineren Beziehungsraum „Landesherrschaft“ der promissorische Eid. Jeder Eid war an göttliche Autorität gebunden; Eide sakralisierten politische Beziehungen. Daher bestimmte der konfessionelle Rahmen die Beziehungsgrenzen, die christliche Welt mit ihren Bewohnern, die populum christianum. Überall dort, wo christlicher Glaube im Mittelpunkt gesellschaftlicher Beziehungen stand, bildete er die Basis für universale Verständigung. Beziehungen mit Andersgläubigen waren behaftet mit ethischen und religiösen Vorbehalten, die Kommunikation untereinander auf ein Minimum reduzieren und zu Spannungen zwischen den Gruppen führen konnten. Die Kreuzzüge ins Morgenland hatten Schranken für transreligiöse Beziehungen tiefer gelegt, politische, kulturelle und wirtschaftliche Kontakte befördert. Doch die negativ besetzten Bilder von andersgläubigen Gesellschaften blieben im gemeinschaftlichen Gedächtnis bestehen. Die Bedrohungen ab dem 15. Jahrhundert durch das Osmanische Reich setzten diese Bilder verstärkt frei, polemisch instrumentalisiert besonders durch die römischen Könige. Innerhalb der christlichen Welt befanden sich unterschiedlich strukturierte Räume; das Abendland prägten die Ideen des rei publicae christianae und des christlichen Europas. Während der erste Begriff auf das 12. Jahrhundert zurückzuführen ist und „das Abendland unter päpstlicher Fügung“ bezeichnen sollte,16 wurde der Begriff des christlichen Europas immer neuen Ideen und Konstrukten unterworfen. Nach Klaus ZERNACK gelangte das „Europa im vollen historischen Sinne“ im 9./10. Jahrhundert zur Ausbildung; 15

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Moraw, Peter, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490, Berlin 1985 (Propyläen Geschichte Deutschlands, 3), S. 22. Borgolte, Michael, Europa entdeckt seine Vielfalt (1050-1250), Stuttgart 2002 (Handbuch der Geschichte Europas, 3), S. 379.

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konstituiert habe es sich durch den entscheidenden Faktor „der europäischen Nationen.“ Dieses Europa bestehe aus Alteuropa, dem kulturell durch das Römische Reich „geprägten Teil und Neueuropa, jene christlichen Gebiete, die nie zum Römischen Reich zählten.“ Für die Nationalität seien folgende Faktoren bestimmend gewesen: 1. das europäische Gemeinschaftsbewusstsein im Christentum, 2. das Abgrenzungsbedürfnis zur Unterscheidung der eigenen nationalgroßgruppenhaften Zusammengehörigkeit von anderen Gruppen, 3. die Rolle von Nachbarschaft und Grenzen zwischen den Nationen, 4. siedlerische Durchmischung zum Zweck wirtschaftlicher Aktivität in Dorf und Stadt, 5. Emigrationsbewegungen, 6. kriegerische Auseinandersetzungen sowie 7. Außenhandel und Außenpolitik.17 Theodor SCHIEDER stellte noch weitere Kriterien vor zur Bestimmung, was Europa – wenn man es als eine Einheit betrachtet – ausmache: nämlich das abendländische Mönchtum und christliche Rittertum als zwei Kriterien für ein „Kultureuropa“ sowie das Lehnswesen und die Begründung politischer Herrschaft aus dem Prinzip der Nationalität.18 Beide Ansätze stellen christliches Bewusstsein und die Ausbildung von Nationen (natio) als verbindende Elemente der „Europäer“ heraus. Sie betonen die jeweils eigenen Entwicklungszüge der Nationen. Die Unterscheidung zwischen christlichem Europa und den Nationen öffnet den Blick für lang andauernde Entwicklungslinien, die gegenwärtige europäische Raumstrukturen und ihre Abgrenzungen erklären helfen. Für politische Beziehungsgrenzen im mittelalterlichen Reich ist die Untersuchung der natio mit den gesellschaftlich strukturierenden Einheiten wie Familie und Herrschaft zu ergänzen; sie konnten Nationen zusammenfassen und „Landesbewusstsein“ formen bzw. auf erworbene Gebiete übertragen, obwohl es zahlreiche Belege gibt, nach denen Dynastien ihrem Herrschaftsverband keine gemeinsame Identität verleihen konnten: Das Ende des Ersten Weltkrieges hat das in besonderem Maß an den Ländern der Habsburger aufscheinen lassen. Häufig kleinräumiger und nicht identisch mit dem Begriff natio ist das land (in lateinischen Quellen: terra, provincia, pagus, territorium). Unter land sei nach Otto B RUNNER „ein Gebiet einheitlichen Rechts (Landrecht)“ zu verstehen, unter Herrschaft (dominum) „der Besitz eines Herrn, gleichgültig ob landrechtlicher Einheit oder nicht.“ Allerdings gäbe es auch Fälle, in denen unterschiedliche landrechtliche Zonen zu einem dominum zusammengefasst wurden und die „zur Einheit des Landes zusammenwuchsen.“ Dennoch könne erst von einem Land gesprochen werden, wenn sich eine Landgemeinde oder ein einheitliches Landrecht herausgebildet habe.19 Äquivalent zu land wurde der Begriff 17 18

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Zitiert nach Borgolte, Europa [Anm. 16], S. 383-85. Schieder, Theodor, Vorwort zum Gesamtwerk. In: Handbuch der europäischen Geschichte, hg. von Theodor Schieder, Bd. 1, Stuttgart 41996, S. 1-21, hier S. 3-5. Brunner, Land [Anm. 7], S. 182 und 193-94.

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zunge verwendet, der Rede, Zunge, Sprache oder das Land bezeichnen konnte. Kurfürst Friedrich II. von Brandenburg schrieb 1464 seinem Bruder Albrecht, daß das Kurfürstenthum zu Brandenburg mehr als zu drei Seiten mit fremden Zungen und Ungehorsamen des Reichs umsetzt sei, darum es dem ganzen Reiche Noth wäre, dasselbe Kurfürstenthum also zu berücksichtigen, daß es den Schild dem Reiche vorzuhalten vermöge.20 Damit meinte er im Norden die pommerschen Herzogtümer, im Osten das Königreich Polen und im Süden die Herrschaften der böhmischen Lausitz. Unter Reich verstand Friedrich kein land im Sinne BRUNNERs, sondern einen Verbund von Reichsfürsten und Reichslehen, zusammengehalten durch den römischen König, der die Lehen vergab und dem gehuldigt wurde. Für Friedrich beinhaltete die brandenburgische Kurwürde, verantwortlich im Sinne des Reiches zu regieren und es zu schützen – sein Kurfürstentum solle den Schild dem Reiche vorhalten. Das entsprach dem kurfürstlichen Verständnis, wie es in der Goldenen Bulle schriftlichen Niederschlag gefunden hatte: Kurfürsten wären ja bekanntlich die nächsten Glieder des heiligen Reiches und kämen zusammen, um über das Wohl dieses Reiches und des Erdkreises [orbis] zu beraten, da sie die festen Grundpfeiler und unverrückbaren Säulen des Reiches sind. Sie hätten die Pflicht, der kaiserlichen Hoheit bei der Abhilfe der so überaus zahlreichen Nöte beizustehen, eingesetzt als Teilhaber der Sorgegewalt.21 Der kurfürstliche Brief und die Bulle zeigen die drei Beziehungsebenen, auf denen sich die Markgrafen von Brandenburg bewegten: Erdenkreis, Reich, Kurfürstentum. Neben diesen vertikal angeordneten Ebenen gab es noch zahlreiche und ebenso bedeutsame horizontal ausgerichtete Verbindungen wie freundschaftliche Verbindungen, Heiraten, Verbrüderungen in geistlichen Gemeinschaften etc. Diese Strukturierung schuf Grenzen, die eine politische Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft widerspiegelten. Zu einem ganz ähnlichen Resultat gelangt Hans-Jürgen BECKER in seiner Untersuchung der königlichen pacta conventa (Wahlkapitulationen) des 16. Jahrhunderts. Die Kurfürsten verstünden sich „als eine Gruppe, die die Anliegen des Regnums“ vertreten und die die „verfassungsrechtliche Stellung des Regenten in den Blickpunkt“ stellen.22 Anders als in den Modellen von ZERNACK und SCHIEDER werden nicht Europa und Nationen bzw. Staaten unterschieden, sondern der orbis und die Sorgepflicht rücken ins Blickfeld. Im späten Mittelalter reihten sich die Kurfürsten in die universale Idee der römischen Könige ein, die ab dem 15. Jahrhundert mit den neuen Herausforderungen der häretischen Bewegungen und osmanischen Einfälle ganz reale Züge angenommen hatte. Im Gegen20

21

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Zitiert nach Gähtgens, Paul, Die Beziehungen zwischen Brandenburg und Pommern unter Kurfürst Friedrich II. (1437) 1440-1470, Gießen 1890, S. 76. Zitiert nach: Die Goldene Bulle von 1356. In: Quellen zur Verfassungsgeschichte und des Römisch-deutschen Reiches im Spätmittelalter (1250-1500), bearbeitet und übersetzt von Lorenz Weinrich, Darmstadt 1983 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, 33), Nr. 94, S. 315-95, hier S. 337, 357 und 393. Becker, Hans-Jürgen, Pacta conventa (Wahlkapitulationen) in den weltlichen und geistlichen Staaten Europas. In: Müller-Luckner und Prodi, Glaube [Anm. 9], S. 1-9, hier S. 2.

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satz zu dieser spezifisch kurfürstlichen Perspektive ordnete zum Beispiel Papst Calixt III. bei der Bekanntmachung seiner Wahl 1455 seine Adressaten grob nach Nationen, auch wenn dieses System nicht stringent beibehalten wurde, sondern abhängig vom Gesichtskreis des neuen Papstes war, von kurialen Verwaltungseinteilungen und ganz praktischen nachrichtentechnischen Belangen.23 Beiden Ordnungsentwürfen ist aber gemeinsam, dass weder Kurfürst noch Papst lineare oder „staatliche“ Grenzen zur Basis wählten, sondern Lehnswesen und Kirchenorganisation. Grundlagen hierfür waren Ordnungsentwürfe christlicher Weltanschauung, in der der Eid als komplexes und universales Bindeglied eine erhebliche Rolle spielte und zum rechtlichen Fundament geworden war. Politisches und Sakrales verbanden sich in diesen Ordnungen. Durch die Praxis, politische Beziehungen über Eide zu etablieren, verwandelte sich der Eid in den Landesherrschaften während des 15./16. Jahrhunderts zu einem Instrument der Regenten, das „die Sakralität auf die politische Ebene und das politische Element auf die sakrale Ebene überträgt.“24 Diese Entwicklung spitzte sich krisenhaft in den konfessionellen Auseinandersetzungen der Neuzeit zu. Denn politische Handlungsfähigkeit, die Möglichkeit in Beziehungsfeldern zu kommunizieren, war abhängig von Glaube und Eintracht. Fürsten lag daher daran, den „wahren Gottes- und Glaubensbegriff“ zu lenken: „Konfessionelle Homogenität bewährte sich als Bindemittel der Gesellschaft und verbürgte die Funktionsfähigkeit der politischen Ordnung.“25 Mit der Verfestigung konfessioneller Unterschiede im Reich war es nötig geworden, eine konkrete rechtliche Basis für die Politik der Landesherren über die Grenzen ihrer Herrschaft hinaus festzulegen. Das geschah in Art. VIII § 2 Satz 2 des Friedensvertrages von Osnabrück vom 24. Oktober 1648: Die Landesherren erhielten das Recht, unter sich und mit dem Ausland [cum exteris] Bündnisse für ihre Erhaltung und Sicherheit abzuschließen, ... jedoch unter der Bedingung, daß dergleichen Bündnisse nicht gegen Kaiser und Reich und dessen Landfrieden oder besonders gegen diesen Vertrag gerichtet, sondern so beschaffen seien, daß der Eid, durch den ein jeder dem Kaiser verpflichtet ist, in allen Stücken unverletzt bleibt.26 Der Eid blieb am Ausgang des Dreißigjährigen Krieges für die Beziehungen zwischen Kaiser und Landesherr im Mittelpunkt reichsrechtlicher Bindungen. Einerseits war er an 23

24

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Tewes, Götz-Rüdiger, Zwischen Universalismus und Partikularismus. Zum Raumbewußtsein an der päpstlichen Kurie des Spätmittelalters. In: Peter Moraw (Hg.), Raumerfassung und Raumbewusstsein im späteren Mittelalter, Stuttgart 2002 (Vorträge und Forschungen, 49), S. 31-85, hier S. 46-47. Prodi, Paolo, Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte. Zur Einführung. In: Müller-Luckner und Prodi, Glaube [Anm. 9], S. VII-XXVIII, hier S. XIX. Schreiner, Klaus, Iuramentum religionis. Entstehung, Geschichte und Funktion des Konfessionseides der Staats- und Kirchendiener im Territorialstaat der frühen Neuzeit. In: Der Staat 24 (1985), S. 211-46, hier S. 215. Zitiert nach Fassbender, Bardo, Auswärtige Hoheitsrechte der deutschen Territorien und Einzelstaaten vor der Reichsgründung. Ein Beitrag zur Vorgeschichte moderner bundesstaatlicher Kompetenzverteilung. In: Der Staat 42 (2003), S. 409-36, hier S. 413.

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die Heiligkeit der beeideten Worte gebunden und verbindlich in der christlichen Welt. Andererseits konnte er in seinen verschiedenen Ausformungen unabhängig vom ordo des Holden Anwendung finden. Der Eid band Kaiser und Kurfürst ebenso wie Landesherr und Grundholde. Dennoch bildete der Eid nicht den Kern mittelalterlicher Landesherrschaft. Wichtiger war die Herrscherdynastie, das Geblüt. Der Bestand der Dynastie sicherte Herrschaftskontinuität. Daher lag es im fürstlichen Interesse, Kontinuität nicht allein durch eigene Nachkommen abzusichern – obwohl darin das höchste Ziel lag – sondern auch den Kreis der Dynastie durch Heiraten zu vergrößern. Die Verbindung von zwei Familien durch Heirat verdoppelte das Beziehungsfeld einer Familie und öffnete Beziehungsgrenzen. Selbst wenn in der politischen Praxis das größere Beziehungsfeld nicht ausgenutzt wurde, bestanden durch Heiraten größere rechtliche Möglichkeiten. Während Eide auf Personen und Gruppen begrenzt waren, scheint die Verbindung durch Hochzeit und gemeinsame Nachkommen kaum abgrenzbare Beziehungsfelder zu eröffnen. Diese Möglichkeiten wurden in detailreichen Heiratsverträgen jedoch beschnitten: Wittum und Mitgift wurden im Vorhinein genau festgelegt, Erbansprüche geregelt, häufig zugunsten des Bruders auf Herrschaftsfolge verzichtet etc. Ganz ähnlich verfuhren die Fürsten in den sogenannten „Haus- oder Teilungsverträgen“. Wie in den Heiratsverträgen wurden herrschaftsrechtliche Grenzen festgelegt. Bei den Teilungsverträgen stand im Vordergrund, die materielle Basis für die Höfe der Nachkommen zu sichern. Um absehbaren Streitigkeiten entgegenzuwirken, wurden bei den Hohenzollern im 15./16. Jahrhundert die künftigen Herrschaftsgebiete möglichst so voneinander geschieden, dass sie räumliche „Einheiten“ ergaben, das heißt gemeinsame Regentschaften; Teilhabe an Rechten der Geschwister oder Besitz im Herrschaftsgebiet des anderen wurden gemieden, aber nicht gänzlich als Möglichkeit verworfen.27 Die Einteilung der Herrschaftsgebiete folgte durch Zuordnung der schlösser und Orte. Jedoch zeigen Heirats- und Teilungsverträge in der Tendenz, dass ein Bedürfnis bestand, Herrschaftsgebiete konkret von anderen zu scheiden und räumliche „Einheiten“ zu schaffen. Das expansive Element der Landesherrschaft wurde damit nicht beschränkt, denn innerhalb der Herrschaften nahm die rechtliche Kumulation durch die Regenten zu. In Brandenburg trat das deutlich in der Kirchenpolitik zutage. Bischöfe, deren Domstädte und Residenzen nicht einer märkischen Region zugeordnet werden konnten, aber deren Diözesen ins Kurfürstentum hineinragten, waren Konkurrenten der Markgrafen. Ihr Einfluss wurde in den kurfürstlichen Gebieten zurückgedrängt. Das betraf besonders die Gerichtsbarkeit, denn nicht selten wurden geistliche Gerichte den weltlichen bevorzugt. Am Ende des 15. Jahrhunderts sprach der Papst die Bistümer Brandenburg, Havelberg und Lebus als brandenburgische Landeskirche an. Im 15./16. Jahrhundert erreichten es die Kurfürsten mit päpstlichem Einverständnis, die Bischöfe und einige Domherren der 27

Dazu aktuell für die Hohenzollern: Neugebauer, Hohenzollern [Anm. 14], S. 44-47, S. 82126; Neitmann, Klaus, Die Hohenzollern-Testamente und die brandenburgischen Landesteilungen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Brandenburgische Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Lieselott Enders, hg. von Friedrich Beck und Klaus Neitmann, Weimar 1997, S. 109-126.

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drei Bistümer zu ernennen, noch bevor durch die Reformation zahlreiche geistliche Güter säkularisiert wurden.28 Die Intensivierung und Verdichtung von Herrschaft ab dem 15. Jahrhundert hatten im mittelalterlichen Reich keine vergleichbaren Vorbilder. Die Instrumente dafür waren vielfältig: Ansätze einer gewinnorientierten grundherrlichen Verwaltung durch ausgebildete Amtleute, die Erweiterung und Durchsetzung von regelmäßigen Steuern, die Ausdehnung des Eides auf die Hintersassen der Untertanen, die Konzentration des Gerichtswesens beim Landesherrn, die Zurückdrängung städtischer Freiheiten, Erhöhung der Zölle und Vermehrung der Zollstätten, die Ausdehnung der Geleitrechte, eine intensivierte Nutzung des Münz- und Bergregals, Kauf- und Pfanderwerb, Heirat und Erbe, der Zugriff auf die Hochstifter, die Wahrnehmung von Reichsämtern, die Verschriftlichung des Rechts.29 Größtes Problem beim Ausbau der Landesherrschaft war die Finanzierung. Allein die Aufwendungen im Kurfürstentum Brandenburg für Söldner in den zahlreichen Kriegen, für Kanzlei und diplomatischen Verkehr, die Auslösung verpfändeter Ämter und Güter, den Ankauf ganzer Herrschaften, die hohen Mitgiften der Töchter auf einem erstklassigen Heiratsmarkt und die zahlreichen geistlichen Stiftungen können symptomatisch für die „Verteuerung“ von Politik gelten, die es in dem Maß bisher nicht gab. Einen großen Teil davon hatte der Landesherr allein zu tragen. Zölle, außerordentliche und regelmäßige Steuern waren für diese Art der Politik unerlässlich. Die Bewilligung der Gelder durch die landschafft zeigt, wie weit sie sich der landesherrlichen Politik verbunden fühlte und ob sie bereit war, in diese Politik zu investieren. Die Herrschaftsverdichtung beförderte die Vorstellung und praktische Umsetzung von räumlichen Herrschaftsgrenzen. Im 16. Jahrhundert erhöhte sich der Gebrauch von Begriffskomposita mit dem Wortstamm Grenze. Zuvor waren im deutschen Sprachschatz Mark und Grenze synonym verwendet worden, obwohl die Begriffe ursprünglich unterschiedliche Bedeutungen hatten. Die Mark bezeichnete nicht eine Grenzlinie, sondern einen „Saum unbebauten Landes, häufig einen Wald.“ Der Ursprung des Wortes könnte sogar Wald gewesen sein. Grenze stammt aus dem slawischen Sprachraum und bedeutete ursprünglich Eiche – Eiche als Grenzbaum. Vom Deutschen Orden wurde Grenze in den deutschen Sprachgebrauch überführt. Im Lateinischen waren finis und terminus die ent-

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Zur Einführung in den gegenwärtigen Forschungsstand: Kurze, Dietrich, Das Mittelalter: Anfänge und Ausbau der christlichen Kirche in der Mark Brandenburg (bis 1535). In: Tausend Jahre Kirche Berlin-Brandenburg, hg. von Gerd Heinrich, Berlin 1999, S. 15-146; Bergstedt, Clemens und Heimann, Heinz-Dieter (Hg.), Wege in die Himmelsstadt. Bischof – Glaube – Herrschaft 800-1550, Berlin 2005 (Veröffentlichungen des Museums für brandenburgische Kirchen- und Kulturgeschichte des Mittelalters, 2). Brunner, Land [Anm. 7], S. 366-371, Willoweit, Dietmar, Die Entwicklung und Verwaltung der spätmittelalterlichen Landesherrschaft. In: Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und GeorgChristoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 66143, hier S. 68-77; Schubert, Ernst, Einführung in die Grundprobleme der Geschichte im Spätmittelalter, Stuttgart 1992, S. 200-201.

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sprechenden Äquivalente.30 Im 16. Jahrhundert stieg die Verwendung des Begriffs Grenze; die überwiegende Anzahl der Komposita mit dem Stammwort Grenze traten erstmalig in der Literatur auf: Grenzbaum, -gebiet, -brunnen, -fluss, -kreuz, -mark, -rain, -stein, -wasser, -haus, -schloss, -stadt, -brief, -vertrag, -gedächtnis, -bereiter, -beschreiber, bewahrer, -scheider, -verwahrer. Verbformen wie begrenzen, abgrenzen und grenzen lassen sich für das 15. / 16. Jahrhundert spärlich, danach gehäuft finden. Das Wort Grenzhaus ist seit dem endenden 16. Jahrhundert reich belegt.31 Die Befunde der begrifflichen Forschung werden durch Beobachtungen der historischen Kartografie gestützt. Die ersten „Landaufnahmen“ sind für das 14. Jahrhundert aus Paris und Südfrankreich bekannt, entstanden aus dem Bedürfnis heraus, Souveränitätsrechte untereinander abzugrenzen.32 Eine der ersten Landaufnahmen, die mit den Hohenzollern in Verbindung gebracht werden kann, ist eine Karte des bischöflich-bambergischen Amtes Marktschorgast in Franken, entstanden um 1540. Der Zeichner der Karte, im 16. Jahrhundert Grenzmaler genannt, ist unbekannt; Auftraggeber war Bischof Weigand von Redwitz (1522-56). Schwerpunkte der Darstellungen sind das bischöfliche Halsgericht, das Ortsbild von Marktschorgast mit Galgen, Orts- und Burgminiaturen mit jeweiligen Wappen des Bischofs und der Hohenzollern sowie die Geleitstraße durch den Ort. Die Grenzen sind linear mit schwarzen und gelben Strichen dargestellt. Wie aus spätmittelalterlichen Beschreibungen von Herrschaftsräumen bekannt ist, werden feste Orte und Häuser mit ihren Gerichten und Geleitrechten bezeichnet sowie einer Herrschaft zugeordnet – in diesem Fall zeichnerisch umgesetzt durch das Bischofs- bzw. Familienwappen. Als Neuerung erscheint die Grenzziehung, dargestellt durch Linien. (Abb.) Es bleibt ungewiss, ob diese Grenzlinien auf konkreten praktischen Bezügen beruhten. Das nötige technische Wissen wurde durch die Entdeckungsreisen nach Afrika, Indien und Amerika im 15. Jahrhundert grundgelegt. Entsprechende Instrumente und Methoden zur Landvermessung sind für das 16. Jahrhundert in Deutschland belegt. Zur gleichen Zeit kann „bei vielen Landesherren in Europa ... der Hang zum intensiven Sammeln optischer und mechanischer Instrumente für eigene physikalische Kabinette“ beobachtet werden, auch wenn die praktische Anwendung dieser Geräte umstritten ist.33 Die „kartographische Erfassung der Welt unter geopolitischen und machtstrategischen Gesichtspunkten“,34 wie es später der französische Kardinal Richelieu zukunftsweisend tat, be-

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Hoke, R., Artikel Grenze. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 1801-1804, hier Sp. 1802. Hübner, Arthur und Neumann, Hans (Bearbeiter), Art. Grenzaufseher bis Grenzzoll. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 4, Abt. 1, Teil 6, Leipzig 1935 (ND Bd. 9, München 1984), Sp. 118-196, hier Sp. 125-164. Tewes, Universalismus [Anm. 23], S. 44. Schmidtchen, Volker, Maß aller Dinge. In: Karl-Heinz Ludwig und Volker Schmidtchen, Metalle und Macht 1000-1600, Berlin 1997 (unveränderter ND von 1990-92; Propyläen Technikgeschichte, Bd. 2), S. 549-72, hier S. 558. Krippendorff, Ekkehart, Kritik der Außenpolitik, Frankfurt am Main 2000, S. 24-25.

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ruhte auf den technischen Errungenschaften im Vermessungswesen des 15./16. Jahrhunderts. Herrschaftliche Verdichtung und technische Innovationen haben der mittelalterlichen Beziehungsgeschichte entscheidende Impulse verliehen; sie ebneten den Weg für das moderne Verständnis von Herrschaftsabgrenzung, der Territorialisierung von Herrschaften, die bürokratisch und monopolistisch organisiert waren mit dem Ergebnis, dass differenziert gestaltete Staatssysteme entstanden. Politische Beziehungen zielten auf Expansionen ab; herrschaftliche Grenzen waren expansionsfähig strukturiert. Materielle Grenzen hingegen konnten ihre Wirkung nur auf kleinem Raum entfalten, für Landesherren waren sie wichtige Repräsentanten von Herrschaftsrechten und förderten herrschaftliche Durchdringung. Mit Hilfe der technischen Neuerungen in der Landesvermessung veränderten Regenten ihre Wahrnehmung von Herrschaftsräumen in der Landschaft und auf der Karte. Politik konnte Ideen in abstrakter Form an kartografischen Hilfsmitteln entwickeln. Damit wurden Landesgrenzen zu einem festen Bestandteil der Beziehungen unter den absolutistisch regierten Territorien. Landesgrenzen bestimmten fortan die Vorstellungen von politischen Beziehungsgrenzen. Der Sicherung von Landesgrenzen wurde intensive Aufmerksamkeit geschenkt, perfektioniert durch ein System von Grenzbefestigungen und -markierungen. Ältere Formen, Beziehungen zu festigen, traten in den Hintergrund, so der Eid, der gegenwärtig nur noch in Teilbereichen der Gesellschaft eine Rolle spielt, aber keine übergreifenden Funktionen mehr inne hat.

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Abb. 1 Ansicht von Marktschorgast, Feder / Papier, koloriert, 64,5 x 82,0 cm (Staatsarchiv Bamberg, A 240 R 149)

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Materielle Kultur und soziale Affiliation. Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich einer sozialen Grenzziehung aus archäologischer Perspektive Das Thema sozialer Grenzen in der mittelalterlichen Gesellschaft kann von der Archäologie aus einem anderen Blickwinkel erforscht werden als die Schriftquellen allein es zulassen – allerdings ist die Aussagekraft archäologischer Quellen, d. h. der materiellen Relikte dieser Zeit nicht für weit reichende Schlüsse geeignet – jedenfalls nicht ohne weiteres. Der Begriff „materielle Kultur“ wird in verschiedenen Ländern, bzw. Forschungstraditionen unterschiedlich verwendet.1 Er kann prinzipiell jegliche materielle Äußerung menschlichen Handelns umfassen und damit neben oberirdisch erhaltenen Strukturen und Realien sämtliche archäologische Quellen, von der Keramikscherbe, über den Schlachtabfall bis hin zum Hausgrundriss. Dies ist vor allem in der osteuropäischen, aber auch in der französischen Forschung zu beobachten – auch in der angelsächsischen Archäologie wird der Begriff recht offen gehandhabt.2 In der Mittelalterarchäologie hat sich allerdings eingebürgert, den Begriff der „materiellen Kultur“ bzw. der „Sachkultur“ innerhalb der archäologischen Hinterlassenschaften nur für denjenigen Teil zu verwenden, der sich aus mobilen Artefakten, im Grunde also dem Fundgut archäologischer Grabungen, zusammensetzt.3 Damit schließen wir die zweite wichtige Quellengattung aus: immobile Strukturen, also materielle oder latente Befunde. 1

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Zur Definition: Ulrich Veit, Menschen – Objekte - Zeichen: Perspektiven des Studiums materieller Kultur. In: Ulrich Veit u. a. (Hgg.), Spuren und Botschaften: Interpretationen materieller Kultur (Tübingern Archäologische Taschenbücher 4). Münster 2003, S. 17-28, hier 19f. Fernand Braudel ging sogar soweit, den Menschen selbst in die Definition materieller Kultur mit einzubeziehen: „La vie materielle, ce sont des hommes et des choses, des choses et des hommes.“ Fernand Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe-XVIIIe siècle 1. Les structures du quotidien: Le possible et l’impossible (Paris 1979), S. 15. In Deutschland fand von archäologischer Seite eine methodische Thematisierung des Begriffs erstmals 1979 statt (Walter Janssen, Methoden und Probleme archäologischer Siedlungsforschung. In: Herbert Jankuhn u. Rainer Wenskus (Hgg.), Geschichtswissenschaft und Archäologie. Untersuchungen zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Kirchengeschichte (Vorträge und Forschungen 22). Sigmaringen 1979, S. 101-191.) Der Begriff war jedoch innerhalb anderer Disziplinen wie der Volkskunde und der Germanistik schon länger geläufig. Schon 1970 hatte sich das Kremser „Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit“ gegründet., welches sich dem Studium von Objekten anhand von Schrift- und

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„Soziale Affiliation“ ist ein Begriff, der sich in die Sphäre archäologischer Forschung im Grunde genommen nicht einpassen lässt. Soziale Affiliation muss als bewusster Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe innerhalb der Gesellschaft angesehen werden, welche dadurch gleichzeitig von anderen Gruppen abgegrenzt wird. Materiellen Niederschlag finden allenfalls die Folgen dieser aktiven Bezeugung des „Dazugehörens“, für die Motivation kann – wenn überhaupt – allein ein schriftlicher Niederschlag erwartet werden. Die Beschäftigung mit sozialhistorischen Themen wird von Seiten der Mittelalterarchäologie generell nur sehr zaghaft angegangen. Gehen wir von der Bearbeitung archäologischer Funde aus, so hängt dies mit der Dominanz der Aspekte Chronologie und Typologie zusammen, die lange Zeit die einzigen beiden Fragestellungen bildete, mit welchen Fundmaterial konfrontiert wurde. In den 1970er Jahren fand innerhalb der archäologischen Erforschung des Mittelalters erstmals eine Ausweitung auf sozialhistorische Aspekte statt: Anhand von beigabenführenden frühmittelalterlichen Gräbern wurde versucht, die rechtliche und soziale Struktur der ehemaligen Gesellschaft herauszuarbeiten.4 Rainer C HRISTLEIN definierte verschiedene „Qualitätsgruppen“ innerhalb der Beigabenensembles, welche „sicher die tatsächlichen sozialen Verhältnisse“ der jeweiligen Zeit widerspiegeln sollten.5 Inzwischen werden jedoch gerade die bis heute sehr beliebten Ansätze bezüglich der Ausstattung frühmittelalterlicher Gräber aufgrund verschiedener quellenkritischer Überlegungen in kritischem Licht gesehen.6 Es fällt auf, dass die Erweiterung des Spektrums der Fragestellungen auf soziale Aspekte gerade zu dem Zeitpunkt geschah, als in den mediävistischen Nachbardisziplinen ebenfalls ein umfassender Wandel der thematischen Ausrichtung stattfand. Seit den späten 1960er Jahren nahmen viele Historiker eine sozial- und strukturgeschichtliche Perspektive bei der Auswertung des Schriftquellenmaterials ein, Geschichtswissenschaft wurde vermehrt als „historische Sozialwissenschaft“ verstanden.7 Vermutlich reflektierte die Aufweitung des archäologischen Fragenkanons eben diese neue Entwicklung innerhalb der historischen Schriftquellenforschung.

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Bildquellen verschrieben hatte (Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung. Darmstadt 1999, S. 304.). Rainer Christlein, Besitzabstufung zur Merowingerzeit im Spiegel reicher Grabfunde aus West- und Süddeutschland. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 20 (1973), S. 147-180. Heiko Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Zur Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. In: Herbert Jankuhn u. Rainer Wenskus (Hgg.), Geschichtswissenschaft und Archäologie. Untersuchungen zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Kirchengeschichte. Vorträge und Forschungen 17 (Vorträge und Forschungen 22). Sigmaringen 1979, S. 595-633. Chrislein [Anm. 4], S. 148. Almut Schülke, Glaubensvorstellung, religiöse Praktiken ? Die "Christianisierung" als Forschungsproblem am Fallbeispiel der südwestdeutschen Gräberarchäologie. Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 14 (1998), S. 55-64. Goetz [Anm. 3], S. 90 u. 299.

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Die Gräberfeldforschung jedoch erlaubte sozialhistorische Aussagen aufgrund des fundamentalen Wandels in der Beigabensitte lediglich für den Zeitraum des Frühmittelalters. Für die hoch- und spätmittelalterlichen Zeitabschnitte dominiert die Quellengattung der Siedlungskontexte – vor allem die spätmittelalterliche Stadt scheint im archäologischen Quellenbild deutlich auf. Aufgrund der bekannten Unterschiede in den Bevölkerungsgruppen der unterschiedlichen Elemente der mittelalterlichen Siedlungslandschaft bot sich eine vergleichende Analyse des Fundmaterials in Stadt, Burg, Dorf und Kloster an. Der auf die Quellengattung Siedlung bezogene sozialhistorische Ansatz innerhalb der Mittelalterarchäologie stützte sich vorwiegend auf diese triviale Vierteilung des Quellenmaterials. Allerdings ist die Sachkultur des Mittelalters leider noch nicht in umfassender Weise als für einzelne Elemente der damaligen Siedlungslandschaft charakterisierend zusammengestellt worden. Das Fehlen einschlägiger Synopsen bedingt einen sehr aufwändigen Zugriff auf die archäologischen Quellen.8 Bislang wurden daher nur Zusammenstellungen für einzelne Objektgruppen geleistet, weniger jedoch zu übergreifenden Fragestellungen. Bestimmte Elemente der Wohn- und Freizeitkultur wurden herausgegriffen und das Auftreten an verschiedenen Fundplätzen verglichen.9 Vor allem auf dem Gebiet der Tischsitten, die archäologisch anhand der Tafelkeramik aufscheinen, wurden Fundplatzübergreifende Vergleiche angestellt.10 Die ebenfalls in diesen Bereich der häuslichen Repräsentation gehörenden Handwaschgefäße liefern interessante Ergebnisse.11 Sehr 8

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Bisher einzige Synopse: Sabine Felgenhauer, Die Sachkultur des Mittelalters im Lichte der archäologischen Funde (Europäische Hochschulschriften Reihe 38, Bd. 42). Frankfurt a. M. u. a. 1995. Barbara Scholkmann, Bodenfunde aus Dorf, Burg und Stadt. In: Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur. Ausstellungskatalog 1977, Bd. 1, S. 207-222; Dies., Bodenfunde als Zeugnisse des täglichen Lebens in Dorf, Burg und Stadt. In: Karl-Heinz Ruess (Hg.), Alltag in der Stauferzeit. Vorträge der 9. Göppinger Staufertage, Göppingen 1984, S. 15-40; Heiko Steuer, "Objektwanderung" als Quelle der Kommunikation. Die Möglichkeiten der Archäologie. In: H. Hundsbichler (Hrsg.), Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und früher Neuzeit = Veröff. des Ins. für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Krems 15 (Wien 1992) S. 401-440; Ders., Mittelalterliche Messerscheidenbeschläge aus Köln. Hammaburg NF9 (1989), S. 231-246. R. Koch, Mittelalterliche Trinkbecher aus Keramik von der Burg Weibertreu bei Weinsberg, Kr. Heilbronn, Forschungen und Berichte zur Archäologie des Mittelalters in BadenWürttemberg 6 (1979), S. 47-75; Uwe Gross, Fundmaterial aus städtischem Zusammenhang - Fundmaterial als Sozialindikator: Beispiele aus dem mittleren Neckarraum, Jahrbuch des Heimat- und Altertumsvereins Heidenheim/Brenz 1993/94, S. 9-23; Gross stellte bei der Analyse der sog. schwäbischen Feinware fest, dass nicht nur der Siedlungstyp, sondern vor allem auch der Abstand vom Herstellungs- und Vertriebszentrum bestimmend für die Quantität des Auftretens dieser hochqualitativen Ware ist, ebd., S. 13. Barbara Scholkmann, Die Aquamanilien aus Bebenhausen und Jettenburg. Fundbererichte Baden-Württemberg 14 (1989), S. 669-691; Gross [Anm. 10]; Ulrich Müller, Different Shape - Same Function? Medieval Hand-Washing Equipment in Europe. In: Guy de Boe u.

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aufschlussreich ist auch eine Zusammenstellung von Importfunden, wie sie Imre HOLL für das mittelalterliche Ungarn zusammenstellte12. Eine wichtige übergreifende, jedoch noch nicht verwirklichte Fragestellung wäre beispielsweise die Assimilation der materiellen Inventare bestimmter Gruppen innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft. Eine gegenseitige Anregung von Großbürgertum, hohem Klerus und Adel ist konstatiert worden,13 eine eingehendere Untersuchung dieses Sachverhalts verspricht spannende Ergebnisse. Für solche Problemstellungen ist besonders auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass synchrone Schnitte erstellt werden müssen, bzw. die Reihenfolge des zeitlichen Auftretens in den verschiedenen Kontexten verglichen werden muss. Wichtig ist außerdem die Feststellung von Ausschließlichkeiten und von Überschneidungen innerhalb der verschiedenen Siedlungstypen, sowie im regionalen Vergleich. Da absolut-quantitative Vergleiche einzelner Fundkategorien aufgrund der Forschungs- und Überlieferungssituation nie möglich sein werden, bieten sich vergleichende Analysen der relativen Verhältnisse verschiedener Fundtypen an. Fundamentale Aspekte bei allen Betrachtungen sind die quantitative Zusammensetzung des Fundmaterials und die Gesamtheit der Funde, insbesondere in ihren qualitativen Merkmalen. Klassifikationen werden in der Archäologie normalerweise innerhalb der einzelnen Materialkategorien getroffen – insbesondere innerhalb der Keramik wurden ausgefeilte Klassifikationssysteme entwickelt, die Eigenschaften wie Material, Herstellungs- und Brenntechnik, Oberflächenbehandlung oder auch Form und Dekor kombinieren.14 Allein technische und typologische Merkmale können jedoch noch keine weiter reichenden Schlüsse erlauben. Die hinter diesen Oberflächen durchscheinenden Herstellungsbedingungen, der Aufwand bei Produktion und Vertrieb und weitere Punkte wie der Seltenheitsaspekt müssen mit beachtet werden. Wichtig ist aber vor allem eine Analyse so vieler Details als möglich und so vieler direkter Vergleiche als möglich, sowie ein möglichst offener methodischer Zugang.

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Frans Verhaeghe (Hgg.), Material Culture in Medieval Europe - Papers of the Medieval Europe Brugge 1997 Conference. Vol 7. Zellik 1997, S. 251-264; Frans Verhaeghe, An aquamanile and some thoughts on ceramic competition with metal quality goods in the Middle Ages. In: E. Lewis (Hg.), Customs and Ceramics. Essays presented to Kenneth Barton, Wickham 1991, S. 25-61. Imre Holl, Ausländische Keramikfunde in Ungarn (14.-15. Jahrhundert). Acta Archaeologica Hungarica 42 (1990), S. 14-267. Uwe Albrecht, Der Adelssitz im Mittelalter. Studie zum Verhältnis von Architektur und Lebensform in West- und Nordeuropa. München 1995. Beispielsweise W. Erdmann, H.J. Kühn, H. Lüdtke, E. Ring u. W. Wessel, Rahmenterminologie zur mittelalterlichen Keramik in Norddeutschland. Archäologisches Korrespondenzblatt 14 (1984), S. 417-436 oder I. Bauer, W. Endres, B. Kerkhoff-Hader, R. Koch u. H.-G. Stephan, Leitfaden zur Keramikbeschreibung Mittelalter - Neuzeit. Terminologie - Typologie - Technologie. (Kataloge der prähistorischen Staatssammlung München Beiheft 2) Kallmünz 1987.

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Materielle Kultur als Statusanzeiger Üblicherweise wird bei der Auswertung von Ausgrabungen die Quantität, Qualität und Diversität der Fundobjekte mit dem sozialen Status gleichgesetzt. Dies ist natürlich im Fall von Grabinventaren beigabenführender Bestattungen, bei denen es sich um intentionelle Deponierungen handelt, besonders evident.15 Aber auch bei Inventaren aus Siedlungsschichten, Abfallgruben oder Latrinen werden ähnliche Ansätze praktiziert. Die Funde sollen als Sozialindikatoren dienen, mit denen zumindest die relative Stellung innerhalb des ehemaligen gesellschaftlichen Gefüges rekonstruiert werden soll, bzw. der materielle Wohlstand zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen verglichen werden kann. Wir stoßen bei der Analyse von sozialen Strukturen im Raum auf Schwierigkeiten, die mit der archäologischen Quellensituation generell zu tun haben. Eine sichere Zuweisung von Fundkomplexen zu einzelnen Haushalten kann nur in Einzelfällen gewährleistet werden. Die Auffindungssituation ist vom Abfallverhalten der ehemaligen Bewohner, von eventuellen sekundären Umlagerungen vor der endgültigen Deponierung, von Verlagerungsvorgängen und späteren Bodeneingriffen, sowie von den Umständen der Bergung selbst abhängig. Bei statistischen Auswertungen und ebenso bei Kartierungen müssen über diese verzerrenden Faktoren hinaus auch noch Aspekte der Funderhaltung und der generellen Auffindungsbedingungen berücksichtigt werden. In Städten beispielsweise herrschen relativ hohe Überlieferungschancen, die durch Aufsiedlungsprozesse und die Anlage von Latrinen begünstigt sind. Der überdurchschnittlich intensive Fundanfall hier lässt sich zu einem hohen Grad darauf zurückführen. Weiterhin ist zu beachten, dass ein Unterschied besteht zwischen Objekten, welche lediglich als Anzeiger der sozialen Stellung bzw. des materiellen Wohlstandes ihrer Besitzer genutzt werden, und solchen, welche der Affiliation und damit der Absetzung einer sich gerade erst formierenden oder aber in Auflösung begriffenen sozioökonomischen Gruppe dienen. Aufgrund von Überlegungen, die aus der Ethnologie stammen, haben prähistorische Archäologen neue Denkkategorien herausgearbeitet, wobei zwischen so genannten Luxusgütern und Prestigegütern differenziert wird.16 Luxusgüter sind demnach diejenigen Objekte hohen Wertes, welche bei gefestigter sozialer Stratifizierung mit gesellschaftlicher Bedeutung konotieren, ohne jedoch dem Erwerb dieser Bedeutung zu dienen. Im Gegensatz hierzu werden Prestigegüter von Einzelindividuen zum Erwerb von Macht eingesetzt.17 Aufgrund verschiedener Beobachtungen wurde ein Modell ent-

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Vgl. Anm. 4. Johannes Müller, Reinhard Bernbeck, Prestige und Prestigegüter aus kulturanthropologischer und archäologischer Sicht. In: Dies. (Hrsg.), Prestige - Prestigegüter - Sozialstrukturen. Beispiele aus dem europäischen und vorderasiatischen Neolithikum (Archäologische Berichte 6) Bonn 1996, S. 1-28. Macht stellt sich selbst laut des Modells von Kopytoff geradezu durch den alleinigen Zugriff auf bestimmte Objektkategorien dar (I. Kopytoff, The cultural Biography of Things: Com-

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wickelt, das verschiedene archäologisch zu untersuchende Charakteristika zusammenstellt, die zur Identifikation von Prestigegütern führen.18 Hierzu gehören eingeschränkte Nutzungsbereiche und Verteilung, ausgewählte Deponierung, Entfernung von der Rohstoffquelle und Produktionsstelle, die Existenz von Imitaten und der materielle Wert, der sich in Seltenheit, Herstellungsaufwand und Länge des Handelsweges ausdrücken kann. Hingegen ist für die Identifikation von Luxusgütern vorwiegend der materielle Wert ausschlaggebend. Das Nachvollziehen der „Biographie von Dingen“, für welche gerade archäologische Methoden sehr gut geeignet sind, scheint eine brauchbare Option darzustellen.19 Fundmaterial birgt schon anhand der materiellen Komponente ein vielfältiges Aussagepotential – man denke nur an Materialanalysen, Gebrauchsspuren, Nutzungsreste. Darüber hinaus können über die kontextuelle Einbindung der Funde weitere Informationen zum „Sitz im Leben“ der einzelnen Gegenstände gewonnen werden – hier seien räumliche Verortung, Deponierungsumstände und Fundvergesellschaftung als Schlagworte genannt. Neben generellen Problemen der Aussagekraft archäologischer Fundensembles ergibt sich im Siedlungskontext jedoch häufig die Schwierigkeit, dass der Fundniederschlag entweder nicht spezifisch genug ausfällt oder aber aufgrund einer dem Sachverhalt nicht angepassten Grabungstechnik nicht differenziert erfasst werden kann. Aus diesem Grund finden sich auf einen einzelnen Fundplatz bezogene Auswertungen hinsichtlich einer sozialen Differenzierung nur sehr selten. Die Trennung erfolgt bevorzugt – und hier sind vor allem pragmatische Gesichtspunkte der Quellenerschließung maßgebend – getrennt nach Siedlungstypen: Die Sachkultur von Burg, Stadt, Dorf und Kloster werden in vergleichender Weise gegenübergestellt. Es handelt sich streng genommen um dieselbe Methode wie die der schon längst üblichen Kartierung von Verbreitungen – allerdings wird das Moment der sozialen Verbreitung betont. Tatsächlich ergibt sich anhand des Fundniederschlags eine Differenzierung der verschiedenen Elemente in der mittelalterlichen Siedlungslandschaft. Ein grober Überblick über das Fundmaterial aus Burgen, Städten und ländlichen Siedlungen bestätigt die elementare Aussage: „Den Bauern charakterisieren seine Arbeit, den Adligen Herrschaft und Muße, Feste und Spiele. In der Stadt begegnen sich die unterschiedlichen Formen städtischer Lebensweise der Handwerker und Kaufleute“20. Tatsächlich fällt bei Stadtkerngra-

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modization as Prozess. In: A. Appadurai (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Cambridge 1986, S. 64-91). Colin Renfrew u. N. Shakelton, Neolithic trade routes realigned by oxygen isotope analyses. Nature 228 (1970), S. 1062-1065; Colin Renfrew, Varna and the emergence of wealth in prehistoric Europe. In: A. Appadurai (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Cambridge 1986, S. 141-167, hier S. 148. Kopytoff [Anm. 17]; auch Hedwig Röckelein, Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter. Beihefte der Francia 48 (2002), S. 153. Heiko Steuer, Mittelalterarchäologie und Sozialgeschichte. Fragestellungen, Ergebnisse und Zukunftsaufgaben. In: Günther P. Fehring u. Walter Sage (Hgg.), Mittelalterarchäologie in

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bungen der hohe Anteil handwerklicher Produkte, Werkzeuge, Halbfabrikate und Abfallprodukte auf.21 In Dörfern erscheint das Fundmaterial weniger qualitätsvoll, weniger differenziert und über längere Zeiträume und eine größere räumliche Ausdehnung gleich bleibend. Burgengrabungen dagegen zeichnen sich durch ihr sowohl hinsichtlich der Qualität als auch des aufgefunden Spektrums reiches Fundgut aus.22 Dabei treten natürlich Überschneidungen zwischen den einzelnen Siedlungskategorien auf. Beispielsweise wurden Waffen und in den adeligen Umkreis gehörende Gegenstände auch in ländlichen Siedlungen aufgefunden.23 Außerdem sind Nachweise von handwerklicher Aktivität nicht allein auf Städte begrenzt24. Wirtschaftshöfe auf Burgen, Stadtburgen des Adels oder aber aufsteigende soziale Schichten bringen Komplexität in die so einfach scheinende Dreiteilung. Es lässt sich sogar „feststellen, dass die Lebensweise des Adels auf den spätmittelalterlichen Burgen im allgemeinen einfacher war als die des städtischen Patriziats“25. Freilich darf auch das Siedlungselement Kloster nicht ausgeklammert werden, das im Fundmaterial der Burg eng verwandt scheint.26 Innerhalb der Stadt mit ihren vielfältigen Bevölkerungsgruppen wurde schon in einigen Fällen exemplarisch auf Basis des Fundniederschlags eine feingliedrige Sozialtopographie zu erarbeiten versucht.27 Hier muss jedoch mit einem guten Maß an Quellenkritik

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Zentraleuropa. Zum Wandel der Aufgaben und Zielsetzungen (Beihefte der Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 9) Köln 1995, S. 87-104, hier S. 95. Eine eindrückliche Zusammenschau: Ralph Röber (Hrsg.), Von Schmieden, Würflern und Schreinern : städtisches Handwerk im Mittelalter (ALManach hg. vom Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg) Stuttgart 1999. Scholkmann 1977 [Anm. 9], S. 215. Ebd., S. 192; Steuer [Anm. 20], S. 93. Walter Janssen, Die Bedeutung der Burg für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. In: Herbert Jankuhn u.a. (Hgg.), Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit II. Koll. Komm. Altertumskunde Mittel- und Nordeuropa 1977-1980 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaft. Philologisch-Historische Klasse III 123) 1983, S. 261-316; Ders., Gewerbliche Produktion des Mittelalters als Wirtschaftsfaktor im ländlichen Raum. Ebd., S. 317-394. W. Timpel, Arch. Untersuchungen zur mat. Kultur in hoch- und spätmittelalterlichen Burgen Thüringens. In: A. Arkenbout (Hg.), Adlige Sachkultur des Spätmittelalters. Internationaler Kongress Krems a. d. Donau 1980 (Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs 5) Wien 1982, S. 293-311, hier S. 308. Z. B. Gross [Anm. 10], S. 15. Alfred Falk, Materielle Kultur und soziale Struktur. Erfahrungen und Ergebnisse archäologisch-historischer Arbeiten in Lübeck. Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 67 (1987), S. 9-30; Alfred Falk u. Rolf Hammel, Archäologische und schriftliche Quellen zur spätmittelalterlich-neuzeitlichen Geschichte der Hansestadt Lübeck. Materialien und Methoden einer archäologisch-historischen Auswertung (Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte 10) Bonn 1987; Rainer Atzbach, Zur sozialen Aussagekaft mittelalterlicher Keramik aus Hannover. In: Guy de Boe u. Frans Verhaeghe (Hgg.), Material Culture in Medieval Europe (Papers of the Medieval Europe Brugge 1997 Conference. Vol 7) Zellik 1997, S. 311-321.

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vorgegangen werden, angefangen bei den Formationsbedingungen gibt es zahlreiche verzerrende Faktoren. Der parzellengerechte Abgleich von Fundmaterial und Schriftquellen in Lübeck beispielsweise brachte eher ernüchternde Ergebnisse: beide Quellenkategorien stimmen nicht überein. Hier ist beispielsweise zu beachten, dass die Funde aus unstratifizierten Altgrabungen von Latrinen stammen und die Entsorgungspraxis der Latrinen sowie der schnelle Bewohnerwechsel der Gebäude, sowie die „Mischlage“ der unterschiedlichen sozialen Gruppen in der Stadt zu berücksichtigen sind.

Materielle Kultur als Hilfsmittel zur Erlangung von Status In den Kulturwissenschaften setzt sich entgegen der positivistischen Auffassung von Wissenschaft seit einiger Zeit ein semiotisches Kulturverständnis durch, laut welchem Kultur sich aus Zeichen, Institutionen etc. zusammensetzt, die in einem Bedeutungsgeflecht zueinander stehen.28 Auch in diversen mediävistischen Disziplinen sind ganz ähnliche Themen in letzter Zeit angeschnitten worden und neuere Forschungen deuten darauf hin, dass der Komplex Rituale – Zeichen – nonverbale Kommunikation für das Mittelalter eine sehr lohnenswerte Herangehensweise darstellt. 29 Ein Zusammenspiel von Mittelalterarchäologie und Schriftquellenforschung kann den Einsatz von Objekten innerhalb nonverbaler Kommunikation konkretisieren. Bezieht man dies auf die Objektgruppe der Status- und Luxusgüter, so führen die Überlegungen unweigerlich zum Thema „soziale Affiliation“. Ein Vergleich der sich im Boden niederschlagenden Rückstände der ehemaligen materiellen Kultur mit den normativen Charakter tragenden Schriftquellen birgt die Chance, das Verhältnis von Norm und Normalität, Fiktion und Realität zu untersuchen.30 Auf Fragestellungen nach dem Adressatenkreis, dem Einfluss, der Gültigkeit und Verbreitung der normativen Festlegungen kann eine Antwort von Seiten der Archäologie geleistet werden. Innerhalb der Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit wurden die einzelnen Modelle der semiotischen Perspektive noch nicht auf ihre Anwendbarkeit geprüft – wenn auch 28

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Ulrich Veit, Über die Grenzen archäologischer Erkenntnis und die Lehren der Kulturtheorie für die Archäologie. In: Ulrich Veit u. a. (Hgg.), Spuren und Botschaften: Interpretationen materieller Kultur (Tübingern Archäologische Taschenbücher 4). Münster 2003, S. 463-490, hier S. 465; C. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt 1983, S. 9. Gerd Althoff, Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters. Frühmittelalterliche Studien 312 (1997), S. 370-389; Ders., Die Macht der Rituale: Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt 2003; Hedwig Röckelein, Nonverbale Kommunikationsformen und –medien beim Transfer von Heiligen im Frühmittelalter. In: K.H. Spieß, Medien der Kommunikation im Mittelalter (Beiträge zur Kommunikationsforschung 15) Wiesbaden 2003, S. 83-104. Goetz [Anm. 3], S. 201.

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eine Anwendung auf diesem Feld aufgrund der Möglichkeit einer wirklich multidisziplinären Verknüpfung einiges an Erkenntnisgewinn verspricht.31 Die Symbolkomponente materieller Kultur wurde von Seiten der Schriftquellenforschung in den 90er Jahren verstärkt anhand der soziologischen Bedeutung von Kleidung untersucht.32 Als soziale Funktion der Kleidung wurde die der Abgrenzung sozialer Gruppen herausgearbeitet. Dabei gilt Kleidung als komplexes Zeichensystem, als Kommunikationsmittel und dient der sozialen, ständischen und moralischen Differenzierung, indem sie zwischen gesellschaftlicher Akzeptanz und Ausgrenzung unterscheidet.33 Die schriftliche Komponente der Kleidervorschriften wirkt auf diesem Feld als sozialer Regulator, eben diese Vorschriften können aber auch sozialen Aspirationen einen zusätzlichen Impuls verleihen.34 Eine Korrelation der schriftlichen und archäologischen Quellen auf dem Gebiet der Kleidung ist aufgrund der schlechten Erhaltungschancen dieser Materialgattung nur sehr bedingt möglich. Aber auch andere Elemente der Sachkultur können vor einem ähnlichen Hintergrund gesehen werden. Ein Feld, das der Archäologie in viel höherem Maße offen steht, ist das der Tischkultur. Auch hier gibt es etliche Verhaltensregeln und Anweisungen schriftlicher Art, wie die Tischzuchten des hohen und späten Mittelalters. Auch hier befinden wir uns im Brennpunkt sozialer Repräsentation. Neben der Repräsentation pekuniäre und ideeller Werte können Standes- und Rangunterschiede Ausdruck finden. Im Verlauf eines Gastmahles kommen verschiedene symbolische und sozialisierende Komponenten zum Tragen: das Mahl bot nicht grundlos Rahmen für Rituale und Inszenierungen. Im Hinblick auf Fragen des sozialen Gefüges kann der Festschmaus als demonstrative Verschwendung mit dem Ziel der Manifestation und Stabilisierung des sozialen und politischen Status quo angesehen werden.35 Anhand der archäologischen Quellen ist die Dynamik innerhalb dieses Bereiches ersichtlich. Ganz deutlich sind zum Beispiel Unterschiede in der Tisch31

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Einige wenige Ausnahmen seien hier aufgeführt: Jochem Pfrommer, Zwischen Identifikation und Distinktion – Materielle Kultur der frühen Neuzeit als Medium gesellschaftlicher Kommunikation. In: Guido Helmig, Barbara Scholkmann u. Mathias Untermann (Hgg.), Centre – Region – Periphery (Medieval Europe Basel Bd. 2) Hertingen 2002, S. 363-368. Ulrich Müller, Europäische Grenzsicherung? Bemerkungen zur Semiotik von Sachkultur. In: Jörn Staecker (Hg.), The European Frontier. Clashes and Compromises in the Middle Ages. Lund 2004, S. 157-177. Gerhard Jaritz, Kleidung und Prestige-Konkurrenz. Unterschiedliche Identitäten in der städtischen Gesellschaft unter Normierungszwängen. Saeculum 44 (1993), S. 8-31; Neithard Bulst, Kleidung als solzialer Konfliktstoff. Probleme kleidergesetzlicher Normierung im sozialen Gefüge. Saeculum 44 (1993), S. 32-46. Anja Romeikat, Hat Alltagsgeschichte Zukunft? In: Hans-Werner Goetz, Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung. Darmstadt 1999, S. 310-318, hier S. 311. Ebd., S. 312. Gerhard Fouquet, Das Festmahl in den oberdeutschen Städten des Spätmittelalters. Zu Form, Funktion und Bedeutung öffentlichen Konsums. Archiv für Kulturgeschichte 74 (1992), S. 83-123.

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kultur in Burg, Stadt und Dorf im 12./13. Jahrhundert zu erkennen – in einer Zeit, die generell durch einen rapiden Anstieg in der Vielfalt und Menge keramischen Geschirrs gekennzeichnet ist: Die Adelsgesellschaft nutzt bei Tisch nach Ausweis der Burgenfunde vorwiegend Keramikbecher. An der städtischen Tafel werden Daubenbecher benutzt und im Dorf scheint man keine gesonderten Gefäße für Getränke zu kennen.36 Im 13./14. Jahrhundert setzt sich dann der Glasbecher an den Tischen von Adel und Bürgertum durch. Dabei ergab eine Durchsicht von Testamenten, dass reiche Stadtbürger viel mehr kostbare Metallbecher benutzten als der Adel. Archäologische Funde können diese Feststellung insofern relativieren, als gerade auf Burgen im Gegenzug besonders wertvolle Gläser auftreten. 37 Im Zuge der Rezeption der höfischen Kultur treten in der Stadt spezifisch höfische oder ritterliche Elemente auf, wofür beispielsweise die so genannten syrofränkischen emailbemalten Becher mit Wappendarstellungen und Inschriften ein beredtes Zeugnis bilden.38 Nicht nur auf dem bürgerlichen Tisch werden Aspekte der sozialen Differenzierung und Affiliationsvorgänge deutlich, sondern auf einem weiteren Feld des mittelalterlichen Alltags: der Wohnkultur, wie beispielsweise dem Bereich der Beheizung von Wohnräumen. Spätestens im 12. Jahrhundert kommen Kachelöfen auf, und zwar vorerst nur in Burgen des Hochadels.39 Ursprungsregion bilden die an den Oberrhein angrenzenden Regionen.40 Damit wird erstmals rauchfreies Heizen im Wohnraum möglich. Die im 13. Jahrhundert in großer Zahl neu gegründeten Ministerialenburgen nehmen diese technische Innovation gerne auf, worauf in kurzem zeitlichen Abstand die ersten Bürgerhäuser folgen.41 Interessant ist vor allen Dingen, dass auf die Imitation der adeligen Wohnkultur, welche Ausdruck des Emulationsverlangen des Bürgertums und einer Popularisierung der Lebensform der herrschenden Bevölkerungsgruppe darstellt, bei dieser herrschenden Bevölkerungsgruppe wieder eine neue Innovation hervorgerufen wird, d. h. „gesunkenes Kulturgut“ wird durch neue Ausgestaltung und neue Formen zu substituieren versucht: Im 14. Jahrhundert wird der frühe Becherkachelofen durch den Ofen mit 36 37 38

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Steuer [Anm. 20], S. 97. Scholkmann 1984 [Anm. 9]. Ingeborg Krueger, Emailbemalte Gläser des 13./14. Jahrhunderts. Zum Stand der Forschung. In: Sabine Felgenhauer-Schmiedt, Alexandrine Eibner u. Herbert Knittler (Hgg.), Auf gläsernen Spuren. Der Beitrag Mitteleuropas zur archäologisch-historischen Glasforschung (Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 19) Wien 2003, S. 29-36. Jürg Tauber, Herd und Ofen im Mittelalter. Untersuchungen zur Kulturgeschichte am archäologischen Material vornehmlich aus der Nordwestschweiz (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 7) Olten 1980, S. 393. Ob das erste Auftreten nun konkret in der Schweiz, im Elsaß oder in Südwestdeutschland zu lokalisieren ist, ist laut T. Mittelstraß nur „mit einem Schuß von Lokalpatriotismus“ zu beantworten: Tilmann Mittelstraß, Schloß Murnau, Ein Bauwerk der Stauferzeit und seine Geschichte. Murnau 1994, S. 169. Tauber [Anm. 36], S. 393; Eva Roth Kaufmann, Ofen und Wohnkultur. In: Guy de Boe u. Frans Verhaeghe (Hgg.), Material Culture in Medieval Europe (Papers of the Medieval Europe Brugge 1997 Conference. Vol 7) Zellik 1997, S. 471-483, hier S. 476.

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glasierten Blatt- und Nischenkacheln ersetzt.42 Neben den neuen, repräsentativ gestalteten Kachelöfen treten in Burgen schon etwas früher vor allem in den öffentlich genutzten Sälen Kaminfeuer mit aufwändig gestalteten Relieffriesen auf.43 Es ist deutlich eine chronologische Abfolge abzulesen: Blattkachelöfen auf Burgen, die sich anfangs vor allem durch innovative Technologie auszeichnen, werden in zeitlichem Abstand von weiteren wohlhabenderen Bevölkerungsschichten rezipiert. In den Adelshaushalten scheinen darauf hin Kaminfriese die Kachelöfen zu ersetzen – wobei die Entwicklung schließlich in aufwändig gestalteten Blattkachelöfen in Bürger- und Adelshaushalten mündet. Natürlich sind dabei die enormen Differenzen zu beachten, die hinsichtlich der Qualität der Ausführung der Kacheln und der Ofenkonstruktion bestehen können. In Dörfern kommen Kachelöfen dann im 14./15. Jahrhundert und das nur sehr sporadisch vor – außerdem auf einem meist veralteten technologischen Standard.44 Zum symbolischen Wert der Kachelöfen kommt seit der gotischen Raumdifferenzierung und der Nutzung der Stube als öffentlichem Präsentationsraum (wieder in den Städten) ein gesteigerter materieller Wert der Kachelöfen.45 Durch die aufwändige typologische Gestaltung und die polychrome Fassung der Kacheln werden solche Öfen zu einem eindeutigen Mittel zur Repräsentation finanziellen Wohlstands. Diese Entwicklungsreihe veranschaulicht sehr deutlich Emulations- und Imitationsvorgänge, die mit der Funktion von Objekten als Statussymbolen zusammenhängen. Die Kacheln selbst sind darüber hinaus offensichtlich Träger symbolischer Botschaften. Ofenkacheln werden zur allegorischen und teilweise sogar auch zur direkten Selbstdarstellung genutzt. Neben Wappendarstellungen gibt es vielfältige Darstellungen tiergestaltiger Metaphern aus dem Bereich der höfischen Ideale, wie den Löwen als Zeichen der Stärke. Direkte Darstellungen des ritterlichen Lebens (Tjost-, Jagd-, Minneszenen) kommen in Städten vorwiegend aus dem 14. Jahrhundert.46 In der frühen Neuzeit kommen dann die so genannten „Reformationskacheln“ auf, deren Einsatz als Vermittler der Lebenseinstellung und vor allem religiöser Werte eindeutig ist.47 Neben Darstellungen aus der Bibel kommen vor allem Bildnisse von am Schmalkaldischen Krieg beteiligten Fürsten oder von Luther vor.

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Tauber [Anm. 36], S. 402. Hans-Werner Peine, Von qualmenden Herdfeuern und Wandkaminen zu rauchfreien Räumlichkeiten mittels Warmluftheizungen und Kachelöfen. Ein Beitrag zur Ofenkeramik des 12. bis 17. Jahrhunderts in Westfalen. In: Von der Feuerstelle zum Kachelofen - Heizanlagen und Ofenkeramik vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Beiträge des 3. wissenschaftlichen Kolloquiums Stralsund 9.-11. Dezember 1999. Stralsund 2001, S. 43-63; Roth Kaufmann [Anm. 40], S. 479-480. Scholkmann 1984 [Anm. 9]. Roth Kaufmann [Anm. 38], S. 481. Für Bern: Eva Roth Kaufmann u. a., Spätmittelalterliche reliefierte Ofenkeramik in Bern : Herstellung und Motive. Bern 1994, S. 60. Hierzu und zum Folgenden: Pfrommer [Anm. 33].

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Das Thema könnte prinzipiell als Chance für die Mittelalterarchäologie, bzw. für historische Archäologien allgemein aufgefasst werden. Es ist hierfür jedoch ein hohes Maß an interdisziplinärer Kooperation und die Festlegung einer engen, konkreten Fragestellung besonders wichtig. Einzelaspekte mit besonders dichter Überlieferung dürften neue Erkenntnismöglichkeiten für die Archäologie, aber auch für die übrigen mediävistischen Disziplinen eröffnen. Hier ist eine Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven sehr wichtig, die durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit noch fruchtbarer wird. Nur mittels einer gut durchdachten methodischen Vielfalt kann der „Mehrdimensionalität der historischen Erkenntnis“48 genüge geleistet werden. Die Kraft des semiotischen Ansatzes liegt vor allem in der Anwendung neuer Denkmodelle, in der Suche nach einer stringenten Methodik – und in der Schaffung einer gemeinsamen Basis für interdisziplinäre Diskussion und Zusammenarbeit.49

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Barbara Scholkmann, Sachen und Menschen. Der Beitrag der archäologischen Mittelalterund Neuzeitforschung. In: Helmut Hundsbichler, G. Jaritz u. T. Kühtreiber (Hrsg.), Die Vielfalt der Dinge. Neue Wege zur Analyse mittelalterlicher Sachkultur. Wien 1998, S. 63-84, hier S. 79. In diesem Zusammenhang sei noch einmal betont, dass gerade eine methodisch reflektierte Verflechtung mit der Realienkunde, die sich als Zweig der Geschichtswissenschaft versteht, welcher sich auf die Erforschung von Objekten in Schrift- und Bildquellen spezialisiert hat, fruchtbare Ergebnisse liefern dürfte. Innerhalb der Erforschung der Bildquellen ist die Symbolik schon lange ein wichtiger Aspekt: Harry Kühnel, Abbild und Sinnbild in der Malerei des Spätmittelalters. In: Europäische Sachkultur des Mittelalters (Veröffentlichen des Instituts für Realienkunde 4) Wien 1980. S. 83-100.

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Die lokalen Grenzen in Livland im 13. und 14. Jahrhundert. Entstehung und Funktion1

Die lokalen Grenzen in Livland im 13. und 14. Jahrhundert waren bisher noch kein Gegenstand einer Gesamtdarstellung.2 Die Informationen zu diesem Thema waren über mehrere Arbeiten verstreut.3 In keiner dieser Arbeiten haben jedoch die lokalen Grenzen 1

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Die Grundlage dieser Arbeit entstand in den Jahren 2002 – 2004 während eines Forschungsaufenthaltes am Institut für Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin und Institut für Geschichte der Humboldt – Universität Berlin. Für die Unterstützung dieses Forschungsvorhabens bin ich der „ZEIT-Stiftung. Ebelin und Gerd Bucerius“ sehr zu Dank verpflichtet. Für unten zitierte Werke werden folgende Abkürzungen benutzt: AF = Altpreussische Forschungen; APH = Acta Poloniae Historica; AR = Altlivlands Rechtsbücher, hg. v. Friedrich Georg von Bunge, Leipzig 1879; ARS = Akten und Rezesse der livländischen Ständetage, hg. v. Oskar Stavenhagen, Leonid Arbusow jun., Albert Bauer, Bd. I, Riga 1907; BDLG = Blätter für deutsche Landesgeschichte; BL = Baltische Lande. Ostbaltische Frühzeit, hg. v. Albert Brackmann u. Carl Engel. Bd. 1, Leipzig 1939; Heinrich von Lettland = Heinrici Chronicon Lyvoniae, hg. v. Leonid Arbusow u. Albert Bauer, (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum, Bd. XXXI, Hannover 1955; Hoeneke = Die jüngere livländische Reimchronik des Bartholomäus Hoeneke 1315 – 1348, hg. v. K. Höhlbaum, Leipzig 1872; LGU = Livländische Güterurkunden, Bd. I, bearb. v. Hermann von Bruiningk u. Nikolaus Busch, Riga 1908; LUB = Liv-, Est- und Curländisches Urkundenbuch, I. Abt. Bd. 1 – 6, hg. v. Friedrich Georg von Bunge, Hermann Hildebrandt, Philipp Schwarz, Leonid Arbusow, Reval – Riga 1853 – 1914; MittRiga = Mitteilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands, hg. von der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostsee- Provinzen Rußlands. Riga; Zeugenverhör = Das Zeugenverhör des Franciscus von Moliano (1312). Quellen zur Geschichte des Deutschen Ordens, hg. v. August Seraphim, Königsberg 1912; ZfO = Zeitschrift für Ostforschung. Friederich Georg von Bunge, Geschichte des Gerichtswesens und Gerichtsverfahrens in Liv, Est- und Curland, Reval 1874, S. 131ff.; August von Bulmerincq, Die Besiedlung der Mark der Stadt Riga 1201 – 1600, MittRiga 21 (1921), S. 201ff.; Paul Johansen, Siedlung und Agrarwesen der Esten im Mittelalter. Ein Beitrag zur estnischen Kulturgeschichte (Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft, Bd. 23), Dorpat 1925, S. 77ff.; Paul Johansen, Kurlands Bewohner zu Anfang der historischen Zeit. In: BL, S. 290ff.; Gustav Adolf Donner, Kardinal Willhelm von Sabina, Bischof von Modena 1222 – 1234. Päpstlicher Legat in den nordischen Ländern (Commentationes Humanarum Literarum II. 5), Helsingfors 1929;

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einen Hauptgegenstand der Forschungen gebildet, die Historiker haben sich vielmehr auf die Darstellung ihres richtigen Verlaufes konzentriert, ohne die Probleme der Entstehung, Gestaltung, Funktion sowie Wahrnehmung der Grenze durch die lokalen Gemeinschaften anzusprechen. Grundlegende Bemerkungen zum Charakter solcher Grenzen haben lediglich Manfred HELLMANN in seiner Arbeit über das mittelalterliche Lettland, sowie Hans – Werner NICKLIS in seinem bekannten Artikel zum Thema der Grenzidee im Mittelalter gemacht.4 Der vorliegende Aufsatz folgt dem von Guy P. MARCHAL vorgeschlagenen Forschungsansatz. Die Hauptaufmerksamkeit lenkt er auf diejenigen Bereiche, in denen die Landeinteilung nicht nach einem ethnischen, sprachlichen oder religiösen Kriterium verlief, sondern die inneren Grenzen zwei gleichwertige Räume teilten.5 Die lokalen Grenzen werden als ein Kontrollinstrument des Menschen für die Raumordung dargestellt.6 Die besprochenen Fragen werden sich auf Entstehung und Charakter der Grenzen, ihre Terminologie und ihren Rechtswert in der Art beziehen, dass die Frage nach der Rolle der lokalen Grenzen in der Alltagswirklichkeit Livlands im 13. und 14. Jahrhundert beantwortet wird. Die im Jahre 1954 von Manfred HELLMANN aufgestellte These, dass die räumlichen Vorstellungen der an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert nach Livland gekomme-

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Leo Leesment, Die Verbrechen des Diebstahls und des Raubes nach den Rechten Livlands im Mittelalter, Tartu (Dorpat) 1931, S. 68ff.; Albert Bauer, Semgallen und Upmale in frühgeschichtlicher Zeit. In: BL, S. 318ff.; Heinrich Laakmann, Estland und Livland in frühgeschichtlicher Zeit. In: ebd. S. 204ff.; Walter Eckert, Die kurische Landschaft Ceclis. Untersuchungen zur Geschichte des Kampfes um Südkurland zwischen dem Deutschen Orden und Litauen, AF 20 (1943), S. 6ff.; Manfred Hellmann, Das Lettenland im Mittelalter. Studien zur Ostbaltischen Frühzeit und lettischen Stammesgeschichte, insbesondere Lettgallens, Münster/Köln 1954, S. 38ff. – Vgl. Carl von Stern, Livlands Ostgrenze im Mittelalter vom Peipus bis zur Düna, MittRiga 23 (1924 – 1925), S. 195 – 240; Anti Selart, Zur Sozialgeschichte der Ostgrenze Estlands im Mittelalter, ZfO 47 (1998), S. 520 – 543. Das Problem der Grenzen in Ostmitteleuropa behandelt allgemein Hans Jürgen Karp, Grenzen in Ostmitteleuropa während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Grenzlinie aus dem Grenzsaum, Köln 1972. Walter Nicklis, Von der „Grenitze“ zur Grenze. Die Grenzidee des lateinischen Mittelalters (6. – 15. Jahrhundert), BDLG 28 (1992), S. 17f. Guy P. Marchal, Grenzerfahrung und Raumvorstellungen. Zur Thematik des Kolloquiums. In: Grenzen und Raumvorstellungen (11. – 20. Jh.). Frontières et conceptions de l’espace (11e – 20e siècles), hg. v. Guy P. Marchal, Zürich 1996, S. 13. Zum Raum vgl. allgemein Rolf Gehlen, Raum. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow und Karl – Heinz Kohl, Bd. 4, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 377 – 398; Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum (9. Aufl.), Stuttgart, Berlin, Köln 2000 (1. Aufl. 1963), S. 13 – 25, 31 – 44; Henri Lefebvre, The Production of Space, Oxford 2001 (ursprünglich französisch 1974), S. 33, 38f.; Werner Köster, Die Rede über den „Raum”. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1), Heidelberg 2002.

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nen deutschen Ansiedler sich völlig von den analogen Vorstellungen der örtlichen Völker unterschieden, vor allem aufgrund der Tatsache, dass sich die Grenzen bei Letzteren ausschließlich auf die natürlichen Gegebenheiten stützten und die Überwindung von Naturschranken ihrem Denken fremd war, findet mit gewissen Vorbehalten ihre Begründung in den Quellen.7 Man muss dagegen der Feststellung des deutschen Historikers zustimmen, dass die Entstehung der linearen Grenze in Livland erst infolge der deutschen Einflüsse erfolgte. Der Zeitraum von der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert bis ca. 1226 hat eine entscheidende Bedeutung für die Entstehung und Gestaltung der lokalen Grenzen in Livland gehabt. Die Grenzen der den Gegenstand von Verleihungen oder Teilungen bildenden Gebiete stützten sich anfänglich auf die alten Stammesstrukturen und waren nicht genauer definiert. Eine grundlegende Einteilungseinheit war eine Burg, bzw. eine Stück Land zusammen mit den zugehörigen Besitzungen.8 Diese Pertinenzen bildeten mit einem zentral gelegenen Punkt verbundene Gebiete, deren Umfang im kollektiven Gedächtnis eingeprägt war. Das führte dazu, dass eine genaue Beschreibung der Grenzen nicht nötig war. Eine solche Vermutung scheint eine Urkunde aus dem Jahre 1272 zu bestätigen, die erwähnt, dass den Einteilungsgegenstand die Schlösser mit nicht näher bestimmten Grenzen bildeten. Seit 1211 wurden die Burggebiete systematisch durch neue Strukturen ersetzt. Die deutschen Ansiedler bauten neue Burgen und ordneten ihnen die ganzen Gebiete oder auch nur Teile davon nach eigenen Grundsätzen unter. Nur ausnahmsweise kann man in dieser Zeit genauere sich auf den Grenzenverlauf beziehenden Hinweise finden, wie z. B. in der Urkunde des Bischofs Albert von Riga aus dem Jahre 1213, in der er den Erhalt des Schlosses Kokenhusen vom Schwertbrüderorden, sowie einiger Dörfer, die „sich zwischen den Flüssen Eust und Düna befinden“, bestätigt.9 Der Chronist Heinrich von Lettland, dessen Chronik über die Ereignisse in Livland im Zeitraum von der Wende des 12. und 13. Jahrhunderts bis zum Jahre 1227 berichtet, war bei der Beschreibung von Grenzen ungewöhnlich lakonisch.10 Eine ähnliche Erscheinung hat in Bezug auf die Pfarreigrenzen von Livland, in Anlehnung an die ausführlichen Forschungen von H. DOPKEWITSCH, E. KUUJO beobachtet. Seiner Meinung nach beließen die Deutschen, als sie das Pfarreinetz organisierten, die bisherigen Grenzen der einzelnen Gebiete und änderten ihre Struktur nicht. Die Pfarreistruktur habe sich auf die Organisation aus der Zeit vor der Ansiedlung gestützt.11 Zur Pfarrei gehörten bestimmte Dörfer mit ihren Gebieten, aber kein geographisch abge7

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Manfred Hellmann, Das Lettenland im Mittelalter, S. 39. – Vgl. Heinrich Laakmann, Estland und Livland in frühgeschichtlicher Zeit, S. 207 – 212. Ebd., S. 222f. LUB 1, Nr. 38. Heinrich von Lettland, passim. Helene Dopkewitsch, Die Burgsuchungen in Kurland und Livland, MittRiga 25 (1933); E. Kuujo, Die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der Pfarrkirchen in Alt – Livland, Helsinki 1958, S. 35 – 37.

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grenzter Bereich. Eine Ausnahme bildet nur eine Urkunde aus dem Jahre 1248, in der Bischof Nikolaus von Riga die zur Pfarrei Kubezal gehörenden Dörfer erwähnt und gleichzeitig ihre Grenze bestimmt. 12 Die Pfarreigebiete haben mit Sicherheit erkennbare Grenzen gehabt. In einer früheren Urkunde des Bischofs Nikolaus von Riga aus dem Jahre 1234 wird erwähnt, dass jeder Geistliche den Zehnten aus dem Dorf „bis zu Grenzen seiner Gemeinde“ erhalten soll.13 Die Urkunde aus dem Jahre 1240 erwähnte „fines parochiae“.14 Im 13. und 14. Jahrhundert fehlten jedoch jegliche Abgrenzungen zwischen den Pfarreien. Ein solches Zeugnis stammt erst aus dem 15. Jahrhundert aus Gebieten des Bistums Ösel – Wieck. Diese mangelnde Genauigkeit in der Beschreibung der Grenzen spiegelt vor allem ein niedriges Niveau der Bewirtschaftung in einem bestimmten Bereich wider. Bis zu den Zwanzigerjahren des 13. Jahrhunderts befanden sich in einer solchen Situation das Gebiet in der Umgebung von Düna und die von lettischen Stämmen bewohnten Gebiete, sowie in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Gebiete von Kurland.15 Es scheint, dass angesichts einer schwachen Besiedelung und einer relativ niedrigen Zahl von Lehensverleihungen genau abgesteckte Grenzen anfänglich nicht nötig waren. Die Grenzen der einzelnen Gebiete berührten sich nicht, es gab also keine Grenzkonflikte und keine Notwendigkeit ihrer genaueren Markierung. Erst im Laufe der weiteren wirtschaftlichen Erschließung, als immer weniger Gebiete ohne Eigentümer blieben und die Grenzen sich einander anzunähern begannen, wurde eine genaue Grenzziehung eine brennende Notwendigkeit.16 Zu Abgrenzungen kam es meistens, nicht zufällig, auf einem Gebiet, wo die wirtschaftlichen Interessen von drei Besitzern zusammentrafen. 1225 führte das Fehlen einer genau abgesteckten Grenze der Mark von Riga zu Konflikten und im Endeffekt zu einer genauen Grenzziehung gegenüber den benachbarten Gütern des Bischofs Lambert und des Klosters in Dünamünde.17 Im Laufe der Fortschritte der Bewirtschaftung von Gebieten haben sich die neu abgesteckten Grenzen den schon vorher bestimmten Grenzen angenähert. Solche Prozesse 12

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LUB 1, Nr. 198: Termini huius parochiae sic extenduntur in longitudine a rivo Vitemiske usque ad mare; in latitudine a rivo Tarvisiuge usque ad Coivam. LUB 1, Nr. 135: Praeterea in singulis parochiis ibidem limitandis praebenda de decimis providebitur sacerdoti. LUB 1, Nr. 168. Philipp Schwartz, Kurland im dreizehnten Jahrhundert bis zum Regierungsantritt Bischof Emund’s von Werd, Leipzig 1875, S. 60ff.; Heinz von zur Mühlen, Livland von der Christianisierung bis zum Ende seiner Selbständigkeit (etwa 1185 – 1561). In: Baltische Länder, hg. v. Gert von Pistohlkors (Deutsche Geschichte im Osten Europas), Berlin 1994, S. 64ff. Hermann von Engelhardt, Beitrag zur Entstehung der Gutsherrschaft in Livland während der Ordenszeit, Leipzig 1897; Manfred Hellmann, Das Lettenland im Mittelalter, S. 225ff., 231ff. August von Bulmerincq, Die Besiedlung der Mark der Stadt Riga, S. 201; Wolfgang Schmidt, Die Zisterzienser im Baltikum und in Finnland, Helsinki 1941 (Suomen kirkkohistoriallisen seuran vuosikirija [Jahrbuch der Finnischen Gesellschaft für Kirchengeschichte] XXIX – XXX 1939 – 1940, S. 37ff.

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kann man auf in beträchtlichem Maß umgestalteten und geteilten Gebieten beobachten. Die Grenzen der Mark von Riga haben sich 1226 auf die Grenzen der Güter des Klosters in Dünamünde, 1272 auf die des Johannes von Dolen,18 und 1276 auf die des Dorfes Putelene,19 gestützt. Eine natürliche Folge dieses Prozesses war im Livland des Zeitraums von ca. 1225/1226, das Auftreten der linearen Grenze, als einer zwei voneinander entfernte Punkte verbinden Linie, was in den Urkunden mit der Formel „recta linea“, „directa linea“, „linealiter et directe“, „snorrecht“, „allirgerichteste“, „linenrecht“, „transversive“ bezeichnet wurde.20 Die Grenzen stützten sich nicht mehr ausschließlich auf die Elemente der natürlichen Umgebung, sondern fingen an, diese zu durchschneiden. Die Grenzschneisen führten nicht nur an Flüssen entlang, bis zu den Wäldern,21 Seen 22 oder zum Meer23 sondern auch durch einen Fluss 24 oder Wald 25 hindurch. In diesen zwei Erscheinungen muss man die größten qualitativen Änderungen sehen, die in der Entwicklung der lokalen Grenzen in Livland im 13. und 14. Jahrhundert eingetreten sind. Die in dieser Zeit entstandene Form der Grenze bildete ein Muster, das unverändert bis zum Ende des Mittelalters existierte. Den führenden Grenztyp bildete anfänglich die Zonengrenze, die allmählich durch die lineare Grenze ersetzt wurde. Das Gebiet des Bischofs von Kurland trennte jedoch vom Besitz des Deutschen Ordens 1392 noch ein ungeteilter Wald.26 In einer Zeit, als die Schreibkenntnisse nur für wenige zugänglich waren, wurde die Prozedur der Grenzenabsteckung mit einem System von Riten versehen, welche die Rekonstruktion ihres Verlaufes leichter machten. Die Grenzziehung hatte einen öffentlichen Charakter gehabt, so bestimmte man z. B. 1253 bei der Teilung von der Burg Memel die Grenzen im Beisein von Zeugen.27 Die Grenze sollte im Bewusstsein von Leuten bleiben, die im Falle von Grenzstreitigkeiten ihren Verlauf bestätigen konnten. 1259 fragte man nach dem Grenzverlauf einen

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LUB 1, Nr. 431: usque ad terminos domini Johannis de Dolen. LUB 1, Nr. 447. LUB 1, Nr. 78, 80, 153, 450, 783; LUB 3, Nr. 560a, 891a, 1080, 1319. – Vgl. Hans Jürgen Karp, Grenzen in Ostmitteleuropa, S. 28; Hans – Werner Nicklis, Von der ,Grenitze’ zur Grenze, S. 17. LUB 1, Nr. 265: ad silvam, que Vere dicitur. LUB 1, Nr. 56: silvam incultam de Dwina usque ad aquam Australem, Nr. 70: usque Astyerwe, Nr. 450: usque ad Memelam. LUB 1, Nr. 76: usque in mare; 466: bet an dat Soldemeer; 543: ad mare salsum. LGU 1, Nr. 78: eundo fere per medium; LUB 1, Nr. 80: per medium fluminis, per ripam aquae, per rivulum, flumen Semigallorum, quae linea per medium dividatur, 3, Nr. 560a: per ascensum, Nr. 1131: per eundem rivum sive flumen Laszge ascendendo. LGU 1, Nr 78: per mericam et paludem; LUB 1, Nr. 80: per mericam; 3, Nr. 891a: ad nemus. Vgl. Arnold Schwabe, Grundriss der Agrargeschichte Lettlands, Riga 1928, S. 49. LUB 1, Nr. 245: signa, quae facta sunt prasesentibus viris provida et discretis.

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lokalen Pfarrer.28 1359 während eines Konfliktes zwischen der Stadt Riga und dem dortigen Kapitel bezüglich des Umfanges der Stadtmark, holte man einen Liven, der Augenzeuge der Grenzenabsteckung gewesen war. Er erklärte, dass er sich noch erinnere, dass in dem Zeitraum, als der Vogt des Erzbischofs ein gewisser Meynard war, ein Ratsherr aus Riga, Heinrich Trolow, die Grenze der städtischen Mark bestimmt habe „indem er die Nägel in die Bäume schlug - so dass man die noch heute sehen kann“.29 Die Grenzziehung erfolgte durch ein spezielles Verfahren, manchmal mit außergewöhnlichem Charakter.30 1232 empfahl der Stadtrat von Riga den an das Stadtpatrimonium grenzenden Grundbesitzern, dass sie nach der Abmessung wahrscheinlich im Beisein von Zeugen die Richtigkeit der Grenze feststellen sollten, indem sie folgendes sagten: „hic meus proprius ager terminatur“.31 Zu den konventionellen Mitteln gehörte das Bereiten oder Umgehen von Grenzen. Zwischen 1275 und 1285 beritt der Bischof von Ösel Herman zusammen mit dem Gemeindevorsteher und dem Statthalter des dänischen Königs die Grenze zwischen dem Bistum Ösel – Wiek und den Gebieten des dänischen Königs.32 1323 bestätigte der Bischof von Ösel den Umfang des Weichbildes der Stadt Hapsal, indem er die Grenzen im Beisein von vielen Zeugen beritt. 1292 besichtigte der Erzbischof von Riga zusammen mit dem Meister die strittigen Güter.33 Eine Urkunde aus dem Jahre 1234 enthält die Information, dass die Grenze „da anfängt, wo das vorige Gebiet endet“,34 in solchen Fällen verlangte die Grenzziehung nach der Feststellung einer genauen und unangefochtenen Wahrheit, die sich auf Wissen und Gedächtnis stützte. Deren Träger waren meistens die ältesten Einwohner in der Gegend. 1211 wurden Letthia und Schloss Kokenhusen von den Ältesten dieses Gebietes, nachdem sie sich „einen Rat bei klugen Männern geholt hatten“ („communicato prudentium virorum consilio“), in drei Teile geteilt.35 Ähnlich war es auch 1224, als die Gebiete von Tolowa zwischen dem Kloster und dem Bischof von Riga geteilt wurden. 36 1234 wurde Ösel zwischen dem Bischof von Riga, Nikolaus, Meister Volkwin und Bürgern von Riga durch drei Menschen, denen „die Lage und Zustand des geteilten Gebietes bekannt war“, 28

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Max Perlbach, Urkunden des Rigaschen Capitel – Archives in der Fürstlich Czartoryskischen Bibliothek zu Krakau, MittRiga 13 (1886), S. 20 – 23. LUB 3, Nr. 966a. Vgl. Hans – Werner Nicklis, Von der ,Grenitze’ zur Grenze, S. 20. LUB 1, Nr. 114. LUB 3, Nr. 439b: equitavit disterminium. – Vgl. Friedrich Georg von Bunge, Das Herzogtum Estland unter den Königen von Dänemark, Gotha 1877; Thomas Riis, Die Administration Estlands zur Dänenzeit. In: Die Rolle der Ritterorden in der mittelalterlichen Kultur, hrsg. v. Zenon Hubert Nowak, Toru% 1985 (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica. 2), S. 117 – 127. LUB 1, Nr. 544. LUB 1, Nr. 139. LUB 1, Nr. 18. LUB 1, Nr. 70.

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geteilt.37 1291 teilten der Komtur Gottfried und der Bischof von Kurland Edmund von Werd ihre Gebiete mit Hilfe von Kuren, „denen die Teilungen von Gebieten bekannt waren“.38 In einem Konflikt zwischen dem Bischof von Kurland und dem Kapitel von Riga stellte man 1310 fest, dass sich die Kuren hinsichtlich der Grenzen der beiden Güter nicht einig waren. Man vereinbarte jedoch letztendlich, dass die Absteckung der richtigen Grenze eines Dorfes durch die ältesten und vertrauenswürdigsten Einwohner von Dondagen durchzuführen sei.39 Die Urkunden informieren vereinzelt über die unmittelbare Ursache, die zur Absteckung einer Grenze geführt hat. Die Prozedur der Grenzziehung betraf vor allem die bisher noch nicht geteilten Gebiete. Eine solche Bemerkung wurde in der Urkunde bezüglich der Teilung der Gebiete von Kurland aus dem Jahre 1253 gefunden.40 Außerdem führte man Grenzabsteckungen durch, um Streitigkeiten aus einer gemeinsamen Benutzung zu vermeiden, so z. B. 1213 bei der Teilung der Gebiete zwischen dem Orden und dem Bischof von Riga, 41 - sowie um die Zonen gegenseitiger wirtschaftlicher Einflüsse genau zu bestimmen. 1225 führte man etwa die Bezeichnung der Grenze zwischen der Stadtmark von Riga und dem Gebiet des Bischofs von Semgallen, Lambert, auf Wunsch des letzteren, durch. Der Bischof hatte sich bei dem päpstlichen Legaten beklagt, dass er durch die Bürger wegen des Schlosses Babat und seines Bezirkes beunruhigt werde.42 1224 wurde die Teilung aufgrund einer Verordnung des Papstes vorgenommen.43 Über die Zugehörigkeit der geteilten Gebiete entschied in Livland das Los. Auf eine solche Weise ermittelte man im Jahre 1211/1212 die Besitzer der Gebiete des geteilten Lettgallens. Auf jeder von drei einzelnen Karten trug man den Namen des Gebietes ein, die dann von einer des Schreibens unkundigen Person gezogen wurden. Zwei der auf diese Weise verlosten Gebiete fielen dem Bischof zu, eines dagegen dem Schwertbrüderorden.44 Eine ähnliche Methode wurde 1254 angewandt, als der Erzbischof Albert Semgallen,45 sowie die Gebiete von Upmale46 teilte. Diese Methode war ziemlich lange 37

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LUB 1, Nr. 139: Altera pars erit Horele, Mone et trecenti unci de Kiligunde, qui incipient numerari, ubi praedicti centum unci terminati. – Vgl. Friedrich Benninghoven, Der Orden der Schwertbrüder. Fratres Milicie Christi de Livonia, Köln/Graz 1965 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart. 9), S. 302ff. LUB 1, Nr. 450. LUB 2, Nr. 629. LUB 1, Nr. 249. LUB 1, Nr. 38. LUB 1, Nr. 76. – Vgl. Gustav Adolf Donner, Kardinal Wilhelm von Sabina, S. 122ff. LUB 1, Nr. 70. LUB 1, Nr. 23, 70. LUB 1, Nr. 264. LUB 1, Nr. 265. – Vgl. Albert Bauer, Semgallen und Upmale in frühgeschichtlicher Zeit, S. 318ff.

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im Gebrauch, das letzte Mal kam sie wahrscheinlich 1392 zur Anwendung. In Memel trafen sich damals der Bischof von Kurland Otto und der Hochmeister des Deutschen Ordens Konrad von Wallenrode, und das Hauptthema der Begegnung waren jene Gebiete, die bisher nicht geteilt worden waren. Man beschloss, dass jede der Parteien zur Durchführung der Teilung vier Personen mit entsprechenden Vollmachten delegierte, welche die noch ungeteilten Gebiete besuchen sollten, um diese in drei Teile zu teilen. Dann sollten die beiden Parteien ihre Vertreter nach Memel schicken, um jeden Teil zu verlosen. Bei Missachtung der angenommenen Beschlüsse drohte der Verlust des zustehenden Gebietes.47 Die Grenzziehung verlieh den in den Urkunden eingetragenen Bestimmungen Ewigkeitscharakter. Man verwandte die Formel „in perpetuum“.48 In einer Urkunde aus dem Jahre 1314 wurde darauf hingewiesen, dass zur Vermeidung von eventuellen Zweifeln die Urkunde mit den Siegeln des Bischofs und der Ritter, die über den Streit entschieden hatten, versehen wurde. Die Grenzen sollten echt, unwiderruflich und sicher sein.49 Die genauen Beschreibungen der Grenzen, die in Livland in den Jahren 1225/1226 erschienen, erlauben es, ein Verzeichnis der Orientierungspunkte zu erstellen, die zur Bestimmung des Grenzverlaufs benutzt wurden. Ryszard KIERSNOWSKI hat, als er die Grenzzeichen im mittelalterlichen Polen klassifizierte, unterschieden zwischen den Verlauf einer Grenze bestimmenden Elementen und bestimmten Elementen, deren Lage ausschließlich vom Willen des Menschen abhängig war. 50 Die Grenzen stützten sich anfänglich vor allem auf die bestimmenden Elemente, die mit der Topographie verbunden waren. Bei der Widergabe eines Grenzverlaufs bezog man sich auf die Beschreibung des Geländes, seine charakteristischen Zeichen und Formen, sowie auf die gewohnheitsmäßig bestimmten Gebietsnamen. In den Beschreibungen der Grenzen der Mark von Riga aus dem Jahre 1225 und 1226 werden das Meer, Flüsse, Bäche, Sümpfe, Wälder und Seen erwähnt.51 Eine große Bedeutung hatten Bäume, meistens die Eichen, auch Tannen und sogar die Birnbäume. Daneben erschienen Elemente der Kulturlandschaft, z. B. Wege, Mühlen oder Deiche.52 Bei der Grenzziehung benutzte man bestimmte Elemente, d. h. künstlich vom Menschen gebildete Orientierungspunkte. Dazu gehörten in Bäume und Steine eingeschnittene,

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LUB 3, Nr. 1316. Bronis&aw Geremek, Poczucie przestrzeni i )wiadomo)' geograficzna [Raumwahrnemung und Geographiebewusstsein]. In: Kultura Polski )redniowiecznej [Kultur mittelalterlichen Polens], S. 637ff. LUB 2, Nr. 652. Ryszard Kiersnowski, Znaki graniczne w Polsce )redniowiecznej [Grenzzeichen im mittelalterlichen Polen], Archeologia Polski [Archeologie Polens] 5 (1960), S. 289ff. LUB 1, Nr. 76. LUB 1, Nr. 80, 450, 872, 890, 894, 896; ebd. 2, Nr. 957. – Vgl. Hans Jürgen Karp, Grenzen in Ostmitteleuropa, S. 126f., 137f., 143f.; Hans – Werner Nicklis, Von der ,Grenitze’ zur Grenze, S. 19.

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sowie freistehende Kreuze. 1234 ließ der Bischof von Dorpat Herman zur besseren Bezeichnung der Grenze mit dem Orden ein Kreuz aufstellen.53 In der Beschreibung der Grenzen der der Stadt Goldingen von dem Meister von Livland Goswin von Herike verliehenen Gebiete findet man am Fluss stehende Steinkreuze. 54 1318 wurden in der Grenzbeschreibung Steine mit eingeschnitzten Kreuzen,55 1320 in Bäume eingeschnittene56 und 1338 freistehende Kreuze erwähnt.57 Diskutabel ist jedoch, ob die genannten Kreuze mit der christlichen Symbolik verbunden waren.58 Zwischen 1275 und 1285 bescheinigten Bischof Herman und der Hauptmann von Reval den Verlauf der Grenze zwischen Harrien und Wieck. Als Symbol der Zugehörigkeit zu dem Geistlichen wurde in einen Baum ein Bischofsstab eingeschnitten.59 In einem anderen Falle wurden die Grenzen der Bischofsgebiete mit einem Baum mit einer geschnitzten Lilie markiert.60 1310 wurden in der Beschreibung der Güter des Bischofs von Kurland sowie des Kapitels von Riga Bäume mit eingeschnittenen Lilien und einem Kreuz erwähnt.61 Eine sehr populäre Form der Bezeichnung von Grenzen waren in Livland Hügel aus aufgeschütteten Steinen, sowie mit Steinen gefüllte Gruben, z. B. 134762 sowie 1386.63 Ein ungewöhnlich interessantes Beispiel der Grenzbezeichnung kommt aus dem Jahre 1387. Als die Deutschordensbrüder die Grenze der erzbischöflichen Güter verschoben, zerstörten sie die bisherigen Markierungen und schnitten neune Zeichen ein. An bestimmten Bäumen machten sie als Zeichen des Ordens ein Kreuz, für den Bischof einen Bischofsstab, für den Komtur von Windau ein Horn und für den Komtur von Goldingen drei Kerben.64 Ein wichtiges Element der Grenzbeschreibung waren im kollektiven Gedächtnis der Einwohner gebliebene Orte, die sich auf lokale Ereignisse bezogen.65 In der Beschreibung der Grenze der Mark von Riga aus dem Jahre 1226 findet man als ein den Verlauf der Grenze bestimmendes Element „mons aquillae, quod aquilla nidificat ibi“ und „lo53

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LUB 1, Nr. 140: Ad maiorem evidentiam termini praecipimus ab utroque littore crucem adponi. LUB 2, Nr. 957. LUB 2, Nr. 662. LUB 2, Nr. 672. LUB 2, Nr. 783. Bronis%aw Geremek, Poczucie przestrzeni i 'wiadomo'& geograficzna, S. 641. LUB 3, Nr. 439b. – Vgl. Nikolaus Busch, Geschichte und Verfassung des Bistums Ösel – Wieck bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, T. I: Geschichte des Bistums bis 1337, Riga 1934, S. 44. LUB 3, Nr. 1248. – Vgl. Hans – Werner Nicklis, Von der ,Grenitze’ zur Grenze, S. 19. LUB 2, Nr. 629: ad duas arbores signo lilii et crucis signatas. LUB 2, Nr. 872. LUB 3, Nr. 1236. LUB 3, Nr. 1248. Jacek Banaszkiewicz, L’affabulation de l’Espace. L’exemple médiéval des frontières, APH 45, 1982, S. 5 – 28.

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cum, ubi dicitur lingua“ erwähnt.66 In einer anderen Beschreibung wurden „molendinum Kirrevere, quondam domini Odvardi de Loden submersi“, „locum Esto diocesis, nomine gaudens de Cokenmede, obtinuit iudicio candentis ferri“ oder „flumen Sawoia, quod quandoque solet desiccari“ genannt.67 Einen ähnlichen Charakter hatten Orte, die mit ihrer Einmaligkeit auf sich aufmerksam machten, wie „in loco, ubi dicebatur arbor sancti Nicolai“, „quercum combustum“, „duas abietes quasi coniunctas“, „pinum, qui est inter duos montes“,68 „siccam arborem“,69 „der hoge enes berges, de dat hoge hoved genomet ist“70 oder ein besonders großer Stein.71 1226 erließ der päpstliche Legat Wilhelm von Modena eine Verordnung zur Entscheidung von Grenzstreitigkeiten innerhalb der Stadtmark von Riga. Über die Streitfälle sollten drei Richter entscheiden, die der Bischof von Riga, der ortsansässige Pfarrer und der Meister des Schwertbrüderordens bestimmten.72 Die Parteien mussten gleichzeitig geloben, dass sie sich der erlassenen Verordnung unterordnen würden. Eine das Urteil in Frage stellende Partei war verpflichtet, eine Geldstrafe zu zahlen und wurde zugleich exkommuniziert.73 Die Richter sollten in ihrem Verhalten ehrlich sein, und ihre Entscheidung war erst dann gültig, wenn sich zwei von den drei Richtern dafür aussprachen.74 Die Praxis erlaubte es jedoch, die Prozedur bald zu ergänzen. 1226 verpflichteten sich im Streit zwischen dem Abt des Klosters in Dünamünde und den Bürgern von Riga, den man den gewählten Richtern zur Entscheidung überließ, die beiden Parteien dazu, im Falle eines Verstoßes gegen die Entscheidung eine Strafe in Höhe von 10 Mark Goldes zu zahlen.75 Eine Norm war die Berufung von Zeugen, die den Verlauf der Grenze bestätigen sollten. Hierzu kam es schon früher, im Jahre 1225, als Wilhelm über einen Grenzstreit zwischen dem Bischof Lambert und der Stadt Riga entschied.76 In einem weiterem Streit zwischen dem Bischof Leal Herman und dem Schwertbrüderorden, in dem 1226 der Legat Wilhelm entschied, verleugneten sich die bestellten Zeugen gegenseitig. Die Zweifel bezogen sich darauf, ob die drei strittigen Gebiete zu Sakkala gehörten, das Eigentum des Bischofs war, oder zu Ugania, das der Orden besaß. Beide Parteien behaupteten, dass 66 67 68 69 70 71 72

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LUB 1, Nr. 78. LUB 3, Nr. 439b. LUB 1, Nr. 80. LUB 1, Nr. 245: ad siccam arborem. LUB 3, Nr. 1080. LUB 2, Nr. 686, 783. – Vgl. Gustav Adolf, Kardinal Wilhelm von Sabina, S. 124. LUB 1, Nr. 79, 86 – Vgl. Friedrich Georg von Bunge, Einleitung in die liv-, esth- und curländische Rechtsgeschichte und Geschichte der Rechtsquellen, Reval 1849, S. 104; ders., Geschichte des Gerichtswesens und Gerichtsverfahrens, S. 131ff. LUB 1, Nr. 86. LUB 1, Nr. 85: ut si tertius a duobus requisitus fortasse noluerit vel non poterit interesse, nihilominus ratum duorum iudicium habeatur. LUB 1, Nr. 79. LUB 1, Nr. 76.

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sich die erwähnten Gebiete in den Grenzen ihres Eigentums befänden. Der Legat analysierte außer den Zeugenaussagen auch die ihm von beiden Parteien vorgelegten Urkunden. Dabei stellte er fest, dass die erwähnten Gebiete zum Orden gehörten, da sie in Sakkala lagen, welches Eigentum des Ordens war.77 Die vom Legaten Wilhelm bestimmte Prozedur der Streitlösung hat man in Livland noch am Ende des 14. Jahrhunderts angewandt, z. B. 1383 im Streit zwischen der Stadt Riga und dem hiesigen Kapitel.78 Die drei gewählten Richter wurden sowohl vom Erzbischof von Riga als auch vom Orden angenommen. Die Voraussetzung für ihre Tätigkeit war das Ablegen des Eides, da dies eine der Parteien verlangt hatte. Die Richter wurden darauf vereidigt, dass sie nach bestem Wissen aufgrund der erwähnten Verordnungen handeln würden. 1325 erinnerte der Erzbischof Vromhold von Fifhusen daran, dass schon die bloße Tatsache einer Verletzung der vom Legaten Wilhelm bestimmten Grenzen zur automatischen Exkommunikation führte.79 Die Verordnungen des Legaten Wilhelm aus dem Jahre 1226 wurden den Vorschriften des Ritterrechtes von Livland, die für Grenzstreitigkeiten zwischen zwei Dörfern galten, angefügt.80 Konnten zwei Besitzer eines Dorfes den Streit nicht gütlich zu Ende bringen, so berief der Bischof, als Herr des Landes, auf Kosten der Dörfer aus seinen Lehnsleuten drei unabhängige Richter. Sie sollten aufgrund der unter Eid von den Nachbarn gemachten Aussagen entscheiden, welche der Parteien das ältere Recht auf das strittige Eigentum habe. Das genannte Recht wurde der Partei gegeben, die ihre Argumente mit sieben vereidigten Zeugen unterstützen konnte. Waren sich zwei der drei Richter in Bezug auf die Frage der Entscheidung einig, so musste der dritte Richter diese Entscheidung annehmen. Hatten zwei Parteien das gleiche Recht auf die Gebiete, so entschied die Eisenprobe.81 77

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LUB 3, Nr. 87a. – Vgl. Georg Rathlef, Das Verhältnis des livländischen Ordens zu den Landesbischöfen und zur Stadt Riga im dreizehnten und in der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, Dorpat 1875, S. 2ff, 37ff. LUB 3, Nr. 1190 – 1191, 1196. LUB 1, Nr. 61; 2, Nr. 710. AR, S. 91 – 94. – Vgl. Gustav Adolf Donner, Kardinal Wilhelm von Sabina, S. 124. Ebd., S. 93: Kiven twe dörpe umb ere schedinge, und konnen se ere heren nicht scheden, so sende de bischop der des stichtes manne to, de mit dem kive nicht to doende hebben, up ere kost, de schollen sik befragen mit den umbsaten, we de erste were darinne hebbe gehat van olders jar unde dach edder lenger, ane rechte bisprekinge, dat schollen se betügen mit eren waren wörden, und bi den truwen, de se Gade und erem heren schuldich sin. Wem se de were denne to delen, und also verne als se em to delen, also verne mach he des dorpes here sin, were und sine stede beholden up den hiligen mit sinen eden sülf sövende. Mögen överst de der, de de bischop darhen gesandt heft, nicht aver ein dregen, wor denn de twe tovallen, dar schal de drüdde mede volgen. Hebben överst de beide dörpe allike recht were daran, so drege man dat iser darup: welker siden idt Godt denne gift, de beholdt idt; werden se överst beide schyr, so dele man dat landt; bernen se sik överst beide, so schal men aver dat landt delen. – Vgl. Friedrich Georg von Bunge, Geschichte des Gerichtswesens und Gerichtsverfahrens, S. 132f.

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Die beschriebene Schiedsgerichtsbarkeitsprozedur war nicht das einzige Verfahren, das man in Livland in der Frage von strittigen Grenzen anwandte. 1253 wurde in Kurland bestimmt, dass, wenn es zu einem Streit über die Gebietsgrenzen käme, darüber die ältesten und vertrauenswürdigsten Einwohner des Landes entscheiden sollten, und wenn auch diese das Problem nicht lösten, so solle das strittige Gebiet durch die Brüder in drei Teile geteilt werden, wobei einen Teil der Bischof und die zwei weiteren der Orden wählen solle.82 1295 kam es zu einem Grenzstreit zwischen dem Zisterzienserorden in Falkenau und dem Deutschen Orden.83 Der Abt, der Prior und zwei Zisterzienser besuchten den strittigen Ort gemeinsam mit einem Bruder des Deutschen Ordens namens Gottfried, dem Vogt Weigele und seinen Begleitern. Sie hörten die von beiden Parteien berufenen Zeugen an, und stellten dann den Verlauf der in der Vergangenheit bestimmten Grenze wieder her. 1314 entschied der Komtur Weissenstein Reimar einen langjährigen Streit zwischen dem Bischof von Reval und dem Kloster Padis durch die von beiden Parteien bestellten Richter. Unter diesen befanden sich die örtlichen Ritter. 84 In einer Urkunde aus dem Jahre 1359 ist ein Bericht über den Verlauf eines Grenzstreits zwischen der Stadt Riga und dem dortigen Domkapitel enthalten. Man bestellte Zeugen, darunter einen Liven.85 1383 hat man darauf hingewiesen, dass zur Entscheidung über den Streit bezüglich des Landes drei Richter berufen wurden.86 Manche Grenzkonflikte wurden auch gütlich, ohne Anwendung einer komplizierten Prozedur beigelegt. 1338 legten der Bischof von Kurland und der Meister von Livland Eberhard von Munheim alle bisherigen Grenzstreitigkeiten bei und bestimmten die Grenzen zwischen ihren Gebieten genau.87 Diebstahl oder Zerstörung einer Grenzmarkierung galten im Mittelalter als Straftaten.88 Die Sammlungen der in Livland angewandten Rechte enthielten sich auf diese Art von Verbrechen beziehende Vorschriften.89 Das Landrecht von Livland bestimmte für das Entfernen von Grenzbäumen oder die Beseitigung von Grenzsteinen eine Strafe in Höhe 82

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LUB 1, Nr. 249: Si vero in distinctionibus terminorum inter terras et terras, castellaturas et castellaturas, orta fuerit dissensio, per seniores et discretiores terrarium earundem, ubi sita fuerint, terminentur, et si praedicti seniores de praedictis terris dubitaverint vel concordare non potuerint, terram, de quo lis est, fratres dividant in tres partes, de quibus nos unum, quam voluerimus, eligemus, reliquae duae fratribus remanebunt. – Vgl. Helene Dopkewitsch, Die Burgsuchungen in Kurland und Livland, S. 9ff.; Walter Eckert, Die kurische Landschaft Ceclis, S. 14ff. LUB 3, Nr. 560a. – Vgl. Wolfgang Schmidt, Die Zisterzienser im Baltikum, S. 131ff. Vgl. Wolfgang Schmidt, Die Zisterzienser im Baltikum, S. 66ff. LUB 3, Nr. 966a. LUB 3, Nr. 1190. LUB 2, Nr. 783. Allgemeine Vorschriften zum Problem wurden während der Ständetage verhandelt. Siehe AR I, S. 84 – 86. Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Bd. 2: Die einzelnen Verbrechen, ND (der Ausg. 1920/1935) Aalen 1964, S. 285ff. Leo Leesment, Die Verbrechen des Diebstahls, S. 68ff.

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von 9 Mark sowie eine Entschädigung für die zugefügten Schäden.90 Eine relativ niedrige Strafe kann darauf hinweisen, dass der Kodifikator eine Grenze im Sinn hatte, die relativ leicht zu erkennen und wiederherzustellen war. Das Recht der Bauern in Kurland sah für die Zerstörung der Grenze eine Strafe von 6 „oseringe“ vor.91 Das Recht der Esten in Wieck setzte dagegen für die Zerstörung des Grenzzaunes 4 Mark fest.92 Am strengsten wurde das Verbrechen durch das Bauernrecht in Livland behandelt, das für einen Diebstahl einer Grenze zwischen privaten Gütern die Todesstrafe vorsah.93 Es fehlen Informationen über die Anwendung dieser Vorschriften in der Praxis des 13. und 14. Jahrhunderts. 1297 zerstörten die Deutschordensbrüder die Grenze der Güter des Bistums Ösel – Wieck. Aus dem Jahre 1387 stammt die Information, dass damals die Deutschordensbrüder die Grenzzeichen verschoben, die den Umfang der Güter des Kapitels von Riga in Kurland bestimmten.94 In der Grenzterminologie spiegelte sich der Prozess der Charakterveränderung der lokalen Grenzen wider. Anfänglich in den Urkunden herrschten die Begriffe „terminus“ 95 und „confinium“96 vor. Heinrich von Lettland wandte ausschließlich die Begriffe „confinium“ und „fines“ an.97 Um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert erschienen weitere solche wie „distinctio“,98 „terminatio“,99 „disterminium”, 100 „frontaria“,101 „limites“,102 „schedunge“,103 „termten“.104 Der Begriff „granicias“ wurde in der lateinischen Form zum ersten Mal 1312 in den Zeugenaussagen im Prozess von Riga vor Franz de Moliano erwähnt.105 Die deutsche Form dieses Wortes „grentze“ erschien in der Chronik des Bartholomäus Hoeneke, 106 die wahrscheinlich in der Hälfte des 14. Jahrhunderts abgefasst 90

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AR, S. 124: […] houwet he malböme, edder greft he stene up, de to markstenen gesettet sin, de mot IX. mark lantgudes geven, den schaden gilt he up ein recht. – Vgl. Leo Leesment, Die Verbrechen des Diebstahls, S. 70. Die altlivländischen Bauerrechte. Neu herausgegeben v. Leonid Arbusow. Mit einem Anhang von Urkunden, MittRiga 23 (1924/1926), S. 43: So dar jemand scheedinge breckt twüschen ackern, 6 oseringe. Leo Leesment, Die Verbrechen des Diebstahls, S. 89. Ebd., S. 69ff. LUB 3, Nr. 1248. LUB 1, Nr. 18, 70, 76, 265, 288, 432, 447, 543; 3, 475a, 498a. LUB 1, Nr. 23, 76. Heinrich von Lettland, S. 25, 58 – 59, 63 – 64, 69, 82 – 83, 86, 92, 113 – 114, 117, 138, 157 – 159, 167, 175 – 177, 183 – 184, 191 – 192, 197. LUB 1, Nr. 543. LUB 2, Nr. 652. LUB 3, Nr. 439b. Zeugenverhör, S. 106: granicias combusserunt. LUB 3, Nr. 498a, 560a. LUB 1, Nr. 783, 896; 3, 439b. LUB 1, Nr. 783. Zeugenverhör, S. 57. Hoeneke, S. 9 – 10.

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wurde.107 Sie bezieht sich aber auf die äußere, deutsch – russische Grenze. In einer Urkunde erschien das Wort „grenitze“ in dem Jahre 1392.108 Das Verfahren der Grenzenabsteckung wurde als „terminatio“,109 „dirimi et terminari fines“110 bezeichnet. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Veränderungen im Zeitraum um die Wende vom 12. bis zu den zwanziger Jahren des 13. Jahrhunderts die entscheidende Rolle für die Entstehung der Grenze in Livland gespielt haben. Die schwer erkennbare und bald strittige Zonengrenze wurde verhältnismäßig rasch durch die lineare ersetzt. Dieser Prozess hing aufs Engste mit der Absonderung der Herrschaften und der zunehmenden Bewirtschaftung des Landes zusammen, die sich in einer Grenzberichtigung niederschlug. Die alten Strukturen von Livland wurden allmählich durch das neue räumliche Gefüge verdrängt. Um die abgesteckte Grenze zu sichern, erschien in der Urkunde die präzise Grenzbeschreibung. Die Fortschritte in der Bewirtschaftung des Landes äußerten sich kurz danach in der künstlichen Markierung der Grenze.

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Zur Person des Verfassers siehe ebd., S. XIVff. LUB 3, Nr. 1319. LUB 2, Nr. 652. LUB 3, Nr. 87a.

Sektion 2: Grenzen der Gesellschaft

HEIKE JOHANNA MIERAU

Gerüchte als Medium der Grenzüberschreitung im Bonifaz-Prozeß

Gerüchte sind in ihrer ursprünglichen Form des Gesprächs von „Ohr zu Ohr“ ein Medium der Nähe, das keine Grenzen kennt. Nicht erst seit Vergil, seither aber unüberhörbar, gelten Gerüchte als Medium des „Überall“1. Wenn es also in einer Gesellschaft Grenzen gibt2, so muß fama dazu in der Lage sein, sie zu passieren. In diesem Beitrag soll aber nicht erneut diese Auflösung räumlicher Grenzen im Gerüchtsschall im Mittelpunkt stehen, sondern gezeigt werden, welche kommunikativen und gesellschaftlichen Grenzen durch die Göttin ‚Fama’ und das unpersönliche „man sagt“ (dicitur, fertur, traditur) überschritten wurden. Im folgenden interessieren die Grenzen der Intimität, die Scham1

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Hans-Jürgen Neubauer, Fama. Eine Geschichte des Gerüchts, Berlin 1998; Heike Johanna Mierau, Gerüchte im Spätmittelalter. Zur Tradition von Fakten, Interpretationen und Fiktionen, Habil. Masch. Münster 2002; dies, Exkommunikation und die Macht der Öffentlichkeit: Gerüchte im Kampf zwischen Friedrich II. und der Kurie. In: Propaganda, Kommunikation und Öffentlichkeit vom 11.-16. Jahrhundert, hg. von Karel Hruza (Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Denkschriften 307 – Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 6) Wien 2002, S. 47-80; Telma Fenster/Daniel Lord Smail, Fama. The Politics of Talk and Reputation in Medieval Europe, Ithaca 2003; Werner Wunderlich, "Der Wesen flüchtiges, die schnellste aller Plagen". Fama in antiker und mittelalterlicher Sprache und Literatur: Stimme - Gerücht – Ruhm. In: Mittellateinisches Jahrbuch 39, 2004, S. 329-370. Wenig Mittelalterliches bietet Manfred Bruhn/Werner Wunderlich (Hrsg.), Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform (Facetten der Medienkultur 5) Bern u. a. 2004. Die Zugehörigkeit zu räumlich definierten Strukturen wies innerhalb der spätmittelalterlichen Gesellschaft vielfach Überlappungen auf. Die Teilhabe an mehreren Systemen schloß sich gegenseitig nur in bestimmten Fällen aus. Betont sei deshalb die Vielschichtigkeit der Grenzen im Alltagsleben des Mittelalters, bei der Zugehörigkeiten jeweils einzeln bestimmt wurden. Insbesondere die Grenzen des Erlaubten, Schicklichen, Machbaren wurden nicht durch klar erkennbare Pfosten und verschriftlichte Regeln für alle markiert, sondern erlangten durch das Bewußtsein für Zugehörigkeiten, durch Gewohnheitsrecht, aber auch durch Gewalt Geltungskraft. Um so wichtiger scheint es, sich mit den Grenzen, die jede einzelne Person für sich akzeptierte und deren Anerkennung durch die Gesellschaft eingefordert wurde, zu befassen.

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grenzen und die Grenzen des Sozialverbandes. Dabei werden Gerüchte als Medium definiert, das in Bereiche der Gesellschaft vordringt, die jenseits des Legalen, Akzeptierten und Schicklichen liegen. Die Grenze zum mit Schweigen übergangenen Tabu wird in Gerüchten durch Sprache geöffnet. Gerüchte sind ein Medium, in dem sich Gesellschaften bewußt oder unbewußt an die eigenen Grenzen begeben, nicht um dort stehenzubleiben, sondern um wie Pegasus und Hermes (die antiken und mittelalterlichen Personifikationen des Gerüchts) gewissermaßen eine Mittlerfunktion einzunehmen, mit deren Hilfe es gelingt, die bestehenden kommunikativen und gesellschaftlichen Systeme und ihre Grenzen zu überwinden. Das Wissen um den Umgang mit dem Phänomen Gerücht gibt deshalb Einblick in die Grenzbereiche menschlichen Denkens und Handelns. Als Anknüpfungspunkt der Überlegungen dient der zu Beginn des 14. Jahrhunderts geführte Prozeß gegen Papst Bonifaz VIII.3 Dabei soll nicht ex post entschieden werden, welchen Wahrheitsgehalt das Gerede um den an seinem Weltherrschaftsanspruch gescheiterten Papst hatte4. Jenseits einer Schuldfeststellung ist die Auseinandersetzung interessant, weil sie Vorstellungen vom Medium „Gerücht“ und von den Mechanismen der Grenzüberschreitung durch Gerüchte erkennen läßt. Der Fall war im gesellschaftlichen Diskurs, weil an einen Papst besonders hohe Erwartungen hinsichtlich seiner moralischen und christlichen Lebensweise gestellt wurden und es jenseits des Geredes und der Herstellung von Peinlichkeit kaum funktionierende Methoden gab, Glaubenstreue und Wohlverhalten gesellschaftlich durchzusetzen. Das Kirchenrecht bestimmte, daß der Papst von niemandem gerichtet werden dürfe5. Nur wenn er sich als Abtrünniger vom Glauben erwies, konnte die Gemeinschaft der Kirche sich von ihm abwenden. Der erste Weg zu einer Klärung der Sachverhalte war die Kommunikation, die – da den Vorwürfen noch Unsicherheit anhaftete – von den Zeitgenossen als Gerücht bezeichnet wurde. Hatte Bonifaz als a fide devius Grenzen überschritten, die seine Verurteilung rechtfertigten? Diese Vermutung wurde durch die kursierenden Gerüchte stark genährt. 3

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Dies bedingt eine Eingrenzung des Themas „Gerüchte als Medium der Grenzüberschreitung“. Unbehandelt bleibt etwa, daß alles das, was Leute erzählen, die (zu) viele Grenzen überschritten haben, oft nur noch als Gerücht bezeichnet wurde. Unbeachtet bleiben zudem Gerüchte, bei denen die Grenze(n) des Nichtwissens durch Möglichkeitserwägungen überschritten werden, etwa bei nicht verstandenen Naturkatastrophen oder bei plötzlichen Todesfällen, die das Gerücht des Giftmords nach sich zogen. Wann und wieso Sprachgrenzen zu Gerüchtegrenzen werden konnten, wird jenseits des klerikalen, lateinischsprachigen Milieus interessant. Vgl. dazu Agostino Paravicini Bagliani, Boniface VIII - Un pape hérétique?, Paris 2003; Bonifacio VIII e il suo tempo: anno 1300 il primo giubileo, a cura di Marina Righetti TostiCroce, Milano 2000; Bonifacio VIII., Atti del XXXIX Convegno storico internazionale, Todi 2002 (Centro italiano di Studi sul basso medioevo – Accademia Tudertina N. S. 16) Spoleto 2003 (zitiert als Bonifacio, Atti). Tilmann Schmidt, Der Bonifaz-Prozeß. Verfahren der Papstanklage in der Zeit Bonifaz’ VIII. und Clemens’ V. (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 19) Köln u. a. 1989, S. 3ff.

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Bonifaz VIII. war seit 1294 Papst. Als Aufsteiger aus unbedeutender Familie hatte er an der päpstlichen Kurie Einfluß erlangt6. Als Jurist war er an der ungewöhnlichen und vieldiskutierten Abdankung seines Vorgängers Coelestin V. entscheidend beteiligt gewesen. Dadurch konnte er selbst an die Spitze der ecclesia gelangen. In Rom und im Kirchenstaat zog er aufgrund offener Günstlingswirtschaft für seine eigene Familie schnell den Haß der bisherigen Eliten auf sich. Besonders die Colonna7 forderten, es müsse sich ein Konzil mit der Unrechtmäßigkeit seiner Erhebung befassen, da Gerüchte umgingen, er habe seinen Vorgänger aus dem Amt getrieben. Schon in der Anklage von 1297 wurde von den Kardinälen Giacomo und Pietro Colonna betont, daß die Grenze des Schweigens – des Verschweigens – überwunden werden müsse8. Vorwürfe über ein tyrannisches Regiment und anonyme Schmähverse gingen damit zeitgleich einher. Doch erst nach der Abfassung der Bullen ‚Salvator mundi’ (1301) und ‚Unam sanctam’ (1302) kam Dynamik auf. Bonifaz hatte seine päpstliche Stellung über das Maß benutzt, und so machten sich seine Gegner daran, ihn als devius a fide, als Häretiker, zu überführen. Für den Verlauf der schmähenden Gerüchte und für ihre Wirksamkeit innerhalb der ecclesia erwies es sich als wichtig, daß der Papst im Streit über die Kompetenzen der weltlichen und kirchlichen Gewalt eine weitgefaßte hierokratische Position beanspruchte. Denn damit stieß Bonifaz vor allem beim französischen König auf herbe Ablehnung. Im März des Jahres 1303 wurden im Louvre juristische Schritte gegen ihn eingeleitet. Die Anklageschrift nennt folgende Punkte9: Bonifaz sei kein Papst, sondern sei als vitiosus ins Amt gekommen. Er sei Häretiker, ein schrecklicher Simoniacus, sei in offensichtliche Verbrechen verwickelt und nicht korrigierbar, er sei in summa avaritia constitutus, schüre Zwist und sei neidisch. Damit widersprach er allen Anforderungen für einen guten Herrscher und erst recht den Erwartungen an einen guten Papst. Tatsachen wurden hier behauptet, keine Gerüchte zitiert. 6

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Vgl. Anna Esposito, La famiglia Caetani, in: Bonifacio, Atti S. 67-88 mit Literaturangaben sowie Peter Herde, Benedetto Caetani canonico, notaio pontificio e cardinale. In: ebd. S. 89115, bes. S. 90 “famiglia aristocratica di secondaria importanza originaria”. Andreas Rehberg, Kirche und Macht im römischen Trecento. Die Colonna und ihre Klientel auf dem kurialen Pfründenmarkt (1278-1378) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 88) Tübingen 1999; Berardo Pio, La propaganda politica nel contenzioso tra Bonifacio VIII e i Colonna. In: La propaganda politica nel basso Medioevo (Atti del XXXVIII Convegno storico internazionale, Todi 2001, (Centro italiano di Studi sul basso medioevo – Accademia Tudertina N. S. 15) Spoleto 2002, S. 261-287, sowie Paolo Vian, Bonifacio VIII e i Colonna: una riconsiderazione. In: Bonifacio, Atti S. 215-272 mit einer eingehenden Analyse der Prozeßakten. Boniface VIII en procès. Articles d'accusation et dépositions des témoins (1303-1311). Édition critique, introductions et notes par Jean Coste, Avant-propos d'André Vauchez (Pubblicazioni della Fondazione Camillo Caetani, a cura di Luigi Fiorani, Studi e documenti d'archivio 5) Roma 1995 (zitiert als Coste, Boniface), hier PR 3 (15 juin 1297), S. 51-63, Punkt 7, S. 55: Quis enim in talibus poterat aut debebat conscientia salva tacere, dum statum ecclesiasticum et prelatis honorem debitum conspiciebamus assidue sic infringi? Coste, Boniface B (13-14 juin 1303), S. 122-173.

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Mitte Juni fanden sich der französische König und die hohe Geistlichkeit zusammen, um – wie in einem darüber abgefaßten Notariatsinstrument niedergelegt wurde – gelenkt von ihrem Glaubenseifer die Mutter Kirche von der gefährlichen Leitung Bonifaz’ zu befreien. Ketzerische Verzerrung (heretica pravitas)10 und verschiedene andere Verbrechen wurden dem Papst zur Last gelegt. Wilhelm von Plaisians trug vor, daß er Beweise für die Häresie des Papstes habe: Dieser glaube nicht an die Unsterblichkeit der Seele und nicht an das ewige Leben. Aller Trost und alle Freude seien diesseitig, deshalb sei es auch keine Sünde, wenn er seinen Körper mit deliciae verwöhne. Über diesen Punkt arbeite – so Wilhelm – die öffentliche fama gegen ihn 11. Er glaube nicht an die Hostie, der er keine Ehre erweise. Den Platz, an dem er sitze, lasse er mehr verehren als den Altar12. Diesbezüglich sei er öffentlich angeschuldigt: Item quod super hec est publice diffamatus13. Der nächste Punkt ist ganz auf das Gerede gestützt. Es würde geredet (fertur), er sage, Unzucht sei ebensowenig Sünde wie das Frottieren der Hände. Darüber gäbe es öffentliches Gerede14. In Glaubensfragen wurden die Anklagepunkte und die darüber entstandene öffentliche Diskussion noch auseinandergehalten, im Bereich der sexuellen Vergehen wurde die Trennung aufgehoben. Die Liste der weiteren Anschuldigungen reicht über den Vorwurf, zur Schädigung Frankreichs werde er jedes scandalon billigen, über Anwürfe wegen Dämonenglaubens und Wahrsagerei bis hin zur Sodomie15. De hoc est publice et vulgarissime diffamatus16. Er verstoße gegen das Fastengebot und sei für Morde an Klerikern verantwortlich 17. Das Heilige Land sei seinetwegen verlorengegangen 18. Simonie wird ihm ebenso vorgeworfen wie die Gefangennahme seines abgedankten Vorgängers19. In der ganzen Welt gäbe es darüber öffentliches Gerede20. Der Ankläger bekräftigte zum Ende seiner Klageschrift, daß er nicht aus Haß gehandelt habe und weder iniuria noch infamia verbreite21. Diese Selbsteinlassung war aus Verfahrensfragen wichtig, denn Haß, iniuria und infamia hätten die Anklagepunkte in 10

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Ebd. S. 141 (3): contra ... Bonifatium heretice pravitatis et alia diversa horribilia et detestabilia crimina, quibus irretitum esse dicabant et super eis publice et notorie diffamatum. Ebd. S. 145 (10): Item quod publica super his fama laborat contra ipsum. Die Bezüge auf die fama erscheinen in der Regel als eigener Anklagepunkt. Ebd. S. 145 (11). Ebd. S. 145 (12). Ebd. S. 145 (13): Item fertur dicere fornicationem non esse peccatum, sicut nec fricationem manuum. Et de hoc est publica vox et fama. Ebd. S. 146 (14); S. 148 (17); S. 149 (18); S. 151 (22); zum Thema Sodomie allgemein vgl. Helmut Brall, Homosexualität als Thema mittelalterlicher Dichtung und Chronistik. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 118, 1999, S. 354-371. Ebd. S. 152 (22); Hinweise auf die fama und die Öffentlichkeit finden sich auch bei den vorangehenden Anklagepunkten. Ebd. S. 152 (23); S. 153 (26). Ebd. S. 159 (30). Ebd. S. 160 (31); S. 161 (33). Ebd. S. 162 (33): de hoc est, per totum mundum, publica vox et fama. Ebd. S. 163 (38).

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sich zusammenfallen lassen. So hingegen betrafen die Anklagen wegen Häresie, Sodomie und wegen vermeintlicher Kontakte zu Dämonen die Kernstücke päpstlicher Legitimität22. Die Gerüchte als Rede über das Unerhörte waren für die Einleitung des Verfahrens konstitutiv in einer Gemeinschaft, die geheime Vergehen und Sünden nach einem anderen Maßstab bewertete als öffentliche. Deshalb wurde vielfach nicht nur das Vergehen benannt, sondern ausdrücklich die öffentliche Rede darüber als Verschärfung der Anklage hinzugefügt. Juristen diskutierten schon seit einiger Zeit über die Stellung der fama und Infamie-Klagen im Prozeß. Thomas von Piperata fundierte in seiner Schrift ‚de fama’ einige Regeln für den Umgang mit unsicheren Informationen 23. Schon dieses Verfahren gegen Bonifaz war durch einen reflektierten Umgang mit der fama gekennzeichnet. Die Ereignisse kamen aber dem Urteilsspruch zuvor. Die französische Partei wählte nämlich den direkten Weg zur Entledigung: Man nahm den Papst im September 1303 widerrechtlich in Anagni gefangen. Dieses Vorgehen gegen den höchsten kirchlichen Würdenträger zeigt die Entgrenzung. Bevor jedoch weitere Maßnahmen gegen Bonifaz unternommen worden waren, gelang ihm die Flucht nach Rom. Er starb einen Monat später. Das Gegenüber hatte sich der Diskussion um seinen Ruf entzogen. Dennoch liessen die französischen Ankläger keine Ruhe. Sie zielten auf eine Damnatio des Verstorbenen, um die Rechtmäßigkeit der von Bonifaz erlassenen Bestimmungen zu untergraben. Die schon vor seinem Tod angeführten Anklagepunkte bestimmten auch die weitere Diskussion. Es ist hier nicht der Raum, um alle Anwürfe einzeln zu nennen und jeweils die Modifikationen zu betrachten. Die kritische Edition dieser Anklageschriften und Zeugenverhöre umfaßt ca. 500 Seiten. Nur einige besonders deutliche Beispiele seien hier angeführt. In einer 1306 von Pietro Colonna verfaßten Denkschrift wurden die Anklagen Wilhelms von Plaisians mit weiteren Argumenten unterstützt24. Zum fünften Punkt, in dem auf die öffentliche fama verwiesen worden war, die verbreite, der Papst hielte Unzucht ebensowenig für eine Sünde wie das Abtrocknen der Hände, meinte der Kardinal, dies würde dadurch bewiesen, daß der Priester, von dem die fama sage, er sei sein Beichtvater gewesen, es mehreren Leuten gesagt hat25. Die Grenzüberschreitung ist offenbar: der zum Schweigen verpflichtete Beichtvater ist der Urheber des Geredes. Er ist gar nicht der wirkliche Beichtvater, weil Bonifaz die Beichte angeblich seit Jahren verschmähte. Der bei Wilhelm genannte Vorwurf sei auch nicht das einzige, was dieser 22

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Ovidio Capitani, La polemica antibonifaciana. In: Iacopone da Todi, Atti del XXXVII Convegno storico internazionale, Todi 2000 (Centro italiano di Studi sul basso medioevo – Accademia Tudertina N. S. 14) Spoleto 2001. Noch immer zu benutzen in: Tractatus universi iuris, 11: De iudiciis criminalibus, Venetiis MDLXXXIIII fol. 8rbff. Zur Interpretation vgl. Francesco Migliorino, Fama et infamia. Problemi della società medievale nel pensiero giuridico nei secoli XII e XIII, (Università di Catania - Istituto di scienze sociali), Catania 1985, S. 65ff. und Mierau, Gerüchte (wie Anm. 1). Coste Boniface H (1306) S. 247-357. Ebd. S. 272f. (33).

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Quelle entnommen werden könne. Der Papst habe gesagt, der Teufel sage, daß größte Verbrechen zu begehen, keine Sünde sei. Er sage, daß Sodomie keine Sünde sei. Auch der Türsteher des Papstes wird mit entsprechenden Äußerungen gegen seinen Herrn zitiert26. In einer anderen Denkschrift, die 1308/1309 entstand 27, wird Bonifaz’ Verachtung der Beichte mit einem Diktum aus seinem Mund untermauert. Er habe damit diejenigen, die ihre Sünden bekennen, öffentlich und laut verspottet, was für die Zuhörer ein großer Skandal gewesen sei28. Immer häufiger erscheinen in den Anklageschriften seither Hinweise auf wörtliche Dikta des Papstes. Immer häufiger waren sie gepaart mit Zuschreibungen an die fama, die scheinbar eine sichere Quelle für seine Schandtaten hatte: ihn selbst. Hatte er tatsächlich so freimütig, vielfältig und frech die Grenzen der Legitimität überschritten? Die Anwürfe waren so schamlos, daß sich das kirchliche Gericht beim Prozeß des Jahres 1310 in Avignon bemüht zeigte, die Quellen des Geredes zu ergründen 29. Die Kette zwischen dem aussagenden Zeugen und den vermeintlichen Dikta des Papstes mußte geschlossen werden, wenn diese Beweiskraft erhalten sollten oder ihre Nichtigkeit bewiesen werden sollte. Es spielte in der mittelalterlichen Gesellschaft grundsätzlich eine entscheidende Rolle, wer etwas sagte. Um so wichtiger war dies bei Gerüchten in einem Prozeß, denn man unterschied das Gerede der Feinde von dem glaubwürdiger Personen. Die Bedeutung der persona fidedigna lag darin, daß ihr zugebilligt wurde, sich nicht an interessengebundenen Ausgrenzungen zu beteiligen, sondern sich an der Faktenwahrheit zu orientieren. Es mußte geklärt werden, wer die Gerüchte und unsicheren Reden verbreitete. Die Aufzeichnungen über die Befragungen aus dem Frühjahr 1310 lassen uns teilhaben an der Suche nach der Wahrheit: Berardo da Montenero, Mönch im Kloster St. Gregorius in Rom, wurde vereidigt30. Er sagte aus, daß er durch den Kammerdiener des Papstes Zugang zu den Gemächern im Lateran erhalten habe, als er seinen Abt wegen Häresie anzeigen wollte. Der Abt habe nicht an die Wiederauferstehung, nicht an die kirchlichen Sakramente und nicht an die Sündhaftigkeit der fleischlichen Lüste geglaubt. Deshalb suchte man im Kloster die Unterstützung des kirchlichen Oberhaupts. Der Papst habe aber nicht eingegriffen, sondern ihn und seine Begleiter abgewiesen mit dem Hinweis: „Glaubt auch, was euer Abt glaubt, denn er glaubt besser als ihr“. Der Zeuge sagte aus, er sei dann gegangen, aber im Gehen noch habe der Papst ihn verspottet. Was der Papst danach noch gesagt habe, darüber könne er deshalb keine Auskunft geben. Als Berardo daraufhin befragt wurde, ob er mehr wisse, bekräftigte er, daß er alles andere nur gerüchteweise und vom Hörensagen kenne. Die fama sei aber allgemein gewesen, daß Bonifaz ein Häretiker sei, ein Sodomit und Simoniacus. So oft und an so vielen Plätzen habe er es 26 27 28 29 30

Ebd. 273 (34). Coste, Boniface L (Fin 1308 – début 1309) S. 375-389. Ebd. S. 382 (5), (6). Coste, Boniface Q (5 avril – 17 mai 1310) S. 484-544. Ebd. S. 487ff.

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gehört, daß er sich nicht an die einzelnen Vermittler erinnern könne und auch nicht ihre Zahl31. Die Akten ergeben, daß auch sein Mitbruder Pietro da Collebaccaro unter Eid befragt wurde32. Auch er bezog sich auf die besagte Audienz beim Papst. Er bestätigte die vorherige Aussage über den Ablauf der Eingabe. Die Verschriftlichung erfolgte im gleichen Wortlaut. Doch die Anschuldigungen blieben darauf nicht beschränkt: er sagte aus, er habe gesehen, wie Bonifaz den Sohn des Jakobus de Pisis inter femora sua – also zwischen seinen Oberschenkeln - gehalten habe33. Dies war der gesellschaftlich noch tragbare Befund, der als Wirklichkeitsbeschreibung vermittelt wurde. Damit aber nicht genug; es wurde in der vereidigten Aussage angefügt, daß das allgemeine Gerücht (fama publica) ging, daß Bonifaz den Jungen mißbraucht habe und vorher schon dessen Vater. Pädophilie und Inzest standen jenseits der gesellschaftlich akzeptierten Grenzen, dahin wagte sich der Zeuge nur in Form von Gerüchteschilderungen vor34, zumal die Intimität der Vorgänge einen Faktenbeweis erschwerte. Der Zeuge benutzte aber im Zuge der Aussage das Mittel des Augenscheins, um Glaubwürdigkeit zu erzielen. Die Macht des Gerüchts wurde vergrößert, weil es im Kontext des Selbsterlebten stand. Vitalis, der Prior von Sankt Aegidius in San Gemini bei Terni berichtete von der Zeit, in der Bonifaz in der Schule des Bartolus in Todi tätig war35. Er sei damals zwanzig Jahre alt gewesen. Die Aussage bezieht sich also auf Vorkommnisse, die mehr als 40 Jahre vergangen waren. Damals habe er ihn ständig mit den Knaben im Gespräch gesehen, was real beobachtbar war und durchaus seiner Tätigkeit entsprach. Damals sei gesagt worden, daß er die Knaben mißbrauche36. Carnalia vitia habe er begangen und Trinkgelagen beigewohnt sowie blasphemisch über Gott und die heilige Jungfrau gesprochen. Später, als er schon Kardinal gewesen sei, habe er im Disput über die Sterblichkeit der Seele ketzerische Auffassungen vertreten 37. Die Sorge um das Seelenheil habe er damals für unnötig erklärt, was mehrere namentlich genannte Zeugen gehört hätten. Der Zeuge sagte, er habe reden hören und es sei an allen Orten, insbesondere in Italien, publica fama gewesen, daß der Papst Dämonen verherrliche38. Bonifaz habe seinen Vorgänger 31

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Ebd. S. 489 (2): Interrogatus si plus sciret, dixit quod non, nisi de fama et auditu, et dixit quod fama erat publica ipsum Bonifacium fuisse hereticum, patarenum, sobdomitam et symoniacum et dixit se audivisse hoc et tot et totiens, quod vix homo posset recolere vel numerare et in pluribus locis. Ebd. S. 490ff. Ebd. S. 491 (6). Ebd. S. 491 (6): Item dixit, quod ipse vidit dictum Bonifacium tenentem inter femora sua filium domini Iacobi de Pisis dum iret per iter, de quo erat fama publica, quod abutebatur eo et abusus fuerat patre eiusdem pueri prius eo. Ebd. S. 492-497. Ebd. S. 493 (8). Ebd. S. 493f. (9). Ebd. S. 495 (10): Item dixit, quod audivit dici et fama publica erat ubique locorum et maxime in partibus Italie ubi conversatus fuit, quod ipse thurizabat et sacrificabat demonibus et spiritus diabolicos ... constringebat... Zum Themenkomplex vgl. auch Tilmann

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Coelestin ermordet, weil er nur so unangefochten Papst sein konnte39. Dies habe er von Mönchen und Klerikern gehört, deren Glaubwürdigkeit nicht in Zweifel stand. Der Papst sei Simoniacus, Sodomit und Häretiker, pflege Kontakt zu Häretikern und begünstige sie, statt sie zu bestrafen 40. Seine Förderung der zeitgleich zum Prozeß verfolgten Templer sei nicht nur in Italien, sondern in der ganzen Welt publica vox et fama gewesen 41. Diese Aussage wurde durch den Magister Petrus Oddarelli, der als Notar nicht eigens vereidigt wurde, bestätigt42. Er war bei der Disputation über die Sterblichkeit der Seele anwesend gewesen. Als Papst sei Bonifaz im Laster der Sodomie mit vielen Knaben und Männern verhaftet gewesen, worüber es eine publica fama gegeben habe und gebe43. Über diese Überschreitung des christlichen Normengefüges gab es auch in Neapel eine publica fama, wie ein weiterer Zeuge bestätigte44. Man hatte diese Verfehlungen vereinzelt sogar zeitnah und ortsgebunden bei den kirchlichen Gerichten angezeigt45. Wirkliche Schlagkraft erhielten die alten Gerüchte aber erst gegen den ohnehin in Verruf geratenen Papst. Der aus der Provinz Avellino stammende Abt Ruggero di Simone hatte andere Gerüchte gehört: Als Kardinal und als Papst habe Bonifaz sich einen Geist gehalten 46. Originalität kann die Aussage des Mönchs Nikola aus dem Kloster Sankt Paul in Rom für sich beanspruchen 47. Er sagte, er habe viele darüber reden hören, daß Jakobus de Pisis - der schon genannte Vater eines vermeintlich mißbrauchten Kindes - Bonifaz, als er schon auf dem Sterbebett gelegen habe, gesagt hätte, daß er die Hilfe der Jungfrau Maria erbeten habe, worauf Bonifaz wörtlich geantwortet habe: „Ich glaube an sie nicht mehr als an eine Eselin, und an ihren Sohn nicht mehr als an ein Eselfohlen“48. Der Hinweis auf das Wissen um Gerede über Pädophilie folgt in der Aussage dann direkt anschließend49. Wenn sich die Hauptankläger auf die fama als Beweismittel beriefen, und sie taten das in ungewöhnlich zahlreicher Form, und wenn selbst die Zeugen nicht nur eigene unglaubliche Vorwürfe verbreiteten, sondern unter Eid immer wieder auf die publica fama ver-

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Schmidt, Papst Bonifaz VIII. und die Idolatrie. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 66, 1986, S. 75-107. Coste, Boniface S. 495 (11). Ebd. S. 496 (12). Ebd. S. 496 (13). Ebd. S. 497f. Der Hinweis auf das allgemeine Gerede über Häresie, Sodomie und Simonie erscheint hier und auch im folgenden vielfach. Ebd. S. 503 (23), S. 509 (31): dixit quod audivit dici; S. 513 (35): fama publica; S. 514 (37); S. 515 (39); S. 517 (41); S. 520 (48); S. 521 (50). Ebd. S. 498ff., hier S. 501 (19). Vgl. ebd. S. 719 (372) und S. 725 (393), siehe dazu Anm. 62. Ebd. S. 503-507. Ebd. S. 520ff. Ebd. S. 522 (53), vgl. auch S. 529 (60); abwertende Dikta gegen Jesus auch S. 710 (335): Christus enim fuit unus magnus prothonotarius, et predicator: et quia scivit bene loqui per mundum, multi sequuti sunt eum, ex quo habet istum honorem. Ebd. S. 522 (54).

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wiesen, dann mußte ein rationales Kriterium für die Einordnung der fama gefunden werden. Grenzenlos durfte die fama in der Literatur sein, in der realen Welt brauchte man Kriterien zum Erhalt der Ehre und der Wahrheit. Das Kirchenrecht gab dafür kaum Maßstäbe an die Hand 50, und auch die juristischen Debatten an den Universitäten hatten gerade erst begonnen, diese Frage zu klären 51. Stimmte es, daß der Papst, wie die Ankläger im Anschluß an die sechs Hauptanklagepunkte behaupteten, von den guten und wichtigen Personen der Gesellschaft diffamiert wurde52, deren Worte in der mittelalterlichen Gesellschaft bislang selbstverständlich als wahr angesehen wurden? Was verstanden eigentlich die Zeugen unter fama. War das, was sie berichteten, wirklich allgemeines Gerede oder summierten sich in kleinen Zirkeln Aussagen zu dem, was dann als überall tönende Fama tituliert wurde? Im August und September 1310 wurden die Zeugen erneut befragt. Man wollte von den Zeugen genau wissen, wann und wo sie von den Vorwürfen erfahren hatten, ob sie glaubwürdige Beweise für die einzelnen Anklagen hätten und was davon ihrer Meinung nach dem Gesagten, dem Gehörten oder der fama entspringe. Schließlich sollten sie sich äußern, wie sie selbst die fama definieren 53. Der Kanoniker Nikola da Oppido, der in der ersten Runde als Achter befragt worden war, führte nun die Reihe an. Damals hatte er in einer insgesamt sehr kurzen Aussage gesagt, daß er in verschiedenen Gegenden und unterschiedlichen Orten Reden gehört habe, daß Bonifaz als Kardinal ein hereticus, simoniacus et sodomita manifestus gewesen sei54. Zudem hatte er Kenntnis von Äußerungen des Papstes über die Nichtigkeit des göttlichen und weltlichen Rechts und die Verspottung der Lehre von der Fleischwerdung Gottes. Erneut unter Eid genommen, antwortete er jetzt auf die konkreten Fragen, warum er die Anklagepunkte für wahr halte und welche anderen Personen, die damals anwesend waren, als Zeugen dienen könnten 55. Die Antworten nutzte Nikola aber auch zur weiteren Ausgestaltung des Bildes vom häretischen Papst. Er habe selbst gehört, wie er mit eigenem Mund (proprio ore) gesagt habe, es gäbe kein anderes Leben als das diesseitige56. Die Quelle dieses Vorwurfs war kein Gerücht, sondern das Selbsterlebte. Um zu prüfen, ob dem Zeugen diesbezüglich Glauben geschenkt werden könne, wurden die genauen Umstände der Gesprächssituation 50

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Vgl. Tancred, Ordo iudiciarius 3, 5 Parag. 6. Erforscht ist dies im Zuge der InfamieForschung, vgl. dazu grundlegend Peter Landau, Die Entstehung des kanonischen Infamiebegriffs von Gratian bis zur Glossa ordinaria (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 5) Köln/Graz 1966, hier S. 102ff., sowie Migliorino, Fama (wie Anm. 23). Siehe oben Anm. 23. Coste, Boniface P (16/20 mars 1310) S. 478-484, hier S. 483 (7): est graviter infamatus apud bonos et graves, ubique terrarum ex quibus omnibus et singulis est gravissimum scandalum generatum in Ecclesia sancta Dei. Coste, Boniface V S. 621-733. Coste, Boniface Q S. 509 (31). Coste, Boniface V S. 651-662. Ebd. S. 652 (4).

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erfragt: Der Ort, die Zeit, die Kleidung und Kopfbedeckung des damaligen Kardinals und sogar das Wetter des Tages interessierten das Gericht57. Der Zeuge sollte die Gesprächssituation erläutern, also das Zitat in den Kontext zurückführen, aus dem es herausgenommen war. Er antwortete sehr detailreich: Man hatte über die Frage diskutiert, welches Recht besser sei, das der Christen, das der Juden oder das der Sarazenen, als der Papst sagte, alles Recht sei von den Menschen erfunden und man müsse sich nur um diese Welt kümmern, weil es kein anderes Leben gäbe als das gegenwärtige. Danach wurde der Zeuge über die anderen Anklagepunkte befragt. Dabei kam ein weiterer Häresievorwurf zum Tragen. Vom Hörensagen wisse er, daß Bonifaz auf dem Strebebett die Kommunion verweigert und sich dem Teufel übereignet habe58. Auf die richterliche Nachfrage, von wem er das gehört hat, verwies dieser auf einen namentlich genannten domicellus des Papstes und viele andere, deren Namen er nicht erinnere59. Hier erhielt der Ursprung eine Identität. Wieder war es die Illoyalität des direkten Umfeldes, die den Gerüchten Nahrung gab. Bei anderen Anklagepunkten, auf die er in der zweiten Befragung konkret angesprochen wurde, antwortete er mit Nichtwissen. Schließlich wurde er zum 25. Punkt befragt, in dem von der Anklage angeführt wurde, der Papst sei von guten und bedeutenden Christen in Verruf gebracht worden. Im Protokoll wird das Verb diffamare benutzt. Er bestätigte dies pauschal, so daß weitere Nachfragen erfolgten: Man wollte wissen, wer diejenigen seien. Von vielen wußte er den Namen nicht zu nennen, aber immerhin benannte er zwei benediktinische Äbte. Nach weiteren Detailfragen wünschten die Richter eine Antwort auf die Frage, ob es sich bei denjenigen, die diese Gerüchte verbreiten, um Freunde oder Feinde des Papstes handele60. Er antwortete, daß er glaube (credit), es handele sich bei den Äbten um Freunde, bei den anderen wisse er es nicht. Schließlich nannte er auf die Frage, wie viele Menschen ein Gerücht machen, die Zahl zehn und beteuerte, kein Feind des früheren Papstes zu sein 61. Vierzehn weitere Zeugen wurden in ähnlicher Weise befragt. Ihre Antworten in allen einzelnen Punkten zu beleuchten, ist hier nicht der Raum, nur die Bemerkungen zu den glaubwürdigen Männern, die Gerüchte erzählen, und zur Frage, wie viele Menschen über einen Vorfall reden müssen, damit von fama die Rede sein kann, seien angeschnitten: Die meisten bestätigten den 25. Anklagepunkt mit dem Hinweis auf kirchliche Würdenträger62, deren Qualität als fidedigni im allgemeinen zu Beginn des 14. Jahrhunderts akzeptiert wurde. Die Zahl derjenigen, die für fama eine konstitutive Größe bildeten, 57 58 59

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Ebd. S. 652ff. Ebd. S. 654f. (23). Ebd. S. 655 (24): domicellus, qui vocabatur Oddo de Alatro et a multis aliis, de quorum nominibus non recordatur. Ebd. S. 661 (64). Ebd. S. 661 (66); S. 662 (73), (74). Ebd. S. 681 (184): amici, quia sunt homines bone vite; S. 685 (207); S. 719 (372): Die inquisitores heretice pravitatis in Spoleto hätten ihm ein Kreuz auferlegt, das er einen Monat und mehr habe tragen müssen. Vgl. S. 725 (393) als unsichere Nachricht des Hörensagens und S. 732 (420).

Gerüchte als Medium der Grenzüberschreitung im Bonifaz-Prozeß

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belief sich oft auf 10 oder 12 Personen. Meistens wurden mehr Beteiligte eingefordert63. Während in der literarischen Diskussion des 13. und 14. Jahrhunderts fama meist als bona sive mala galt64, war durch den Prozeß die negative Konnotation vorgegeben. Wenn Zeugen befragt wurden, was die fama sei (quid fama est), wurde sie mehrfach als Gerede über jemanden bezeichnet, der sich irgendeine Sünde zuschulden hatte kommen lassen 65. Die Orte des Geredes wurden nicht selten topisch als „überall“ bezeichnet, oft werden aber Stadtnamen oder Regionen Italiens benannt66. Fama blickte also – um ein von Vergil und Ovid ins Mittelalter transportiertes Bild zu benutzen 67 – von oben auf die Menschen herab und beobachtete alles. Ihr Schall konnte sich von dort grenzenlos in alle umliegenden Gebiete, in diesem Fall sogar per totum orbem, verbreiten. Man erkennt aus den zitierten Befragungsprotokollen, wie mühsam es war, bei den Aussagen zwischen diffamierenden Gerüchten und begründeten Anschuldigungen zu trennen. Fangfragen und die Bestimmung der Interessenlage der Aussagenden konnten helfen, um beim Gerede über Intimes, über Haltungen, Meinungen und angebliche Äußerungen unberechtigte Diffamierungen von berechtigten Anzeigen zu unterscheiden. Die Gerüchte hatten im Fall Bonifaz’ VIII. die geheimen Zirkel verlassen und waren gerichtsöffentlich geworden, weil der französische König Philipp IV. einen unanfechtbaren Prozeß gegen den hierokratischen Papst führen wollte68. Fama selbst wurde Gegenstand

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Ebd. S. 676 (157) wurde darauf verwiesen, daß mehr als 50 davon gewußt hätten. Vgl. auch S. 672 (134): interrogatus quid est fama, respondit famam esse quod vulgariter dicunt homines inter se; S. 681 (182): interrogatus quid est fama, respondit quod id, quod multi dicunt vel maior pars ville; S. 685 (209): interrogatus quid est fama, respondit quod illud, quod dicunt multi homines; S. 694 (260): interrogatus apud quos fuit diffamatus, respondit quod apud clericos et laicos, iudices et alios bonos et meliores et apud maiorem partem hominum de Tuderto, et curie Romane; S. 712 (348): interrogatus per quos, et ubi dicebantur predicta, respondit quod per homines et mulieres de partibus suis, videlicet de Sicilia et Calabria, quorum nomina grave esset enuntiare, quia omnes homines et mulieres de dictis partibus communiter hoc dicebant. Mierau, Gerüchte (wie Anm. 1) und dies., Exkommunikation (wie Anm. 1) S. 51. Coste, Boniface, S. 667 (103): Interrogatus quid est fama, respondit quod quando dicitur de aliquo quod fecerit seu commiserit aliquod peccatum; S. 691 (243): interrogatus quid est fama, respondit fama esse quod quando aliquis est male vite et male conversationis, et divulgatur per provinciam. Ebd. S. 667 (105) spricht von Neapel und Salerno, S. 672 (133): in omnibus partibus; S. 681 (183): in Urbe, in Campania, Tibure et aliis partibus prope Romam; S. 691 (242) nennt Rom, Benevent und Neapel; S. 699 (285): Rome, Neapoli, Sulmone et in pluribus aliis locis; vgl. ferner S. 702 (307) und S. 733 (423) mit der Nennung von Lucca und Bologna. Neubauer, Fama (wie Anm. 1) S. 67ff. Zu seiner Position vgl. auch Coste, Boniface Y S. 740-750, hier S. 742 (4): Item proponimus quod hiis rumoribus, clamoribus, disputationibus, collationibus et opinionibus ad dictum dominum regem provenientibus et frequenter nihilominus ad ipsum dominum regem pervenerunt per relationem plurium personarum dictum Celestinum dolo et fraude Bonifatii pre-

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des Gerichts, denn es wurden die Befragten nicht nur hinsichtlich ihres Wissens um die Sache, sondern auch nach ihrer Vorstellung vom Medium Gerücht befragt. Die Grenzbereiche der unsicheren Anklagen waren für den Prozeß gegen Papst Bonifaz maßgeblicher als das, was als notorium – als ohnehin allen bekannt – galt. Der Chefankläger des französischen Königs berichtet in einer Schrift von 1304, er habe den Papst aufgefordert, zu den Anwürfen Stellung zu nehmen und seine fama zu bedenken 69. Die Reaktionen des Papstes zu dessen Lebzeiten sind immer noch nicht aufgearbeitet. Die Kunst des Dementierens und die Ignoranz der Macht, die unliebsame Anwürfe mit Schweigen übergeht, würde der gesonderte Beitrag dazu lauten. Der Kardinal Nikolas de Fréauville brachte schließlich bei einer Befragung über den Prozeß im Jahre 1311 die Unsicherheit zum Ausdruck 70, die durch die Anwürfe entstanden war. Gerade weil von so vielen glaubwürdigen Menschen so viele und schwere Vorwürfe gerüchteweise erhoben würden, habe sich der König von Frankreich dazu führen lassen, sie größtenteils für wahr zu halten, auch wenn sie vielleicht nicht wahr seien71. Andere sagten, die glaubten überhaupt nichts mehr, weil es zu viele verschiedene Vorwürfe gäbe72. Gerüchte hatten die Grenze zwischen wahr und falsch aufgelöst. Die Grundhaltung der Urteilenden bestimmte das Ergebnis stärker als der juristisch unanfechtbare Beweis. Ein Urteil wurde nie gesprochen. Der Bereich der Justiz ist trotz der Problematik von vorgeformter Erwartungshaltung der Gerichtsbürokratie und von Modifikationen der Aussagen im Prozeß der Verschriftlichung für die Gerüchteforschung ein lohnendes Feld, denn der fama entspringende Anzeigen und Denunziationen führten an weltlichen und geistlichen Gerichten vielfach zu Untersuchungen. Das gängige Quellenproblem für die Gerüchteforschung, nämlich die weitgehende Mündlichkeit, wird in Prozessen überwunden. Die Gerichtsbarkeit forderte eine Protokollierung der Aussagen. Der Bonifazprozeß zeigt, daß Normverstöße nicht ausschließlich an die jeweils zuständigen Gerichtsforen verwiesen wurden, sondern die Gemeinschaft die Ausgrenzung der unerwünschten Person trotz ihrer herausragenden Stellung selbst vornahm, was gewissermaßen den ersten Schritt in der Kette des Prozes-

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dicti inductum renuntiationem de facto papatus fecisse predictam, quem sic deceperat idem Bonifatius, ut eius locum posset habere; vgl. auch (5). Coste, Boniface S. 860 (4). Vgl. auch S. 861 (5). Die Vernachlässigung des eigenen Rufs galt für Kleriker als Kritikpunkt, vgl. Crudelis est, qui negligit famam suam bei Augustinus, Sermo de vita et moribus clericorum PL 39, 1569 sowie C. 12 q. 1 c. 10. Coste, Boniface Z S.751-853. Ebd. S. 786 (12) und S. 787 Z. 3 (12): Nescio tamen si illud factum fuerit Bonifacio mandante necne. Sed bene verum est, quod nullus credit nisi volens, quod aliqui licet pauci respectu aliorum hoc credere voluerunt. Ex tali ergo credentia orta et tot et tantorum ac fidedignorum relatibus secutus est zelus ad querendum viam, per quam corrigerentur crimina tam gravia, que credebantur esse vera propter predicta, licet forsitan non essent et ad precavendum pericula et scandala gravissima, ... Ebd. S. 815 (55) und S. 816 (56): Scio quod ego fui unus, qui cum audivi dolui vehementer nec potui lacrimas propter hoc continere.

Gerüchte als Medium der Grenzüberschreitung im Bonifaz-Prozeß

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ses darstellte. So zeigt sich jedenfalls das den Akten entnommene Bild. Gerüchte erweisen sich als Mittel zur Ausgrenzung von Personen, die sich nicht in die Grenzen des Normalen einfügen lassen. Der Fall belegt, daß diese Stigmatisierung nicht vorschnell auf gesellschaftliche Randgruppen bezogen werden darf. Gerade die Mächtigen wurden durch Gerüchte ausgegrenzt. Ziel derartiger Gerüchte war es, die Machtposition zu schwächen, die Herrschenden gänzlich um ihre Stellung zu bringen oder – wie hier – ihren Bestimmungen die Geltungskraft zu rauben. Die Anonymisierung der Sprechenden in der Form des fama est/dicitur leistete die Aufhebung des Sprechverbots für den einzelnen73. Zugleich stellte die fama die Voraussetzung für das allgemeine öffentliche Wissen dar, das einen Fall unter Umständen überhaupt erst gerichtsfähig machte. Unter dem Deckmantel konnten sich diejenigen schützen, die eine Person in Mißkredit bringen wollten. Der gerüchtegenährten Nachrichten bedienten sich aber auch diejenigen, die das öffentliche Skandalon ausmerzen wollten. Gerüchte erscheinen im Zuge der Zeugenaussagen als Medium der Personen mit direktem Zugang zum Papst, als das Medium der schlechten Diener, die zu den abgeriegelten Kammern der Macht besser keinen Zugang erhalten hätten. Das Medium lauschte an den Türen der Mächtigen nicht aus Neugier, sondern aufgrund machtpolitischer Interessen. Treueverhältnisse und gesellschaftliche Bindungen wurden dabei aufgelöst. Gerüchte waren Grenzüberschreitung auch insofern, als keine Rücksicht auf die bestehenden Konstellationen genommen wurde. Die Fähigkeit des Gegners, glaubwürdige Vorwürfe in Umlauf zu bringen, die den Ruf der Mächtigen schädigen und an der Legitimität ihrer Herrschaft nagen, führte zur Entgrenzung und zum Einsturz hergebrachter Ordnungen, wie sich nicht zuletzt in der Verlagerung des Papstsitzes von Rom nach Avignon augenfällig zeigt.

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Vgl. André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden: Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt/Main 1999, S. 396.

KIRSTEN O. FRIELING

Zwischen Abgrenzung und Einbindung: Kleidermoden im Reichsfürstenstand des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts*

Als Sybilla von Brandenburg, die Tochter des berühmten Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg, im Jahre 1481 mit Herzog Wilhelm IV. von Jülich-Berg vermählt werden sollte, kam es während der Hochzeitsvorbereitungen zu einer Debatte um die Kleidung der Braut. Der Bräutigam und der Brautvater gerieten über die Frage aneinander, wo und wie die Kleidung der Braut gefertigt werden sollte. Wilhelm beabsichtigte, einen Schneider vom Rhein an den Ansbacher Hof zu senden, damit dieser vor Ort für Sybilla Kleider nach rheinischer Art nähen könne. Daß Albrecht von Brandenburg von diesem Angebot offenbar nicht besonders angetan war, geht aus seinem Antwortschreiben hervor. Er teilte Wilhelm mit, daß bereits alles für Sybillas Aussteuer fertig sei bis auf einen golddurchwirkten Rock, und wenn dieser eine Rock nicht zu den anderen Kleidern passen würde, wäre das schimpflich für die Hochzeit. Vielleicht um den zukünftigen Schwiegersohn nicht durch eine rigorose Ablehnung ganz und gar vor den Kopf zu stoßen, bot Albrecht Wilhelm jedoch im gleichen Zuge an, Sybillas Kleider umarbeiten zu lassen. Von seiner Tochter Amalie, die mit Pfalzgraf Kaspar von Zweibrücken und Veldenz verheiratet war1 und deshalb die Mode am Rhein kannte, wußte Albrecht, daß die rheinische Kleidung faltenreicher und mit einem breiteren Besatz am Saum versehen war. Er schlug Wilhelm deshalb vor, die Falten entsprechend ändern zu lassen, sobald Amalie in der folgenden Woche nach Hause gekommen sei. Schließlich verzichtete Wilhelm darauf, einen Schneider nach Ansbach zu schicken, und die Hochzeit konnte im Juli 1481 gefeiert werden.2 Aus der geschilderten Begebenheit geht hervor, daß es Ende des 15. Jahrhunderts offenbar Unterschiede zwischen der Fürstenkleidung am Hof der Herzöge von Jülich-Berg * Die folgenden Ausführungen stellen einen Ausschnitt aus meinem laufenden Dissertationsprojekt „Kleidung an deutschen Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit“ (Arbeitstitel) dar. Der Anmerkungsapparat wird an dieser Stelle deshalb auf das Notwendigste beschränkt. Für anregende Diskussionen und gründliche Korrekturen danke ich herzlich Lena Rohrbach (Zürich). 1 Europäische Stammtafeln. Hrsg. v. Detlev Schwennicke. N. F. Bd. 1, 1. Frankfurt a. M. 1998, Tafel 96. 2 Redlich, Otto R., Die Hochzeit des Herzogs Wilhelm IV. von Jülich-Berg mit Markgräfin Sibilla von Brandenburg am 8. Juli 1481 in Köln. Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 37 (1904), S. 270-301, hier S. 274.

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und derjenigen am Hof der Markgrafen von Brandenburg gab, die von den Zeitgenossen auch wahrgenommen wurden.3 An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit kennzeichnete Kleidung nicht nur Rang, Stand, Geschlecht und/oder Zivilstand4, sondern sie verwies auch auf bestimmte, wenngleich nicht klar bestimmbare, geographische Räume. Ausgehend von den Reichsfürsten werden solche Unterschiede in der europäischen Fürstenkleidung untersucht und auf ihre Bedeutung für die Konstituierung einer kulturellen Identität der Reichsfürsten befragt.5 Kleidung ist in hohem Maße relevant für die Konstituierung und Stabilisierung von Identität.6 Identität wird in zwischenmenschlichen Begegnungen ausgebildet, d. h. sie entsteht in der Interaktion. Damit Identität ‚sich formieren’ kann, bedarf es absichtlicher oder unabsichtlicher Abgrenzungen, denn erst im Vergleich mit dem Anderen gewinnt das Eigene Kontur. Selbst- und Fremdbeschreibung werden ständig zueinander in Beziehung gesetzt. Im Hinblick auf die Formierung von Gruppen spielt Kleidung in diesem Prozeß der Identitätsbildung insofern eine Rolle, als 3

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Zur ‚Wahrnehmung’ als Kategorie der historischen Forschung vgl. jüngst Silvia Serena Tschopp, Das Unsichtbare begreifen. Die Rekonstruktion historischer Wahrnehmungsmodi als methodische Herausforderung der Kulturgeschichte. Historische Zeitschrift 280, 1 (2005), S. 39-81. Auf die herausgehobene Bedeutung, die Kleidung im Mittelalter für soziale Differenzierungen besaß, ist in der Forschung wiederholt hingewiesen worden. Aus der Fülle der Arbeiten seien hervorgehoben Jan Keupp, Macht und Mode. Politische Interaktion im Zeichen der Kleidung. Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), S. 251-281; Catherine Richardson (Hg.), Clothing Culture 1350-1650 (The History of retailing and consumption). Aldershot 2004; Françoise Piponnier, Perrine Mane, Se vêtir au Moyen Age. Paris 1995; Maria Giuseppina Muzzarelli, Gli inganni delle apparenze. Disciplina di vesti ed ornamenti alla fine del medioevo. Turin 1996. Programmatisch ist in diesem Zusammenhang der Sammelband von Neithard Bulst, Robert Jütte (Hgg.), Zwischen Sein und Schein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft (Saeculum Sonderheft 1). Freiburg, München 1993. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive einschlägig Elke Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts (Beiheft zum Euphorion 23). Heidelberg 1989 und Gabriele Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 1). Hildesheim 1985. Zu Prozessen der Identitätskonstruktion von Gruppen vgl. die Anmerkungen von Marcus Pyka, Geschichtswissenschaft und Identität. Zur Relevanz eines umstrittenen Themas. Historische Zeitschrift 280, 2 (2005), S. 381-392 (mit weiterführender Literatur). Siehe auch die Ausführungen zum Identitätsbegriff bei Valentin Groebner, Identität womit? Die Erzählung vom dicken Holzschnitzer und die Genese des Personalausweises. In: Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 23). Köln, Wien, Weimar 2004, S. 85-97, bes. S. 85. Siehe dazu Peter von Moos, Das mittelalterliche Kleid als Identitätssymbol und Identifikationsmittel. In: Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 23). Köln, Wien, Weimar 2004, S. 123-146.

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mittels der Art und Weise sich zu kleiden sowohl Einzelne aus einer Gruppe ausgegrenzt als auch Gruppenzugehörigkeiten geschaffen werden können. Der Gebrauch von Kleidung als signifikantem Unterscheidungsmerkmal erfüllt demnach zugleich zwei gegensätzliche, aber dennoch aufeinander bezogene Funktionen.7 Einbindungen in und Ausgrenzungen aus Gruppen von Individuen können anhand von Kleidungspraktiken ebenso beobachtet werden wie Abgrenzungen von verschiedenen Gruppen untereinander. Für Ab- und Ausgrenzung bzw. Schaffung von Zugehörigkeiten ist Kleidung besonders gut geeignet, weil sie sich durch eine unmittelbare Verknüpfung mit demjenigen, der sie trägt, auszeichnet. Im Gegensatz zu anderen Dingen sind Gewänder ohne zeitlichen und räumlichen Abstand mit ihrem Träger verbunden und können deshalb mit ihm in eins gesetzt werden.8 Das bestehende Spannungsverhältnis zwischen Abgrenzung und Einbindung, wie es sich in der Kleidung der Reichsfürsten im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert fassen läßt, steht im Vordergrund der folgenden Überlegungen. Es wird zunächst untersucht, auf welchen Ebenen und auf welche Weise sich kulturelle Unterschiede in Kleidung manifestierten. Bevor abschließend betrachtet wird, welche Bedeutung Abgrenzungen für die Konstituierung einer kulturellen Identität der Reichsfürsten an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit besaßen, wird die Vermittlung von Moden am Beispiel von Fürstenheiraten in den Blick genommen.

Die europäische Fürstenmode Auf den ersten Blick boten die europäischen Fürsten ein relativ homogenes Erscheinungsbild. Überall in Europa wurde Fürstenkleidung prinzipiell aus den gleichen Materialien und in den gleichen Farben gefertigt. Ihre Kleidung bestand etwa aus Samt, Damast, Taft, Zendal, Tobin und Atlas, Woll-, Leinen- und Barchenttuchen, Zobel und Marder, häufig auch Feh und Hermelin. Ebenso wie die gleichen Stoffe und Pelze wurden die gleichen Farben in ganz Europa für die Herstellung von Fürstenkleidung verwendet. Die Farbpalette war recht breit und reichte von Rot, Blau und Schwarz über 7

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Rekurriert wird hier auf die soziologischen Konzepte und Kategorien Pierre Bourdieus. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1987 und Pierre Bourdieu, Klassenstellung und Klassenlage. In: Ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a. M. 1974, S. 42-74. Martin Dinges, Von der ‚Lesbarkeit der Welt’ zum universalisierten Wandel durch individuelle Strategien. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft. In: Neithard Bulst, Robert Jütte (Hgg.), Zwischen Sein und Schein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft (Saeculum Sonderheft 1). Freiburg, München 1993, S. 90-112, hier S. 91; Robert Jütte, Neithard Bulst, Einleitung. In: Neithard Bulst, Robert Jütte (Hgg.), Zwischen Sein und Schein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft (Saeculum Sonderheft 1). Freiburg, München 1993, S. 2-7, hier S. 2.

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Weiß, Grau und Grün bis zu Braun sowie einem leuchtenden Gelb. Neben den Stoffen und Farben waren auch verschiedene Arten von Stickereien, Perlen- und Edelsteinstickereien, Gold- und Silberstickereien, im Hochadel europaweit beliebt. Für die Anfertigung von Kleidung für Fürsten wurden diese Materialien in ihrer ganzen Breite genutzt.9 Hauptsächlich stellte sich eine Ähnlichkeit in der Kleidung über die Schnitte ein. In der Fürstenkleidung an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit lassen sich idealtypische Modetrends ausmachen, die überall in Europa Verbreitung fanden. Fast das ganze 15. Jahrhundert hindurch wurde die europäische Fürstenmode – Mode im Sinne einer herrschenden Bekleidungsweise – vom Hof der Herzöge von Burgund dominiert. Die Bilder von Fürsten und Fürstinnen in burgundischer Kleidung prägen vielfach bis heute die Vorstellungen vom Mittelalter. Die Männer trugen ein wattiertes, mit Schulterpuffen versehenes Wams, das in der Taille zusammengeschnürt wurde, dazu eng anliegende Beinlingen und lange, spitze Schnabelschuhe. Die Frauen kleideten sich in eng am Oberkörper anliegende, tief dekolletierte Röcke mit stoffreichen Rockpartien, die eine hochgesetzte Taille, lange Schleppen und bis zum Boden reichende, tütenförmige Ärmel besaßen. Ein weiteres Charakteristikum dieser Mode stellten die turbanähnlichen Kopfbedeckungen oder fezartigen Kappen der Männer und die kunstvoll aufgetürmten Frauenhauben dar, allen voran die Hörnerhaube und der Hennin, ein hoher zuckerhutförmiger Hut mit einem Schleier an der Spitze. Neben diesen Kleiderformen nahm auch die Vorliebe für Schwarz als Kleiderfarbe ihren Ausgangspunkt am Hof der Herzöge von Bur-

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Vgl. dazu und zu den folgenden kostümhistorischen Ausführungen die entsprechenden Abschnitte in den zahlreichen Kostümkunden, allen voran Wiebke Koch-Mertens, Der Mensch und seine Kleider. Teil 1. Die Kulturgeschichte der Mode bis 1900. Düsseldorf, Zürich 2000; Erika Thiel, Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8. Aufl. Berlin 2004; Gisela Krause, Gertrud Lenning, Kleine Kostümkunde, 11. Aufl. Berlin 1995. Siehe auch die Einleitung und die in Frage kommenden Stichworte bei Harry Kühnel (Hg.), Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung. Vom Alten Orient bis zum ausgehenden Mittelalter (Kröners Taschenausgabe 453). Stuttgart 1992. Für einige Fürstenund Königshöfen liegen detailliertere Untersuchungen zur Kleidung vor: Françoise Piponnier, Costume et vie sociale. La Cour d’Anjou. XIVe-XVe siècle (Civilisations et Sociétés 21). Paris 1970; Frédérique Lachaud, Textiles, Furs and Liveries. A Study of the Material Culture of the Court of Edward I. (1272-1307). Unveröffentlichte Dissertation. Oxford 1997; Agnès Page, Vêtir le Prince. Tissus et couleurs à la Cour de Savoie (1427-1447) (Cahiers Lausannois d’histoire médiévale 8). Lausanne 1993; Stella Mary Newton, Fashion in the Age of the Black Prince. A study of the years 1340-1365. Suffolk 1980; Corina Nicolescu, Istoria costumuluide curte în +*rile Române. Secolele XIV-XVIII. Bukarest 1970 (Zusammenfassung in franz. Sprache u. d. T.: Histoire du costume de cour dans les Pays Roumains. XIVe-XVIIIe siècle). Über die Kleidung am polnischen Hof zur Zeit der ersten Jagellionen gibt es eine polnische Arbeit, die wegen fehlender Sprachkompetenz zwar nicht eingesehen werden konnte, an dieser Stelle aber trotzdem mit aufgenommen werden soll: Krystyna Turska, Ubiór dworski w Polsce w dobie pierwszych Jagiellonów. Warschau 1987.

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gund, wo sie durch Philipp den Guten initiiert wurde.10 Nicht nur Kleiderformen, sondern auch -farben unterlagen dem modischen Wandel. Gefördert wurde die Entstehung und Verbreitung von Modefarben nicht nur durch einzelne Höfe als Impulsgeber, ebenso ausschlaggebend waren hierfür technische Fortschritte. Im 15. Jahrhundert wurde die Verbreitung schwarzer Kleidung auch dadurch begünstigt, daß beim Färben die Herstellung intensiver Schwarztöne möglich wurde, mit denen nicht nur Leinen- und Seidenstoffe, sondern auch Pelze gefärbt werden konnten.11 Die in der Forschung aufgeworfene und noch diskutierte Frage, ob der Hof von Burgund im 15. Jahrhundert als Modell für andere europäische Höfe fungiert hat,12 kann somit zumindest für die Kleidung bejaht werden. Während für andere Bereiche des höfischen Lebens ein burgundischer Einfluß auf andere Höfe zwar vielfach vermutet, aber letztendlich nicht eindeutig belegt werden kann,13 ist die Vorbildfunktion der Herzöge von Burgund für die europäische Fürstenmode des 15. Jahrhunderts unumstritten. Dies mag unter anderem daran liegen, daß hinsichtlich der Kleidung vergleichsweise klar bestimmbare Charakteristika herausgearbeitet werden können, mit deren Hilfe eine ‚typisch burgundische’ Mode definiert werden kann. Bei der Betrachtung von Fürstenkleidung an anderen Höfen kann man sich an konkreten Anhaltspunkten orientieren und einen burgundischen Modeeinfluß relativ leicht ermitteln. So deuten beispielsweise Fresken, die im Schifanoia Palast in Ferrara zwischen 1458 und 1460 gemalt wurden und auf denen Damen in burgundischer Kleidung zu sehen waren, auf burgundische Mode am Hof von Ferrara hin.14 Als nach dem Tod Herzog Karls des Kühnen dessen Tochter Maria Maximilian I. heiratete und das Herzogtum an das Haus Habsburg fiel, ebbte auch die Dominanz der bur10

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Zur persönlichen Vorliebe Herzog Philipps des Guten von Burgund für schwarze Kleidung siehe Annette Kamieth, Die Farbe Schwarz in der europäischen Modegeschichte der frühen Neuzeit. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Berlin 2001, S. 28-33. Karl V., der in den Niederlanden aufwuchs, präferierte ebenfalls schwarze Kleidung. Ebd., S. 40; Krause, Lenning [Anm. 9], S. 107. Michel Pastoureau, Vers une histoire sociale des couleurs. In: Ders., Couleurs, images, symboles. Etudes d’histoire et d’anthropologie. Paris 1989, S. 9-68, hier S. 35. Werner Paravicini, The Court of the Dukes of Burgundy. A Model for Europe? In: Ronald G. Asch, Adolf M. Birke (Hgg.), Princes, Patronage, and the Nobility. The Court at the beginning of the Modern Age c. 1450-1650 (Studies of the German Historical Institute London). Oxford 1991, S. 69-102. Dies gilt etwa für die Hoforganisation. Vgl. Paravicini [Anm. 12], S. 92-102. Für höfische Feste ist der angenommene burgundische Einfluß widerlegt: Karl-Heinz Spieß, Höfische Feste im Europa des 15. Jahrhunderts. In: Michael Borgolte (Hg.). Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik (Europa im Mittelalter 1). Berlin 2001, S. 339-357. Daran anschließend auch Werner Paravicini, Deutsche Adelskultur und der Westen im späten Mittelalter. Eine Spurensuche am Beispiel der Wittelsbacher. In: Joachim Ehlers (Hg.), Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 56). Stuttgart 2002, S. 457-506, hier S. 465-466. Paravicini [Anm. 12], S. 94.

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gundischen Mode ab. Um etwa 1480 wandelte sich die Fürstenmode grundlegend. Statt der langen, spitzen, übertriebenen Formen, die die Vertikale betonten, kleideten sich die Fürsten und Fürstinnen nun in rundere, den natürlichen Körperproportionen angepaßte, ausladende Formen. Die Frauenröcke verloren Dekolleté und Schleppe, die Taille wurde breiter und rückte an ihre natürliche Stelle, und die Rockpartie nahm eine vorgewölbte, bauschige Form an. Die Ärmel waren häufig geschlitzt, so daß das Hemd darunter gesehen werden konnte. Die Männer trugen weiterhin das Wams, dessen Ärmel gebauscht, gepufft, geschlitzt und bestickt werden konnten. Dazu wurden Kniehosen, die wie die Wamsärmel mit Bauschen, Puffen und Schlitzen versehen waren, und Strümpfe angezogen. Ein besonderes Charakteristikum dieser Mode war die Schaube, ein mantelartiger Überrock, der meist bis zu den Knien reichte, einen großen, häufig bis über die Schultern reichenden Kragen und weite bauschige Ärmel besaß, die auf Höhe der Ellbogen eine zweite Öffnung haben konnten. An die Stelle der Schnabelschuhe traten runde, breite Schuhe, die sogenannten Kuhmäuler oder Bärenfüße; als Kopfbedeckung wurde nun von beiden Geschlechtern vorwiegend das Barett getragen. Das Aufkommen dieser bequemen, aber dennoch repräsentativen Kleidung um 1480 wird in der Kostümgeschichte mit dem wirtschaftlichen Aufblühen der großen Städte und der daraus resultierenden steigenden Bedeutung der wohlhabenden Stadtbürger verknüpft. Bezüglich der Kleidung verdrängten sie immer mehr den Adel und traten als Anreger für Moden neben die Fürstenhöfe. Zeichen dieser ‚Verbürgerlichung der Mode’ (KÜHNEL) waren insbesondere die Schaube, die breiten ausladenden Formen und die Verwendung von viel Pelzwerk.15 In welchem sozialen Milieu diese Mode zuerst verankert war, ob die reichen Stadtbürger in ihrer Kleidung die Fürsten nachgeahmt oder ob sich andersherum die Fürsten an der Mode der reichen Städter orientiert haben, läßt sich nicht mehr feststellen. Die Verbreitung dieser Renaissancemode nahm ihren Ausgangspunkt jedenfalls vermutlich im Reich; sie wurde von vielen Fürstenhöfen in benachbarten Ländern aufgegriffen, besonders die Schaube sowie die Ausschnitt- und Ärmelformen der Frauenkleider.16 Diese grundsätzlichen Gemeinsamkeiten der europäischen Fürstenmode hinsichtlich Materialien, Farben und Schnitte schlossen nicht aus, daß Fürsten individuelle Kleidung trugen oder persönliche Präferenzen für bestimmte Farben oder Stoffe besaßen.17 In ihrer jeweiligen stofflichen Beschaffenheit, ihren Schnitten, Farbtönen und Musterungen waren die fürstlichen Kleidungsstücke in einem gewissen Maße individuell gestaltet, ohne jedoch ihren Bezug zur herrschenden Bekleidungsweise zu verlieren. Hier kommt das Paradoxon der Mode, auf das Georg SIMMEL hingewiesen hat, zum Tragen. Während die Mode dazu führt, daß der Einzelne in der Masse aufgeht, stillt sie gleichzeitig das Be15 16 17

Kühnel (Hg.) [Anm. 9], S. LVIII-LIX. Krause, Lenning [Anm. 9], S. 102, S. 97. Auf die Vorliebe für schwarze Kleidung seitens Philipps des Guten ist bereits hingewiesen worden. Ein weiteres markantes Beispiel war Ludwig von Savoyen, welcher graue und braune Kleider trug – ein Umstand, der vermutlich auf seine Religiösität zurückzuführen ist. Vgl. Page [Anm. 9].

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dürfnis des Einzelnen, sich von der Menge abzuheben und sich zu unterscheiden.18 Distinktion und Anpassung stehen in einem ständigen, wechselseitigen Spannungsverhältnis zueinander.

Abgrenzungen mittels Kleidung Auf den zweiten Blick erweist sich die Kleidung der europäischen Fürsten im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert also durchaus als heterogen. Dieser Eindruck basiert nicht ausschließlich auf vorhandenen individuellen Distinktionen, sondern ist darüber hinaus auf regionale und länderspezifische Unterschiede in der Kleidung zurückzuführen. Rufen wir uns die eingangs geschilderte Debatte um die Kleidung Sybillas von Brandenburg in Erinnerung, stellt sich die Frage, wie sich eine im wesentlichen einheitliche europäische Fürstenmode zu unterschiedlicher Kleidung an den Höfen in Ansbach und am Rhein verhält. Es gilt offenbar, hinsichtlich der Fürstenkleidung verschiedene Ebenen voneinander zu unterscheiden. Auf einer übergeordneten Ebene existierte unter dem Dach einer überwölbenden Hochadelskultur eine Fürstenmode, die an den Höfen in weiten Teilen Europas getragen wurde. Auf einer anderen Ebene gab es regionale Varianten, die sich auf Details eines Kleidungsstückes wie die Länge des Saumes oder den Faltenwurf bezogen. Sozusagen dazwischen differenzierte sich auf einer dritten Ebene Fürstenkleidung in verschiedene länderspezifische Moden aus. In einem französischen Bericht über die Zusammenkunft von Herzog Karl dem Kühnen von Burgund und Kaiser Friedrich III. in Trier 1473 wird angeführt, daß der Kaiser, sein Sohn Maximilian und die Fürsten, die ihn begleiteten, zu einem ersten Treffen mit Karl dem Kühnen am 4. Oktober in sehr schöne und prächtige Kleider à leur mode gekleidet waren.19 Und dem französischen Adeligen Philippe de Commynes, der in seinen Memoiren die Feierlichkeiten anläßlich der Bekanntgabe der Liga am 31. März 1495 in Venedig schilderte, kamen die italienischen Kleider bien courtes vor.20 Erfaßt wurden fremde Moden mittels des Kleidungsschnittes, der zum signifikanten Kriterium für die Unterscheidung zwischen dem vertrauten Eigenen und dem anderen Fremden wurde. Dabei wurde implizit die bekannte einheimische Mode als eine Art Kontrastfolie verwendet, vor der die Abweichungen und fremden Elemente anderer Moden sichtbar wurden. Fremde Moden wurden demnach immer als Gegenentwurf zu der 18

Georg Simmel, Philosophie der Mode (1905). Hrsg. von Michael Behr, Volkhard Krech, Gert Schmidt (Georg Simmel – Gesamtausgabe 10). Frankfurt a. M. 1995, S. 9-37, bes. S. 11. 19 Extract d’une lettre contenant une relation des premières entrevues de Charles-le-Téméraire et de l’empereur Fréderic a Trèves. 4. octobre 1473. In: Actenstücke und Briefe zur Geschichte des Hauses Habsburg im Zeitalter Maximilian’s I. (Monumenta Habsburgica 1, 1). Hrsg. v. Joseph Chmel. Bd. 1. Wien 1854, Nr. 16, S. 59-62, hier S. 59. 20 Philippe de Commynes, Mémoires. Hrsg. v. Joël Blanchard. Paris 2001, S. 567.

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bekannten Mode konstruiert. An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert erschöpften sich kulturelle Differenzierungen in der Fürstenkleidung jedoch nicht in der Opposition ‚eigen’/‚fremd’; sie wurden immer öfter ‚national’ ausgedeutet und wiesen damit über das Fremde, das Andere hinaus. Philippe de Commynes bringt dies pointiert zum Ausdruck, wenn er in seinen Memoiren bezüglich Fürstentreffen schreibt: Et quant ce sont deux nations differantes, leur langaige et habillemens sont differans; et ce quil plaist a l’ung ne plaist pas a l’autre.21 Da nationale Identität am Ende des Mittelalters immer kulturell begründet wurde und in kulturellen Praktiken, wie der Art und Weise sich zu kleiden, Niederschlag fand, ist es nicht verwunderlich, daß sich die intensivere Ausprägung eines nationalen Bewußtseins zeitlich mit dem Auftauchen nationaler Kategorien in der Mode deckt.22 Verankert wurden diese ‚nationalen Moden’ wiederum im Kleidungsschnitt, indem die Zeitgenossen eine bestimmte Art des Kleidungsschnittes als Merkmal eines bestimmten Landes ausmachten. In einer Beschreibung über die Hochzeit von Herzog Georg von Bayern mit der polnischen Königstocher Hedwig in Landshut 1475 wurde wiederholt vermerkt, daß Hedwig Kleider auf polonisch sitten gemacht trug 23, die offenbar für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich weit geschnitten waren.24 Über Beatrix von Neapel, die vor ihrer Hochzeit mit König Matthias von Ungarn 1476 gekrönt wurde, wird berichtet, daß sie in iren waelischen klaydern25 zur Krönung und mit einem Schleier alsdann die Walhin tragen26 zur Trauung erschien. Die Kleidung der Reichsfürsten ist demnach an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit in einem Spannungsfeld von europäischen, (national-) kulturellen und regionalen Moden anzusiedeln. Obwohl die nationalen Tendenzen im Reich nicht überschätzt werden dürfen und die Kleidung aufgrund eines fehlenden politischen und kulturellen Zentrums stark regionalisiert blieb 27, treten „nationale Abschließungstendenzen“ in der Fürsten21 22

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Commynes [Anm. 20], S. 194. Vgl. Claudius Sieber-Lehmann, Spätmittelalterlicher Nationalismus. Die Burgunderkriege am Oberrhein und in der Eidgenossenschaft (Veröffentlichungen des Max-Planck Instituts für Geschichte 116). Göttingen 1995; Katharina Simon-Muscheid, ‚Schweizergelb’ und ‚Judasfarbe’. Nationale Ehre, Zeitschelte und Kleidermode um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Zeitschrift für historische Forschung 22 (1995), S. 317-343. Gleichzeitige und vollständige Beschreibung der berühmten Hochzeit H. Georg des Reichen zu Lanndshut [sic] 1475. In: Beyträge zur vaterländischen Historie, Geographie, Statistik und Landwirthschaft, samt einer Übersicht der schönen Literatur. Hrsg. v. Lorenz Westenrieder. Bd. 2. München 1789, S. 105-221, hier S. 142, auch S. 124, S. 136. Das geht aus einer weiteren Festbeschreibung hervor. Vgl. den Bericht des sog. Markgrafenschreibers. In: Zeitgenössische Quellen zur Landshuter Fürstenhochzeit 1475. Hrsg. v. Sebastian Hiereth. Landshut 1959, S. 14-51, hier S. 26, S. 34. Bericht Hans Seyboldts. In: Beyträge zur vaterländischen Historie, Geographie, Statistik und Landwirthschaft, samt einer Übersicht der schönen Literatur. Hrsg. v. Lorenz Westenrieder. Bd. 3. München 1790, 120-145, hier S. 124. Westenrieder [Anm. 25], S. 128. Zu Nation und Reich vgl. Joachim Ehlers, Artikel ‚Natio’. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6 (1993), Sp. 1035-1038, hier Sp. 1036.

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kleidung an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert besonders deutlich zu tage, weil Fürsten in vielerlei Hinsicht „grundsätzlich international ausgerichtet“ waren.28 Trotz größerer länderspezifischer und kleinerer regionaler Unterschiede blieb die europäische Fürstenkleidung jedoch bestimmten gemeinsamen Charakteristika verhaftet.

Die Vermittlung von Moden Auch in der Mode rührten regionale Diskrepanzen von einem innerhalb Europas – wie innerhalb des Reiches – bestehenden Spannungsverhältnis zwischen „der autochthonen Entfaltung von Regionen“ auf der einen Seite und „der Beeinflussung einer Region durch eine andere“ auf der anderen Seite her.29 Aus diesem Spannungsverhältnis resultierten Angleichungsprozesse, die sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts beschleunigten.30 In diesem Prozeß konnte Mode zu einem ‚Machtfaktor’ in dem Sinne werden, daß die Durchsetzung von Moden, die Dominanz einer Mode und Auseinandersetzungen um Partizipationen an einer Mode mit Machtausübung zusammenhängen. 31 Die Vermittlung von Fürstenmoden im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert wurde durch die zahlreichen Kontakte innerhalb des europäischen Fürstenstandes begünstigt. Diese Kontakte fußten nicht zuletzt auf einem relativ dichten Netz von Heiratsbeziehungen32 und wurden mit der zunehmenden Mobilität im ausgehenden Mittelalter noch einmal intensiviert. Im Rahmen von höfischen Festen und Herrschertreffen, Aufenthalten zu Erziehungs- und Ausbildungszwecken, verwandtschaftlichen Besuchen und Reisen kamen Fürsten persönlich zusammen und lernten gegenseitig die Mode des anderen kennen. Durch das Gesandtschafts- und Botenwesen wurde zudem das Wissen über Klei-

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Sieber-Lehmann [Anm. 22], S. 16-17. Peter Moraw, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch. In: Ders., Über König und Reich. Aufsätze zur deutschen Verfassungsgeschichte des späten Mittelalters. Hrsg. v. Rainer C. Schwinges. Sigmaringen 1995, S. 293-320, hier S. 293. Zu kulturellen Kontakten und Transferprozessen zwischen dem Reich und West- bzw. Osteuropa vgl. Joachim Ehlers (Hg.), Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 56). Stuttgart 2002 und Thomas Wünsch (Hg.), Das Reich und Polen. Parallelen, Interaktionen und Formen der Akkulturation im hohen und späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 59). Ostfildern 2003. Moraw [Anm. 29], S. 293, S. 312. Vgl. grundlegend dazu René König, Menschheit auf dem Laufsteg. Die Mode im Zivilisationsprozeß (René König – Schriften 6). Hrsg. v. Hans Peter Thurn. Opladen 1999. Siehe Karl-Heinz Spieß, Europa heiratet. Kommunikation und Kulturtransfer im Kontext europäischer Königsheiraten des Spätmittelalters. In: Rainer C. Schwinges, Christian Hesse, Peter Moraw (Hgg.), Europa im späten Mittelalter. Politik – Gesellschaft – Kultur (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F. 40). München 2005, S. 433-462.

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dung an anderen Höfen nicht nur durch Berichte der Gesandten vermehrt, sondern auch durch Kleider- oder Stoffgeschenke, die in die Heimat mitgenommen wurden.33 Im Zusammenhang mit der Vermittlung von Moden ist die katalysierende Funktion von Fürstenheiraten wohl kaum zu überschätzen, weshalb sie als Kristallisationspunkte für das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Moden exemplarisch betrachtet werden können. Fürstenheiraten waren in dreierlei Hinsicht für die Vermittlung von Moden besonders bedeutsam: erstens wegen der persönlichen Begegnung anläßlich des Hochzeitsfestes selbst, zweitens aufgrund des Brautschatzes, der einer Fürstentochter mit in die Ehe gegeben wurde, und drittens wegen der Übersiedlung von Personen – der Fürstin mit einem kleinen Gefolge an den Hof ihres Mannes. Spielten diese Aspekte offenbar schon eine Rolle, wenn Fürsten und Fürstinnen aus verschiedenen Regionen innerhalb des Reiches heirateten, war dies um so mehr der Fall, wenn die Ehepartner aus verschiedenen Ländern stammten. Zum Hochzeitsfest34 reisten die Familienmitglieder beider Brautleute mit ihrem Gefolge an, und diese Präsenz von Gästen aus verschiedenen Kulturräumen bildete die Voraussetzung dafür, daß verschiedene Moden aufeinandertreffen konnten. Die Hochzeitsfeste wurden somit zu einer Art Forum, auf dem Moden zur Schau gestellt und bestaunt werden konnten. So nahm etwa Markgraf Rudolfo von Mantua mit einem Gefolge von 26 Mann an der Hochzeit seiner Schwester Barbara mit Eberhard von Württemberg in Urach teil35 – und kehrte in deutscher Kleidung nach Mantua zurück.36 Neben der persönlichen Begegnung von Fürsten waren die Brautschätze37 für die Vermittlung von Moden bedeutsam, weil sie zu einem großen Teil aus Kleidungsstücken und Stoffen bestanden. Indem die Braut ihre eigene, nach dem Kleidungsstil ihrer Heimat gestaltete Kleidung mit in die Ehe brachte, gelangte diese Mode an den Hof ihres Mannes. So hatte beispielsweise Bianca Maria Sforza mehrere italienische Kleidungsstücke und spezifische Kopfbedeckungen im Gepäck, als sie mit Maximilian I. vermählt 33

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Zum Gesandtschaftswesen vgl. Rainer C. Schwinges, Klaus Wriedt (Hgg.), Gesandtschaftsund Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa (Vorträge und Forschungen 60). Ostfildern 2003. Welche Rolle Stoffe und Kleidungsstücke als Gaben im diplomatischen Verkehr spielten, zeigt Petra Ehm, Burgund und das Reich. Spätmittelalterliche Außenpolitik am Beispiel der Regierung Karls des Kühnen (1465-1477) (Pariser Historische Studien 61). München 2002, bes. S. 276-277, S. 279, S. 284. Zu Hochzeitsfesten siehe Spieß [Anm. 13], exemplarisch Gabriel Zeilinger, Die Uracher Hochzeit 1474. Form und Funktion eines höfischen Festes im 15. Jahrhundert (Kieler Werkstücke. Reihe E. Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2). Frankfurt a. M. 2003. Zeilinger [Anm. 34], S. 120. Karl-Heinz Spieß, Fremdheit und Integration der ausländischen Ehefrau und ihres Gefolges bei internationalen Fürstenheiraten. In: Thomas Zotz (Hg.), Fürstenhöfe und ihre Außenwelt (Identitäten und Alteritäten 16). Würzburg 2004, S. 267-290, hier S. 288. Zu Brautschätzen siehe Karl-Heinz Spieß, Unterwegs zu einem fremden Ehemann. Brautfahrt und Ehe in europäischen Fürstenhäusern. In: Irene Erfen, Karl-Heinz Spieß, Fremdheit und Reisen im Mittelalter. Stuttgart 1997, S. 17-36, hier S. 26-29.

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wurde.38 Besonders markant wichen die Formen der italienischen Kopfbedeckungen von den im Reich üblichen Kopfbedeckungen ab. Während die italienischen Hauben eher runde, kugelige Formen aufwiesen und die italienischen vornehmen Frauen häufig eine Art Haarnetz trugen, setzten die deutschen Fürstinnen zu dieser Zeit eher spitze, hohe Hauben nach burgundischer Art auf; statt Haarnetzen und Bändern waren flache Barette im Reich üblich.39 Für die Vermittlung von Moden erweist sich schließlich im Kontext von Fürstenheiraten der Umstand wichtig, daß Personen umzogen. Nach der Eheschließung begab sich eine Fürstin, häufig begleitet von einem kleinen Gefolge, an den Hof ihres Mannes.40 Zu diesem Gefolge konnte auch ein Schneider gehören. So brachte Mechthild von Hessen nach ihrer Heirat mit Herzog Johann von Kleve neben zwei Jungfrauen, einer Kammermagd, zwei Knaben und einem Kaplan einen Schneider mit.41 Im Kontext von Fürstenheiraten, bei denen die Eheleute aus verschiedenen Ländern stammten, waren die Unterschiede in der Kleidung größer und auffälliger als innerhalb des Reiches. Leider sind nur in einigen wenigen Fällen Hinweise darauf überliefert, wie die neue Umgebung auf die sichtbaren kulturellen Unterschiede in der Kleidung reagierte. Bei der Hochzeit Maximilians I. mit Bianca Maria Sforza im März 1494 wünschte Maximilian – dem Bericht eines Mailänder Gesandten zufolge – daß seine Braut zum sonntäglichen Meßgang am 16. März deutsch gekleidet und mit einer schönen Krone, die er ihr geschenkt hatte, erscheine.42 Er wollte also, daß seine Frau in der im Reich üblichen Mode auftrat. Daß dieser Wunsch offenbar einer gängigen Praxis entsprach, legt der zeitgenössische Bericht des sog. Markgrafenschreibers über die Landshuter Hochzeit 1475 nahe, in dem vermerkt wird, daß Hedwig eine sehr wolgestalte und wolgeschickte Fuerstin sein werde, sobald sie nach deutschen Sitten gekleidet sei.43 Galeazzo Sforza plante sogar, den Wechsel der Kleidung seiner Frau Bona auf Fresken darstellen zu las38

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Vgl. das Brautausstattungsverzeichnis. In: Bianca Maria Sforza-Visconti, Regina dei Romani, Imperatrice Germanica, e gli Ambascatori di Ludovico il Moro alla Corte Cesarea. Secondo nuovi documenti. Hrsg. v. Felice Calvi. Mailand 1888, S. 131-147, hier S. 134-138. Zu italienischen Kleidungsstücken und Kopfbedeckungen vgl. Rosita Levi Pisetzky, Il costume e la moda nella società italiana. Turin 1978. S. 184-192, S. 208-224. Spieß [Anm. 36], S. 281-282; Spieß [Anm. 37], S. 33. Regesten der Landgrafen von Hessen. Bearb. v. Karl E. Demandt (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 6). Bd. 2, 1. Marburg 1990, Nr. 1191, S. 466-467, hier S. 466. Ein ebenso zusammengesetztes Gefolge sollte Sybilla von Brandenburg mitnehmen. Abschied der Räte Herzog Wilhelms von Jülich und Berg. In: Politische Correspondenz des Kurfürsten Albrecht Achilles. Hrsg. v. Felix Priebatsch (Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven 67). Bd. 2. 1475-1480. Neudruck der Ausgabe von 1897. Osnabrück 1965, Nr. 702, S. 653-655, hier S. 654. Schreiben des Mailänder Gesandten Erasmus Brascha an Herzog Ludovico Sforza. In: J. F. Böhmer, Regesta Imperii XIV. Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I., 1493-1519. Bd. 1. Bearb. v. Hermann Wiesflecker. Wien, Köln 1990, Nr. 477, S. 59. Hiereth [Anm. 24], S. 36. Erwähnt auch bei Spieß [Anm. 36], S. 278.

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sen.44 Dem Kleiderwechsel war eine symbolische Komponente eigen. Er versinnbildlichte den Wechsel einer Fürstin von der Manus ihrer Eltern in die Manus ihres Mannes. Indem er seine Frau so kleidete, wie es am Hof üblich war, setzte der Fürst ein Zeichen für ihre Zugehörigkeit zu ihm und nahm sie sichtbar in seine Familie auf. Vermutlich sollte ein derartiger Kleiderwechsel auch eine integrierende Funktion haben 45, denn obwohl die Einkleidung nach der Mode des Mannes der Ehefrau erneut ihr Fremdsein vor Augen führen konnte, konnte sie zugleich ihre Anpassung an die neue Umgebung erleichtern. Für die alltägliche Praktik des Sich-Kleidens darf die Bedeutung des Kleiderwechsels im Rahmen interkultureller Fürstenheiraten jedoch nicht überinterpretiert werden. In der Ehe haben Fürstinnen vermutlich sowohl die Kleidung ihrer alten Heimat als auch die Kleidung ihres neuen Zuhauses getragen. Wenn eine Fürstin einen Schneider in ihrem Gefolge mit an den Hof ihres Mannes brachte, ist anzunehmen, daß dieser weiterhin ihre Kleider fertigte. Wenngleich dies nicht zwangsläufig bedeutete, daß er ihre Kleider nach den ihm bekannten Schnitten fertigte, spricht doch einiges dafür. Des weiteren ist wahrscheinlich, daß Fürstinnen die von ihnen in der Brautausstattung mitgeführten Kleider auch anzogen. Ein Indiz dafür, daß diese nicht ein reines Prestigeobjekt darstellten, sondern zum tatsächlichen Gebrauch vorgesehen waren, liefert abermals das gut dokumentierte Beispiel der Vermählung von Sybilla von Brandenburg mit Herzog Wilhelm von Jülich-Berg. In dem zu Beginn erwähnten Schreiben des Brautvaters an den Schwiegersohn in spe wies Albrecht nämlich darauf hin, daß er mit Rücksicht auf das noch zu erwartende Wachstum seiner Tochter ihre Kleider so hatte nähen lassen, daß sie erst in drei oder vier Jahren herausgewachsen sei.46 Wenn eine Fürstin keinen Schneider mitbrachte, erhielt sie nach der Heirat vom Schneider ihres Mannes Kleidung bzw. der Fürst nahm für sie einen eigenen Schneider in seine Dienste. In beiden Fällen wurde die Kleidung vermutlich nach der am Hof des Mannes herrschenden Bekleidungsweise genäht. Insbesondere bei Heiraten zwischen Fürsten und Fürstinnen aus verschiedenen Ländern erscheint es darüber hinaus plausibel, daß die Zeitgenossen die Fürstinnen ermutigten, sich nach der Mode ihrer neuen Heimat zu kleiden, um ihnen dadurch bei der Integration in die neue Umgebung zu helfen. Darauf deutet auch der Kleiderwechsel hin. Schließlich hatten die Ehefrauen ohnehin schon einiges zu verkraften: Sie befanden sich in einem fremden Land fern von ihrer Heimat, waren zumeist von Menschen umgeben, die sie nicht kannten und deren Sprache sie häufig nicht verstanden, und mußten neue gesellschaftliche Normen und Regeln lernen.47 Man wird demnach von einem Nebeneinander verschiedener Moden bei Hofe ausgehen können, vielleicht sogar von ‚hybriden Kleiderformen’. Ob und in wie fern sich die verschiedenen Moden miteinander ‚vermischt’ haben, läßt sich jedoch in den Quellen nicht 44 45 46

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Spieß [Anm. 36], S. 278. Spieß [Anm. 37], S. 32. Redlich [Anm. 2], S. 274. Sybilla war bei der Hochzeit 14 Jahre alt. Schwennicke [Anm. 1], Tafel 96. Vgl. Spieß [Anm. 36].

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mehr fassen. Verzeichnet wurden die ungewöhnlichen Kleidungsstücke, also diejenigen, die eben gerade dadurch auffielen, daß sie vom Gewöhnlichen abwichen, und deshalb bemerkenswert erschienen. So wird beispielsweise in den Rechnungsbüchern der sächsischen Hofschneiderei ein französischer Rock aus rotem Samt mit grauem Atlasfutter, den Herzog Friedrich der Weise 1497 erhielt, aufgeführt.48 War die Anfertigung eines Kleidungsstückes mit einem besonderen Schnitt erwünscht, mußten offenbar auch besondere Maßnahmen ergriffen werden. Eine Möglichkeit bestand darin, sich einen Schneider kommen zu lassen, der über die entsprechenden Fähigkeiten verfügte. So hatte Herzogin Amalie von Bayern vermutlich ein Rock ihrer Schwester Anna, der Gemahlin Kurfürst Albrechts von Brandenburg, so gut gefallen, daß sie ebenfalls so einen Rock haben wollte. Denn Anna schickte ihr schwarzen Samt und dazu ihren Schneider, der uch die rock wol machen kann nach unnßerm snidt.49 Der Schneider sollte vor Ort den Rock nach dem Schnitt, wie Anna ihn trug, anfertigen. In ihrem Antwortbrief bedankte sich Amalie und versicherte Anna, daß sie den Schneider solange bei sich behalten werde, bis das er uns solche cleider gemacht habe, und ihn darnach uwer lieb wider ubirsenden werde.50 In fürstlichen Kleidertruhen und -schränken stachen solche Kleidungsstücke durch ihr ‚Anderssein’, das dem Betrachter ins Auge fiel, hervor. Verstärkt wurde dieser Eindruck dadurch, daß es sich um einige wenige Kleidungsstücke gehandelt hat.

Die Bedeutung von Kleidung für kulturelle Identität Betrachtet man abschließend die Art und Weise, wie sich die Reichsfürsten im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert kleideten, ergibt sich ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite konstituierten sie sich über Kleidung in Abgrenzung von anderen als kulturelle Gruppe. Diese Abgrenzungen konnten auf verschiedenen idealtypischen Ebenen vorgenommen werden – auf einer europäischen, einer länderspezifischen, häufig national gewendeten oder einer regionalen Ebene. Auf der anderen Seite wurden diese kulturellen Grenzen immer wieder dadurch durchbrochen, daß Moden aus anderen Ländern oder Regionen übernommen wurden. Infolgedessen verschieben sich die Abgrenzungsebenen mit der Ausbreitung der Mode immer wieder gegeneinander. Was vorher eine regionale Mode war, konnte zu einer überregionalen Mode werden. Erinnert sei an die schwarze Kleidung, die von einer persönlichen Vorliebe Philipps des Guten zunächst zu einer

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Weimar, Thüringisches Hauptstaatsarchiv, Ernestinisches Gesamtarchiv Reg. Bb. 5910, fol. 5r und fol. 10v. Kurfürstin Anna von Brandenburg an Herzogin Amalie von Bayern. In: Georg Steinhausen, Deutsche Privatbriefe des Mittelalters. Bd. 1. Fürsten und Magnaten, Edle und Ritter, Berlin 1989, Nr. 321, S. 217. Herzogin Amalie von Bayern an Kurfürstin Anna von Brandenburg. In: Steinhausen [Anm. 49], Nr. 323, S. 218-219.

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regionalen Mode in Burgund wurde und sich dann im Laufe des 15. Jahrhunderts an den Fürsten- und Königshöfen in ganz Europa durchsetzte. Als Ankerpunkt für die verschiedenen Ebenen, die sich dynamisch zueinander verhalten und eng miteinander verzahnt sind, erweist sich der Fürstenhof. Der Hof liegt gewissermaßen quer zu den Kategorien Europa, Nation und Region, indem er sich auf alle drei Kategorien beziehen läßt. Dieses integrative Moment des Hofes kommt auch bei der Konstituierung einer kulturellen Identität der Fürsten mittels Kleidung am Ende des 15. Jahrhunderts zum Tragen. Europa, Nation und Region erweisen sich auch in dieser Hinsicht als Bezugspunkte, an denen die Fürsten ihre Identitätskonstruktion orientierten und ihr Selbst- und Fremdbild immer wieder neu ausrichteten – sicherlich ohne sich dessen bewußt zu sein. Weil Identität ständig in sozialer Interaktion neu ausgehandelt und verhandelt wird und somit lebenslanger Anpassung bedarf, ist sie nicht statisch, nichts Festes, sondern höchst fragil. Gerade deshalb zielt Identität immer auf Kontinuität und Kohärenz ab. Dieses Streben nach Kohärenz spiegelt sich auch in den Kleidungspraktiken der Fürsten im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert wider, in der verschiedene ‚Identitätsstränge’ gebündelt und miteinander so verknüpft wurden, daß Widersprüchlichkeiten zugedeckt wurden. Ein Fürst besaß sowohl Kleidungsstücke, die nach der Mode anderer Länder gefertigt waren und anhand ihres Schnittes zugeordnet wurden, als auch Kleidungsstücke nach der nationalen Mode und nach der regionalen Mode. Da Fürsten sich auf allen diesen genannten Ebenen bewegten, waren abgrenzende und integrierende Funktion vom jeweiligen situativen Kontext abhängig. Dabei konnte eine Mode auf einer Ebene integrieren, während sie auf einer anderen Ebene gleichzeitig abgrenzte. Kleidungspraktiken und Moden waren demnach hoch komplex und dynamisch. In dem gleichzeitigen Nebeneinander von kulturell bedingten Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen in der Fürstenkleidung des ausgehenden Mittelalters spiegelt sich besonders deutlich jene Wechselwirkung von „Ausgleichsbewegungen und Unausgeglichenheit“, die Peter MORAW in einem anderen Zusammenhang für die deutsche und europäische Gesellschaft zu dieser Zeit konstatiert hat.51 Bezüglich der Fürstenkleidung erklärt sich dies aus dem bereits angesprochenen paradoxen Wesen der Mode. Gerade durch diese Wechselwirkung zwischen „sozialer Egalisierung“ und „individueller Unterschiedenheit“52 gewinnt die Mode ihre Dynamik, denn je weiter verbreitet eine Mode ist, desto mehr büßt sie an Möglichkeit zur Distinktion ein; ein neues Unterscheidungsmerkmal muß gefunden werden. Als Reaktion auf eine weitere Verbreitung einer Mode bleibt nur die Flucht zu einer anderen, neuen Mode.53

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Moraw [Anm. 29], S. 303. Simmel [Anm. 18], S. 11. Simmel [Anm. 18], S. 13-14, ausführlicher Bourdieu, Klassenstellung [Anm. 7], S. 63-66.

WIES,AW D,UGOK.CKI

Die Bildung der Grenze zwischen dem Deutschordensland Preußen und dem Herzogtum Masowien in den Jahren 1343-1422 Hauptquellen für dieses Thema sind Grenzbeschreibungen1, Friedens- und Grenzverträge2, Pfandverträge3, Urkunden und Akten der Schiedsgerichtsverfahren vor dem Römischen König Sigismund von Luxemburg 4 und der Briefwechsel5. Sie wurden schon von den Geschichtsforschern mehrfach genau benutzt6. Falls man sich also dazu entschloss, 1

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Preussisches Urkundenbuch, Bd. II, hg. v. Max Hein, Erich Maschke, Königsberg(Pr) 1939, Nr. 882; Bd. III,1-2, hg. v. Max Hein, Hans Koeppen, Marburg 1958-1975, Nr. 417, 418, 613, 614 (zit. PUB); Nowy kodeks dyplomatyczny Mazowsza, cz. II dokumenty z lat 12481355 [Neues Urkundenbuch Masowiens, T. 2 Urkunden 1248-1355], hg. v. Irena Su-kowska-Kura', Stanis-aw Kura', Wroc-aw etc. 1989, Nr. 212, 247, 248, 257, 258, (zit. NKDM II). PUB, III,1, Nr. 616, 617; NKDM, II, Nr. 259, 260; T. III, hg. v. dies., Warszawa 2000, Nr. 24; Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, Bd. I (13981437), zweite verb. Aufl., hg. v. Erich Weise, Marburg 1970, Nr. 1, 2, 152, 154 (zit. Staatsverträge). Codex diplomaticus Prussicus, hg. v. Johannes Voigt, Bd. III, Königsberg 1848, Nr. 99; ebd., Bd. IV, Königsberg 1853, Nr. 26, 125; ebd., Bd. V, Königsberg 1857, Nr. 126 (zit. CDP); Klaus Neitmann, Die Pfandverträge des Deutschen Ordens in Preussen, Zeitschrift für Ostforschung, 41 (1992) H.1, S. 1-66 (mit Quellenanhang Nr. 1a-1c). Lites ac res gestae inter Polonos Ordinemque Cruciferorum, ed. altera, Bd. II. Pozna/ 1892, Bd. III, hg. v. J. Karwasi/ska, Warszawa 1935 (zit. Lites). Geheimes Staatsarchiv Preussischer Kulturbesitz, Berlin, XX. Hauptabteilung, Staatsarchiv Königsberg (zit. GSAPK, XX HA.), Ordensbriefarchiv (zit. OBA); vgl. auch Regesta historico-diplomatica, Sanctae Mariae Theutonicorum, Pars I, vol. 1 1198-1454, bearb. v. Erich Joachim, hg. v. Walther Hubatsch, Göttingen 1948; Codex epistolaris Vitoldi Magni ducis Lithuaniae 1376-1430, hg. v. Antoni Prochaska, Kraków 1882 (zit. CEV). Gotthold Rhode, Die Ostgrenze Polens. Politische Entwicklung, kulturelle Bedeutung und geistige Auswirkung, I. Bd.: Im Mittelalter bis zum Jahre 1401 (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 2), Köln, Graz 1955; Gertrud Mortensen, Beiträge zur Kenntnis des nordöstlichen Mitteleuropa um 1400, Zeitschrift für Ostforschung, 9(1960), S. 333-361; Hans-Jürgen Karp, Grenzen in Ostmitteleuropa während des Mittelalters. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Grenzlinie aus dem Grenzsaum (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd. 9), Köln, Wien 1972; Klaus Neitmann, Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen 12230-1449. Studien zur Diplomatie eines spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaates (Neue Forschungen zur Brandenburg-

Grenze zwischen dem Deutschordensland Preußen und dem Herzogtum Masowien

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dieses Thema wieder darzustellen, so darum dass sich im Ordensarchiv die Grenzschilderungen und Zeugenaussagen befinden, die im Zusammenhang mit dem ersten Schiedsgerichtsverfahren 1412-1413 entstanden, und die bisher überhaupt nicht oder nur beiläufig benutzt wurden 7. Der Südteil Preussens und Nordmasowiens liegt im Zuflussgebiet des Narew, das vor der Ankunft des Deutschen Ordens in das baltische Prussenland und das polnische Masowien geteilt war. Die Prussen hatten keine Staatsordnung, sie waren in Stämmen organisiert. An der Grenze Masowiens wohnten Sassen, Galindier und Sudauer. Die Meinung, dass sich unmittelbar vor dem 13. Jahrhundert die südliche Grenze Galindiens und Sudauens bis zum Fluss Narew und seinem rechten Nebenfluss Suprasl erstreckte und dem Sassenland auch der Zipfel zwischen Wicker und 0ydynia (das Zawkrzeland) gehörte8, ist angesichts der archäologischen Ausgrabungen unbegründet9.

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Preussischen Geschichte, Bd. 6), Köln, Wien 1986; Wies#aw Sieradzan, S$siedztwo mazowiecko-krzy(ackie w okresie przemian politycznych w Europie 'rodkowo-wschodniej w latach 1411-1466 [Die Nachbarschaft Masowiens und des Deutschen Ordens im Zeitraum der politischen Umwandlungen in Mittelosteuropa in den Jahren 1411-1466], Toru& 1999; Marek Radoch, Zarys dzia#alno'ci polityczno-dyplomatycznej ksi$($t mazowieckich wobec pa&stwa krzy(ackiego w Prusach w latach 1385-1407 [Abriss der politisch-diplomatischen Tätigkeit der masowischen Herzöge gegen das Ordensland Preussen 1385-1407], Olsztyn 1998; El(bieta Kowalczyk, Dzieje granicy mazowiecko-krzy(ackiej (mi%dzy Drw%c$ a Pis$) [Geschichte der masowisch-deutschordens Grenze (zwischen Drewenz und Pissa)], Warszawa 2003. Diese Quellen wurden herausgegeben v. Wies#aw D#ugok%cki, El(bieta Kowalczyk, Opis granicy Mazowsza z pa&stwem zakonu krzy(ackiego w XIV w. [Beschreibung v. Masowiens Grenze mit dem Ordensland Preussen im 14. Jh.], Kwartalnik Historyczny (zit. KH), 109(2002), Nr. 2, S. 5-14; dies., Nieznane opisy granicy mazowiecko-krzy(ackiej. Cz. I Granice komornictwa dzia#dowskiego i nidzickiego [Unbekannte Beschreibungen der Grenze zwischen Masowien und Ordensland Preussen. T. I Grenze der Kammerämter Soldau und Neidenburg], KH, 110(2003), Nr. 1, S. 29-58; dieselben, Nieznane opisy granicy mazowiecko-krzy(ackiej. Cz. II Granica komturstwa ba#gijskiego (prokuratorstwo piskie i e#ckie) [Unbekannte Beschreibungen der Grenze zwischen Masowien und dem Ordensland Preussen.T. II Die Grenze der Komturei Balga (Pflegerämter Johannisburg und Lyck)], KH, 111(2004), Nr. 1, S. 5-37. Heinrich Harmjanz, Volkskunde und Siedlungsgeschichte Altpreussens (Neue Deutsche Forschungen. Abteilung Volkslehre und Gesellschaftskunde, Bd. 9), Berlin 1936, S. 52-69 u. Karte. Jan Tyszkiewicz, Mazowsze pó#nocno-wschodnie we wczesnym 'redniowieczu. Historia pogranicza nad górn$ Narwi$ do po#owy XIII w. [Nord-östliches Masowien im Frühmittelalter. Geschichte des Grenzgebietes am oberen Narew bis zur Hälfte des 13. Jhs.], Warszawa 1974, S. 159-162 und Karten 6-7; Kowalczyk, (wie Anm. 6), S. 157-196.

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Polnische Herzöge versuchten im 12. Jahrhundert erfolglos, das südliche Grenzgebiet des Prussenlandes zu erobern oder zumindest zu unterwerfen10. An den langjährigen Kämpfen um das Prussenland im 13. Jahrhundert beteiligten sich der Deutsche Orden, die polnischen Herzöge, die Könige von Böhmen und Litauen und sogar das Fürstentum Wladimir-Halicz. Dank dem Papstum, dem Kaisertum und der Hilfe des Reiches besiegte der Deutschorden alle Gegner und brachte um 1280 die Eroberung zum Ende11. Infolge der langjährigen Kriege des 12. und 13. Jahrhunderts wurde das Grenzgebiet zwischen dem Prussenland, Masowien und Litauen fast ganz entvölkert, und zur „große Wildnis” genannten Siedlungsöde12. Nach der Eroberung des Prussenlandes begann der Orden mit der Kolonisierung, und schon in den zwanziger Jahren des 14. Jahrhunderts drang die Besiedlung bis zur südwestlichen Grenze des Wildnisgebietes vor. Vor dem Orden stand die Aufgabe, die Wildnis zu kolonisieren und damit zugleich die Grenzen festzulegen. Vor allem nahm der Orden den Bau eines Netzes von Burgen in Angriff, die zur Aufgabe hatten, die Süd- und Ostgrenze des Ordenslandes zu schützen. Eine große Rolle bei der Festlegung der Grenze des südlichen Sassenlandes spielte die planmäßige Siedlungstätigkeit. Sie begann schon in den zwanziger Jahren im Löbauer Land und im östlichen Sassenland. Bereits 1328 sind unmittelbar an der Neide drei große, kriegspflichtige Dienstgüter erwähnt. Innerhalb der folgenden zehn Jahre wurde das östliche Sassenland erschlossen 13. Um diese Zeit befand sich das geteilte Herzogtum Masowien ausserhalb des wiederaufgebauten Königreichs Polen. Seine Herzöge bemühten sich, Unabhängigkeit von Polen zu erhalten. Dreimal wurde das Bündnis zwischen dem Orden und den Herzögen Masowiens geschlossen (1321, 1326, 1335)14. 10

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Über polnisch-prussische Beziehungen vor der Ankunft des Deutschen Ordens vgl. letztens Grzegorz Bia/u%ski, Studia z dziejów plemion pruskich i ja#wieskich [Studien zur Geschichte prussischer und sudauischer Volksstämme], Olsztyn 1999. Über die Eroberung des Prussenlandes s. synthetisch Marian Biskup, Gerard Labuda, Dzieje zakonu krzy'ackiego w Prusach. Gospodarka, spo/ecze%stwo, pa%stwo, ideologia [Die Geschichte des Deutschen Ordens in Preussen. Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Ideologie], Gda%sk 1986, S. 85-185. Über die geographische Umwelt des Narewzuflussgebietes und die Wildnis s. Friedrich Mager, Der Wald in Altpreussen als Wirtschaftsraum (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 7,1), I. Bd., Köln, Graz 1960, S. 15-28; Jan Tyszkiewicz, Dawne Puszcze Ponarwia [Ehemalige Wildnisse des Narewzuflussgebietes]. In: ders., Geografia historyczna Polski w &redniowieczu [Historische Geographie Polens im Mittelalter], Warszawa 2003, S. 75-93; Kowalczyk, (wie Anm. 6), S. 47-68. Karl Kasiske, Die Siedlungstätigkeit des Deutschen Ordens im östlichen Preußen bis zum Jahre 1410 (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreussische Landesforschung, 5), Königsberg Pr. 1934, S. 74-78; Max Aschkewitz, Die Siedlungstätigkeit des Bischofs Otto von Kulm (1323-1349) in der Löbau, Altpreussische Forschungen, 20(1943), S. 85-95. PUB, II, Nr. 335, 540, 521, 542; III, Nr. 3; NKDM, II, Nr. 158, 179, 180, 213. Zu den Beziehungen zwischen dem Deutschorden und Masowien in der ersten Hälfte des 14. Jhs. s. E.

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Aus den Dreißigern und dem Anfang der vierziger Jahre stammen einige Beschreibungen der preussisch-masowischen Grenze15. Nur eine der Beschreibungen stammt wahrscheinlich von einem Grenzumritt mit Teilnahme beider Seiten. Als Quelle des Wissens des Ordens über den Grenzverlauf wurden die Prussen erwähnt. Die Beschreibungen umfassten verschiedene Teile der Strecke zwischen dem Fluss Branitza und dem Ursprung des Flusses Bobr am Osten. Als Grenzpunkte sind Flüsse, Wälder, Sümpfe und Seen erwähnt. Es drängt sich die Frage auf, ob wir in jedem Fall mit der Schilderung der ganzen Grenze oder nur mit einem Teil zu tun haben, da die ganze Strecke erst in den Brattianer Grenzverträgen festgestellt wurde. Zweimal wurden als östlicher Ausgangspunkt die Mündung der Wissa und einmal die des Lyckflusses in den Bobr genannt, was bedeutete, dass das Sudauerland nördlich des Bobr ganz im Ordensland verblieb. Nur eine der Schilderungen, die übrigens als zeitweilig bezeichnet wurde, gab als Anfangspunkt die Bobrquelle an, wo sich um 1325 die nordöstliche Grenze Masowiens befand 16. Am weitesten nach Süden verlief die Grenze in der Beschreibung des Hochmeisters Luter von Braunschweig: Von der Mündung des Lyckflusses und an den Flüssen Gumere (Gr&zka oder Kubra), Skroda und Pissa entlang bis zur $abnamündung. Erwähnenswert ist, dass sogar in dieser Beschreibung der Narew nicht als Südgrenze erwähnt ist. Nur Johann von Plastwig hat angegeben, dass das prussische Galindien den Narew erreichte17. Höchstwahrscheinlich kam es zu Beginn der vierziger Jahre zwischen dem Deutschen Orden und Masowien zu einem Grenzstreit. Jedoch wurde dieser Streit am 8. Oktober 1343 zu Brattian mit der Einigung über die Grenzen zwischen dem Orden und den Herzögen Boleslaus, dem Dritten Herzog von P%ock und Siemowit, dem Zweiten Herzog von Wizna beigelegt. Die erste Grenze nahm ihren Anfang an der Mündung des Flusses Wissoka in die Neide (Soldau), und verlief dann direkt zum Graben, der zwischen zwei Sümpfen (Tlokun- und Namoyumpelk) lag und wo der Fluss Orzyc seine Quelle hat, weiter geradeaus zwischen Neide und Orzyc zur Furt Singurbrast (auch Sgiersk genannt). Die Güter auf beiden

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Suchodolska, Dzieje polityczne (po%owa XIII-po%owa XIV w.) [Politische Geschichte (die Hälfte des 13.- die Hälfte des 14. Jhs.)]. In: Dzieje Mazowsza do 1526 roku [Geschichte Masowiens bis zum Jahre 1526], hg. v. Aleksander Gieysztor u. Henryk Samsonowicz, Warszawa 1994, S. 198- 205; W. Sieradzan, (wie Anm. 6), S. 13-16. PUB, II, Nr. 882; III, Nr. 417, 418, 613, 614; NKDM, II, Nr. 212, 247, 248, 257, 258. Sie wurden letztens vor allem von Karp (wie Anm. 6), S. 34-43, Neitmann, Die Staatsverträgen (wie Anm. 6), S. 510-512, 531-533, 535-536, 538-541, Sieradzan, (wie Anm. 6), S. 131-137 und Kowalczyk, (wie Anm. 6), Teil I, Kap. III, V analysiert. PUB, II, Nr. 528; NKDM, II, Nr. 178: „opidum , quod dicitur Grodno ... a terrarum nostrarum limitibus ad duas leucas positum”; vgl. Rhode (wie Anm. 6), S. 128-129; D%ugok&cki, Kowalczyk, Nieznane, cz. II (wie Anm. 7 ), S. 17. Johannis Plastwici, Chronicon de vitis Episcoporum Warmiensium, hg. v. Carl Peter Woelky. In: Scriptores rerum Warmiensium, Braunsberg 1866, S. 73.

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Seiten der Grenze sollten geteilt werden. Dagegen wurde die Strecke zwischen der Branitza und der Wissoka ausgelassen, sicherlich da sie nicht strittig war18. Im zweiten Vertrag beginnt die Grenze bei der Furt Singurbrast (Sgiersk), weiter den Orzyc entlang bis zum Wald Raduka, der dem Orden gehören soll, davon am Südrand des Waldes geradeaus bis zur Mündung des Flusses Wincenta in die Pissa. Folglich verlief die Grenze mit dem großen Flussbett der Wincenta, „maior rivulus“ genannt, bis zu ihren Quellen, von dort direkt zum Ursprung des Flusses Chojna (einem der linken Zuflüsse der oberen Wissa). Weiter erfolgte der Grenzverlauf direkt zur Furt im Lyckfluss und von dort wieder geradeaus zum Bobr und den Bobr entlang bis zu dessen Quelle19. Da es an größeren Flüssen fehlt, deren Flussrichtung mit dem westöstlichen Verlauf des Grenzgebietes übereinstimmen würde und der es daher erlaubte, schnell und genau die Grenzlinie festzulegen, wurde der Grenzverlauf mit Hilfe der kleinen ostwestlich und westöstlich fließenden Ströme Neide, Orzyc (teilweise), Wincenta und Chojna abgesteckt. Auf der Strecke von über hundert Kilometern waren nur einige präzise Punkte angegeben, zwischen denen die Grenze als theoretische gerade Verbindungslinie verlaufen sollte. Es war also klar, dass eine solche künstliche Grenze im Weiteren umstritten bleiben musste. Die Siedlungstätigkeit erfuhr im Zusammenhang mit der Entstehung der Komturei Osterode eine Belebung; es wurden Burgen in Soldau und Neidenburg errichtet. Weiterhin wurden vor allem kriegspflichtige, teils unmittelbar an der Grenze gelegene Dienstgüter verliehen 20. In der Mitte des 14. Jhs. wurden die Beziehungen Masowiens mit Polen enger. Der König Kasimir der Grosse übernahm, nachdem der Herzog Boleslaus der Dritten kinderlos gestorben war, fast dessen ganze Erbschaft (1351), und die Herzöge Kasimir und Siemowit der Dritte huldigten ihm. Höchstwahrscheinlich hatten diese Ereignisse den Angriff des Ordens gegen Masowien und die vorübergehende Okkupation seines Nordgebietes zur Folge21. 1358 sollte es zur Grenzverständigung zwischen Masowien und Litauen kommen. Es wurde die Ostgrenze zwischen Bobr und Narew und auch die Nordgrenze zwischen der Steinfurt im Lyckfluss, Rajgrodsee, Netta und Bobr festgelegt. Daraus folgte, dass das nördlich dieser Linie gelegene Gebiet zu Litauen-Grodno gehörte, was im Widerspruch zum Brattianer Abkommen stehen würde22. Als Folge dieses Vertrages betrachtete man den 1360 unternommenen Versuch des Königs, die im 13. Jahrhundert zerstörte Grenzburg Rajgrod am Rajgrodsee wiederaufzubauen. Der Orden vertrat die Ansicht, dass 18

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PUB, III, Nr. 617; NKDM, II, Nr. 260. Über die Grenze zwischen der Wissoka und Branitza s. Kowalczyk, (wie Anm. 6), S. 169-179. PUB, III, Nr. 616; NKDM, II, Nr. 259. Über diese Phase der Kolonisation s. Kasiske (wie Anm. 13), S. 83-86. Janusz Grabowski, Kancelaria i dokumenty ksi-%-t mazowieckich w latach 1341-1381. O$rodki zarz-dzania i kultury [Kanzleien und Urkunden der masowischen Herzöge in den Jahren 1341-1381. Verwaltungs- und Kulturmittelpunkte], Warszawa 1999, S. 30-34. NKDM, III, Nr. 24. Über den Grenzverlauf s. Rhode (wie Anm. 6), S. 212-216 u. Karte.

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dieses Gebiet ihm gehöre. Nach erfolgslosen Verhandlungen mit der Burgbesatzung entschloss sich der Oberste Marschall, die Burg zu zerstören 23. Letztens jedoch wurde das angebliche Original dieses Vertrages entdeckt und veröffentlicht, und aufgrund von Schriftuntersuchungen als Fälschung aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts beurteilt24. Vielleicht also ist die Zeitübereinstimmung zwischen dem angeblichen masowisch-litauischen Grenzvertrag und Kazimirs Absicht, Rajgrod wiederaufzubauen, zufällig. Nach dem Tod von Kasimir dem Grossen (1370) kam es zur Vertiefung der politischen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Masowien und dem Ordensland. Im Zusammenhang mit den Bemühungen um die polnische Krone verpfändete Siemowit der Vierte dem Deutschen Orden 1382 das Land Wizna und 1384 das Zawkrzeland mit allen Herrschaftsrechten. Jedoch enthielten diese Pfandverträge keine zeitlichen Einschränkungen, die nach dem Verkaufstermin erlaubten, das Pfand in vollständiges Eigentum des Ordens zu verwandeln 25. Die Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen folgte aus dem Anstieg des Bedarfs Nordwesteuropas an Waldprodukten. Auf dem Narew und dessen Zuflüssen wäre ein Transport auf dem Wasserweg nach Danzig sehr günstig gewesen. Damit wird deutlich, warum der Orden an der Verschiebung der Grenze zum Narew interessiert war26. Aus einem Brief der Osteroder Komtur an den Hochmeister vom 15. Februar 1413 geht hervor, dass um 1374 eine bisher unbekannte Grenztagung zwischen dem Herzog Johann dem Ersten (der Ältere) (1374-1429) und dem Komtur von Osterode Burkhart von Mansfeld (1373-1379) stattfand, auf der die Grenzeiche am Orzycufer gezeichnet und die Grenze zwischen Orzyc und Wincenta abgesteckt wurde. Es stellte sich danach heraus, dass die Abgesandten beider Parteien zu tief ins Ordensland vordrangen. Damit, dass die Grenze zu Ungunsten des Ordens gezeichnet wurde, stimmten beide Seiten überein 27. 23

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PUB, V,2, hg. v. Klaus Conrad, Marburg 1973, Nr. 894; vgl. auch Hans Koeppen, Die Vehandlungen um den Abbruch der Burg Rajgród und deren Zerstörung. In: Studien zur Geschichte des Preußenlandes. Festschrift für Erich Keyser zu seinem 70. Geburtstag, hg. v. Ernst Bahr, Marburg 1963, S. 47-57; Neitmann, Die Staatsverträge (wie Anm. 6), S. 549550. NKDM, III, Nr. 24. CDP, III, Nr. 99; IV, Nr. 26, 125; V, Nr. 126; Vgl. Neitmann, Die Pfandverträge (wie Anm. 3), S. 4-6, 17-37 u. Nr. 1a-1c. Samsonowicz, Gospodarka i spo'ecze*stwo (XIII-pocz(tek XVI w.) [Wirtschaft und Gesellschaft (13.- Anfang des 16. Jhs)]. In: Dzieje Mazowsza (wie Anm. 14), S. 252-257; Sieradzan, S(siedztwo (wie Anm. 6), S. 160-194. D'ugok)cki, Kowalczyk, Nieznane cz. I (wie Anm. 7), Nr.1: „Vordan [...] sint wir kome(n) bis czu eyner eichen, die herzog Han(n)os us der Maßow mit her Mansfelt, [...] kompthur ettwen czu Oster(r)ode, hatte(n) czu einer greniczen lassen czeichen und crucze doryn howen. [...] Ouch wurde(n) sie do eyns vo(n) beiden teiln, das man sollde eine richte geen von der obe(n)gen(n)ante(n) abgehowe(n) eyche(n) an dem flisse Oretzh [Orzyc] bis czu dem flisse Vantsanta[ Wincenta]. [...] Do dirkante(n) sie die beide(n) teil, die Maßower und och

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Kennzeichnend war, dass auch der ganz neue Verlauf der Grenze östlich der Wincenta mit Zustimmung des Herzogs zugunsten des Ordens abgesteckt wurde. (Von der Wincentaquelle bis zur Chojna, weiter die Wissa entlang bis zum Bobr und den Bobr entlang bis zur seiner Mündung in den Narew)28. Das bedeutete, dass Masowien auf das Gebiet östlich der Wissa verzichtete, was jedoch durch keine andere Quelle belegt ist. Im Gegensatz zur Grenzstrecke zwischen Neide und Orzyc, spielte die Besiedlung in der unmittelbaren Absteckung und Grenzkennzeichnung zwischen Orzyc und Pissa - durch den hier überwiegenden Sandboden - keine Rolle. Der Orden befestigte sie nur mit einigen Burgen. Von der Kolonisierung wurde nur das Gebiet in der Nähe der süd-östlichen Grenze des Ermländer Bistums bis zur Ortelsburg erfasst29. Die neue Situation in den preussisch-masowischen Beziehungen hatten die polnischlitauische Union, die Christianisierung Litauens und den Regierungsantritt Wladislaus Jagie%%os in Polen zur Folge. Freilich huldigten die masowischen Herzöge Johann der Ältere und Siemowit der Vierte dem König, sie hatten jedoch weiterhin die Absicht, sich ihre politische Unabhängigkeit zu erhalten 30. Politisches Hauptziel des Ordens seit den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts war die Eroberung Schamaitens und die Unterordnung Litauens oder mindestens eine Anlehnung der Ordenslandgrenze an die Memel31. Sowohl Johann der Ältere als auch der Orden versuchten, ihre Lage im sudauischen Grenzraum zu festigen. Der Herzog begann eine Burg, Sloterie bei der Mündung Suprasl in Narew, zu bauen, die vom Orden 1393 zerstört wurde. Dagegen errichtete der Orden 1392 die gegenüber Garden gelegene Burg Neugarden und die Burg Mettenburg, die sich entweder anstelle der heutigen Stadt Augustów oder im Dorf Dolistowo, bei der Mündung der Netta in den Bobr befand32. Die Versöhnung Witolds mit Jagie%%o (1392) und seine Pläne gegenüber der Goldenen Orda im Osten einerseits und die Absicht des Ordens, Gotland zu besetzen anderseits, ließ beide Seite zum Kompromiss neigen. Am 12. Oktober 1398 schlossen der Orden und Litauen den Salliner Vertrag, kraft dessen das ehemalige Sudauerland ohne Masowiens Teilnahme geteilt wurde. Die Grenze sollte verlaufen vom Romaynwerder in der

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die un(ser)n czu der czeit, das sie gar unrecht gingen und czu sere uff die linke seite in des ordensland“. D%ugok'cki, Kowalczyk, Nieznane, cz. I (wie Anm. 7), Nr. 1: „Von dem flise Vantsanta abir uff eyn flies Choyna [Chojna] genant; von dan(en)n allz gerichte geende bis ans grose sprink [Wincentaquelle]; vom grosen springe gerichte bis auff das flies Wedrzsa [Bobr]; da(s)selbe flys Wedrza nedirgeende gerichte in die Nare [Narew]. Und ist alz un(ser) starost von Coitenb(er)g [Kutzburg, Kucbork] ein gar altge(se)ssen beigewest, und das mit and(er)n unsern benern bei iren eyden behalden wellen“. Vgl. auch ebd., Nr. 4. Kasiske (wie Anm. 13), S. 120-127. Samsonowicz, Dzieje polityczne (po%owa XIV-pocz&tek XVI w.) [Politische Geschichte. Hälfte des 14.-Anfang des 16. Jhs]. In: Dzieje Mazowsza (wie Anm. 14), S. 213-220; Sieradzan, (wie Anm. 6), S. 17-21. Biskup, Labuda (wie Anm. 11), S. 356-358. Radoch (wie Anm. 6), S. 73-74; D%ugok'cki, Kowalczyk, Nieznane, cz. II, (wie Anm. 7), S. 7.

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Memel geradeaus zur Scheschuppe, weiter zu ihrer Quelle und dann zum Nettasee, den Nettafluss entlang zum Bobr, weiter eine Meile (ca. 8 km) abwärts den Bobr entlang und quer zum Narew oder erst eine Meile vor der Einmündung des Bobr quer zum Narew33. Dieser Vertrag wurde zu einer Zeit geschlossen, als Wiznaland als Pfändung in Händen des Ordens blieb. Darum befand sich im Vertrag die Klausel, dass, wenn der Herzog dieses Land gekauft hat, der Orden seine Grenze mit ihm nach Hinweisen der Nachbarsiedler festlegen soll. Also vertrat der Orden die Meinung, dass die Grenzen des Wiznalandes offen stehen34. Um sich im südöstlichen Wildnisgebiet zu verstärken, baute der Orden die Burg Lyck (1398)35. Als die Herzöge von der neuen Festlegung der preussisch-litauischen Grenze und der Teilung Sudauens erfuhren, versuchten sie, dieses zu vereiteln. Schon 1399 erfolgte die Rückgabe des Zawkrzelandes mit P2o*sk durch den Orden. 1401 übertrug Siemowit der Vierte die Pfändung des Wiznalandes mit dem Kreis Goni3dz (am rechten Ufer des Bobr) auf seinen Bruder und löste sie danach aus (1402)36. Anschließend wandten sich beide Brüder nach Strasburg an den Hochmeister, um - allerdings ergebnislos - gegen die Teilung des Wiznalandes zu protestieren. Konrad von Jungingen beschränkte sich nur auf die Bestätigung der Brattianer Verträge und versprach den Herzögen „iuxta tenorem dictarum literarum [...] granicies renovare et signare“37. Der Frieden von Raci3+ zwischen dem Deutschen Orden und Polen-Litauen bestätigte 1404 nämlich die Salliner Grenze38. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts betraf der preussisch-masowische Grenzstreit folgende Fragen: 1. Wo befand sich die Grenzfurt am Lyckfluss: Drei Meilen von der Burg Lyck entfernt, zwischen Prostken und Bogusze, die sogenannte Steinfurt (Kamienny Bród), oder fünf Meilen von ihr entfernt, bei der Ortschaft Kacprowo, oder vielleicht unmittelbar bei der Burg Lyck? 33

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Staatsverträge, Nr. 2: „Von dem vorgenenten werder Sallin boben Romeywerder gelegen gerichte czu geen bis uff die Suppe und vortan die Suppe uff, bis do sie entspringet, und von dannen, als die Suppe entspringet, gerichte bis uff das Metenflis, do is us dem Metensee vellet, und von dannen deme Metenflise bis an die Bebir und der bebir czu folgen eine mile na bis an die Nare, und von dannen obir den ort in die Nare“. Vgl. Karp (wie Anm. 6), S. 45 und Neitmann, Die Staatsverträge (wie Anm. 6), S. 537. Staatsverträge, Nr 2, S. 11: „Ouch ap der irluchte furste Semovitus, herczoge us der Masow, sine erben adir nochkomelinge etzwen losen wurdin wedir von dem ordin vorgenant czu im das hus czur Wiese mit sinen czugehorungen, das wir denne rechte greniczen sullen machen mit in noch glicher und guter uswisunge der alden ummesassen“. D2ugok)cki, Kowalczyk, Nieznane, cz. II, (wie Anm. 7), S. 7-8. CDP, VI, Nr. 120; Staatsverträge, Nr. 5; vgl. Neitmann, Die Pfandverträge (wie Anm. 3), S. 5-6 u. Nr. 1b-1c; Radoch (wie Anm. 6), S. 78-91. Lites, II, S. 184-185; CEV, Nr. 256 (Brief des Hochmeisters an den König von Polen). Lites II, Nr. 43-44; Staatsverträge, Nr. 24, 26. Vgl. Neitmann, Die Staatsverträge (wie Anm. 6), S. 153ff.

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2. Sollte die Grenze von der Lyckfurt entlang dem Lyckfluss also nach Süden bis zu seiner Mündung in den Bobr gehen, und weiter längs des Bobr bis zum Ursprung des Bobr, oder von der Lyckfurt geradezu nach Osten bis zur Bobrquelle? 3. Ist die Chojna der Zufluss der Wissa oder verläuft sie einige Kilometer nördlich davon? Die Ordensbeamten führten den Umzug der Grenze unter Berücksichtigung aller Möglichkeiten durch, prüften die Gewinne und Verluste und beschrieben sie dem Hochmeister. Gleichzeitig war sich der Orden bewusst, dass entgegen dem Brattianer Vertrag der Pfleger von Johannisburg zwei Seen, Gr. Rybno (heute $achasee) und Kl. Rybno benutzt39. Unmittelbar vor dem großen Krieg verschärften sich die beiderseitigen Beziehungen. Der Orden baute die von den Litauern zerstörte Burg Lyck wieder (1408) auf und höchstwahrscheinlich errichtete er die neue Burg schon auf masowischem Gebiet. Nach dem Aufstand in Schamaiten brach der Krieg aus. Der Streit wurde dem König Wenzel vorgelegt, der dem Orden nicht nur Schamaiten, sondern auch das ganze Sudauerland bis Grodno einräumte40. Der Krieg war also unvermeidlich. Nach dem Tannenberger Sieg verlieh der König den masowischen Herzögen die Burgen und die Gebiete Osterode, Neidenburg, Soldau und Ortelsburg. Doch kamen sie schon im Herbst an den Orden zurück 41. Die territorialen Bestimmungen des Thorner Friedensvertrages vom 1. Februar 1411 zwischen dem Orden und Polen-Litauen-Masowien wa39

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GSPK, HA. XX, OBA, nr 794 (der Brief des Komturs von Balga an den Hochmeister vom 15. Februar 1405). Der Pfleger von Johannisburg „undirrichtet hat, das es eynir grossen myle neher sey von dem fliesse Choyna off den nedirste(n) fort czur Licke czu geen den czum obirste(n), und spricht, das der nedirste fort vyl gesychter und bessir obirczuczihen sey den der obirste, und das ouch eyn grosse strosse van alder czeit da obirgegangen habe, das man den nedirste(n) vort vyl me czelen und gleiche(n) mag den(n) den obirsten. [...] und weres sache, das herczog Hannos by dem obirste(n) forthe blieben mochte, so queme he mit synir grenitcze(n) dry myle nahe der Licke, als das huess gewest ist, und uns ginge vyl guter wiltniss abe, und nemenlich vyer sohe Grobin [Grajewo See], Totczelaw [Toczy%owo See], Granste(n) [Dr&stwo See] und Rogeln [Rajgrod See]. Des nicht geschege, wen(n) man off den nedirste(n) fort ginge, der wol fumff myle der heusstadt Licke ist. Ouch als die czedel inneheldet, von dem walde Raduka czu geen gerichte off das fliess Wytento, do es in die Pysse felet, sol man das halden, so geen off dem ende ouch czwene gute see abe, Ruwin [Gr. Rybno See] und der Ruwenyn [Kl. Rybno See] dysseyt der Pisse, die man bas heer von alders by Johansburg gehalden hat“. Vgl. auch D%ugok&cki, Kowalczyk, Nieznane, cz. II (wie Anm. 7), Nr.7 (der Brief des Komturs von Balga an den Obersten Marschall um diese Zeit). CEV, Nr. 393, 399 (Briefe des Grossherzogs Witold an den Hochmeister vom 9. April und 25. Mai 1409); D%ugok&cki, Kowalczyk, Nieznane, cz. 2 (wie Anm. 7), S. 11-12; Markian Pelech, Zu den politischen Zielen des Deutschen Ordens beim Schiedsspruch des Königs Wenzel von Böhmen 1410, Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 38(1989), S. 177-187. Sieradzan, (wie Anm. 6), S. 21.

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ren für den Besiegten keineswegs ungünstig. An Masowien musste der Orden nur das kurz vor dem Krieg verpfändete Zawkrzeland ohne Rückgabe der Pfandquote zurückgeben42. Da die Kriegsziele der polnisch-litauischen Seite nicht verwirklicht wurden, verständigte sich 1412 W'adys'aw Jagie''o mit Sigismund von Luxemburg, und die Lösung der Streitigkeiten wurde ihm mit beiderseitiger Zustimmung überwiesen. Das Urteil von Sigismund von Luxemburg vom 24. August 1412 beendete den preussisch-masowische Streit nicht. Alle unentschiedenen Fragen sollte der zum königlichen Unterschiedsrichter ernannte Benedikt von Macra untersuchen 43. Unter den masowischen Klagen waren auch solche, die sich auf den Grenzstreit bezogen. Der Orden wurde wegen der Okkupation des Gebietes verklagt, das in der Breite vier Meilen (ungefähr 30 Kilometer) und in der Länge noch mehr Meilen haben sollte. Es ging um die Rückgabe des Raumes zwischen dem Orzyc und der Pissa, wo sich die Wälder Raduka und Rozoga befanden, was im Widerspruch zu den Bestimmungen des Brattianer Vertrages stand. Überdies beschwerte sich das Herzogtum über die Besetzung des Gebietes bei den Flüssen Orzyc und Ruda44. Da die Ordensstellung zur Grenze mit Masowien während des ersten Schiedsgerichts in Ofen nicht überliefert ist, kann man sie nur teilweise aufgrund der Grenzbeschreibungen rekonstruieren 45. Während des Aufenthaltes Benedikts von Macra in Preussen fuhr der Osteroder Komtur die Grenze mit Masowien ab. Er prüfte die Grenzzeichen zwischen der Neide und dem Orzyc und die Handfesten der Dienstgüter, die unmittelbar an der Grenze gelegen waren. Gleichzeitig wurden sehr genaue Beschreibungen dieser Grenzstrecke angefertigt, die die Grenzbewohner bezeugten 46. Weiter schrieb der Komtur dem Hochmeister, dass die schon 1374 angebrachten Zeichen an der Neide und am Fluss

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Staatsverträge, Nr. 83 H-K § 5 und 8. Für Ganzes vgl. Zenon H. Nowak, Mi(dzynarodowe procesy polubowne jako narz(dzie polityki Zygmunta Luksemburskiego w pó'nocnej i *rodkowowschodniej Europie (1412-1424) [Internationale Schiedsprozesse als Werkzeug der Politik Sigismunds von Luxemburg im Nord- und Ostmitteleuropa 1412-1424], Toru) 1981, Kapitel 2 u. 3; auch Sieradzan, (wie Anm. 6), S. 98-114. Lites, II, Nr. 18, S. 62. Über die Ortsbestimmung dieser territorialen Ansprüche Masowiens s. Kowalczyk, (wie Anm. 6), S. 189, 207. Vgl. Lites, II, Nr. 18, S. 65-67. D'ugok(cki, Kowalczyk, Nieznane, cz. I (wie Anm. .7), Nr. 1. Nach der genauer Beschreibung der Grenze schrieb der Komtur: „Und hoffe(n), das alle die obensch(reben) grenicz synt gancz schynbar und bewyslich, doby ma(n) mag blyben und czu bewyzen mit aldsessenen erbarnluten, mit den geschotte(n) und geczeychente(n) grenitczen, die do eygentlich cleyn und gros sind beschreb(e)n [...]. Ouch sind do gar vil hantveste(n), die der orde[n] gar vor alden jaren obir die gutter, die doselbist an die grenitcze sto(e)ssen, gegeb(e)n hath“. Dazu s. auch ebd., Nr. 2, 3 (die genauen Beschreibungen der Grenzen, die von den Zeugen bestätigt wurden).

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Orzyc im großen Krieg von den Masowiern vernichtet wurden 47. Überdies hielten sie eine Grenzlinie zwischen Orzyc und Wincenta für richtig, die sie um 1374 noch als falsch angesehen hatten 48. Den weiteren Verlauf der Grenze, die durch die Wincentaquelle und den Wasserlauf von Chojna, Wissa, Bobr und Narew bezeichnet wurde, bezeugten der Starost und Bewohner aus Wildenberg 49. Es ist noch eine zweite Variante des vom Deutschorden vorgeschlagenen Grenzverlaufs überliefert. Was die Abgrenzung östlich der Pissa angeht, sollte sie von der Mündung Korczwoda (Flussarm der $abna) in die Pissa bis zur Mündung der Wissa in den Bobr, entlang der Flüsse Korczwoda, Skroda, Chojna und Wissa, gehen50. Westlich von Pissa sollte die Grenzlinie von der Mündung des Flusses Korczwoda bis zur Mündung des Flusses Boleszowka in den Fluss Turosl ihren Verlauf nehmen. Auf diese Weise wären die strittigen Seen Rybno und Klein Rybno im Ordensland geblieben. Weiter verlief die Grenze zum litauischen Weg, dem Wald „Velga Gedlyn“, der Preussen gehörte und dann bis zur Grenzeiche am Fluss Orzyc, die von Masowiern gefällt wurde. Danach ging die Grenze aufwärts drei Meilen längs des Orzyc bis zur Furt Sgiersk 51. Erst im März 1413 erschien ein Unterschiedsrichter an der masowisch-preussischen Grenze. Da der Orden befürchtete, dass Benedikt parteiisch sei und die masowische Forderungen unterstütze, trat er am 16. März vom Schiedsgerichtsverfahren zurück, und beklagte sich beim Römischen König über den Subarbiter52. Trotzdem ging die Verhandlung weiter. Die dem Benedikt vorgelegten terittorialen Forderungen Siemowits des Vierten umfassten das Gebiet bis zur Neide, von ihren Quellen bis zur Mündung des Flusses Wysoka und darüberhinaus das kleine Territorium zwischen dem Toden Wicker und der Branitza53. Schliesslich empfahl der Unterschiedsrichter beiden Seiten das Brattianer Abkommen zu beachten. Nur der Streit über den Verlauf der Grenze zwischen dem Orzyc und der Pissa blieb ungelöst und er überwies ihn an den Römischen König zur Entscheidung 54, aber vermutlich nur darum, weil die Masowier die Grenzzeichen vernichteten. Masowiens Ansprüche auf den Raum bis zur Neide und den zwischen Welle und Branitza wurden vom Unterschiedsrichter verworfen. 47

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Ebd., Nr. 1: „Und die eyche haben die Maßower in desem krige lassen nedirhowen, und ein clocz dreyer elen lang mit den cruczen abgehawen haben und ins wasser gewelczt und vorsenkt“. Ebd., Nr. 1: „Nu sint die Maßower hirnoch als wir vornem(n), das sie sich halden wellen noch den unrechte(n) schelmen, doran ir euch mitnichte sollet halden. Went weren sie recht geschelmet gewest, so hette(n) sie nicht uffgehort, sunder vorwert gegangen, und wo wir uns an die schelme(n) halden wurden, so ginge dem orden vil landes abe, want sich die schelme(n) sere lenken in des ordenslande“. Ebd., Nr. 4. D%ugok&cki, Kowalczyk, Nieznane, cz. II (wie Anm. 7), Nr. 7, 8, 9, 10, 11. Ebd., cz. II, Nr. 11; D%ugok&cki, Kowalczyk, Nieznane, cz. I (wie Anm. 7 ), Nr. 5. Lites, II, Nr. LXXIV-LXXV. Ebd., S. 194. Ebd., S. 300-301.

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Auch weitere Ereignisse - d. h. unmittelbare Gespräche, der sogenannte Hungerkrieg, das zweite Ofener Schiedsgerichtsverfahren, der diplomatische Kampf auf dem Konstanzer Konzil - änderten die Situation nicht55. Alle Seiten stimmten überein, die Streitsachen noch einmal dem Römischen König als Schiedsrichter vorzulegen. Das Breslauer Urteil des Römischen Königs vom 6. Januar 1420 bestätigte den Verlauf der Grenze in Anlehnung an den Brattianer Vertrag, war also von masowischem Gesichtspunkt aus ungünstig56. Darum versuchte jetzt das Herzogtum die Grenzauseinandersetzung auf dem Weg beiderseitiger Gespräche zu lösen. Im März dieses Jahres (1420) kam es, über die Staatszugehörigkeit des Waldes Raduka, zu fruchtlosen Gesprächen in der Gegend des Flusses Orzyc57. In der ersten Junihälfte 1421 kam es zur ersten Zusammenkunft, um den Verlauf der Grenze auf dem Wincenta festzustellen. Das Wesen der Auseinandersetzung lag darin, was unter „maior rivulus“ zu verstehen sei, und in welche Weise dies abgesteckt werden sollte, sobald die Wincenta im Oberlauf über einige rechtsseitige, also im Ordensland gelegene Flussarme verfügt. Die Ordenskommission hielt den Wasserlauf für „maior rivulus“, der von der Quelle bis zur Mündung der größte wäre. Dies wurde den Masowiern von der Ordensseite bestätigt. Dagegen wollte die Herzogskommission einen der rechtsseitigen Zuflüsse der Wincenta zum Verlauf der Grenze erklären. Daher schlug die Ordensseite vor, beide Wasserläufe hinsichtlich ihrer Größe, Breite und Tiefe zu untersuchen. Die Masowier lehnten diesen Vorschlag ab und die Gespräche wurden abgebrochen 58. Die Ordenskomissare teilten dem Hochmeister mit, dass die masowische Wincenta arm an Wasser sei und keinen Strom habe. Dagegen war ihr Ursprung sehr in der Nähe des Flusses, den die Masowier schon 1405 für die Chojna halten wollten, gelegen. Johann der Ältere versuchte also, aufgrund der neuen Lokalisierung der Wincenta und Chojna, die Grenze des Herzogtums weiter nach Norden zu verschieben. Erst zu Beginn des Januars 1422 trafen die Vertreter der beiden Seiten auf der Wincenta wieder zusammen. Sie bezeichneten gemeinsam den richtigen Wasserlauf und den Ursprung der Wincenta, übereinstimmend mit der Ordensstellungsnahme. Anschließend verlegten sie sich auf die Chojna, jedoch kam es in dieser Sache zu keiner Übereinstimmung. Die erfolgte erst 1437 59. Am 27. Oktober 1422 wurden im Lager am Meldensee im Kulmerland zwei Verträge zwischen dem Deutschen Orden und Polen, Litauen und Masowien geschlossen. Der bisherige Verlauf der preussisch–masowischen Grenze wurde im Allgemeinen bestätigt. 55

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Darüber s. Nowak, (wie Anm. 43), S. 43-47; Sieradzan, (wie Anm. 6), S. 26-32, 114-120, 146-150. Staatsverträge, Nr. 141§ 6. Über die politische Situation vor und nach dem Breslauer Schiedsprozess. Nowak, (wie Anm. 43), Kapitel VI u. VII. Neitmann, Die Staatsverträge (wie Anm. 2), S. 518, 542; Sieradzan, (wie Anm. 6), S. 150. OBA nr 3461 (der Brief der Komture von Balga und Rhein an de Hochmeister vom 16. Juni 1421). OBA nr 3642 (der Brief des Komtur von Balga an den Hochmeister vom 3. Januar 1422); Staatsverträge, Nr. 187; vgl. Neitmann, Die Staatsverträge (wie Anm. 6), S. 534.

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Es wurde also angenommen, dass der Brattianer Vertrag gültig ist. Die Grenzstrecken, die im Vertrag nicht präzise beschrieben wurden und strittig sind, sollten Bevollmächtigte beider Seiten abstecken. Gleichzeitig wurde jedoch angenommen, dass die preussischmasowische Grenze an der Steinfurt (Kamienny Bród) im Lyckfluss endete und weiter als preussisch-litauische Grenze verläuft, wobei man ausdrücklich betonte, dass die Seen Grajewo und Toczy/owo Masowien gehören werden 60. Der Orden musste also auf Ansprüche auf das Gebiet zwischen der Wissa und dem Lyckfluss zugunsten Masowiens verzichten. Anderseits wurde die Grenze zwischen Masowien und Litauen längs des Lyckflusses und des Bobr festgelegt. Die vom Orden vollzogene Sicherung seiner Grenzen durch Grenzverträge stellte sich für ihn als sehr günstig heraus. Die Besiedlung oder Wiederbesiedlung Süd- und Südostpreußens erfolgte im 15.-16. Jahrhundert mit maßgebender Teilnahme von Kolonisten aus Masowien oder masowischer Herkunft61. Doch hatte die Siedlungstätigkeit keine Verschiebung der preussisch-masowischen Staatsgrenzen zur Folge.

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Staatsverträge, Nr. 154 (Friedensurkunde des Deutschen Ordens), § 5 und 7. Vgl. auch ebd., Nr. 152. Über diese Kolonisation s. Walter Kuhn, Geschichte der deutschen Ostsiedlung, II. Bd., Das 15. bis 17. Jahrhundert Landschaftlicher Teil (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 1) Köln, Graz 1957, S. 6-23; Sieradzan, S#siedztwo (wie Anm. 6), S. 196ff; Bia/u%ski, Przemiany spo/eczno-ludno&ciowe po/udniowo-wschodnich obszarów Prus Krzy'ackich i Ksi#'$cych (do 1568 roku [Gesellschaftliche und demographische Wandlungen auf den süd-östlichen Gebieten des Ordensstaates und des Herzogtums Preussen bis 1568], Olsztyn 2001, S. 77ff.

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Abb. 1: Das preußisch-masowische Grenzgebiet um 1350

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Abb. 2: Territoriale Forderungen des Deutschen Ordens und Masowiens 1412-1413

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Abb. 3: Preußisch-masowische und preußisch-litauische Staatsgrenze und Besiedlungsgrenze nach 1422

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Die Topographie des Selbst: Zur Ausdifferenzierung von Außen- und Innenräumen in spätmittelalterlichen Liebes- und Reiseromanen Die spätmittelalterlichen Liebes- und Reiseromane1 weisen eine spezifische Organisation von Räumen und Orten auf: Schon die Genrebezeichnung markiert die Bewegung im Raum als eine gattungshafte Dominante dieser Textgruppe; gleichzeitig benennt sie mit dem Bezug auf den Kommunikationscode der Liebe2 ein weiteres Konstituens der Gattung. Während sich das handlungsstrukturelle Merkmal der Reise ganz explizit auf die Durchquerung des geographischen Raumes bezieht, entwirft das Medium der Liebe mit der ‚Innerlichkeit’ der Protagonisten ebenfalls eine signifikante Raumformation. Die Texte zentrieren sich um die Repräsentation von Emotionalität3, die an die Entfaltung einer (Körper-)Sprache und Semantik der Liebe gekoppelt ist. Die literarische Gestaltung einer Gefühlskultur führt zur Entstehung ‚innerer’ Reflexionsräume der Liebenden. Die1

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In der Gattungsdiskussion finden sich verschiedene Genrebezeichnungen: Vgl. etwa Michail M. Bachtin, Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Hrsg. von Edward Kowalski u. Michael Wegner, Berlin, Weimar 1986, S. 262-293. Ich folge der Bezeichnung der Texte als Liebes- und Reiseromane, wie sie etwa Hans-Jürgen Bachorski, grosse vngelücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Günter Berger u. Stephan Kohl (Hgg.), Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit (Literatur, Imagination, Realität 7). Trier 1993, S. 59-86, vornimmt, da das Element der Reise für meine Argumentation bedeutsam ist. Eine andere geeignete Gattungsbezeichnung benutzt Jutta Eming, Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 39). Berlin 2006. Vgl. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität (stw 1124). Frankfurt a. M. 1982. Unter Emotionalität verstehe ich den Komplex der Selbsthematisierung und Subjektkonstitution über Gefühle. Zu Emotionen und Emotionalität siehe C. Stephen Jaeger u. Ingrid Kasten (Hgg.), Codierungen von Emotionen im Mittelalter / Emotions and Sensibilities in the Middle Ages (Trends in Medieval Philology 1). Berlin, New York 2003. Zu Emotionalität in Liebes- und Reiseromanen siehe Jutta Eming, Geschlechterkonstruktionen im Liebes- und Reiseroman. In: Ingrid Bennewitz u. Helmut Tervooren (Hgg.), Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ‚Körper’ und ‚Geschlecht’ in der deutschen Literatur des Mittelalters (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 9). Berlin 1999, S. 159-181, und Eming [Anm. 1].

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ser „Innenbereich der Figuren“4 scheint zunächst von anderer Qualität zu sein als der Außenraum: Zeigt sich dieser als real erfahrbar und direkt zugänglich, bildet jener gleichsam eine imaginäre Konstruktion. Trotz der unterschiedlichen Gewichtung von materieller und imaginärer Beschaffenheit der Räume sind beide Kategorien des Raumes in ihrer Konzeptionalisierung jedoch eng miteinander verknüpft: Räume sind grundsätzlich „soziokulturell konstituiert und codiert; sie sind Vergegenständlichungen von symbolischen, historisch wandelbaren Konstruktionen.“5 Der „Raum des Außen“ wie der „Raum des Innen“6 sind daher sowohl durch ihre kulturelle und diskursive Produktion als auch durch die ihnen eignende „Realitätsevidenz“7 zu beschreiben. Diese gemeinsame Form ihrer Verfasstheit scheint auf, wenn die Romane die beiden Raumformationen parallel zueinander konturieren, dabei aber geschlechtsspezifische Differenzierungen vornehmen. Die Romane Paris und Vienna (1488) und Die schöne Magelone (1535) bilden die Grundlage der folgenden Analyse. Bei Paris und Vienna handelt es sich um einen mittelniederdeutschen Roman, der 1488 in Antwerpen in der Offizin des Gheraert Leeu gedruckt wurde.8 Übersetzer des zweiten Romans ist Veit Warbeck, auf den eine Handschrift der Magelone von 1527 zurückgeht.9 4

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Winfried Theiß, Die Schöne Magelona und ihre Leser. – Erzählstrategie und Publikumswechsel im 16. Jh. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 73 (1979), S. 132-148, hier S. 135. Hartmut Böhme, Himmel und Hölle als Gefühlsräume. In: Claudia Benthien, Anne Fleig u. Ingrid Kasten (Hgg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln, Weimar, Berlin 2000, S. 60-81, hier S. 60. Zum Raum als kulturell veränderbarer Größe vgl. auch Barbara A. Hanawalt u. Michal Kobialka (Hgg.), Medieval Practices of Space (Medieval Cultures 23). Minneapolis 2000. In literarischen Texten ist die Unterscheidung von ‚realen’ und ‚imaginären’ Räumen eine Differenzierung, die vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Textualität zu betrachten ist: Die Begriffe ‚materiell’ und ‚imaginär’ sind hier immer schon Kategorien zweiter Ordnung. Zur Kategorie des Raumes vgl. Susanne Rau u. Gert Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes. In: dies. (Hgg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur 21). Köln, Weimar, Wien 2004, S. 11-52. Michel Foucault, Andere Räume. In: Karlheinz Barck u.a. (Hgg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 34-46, hier S. 38. Böhme [Anm. 5], S. 62. Zur Realität des Imaginären vgl. Georges Duby, Wirklichkeit und höfischer Traum. Zur Kultur des Mittelalters. Frankfurt a.M. 1990, S. 29f. und Hans-Jürgen Bachorski u. Werner Röcke, Einleitung. Weltbilder: Ordnungen des Wissens und Strukturen der literarischen Sinnbildung. In: dies. (Hgg.), Weltbildwandel: Selbstdeutung und Fremderfahrung im Epochenübergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit (Literatur, Imagination, Realität 10). Trier 1994, S. 7-17. Zur Überlieferung vgl. Gabriele Diekmann-Dröge, Paris und Vienna in Antwerpen. Der mittelniederdeutsche Frühdruck aus der Offizin Gheraert Leeus. In: Niederdeutsches Wort. Beiträge zur niederdeutschen Philologie 26 (1986), S. 55-76. Im Folgenden zitiere ich nach der Ausgabe: Paris und Vienna. Eine niederdeutsche Fassung vom Jahre 1488 (Universitätsbib-

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Raumstruktur und Identitätsbildung Das Paar bildet den Mittelpunkt der Geschehnisse im Liebes- und Reiseroman: Die Liebenden müssen sich allererst als Paar konstituieren und in diesem Prozess eigene Gefühlsäußerungen hervorbringen sowie die des Partners dechiffrieren. Widrige Umstände verursachen jeweils eine Trennung, an die sich mannigfache Abenteuer und Prüfungen der Liebenden anschließen. Die Romane schließen mit der Wiedervereinigung.10 Die Ereignisse sind unterschiedlichen Außenräumen zugeordnet: Während sich die erste Sequenz in der Heimat bzw. im eigenen Kulturbereich der Protagonisten abspielt, finden die Abenteuer des zweiten Teils in der Fremde statt. Die Trennung erfolgt in einem Zwischenraum, der an der Grenze zwischen dem ‚Eigenen’ und dem ‚Fremden’ angesiedelt ist.11 Der Ausbruch der Liebe beim männlichen Partner ist stets mit höfischem Dienst verbunden, den sowohl Peter als auch Paris incognito für ihre jeweilige Dame leisten: Sie bestreiten sieghaft diverse Turniere, Paris findet sich zudem als mustergültiger Musikant unter Viennas Kammerfenster ein.12 Nachdem die Damen den Dienst des Unbekannten zur Kenntnis genommen haben, werden sie ihrerseits von Zuneigung für den mutmaßlich hochadligen Ritter infiziert. Im Anschluss stehen die Thematik der Identifizierung des Namenlosen und die Herstellung von Kommunikation zwischen den Liebenden im Zentrum des Geschehens. In Paris und Vienna hält Paris, der von niedrigerem Stand ist als die Tochter des Dauphins, aufgrund eben dieser Standesproblematik seine Identität geheim. Auf den Turnieren erscheint er als weißer Ritter, dessen Identität so als vakant inszeniert wird. Die Akkumulation von zeichenhaften Kleinodien und Preisen auf der weißen ‚Nicht-Identität’ stiftet Paris’ Identität als vorbildlicher Frauenritter, der für Vienna gesiegt hat.13 Die unzureichende Standeszugehörigkeit wird durch Anhäufung der Sie-

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liothek, Uppsala, Inc. 34:58) (Lunder Germanistische Forschungen 37). Hrsg. v. Axel Mante. Lund 1965. Die Grundlage bildet ein französischer Prosaroman von 1453. Im Folgenden zitiere ich den deutschen Text nach der Ausgabe: Magelone. In: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hrsg. v. Jan-Dirk Müller, Frankfurt a. M. 1990, S. 587-677. Als Textgrundlage dient der Druck von Heinrich Steyner, der 1535 in Augsburg erschienen ist. Zur grundsätzlichen Beschreibung der narrativen Struktur der Liebes- und Reiseromane vgl. etwa Bachtin [Anm. 1] und Bachorski [Anm. 1]. Diese Begriffe bezeichnen relationale Größen, die sich hier auf die Perspektive der Protagonisten beziehen. Diese Handlungen ordnet Hans-Jürgen Bachorski, Posen der Liebe. Zur Entstehung von Individualität aus dem Gefühl im Roman Paris und Vienna. In: Werner Röcke u. Ursula Schäfer (Hgg.), Mündlichkeit – Schriftlichkeit – Weltbildwandel: Literarische Kommunikation und Deutungsschemata von Wirklichkeit in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Tübingen 1996, S. 109-146, den ‚Posen der Liebe’ zu. Vgl. S. 18-39.

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geszeichen zunehmend wettgemacht, während gleichzeitig die Ausrichtung der Identitätsformierung auf den Bedeutungskomplex der Liebe deutlich wird. Es kommt indes nicht zu einer öffentlichen Anerkennung dieser Identität als Liebender wie als vorbildlicher Adliger, da Paris seinen Namen auch dann noch geheimhält, als es strategisch günstig wäre, ihn zu enthüllen. Die erworbene Identität wird einzig für die Zweierbeziehung wirksam, als Vienna diese angehäuften Zeichen der Liebe entdeckt und dechiffriert. Bei einem Krankenbesuch im Haus des Vaters von Paris erspäht Vienna in Paris’ Zimmer eine weiße Pferdedecke und findet in einer quasi kriminologischen Untersuchung sämtliche Turniertrophäen, die auf einem versteckten Altar der Liebe angeordnet sind.14 Der Identifikationsprozess beruht somit auf der öffentlichen Inszenierung von Zeichen, die dann von Paris in einen geheimen Raum überführt werden, und auf der im Verborgenen stattfindenden Interpretation durch Vienna.15 Diese aufeinander bezogenen Tätigkeiten erweisen die Zusammengehörigkeit der Liebenden. Die öffentliche und die verheimlichte Raum- und Bedeutungsdimension bezieht sich auf die Komposition der Identität der Figuren aus einer öffentlich-ständischen und einer subjektiv-emotionalen Komponente. 16 Die Raumstruktur besitzt noch eine weitere Ebene: Die ‚innere’ Emotionalität der Protagonisten wird während dieser Aktivitäten verschiedenartig ‚veräußerlicht’. Nicht nur manifestieren sich die Gefühle auf der Körperoberfläche (Erröten) und führen zu spezifischen Aktionen (Dienst und Enthüllung). Es findet zudem eine Veräußerlichung des gefühlsmäßigen ‚Innenraumes’ statt, wenn Paris sich seinen geheimen Liebesaltar errichtet. ‚Innere’ Erfahrung und äußerer Raum sind demnach eng miteinander verbunden und spiegeln sich wechselseitig. An diese Passage schließt sich die Problematik der Kommunikation zwischen den Liebenden an. Die ‚Sprache der Liebe’17 ist im ersten Dialog auf Erkenntnis und Kommunikation gerichtet.18 Es folgen weitere Gespräche mit unter-

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Vgl. S. 42-47. Zur Terminologie vgl. Fridrun Freise, Einleitung. Raumsemantik, Rezeptionssituation und imaginierte Instanz – Perspektiven auf vormoderne Öffentlichkeit und Privatheit. In: Caroline Emmelius u. a. (Hgg.), Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2004, S. 9-32; Gert Melville u. Peter von Moos (Hgg.): Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne (Norm und Struktur 10). Köln, Weimar, Wien 1998; Rüdiger Brandt, Enklaven – Exklaven. Zur literarischen Darstellung von Öffentlichkeit und Nichtöffentlichkeit im Mittelalter. Interpretationen, Motiv- und Terminologiestudien (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 15). München 1993. In meinen Ausführungen benutze ich die Kategorien ‚öffentlich’ und ‚verborgen’ bzw. ‚geheim’ für Räume, die allgemein zugänglich und durch (höfisches) Handeln gekennzeichnet sind, das für alle sichtbar ist, bzw. für Räume, die nur für bestimmte Personen zugänglich sind und in denen sich Handlungen, Reflexionen etc. vollziehen, die ebenfalls nur einem exklusiven Personenkreis offenbar werden. Vgl. Bachorski [Anm. 1], S. 79. Vgl. Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt a. M. 1984. Vgl. zu dieser Thematik in der stark von der mittelniederdeutschen Fassung abweichenden jiddischen Bearbeitung von Paris und Vienna: Armin Schulz, Die Zeichen des Körpers und

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schiedlichen Themen, wie etwa zur Eheschließungspraxis und zu den Bedingungen des Zusammenlebens unter den Umständen der Flucht.19 Der Spezialdiskurs der Liebe eröffnet nicht nur die Möglichkeit, Gefühle und Emotionalität zugänglich zu machen, sondern schließt die Beziehung zugleich an soziale Verhältnisse an. In der Magelone finden der Identifikationsprozess und die Liebeskommunikation gleichzeitig statt. Peter, Sohn des Grafen von Provincia, hält seine Identität zunächst auf ähnliche Weise geheim wie Paris. Als Ritter mit den silbernen Schlüsseln 20, die auf seinen Rüstungsteilen abgebildet sind, verheimlicht er seine Herkunft, obwohl er aus dem Hochadel stammt und keine derartige Statusdifferenz existiert wie in Paris und Vienna.21 Nach diversen Turniersiegen, die bereits die Aufmerksamkeit der Königstochter Magelone von Neapel geweckt haben, kommt es bei einem höfischen Mahl zu einem Gespräch, in dem das zukünftige Paar Peters Dienstbeziehung zu Magelone vereinbart.22 Im Folgenden entfaltet der Text eine narrative Struktur, die aus der Reflexion der voneinander isolierten Liebenden in abgeschlossenen Räumen und der indirekten Kommunikation23 über Magelones Amme besteht. Der Austausch zwischen Peter und der Amme findet in der Kirche statt, die hier als halböffentlicher Raum beschrieben wird.24 Während Peter in seiner Herberge an einen heymlich verborgen ort (S. 607, 3) geht, um über Magelones Erscheinung und Auftreten nachzusinnen, begehrt Magelone in ihrer Kammer Namen und Herkunft ihres Verehrers zu erfahren.25 In drei Gesprächen zwischen Peter und der Amme wird die Liebes- und Identitätsproblematik in enger Verknüpfung verhandelt: Peter gibt nur Bruchstücke preis, aber es werden bereits Eheabsichten geäußert, die die ehrliche züchtige vnnd treîliche liebe (S. 616, 14) von dem Verdacht befreit, eyn

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der Liebe: ‚Paris und Vienna’ in der jiddischen Fassung des Elia Levita (Schriftenreihe Poetica 50). Hamburg 2000. Vgl. S. 51-57 u. 62f. Zum Verweis- und Bedeutungssystem um Peters Namenspatron vgl. Armin Schulz, Poetik des Hybriden: Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik: Willehalm von Orlens – Partonopier und Meliur – Die schöne Magelone (Philologische Studien und Quellen 161). Berlin 2000, S. 193-195. Schulz [Anm. 20], S. 179, sieht das herkömmliche „Legitimationsdefizit“ durch ein „Informationsdefizit“ ersetzt und unterstreicht die Zusammengehörigkeit von Wissensermittlung und Liebe in der Magelone. (S. 178f.) Vgl. S. 604-606. Vgl. zu verschiedenen Kommunikationsformen Werner Röcke, Liebe und Melancholie. Formen sozialer Kommunikation in der ‚Historie von Florio und Blanscheflur’. Berlin 1994. Vgl. etwa S. 610 u. 615. DA nun der Peter inn sein herberg vom Künig kam / gieng er an einen heymlich verborgen ort / vnd fieng an zG betrachten vnd zG hertzen fFren / die freüntliche red vnnd gnedigs ansehen / auch vbertrefliche sch =ne des Künigs tochter der sch = nenn Magelona / mit w = lcher sie geziert war / so tieff / das er kein rast noch rG mehr hette / des gleychen widerumb / als bald die sch =n Magelona inn jr kamer war kommen thet sie nit vil weniger von dem ritter z G gedenckenn / vnd het gern gewüst wer er were / vnd wie er hiesse / vnd gedachte / so er eins grossen hohenn geschlechts were [...]. (S. 607, 1-11)

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dorichte vnnd vnzüchtig liebe (S. 616, 10) zu sein. Der körperliche Bezug erfolgt über die Beschreibung von Magelones Liebeskrankheit.26 Die Verdopplung der Kommunikationssituationen durch indirekte Verständigung mündet schließlich in ein Treffen, in dem Peter endlich seine Herkunft offenbart und dies mit einer Liebeserklärung verbindet: [W]isset das ich bin ein einiger sun / des Graffen zG Prouincien [...] ich hab auch bey mir beschlossen gehabt inn meinem hertzenn / niemannts lieber zG haben dann euch biß inn mein todt. (S. 624, 13f., 26-28) Beide Texte entwerfen eine wesenhafte Zusammengehörigkeit von Emotionalität und Identität: Zum einen sind Besprechung und Enthüllung der sozialen Herkunft und Identität der männlichen Figuren konstitutiv für die Herausbildung der Liebesbeziehung, zum anderen wird die ‚innere’ Identität der Protagonisten durch die an die Liebe gekoppelten Reflexionen und Aktivitäten begründet. Diese spezifische Formierung von Identität und Liebe vollzieht sich in einer komplexen Raumstruktur: Öffentliche und verborgene Räume werden hinsichtlich ihrer Wirksamkeit von identitären Komponenten voneinander abgegrenzt, indem ständische Zugehörigkeit öffentlich demonstriert wird, über Emotionalität transportierte Liebesidentität sich aber im Geheimen konstituiert. Besonders in der Magelone vollzieht sich diese Konstruktion eines ‚Innenbereiches’ der Figuren an einem abgeschlossenen Ort, der gleichfalls als Innenraum – hier im Sinne einer örtlichen Konstellation – bezeichnet werden kann. Zwischen diesen beiden Modi des Außenraumes existieren Übergänge, wie etwa die innerhalb der öffentlichen Sphäre geschaffene Möglichkeit der Zweisamkeit in Paris und Vienna.27 Diese räumlichen Abstufungen verweisen auf die intrikaten Zusammenhänge von ständischer und subjektiver Identität, deren Effekte nicht nur in bestimmten Räumen funktionieren, sondern in andere hineinragen und diese verändern. Die ständische Identität der weiblichen Protagonisten bildet in ihrem Zusammenschluss von Herkunft und Schönheit den Auslöser männlichen Begehrens, während die adlige Herkunft der anonymen Ritter zunächst ungeklärt bleibt und sich erst im Prozess der Paarbildung verdeutlicht. Die ‚innere’ Liebesidentität wirkt jedoch zurück auf die ständische Identität besonders der Damen, da sie als einzige Nachkommen der Fürstenhäuser einen adäquaten Bewerber heiraten sollen, um den Fortbestand des Geschlechts zu sichern. Die Eigenwilligkeit in der Partnerwahl unterläuft diese dynastischen Pflichten und stellt damit auch die ständische Identität zur Disposition. 28

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Vgl. S. 618. Vgl. S. 51, wo die Liebenden etwas abseits vom höfischen Geschehen stehen. Besonders deutlich wird dies in Paris und Vienna, wo Vienna explizit gegen den Willen ihres Vaters handelt. In der Magelone wäre Peter schon ein angemesser Bewerber, macht aber seine Absichten nicht publik. – Zum Verhältnis von Herrschaft, Ehre und heimlicher Liebe in der Magelone siehe Werner Röcke, Erzähltes Wissen. „Loci communis“ und „RomanenFreyheit“ im ‚Magelonen’-Roman des Spätmittelalters. In: Horst Brunner u. Norbert R. Wolf (Hgg.), Wissensliteratur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache (Wissensliteratur im Mittelalter 13). Wiesbaden 1993, S. 209-226, bes. S. 220-223.

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Dies manifestiert sich in der Krisensituation, in der das Paar aus dem Machtbereich des Vaters flieht. Nach der Konstituierung des Paares wird die Gemeinschaft bedroht: In Paris und Vienna plant der Dauphin, Viennas Vater, seine Tochter zu verheiraten. Die Werbung von Paris’ Vater für seinen Sohn schlägt fehl, da der Dauphin dem inferioren belenesman (S. 61) Strafe androht, nicht aber seine Tochter aushändigt. Aufgrund der angekündigten Sanktionen beschließen Paris und Vienna, außer Landes zu gehen. Die Flucht ist nur von kurzer Dauer, da ein über die Ufer getretener Fluss das Paar dazu zwingt, in einer Kapelle auszuharren. Da die Verfolger ihnen auf den Fersen sind, beschließt Vienna, dass sie nach Hause zurückreiten, Paris aber sich allein auf den Weg in die Fremde machen wird.29 In der Magelone existiert kein entsprechendes Hindernis: Peter stellt Magelone auf die Probe, indem er vorgibt, dass er zu seinen Eltern reisen wolle. Nachdem Magelone durch körperliche Reaktionen (Bleichheit) und kleglich [...] reden (S. 636, 27f.) den Liebestest bestanden hat, beschließt sie die gemeinsame Flucht, da sie glaubt, Peter sei des Aufenthaltes in Neapel überdrüssig. Dass ihr Vater sie verheiraten will, ist in diesem Moment nur ein nachgeschobener Grund und keine unmittelbare Bedrohung.30 Peter hat es versäumt, im entscheidenden Moment seine Identität aufzudecken, was gewiss zu einer väterlichen Übereignung der Tochter geführt hätte. Die gemeinsame Flucht führt auch hier nicht weit: Während in Paris und Vienna Viennas Keuschheitsgebot eingehalten wird,31 ist es in der Magelone Peters Übertretung von Magelones Forderung, züchtigklich vnnd erlich (S. 637, 21) mit ihr umzugehen, die die Trennung der Liebenden herbeiführt. Als Magelone im Wald einschläft, schnürt Peter ihr Kleid auf, um ihre Brüste zG besichtigen (S. 642, 10).32 Seine lust (S. 642, 6) versetzt ihn in eine quasi mystische Verzückung, bis er schließlich zwischen Magelones Brüsten die in roten Stoff eingewickelten Ringe findet. Als ein Vogel das Päckchen raubt,33 jagt Peter ihm hinterher, um seinen Übertritt zu verheimlichen, und gerät aufs Meer. Korrespondiert in Paris und Vienna die Keuschheit auf der Flucht mit ihrem Aufenthalt in der Kapelle, einem religiösen Ort, an dem Keuschheitsregeln in hohem Maße gültig sind, ist der Wald, in den es Peter und Magelone verschlägt, ein Ort, in dem sich die Bedeutungen von Bedrohung 29 30

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Vgl. S. 72f. Diese unzureichend erscheinende Motivierung erklärt Müller [Anm. 9], S. 1242, mit der Tendenz der Magelone, dass der „inneren Geschichte [] das äußere Geschehen völlig untergeordnet [ist].“ Vgl. S. 67. Bachorski [Anm. 12], S. 124, hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Bildprogramm der Textaussage zuwider läuft. Da im Druck ein Verb fehlt, stellt Müller [Anm. 9], S. 1255, die Konjektur auf, dass es sich bei dem Wort um griff handeln und es sich demnach nicht nur um einen voyeuristischen, sondern um einen taktilen Übergriff handeln könne: da kunt er sich nit erhalten / schnFret jre brüst auff zG besichtigen / auch jhr sch =ne weyssen brust / die weysser was dann ein Cristal zGsehen < / griff > an jr sch = ne brüstlein. (S. 642, 9-12) Der Vogel hält den zendel für flaisch (S. 643, 10), wodurch die auf Magelones Körper bezogene erotische Konnotation der Szene verstärkt wird. Vgl. Schulz [Anm. 20], S. 188-192.

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und locus amoenus überlagern.34 Der Wald bildet zudem einen Zwischenraum zwischen bekannter und fremder Welt, dessen ambivalenter Status sich in Peters Aktivitäten widerspiegelt. Der Ort der Trennung verweist in beiden Romanen auf den Grund, der die Gemeinschaft der Liebenden zerstört: In Paris und Vienna sind es gesellschaftliche Normen, in der Magelone die unzureichende Affektkontrolle.35 Wurde die Identität der Protagonisten zunächst über ihre Emotionalität und Zugehörigkeit zum Liebespaar gestiftet, wird diese nun durch die Isolation bedroht. Das Szenario der Vereinzelung wird im zweiten Teil der Romane durchgespielt, dessen Handlung sich zum Teil in der Ferne abspielt. In Paris und Vienna vollzieht sich die Trennung in zwei Schritten: Zunächst verweilt Paris in Genua, von wo aus er in Briefkontakt mit Eduard und seinem Vater bleibt, über den er auch indirekt mit Vienna kommunizieren kann.36 Als er jedoch von Viennas erneuter Gefangensetzung durch ihren Vater erfährt, schreibt er einen Abschiedsbrief, in dem er seinen Entschluss mitteilt, in die Fremde zu reisen, vmme de sorchuol-dighen dancken tho vordriuende. (S. 103, 26) Anders als Peter in der Magelone, der nach der Vogelverfolgung vom Wind aufs Meer hinausgetrieben, von Piraten gefangen und dem Sultan geschenkt wird, ist Paris den Mächten des Zufalls nicht passiv ausgeliefert, sondern bestimmt fortan selbst den Fortgang der Ereignisse. Beide männlichen Protagonisten sind allerdings durch die Ausdifferenzierung ihrer subjektiven Identität gekennzeichnet, da sie wiederholt ihre Situation und die Abwesenheit und Leiden der Geliebten beklagen, die sich als Defizit auf die eigene Identität auswirken. Ach wee vnd aber wee bin ich nit ein falscher vnnd untreîer mensche das ich euch hab gefFrt auß dem hauß eîrs vatters vnd mGtter [...] Ach wee mein aller liebster vnd edlester gemahel / nun bin ich des todts [...] (S. 645, 21-23, 24f.), klagt etwa Peter.37 Diese expressive Emotionalität, in der Liebe und Leiden zusammengefasst werden, strukturieren Peters ‚Innenraum’ immer präziser, gleichzeitig aber ist seine Subjektivierung 38 unlösbar an eine Bedrohung seiner 34 35

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Vgl. dazu etwa Röcke [Anm. 28], S. 224. Vgl. Eming [Anm. 3] zur Kontrolle des männlichen Begehrens als wichtiger Thematik von Liebes- und Reiseromanen. Vgl. grundsätzlich zur Analyse der Magelone aus emotionshistorischer Perspektive Eming [Anm. 1], S. 287-327. Vgl. S. 81-90. Für Peters andere Klagemonologe siehe S. 644 u. S. 666. Vgl. für Paris S. 71, S. 83f., S. 89 u. S. 102f. Unter Subjektivität verstehe ich die Selbstthematisierung und Selbstbezüglichkeit der Protagonisten, die über Reflexion und Emotion vorangetrieben werden; der Terminus der Subjektivierung verweist dann auf den Prozess einer so vorgenommenen Ausdifferenzierung des Selbst. Vgl. dazu Judith Klinger, Möglichkeiten und Strategien der Subjekt-Reflexion im höfischen Roman: Tristan und Lancelot. In: Jan-Dirk Müller u. Horst Wenzel (Hgg.), Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Stuttgart, Leipzig 1999, S. 127-148, und Judith Klinger, Der mißratene Ritter. Konzeptionen von Identität im Prosa-Lancelot (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 26). München 2001. Zur Kategorie der Subjektivität als historisch wandelbarem Konzept vgl. Roland Hagenbüchle, Subjektivität: Eine historisch-systematische Hinführung. In: Reto L. Fetz, Roland Hagenbüchle u. Peter Schulz

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Identität gekoppelt: Aber der Peter was vor leid halb tod / er erkannt sich selber nit wol vnd wuste nit wa er was. (S. 646, 16-18)39 Peters auf der Hin- und Rückreise gehaltenen Klagemonologe inszenieren seine Identität – zumindest temporär – im melancholischen Gestus.40 Steigerung der Selbstwahrnehmung und (Selbst-)Reflexion sind verknüpft mit drohendem Selbstverlust. Während Peter in der gesamten Abenteuerzeit41 einen sehr ausgeprägten Hang zur Melancholie besitzt, wird dieser bei Paris mit Beginn der aktiven Beeinflussung seines Schicksals suspendiert:42 Auf seinen ausgedehnten Reisen nutzt er die Möglichkeit, den in Alexandria eingekerkerten Dauphin incognito zu befreien, nicht ohne sich vorher einen selbst zu bestimmenden Lohn zu sichern.43 Dass auch Paris’ Identität zur Disposition steht, vermittelt der Text mit einem ganz anderen Bild: Paris ändert sein Aussehen und Verhalten, lernt fremde Sprachen und tritt nunmehr als Sarazene auf.44 Das Äußere seiner Person und sein ‚innerer’ Zustand werden ineinander geblendet, so dass der ‚Innenraum’ nicht mehr über Selbstthematisierung in den Blick gerät. Die Rückkehr nach Europa verläuft aus Paris’ Perspektive bereits ganz im Zeichen der Wiedervereinigung mit Vienna, während Peter noch auf der Rückreise aus Alexandria auf der Insel Sagona einsam ausharren muss und auch körperlich ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen wird. Diese Differenzierung des Melancholiekonzepts bei verschiedenen Protagonisten wird durch die geschlechtsspezifischen Unterschiede noch verstärkt: Obgleich auch Vienna und Magelone am Verlust der Geliebten leiden,45 geschieht dies nicht im selben Ausmaß

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(Hgg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Band 1 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts 11.1). Berlin, New York 1998, S. 1-88. Die Anwendbarkeit der Kategorie für die mittelalterliche Literatur demonstrieren die Aufsätze im Sammelband Martin Baisch u.a. (Hgg.), Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Berlin 2005. Vgl. zu diesem Phänomen Bachorski [Anm. 1], S. 72. Zur Melancholie vgl. grundsätzlich Raymond Klibansky, Erwin Panofsky u. Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und Kunst (stw 1010). Frankfurt a.M. 1990. Zur Melancholie in spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Romanen vgl. etwa Werner Röcke, Die Faszination der Traurigkeit. Inszenierung und Reglementierung von Trauer und Melancholie in der Literatur des Spätmittelalters. In: Benthien, Fleig u. Kasten [Anm. 5], S. 100-118. Vgl. Bachtin [Anm. 1], S. 264-281. Im Chronotopos des Liebes- und Reiseromans ist die Abenteuerzeit durch die Logik der Zufälligkeit organisiert, in der sich die Kausalität und Normalität des Gewohnten verflüchtigt, und funktioniert damit anders als die biographische Zeit. In der Tat erscheint in Paris und Vienna der Klagemonolog als Männlichkeit hervorbringender Reflexionsmodus als umstrittenes Konzept, wenn etwa Vienna die Klage als unmännliches Verhalten desavouiert (S. 72). Vgl. S. 119-126. Vgl. S. 105. Vgl. für Vienna etwa S. 95, für Magelone S. 649f.

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wie bei Paris und Peter. So spricht Vienna sich selbst Mut zu 46 und Magelone überführt ihre – im Vergleich zu Vienna – recht umfänglichen Reflexionen in einen religiösen Diskurs, indem sie Gott um Beistand für sich und Peter bittet. Sie entschließt sich zunächst zu einer Pilgerreise nach Rom und danach zu einer karitativen Karriere als Vorstehende eines religiösen Krankenspitals.47 Die ausschließlich an männliche Subjektivität gekoppelte Melancholie korrespondiert mit den ebenfalls geschlechtsspezifisch verteilten Handlungsspielräumen. Dies wird besonders deutlich in Paris und Vienna: Während Paris ausgedehnte Reisen unternimmt, bleibt Vienna nicht nur zu Hause, sondern wird gar in einem Gefängnis verwahrt, da sie sich den Wünschen ihres Vaters widersetzt. Absolute Kontrolle und Bewegungsunfähigkeit werden einem ausgedehnten Reiseradius diametral entgegengesetzt. Magelone reist zwar durch Italien nach Frankreich und ist nicht auf räumlichen Stillstand festgelegt, doch ist ihr Bereich eingeschränkter als der Peters. Grundsätzlich ist die Identitätsbildung der männlichen Helden mit ihrer Bewegung im fremden Raum verknüpft: Die Durchquerung des geographischen Außenraumes korrespondiert mit der Aufgliederung ihres ‚Innenraumes’, da die räumliche Distanznahme der Liebenden an Verlust und Verzweiflung gekoppelte Reflexionsprozesse auslöst. Bei Paris wird dieser Verlauf im zweiten Teil der Reise suspendiert, da die Ausbildung einer ‚inneren’ Subjektivität zugunsten einer äußerlichen Fremdwerdung ersetzt wird. Durchgängig aber gilt die ambivalente Funktion der „räumlichen Extensität“48 der Fremde als „Markierung einer Identitätsbedrohung“49 einerseits, die aber andererseits eine gesteigerte Identität der männlichen Liebenden hervorbringt, da die Konstituierung des Selbst bildlich in Abgrenzung von der Fremde vollzogen wird. Während sich in der Abenteuerzeit die Ausdifferenzierung von Männlichkeit vollzieht, sind die weiblichen Protagonisten mehr oder minder explizit damit beschäftigt, ihre Jungfräulichkeit und Integrität zu bewahren: Magelones „Wendung zu Askese und sozial nützlicher Arbeit“50 wird von ihr selbst in diesem Kontext gesehen.51 Die Vorteile eines selbstbestimmten Lebensweges sind Vienna nicht beschieden: Ihr Vater will sie verheiraten, so dass Vienna mit einer List den hochadligen Bewerber vertreiben muss. Obgleich sie von der kargen Kost im Kerker (und nicht etwa vor Gram) ausgemergelt ist, verzehrt Vienna die nun zu ihr gebrachten Hühnchen nicht, sondern steckt sich zwei Viertel davon unter ihre Brüste vnde helt de dar-vnder liggen-de, dat se vuleden vnde stuncken. (S. 99, 7f.) Der Sohn des Herzogs von Burgund hegt tiefes Mitleid für die kranke, da übel riechende Vienna, und sieht von seinen Heiratsplänen ab. Der Erhalt des intakten weibli46 47 48 49 50

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S. 75. Vgl. S. 652-656. Bachtin [Anm. 1], S. 279. Schulz [Anm. 20], S. 193. Volker Mertens, „Aspekte der Liebe“. Ihre Semantik in den Prosaromanen Tristant, Melusine, Magelone und Goldfaden. In: Helmut Brall, Barbara Haupt u. Urban Küsters (Hgg.), Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur (Studia humaniora 25). Düsseldorf 1994, S. 109-134, hier S. 126. Vgl. S. 655.

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chen Körpers bildet demnach das Handlungsprogramm der Heldinnen beider Romane. Die Texte konstruieren indes unterschiedliche Bedeutungen des weiblichen Körpers: Die Brüste fungieren jeweils als zentrale Merkmale, aber während sie in der Voyeursszene der Magelone erotisiert werden, erscheinen sie bei Vienna als manipulierbare Körperteile, die gerade in der Strategie des Verwerflichmachens Viennas emotionale Integrität herausstellen. Ihr witziger Verweis, wol kann ik doch mercken, wene ick in mijneme herten dreyghen (S. 100, 3f.), parallelisiert die stinkenden Hühnchen unter ihren Brüsten mit ihrem Herzen als Sitz ihrer Identität als Liebende.52 Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der weiblichen Figuren entspricht insgesamt der Bewahrung eines körperlichen status quo und nicht der Steigerung einer ‚inneren’ Subjektivität. Für Vienna kann also BACHTINs These von der unwandelbaren Identität der Helden im Liebes- und Reiseroman 53 Gültigkeit beanspruchen, für die anderen Protagonisten ist sie indes zu modifizieren: Zwar erweisen alle in der Krisensituation sowohl ihre adlige Identität, die zur Herrschaft befähigt, als auch ihre subjektive Identität als Liebende, doch unterliegen diese Elemente Veränderungen, wie der Zuwachs ‚innerer’ männlicher Komplexität oder die Verknüpfung mit dem religiösen Diskurs bei Magelone zeigen. Nach dem Durchgang durch die geschlechtsspezifischen Handlungsräume findet das Paar am Ende wieder zusammen. Beide Texte arbeiten mit einer Wiedererkennunsgszene, in der nochmals die identitätsstiftenden Konstituenten verhandelt werden. Zur Identifizierung Peters und Paris’ dient ein quasi intellektuelles Mittel: Beide erzählen jeweils ihre Geschichte und werden so von ihren Partnerinnen erkannt.54 Das maßgebliche Gnorisma der weiblichen Identität Magelones ist indes an ihren Körper gebunden: Ihre Haare und die königlichen Kleider sind es, die letztlich zur Wiedererkennung führen.55 Dass Magelone für Peter eine Fremde geworden ist, während Vienna eindeutig als sie selbst erkennbar ist, hängt wiederum mit der Raumkonstellation zusammen. Vienna verharrte am heimatlichen Hof, Magelone dagegen reiste durch den Mittelmeerraum. Damit hat Magelone auch den Anspruch auf das väterliche Erbe verloren: Heirat und Herrschaftstätigkeit des neuen Paares finden in der Provence statt, erst der Sohn wird sowohl zum Grafen von Provincia als auch zum König von Neapel.56 Die rigider aufgeteilte Raumstruktur von Paris und Vienna garantiert der Landeserbin zumindest die Herrschaftsübernahme, die Magelone durch ihr eigenmächtiges Handeln verwirkt hat. Mit der Heirat wird die geheime Identität der Liebenden in einen öffentlichen Raum überführt; die Identität als Liebende dient zur Erlangung des neuen herrschaftlichen Status.

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Für Magelone ließe sich eine ähnliche Tendenz beschreiben: Die zwischen ihren Brüsten befindlichen Ringe im zendel verweisen auf ein analoges Bild des Herzens als Ort der Verwahrung des Geliebten; Brüste und Herz als Sitz der Identität sind demnach miteinander verwandt. Bachtin [Anm. 1], S. 268, S. 287. Vgl. für die Magelone S. 134f., für Paris und Vienna S. 669. Vgl. S. 671f. Vgl. S. 677.

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Grenzüberschreitungen Die Liebes- und Reiseromane Paris und Vienna und Die schöne Magelone entwerfen eine vielschichtige Außenraumstruktur, die zunächst die abstrakte geographische Fremde dem stark ausdifferenzierten eigenen, bekannten Raum gegenüberstellt. Dieser ist unterteilt in öffentlich zugängliche Räume und verborgene Räume. Beziehen sich die öffentlichen Räume auf die vordergründige Herstellung und Repräsentation sozialer Identität, wird in den verborgenen Räumen, zu denen nur ausgewählte Personen Zugang haben, eine ‚innere’ Subjektivität der Protagonisten durch Emotionalität produziert. Diese bezieht sich auf ihre Zugehörigkeit zu einem Liebespaar; die isolierte männliche Subjektivität, die sich anschließend im fremden Raum konstituiert, ist eine vereinzelte, die sich gerade über den Verlust definiert. Diese ausschließlich auf sich selbst bezogene Identität bildet sich bei den weiblichen Protagonisten nicht heraus: Hier verweist die Ausrichtung auf körperliche Unversehrtheit auf eine Unveränderbarkeit, die indes bei Magelone teilweise aufgehoben und gleichzeitig mit Sanktionen belegt wird, durch die religiöse Einbettung aber eine Positivierung erfährt. Zwischen den öffentlichen und heimlichen Räumen liegt eine Vielzahl von Schwellenorten, die mit vielfältigen Semantisierungen ausgestattet sind. Die Grenzüberschreitungen, die die Protagonisten mit dem Wechsel zwischen den Räumen vornehmen, ermöglichen eine Verbindung der diversen räumlichen wie identitären Komponenten, ja bringen ihre Wirkmächtigkeit erst hervor. Einen derartigen Übergangsort bildet in der Magelone innerhalb des bekannten, heimatlichen Raumes etwa die Gartenpforte, die Peter durchschreiten muss, um zum geheimen Treffen mit Magelone zu gelangen.57 Zwischen der vertrauten Welt und der bedrohlichen Fremde liegt in der Magelone zum einen der Wald, zum anderen – in beiden Texten – das Meer. Besonders die Magelone betont die suksessive Passage derartiger Schwellenorte, wenn etwa bei der Flucht alle drei Orte durchquert werden und damit eine stetige Steigerung der gleichzeitigen Identitätsbedrohung wie -bildung erfolgt.58 Ist das pf=rtlein noch Bestandteil des Hofes, das den Übergang zwischen öffentlicher und ‚privater’ Identität markiert, liegt der Wald bereits an der Grenze der bekannten Welt, das Meer aber stellt die Grenze selbst dar. Im Wald überschreitet Peter eine zusätzliche Grenze, nämlich die der selbstgesetzten Keuschheit. Dieser Normverstoß beleuchtet die Übertretung sozialer Konventionen schlechthin: Bereits die Eigenmächtigkeit bei der Partnerwahl stellte einen Verstoß gegen die elterliche Autorität dar, allerdings verweisen die Adäquatheit des Partners wie die Affektkontrolle beim Treffen darauf, dass die Übertretung in einem bestimmten Rahmen verläuft, der die spätere Integration in die Gemeinschaft ermöglicht. Peters Verlust der Selbstkontrolle im Wald führt jedoch zu Trennung und Identitätskrise. In Paris und Vienna ist der Verstoß gegen soziale Konventionen fassbarer: Paris muss dem Dauphin erst das Leben retten, 57

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In der Tat betreibt die Magelone ein obsessives Durchschreiten des pf= rtleins: vgl. S. 621, S. 622, S. 637, S. 638. Vgl. S. 638f. u. 642-647.

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um ihn von seinem angemessenen Status zu überzeugen. Die Zustimmung des Dauphin bringt die gesellschaftlichen Direktiven mit den Wünschen des Paares in Einklang. Als ein gewichtiges Bild des Überganges zwischen Räumen, sozialen Konventionen und identitären Zuständen wählen die Texte das Schiff: Peter treibt zunächst mit dem kleinen Kahn aufs Meer und wird dann an Bord eines Piratenbootes gebracht. Auf der Rückreise mietet er zunächst einen Platz für die Überfahrt, muss dann aber von Fischern gerettet werden, als er auf der Insel Sagona einschläft.59 Peters Klagemonologe und damit auch die ambivalente Situation von Identitätsstiftung und -gefährdung sind eng an diese Zustände gekoppelt. Auch Paris absolviert verschiedene Schiffsreisen, die als markante Übergangssituation gekennzeichnet sind, obgleich die Situation der Identitätskrise auf dem Meer gegenüber der Magelone eine abgeschwächte ist. Michel FOUCAULT hat das Schiff als Heterotopie bezeichnet. Heterotopien sind Orte, „die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen als Gegenplazierungen und Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind [...].“60 Heterotopien funktionieren nach anderen Regeln als ‚normale’ Orte; sie unterliegen paradoxen Bedeutungsmechanismen, die einander durchkreuzen. Das Schiff nun „ist die Heterotopie schlechthin“: Es ist „ein schaukelndes Stück Raum [], ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist [...].“61 Im Bild des Schiffes präsentieren Paris und Vienna und Die schöne Magelone die beschriebene Ambivalenz der Identitätsbildung, in der sich verschiedene Grenzüberschreitungen überlagern: Der Prozess der räumlichen Grenzüberschreitung, der im Schiff konkrete Form annimmt, wird mit der Formierung vornehmlich männlicher Subjektivität62 verknüpft, die im Niemandsland des Meeres zunächst sich selbst fremd wird, um aus der Krise in gesteigerter Form hervorzugehen. Auch das Gefängnis ist den Heterotopien zuzuordnen: Im Gegensatz zum Schiff gehört es jedoch zu einem anderen Typus, nämlich zu dem der Abweichungsheterotopien. Von der Norm abweichendes Verhalten wird mit einem Aufenthalt an diesen Orten bestraft.63 Ein rigides „System von Öffnungen und Schließungen“64 kontrolliert die Zugangs- bzw. Austrittsmöglichkeiten. Viennas ‚Innerlichkeit’ entfaltet sich dementsprechend nicht gemäß dem männlichen Muster, das Subjektivitätsbildung in der Ausdehnung des geographischen Raumes verortet. Stattdessen korrespondiert die Begrenztheit und Enge des Raumes mit der kontinuierlichen Anstrengung, die körperlich integre Identität als Lie59 60 61 62

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Vgl. S. 662f. u. 665-667. Foucault [Anm. 6], S. 39. Foucault [Anm. 6], S. 46. Auch Magelone unternimmt eine Schiffsfahrt, die sie zu ihrer neuen Identität als Spitalsvorsteherin führt, allerdings vollzieht sich dieser Wandel eher vor einem religiösen Hintergrund, als dass er eine derart tiefe Identitätskrise markierte wie die Zustände der männlichen Protagonisten. Vgl. Foucault [Anm. 6], S. 40f. Foucault [Anm. 6], S. 44.

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bende zu bewahren. Letzteres gilt auch für Magelone, obgleich sie nicht an einen Ort gebunden ist. So sehr sich Viennas identitäre Formierung von der der männlichen Protagonisten unterscheidet: Auch diese intensive Raum-Identitäts-Beziehung verweist auf den grundsätzlichen Zusammenhang von Identitätsstiftung und Raumkonstellation, mit dem die Liebes- und Reiseromane65 eine geschlechtsspezifisch codierte Topographie des Selbst entwerfen.

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Da die Reise allein für die männlichen Protagonisten uneingeschränkt identitätsbildend wirkt, markiert die Gattungsbezeichnung des Liebes- und Reiseromans einen blinden Punkt hinsichtlich der Gender-Thematik.

PETER K. KLEIN

Rand- oder Schwellenphänomen? Zur Deutung der Randbilder in der mittelalterlichen Kunst*

Die folgende Untersuchung gilt einem Bereich der mittelalterlichen Kunst, der erst in jüngerer Zeit als eigene Gattung erkannt ist. Es hat sich dafür in der Fachterminologie der Begriff der ‚marginal images’ (Randbilder) eingebürgert,1 obwohl ein Teil der Forschung diese Gattung als Grenz- bzw. Schwellenphänomen deutet. Eine große Anzahl solcher Randbilder begegnet uns an den Randbereichen romanischer und gotischer Kirchen, vor allem auf den Traufgesimskonsolen und Wasserspeiern unterhalb der Dächer (vgl. Abb. 1), ebenso auf den Randarchivolten der Portale (vgl. Abb. 2), den Miserikordien der Chorgestühle, den Randstreifen der Wandmalereien und Wandteppiche (vgl. Abb. 3) wie schließlich in den zahllosen Randillustrationen der Handschriften (vgl. Abb. 4). Wenn man die mittelalterlichen Randbilder in den verschiedenen Medien überblickt, so fällt zunächst die Konstanz des Motiv- und Themenrepertoires auf: Es finden sich dämonische Monster und negativ konnotierte Tiere, Spielleute und Gaukler, Arme, Kranke und Bettler, Motive der ‚verkehrten Welt’, Tierfabeln, exotische Fabelwesen, fremde Völker (Juden, Araber, Afrikaner), genrehafte Arbeitsszenen, aber auch tabuisierte Themen, wie obszöne und skatologische Motive. Trotz der Konstanz der Motive und der langen Tradition hat sich die Forschung kaum mit der Gesamtheit des Phänomens auseinandergesetzt, sondern bisher nur einzelne Teilaspekte untersucht. Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, daß wir nahezu keine zeitgenössischen Quellen zu den Randbildern besitzen. Die wenigen erhaltenen Texte – wie etwa die Polemik der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux («Apologia ad Guillelmum Abbatem»),2 Adam von Dore («Pictor in

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Aus Platzmangel wird hier nur eine Kurzfassung meines Beitrags auf der Frankfurter Tagung abgedruckt. Eine ausführliche Version wird an anderer Stelle publiziert. Vgl. u. a. Michael Camille, Image on the Edge. The Margins of Medieval Art. London 1992; Nurith Kenaan-Kedar, Marginal Sculpture in Medieval France. Aldershot 1995; Dieselbe, Asher Ovadiah (Hgg.), The Metamorphosis of Marginal Images. From Antiquity to Present Time. Tel Aviv 2001. Sancti Bernardi Opera. Hrsg. von Jean Leclercq, H. M. Rochais. Bd. 3. Rom 1963, S. 81108, hier S. 106.

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Carmine»)3 und Aelred von Rievaulx («Speculum caritatis»)4 – lassen nur den Widerstand bestimmter kirchlicher Kreise gegen diese Art von Bildern erkennen,5 vermitteln aber keinen Deutungsansatz. So verwundert es nicht, daß die bisherigen Erklärungsversuche der Forschung weit auseinanderlaufen und mehr oder weniger spekulativ ausfallen. Es lassen sich dabei verschiedene Ansätze unterscheiden, von denen hier nur die wichtigsten genannt seien: 1. Die Randbilder werden als humor- und phantasievolle Unterhaltung ohne tieferen Sinn verstanden, so etwa bei Meyer SCHAPIRO, Carl NORDENFALK und Francis KLINGENDER in Bezug auf die Randillustrationen der Buchmalerei, wobei SCHAPIRO zwar eine symbolische oder allegorische Bedeutung der Randbilder ablehnt, aber andere Formen von Sinn – wie Metapher, Parodie oder Humor – nicht ausschließt.6 2. Mit der Deutung der Randbilder als phantasievoller Unterhaltung hängt eine weitere Auffassung zusammen, die sie als Ausdruck der ungezügelten Künstlerphantasie und Künstlerlaunen deutet, so schon Émile MÂLE in seinem Buch zur gotischen Kunst des 13. Jahrhunderts in Frankreich 7 und später vor allem Richard HAMAN-MACLEAN in seiner Studie zu den mittelalterlichen Randskulpturen.8 3. Die Randbilder werden mehr oder weniger im Rahmen der herkömmlichen Ikonographie gedeutet, vornehmlich als moralisierend-didaktische Darstellung des Bösen, des Lasters und der Sünde, aber auch gelegentlich positiver Themen, ebenso als Reflex der damaligen sozialen Wirklichkeit. Dieser Ansatz ist seit langem der verbreiteste bei der Deutung der mittelalterlichen Randbilder. Er findet sich häufig bei Untersuchungen zu den Randillustrationen der gotischen Buchmalerei, so etwa bei Lilian M. C. RANDALL, D. W. ROBERTSON, Howard HELSINGER, Philippe VERDIER, Karl P. 3

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Montague Rhodes James, Pictor in Carmine. Archaelogia, 94 (1951), S. 141-166, hier S. 141-143 (Text des «Pictor in Carmine»), S. 145 (Kommentar von James). The Mirror of Charity of Aelred of Rievaulx. Hrsg. von A. Walker, G. Webb. London 1962, S. 74. Siehe u. a. Conrad Rudolph, The „Things of Greater Importance“. Bernhard of Clairvaux’s Apologia and the Medieval Attitude Toward Art. Philadelphia 1990, S. 120-157; Gerardo Boto Varela, Ornamenta sin delito. Los seres imaginarios del claustro de Silos y sus ecos en la escultura románica peninsular (Studia Silensia. Series maior, 3). Silos 2000, S. 49-57. Meyer Schapiro, On the Aesthetic Attitude in Romanesque Art. In: K. Bharatha Iyer (Hg.), Art and Thought. Issued in Honor of Dr. Ananda K. Coomaraswamy on the Occasion of His 70th Birthday. London 1947, S. 130-150, hier S. 132-133, 134; Derselbe, Marginal Images and Drôlerie. Speculum, 45 (1970), S. 684-686, hier S. 685; Carl Nordenfalk, Drolleries. The Burlington Magazine, 109 (1967), S. 420-421, hier S. 420; Francis Klingender, Animals in Art and Thought to the End of the Middle Ages. Cambridge/Mass. 1971, S. 315-316. Émile Mâle, L'art religieux du XIIIe siècle en France. Paris 1913, S. 58-62. Richard Haman-MacLean, Künstlerlaunen im Mittelalter. In: Friedrich Möbius, Ernst Schubert (Hgg.), Skulptur des Mittelalters. Funktion und Gestalt. Weimar 1987, S. 385-452.

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WENTERSDORF, Frank O. B ÜTTNER, Frauke STEENBOCK, Madeline H. CAVINESS, Anja GREBE und Markus MÜLLER.9 Gleiches gilt für die meisten Studien zu den Misericordien und sonstigen Randbereichen der gotischen Chorgestühle (vgl. u. a. Dorothy u. Henry KRAUS, Isabel Mateo GÓMEZ, Christa GRÖSSINGER, Björn R. TAMMEN),10 oder auch für Untersuchungen von romanischen Randskulpturen in Frankreich, England und Italien (z. B. von Ruth Maria C APELLE, Veronika SEKULES und Valentino PACE).11 In 9

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Vgl. Lilian M. C. Randall, Exempla as a Source of Gothic Marginal Illumination. The Art Bulletin, 39 (1957), S. 97-107; Dieselbe, Images in the Margins of Gothic Manuscripts. Berkeley, Los Angeles 1966, S. 14ff.; D. W. Robertson, A Preface to Chaucer. Studies in Medieval Perspectives. Princeton 1963, S. 128-129, 136, 194, 213-214, 251-252, 255, 263-264; Howard Helsinger, Images on the ‚Beatus’ Pages of Some Medieval Psalters. The Art Bulletin, 53 (1971), S. 161-176; Philippe Verdier, Women in the Marginalia of Gothic Manuscripts and Related Works. In: R. T. Morewedge (Hg.), The Role of Women in the Middle Ages. Binghampton 1975, S. 121-187; Karl P. Wentersdorf, The Symbolic Significance of Figurae Scatologicae in Gothic Manuscripts. In: Clifford Davidson (Hg.), Word, Pictures, and Spectacle (Early Drama, Art and Music Monograph Series, 5). Kalamazoo 1984, S. 1-19; Frank O. Büttner, Ikonographisches Eigengut der Randzier in spätmittelalterlichen Handschriften. Inhalte und Programme. Scriptorium, 39 (1985), S. 197-233; Frauke Steenbock, LARGESSE – Münzen, Blüten und Mannaregen. Eine Motivstudie. In: Hartmut Krohm, Christian Theuerkauf (Hgg.), Festschrift für Peter Bloch zum 11. Juli 1990. Mainz 1990, S. 135-142; Madeline H. Caviness, Patron or Matron? A Capetian Bride and a Vade Mecum for Her Marriage Bed. In: Nancy F. Partner (Hg.), Studying Medieval Women. Sex, Gender, Feminism. Cambridge 1993, S. 333-362; Dieselbe, No Laughing Matter. Imag(in)ing Chimeras and Freaks Around 1300. In: Magistro et amico amici discipulique. Lechowi Kalinowskiemu w osiemdziesioçiolecie urodzin. Krakau 2002, S. 87-100; Anja Grebe, The Art of the Edge. Frames and Page-Design in Manuscripts of the Ghent-Bruges School. In: Kenaan-Kedar, Ovadiah [Anm. 1], S. 93-102; Markus Müller, Odisti observantes vanitates supervacue. Überlegungen zu text-illustrativen Darstellungen von Gauklern und Akrobaten in illuminierten Handschriften. In: In: Anja Grebe, Nikolaus Staubach (Hgg.), Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 2005, S. 179-186. Vgl. Dorothy u. Henry Kraus, The Hidden World of the Misericords. New York 1975, S. 17ff.; Isabel Mateo Gómez, Temas profanos en la escultura gótica española. Las sillerías de coro. Madrid 1979, S. 35ff.; Christa Grössinger, The World Upside-Down. English Misericords. London 1997, S. 13ff.; Björn R. Tammen, Musik und Bild im Chorraum mittelalterlicher Kirchen 1100-1500. Berlin 2000, S. 102-120; Derselbe, Komik und Groteske in der mittelalterlichen Musikikonographie. Beobachtungen an deutschen Chorgestühlen des 14. Jahrhunderts. In: Grebe, Staubach [Anm. 9], S. 187-211, hier S. 193-206. Ruth Maria Capelle, The Representation of Conflict on the Imposts of Moissac. Viator, 12 (1981), S. 79-100; Veronika Sekules, Beauty and the Beast. Ridicule and Orthodoxy in Architectural Marginalia in Early Fourteenth-Century Lincolnshire. Art History, 18 (1995), S. 37-62, hier S. 56ff.; Valentino Pace, Dal margine al centro. Scelte tematiche ‚al margine’ e temi ‚marginali’ al centro nella scultura monumentale italomeridionale normanno-sveva. In: Kenaan-Kedar, Ovadiah [Anm. 1], S. 147-158. – Die von Capelle für die Kämpfer einiger Kreuzgang-Kapitelle in Moissac angenommene anti-islamische Stoßrichtung wird von dem

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einer Variante dieses ikonographischen Ansatzes deutet Horst BREDEKAMP die romanischen Randkonsolen von San Martín in Frómista als Dämonisierung von Sexualität, Tanz und Musik durch die leibesfeindliche Kirche, wobei sowohl das Böse apotropäisch abgewehrt als auch die sinnesfreudigen Santiago-Pilger vor den teuflischen Versuchungen gewarnt werden sollten.12 4. Primär eher phänomenologisch erfaßt werden die Randbilder in der Deutung von Ernst H. GOMBRICH, der vor allem ihre Ambivalenz, mangelnde Ordnung, Neigung zur Inversion und angeblich apotropäische Intention betont.13 In einem ähnlichen Ansatz notiert auch Reinhard STEINER – in teilweisem Anschluß an Jean WIRTH14– bei den mittelalterlichen „Drôlerien“ eine Neigung zur Unordnung und Inversion, wobei er eine Entwicklung vom romanischen zum gotischen Randdekor feststellen möchte, und zwar von einer „anarchischen Unordung“ über eine „inversive Unordnung“ zu einer „libertinen Subordination“.15 Ganz abgesehen davon, ob eine solche Entwicklung im rein formal-morphologischen Sinne zutrifft, übersieht eine solche Sicht die topographischen, funktionalen und inhaltlichen Konstanten der mittelalterlichen Randbilder. 5. Auf Elemente der Inversion und ‚verkehrten Welt’ in den Randbildern (vgl. Abb. 2) haben in jüngerer Zeit auch andere Forscher hingewiesen und dabei auf auffällige Parallelen zu den mittelalterlichen „Narrenfesten“ verwiesen, einem Mummenschanz des niederen Klerus zu Beginn des Jahres und Vorläufer des späteren Karnevalsfestes. Dabei geht allerdings nur Reinhard STEINER so weit, in den Randbildern – genauer in einer Serie gotischer Randskulpturen in Burgund – den mehr oder weniger direkten Reflex der Narrenfeste zu erblicken.16 Diese ‚grotesk-komischen’ Elemente der Randbilder nimmt

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Religionswissenschaftler Claudio Lange auf die gesamten romanischen Randskulpturen ausgedehnt, eine ebenso pauschale wie abwegige These, die hier nicht näher erörtert wird. Vgl. Claudio Lange, Der nackte Feind. Anti-Islam in der romanischen Kunst. Berlin 2004. Horst Bredekamp, Wallfahrt als Versuchung. San Martín in Frómista. In: Kunstgeschichte – aber wie? Zehn Themen und Beispiele. Hrsg. von der Fachschaft Kunstgeschichte München. Berlin 1989, S. 221-258. – Vgl. auch Derselbe, Romanische Skulptur als Experimentierfeld. In: Sylvaine Hänsel, Henrik Karge (Hgg.), Spanische Kunstgeschichte. Eine Einführung. Berlin 1992, S. 101-112; Derselbe, Die nordspanische Hofskulptur und die Freiheit der Bildhauer. In: Herbert Beck, Kerstin Hengevoss-Dürkop (Hgg.), Studien zur Geschichte der europäischen Skulptur im 12./13. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1994, S. 263-274. Ernst H. Gombrich, The Sense of Order. A Study in the Psychology of Decorative Art. Ithaca/N.Y. 1979, S. 251-277 (The Edge of Chaos). Jean Wirth, L’image médiévale. Naissance et développements (VIe -XVe siècle). Paris 1989, S. 245f. Reinhard Steiner, Formen der Unordnung. Über Drôlerie im Mittelalter. In: Beck, Hengevoss-Dürkop [Anm. 12], S. 505-513, hier S. 509f. Reinhard Steiner, „Deposuit potentes de sede“. Das ‚Narrenfest’ in der Plastik des Hochund Spätmittelalters. In: Karl Möseneder, Andreas Prater (Hgg.), Aufsätze zur Kunstgeschichte. Festschrift für Hermann Bauer zum 60. Geburtstag. Hildesheim 1991, S. 92-108.

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die Theaterwissenschaftlerin Katrin KRÖLL zum Ausgangspunkt für einen umfassenderen Deutungsversuch, wobei sie zwei nicht ganz widerspruchsfreie Thesen vertritt: Einerseits sieht sie die Randbilder als Teil der sakralen Bildprogramme, in deren dreigeteilter Ordnung sie die untersten Randzonen einnähmen,17 wobei sie das von der normensetzenden Öffentlichkeit Ausgegrenzte, Böse und Gottlose verträten.18 Andererseits vergleicht sie die Randbilder mit der drastischen Komik der Schwänke, Mären, Fabliaux sowie den Interludien der geistlichen Schauspiele und unterstellt den Randdarstellungen eine ähnliche Komik, mit der die dargestellten Normenverletzungen lachend bewältigt worden seien.19 Ganz abgesehen von der Frage, ob Teile des mittelalterlichen Kirchenschmucks dazu gedacht waren, als Gegenstand des Lachens zu dienen,20 wirft diese Deu17

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Katrin Kröll, Die Komik des grotesken Körpers in der christlichen Bildkunst des Mittelalters. In: Dieselbe, Hugo Steger (Hgg.), Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiburg 1994, S. 11-105, hier S. 30-32, 45ff. Ebenda, S. 51, 59, 64-65, 66-67. Ebenda, S. 59, 70ff., 83ff., 91ff. Dabei geht es nicht nur um die schwierig zu beantwortende Frage der spezifischen Lachdisposition des mittelalterlichen Betrachters und Zuschauers, die nur vereinzelt in gelegentlichen Spielberichten zu den geistlichen Schauspielen greifbar ist (vgl. Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. Bd. 2. München 1987, S. 878, 912), sondern vor allem um die Frage der angeblich von der Kirche erlaubten oder sogar intendierten Komik im sakralen Bereich. Eine Reihe jüngerer Untersuchungen hat gezeigt, daß die Kirche von der Spätantike bis zum frühen Mittelalter das Lachen generell ablehnte, vor allem im monastischen Bereich, daß man aber ab dem Hochmittelalter zwischen ‚gutem’ Lachen – als Ausdruck irdischer wie himmlischer Freude – und ‚bösem’ Lachen – bei Komik, Scherz und Spott – unterschied (vgl. Joachim Suchomski, ‚Delectatio’ und ‚Utilitas’. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur. Bern, München 1975, S. 9-65; Gerhard Schmitz, ‚... quod rident homines, plorandum est’. Der ‚Unwert’ des Lachens in monastisch geprägten Vorstellungen der Spätantike und des Mittelalters. In: Franz Quartal, Wilfried Setzler (Hgg.), Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. Festschrift für Eberhard Naujoks. Sigmaringen 1980, S. 3-15; Jacques Le Goff, Un autre moyen âge. Paris 1999, S. 1341-1368 (dt. Das Lachen im Mittelalter. Stuttgart 2004); Tobias A. Kemper, Iesus Christus risus noster. Bemerkungen zur Bewertung des Lachens im Mittelalter. In: Grebe, Staubach [Anm. 9], S. 16-31). Nun könnte die behauptete ‚komische’ Wirkung bestimmter Randbilder nur das von der Kirche verurteilte ‚böse’ Lachen hervorgerufen haben, was kaum dem Zweck kirchlicher Kunst entsprochen haben dürfte. Schon Maciej Gutowski hatte in seinem Buch über das Komische in der polnischen Gotik bezweifelt, daß die Randbilder – genauer die gotischen Drolerien – primär zu komischen Zwecken geschaffen seien, sondern vielmehr vermutet, daß hier der Willen zu einer Darstellung einer unvollkommenen Welt vorliege (Maciej Gutowski, Komizm w polskiej sztuce gotyckiej. Warschau 1973, S. 221ff.). Entscheidend ist jedoch die Frage, ob bei den Randbildern überhaupt die strukturelle Voraussetzung für die Entstehung von Komik gegeben ist. Nach der modernen linguistischen Komik-Theorie ist die Voraussetzung von sprachlicher Komik – auch in mittelalterlichen Texten – dann gegeben, wenn

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tung prinzipiell das Problem auf, daß sie die Frage der Bedeutung der Randbilder auf die grotesken Motive verengt und dabei nicht nur die zahlreichen anderen Motive der ‚marginal images’ übergeht, sondern auch die ältere Tradition und die profanen Denkmäler der Randbilder übersieht. 6. Auf einer noch stärker verengten Sicht und Materialbasis beruht die Deutung der Randbilder durch Mary CARRUTHERS, die sich – wie ein Großteil der jüngeren Literatur – auf die gotischen Randillustrationen beschränkt21 und die außerdem den Randbildern eine primär mnemotechnische Funktion zuschreibt.22 CARRUTHERS geht dabei von der generellen Annahme aus, daß die Randstreifen der illustrierten Handschriften – mit ihren Glossen wie Randbildern – mnemotechnischen Zwecken dienten.23 Bei den Randillustrationen nimmt sie einen engen Bezug zum Text an, dessen zentrale Wörter und Ideen durch figürliche Rahmungen, Gesten und Wortspiele zum Einprägen und Erinnern hervorgehoben würden. Das mag bei einigen wenigen Beispielen einleuchten,24 bei den meisten Randillustrationen ist jedoch ein Bezug zum Text nicht nachzuweisen. 25 Noch

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bei ambiguem Ausdruck semantische Inkongruenzen plötzlich und unerwartet auftreten (vgl. zuletzt Johannes Klaus Kipf, Mittelalterliches Lachen über semantische Inkongruenz. Zur Identifizierung komischer Strukturen in mittelalterlichen Texten am Beispiel der mittelhochdeutschen Schwankmären. In: Grebe, Staubach [Anm. 9], S. 104-128, hier S. 112). In Anlehnung daran könnte man bei den mittelalterlichen Randbildern häufig von einer ‚topographischen Inkongruenz’ sprechen, wenn etwa im kirchlich-religiösen Kontext sakrale Hauptbilder bzw. Texte mit sexuellen, obszönen oder skatologischen Motiven in den Randbereichen kombiniert werden, eine Kombination, die allerdings für den mittelalterlichen Betrachter mitnichten plötzlich und unerwartet auftrat. Denn die genannten ‚unanständigen’, d. h. normverletzenden Motive hatten gerade in den Randbereichen ihren einzigen angestammten Platz! Strukturell kann also bei den Randbildern weder von einer vom Künstler und Auftraggeber intendierten noch von einem vom Betrachter erwarteten Komik die Rede sein. So unter anderem die Arbeiten von Camille, Caviness, Kendrick, Randall, Wentersdorf (vgl. Anm. 1, 9, 26). Siehe Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990, S. 216-217, 243-248; Dieselbe, The Craft of Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images 400-1200. Cambridge 1998, S. 161-165. Carruthers, The Book of Memory [Anm. 22], S. 215-218. Wie z. B. bei den Randillustrationen zweier Handschriften des Psalmen-Kommentars des Petrus Lombardus in Oxford (Bodleian Library, MS Auct. E. inf. 6) und in Cambridge (Trinity College, MS B. V. 5) sowie einer Augustinus-Handschrift der Huntington Library in San Marino (HM 19915). Vgl. Carruthers, The Book of Memory [Anm. 22], S. 216-217, 243-244; Camille [Anm. 1], S. 21. Das gibt sogar Carruthers bei einem der von ihr angeführten Beispiele zu, den sogenannten Smithfield Decretals (London, British Library, MS Royal 10. E. IV). Dies gilt übrigens auch für die meisten der Figureninitialen im Typ der ‚marginal images’ in der gotischen GettyApokalypse (Los Angeles, Getty Museum, MS Ludwig III.1), denen Suzanne Lewis – in Anlehung an die Thesen von Carruthers – eine mnemotechnische Funktion zuspricht (siehe Suzanne Lewis, Marginal Figures and Historiated Initials in the Getty Apocalyps. The J. Paul

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waghalsiger erscheint die These, daß ein Teil der Thematik der Randillustrationen durch Wortspiele auf die anglofranzösischen Wörter ‚bordure’ (Rand) und ‚limbes’ (Rand, Glieder) zu erklären seien.26 CARRUTHERS übersieht hier wie bei ihren sonstigen Thesen, daß die Tradition der Randbilder schon lange vor der Gotik einsetzt und geographisch weit über den anglofranzösischen Bereich hinausreicht, daß aber vor allem ihr vielfältiger Motivbestand kaum allein durch eine mnemotechnische Funktion erklärt werden kann. 7. Als jüngste und ausführlichste Ansätze sind solche Interpretationen zu nennen, die von den Schriften des russischen Kultur- und Literaturwissenschaftlers Michail BACHTIN angeregt sind, insbesondere von seinem Buch «Rabelais und seine Welt«.27 BACHTIN deutet dort an Hand von François Rabelais’ satirischem Roman «Gargantua und Pantagruel» die mittelalterliche Volks- und Lachkultur als eine Art subversiver ‚Gegenkultur’. In diesem Zusammenhang geht er kurz auch auf die mittelalterlichen Randbilder ein, ohne jedoch diesen Terminus zu benutzen: „Die Menschen des Mittelalters lebten mit gleicher Intensität zwei Leben, ein offizielles und ein Karnevalsleben, ein andächtig ernstes und ein lachendes. Beide Aspekte existierten in ihrem Bewußtsein nebeneinander. Besonders anschaulich ist diese Koexistenz auf den Blättern illuminierter Handschriften aus dem 13. und 14. Jahrhundert, etwa in den Legendaren, den handschriftlichen Sammlungen von Heiligenviten. Hier finden wir auf ein und derselben Seite andächtig-strenge Illustrationen zum Vitentext und daneben freie, d. h. vom Text völlig unabhängige Darstellungen von Chimären [...] komischen Teufeln, Jongleuren mit ihren Akrobatentricks, schließlich maskierte Figuren und kleine parodistische Szenen, rein karnevaleske groteske Motive also. Auf einer einzigen Buchseite wie auch im Bewußtsein des mittelalterlichen Menschen hatte beide Aspekte des Lebens und der Welt Platz. Doch nicht nur in der Buchillustration, auch in den Fresken und Skulpturen der mittelalterlichen Kirchen beobachten wir ein Nebeneinander von

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Getty Museum Journal, 20 [1992], S. 53-76, hier S. 71ff.; Suzanne Lewis, Reading Images. Narrative Discourse and Reception in the Thirteenth-Century Apocalypse. Cambridge 1995, S. 250-251). Vgl. demgegenüber Peter K. Klein, Initialen als ‚marginal images’. Die Figureninitialen der Getty-Apokalypse. Cahiers Archéologiques, 48 (2000), S. 105-123, hier S. 108-111, 121. – Starke Vorbehalte gegen die von Frances A. Yates (The Art of Memory. London 1966) ausgehende Überbetonung der mnemotechnischen Funktion mittelalterlicher Bilder hat auch Wolfgang Kemp vorgebracht. Vgl. Wolfgang Kemp, Memoria, Bilderzählung und der mittelalterliche esprit du système. In: Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hgg.), Memoria. Vergessen und Erinnern. München 1993, S. 263-282, hier S. 276ff. So Carruthers, The Craft of Thought [Anm. 22], S. 162-163, hier im Anschluß an Laura Kendrick, Les ‚bords’ des «Contés de Cantorbéry» et des manuscrits enluminés de l’époque gothique. Bulletin des Anglicistes Médiévistes, 46 (1994), S. 926-943.. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1987 (zuerst russ. 1965).

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andächtig Seriösem und karnevalesk Groteskem. [...] Doch trotz aller Nähe der beiden Aspekte des Lebens respektiert die bildende Kunst des Mittelalters eine scharfe innere Grenze zwischen ihnen; sie treten zusammen auf, doch sie gehen nicht ineinander über.“28 Diese Sicht BACHTINs überträgt Nurith KENAAN-KEDAR in ihren Arbeiten über die mittelalterlichen Randskulpturen 29 auf die romanischen und gotischen Figurenkonsolen Südwestfrankreichs, die sie als Ausdruck der mittelalterlichen Volkskultur auffaßt, da sie im Unterschied zur offiziellen kirchlichen Kunst auch tabuisierte oder sonst eher selten dargestellte Themen wiedergeben – wie Obszönitäten, Narren, Kranke, Verkrüppelte, aber auch Gaukler und Musikanten. Diese Darstellungen seien wirklichkeitsgetreue Wiedergaben damaliger Randgruppen, die aber von den kirchlichen Auftraggebern als Bilder von Sündern und Lastern verstanden worden seien. Die Gegenposition zu KENAAN-KEDAR nimmt Michael C AMILLE in seinem bekannten Buch über die Randbilder ein,30 obwohl auch er von BACHTIN angeregt ist31 und häufig Parallelen zum Karneval zieht.32 Seine zentrale These lautet jedoch: Die Bilder auf den Randzonen stellen keinen Gegensatz von niederer und hoher Kunst, von Volkskultur und Hochkultur dar, vielmehr stünden sie auf der „Kante“ beider Bereiche.33 So heißt auch der Titel seines Buches «Image on the Edge» (Das Bild auf der Kante). Er verweist in dieser Hinsicht auf die vielfältigen Bezüge der Randbilder auf den Haupttext oder das Hauptbild, die sie häufig kommentieren oder parodieren.34 Trotz der scheinbaren Autonomie der Randbilder und trotz ihres scheinbaren Widerspruchs zu traditionellen Konventionen und Normen bestätigen sie – so CAMILLE – gleichwohl die bestehende Ordnung,35 zumal die mittelalterlichen Werke letztlich nie der Kontrolle und Intention der Auftraggeber ent-

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Ebenda, S. 145-146. Kenaan-Kedar, Marginal Sculpture [Anm. 1], S. 3-6, 53-73. – Vgl. auch Dieselbe, Les modillons de Saintonge et du Poitou comme manifestation de la culture laïque. Cahiers de Civilisation Médiévale, 29 (1986), S. 311-330; Dieselbe, The Margins of Society in Marginal Romanesque Sculpture. Gesta, 31 (1992), S. 15-24. Camille [Anm. 1]. – Vgl. auch Derselbe, The Book of Signs. Writing and Visual Difference in Gothic Manuscript Illumination. Word & Image, 1 (1985), S. 133-148; Derselbe, Labouring the Lord. The Ploughman and the Social Order in the Luttrell Psalter. Art History, 10 (1987), S. 423-454; Derselbe, Mirror in Parchment. The Luttrell Psalter and the Making of Medieval England. London 1998. Ohne dieses allerdings zuzugeben, wobei er sich ansonsten deutlich von Bachtin absetzt (vgl. Camille [Anm. 1], S. 12, 143). Positiver klingen dagegen seine Bemerkungen in dem Buch über den Luttrell-Psalter (Camille, Mirror in Parchment [Anm. 30], S. 245-246, 255256). Camille [Anm. 1], S. 143ff. Ebenda, S. 12-13, 30-31. Ebenda, S. 21ff. – Dieser Aspekt dominiert in seiner Untersuchung zum Luttrell-Psalter (vgl. Camille, Mirror in Parchment [Anm. 30], S. 44-45, 47, 160, 192-196, 230, 277, 284, 289). Camille [Anm. 1], S. 30, 47, 143ff.

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kommen konnten. 36 Leider versucht CAMILLE keine Gesamtdeutung der Randbilder, sondern entzieht sich jeder genaueren Definition und will eher durch überspitzte, provokante Thesen brillieren.37 Immerhin macht er zweierlei deutlich, ohne dieses allerdings systematisch auszuführen: 1) die Randbilder stellen eine eigene Gattung dar, die sich aus älteren Traditionen entwickelt und deren Gestaltung offenbar bestimmten Regeln und Konventionen unterliegt;38 2) die Randbilder können nicht als Ausdruck einer volkstümlichen „Gegenkultur“ verstanden werden,39 deren Existenz übrigens auch von historischer und volkskundlicher wie von literaturwissenschaftlicher Seite angezweifelt wird. 40 Darüber hinaus zieht CAMILLE ethnologische Theorien und Tatbestände heran,41 um den Mangel an zeitgenössischen Quellen auszugleichen. Das ist sicher der richtige Weg, es fragt sich nur, ob er immer die treffenden Beispiele und Theorien gewählt hat. Problematisch bei dem Ansatz von CAMILLE ist vor allem zweierlei: Einerseits sieht er die Randbilder und ihren ‚Text’ (d. h. den Text oder das Hauptbild einer Darstellung bzw. die damaligen allgemeinen Konventionen) engstens aufeinander bezogen, wobei die Randbilder den Text meist direkt „glossieren, parodieren und problematisieren“, ohne jedoch jemals „seine Autorität zu unterminieren“.42 Vielmehr bestärkten und bestätigten sie die Werte und Hierarchien, die sie vordergründig parodieren und negieren,43 36

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Vgl. ebenda, S. 43: „It [die Randzone] was one area where artists could ‚do their thing’, which was, of course, always already somebody else’s.“ – Gleichwohl betont Camille kurz zuvor den Freiraum der Künstler beim Malen der Randbilder: „but on the edge he [der Künstler] was free to read the words for himself and make what he wanted of them“ (ebenda, S. 42). „When the family ordered this Psalter, they probably asked for a large historiated Beatus initial [...] The rest was extra, and left the illuminators room to extemporize“ (ebenda, S. 40). Vgl. dazu die vernichtende Rezension von Jeffrey F. Hamburger, Review of M. Camille, Image on the Edge (Cambridge 1992). The Art Bulletin, 75 (1993), S. 319-327, hier S. 319. Camille [Anm. 1], S. 9, 22, 36-37. Ebenda, S. 12, 143. Siehe u. a. D. Hayman, Au-delà de Bakhtine – pour une mécanique des modes. Poétique, 4 (1973), S. 76-94; Hans-Ulrich Gumbrecht, Literarische Gegenwelten, Karnevalskultur und Epochenschwelle vom Spätmittelalter zur Renaissance. In: Hans-Ulrich Gumbrecht (Hg.), Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Heidelberg 1980, S. 95-144, hier S. 97, 100ff.; Peter Burke, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Stuttgart 1981, S. 36-41; Richard Berrong, Rabelais and Bakhtin. Popular Culture and Gargantua and Pantagruel. Lincoln/Nebr. 1986, S. 13ff.; Aaron J. Gurjewitsch, Mittelalterliche Volkskultur. 2. Aufl. München 1992, S. 263ff. So vor allem die Theorien von Arnold van Gennep, Victor Turner und Edmund Leach. Vgl. Camille [Anm. 1], S. 9, 16, 41, 56, 70, 72. Ebenda, S. 10. Ebenda, S. 30: „Such images work to reinstate the very models they oppose. For behind them, or often literally above them, is the shadow of the model they invert, either on the very same page [...] or [...] by reference to the widely known iconographic traditions they subvert.“

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weshalb der Fortbestand des ‚Zentrums’ letztendlich auch den Rändern zu verdanken sei.44 Diese enge Ankettung der Randbilder an den ‚Haupttext’ – die in jüngster Zeit auch von anderer Seite vertreten wurde45 – übersieht nicht nur große Bereiche der Randbilder, die ohne bildlichen oder textlichen Gegenpart sind (wie etwa die TraufgesimsKonsolen und Wasserspeier an den Außenbauten der Kirchen oder die Miserikordien der Chorgestühle), sondern sie unterstellt häufig spekulative Bezüge zwischen Text und Randbildern, die einer ernsthaften Überprüfung nicht standhalten.46 Ebenso fragwürdig ist andererseits, daß CAMILLE den Ort der Randbilder als „Kante“ bezeichnet, wobei er diesen weniger als Rand denn als Schwellen- und Grenzphänomen begreift. Er rekurriert dabei auf den Ethnologen Arnold VAN GENNEP47 und das von diesem entwickelte Strukturmodell zu den Übergangsriten, d. h. zu Riten, die den Übergang zu einem anderen altersmäßigen, religiösen, sozialen oder beruflichen Status markieren.48 Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem die mittlere Phase dieser Riten, die sogenannte Schwellen- und Umwandlungsphase, bei der – wie der Sozialanthropologe Victor 44

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Ebenda, S. 10: „Things written or drawn in the margins add an extra dimension, a supplement, that is able to gloss, parody, modernize and problematize the text’s authority while never totally undermining it. The centre is [...] dependent upon the margins for its continued existence.“ Vgl. auch ebenda, S. 172. So z. B. in der neuren Literatur zu den Randstreifen des Teppichs von Bayeux. Vgl. David J. Bernstein, The Mystery of the Bayeux Tapestry. London 1986, S. 130-134; John Bard McNulty, The Narrative Art of the Bayeux Tapestry Master. New York 1989, S. 27ff.; H. E. J. Cowdrey, Towards an Interpretation of the Bayeux Tapestry. Anglo-Norman Studies, 10 (1989), S. 49-65, hier S. 55f.; Daniel Terkla, Cut on the Norman Bias. Fabulous Borders and Visual Glosses on the Bayeux Tapestry. Word & Image, 11 (1995), S. 264-290, hier S. 269ff.; Suzanne Lewis, The Rhetoric of Power and Bayeux Tapestry. Cambridge 1999, S. 63-73. – Ähnlich auch Conrad Rudolphs reichlich gesuchte Interpretation der Figureninitialen der «Moralia»-Handschrift aus Cîteaux (Dijon, Bibliothèque Municipale, Ms. 168-170, 173), deren marginalen Charakter er nicht erkennt und die er statt dessen zu visuellen Metaphern spiritueller Konflikte und Praktiken stilisiert. Siehe Conrad Rudolph, Violence and Daily Life. Art and Politics in the Cîteaux «Moralia in Job». Princeton 1997. So wenn Camille bestimmte Randmotive auf willkürlich herausgegriffene Worte des darüber stehenden Textes bezieht und diese je nach Bedarf mal im lateinischen Wortlaut, mal in ihrer angeblich französischen oder englischen Lesart versteht (vgl. Camille [Anm. 1], S. 22-23). Oder wenn er einen Kämpfer aus dem Daurade-Kreuzgang in Toulouse, der mit der Darstellung von Alltagsszenen geschmückt ist, auf das Transfigurations-Kapitell aus demselben Kreuzgang bezieht, das im Museum ihm heute zufällig als Unterlage dient (ebenda, S. 60). Wir wissen jedoch von keinem der Kämpfer aus dem Daurade-Kreuzgang, auf welchem Kapitell er ursprünglich gesessen hat! Vgl. Denis Milhau, Les grandes étappes de la sculpture romane toulosaine. Musée des Augustins [Ausstellungs-Katalog]. Toulouse 1971, S. 63; La France romane au temps des premiers Capétiens (987-1152). Musée du Louvre [Ausstellungs-Katalog]. Paris 2005, S. 70 Nr. 16. Camille [Anm. 1], S. 9 („one of the first anthropologists of the edge“). Vgl. Arnold van Gennep, Übergangsriten. Frankfurt a. M. 1986 [Les rites de passages, Paris 1909], hier S. 25-33 („Räumliche Übergänge“).

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TURNER gezeigt hat – häufig Elemente der Zweideutigkeit und Unstrukturiertheit, des Paradoxen und Monströsen auftreten.49 Das sind in der Tat auch einige der Merkmale der Randbilder, allerdings beileibe nicht alle. Vor allem aber befinden sich die Randbilder, wie schon ihre Name besagt, nicht auf der Schwelle, zwischen zwei Bereichen, sondern an den Rändern und Randzonen, wie die Traufgesims-Konsolen von Frómista (vgl. Abb. 1) und die Randskulpturen anderer romanischer wie gotischer Kirchen (vgl. Abb. 2). Auch die oberen und unteren Randzonen des Teppichs von Bayeux bezeichnen keine Schwellenzone, sondern vielmehr Randbereiche (vgl. Abb. 3). Gleiches gilt auch für die Randbilder der illustrierten Handschriften und Wandmalereien, die sich in der Regel auf die äußeren Ränder und Randstreifen der Seiten bzw. der Wände beschränken (vgl. Abb. 4),50 wie auch für die Miserikordien der gotischen Chorgestühle, die unter den Klappsitzen angebracht sind.51 Damit gerät auch die häufig beschworene apotropäische Funktion der Randbilder ins Wanken, denn apotropäische, d. h. abwehrende Bilder und Zeichen, das lehren uns Ethnologie und Volkskunde, befinden sich an den Türschwellen und Fenstern, dort wo das potentielle Übel eindringen könnte.52 Auch die anderen Erklärungsmodelle zu den Randbildern können kaum überzeugen, da sie entweder nur bestimmte Phänomene beschreiben oder schlichtweg unzureichend sind, wie etwa die Erklärung als humorvolle Unterhaltung, als Apotropäa oder groteske Komik. Wir müssen also nach weiteren Deutungsmöglichkeiten Ausschau halten. Einen Anhaltspunkt können die mißgebildeten exotischen Völker bieten, die Panotier, Skiapo-

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Victor Turner, The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Ithaca/N.Y. 1967, S. 93111 (Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passages); Derselbe, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a. M. 1989 [The Ritual Process. Structure and AntiStructure. New York 1969], S. 94-95. Zu den Randbildern der illustrierten Handschriften vgl. Randall, Images in the Margins [Anm. 9]. Zu den Randbildern der romanischen Wandmalereien, insbesondere Tierfabeln und Fabelwesen vgl. Otto Demus, Romanische Wandmalerei. München 1968, S. 132f. (Tramin, St. Jakob am Kastellaz), S. 149 (Ébreuil); Joan Sureda, La pintura románica en España. Madrid 1985, S. 263-264, 392 (Sigena, Arlanza); Walter Cahn, The Frescoes of San Pedro de Arlanza. In: The Cloisters. Studies in Honor of the Fiftieth Anniversary. New York 1992, S. 87-109, hier S. 88 (Arlanza); Robert Favreau [Hg.], Saint-Savin. L'abbaye et ses peintures murales. Poitiers 1999, Abb. S. 118 (Saint-Savin). S. o. Anm. 10. Vgl. Victor von Geramb, Fenster. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 2 (1930), Sp. 1328-1340, hier Sp. 1331, 1333f., 1340); Lily Weiser-Aall, Tür. In: ebenda, Bd. 8 (1937), Sp. 1185-1209, hier Sp. 1199, 1201. – Allerdings hat man von der apotropäischen Wirkung der Drachenköpfe an den Bugen nordischer Schiffe schließen wollen, daß diese Motive „an den vorspringenden Balken und Regenrinnen deutscher Häuser und Kirchen“ – also unsere Randbilder – eine ähnliche apotropäische Intention besessen hätten, wofür aber keine konkreten Belege vorliegen. Vgl. Karl Beth, Dämonen. In: ebenda, Bd. 2 (1930), Sp. 140-168, hier Sp. 146-147.

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den, Pygmäen usw., die zum Standardrepertoire der Randbilder zählen.53 Sie wurden am Rande der bewohnten Welt vorgestellt und deshalb in den mittelalterlichen Weltkarten am Rand der Erde angesiedelt.54 Als Beispiel sei die Weltkarte des Beatus-Kodex in Burgo de Osma von 1086 genannt (Abb. 5), wo auf dem südlichen Erdenrand ein einbeiniger Skiapode hockt, der mit seinem übergroßen Fuß sich vor der übermäßigen Hitze der Sonne zu schützen sucht.55 Auf dem entsprechenden Abschnitt der Ebstorfer Weltkarte aus dem Ende des 13. Jahrhunderts (Abb. 6),56 der größten bekannten Weltkarte des Mittelalters, drängen sich gleich zwei Dutzend dieser mißgebildeten exotischen Völker. 57 Diese seit Herodot bekannten und von Plinius eingehend beschriebenen Fabelvölker58 53 54

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Siehe Kröll [Anm. 17], S. 59, 62. John Block Friedman, The Monstrous Races in Medieval Art and Thought. Cambridge/Mass. 1981, S. 42-58; Anna-Dorothee von den Brincken, Die Enden der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten (Monumenta Germaniae Historica. Schriften, 36). Hannover 1992, S. 88-89, 93-96; Hannes Kästner, Kosmographisches Weltbild und sakrale Bilderwelt: Meerwunder und Wundervölker im mittelalterlichen Kirchenraum. In: Kröll, Steger [Anm. 14], S. 215-327, hier S. 226-229. Zu den Skiapoden auf dem südlichen Rand der Beatus-Weltkarten, die in den Beischriften dort auch die „Antipoden“ als weitere exotische Bewohner nennen, siehe Serafín Moralejo Álvarez, El mundo y el tiempo en el mapa del Beato de Osma. In: José Arranz (Hg.), El Beato de Osma. Estudios [Faksimile-Kommentar]. Valencia 1992, S. 151-179, hier S. 153-159. – Zum Fabelvolk der Skiapoden vgl. Christoph Gerhardt, Die Skiapoden in den «Herzog Ernst»-Dichtungen. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, NF 18 (1977), S. 13-87. Die Datierung dieser 1943 verbrannten Karte ist umstritten, wird aber fast immer im 13. Jahrhundert angesetzt, reicht allerdings von 1214/18 bis 1280. In jüngster Zeit hat sich aus stilkritischen wie paläographischen Gesichtspunkten eine Datierung in die Zeit um 1280 durchgesetzt. Siehe Hartmut Kugler (Hg.), Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium. Weinheim 1991. Vgl. ansonsten Birgit Hahn-Woernle, Die Ebstorfer Weltkarte. 2. Aufl. Stuttgart 1993. Ähnlich verfährt die etwas ältere Weltkarte eines Londoner Psalters (London, British Library, Add. Ms. 28681), wo an gleicher Stelle vierzehn der Fabel- und Monstervölker zu sehen sind (siehe Camille [Anm. 1], S. 14 u. Abb. S. 15; Kästner [Anm. 54], S. 226-227 u. Abb. 85; zu diesem Psalter u. seiner Karte vgl. ansonsten Bruno Reudenbach, Die Londoner Psalterkarte und ihre Rückseite. Ökumenekarten als Psalterillustration. Frühmittelalterliche Studien, 32, [1998], S. 164-181). – Vergleichbar ist ebenso die mit der Ebstorfer Karte nahezu zeitgleiche Weltkarte der Kathedrale von Hereford, wo allerdings die Monstervölker sowohl an dem südlichen wie nördlichen Weltenrand angeordnet sind (von den Brincken [Anm. 54], S. 94; siehe auch Nigel Morgan, Early Gothic Manuscripts 1250-1285 (A Survey of Manuscripts Illuminated in the British Isles, 4). Bd. 2. London 1988, S. 195-200 Nr. 188 u. Abb. 423, 425). Rudolf Wittkower, Marvels of the East. A Study in the History of Monsters. Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 5 (1942), S. 159-197; Friedman [Anm. 54], S. 5-36; Alexander Perrig, Erdrandsiedler oder die schrecklichen Nachkommen Chams. Aspekte der mittelalterlichen Völkerkunde. In: Thomas Koebner, Gerhart Pickerodt (Hgg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt a. M. 1987, S. 31-87.

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wurden am Erdenrand vorgestellt – am weitesten vom Zentrum des Heils (Jerusalem) entfernt –, weil sie als Inbegriff von Mißbildung und Widernatürlichkeit der von Gott geschaffenen Ordnung widersprachen und vom Schöpfer nur deshalb zugelassen waren, um als Negativfolie für die rechte Ordnung der Natur dienen zu können.59 Diese Bedeutung der exotischen Fabel- und Monsterwesen tritt noch deutlicher auf der romanischen Bilderdecke von St. Martin in Zillis (Graubünden) aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts in Erscheinung, deren allgemeines Ordnungsschema auf die Disposition der Weltkarten zurückgeführt wird.60 Auf der bemalten Decke von Zillis ist der umlaufende ‚Weltenrand’, deren Ecken durch die vier Wind-Engel markiert werden (Abb. 7, Nr. 1, 9, 25, 33), mit den Misch- und Fabelwesen des Meeres bevölkert (Abb. 7, grau getönter äußerer Rand), während die restlichen 105 inneren Felder die Heilsgeschichte und die Vita des Kirchenpatrons darstellen (Abb. 7, Nr. 49-153). Im Unterschied zu den Weltkarten besetzen hier die Monsterwesen nicht nur fast den gesamten umlaufenden Rand und heben sich sowohl durch ihren blauen Hintergrund wie ihre Ausrichtung deutlich von den Mittelfeldern ab, sondern sie sind vor allem durch ihre Attribute und Aktionen (Beißen, Fressen, Verschlingen) eindeutig als Vertreter des Unvertraut-Fremden wie des Monströs-Bösen gekennzeichnet.61 Es ist deshalb fraglich, ob man das Ordnungsschema der genannten Weltkarten und vor allem der Decke von Zillis allein als eine Durchdringung eines räumlich-kosmologischen und eines zeitlich-heilsgeschichtlichen Weltbildes interpretieren kann.62 Denn zumindest in Zillis stehen sich positiv ausgezeichnetes Zentrum und negativ charakterisierte Peripherie gegenüber. Damit kommen wir auf die Monster- und Mischwesen der Randbilder zurück, die gleich den exotischen Fabelwesen der Weltkarten und der Zillis-Decke nicht der göttlichen Ordnung entsprachen und deshalb den mittelalterlichen Theologen erhebliche theoretische Probleme bereiteten. 63 In Analogie dazu könnte man die meisten der restlichen Motivgruppen der Randbilder, wie etwa die heimat- und bindungslosen Gaukler, Spielleute und Bettler, als Abweichungen 59

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Friedman [Anm. 54], S. 109-130; Perrig [Anm. 58], S. 43-45; Kästner [Anm. 54], S. 226227, 236. Siehe vor allem Wolfgang Kemp, Mittelalterliche Bildsysteme. Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 22 (1989), S. 121-134, hier S. 130-132. – Vgl. auch Erwin Poeschel, Die romanischen Deckengemälde von Zillis. Erlenbach, Zürich 1941, S. 11; Walter Myss, Bildwelt als Weltbild. Die romanische Bilderdecke von St. Martin zu Zillis. Beuron 1965, S. 2226. Vgl. Myss [Anm. 60], S. 33-35, 45; Kästner [Anm. 54], S. 224. – Vgl. auch Steiner, Formen der Unordnung [Anm. 15], S. 509. Wie es Arentzen für die Weltkarten und Kemp für die Weltkarten wie die Decke von Zillis vorschlagen (Jörg-Geerd Arentzen, Imago mundi cartographica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten. München 1984, S. 164; Kemp [Anm. 60], S. 127ff.). Auf jeden Fall kommt aber als übergreifende Figuration noch die Kreuzgestalt (Ebstorfer Karte) bzw. das Kreuzzeichen (Decke von Zillis) hinzu (vgl. Kemp [Anm. 60], S. 128, 132). Siehe Claude Lecouteux, Les monstres dans la pensée médiévale européenne. 3. Aufl. Paris 1999, S. 69-70, 133-147; Caviness, No Laughing Matter [Anm. 9], S. 95-98.

Rand- oder Schwellenphänomen?

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von der etablierten sittlichen wie sozialen Norm bezeichnen.64 Gleich den Kriminellen wurden sie – wie Bronislaw GEREMEK gezeigt hat – von der zeitgenössischen Gesellschaft mit Mißtrauen und Ablehnung bedacht.65 Das galt auch für die Kranken, Leprösen und Verkrüppelten,66 denn deren Leid galt als Folge von Sünde und Verfehlung wie als Zeichen der Strafe Gottes.67 Warum wurden nun auch diese Gruppen auf den Rändern dargestellt? Zunächst muß man sich vergegenwärtigen, daß es in der mittelalterlichen Vorstellung eine metaphorische Symbolik des Raumes gab, die zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Innen und Außen unterschied und diese diametral entgegengesetzt auffaßte: Während ersteres als Verkörperung aller offiziell anerkannten Werte und Gewohnheiten galt, stand letzteres für alle Normverletzungen und Normüberschreitungen, aber auch für alles Fremde und Unvertraute.68 Zur metaphorischen Peripherie zählten außer den an den Rändern der Erde vorgestellten Fabel- und Monstervölkern auch die verschiedenen sozialen Randgruppen – die Verbannten, Vagabunden, Gaukler, Bettler, Huren, Kriminellen, Leprösen, Häretiker und Juden – , die nicht nur häufig durch Kleidung und Kennzeichen äußerlich 64

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Die Randexistenz der Gaukler und Spielleute (Musikanten) und ihre kirchliche wie rechtliche Verfemung im frühen und hohen Mittelalter sind bekannt. Zwar fiel ihre Beurteilung durch die Kirche ab dem 13. Jahrhundert zunehmend milder aus (vgl. Thomas von Aquin u. Franz von Assisi), und parallel dazu wurde ein Teil der Spielleute durch Bruderschaften und Zünfte partiell in die städtische Gesellschaft integriert, aber die überwiegende Mehrheit der Gaukler und Spielleute zählte auch im Spätmittelalter weiterhin zur Gruppe der heimatlosen Fahrenden und Vagabunden, denen die traditionelle Ressentiments der Gesellschaft gewiß waren (vgl. zuletzt Wolfgang Hartung, Die Spielleute im Mittelalter. Gaukler, Dichter, Musikanten. Düsseldorf, Zürich 2003, S. 116ff., 262ff., 322f.; siehe auch Ernst Schubert, Fahrendes Volk im Mittelalter. Bielefeld 1995; Walter Salmen, Der Spielmann im Mittelalter. Innsbruck 1983). – Zu den Bettlern siehe u. a. Franz Irsigler, Arnold Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt. 2. Aufl. München 1989, S. 17-68. Bronislaw Geremek, The Margins of Medieval Society in Late Medieval Paris. Cambridge 1987, S. 195ff., 300; Derselbe, Le marginal. In: Jacques Le Goff (Hg.), L'homme médiéval. Paris 1989, S. 381-413, hier S. 387, 393-394, 402. – Siehe auch Robert Muchembled, Kultur des Volkes – Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung. Stuttgart 1982, S. 115. Geremek, Le marginal [Anm. 65], S. 300-301, 407-408; Irsigler, Lassotta [Anm. 64], S. 69ff., 87ff. So in der vom Alten Testament und Augustinus ausgehenden Auffassung der Krankheit. Vgl. Wolf von Siebenthal, Krankheit als Folge der Sünde. Eine medizinhistorische Untersuchung (Heilskunde und Geisteswelt, 2). Hannover 1950, S. 47-58; Heinrich Schipperges, Die Kranken im Mittelalter. München 1990, S. 36-37, 208-209. Vgl. Jean-Claude Schmitt, L'histoire des marginaux. In: Jacques Le Goff (Hg.), La nouvelle histoire. Paris 1978, S. 344-369, hier S. 348-349; Maria Corti, Models and Antimodels in Medieval Culture. New Literary History, 10 (1979), S. 339-366, hier S. 348; Geremek, Le marginal [Anm. 65], S. 388.

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abgestempelt, sondern auch räumlich auf bestimmte „Schandzonen“ und Ghettos beschränkt waren (wie z. B. die Juden, Leprösen und Bettler).69 In den offiziellen Staats- und Gesellschaftsmodellen des Mittelalters, wie etwa in den ‚Tres ordines’ des klassischen Feudalismus70 oder deren modifizierter Form in der Scholastik des Thomas von Aquin und Humbert von Romans, 71 wird die soziale und religiösideologische ‚Peripherie’ mit keinem Wort erwähnt. Auf sie wird aber gelegentlich in den Exempla und den Metaphern der Predigten angespielt, wenn etwa den Hausfrauen geraten wird, stets zu Hause zu bleiben und nicht nach draußen zu gehen oder sich aus dem Fenster zu lehnen, da dort draußen die Gefahr – nämlich die Sünde und der Teufel – lauerten.72 Ansonsten ist das Denken und Verhalten gemäß räumlich-topographischen Mustern aber ein allgemeines Phänomen, das sich auch in anderen Kulturen nachweisen läßt.73 In diesem Kontext und vor dem Hintergrund des oben Ausgeführten stellen die mittelalterlichen Randbilder – ihrem Namen entsprechend – kein Schwellenphänomen, sondern ein ausgesprochenes Randphänomen dar. In ihnen wird die räumliche Peripherie der Kunst- und Bauwerke allgemeinen ordnungssymbolischen Vorstellungen und Praktiken dienstbar gemacht, und zwar auf eine Weise, die für uns heute nur schwer nachvollziehbar ist.

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Siehe u. a. Schmitt [Anm. 68], S. 354-355; Geremek, Le marginal [Anm. 65], S. 388; Irsigler, Lassotta [Anm. 64], S. 39-44. Vgl. Georges Duby, Les trois ordres ou l'imaginaire du féodalisme. Paris 1978 [dt. Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. Frankfurt a. M. 1986]. Siehe Corti [Anm. 68], S. 345ff. Ebenda, S. 348. Inwiefern Strukturmodelle der Ethnologie und Systemtheorie sich auf das Phänomen der mittelalterlichen Randbilder anwenden lassen, soll an anderer Stelle dargelegt werden (vgl. Anm.*).

Rand- oder Schwellenphänomen?

Abb. 1

Frómista, San Martín, Gesamtansicht von Osten

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Abb. 2

Aulnay, Saint-Pierre, Südportal, Randarchivolte: Esel als Priester

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Bayeux, Wandteppich: Graf Harald von Wessex in Gefangenschaft normannischer Reiter, Randzone: Nacktes Paar

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Abb. 4

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Oxford, Bodleian Library, MS Bodl. 264 (Alexander-Roman), fol. 56r: Defäkierender vor betender Nonne

Rand- oder Schwellenphänomen?

Abb. 5

Burgo de Osma, Archivo de la Catedral, Cod. 1, fol. 35r (Detail): Weltkarte mit Skiapode

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Abb. 6

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Ehem. Hannover, Staatsarchiv: Ebstorfer Weltkarte, rechter Rand: Exotische Völker

Rand- oder Schwellenphänomen?

Abb. 7

Zillis, St. Martin, Schema der Bilderdecke

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MARTIN PRZYBILSKI

Leben auf der Grenze. Die mentale Landkarte des jüdischen Konvertiten in der Literatur des europäischen Hoch- und Spätmittelalters

Der Bereich der „Konversion“ stellte die fragilste Kontaktzone zwischen der jüdischen Minorität und der christlichen Majorität im europäischen Mittelalter dar. Dieser Bereich war voller Gefahren und Bedrohungen sozialer, materieller und ganz einfach existenzieller Natur. Die Bedeutung dieser interkulturellen Zone und insbesondere die Bedeutung jüdischer Konvertiten für den kulturellen Austausch zwischen Orient und Okzident im allgemeinen sowie für die Übermittlung originär jüdischen Erzählguts und originär jüdischer Erzählmotive im besonderen sollte jedoch niemals zu niedrig veranschlagt werden. Einige der einflußreichsten Sammlungen von Kurzerzählungen, Fabeln und Anekdoten des europäischen Mittelalters wurden von Konvertiten verfaßt oder zusammengestellt. Um hier lediglich die wichtigsten Beispiele zu erwähnen: die ‚Disciplina clericalis‘1 des Petrus Alfonsi im 12. Jahrhundert, ‚Schimpf und Ernst‘2 von Johannes Pauli im frühen 16. Jahrhundert und die lateinische Übersetzung des ‚Kalila und Dimna‘3 durch Johannes von Capua aus dem späten 13. Jahrhundert.4 Der Hauptgrund für diese herausragende Rolle jüdischer Konvertiten in diesem Über- und Vermittlungsprozeß liegt in der hybriden Natur der Konvertiten selbst. Diese Hybridität entsteht durch den gleichzeitigen Zugriff des Konvertiten auf zwei oder mehr kulturelle Archive, eine Fähigkeit, die sich nach außen vor allem auch durch seine Mehrsprachigkeit ausdrückt, die ihm ebenfalls die Verwendung von mindestens zwei, oft aber auch von mehr als zwei Sprachen ermöglicht.5 1

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Vgl. Petrus Alfonsi, Die Disciplina Clericalis (das älteste Novellenbuch des Mittelalters). Hrsg. v. Alfons Hilka u. Werner Söderhjelm (Sammlung mittellateinischer Texte 1). Heidelberg 1911. Vgl. Johannes Pauli‚ Schimpf und Ernst. 2 Bde. Hrsg. v. Johannes Bolte (Alte Erzähler 1–2). Berlin 1924. Vgl. Johannes de Capua, Directorium vitae humanae alias parabole antiquorum sapientum. Hrsg. v. Joseph Derenbourg (Bibliothèque de l’École des Hautes Études/Sciences philosophiques et historiques 72). Paris 1887. Vgl. dazu zuerst Moritz Steinschneider, Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher. Berlin 1893, S. 872–875. Vgl. auch Michael Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich (Enzyklopädie deutscher Geschichte 44). München 1998, S. 37.

Leben auf der Grenze

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Ein Konvertit zu sein bedeutet in den Worten Homi BHABHAS – neben Edward SAID einer der wichtigsten Theoretiker des Postkolonialismus – im Bereich des „beyond“ zu leben, im Darüberhinausgehenden, in einem Stadium der Transgression 6, im exemplarischen Raum der Kultur.7 Ein Konvertit zu sein bedeutet zugleich, auf der Grenze zwischen verschiedenen Kulturen zu leben und diese Grenze gleichsam körperlich zu repräsentieren. Der mittelalterliche Konvertit wird so zur Inkarnation religiös-kultureller Transgression, reflektiert in seiner multifacettierten Existenzform, und unterminiert damit das Ziel einer jeden Kultur, ihre hegemoniale Sphäre zu homogenisieren. Obwohl der Konvertit in der Gruppe der Majorität ein neues „Zuhause“ gefunden hat, dessen rechtmäßige Inbesitznahme er durch wiederholte Akte performativer Bestätigung öffentlich beweisen muß, bleibt seine Vergangenheit als Teil des minoritären Anderen beständig präsent. Obwohl er durch seinen Religionswechsel in einer neuen spirituellen „Heimat“ angekommen ist, bleibt doch die Erfahrung diasporaler Existenz präsent. Diese Erfahrung zeigt zudem, daß man die diskursiven Konventionen einer differenten Kultur erlernen und bis zum Grad absoluter Perfektion meistern kann.8 Um mit den permanenten Spannungen umzugehen, die das Leben auf der Grenze für den Konvertiten bedeuten, greift er schließlich zur Technik der „kulturellen Übersetzung“, wie Walter BENJAMIN folgenden Prozeß genannt hat:9 Er nimmt Teile oder Bruchstücke seiner vorhergehenden Existenz auf, formt diese um in kulturelle Versatzstücke seiner neuen Existenz und transferiert sie in dieser Form und durch diese Handlung in das kulturelle Archiv seiner neuen Glaubensgenossen. Im Falle eines im europäischen Mittelalter vom Judentum zum Christentum Konvertierten kann diese selbstversichernde Handlungsweise zwei Formen annehmen: Entweder eröffnet der Konvertit der christlichen Gemeinschaft Thematiken und Motive aus Literaturen, die zuvor aufgrund von Sprachbarrieren für diese unzugänglich waren. Oder der Konvertit offenbart den Christen „Geheimnisse“ seiner alten Religion, die ihnen aus dem gleichen Grund bisher unzugänglich waren und die jetzt als polemische Waffe gegen ihre Anhänger benutzt werden können. Beispiele für die erstgenannte Form bieten unter anderen Petrus Alfonsi und Johannes von Capua. Beide brachten das reichhaltige Spektrum orientalischer Erzähltraditionen dem europäischen Mittelalter zur Kenntnis, während in anderen lateinischen Sammlungen von Fabeln und Anek6

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Zum Begriff der „Transgression“ vgl. grundsätzlich Alois Hahn, Transgression und Innovation. In: Werner Helmich, Helmut Meter u. Astrid Poier-Bernhard (Hgg.), Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus. München 2002, S. 452–465. Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur (Stauffenburg discussion 5). Tübingen 2000, S. 1, 10. Vgl. auch Douwe Fokkema, Okzidentalismus als Antwort auf Saids Orientalismus. Argumente für einen neuen Kosmopolitismus. In: Reinhold Viehoff u. Rien T. Segers (Hgg.), Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt a. M. 1999, S. 50–58, hier S. 57. Vgl. Walter Benjamin, Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M. 1974, S. 56– 69; vgl. dazu auch Bhabha [Anm. 7], S. 339–341.

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Martin Przybilski

doten aus dem hohen und späten Mittelalter wie dem ‚Speculum sapientiae‘10 aus dem 13. Jahrhundert, Konrads von Mure ‚Fabularius‘11 aus der zweiten Hälfte des gleichen Jahrhunderts oder dem ‚Dialogus creaturarum‘12, den der italienische Dominikaner Bonjohannes von Messina zwischen 1337 und 1347 verfaßte, Motive solcher Provenienz erkennbar fehlen. Beispiele für die zweite genannte Form kultureller Übersetzung sind wiederum Petrus Alfonsi und unter anderen Nikolaus Donin sowie Paulus Christiani. Die Werke der beiden zuletzt genannten Konvertiten ermöglichten ab der Mitte des 13. Jahrhunderts die christliche „Entdeckung“ nachbiblischer jüdischer Exegesetraditionen. Beide übernahmen aktive Rollen in den bedeutenden christlich-jüdischen Religionsdisputationen, die 1240 und 1269 in Paris sowie 1263 in Barcelona abgehalten wurden. Einer der Hauptstreitpunkte dieser Disputationen waren jüdische Texttraditionen jenseits und außerhalb des biblischen Kanons.13 Auf der Basis dieser Vorannahmen lauten meine Fragen dementsprechend: Mit welchen Erwartungen sah sich ein mittelalterlicher jüdischer Konvertit konfrontiert, die ihm entweder von außen, also aus der ihn umgebenden christlichen Gesellschaft, oder von innen, also von ihm selbst, gestellt wurden? Und wie paßte er seine „mentale Landkarte“ seinem Leben auf der kulturellen Grenze an? Um erste Antworten auf diese Fragen zu finden, unterziehe ich einige paradigmatische Beispiele von Schriften aschkenasischer wie sefardischer Konvertiten des hohen und späten Mittelalters einer möglichst textnahen Analyse: Petrus Alfonsi, Hermann von Scheda und der Konvertit Johannes aus dem ‚Fünfmannenbuch’. In mancher Hinsicht könnte man diese Vorgehensweise als „psychohistorisch“ qualifizieren.14 Meines Erachtens ist dies dadurch gerechtfertigt, daß sich alle hier vorgestellten Konvertiten mehr oder weniger ausführlich über die Umstände

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Vgl. Cyrill‚ Speculum sapientiae. Nicolaus Pergamenus‚ Dialogus creaturarum. Hrsg. v. Johann G. Th. Grässe (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 148). Tübingen 1880, S. 3–118. Konrads Werk liegt trotz seiner Bedeutung immer noch nicht in einer wissenschaftlichen Edition vor. Herangezogen wurden daher zwei der insgesamt fünf handschriftlichen Überlieferungsträger: die älteste, fragmentarische Handschrift Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB VI 106 von 1343 und die vollständige Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 399 aus dem 14. Jahrhundert. Vgl. Cyrill‚ Speculum sapientiae. Nicolaus Pergamenus‚ Dialogus creaturarum. Hrsg. v. Johann G. Th. Grässe (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 148). Tübingen 1880, S. 127–280. Vgl. dazu grundsätzlich Ursula Ragacs, Die zweite Talmuddisputation von Paris 1269 (Judentum und Umwelt 71). Frankfurt a. M. u. a. 2001; Ursula Ragacs, „Mit Zaum und Zügel muß man ihr Ungestüm bändigen“ (Ps 32,9). Ein Beitrag zur christlichen Hebraistik und antijüdischen Polemik im Mittelalter (Judentum und Umwelt 65). Frankfurt a. M. u. a. 1997. Vgl. dazu grundsätzlich Hedwig Röckelein, Der Beitrag der psychohistorischen Methode zur „neuen historischen Biographie“. In: Hedwig Röckelein (Hg.), Biographie als Geschichte (Forum Psychohistorie 1). Tübingen 1993, S. 17–38.

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und Auswirkungen ihrer jeweiligen Konversion äußern.15 Um dies abschließend noch einmal zu verdeutlichen: Mir geht es hier nicht um das Aufspüren „historischer Realität“ in den untersuchten Werken, also nicht um die Beantwortung der Frage, ob sich die jeweils dargestellte Konversion tatsächlich so, oder ganz anders abgespielt hat. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geht es mir vielmehr um die literarischen Formen und Chiffren, mit deren Hilfe die einzelnen Autoren glauben, die Begleitumstände ihres Schritts in den kulturellen Grenzraum sich selbst und ihrem jeweiligen Publikum erklären zu können. Petrus Alfonsi nennt sein jüdisches Ich vor seiner Konversion Moyses16. Er trat 1106 in Anwesenheit seines königlichen Taufpaten Alfons I. von Aragon (1073-1134) zum Christentum über.17 Er war als Astronom und Arzt ausgebildet und diente daher zunächst dem König von Aragon und später König Heinrich I. von England (1068-1135) als Leibarzt. Seine Haltung gegenüber seiner abgelegten Religion oszilliert zwischen apologetischer Rechtfertigung auf der einen und einem spürbaren Wunsch, sein kulturelles Erbe korrekt darzustellen, auf der anderen Seite. Petrus’ Hauptwerke, die ‚Disciplina clericalis‘18 und die ‚Dialogi in quibus impiae Judaeorum opiniones evidentissimis cum naturalis, tum coelestis philosophiae argumentis confutantur, quaedamque prophetarum abstrusiora loca explicantur‘19, präsentierten der lateinischen Christenheit zum ersten Mal aus direkter Quelle die talmudischen und midraschischen Textwelten.20 Insbesondere in der zweiten erwähnten Schrift spiegelt sich sehr deutlich die dualistische Existenzform des Autors zwischen seiner alten und seiner neuen Religion, zwischen seinem alten und seinem neuen kulturellen Archiv wider. Petrus schrieb seine ‚Dialogi‘ in den Jahren 1108 bis 1110 in der Form einer Religionsdisputation zwischen seinem abgelegten jüdischen Ich namens Mose und seinem neuerworbenen christlichen Ich namens Petrus: In tutandis etiam Christianorum rationibus, nomen quod modo Christianus habeo, posui: in rationibus vero adversarii confutandis, 15

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Vgl. zu dieser Herangehensweise, allerdings unter anderer Fragestellung, auch Jeremy Cohen, The Mentality of the Medieval Jewish Apostate. Peter Alfonsi, Hermann of Cologne, and Pablo Christiani. In: Timothy M. Endelman (Hg.), Jewish Apostasy in the Modern World. New York 1987, S. 20–47; Solomon Grayzel, The Conversion of a Medieval Jewish Convert. Historia Judaica 17 (1955), S. 89–120. Petrus Alfonsi, Dialogi in quibus impiae Iudaeorum opiniones [...] confutantur. Hrsg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 157). Paris 1854, Sp. 538. Seine Taufe factum est anno a nativitate Domini millesimo centensimo sexto, aetatis meae anno quadragesimo quarto, mense Julio, die natalis apostolorum Petri et Pauli. Unde mihi ob venerationem et memoriam ejusdem apostoli, nomen quod est Petrus, imposui. Fuit autem pater meus spiritualis Alfunsus, gloriosus Hispaniae imperator, qui me de sacro fonte suscepit, quare nomen ejus praefato nomini meo apponens, Petrus Alfunsi mihi nomen imposui (Alfonsi [Anm. 16], Sp. 537f.). Vgl. Alfonsi [Anm. 1]. Vgl. Alfonsi [Anm. 16], Sp. 535–672. Vgl. dazu Jeremy Cohen, The Friars and the Jews. The Evolution of Medieval Anti-Judaism. Ithaca, London 1982, S. 30.

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nomen quod ante baptismum habueram, id est Moysen.21 Seine vorrangige Intention für die Abfassung seiner Schrift ist die Rechtfertigung seiner Konversion.22 Als ursächlichen Grund für diese Entscheidung benennt er seine intellektuelle Unzufriedenheit mit der jüdischen Religion, wie die Schilderung seiner jüdischen Zeitgenossen verdeutlicht: Video eos solam legis superficiem attendere, et litteram non spiritualiter, sed carnaliter exponere, unde maximo decepti sunt errore.23 Es ist insbesondere die jüdische Bibelexegese, die sein Mißfallen erregt und die er als völlig irrational charakterisiert: “The plain message of Alfonsi’s ‚Dialogi‘ was that Christianity was more rational than Judaism and that Jews were stupid to believe their rabbis when they told them things that ran contrary to nature“24. Um diesem Urteil mehr Gewicht zu verleihen, listet Petrus zum Beispiel eine Reihe talmudischer Traditionen auf, die sich mit dem jüdischen Glaubensgrundsatz der realkörperlichen Auferstehung der Toten befassen. Diese Traditionen erscheinen in seiner Darstellung als besonders verachtenswert, wie ein Beispiel verdeutlicht: Im Traktat Ketubbot 111a des Babylonischen Talmuds findet sich eine Diskussion zwischen einigen amoräischen Autoritäten der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung. Rabbi Eleasar ben Pedat schließt aus dem Bibelvers Hes 26,20, daß nur diejenigen, die in der Erde des Heiligen Lands beerdigt wurden, Anteil an der Wiederauferstehung haben werden, während diejenigen, die außerhalb des Heiligen Lands begraben wurden, keinen Anteil daran haben werden. Rabbi Ila widerspricht dieser Ansicht und betont, daß alle Toten aus der Erde des Heiligen Lands auferstehen werden, ganz gleichgültig, wo sie zur letzten Ruhe gebettet wurden. Um an den Ort ihrer Auferstehung zu gelangen werden diejenigen, die außerhalb des Heiligen Lands beerdigt wurden, unterirdische Tunnel benutzen. Diese Idee ist aus Petrus’ Sicht sowohl theologisch als auch intellektuell abgeschmackt und er macht sich dementsprechend lustig darüber.25 Andere talmudische Traditionen, die in seiner Wahrnehmung blasphemischen Charakter besitzen und zugleich dumm sind, sind zum Beispiel einige aggadische Abschnitte des Talmud, die von Gott in anthropomorpher Form sprechen. Zum Teil handelt es sich dabei um die gleichen jüdischen Traditionen, die schon im 9. Jahrhundert von Erzbischof Agobard von Lyon theologisch verdammt worden waren.26 Im Gegensatz zu der radikalen Ablehnung, mit der der karolingische Erzbischof den superstitiones et errores Iudeorum begegnet war, beweist der jüdische Konvertit des 12. Jahrhunderts aber auch einigen Stolz, wenn es um einzelne Bereiche des kulturellen Erbes seiner alten Religion geht. Man findet diesen Zug vor allem in den Passagen seines Werks, in denen er sich seinem christlichen Publikum als eingeweiht in eine Form jüdi21 22

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Alfonsi [Anm. 16], Sp. 538. Vgl. Anna Sapir Abulafia, Christians and Jews in the twelfth-Century Renaissance. London, New York 1995, S. 91 Alfonsi [Anm. 16], Sp. 540. Sapir Abulafia [Anm. 22], S. 92. Vgl. Alfonsi [Anm. 16], Sp. 581–593. Vgl. Agobardi Lugdunensis‚ Opera omnia. Hrsg. v. L. van Acker (Corpvs Christianorvm Continvatio Mediaevalis 52). Turnhout 1981, Nr. 12, S. 205f.

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schen Geheimwissens präsentiert. So diskutiert Petrus an einer Stelle der ‚Dialogi‘ das christliche Dogma der Trinität. In diesem Kontext taucht sehr viel Hebräisches in seinem lateinischen Text auf, wie unterschiedliche Titel Gottes (Adonai und Elohim)27, Erläuterungen zu einigen dieser Titel wie Adon, id est Dominus28, oder auch eine sehr ausführliche Erklärung des Tetragrammaton.29 Petrus verwendet seine Kenntnis der hebräischen Sprache, die ihn selbst unter den Gelehrtesten seiner christlichen Zeitgenossen heraushebt, auch für Fragen biblischer Exegese: In Ier 31,31 heißt es: Ecce dies veniet, dicit Dominus / Et feriam domui Israel et domui Iuda foedus novum. Über diesen Vers äußert sich Petrus wie folgt: Ubi enim in Latino habetur foedus novum, in Hebraico invenies berith hadasa, quod interpretatur lex nova.30 Schließlich demonstriert Petrus seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und Kenntnisse nicht allein in einem apologetisch-missionarischen Text wie den ‚Dialogi‘, sondern auch in seiner ‚Disciplina clericalis‘, deutlich eine didaktische Schrift in der literarischen Form eines Lehrer-Schüler-Gesprächs. Zunächst finden sich hier lediglich alttestamentliche Textreferenzen, die Petrus als autoritative Beweise zitiert. Zudem ist es bemerkenswert, daß den meisten dieser Textreferenzen im jüdischen kulturellen Kontext hohe theologische Bedeutsamkeit beigemessen wird. Auch hier soll ein Beispiel zur Illustration genügen: Am Ende der vierzehnten Geschichte der ‚Disciplina clericalis’ sagt der Lehrer zu seinem Schüler: Salomon in fine libri prouerbiorum suorum composuit viginti duos versus de laude atque bonitate mulieris bonae.31 Hier wird also erkennbar auf Prov 31,10-31 angespielt, also auf eine biblische Textpassage, die im Judentum nach ihren Eröffnungsworten als äschet chajil bekannt ist, was die Vulgata mit mulier fortis übersetzt. Seit dem hohen Mittelalter bildet diese Passage einen formativen Bestandteil der häuslichen Sabbatfeier im aschkenasischen wie im sefardischen Judentum.32 Dadurch, daß Petrus just diese Bibelverse als Schlußstein seiner Darstellung der bona femina wählt, zeigt sich ein weiteres Mal seine ambivalente Haltung gegenüber der Kultur, die er durch seine Konversion verlassen hat. Diese Haltung vereinigt apologetische Verteidigung seines Handelns mit seiner Bemühung, seinen früheren kulturell-religiösen Hintergrund intellektuell korrekt und zuverlässig darzustellen. Ganz nebenbei gelingt es Petrus an der soeben zitierten Stelle der ‚Disciplina clericalis‘ zudem, seine Überlegenheit als eingeweihter litteratus zu demonstrieren. Doch diese Überlegenheit ist nur für den ebenfalls Eingeweihten erkennbar, denn seine neue lateinische Übersetzung mulier bona gibt den hebräischen Wortlaut wesentlich passender wieder als das traditionelle mulier fortis der Vulgata.

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Vgl. Alfonsi [Anm. 16], Sp. 608. Alfonsi [Anm. 16], Sp. 609. Vgl. Alfonsi [Anm. 16], Sp. 611. Alfonsi [Anm. 16], Sp. 669. Alfonsi [Anm. 1], Nr. 14, S. 22. Vgl. dazu Macy Nulman, The Encyclopedia of Jewish Prayer. Ashkenazic and Sephardic Rites. Northvale, London 1993, S. 74f.

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Mithin ist Petrus Alfonsi ein paradigmatisches Beispiel eines jüdischen Konvertiten des europäischen Hochmittelalters, der über eine sowohl breite als auch tiefschürfende Kenntnis jüdischer Kultur verfügt und diese Kenntnis selbstbewußt seinen neuen Glaubensgenossen präsentiert. Als hauptsächliche Ursache seiner Konversion benennt er seine tiefsitzenden Zweifel an der Rationalität jüdischer Exegesetraditionen. Seine religiöse Krise gewinnt dadurch ganz wesentlich ein intellektuelles, kein mystisches Kolorit. Er schildert sich selbst als Teil der frühscholastischen Suche nach einem harmonischen Ausgleich zwischen fides und ratio. Ein gänzlich anderes Bild entwirft das zweite Beispiel – Hermann von Scheda – von sich selbst. Hermann, auch bekannt als „Juda von Köln“ oder „Hermannus quondam Judaeus“, verfaßte einen der bedeutendsten autobiographischen Texte des Mittelalters in den Jahren 1136 und 1137.33 Sein ‚Opusculum de conversione sua‘ beginnt mit der folgenden Selbstbeschreibung: Hermannus, Judas quondam dictus, genere Israelita, tribu Levita, ex patre David et matre Sephora, in Coloniensi metropoli oriundus.34 Bereits in jungen Jahren verspürt er den Wunsch, zum Christentum überzutreten, und seine zahlreichen christlichen Freunde bestärken ihn darin.35 Er bespricht seinen Wunsch vor allem mit Rupert von Deutz. Unfähig dazu, seine mehr als ein Jahr währenden religiösen Zweifel vor seinen jüdischen Verwandten zu verbergen, versuchen diese, ihn zu verheiraten: Nam veniens ad me Judaeus quidam, Alexander nomine, cujus filiam virginem desponsaram, multam mihi, ut diem nuptiarum statuerem, monendo, hortando, rogando coepit insistere.36 Allein, diesen Bemühungen ist keinerlei Erfolg beschieden, Juda tritt schließlich im Alter von fast 22 Jahren im Jahr 1128 oder 1129 zum Christentum über. Er wird auf den Namen Hermann getauft und wird Mönch im Prämonstratenserkloster Cappenberg. Seine Konversion scheint einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben, wie 33

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Vgl. Max Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters (Handbuch der Altertumswissenschaft 9/2,3). München 1931, Bd. 3, S. 592. Vor kurzem hat Jean-Claude Schmitt diese opinio communis der Forschung zu erschüttern versucht, indem er Hermanns Werk nicht als – wie auch immer gearteten – biographischen Konversionsbericht, sondern vielmehr als Propagandaschrift für den Zisterzienserorden verstanden wissen wollte, vgl. Jean-Claude Schmitt, La conversion d’Hermann le Juif. Autobiographie, histoire et fiction (La librairie du XXIe siècle). Paris 2003. Meines Erachtens legt er jedoch einen viel zu engen Wahrheitsbegriff an den Text an – worin besteht denn der ontologische Unterschied zwischen einer „fiktiven“ und einer „realen“ Biographie? Biographisches Schreiben in all seinen denkbaren Facetten ist vielmehr stets artifiziell fiktionalisiert, vgl. Röckelein [Anm. 14]. Somit muß auch in Hermanns Fall vorrangig danach gefragt werden, welches Bild der Verfasser von sich entwirft, und nicht danach, wie historisch korrekt und zuverlässig dieses Bild ist. Die bisweilen geäußerte Ansicht, Hermanns Werk sei eine Machination jüngerer Zeiten, ist dagegen durch Friedrich Lotter, Ist Hermann von Schedas ‚Opusculum de conversione sua‘ eine Fälschung? Aschkenas 2 (1992), S. 207–218, gründlich widerlegt worden. Hermannus Judaeus‚ Opusculum de sua conversione. Hrsg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 170). Paris 1854, Sp. 803–836, hier Sp. 805f. Vgl. Hermannus [Anm. 34], Sp. 822. Hermannus [Anm. 34], Sp. 820.

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aus einem Reflex seines Berichts in der kurz nach 1150 verfaßten ‚Vita Godefridi comitis Cappenbergensis‘ deutlich wird: Operatus est Deus in fratre tempore nostro Hebraeo, qui post multos errorum circuitus Dei munere praeventus, coepit ardenti desiderio fidem Christianam inquirere. Disputabat ergo cum Christianis conferens de lege ac prophetis.37 Den Höhepunkt seiner klerikalen Karriere stellt das Amt des Propstes im Prämonstratenserkapitel Scheda dar. Hermanns Verhältnis zu seiner abgelegten Religion ist wesentlich eindimensionaler als dasjenige des Petrus Alfonsi. Er verwendet seine Kenntnisse jüdischer Überlieferungen weder in polemischer noch in didaktischer Weise. Eventuell waren seine Kenntnisse auch nicht annähernd so ausgeprägt wie diejenigen seines aragonesischen Zeitgenossen. Oder Hermanns stärkere „innere Bindung“ zu seiner neugewählten Religion liefert den Schlüssel zu seinem unproblematischeren Selbstbild. Es ist nämlich deutlich der christliche Kultus, der ihn nach seiner eigenen Darstellung am Christentum begeistert, nicht etwa dessen theologische Denkgebäude. Hermann ist fasziniert vom öffentlich vollzogenen, körperlich konkretisierten Mysterium des Ritus’ der Kirche im Vergleich zum Gottesdienst der Synagoge mit seiner abstrakteren Konzentration auf das Gebet der Gemeinde. Im Gegensatz zu Petrus Alfonsi, dem bestimmte Inhalte der jüdischen Tradition als unerträglich erschienen, ist es in Hermanns Fall die äußere Erscheinungsform des religiösen Kults, die ihn über die Grenze ins Gebiet einer anderen religiösen Identität treibt. In Hermanns ‚Opusculum de conversione sua‘ findet sich lediglich eine Passage, an der er jüdische Texttraditionen außerhalb des biblischen Kanons erwähnt: Nam veniens Wormaciam, ubi germanum fratrem, vocabulo Samuelem, habebam, Judaeorum synagogam die illo, quo convenire solebant, introivi, eosque Gamalielis sui superstitiosa super Vetus Testamentum commenta legentes audivi.38 Die hier genannten commenta superstitiosa Gamalielis super Vetus Testamentum sind nichts anderes als eine umschreibende Benennung für die Gesamtheit nachbiblischer, in den Talmudim und Midraschim gesammelter jüdischer Literatur. Hermann, der sein Werk für seine zisterziensischen Mitbrüder verfaßt, wählt diese Umschreibung ganz bewußt anstelle der hebräischen Originaltitel oder deren wörtlicher lateinischer Übersetzungen und beweist damit Gespür für den Verständnishorizont seines Publikums: Rabban Gamliel der Ältere, ein Tannaite des ersten nachchristlichen Jahrhunderts und Haupt des Jerusalemer Religionsgerichtshofs, ist die einzige Autorität des nachbiblischen Judentums, die sowohl im Talmud – zum Beispiel in mSchekalim III,6, bRosch Haschana 23b, bJebamot 122a und bMegilla 21a – als auch im Neuen Testament – in Act Ap 5,34 und 22,3 – genannt wird. Diese antike jüdische Autorität stellt eine dekodierbare Referenz für mitteleuropäische christliche Mönche des 12. Jahrhunderts dar. Hermann erklärte daher Gamliel kurzerhand zum Autor aller „abergläubischen“ jüdischen Kommentare zum Alten Testament, um seinen Mitbrüdern ein in seiner Wahrnehmung klares und verstehbares Bild jüdischer nachbiblischer Literatur zu entwerfen. Hermann von Scheda, wie zuvor bereits Petrus Alfonsi, 37

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Vita Godefridi comitis Cappenbergensis. Hrsg. v. Philipp Jaffé (Monvmenta Germaniae Historica Scriptores 12). Hannover 1856, S. 514–530, hier S. 518. Hermannus [Anm. 34], Sp. 828.

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beschreitet somit den Weg „kultureller Übersetzung“, um das Ziel seiner Darstellung zu erreichen. Beide nehmen einzelne Teile oder Bruchstücke ihrer vorhergehenden Existenz auf, formen diese um in kulturelle Versatzstücke ihrer neuen Existenz und transferieren sie in dieser Form und durch diese Handlung in das kulturelle Archiv ihrer neuen Glaubensgenossen. Diesen hochmittelalterlichen, lateinischen Konversionsberichten eines aragonesischen Hofarztes und eines rheinischen Mönchs kann ein weiteres Beispiel des späteren Mittelalters beigesellt werden, das nun jedoch in der deutschen Volkssprache und nicht mehr in der lingua franca der litterati abgefaßt wurde. Obwohl dieser Vergleich zu einiger hermeneutischer Vorsicht gemahnt, ist er nichtsdestoweniger legitim. Zu denken ist hier an einen Abschnitt des sogenannten ‚Fünfmannenbuch‘39, das von dem Straßburger Mystiker Rulman Merswin (1307-1382) in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts aus Schriften seines anonymen mystischen Lehrers zusammengestellt wurde. 40 Dieses Werk beschreibt die geselleschaft [...] von fvnf brvederen, bei denen es sich um die folgenden Personen handelt: Ein junger, des Ehelebens überdrüssiger Ritter, der Priester geworden ist; ein gelehrter Kanoniker; ein konvertierter Jude; ein Bruder, der zuvor ein Jahr lang mit Kartäusermönchen zusammengelebt hatte; schließlich Merswins anonymer mystischer Lehrer selbst, der sogenannte „Gottesfreund“. Alle zusammen führen sie ein spirituelles Leben in der Einsamkeit und Wildnis der Berge. Der Konversionsbericht des dritten Bruders, eines ehemaligen Juden namens Abraham, der auf den Namen Johannes getauft wurde, weist eine Reihe von Parallelen zu den Berichten Petrus’ Alfonsi und Hermanns von Scheda auf. Es gibt aber auch einen generellen Unterschied: Während Petrus und Hermann ihre Geschichten jeweils selbst erzählten, ist der Berichterstatter im Falle des mystischen Laienbruder Johannes das anonyme Haupt der Gemeinschaft. Die Gründe dafür, daß aus dem Juden Abraham der Christ Johannes wurde, werden nichtsdestoweniger auch im ‚Fünfmannenbuch‘ sehr eingehend dargelegt. Abraham führte bereits vor seiner Konversion ein gottesfürchtiges Leben. Er war eins bidderwen got fvrthenden sinnes vnd [...] gar eins semftmvetigen wandels vnd domitte gar van sinnen riche vnd ovch armen lvten milte.41 Allein, eine Frage bewegte ihn beständig: Wie konnte Gott es zulassen, daß die Juden von Christen und Muslimen gleichermaßen gedemütigt wurden, obwohl sie doch das Joch seiner Gebote auf sich genommen und standhaft daran festgehalten hatten, während die Nichtjuden gleichzeitig immer mächtiger wurden? Abraham ist von der Überlegenheit seiner Religion überzeugt, nichtsdestoweniger bittet er Gott in Momenten kontemplativer Versenkung um eine Antwort auf seine Frage. Gott antwortet ihm in einem sich dreimal wiederholenden 39

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Vgl. Rulman Merswin, Vier anfangende Jahre. Der Gottesfreund, Fünfmannenbuch (Die sogenannten Autographa). Hrsg. v. Philipp Strauch (Altdeutsche Textbibliothek 23/Schriften aus der Gottesfreund-Literatur 2), S. 28–82. Zum mystischen Laienkreis Merswins vgl. Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik. München 1996, Bd. 3, S. 482f. Gottesfreund [Anm. 39], S. 58.

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Traum, in dem Abraham dazu aufgefordert wird, die christliche Messfeier zu besuchen. Obwohl seine Glaubenszweifel durch diese Aufforderung noch verstärkt werden, gehorcht Abraham der göttlichen Botschaft, und mit der Hilfe eines ihm bekannten christlichen Schusters nimmt er schließlich unerkannt an der Messe teil. Dort wird er Zeuge eines eucharistischen Wunders: Eine winzige, gekreuzigte Figur steigt von der konsekrierten Hostie herab und der Wein im Kelch des Priesters verwandelt sich in echtes Blut. Anschließend richtet Abraham die folgende Bitte an Gott: sidder das dv mich hast gelosan befindan vnd mit minnan liplichan ovgen sehhan diesa grosan zeihen dis grosan wnders, so habbe ich gedocht, dv sist etthewas mitte meinnende cristanglovben, vnd ist das din wille, das ich sol zvo cristonme globben kvomen, so weis ich nvt, wie ich imme dvon sol odder wie das ich es annegefohan sol, vnd davan, ist es din wille, so beger ich an diene grose vrbermede, das dv mir noch me vrkvnde in etthewas worzeihens wellest gebban, also das ich es deste frellicher gedar anne gefohen.42 Auch diese Bitte wird erfüllt: Ein mystischer Lehrer, durch Träume auf die Glaubensfragen des Juden aufmerksam geworden, erhält Gottes Befehl, Abraham zu treffen und ihn in den Lehren des Christentums zu unterweisen.43 Daran anschließend wird Abraham getauft, zum Priester geweiht und in die Gemeinschaft mystischer Laienbrüder aufgenommen, die von seinem früheren Lehrer geleitet wird. Nach einiger Zeit himmlischer Begnadung wird der Konvertit einer Reihe von göttlichen Prüfungen unterworfen, die er allesamt mit großer Demut erträgt. Schließlich werden all diese Prüfungen wieder von ihm genommen abgesehen von einer, unter der er noch zur Abfassungszeit des ‚Fünfmannenbuch‘ leidet, nämlich die bekorvnge, die da heisset vnkvschekeit.44 Wie bei Petrus Alfonsi und Hermann von Scheda folgt also auch Abrahams Konversion aus einem generellen Unbehagen an einem zentralen Aspekt jüdischer Existenz: intellektuelles Unbehagen im Falle Petrus’ Alfonsi, kultisches Unbehagen im Falle Hermanns von Scheda, soziales Unbehagen im zuletzt dargestellten Fall. Durch diese intentionale literarische Stilisierung aller drei Berichte wird ein Grundzug der mentalen Landkarte jüdischer Konvertiten des europäischen Hoch- und Spätmittelalters deutlich sichtbar – es ist das Vorzeichen dieses je spezifisch ausgedrückten generellen Unbehagens, unter dem alle drei hier vorgestellten Konvertiten ihren Schritt ins Leben auf der Grenze verstanden wissen wollten. Nach ihrer Konversion waren ehemals jüdische Neuchristen in jeder gesellschaftlichen Hinsicht auf ihre neuen Glaubensgenossen angewiesen. Das kanonische Recht verlangte eine strikte Trennung und Abscheidung von den Bekennern ihres früheren Glaubens. Diese Verpflichtung war zum ersten Mal schon 633 von den Bischöfen des westgotischen Spanien im Kanon 62 des vierten Konzils von Toledo kodifiziert worden: Saepe malorum consortia etiam bonos corrumpunt, quanto magis eos, qui ad vitia proni sunt. Nulla igitur ultra communio sit Hebraeis ad fidem Christianam 42 43 44

Gottesfreund [Anm. 39], S. 63f. Vgl. Gottesfreund [Anm. 39], S. 64–66. Vgl. Gottesfreund [Anm. 39], S. 66–68.

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translatis cum his qui adhuc in vetere ritu consistunt; ne forte eorum participatione subvertantur. Quicumque igitur amodo ex his qui baptizati sunt infidelium consortia non vitaverint, & hi Christianis donentur, & illi publicis caedibus deputentur.45 In Zentraleuropa wurde diese Entscheidung in alle bedeutenden kanonistischen Rechtssummen aufgenommen, also im 11. Jahrhundert in die ‚Decreta‘ Burchards von Worms46 und Ivos von Chartres47 sowie ein Jahrhundert später vor allem in das ‚Decretum Gratiani‘ (c. 2 C. XXVIII q. 1 c. 12). Die Ursache für diese Vorschrift war erkennbar die Furcht, die neubekehrten Christen könnten durch fortgesetzten Kontakt mit ihren früheren jüdischen Verwandten und Freunden von ihrer neuen Religion wieder entfremdet werden. Die jüdischen Neophyten hätten somit in der Folge eine Form von „Agenten“ ihrer alten Religion im Herzen der Christenheit werden und gutmütige Christen auf den Pfad der Häresie verleiten können. Diese Furcht ist deutlich im siebzigsten Kanon des vierten Laterankonzils von 1215 reflektiert: quidam, sicut accepimus, qui ad sacri undam baptismatis voluntarii acceserunt, veteram hominem omnino non exuunt, ut novum perfectius induant, cum prioris ritus reliquias retinentes christianae religionis decorem tali commixtione confundant [...] statuimus ut tales per praelatos ecclesiarum ab observantia veteris ritus omnimodo compescantur, ut quos christianae religioni liberae voluntatis arbitrium obtulit, salutiferae coactionis necessitas in eius observatione conservet.48 Solche Befürchtungen haben ihre Wurzeln direkt in der ambivalenten, hybriden Natur des Konvertiten. Um ihnen entgegenzuwirken – ob sie real begründet waren, ist eine ganze andere, hier aber nicht weiter zu verfolgende Frage –, unterwarfen die christlichen theologischen Autoritäten ehemals jüdische Konvertiten einer strikten intellektuellen, spirituellen und sozialen Kontrolle. Dies wird zum Beispiel aus einem Brief ersichtlich, den Anselm, Erzbischof von Canterbury (1033/34-1109), Ende des 11. Jahrhunderts an den Erzprior Arnulf und den Erzdiakon Wilhelm schrieb. Darin bittet Anselm die Empfänger, sich des Überbringers des Briefs anzunehmen – eines jüdischen Konvertiten namens Robert, der zusammen mit seiner Familie reiste. Arnulf und Wilhelm werden aufgefordert, Robert in Angelegenheiten des Glaubens und des Lebensunterhalts zu helfen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens, um den Neubekehrten zu beweisen, daß der christliche Glaube Gott näher sei als der jüdische; zweitens, um diejenigen vor Armut

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Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Hrsg. v. Giovanni D. Mansi. Florenz, Venedig 1768, Bd. 10, Sp. 634. Vgl. Burchardus Wormaciensis, Decretorum libri viginti. Hrsg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 140). Paris 1853, Sp 537–1058, hier Sp. 742. Vgl. Ivo Carnotensis, Decreti. Hrsg. v. Jacques-Paul Migne (Patrologia Latina 161). Paris 1855, Sp. 59–1022, hier Sp. 124. Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Hrsg. v. Giovanni D. Mansi. Florenz, Venedig 1780, Bd. 22, Sp. 1056.

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und Schande zu bewahren, die sich aus den Fängen des Teufels zu den Dienern Gottes gerettet hätten.49 Die kurze Analyse der mentalen Landkarte mittelalterlicher Konvertiten muß hier enden. Neben einigen grundlegend gemeinsamen literarischen Stilisierungen, die sowohl in lateinischen als auch in volkssprachlichen Konversionsberichten gefunden werden können, haben die Beispiele des Petrus’ Alfonsi und Hermanns von Scheda zudem deutlich werden lassen, wie jüdische Konvertiten zu den ersten Einblicken beigetragen haben, die die mittelalterliche lateinische Christenheit im 11. und 12. Jahrhundert in das weite Feld der nachbiblischen jüdischen Literatur erhielt. Diese interreligiöse Wissensvermittlung durch jüdische Konvertiten stellt auch einen bedeutenden Beitrag zum jüdischchristlichen Kulturtransfer im europäischen Mittelalter dar.50

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Vgl. Anselmus Cantuarisensis, Opera omnia. Hrsg. v. Franz Salesius Schmitt. Edinburgh 1957, Bd. 5, Nr. 380, S. 323f. Vgl. zu einigen weiteren Beispielen dieser Form des Kulturtransfers Martin Przybilski, di juden jehent. Die Aufnahme jüdischer Erzählstoffe in der ‚Weltchronik‘ des Jans von Wien. Aschkenas 14 (2004), S. 83–99; Martin Przybilski, Salomos Wunderwurm. Stufen der Adaptation eines talmudischen Motivs in lateinischen und deutschen Texten des Mittelalters. Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004), S. 19–39.

RUTH SASSENHAUSEN

Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Periodisierung menschlicher Lebensalter. Zu ‚Schwellenzuständen’ in der Artusepik des hohen Mittelalters

1. Vorüberlegungen Grenzen und Grenzüberschreitungen sind nicht nur Faktoren räumlicher Organisationen, sondern sind auch bedeutend für die Periodisierung menschlichen Lebens. So ist die irdische Existenz des Menschen nach mittelalterlicher Vorstellung in unterschiedliche Abschnitte gegliedert, die auf antiken aetates-Konzeptionen1 beruhen. Diese aetatesKonstrukte werden von mediävalen Autoren im Kontext des kosmologischen Denkens der Vormoderne adaptiert, das den Menschen in eine Mikrokosmos-MakrokosmosAnalogie setzt und u. a. seine Lebensbahn als Widerspiegelung heilsgeschichtlicher Prozesse und Naturphänomene auffasst. Je nachdem, welcher Aspekt des göttlichen Heilsplans oder der Schöpfung fokussiert wird, bildet sich eine unterschiedliche Anzahl von aetates aus2. Neben Lebensaltermodellen, die in drei, vier oder sieben Lebensalter eingeteilt sind, ist das Modell Augustins, das z. B. von Isidor von Sevilla übernommen wird, 1

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Zu antiken Lebensaltervorstellungen vgl. Wilhelm Wackernagel, Die Lebensalter. Basel 1862, Franz Boll, Die Lebensalter. In: Viktor Stegemann (Hg.), Kleine Schriften zur Sternkunde des Altertums. Leipzig 1950, S. 156-224, E. Eyben, Die Einteilung des menschlichen Lebens im römischen Altertum. In: Rheinisches Museum für Philologie, N. F. 116 (1973), S. 150-190, Ines Stahlmann, Lebensalter: Antike. In: Peter Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1993, S. 208-215, Danièle Chauvain (Hg.), L’Imaginaire des âges de la vie. Grenoble 1996, und Gerhard Binder u. Maren Saiko, Lebensalter. In: Der neue Pauly 6 (1999), Sp. 1207-1212. Vgl. besonders die Arbeiten von Adolf Hofmeister, Puer, Iuvenis, Senex. Zum Verständnis der mittelalterlichen Altersbezeichnung. In: Albert Brackmann (Hg.), Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters. München 1926, S. 287-316, J. A. Burrow, The Ages of Man. A Study of Medieval Writing and Thought. Oxford 1986, Elizabeth Sears, The ages of man. Medieval Interpretations of the Life Cycle. Princeton, New Jersey 1986, Mary Dove, The Perfect Age of Man’s Life. Cambridge 1986, und Michael E. Goodich, From Birth to Old Age. The human Life Cycle in medieval thought. 1250-1350. Lanham, New York, London 1989.

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wohl am verbreitetsten, das in Anlehnung an die sechs Weltalter sechs Altersstufen vorsieht, und zwar: infantia, pueritia, adolescentia, iuventus, gravitas und senectus.3 Welch starken Einfluss solche Lebensalterschemata insgesamt auf die Literatur der Vormoderne haben, zeigt sich u. a. bei Bernardus Silvestris († nach 1159). Bernardus deutet in seinem Commentum super sex libros Eneidos Virgilii4 Vergils Aeneis auf die sechs Lebensalter des Menschen hin aus, die sich auf den Helden beziehen lassen, und sieht die ersten sechs Bücher der Aeneis nach der Abfolge der Lebensalter von der infantia bis zur aetas des senex strukturiert, wodurch das Gründungsepos der Stadt Rom als Bild5 oder auch als Integumentum6 menschlichen Lebens7 erscheint. Das poetologische Gewicht der aetas-Konzeptionen macht sich in den Dichtungslehren der Antike und des Mittelalters bemerkbar, in denen gefordert wird, sich, dem Gebot des aptum folgend, in der Charakterisierung des Personals streng an den Eigentümlichkeiten der Altersstufen zu orientieren. Horaz proklamiert beispielsweise in seiner Ars poetica: aetatis cuiusque notandi sunt tibi mores, mobilibusque decor naturis dandus et annis, und weiter heißt es: ne forte seniles mandentur iuveni partes pueroque viriles: semper in adiunctis aevoque morabitur aptis.8 Dieses Postulat begegnet in den mittelalterlichen Poetiken explizit bei Matthaeus von Vendôme in seiner um 1175 entstandenen Ars versificatoria wieder. Matthaeus äußert sich zur descriptio personae und gibt zu bedenken, dass in der Figurenzeichnung das Geschlecht einer Figur und gleichfalls Gestalt, Lebensbedingungen und eben auch das Lebensalter zu berücksichtigen seien: Item notandum quod in descriptione personae ex qualitate officii, vel sexus, vel qualitatis, vel dignitatis, vel conditionis, vel aetatis, vultus maxime debet informari.9 Im Folgenden soll nun untersucht werden, inwieweit sich Lebensaltermodelle in den mittelhochdeutschen Artusromanen des hohen Mittelalters wiederfinden. Allerdings wird es weniger um die dichterische Ausgestaltung der einzelnen aetates gehen, sondern es 3

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Vgl. Aurelius Augustinus, De vera religione (Corpus christianorum series latina 32), XXVI, 48, 130f., sowie Isidor, Etymologiarum sive originum (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis). 2 Bde. Hg. von W. M. Lindsay. Oxford 1987 (Nachdruck der Ausg. von 1911), Bd. I, XI, II, 1f. The commentary on the first six books of the Aeneid of Vergil commonly attributed to Bernardus silvestris. Hg. von Julian Ward Jones u. Elizabeth Frances Jones. Lincoln, London 1977. Vgl. Bernardus Silvestris, Commentum super sex libros Eneidos Virgilii. Hg. von Guilielmus Riedel. Greifswald 1924, S. VIIf. Zur Integumentumlehre vgl. exemplarisch den Artikel von Christoph Huber, Integumentum. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2003), S. 156-160; vgl. auch Ulrich Ernst, Lüge, integumentum und Fiktion in der antiken und mittelalterlichen Dichtungstheorie: Umrisse einer Poetik des Mendakischen. In: Das Mittelalter 9, H. 2 (2004), S. 73-100. Vgl. Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik. Tübingen 1980, S. 292-317. Horaz, Ars Poetica. Lat. / dt. übers. und hg. von Eckart Schäfer. Stuttgart 2002, V. 156f., 176-178. Matthaeus de Vendôme, Ars versificatoria. In: Edmond Faral, Les Arts poétiques du XIIe et du XIIIe Siècle. Paris 1971, S. 106-193, hier S. 135.

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werden die Transgressionen von einer Alterstufe in die andere, also die Momente der Überschreitung von Altersgrenzen ins Visier genommen. Dabei stellt sich die Frage, ob der Übergang von einer Lebensalterstufe zu einer anderen gleichsam als Sprung, als abrupter Wechsel von einer aetas zur anderen erfolgt, wie es etwa Ulrike ZELLMANN versteht: „Die Autoren [mittelalterlicher aetas-Konzepte] sprechen nicht über einen Prozess kontinuierlicher Entwicklung, sondern von einer Folge von in sich homogenen Zuständen, die bei einem Grad vollständiger Sättigung in einen anderen wechseln müssen. Die Stufe, eine monadische Einheit als Teil eines Ganzen, dominiert die Konzepte der Lebenszeiten.“10 Diese Ansicht ZELLMANNs erinnert an die ikonographische Wiedergabe der aetates im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, wo die aetates oftmals als Lebenstreppe dargestellt werden, die jede Stufe als deutlich abgegrenzt erscheinen lässt. 11 Ältere Abbildungen entwerfen dagegen ein eher organisches Verständnis der Lebensalter,12 wenn sie Lebensalterbäume zeigen, die als Symbol für Entwicklung und Wachstum gelten können und an deren Zweigen sich aetates ausbilden. Es ist auf Grund dessen davon auszugehen, dass der Übergang von einer aetatis gradus zur anderen im frühen und hohen Mittelalter nicht als scharfer Einschnitt im Leben, sondern als eine dynamische Transgression, als ein allmählicher Prozess zu verstehen ist. Grundsätzlich mit Übergängen oder ‚Durchgangssituationen’ im menschlichen Leben hat sich in der Moderne die Ritualforschung beschäftigt. Hier sei vor allen Dingen Victor TURNER genannt, der solche Phasen als „Schwellenzustände“ bzw. als „Liminalitäten“ bezeichnet.13 TURNER rekurriert dabei auf Arnold VAN GENNEP und dessen Theorie der

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Ulrike Zellmann, Lanzelet. Der biographische Artusroman als Auslegungsschema dynastischer Wissensbildung (Studia humaniora 28). Düsseldorf 1996, S. 91. Vgl. zur bildlichen Darstellung der Lebensalter Joachim Poeschke, Leben, menschliches. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 3 (21990), Sp. 38f. Vgl. etwa Susanna Partsch, Profane Buchmalerei der bürgerlichen Gesellschaft im spätmittelalterlichen Florenz. Der Specchio Umano des Getreidehändlers Domenico Lenzi (Heidelberger kunstgeschichtliche Abhandlungen, N. F. 16). Worms 1981, Abb. IX, Erläuterungen S. 91, wo ein Baum mit 10 Lebensaltern aus dem Trésor Brunetto Latinis abgebildet ist, und Hedwig Munscheck, Die Concordantiae caritatis des Ulrich von Lilienfeld. Untersuchungen zu Inhalt, Quellen und Verbreitung, mit einer Paraphrasierung von Temporale, Sanktorale und Commune (Europäische Hochschulschriften. Reihe 28: Kunstgeschichte 352). Frankfurt a. M. u. a. 2000, Abb. 19, Erläuterungen S. 103f., hier ist ein „Baum der Zwölf Lebensalter“ zu sehen. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Übers. von Sylvia M. SchomburgSchwerff. Frankfurt a. M. 1989, S. 95. Vgl. zu der Anwendbarkeit der Theorien Turners in der Mediävistik: Bruno Quast, Victor Turner und das Mittelalter. Chancen und Grenzen einer Anthropologisierung des klassischen Artusromans. In: Peter Wiesinger unter Mitarbeit von Hans Derkits (Hg.), Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. „Zeitwende Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Bern u. a. 2002, S. 133-139.

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Übergangsriten;14 demnach sind Übergangsriten „Riten, die einen Orts-, Zustands- Positions- oder Altersstufenwechsel begleiten.“15 VAN GENNEP unterteilt Übergangsriten in drei weitere Riten bzw. Phasen: „Übergangsriten erfolgen [...] in drei Schritten: Trennungsriten kennzeichnen die Ablösungsphase, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten die Zwischenphase, die Schwellen- bzw. Umwandlungsphase, und Angliederungsriten die Integrationsphase.“16 Während Trennungsriten beispielsweise bei Beerdigungen eine Rolle spielen, sind Angliederungsriten bei Hochzeitszeremonien zu verzeichnen, und Umwandlungsriten beobachtet man u. a. bei Schwangerschaften, Verlobungen und Initiationen oder auch bei dem Übergang in verschiedene Altersklassen. 17 Die mittlere Phase der von VAN GENNEP konzipierten Klassifizierung entspricht dem von TURNER genannten „Schwellenzustand“, der im Folgenden für den Wechsel von einer aetas in die andere herangezogen wird. Dieser „Schwellenzustand“ bzw. diese „Liminalität“ ist eine komplexe Situation, die nicht von Statik, sondern von Dynamik gekennzeichnet ist.18 Die charakteristische Problematik eines „Schwellenzustands“ stellt sich als ein Negativum dar, denn das Subjekt „ist von Ambiguität gekennzeichnet; es durchschreitet einen kulturellen Bereich, der wenig oder keine Merkmale des vergangenen oder künftigen Zustands aufweist.“19 Der „Schwellenperson“ bzw. dem „Grenzgänger“, fehlt all das, was ein Individuum benötigt, um sich in seinem sozialen Umfeld zu klassifizieren und solide zu positionieren. Im psychologischen Sinne befindet sich eine solche „Schwellenperson“ beispielsweise im Rahmen einer Sozialisation zwischen zwei gesellschaftlichen Rollen, d. h. ihr mangelt es als jemandem, der nicht mehr Kind, aber auch noch nicht Erwachsener ist, an einem klaren Aufgabenfeld, einem fest umrissenen sozialen Status, wie ihn z. B. ein Beruf oder auch die Vater- bzw. Mutterrolle vorgibt. Eine solche Phase wird in der Psychologie nach Erik H. ERIKSON20 und James E. MARCIA21 als ‚Moratorium’, als Karenzzeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter bezeichnet. 14

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Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage). Übers. von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a. M., New York, Paris 1986. Turner, Ritual [wie Anm. 13], S. 94. Van Gennep [wie Anm. 14], S. 21. Vgl. ebd. Die Dynamik des Schwellenzustands beschreibt Turner an anderer Stelle, wo er davon spricht, dass das Zwischenstadium, das mit dem lateinischen Begriff limen bezeichnet wird, „sowohl positive als auch aktive Eigenschaften aufweist – vor allem dort, wo die ‘Schwelle’ zeitlich stark ausgedehnt ist und gewissermaßen zu einem ‘Tunnel’ wird, d. h. wenn das ‘Liminale’ den Charakter eines ‘unterirdischen Gangs’ erhält“ (Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Übers. von Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt a. M. 1995, S. 63). Turner, Ritual [wie Anm. 13], S. 94. Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Übers. von Käte Hügel. Frankfurt a. M. 171998, S. 137. Vgl. James E. Marcia, Identity in Adolescense. In: Joseph Adelson (Hg.), Handbook of Adolescent Psychology. New York 1980, S. 159-187, hier S. 161.

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2. Hochzeit als Lebensalterübergang im Parzival Wolframs von Eschenbach Um ‚Liminalitäten’ im Hinblick auf Lebensalter in der Erzählliteratur des Mittelalters ausmachen zu können, empfiehlt es sich, auf Signale zu achten, die das Verlassen bzw. das Eingehen in eine neue aetas anzeigen. Solche Signale stellen die genannten „Übergangsriten“ im Sinne VAN GENNEPs dar, die in den mittelhochdeutschen Artusromanen z. B. als Schwertleite, Hochzeit oder Übernahme von Herrschaft begegnen. Als Paradigma soll hier der Parzival Wolframs von Eschenbach dienen, der eine Vielzahl von „Schwellensituationen“ bietet, die der Held auf seinem Weg zum Gralskönigtum durchschreitet. Exemplarisch herausgegriffen sei eine Episode, in der von der Vermählung zwischen dem Protagonisten und der Königin von Pelrapeire, Condwiramurs, detailliert erzählt wird. Zunächst zum Handlungskontext: Nachdem Parzival seine Kindheit mit seiner Mutter Herzeloyde abseits jeglicher Zivilisation in der Wildnis von Soltane verbracht hat, gelangt er an den Hof des Fürsten Gurnemanz, von dem er eine umfassende Erziehung erhält, in der er höfischen Schliff und ritterliche Kampfestechniken erlernt. In der Liebe noch gänzlich unerfahren, verlässt der Held schließlich seinen Ziehvater und gelangt nach Pelrapeire, wo sich die schöne Königin Condwiramurs verzweifelt gegen den König Clamide wehrt, der ihr Land erobert hat und sie nun zur Heirat zwingen will. Parzival befreit Condwiramurs aus der Gefahr, indem er den Seneschall Clamides, Kingrun, besiegt. Derweil haben sich zwischen Parzival und Condwiramurs zarte Liebesbande entwickelt, ohne dass es allerdings zu einer körperlichen Vereinigung gekommen wäre. Condwiramurs trägt ihrem Retter die Ehe und damit auch die Herrschaft über ihr Land an; Parzival willigt ein. Der Erzähler berichtet nun nicht von dem offiziellen Übergangsritus der Hochzeit, nicht von dem höfischen Zeremoniell, durch welches die Eheschließung öffentlich legitimiert wird, sondern von der Hochzeitsnacht, dem intimen, eher privaten, weil unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Hochzeitsritual. Das Hochzeitsritual an sich ist zunächst einmal grundsätzlich als Übergangsritus zu verstehen, durch den der Protagonist seinen sozialen Status verändert: Parzival wird vermittels der Hochzeit zum Ehemann und zum Herrscher über ein Land. Der Übergangsritus speziell der Hochzeitsnacht hat darüber hinaus auch eine große psychologische Bedeutung für den Helden, denn er überschreitet die Grenze zwischen Adoleszenz und Erwachsenenleben. In der modernen Entwicklungspsychologie definiert Erik H. ERIKSON das ‚Programm’ der frühen Erwachsenenphase mit der Aufnahme einer ‚Arbeit oder eines Studiums für einen bestimmten Beruf’, mit dem „Zusammentreffen mit dem anderen Geschlecht“ sowie mit der ‚Heirat und der Gründung einer Familie.’22 In der mittelalterlichen aetasTerminologie heißt dies: Parzival geht von dem Zustand der adolescentia in den der 22

Vgl. Erikson [wie Anm. 20], S. 114.

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iuventus über, die gemeinhin als Lebensphase gekennzeichnet wird, in welcher der Mensch soziale Verantwortung für eine Familie und Pflichten in der Gesellschaft übernehmen kann und soll. In dieser Weise definiert etwa Augustinus die aetas der iuventus: Porro adulescentiam iuventus excipit, iam exercenda muneribus publicis et domanda sub legibus,23 und später äußert sich Bartholomaeus Angelicus ähnlich, wenn er den Terminus iuventus dezidiert von iuvare ableitet: Huic adolescentiæ succidit iuuentus, & hæc inter omnes ætates est media, & ideo fortissima [...] Est autem iuuentus à iuuando dicta. Est enim iuuenis in termino incrementi positus, & ideo fortis ad iuuandum.24 Die Hochzeitsnacht ist in einer genaueren Spezifikation als Angliederungsritus zu verstehen: Mit dem Vollzug des Geschlechtsaktes wird das Hochzeitsritual, das sich in einzelne kleinere Ritualeinheiten wie z. B. festliches Essen und Tanz unterteilen lässt, abgeschlossen und am Morgen danach präsentiert sich das Hochzeitspaar zum ersten Mal in seiner neuen Rolle als Ehepaar; es ist damit in einer sozialen Lage, die von TURNER als ‚relativ stabil’ beschrieben wird und „anderen gegenüber klar definierte, sozialstrukturbedingte Rechte und Pflichten“25 mit sich bringt. Wolfram zeigt in seinem Werk mit Condwiramurs und Parzival ein Paar während und nach Vollzug dieses Angliederungsritus. Vor dem Vollzug befinden sich beide in einem Schwellenzustand, im Übergang vom ‚Single’-Dasein zur Ehe. In dieser Situation betreten sie ihre Kemenate und man erwartet nun, dass sich beide das erste Mal der körperlichen Liebe hingeben. Doch nichts dergleichen geschieht, statt dessen erfährt der Rezipient, dass Parzival, der eigentlich voller Verlangen sein sollte, seine soeben angetraute Gattin zu umarmen, keine Initiative ergreift: er lac mit sölhen fuogen, / des nu niht wil genuogen / mangiu wîp, der in sô tuot (201,21-23), und etwas später heißt es: sus lac der Wâleise: / kranc was sîn vreise. / den man den rôten ritter hiez, / die künegîn er maget liez (202,19-22).26 Parzivals sexuelle Zurückhaltung ist freilich nicht darauf zurückzuführen, dass Condwiramurs über keinerlei erotische Anziehungskraft verfügt, denn sie ist zuvor als ausgesprochene Schönheit beschrieben worden, ja bereits ihr Name spricht von ihrem bestrickenden Äußeren: Condwîr âmûrs: / diu truoc den rehten bêâ curs. / der name ist tiuschen schœner lîp (187,21-23). Die Königin ihrerseits müsste von dem mangelnden sinnlichen Interesse ihres Partners brüskiert sein und Scham darüber empfinden, dass der körperliche Vollzug der Ehe ausbleibt; statt dessen glaubt sie am anderen Morgen, nach der in tiefem Schlaf neben Parzival verbrachten Nacht, sie sei nun tatsächlich seine rechtlich angetraute Gattin und bindet sich die Haube der verheirateten Frau um (202,23-25).

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Augustinus, De vera Religione [wie Anm. 3], XXVI, 48, 131. Bartholomaeus Angelicus, De rerum proprietatibus. Frankfurt 1601 (Nachdr., Frankfurt a. M. 1964), S. 232. Turner, Ritual [wie Anm. 13], S. 94. Die Zitate richten sich nach der Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival. 2 Bde. Nach der Ausg. von Karl Lachmann hg. von Eberhard Nellmann, übers. von Dieter Kühn (Bibliothek deutscher Klassiker 110). Frankfurt a. M. 1994.

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Die ereignislose und somit misslungene Hochzeitsnacht kann im Zusammenhang mit dieser Gebärde Condwiramurs’ in Anlehnung an Karina KELLERMANN als „verkehrtes Ritual“27 gedeutet werden: Das Umbinden der Haube hat unter normalen Bedingungen einen klaren sozialen Verweischarakter, der darin besteht, dass sich die Frau der Öffentlichkeit in ihrer neuen Rolle als Ehegattin präsentiert; hier jedoch erweist sich der Einkleidungsakt als komisches Element, das aus der Diskrepanz zwischen der Realität, der nach wie vor bestehenden Jungfräulichkeit Condwiramurs’, und der fingierten Wirklichkeit ihres Status als Ehefrau entspringt. Erst in der dritten Nacht gelingt es beiden, die copula carnalis zu vollziehen, da sich in Parzival nun endlich die männliche Natur regt: von im dicke wart gedaht / umbevâhens [...] (203,2f.). Allerdings wird die Erotik der Situation dadurch konterkariert, dass Parzival daran denkt, Condwiramurs zu umarmen, weil die Mutter es ihm riet (203,3); und nicht nur Herzeloyde ist in diesem heiklen Moment präsent, auch die Ratschläge seines ‚Ersatzvaters’ Gurnemanz erinnert Parzival: Gurnemanz im ouch underschiet, / man und wîp wærn al ein (203,4f.). Mit Hilfe der Rückbesinnung auf seine Erziehung also vermag es der Held, die gleichsam aufgeschobene, verzögerte Hochzeitsnacht nachzuholen. In den zwei Nächten, die das Paar keusch miteinander verbringt, befindet es sich in einer unbestimmten Schwellensituation, die nach TURNER Ambiguität aufweist und die zeitlich als Nahtstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft zu verstehen ist: Die Vergangenheit ist bereits aufgehoben Parzival und Condwiramurs sind nicht mehr alleinstehend , die Zukunft hat aber auch noch nicht begonnen beide müssen sich als Eheleute erst finden28. Dieser ‚offene’ Zustand wird von dem Erzähler für die Dauer von zwei Nächten in der Schwebe gehalten, wodurch das Ritual der Hochzeitsnacht nicht als punktueller Angliederungsritus erscheint, sondern als ein sukzessiver Übergang in einem Zeitkontinuum von drei Nächten, in denen die Grenzüberschreitung vom Status des Junggesellentums zu dem des Verheiratet-Seins in der dritten Nacht erfolgt. Psychologisch betrachtet, verharren die Protagonisten in den ersten beiden Nächten ihres Beisammenseins noch auf einem kindlichen Entwicklungsniveau, denn sie wissen nichts von Sexualität und nichts darüber, was in der Hochzeitsnacht von ihnen erwartet wird. Der körperliche Akt, den sie in der dritten Nacht ausüben, kennzeichnet für sie sowohl den Eingang in eine neue soziale und politische Situation als auch die Überschreitung einer individual- und sozialpsychologischen Entwicklungsgrenze, nämlich den Übergang von der adolescentia in die iuventus. Als Bestätigung dieser Transgression der Altersgrenze ist die Tatsache zu werten, dass Condwiramurs in der Hochzeitsnacht schwanger wird; die copula carnalis bewirkt also nicht nur einen neuen sozialen Status des Ehepaares, sondern es tritt auch durch die Elternschaft in die Phase des Erwachsenseins ein. 27

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Karina Kellermann, Verkehrte Rituale. Subversion, Irritation und Lachen im höfischen Kontext. In: Werner Röcke u. Helga Neumann (Hgg.), Komische Gegenwelten. Lachen und Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Paderborn 1999, S. 29-46. Zur Beschreibung einer solchen Situation als Nahtstelle vgl. Turner, Theater [wie Anm. 18], S. 69, (Hervorhebungen dort).

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Nun verhält es sich in Wolframs Parzival bekanntlich so, dass der Held kurz nach der Heirat seine Frau, von deren Schwangerschaft er im Übrigen nichts ahnt, wieder verlässt, um sich auf die Suche nach seiner Mutter zu begeben, und Condwiramurs erst wiedertrifft, nachdem er Gralskönig geworden ist. Die aetas der iuventus würde hingegen eigentlich erfordern, dass Parzival die soziale Verantwortung für seine Familie und seine Untertanen übernimmt und seine aventiure-Fahrt nicht fortsetzt. Dieser Tatbestand deutet darauf hin, dass der endgültige Übergang von der adolescentia in die iuventus trotz der Eheschließung noch aussteht. Auf dem Weg, den Parzival von Pelrapeire aus bis zur Übernahme der Gralsherrschaft zurücklegt, ist er zahlreichen Bewährungsproben und Konfrontationen mit seiner Vergangenheit ausgesetzt, die zur Ausbildung seiner Persönlichkeit und der Erfahrung der eigenen Identität führen. Die Heirat mit Condwiramurs stellt deswegen ein vorgezogenes Ritual dar, nach dessen Vollzug der Held wohl die gesellschaftliche Position eines iuvenis innehat, aber von seiner psychischen Entwicklung noch auf dem Stand eines Adoleszenten verbleibt, wofür der Wunsch des Protagonisten, die Mutter zu suchen, bered Zeugnis ablegt, deutet dieses Moment doch darauf hin, dass Parzival sich noch nicht ausreichend von seiner Mutter gelöst hat, um als reife, erwachsene Persönlichkeit zu gelten. Die Eheschließung signifiziert folglich wohl den gelungenen gesellschaftlichen, gleichsam ‚äußeren’ Übergang von der adolescentia in die iuventus‚ allerdings nicht den ‚inneren’ oder psychischen. Im Roman wird anhand von Parzivals Lebensweg eine sequentielle Grenzüberschreitung erzählt, die insofern die Erwartungshaltung des Rezipienten durchbricht, als die Heirat des Protagonisten einer für den Übergang in die iuventus ausreichenden Lebens- und Ich-Erfahrung vorausgeht. Im sozialen Kontext kann das Ritual als gelungen bezeichnet werden, in einem psychologischen Bezugsrahmen ist von einem vorgezogenen, ja verfrühten Ritual zu sprechen, das den Endpunkt von Parzivals Persönlichkeitsentwicklung vorwegnimmt bzw. einleitet.

3. Die Artusromane Hartmanns von Aue als Liminalitätsromane Ventiliert man im Hinblick auf Schwellenzustände Vertreter des klassischen Artusromans, so kann man wie im Parzival Passagen finden, die einen Übergang von einem Lebensalter in das nächste indizieren. Gerade das Hochzeitsritual wird in den Werken bevorzugt dargestellt. So weisen sowohl der Erec als auch der Iwein Hartmanns von Aue Vermählungsszenen auf, denen jeweils ein zentrales Gewicht in der Gesamthandlung der Geschichten zukommt. In beiden Romanen geht mit der Eheschließung eine Übernahme von Herrschaft einher: Im Erec übergibt der Vater des Protagonisten die Königswürde

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dem Sohn und der Schwiegertochter (V. 2918-2923),29 und im Iwein 30 beherrscht der Held nach seiner Hochzeit mit Laudine das Reich Askalons. Die Vermählungen stellen in beiden Werken das auslösende Moment für die weitere Handlung dar: Erec verliget sich mit Enite und verlängert damit sozusagen die Hochzeitsnacht ungebührlich nach eigenem Gutdünken (V. 2928-2973), und Iwein wird von seinem Freund Gawan noch während der Hochzeitsfeierlichkeiten an das unrühmliche Verhalten Erecs erinnert und bittet seine Gattin um urloup, um eine ähnlich peinliche Situation zu vermeiden (V. 2763-2925); doch anstatt nun die rechte mâze zwischen minne und strît zu beachten, verfällt Iwein in das andere Extrem und verrîtet sich (V. 3043-3058). Sowohl Erec als auch Iwein stürzen aufgrund ihres Fehlverhaltens nach der Trauung in eine existentielle Krise, die die anschließende aventiure-Fahrt initiiert und den Gang der Handlung vorantreibt. Dass der Übergang zwischen adolescentia und iuventus mit der Hochzeit keineswegs vollendet ist und der Held seine soziale Position noch nicht ausfüllt, ist im Erec daran ersichtlich, dass der Protagonist wohl nach der Eheschließung die Herrschaft von seinem Vater übernimmt, die eigentliche Einsetzung in das neue Amt jedoch erst nach seiner Queste durch die Krönung vollzogen wird (V. 10064-10067). Die jeweilige Situation der beiden Helden ist strukturell wie die analysierte Episode im Parzival zu beurteilen: Alle drei Protagonisten heiraten eine Frau und verändern dadurch ihren sozialen Status, indem sie vom Junggesellen zum Gatten und Herrscher werden. Entgegen der Erwartung, dass sie mit der veränderten gesellschaftlichen Position auch auf der psychischen Ebene von der adolescentia in die iuventus wechseln, sind die Helden jedoch nicht in der Lage, in ihrer aktuellen Situation Fuß zu fassen, sondern sie beginnen statt dessen ihre Queste, durch die sie die notwendige Lebenserfahrung und charakterliche Reife nachholen, die sie für ihre neuen Aufgaben als Erwachsene benötigen. Erst im Anschluss an ihre aventiure-Reise ordnen sie sich in die Gesellschaft ein und füllen ihre Rollen als Ehemann und Herrscher aus. So wie man im Hinblick auf den Parzival bei der Vermählung des Protagonisten mit Condwiramurs von einem vorgezogenen Ritual sprechen kann, so also gleichfalls im Bezug auf den Erec und den Iwein, denn auch hier gelingt das Hochzeitsritual zwar ‚formal’ oder ‚äußerlich’, es kongruiert aber nicht mit dem psychischen Entwicklungsstand der Artushelden. Diese psychologisierende Deutung der Romane findet im Rahmen der mediävalen aetasKonzeptionen ihre Bestätigung. Erec und Iwein geraten in die Krise, weil sie die mâze nicht beherzigen, weil sie entweder den strît oder die minne missachten und gleichzeitig den jeweils anderen Faktor absolut setzen und damit der Maßlosigkeit verfallen. Maßlosigkeit aber ist ein wesentliches Kennzeichen der adolescentia, wie schon Aristoteles im zweiten Buch der Rhetorik beklagt, in welchem er darlegt, dass der Redner, um glaubwürdig zu sein, neben der Gemütslage und den charakterlichen Eigenschaften seines Publikums auch dessen Lebensalterstruktur zu berücksichtigen habe, und worin er er29

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Hartmann von Aue, Erec. Hg. von Manfred Günter Scholz, übers. von Susanne Held (Bibliothek Deutscher Klassiker 188). Frankfurt a. M. 2004. Hartmann von Aue, Gregorius, Der Arme Heinrich, Iwein. Hg. und übers. von Volker Mertens (Bibliothek Deutscher Klassiker 189). Frankfurt a. M. 2004.

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klärt, dass junge Leute vor allen Dingen durch ihr maßloses Verhalten auffallen: „Alle ihre Fehler aber liegen [...] im Bereich des Übermaßes und der übertriebenen Heftigkeit [...].“31 Bernardus Silvestris führt diese unziemliche Art der Adoleszenten konkret auf ihren Mangel an Erfahrung zurück, der ja auch Erec und Iwein kennzeichnet: Quia enim adolescentes rerum usum et experientiam nondum habuerunt.32 Der iuvenis hingegen hat den Überschwang der Jungend hinter sich gelassen, wie Aristoteles erklärt: „Allgemein gesprochen: alle diese nützlichen Eigenschaften, die Jugend und Alter unter sich aufgeteilt haben, diese haben die Männer in der Blüte der Jahre vereinigt. Was aber beide im Übermaß oder zu wenig haben, davon haben sie das passende und sich schickende Maß.“33 Bartholomaeus Angelicus schließlich bezeichnet die aetas der iuventus als ‚mittleres’ Lebensalter, in dem der Mensch in der Lage ist, andere zu unterstützen, also soziale Verantwortung zu übernehmen.34 Um soziale Verantwortung aber geht es in den Romanen Hartmanns. Erec, der über seine Liebe zu Enite die Pflichten für seine Gefolgschaft missachtet hat, zieht aus, um, die sexuelle Verlockung in Gestalt seiner Frau ständig vor Augen, zu lernen, seine eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Dass ihm dies gelingt, beweist das Abenteuer Joi de la Curt, wo er 80 Damen aus der Gefangenschaft rettet, indem er den Ritter Mabonagrin besiegt und damit gleichzeitig aus einem erotischen Bann erlöst (V. 7818-9872). Mabonagrin ist Opfer einer überzogenen Minneforderung seiner Dame, mit der er fernab jeglichen gesellschaftlichen Umgangs in einem magischen Park lebt. Die Dame nahm ihm, nachdem er erfolgreich um sie geworben hatte, den Schwur ab, mit ihr solange in dem Garten zu leben, bis ein Ritter ihn im Duell besiegen würde (V. 9444-9621). Mabonagrin repräsentiert aufgrund seiner Geschichte den jungen, unerfahrenen Erec, der zu Anfang in seiner adoleszenten Leidenschaft gefangen und dadurch nicht mehr in der Lage war, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die adolescentia ist bezeichnenderweise neben der allgemeinen Bestimmung über die Maßlosigkeit des Jugendlichen auch über ein extremes Sexualleben definiert, wie Augustinus in seinen Confessiones in dem Bericht über seine eigene Jungend betont: exarsi enim aliquando satiari inferis in adulescentia et silvescere ausus sum variis et umbrosis amoribus [...].35 Erecs Sieg über Mabonagrin ist vor diesem Hintergrund auch als Sieg über die unmâze der Liebe, über Erecs jugendlichen Sexualtrieb zu deuten. Im Iwein verhält es sich, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, ähnlich. Hier stellt der Held seine eigenen Bedürfnisse über die seiner Untertanen, wenn er, um den Erwerb von Ruhm und Ehre bemüht, zu dem mit Laudine verabredeten Termin nicht nach Hause zurückkehrt. Auf seiner aventiure-Reise, auf der er zahlreichen in Not Geratenen zur 31

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Aristoteles, Rhetorik. Übers. von Franz G. Sieveke. München 1980, Buch II, 12. Kap., S. 120-122. Commentary [wie Anm. 4], S. 16, V. 20. Aristoteles, Rhetorik [wie Anm. 31], 14. Kap., S. 125. Bartholomaeus Angelicus, De rerum proprietatibus [wie Anm. 24]. Augustine. Confessions. Hg. von James J. O’Donnell. 2 Bde. Bd. 1: Introduction and Text. Oxford 1992, S. 16.

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Hilfe eilt, muss er erst beweisen, dass er fähig ist, soziale Verantwortung zu übernehmen, bevor er als Gatte und Herrscher seine Rolle in Askalons Reich ausfüllen kann. Beachtenswert an der Darstellung der Lebenssituationen Erecs und Iweins ist, dass Hartmann ganz offensichtlich auf die aetas-Modelle des mittelalterlichen enzyklopädischen Schrifttums rekurriert, ohne sich allerdings an rigide voneinander abgegrenzte Lebensaltereinteilungen zu halten, die jegliche Form eines sequentiellen, Verzögerungen und Verschiebungen zulassenden Übergangs von einer Altersstufe in die nächste negieren würden. Vielmehr adaptiert Hartmann die aetas-Konstrukte in Anlehnung an Chretiens Prätext innovativ, wenn er seine Helden gemäß der adolescentia maßlos handeln und entsprechend der iuventus gesellschaftlich mit der Forderung nach Pflichtübernahme konfrontiert zeigt. Mit dem vorgezogenen Ritual der Vermählung, das den psychischen Übergang der Protagonisten zum Erwachsenensein präludiert, kreiert der Autor ein Konzept inverser Alterstrukturen, das der Lebensrealität insofern entgegenkommt, als es fraglos in der Entwicklung des Menschen häufig dazu kommt, dass das Individuum unaufgearbeitete Konflikte und ungelöste Entwicklungsaufgaben einer Lebensstufe in die nächste mit hineinträgt, und als man die Tatsache, dass menschliche Entwicklung immer auch von Stagnation und Regression begleitet ist, als anthropologische Faktizität verstehen muss. Hartmanns aetas-Auffassung wird in seinen Romanen exemplarisch an der Grenzüberschreitung von der adolescentia zur iuventus evident, die er als zeitweise Verschränkung und Überlagerung der Eigenschaften einer jeden aetas schildert und als eine Transgression, die nicht sprunghaft geschieht, sondern über die Dauer der Gesamthandlung hinweg. Die Protagonisten der Romane sind während dieses Übergangs, in dem sie sich sozusagen ‚in der Schwebe’ zwischen beiden Altersstufen befinden, Grenzgänger oder ‚Schwellenwesen’. Von dieser Beobachtung ausgehend kann man Artusromane wie die Hartmanns von Aue als ‚Schwellen’- bzw. als ‚Liminalitätsromane’ bezeichnen. Der Gattungsbegriff ‚Liminalitätsroman’ kann analog zum neuzeitlichen Begriff des ‚Adoleszensromans’ verstanden werden, insofern der jeweilige Protagonist des Artusromans in einer krisenhaften Transformationssituation auf der Schwelle von der adolescentia zur iuventus gezeigt wird. Der moderne Adoleszenzroman behandelt als zentrales Thema gerade diese Problematik: den Eintritt der Helden in das Erwachsenenalter.36 Die Gattung, die als Subgattung des Jugendromans gemeinhin erst ab den 70er Jahren verzeichnet wird, ist selbstverständlich vor dem Hintergrund kulturgeschichtlicher Besonderheiten der Gegenwart

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Vgl. Carsten Gansel, Der Adoleszenzroman zwischen Moderne und Postmoderne. In: Günter Lange (Hg.), Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1: Grundlagen – Gattungen. Baltmannsweiler 22000, S. 359-398, hier S. 359; vgl. auch Günter Lange, Adoleszenzroman. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. 3. erg. Lfg. 1997, S. 1-22, hier S. 4. Grundsätzlich zum Adoleszenzroman vgl. außerdem den Forschungsbericht von Carsten Gansel, Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. In: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 14, H. 1 (2004), S. 130-149.

Periodisierung menschlicher Lebensalter

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zu sehen 37 und kann deshalb nicht für das Mittelalter geltend gemacht werden. Dennoch lassen sich bestimmte Aspekte ausmachen, die eine Gegenüberstellung zwischen dem Artusroman Hartmannscher Tradition und dem Adoleszenzroman rechtfertigen und eine neue Sicht auf die vormoderne Gattung ermöglichen. Eine Ähnlichkeit zwischen den Romanarten ist etwa darin zu sehen, dass in beiden ein Held im Mittelpunkt steht, der ausschließlich in seiner Jugendphase gezeigt wird.38 Hierin unterscheiden sich der Erec und der Iwein vom Parzival, in dem ja ausführlich von der Geburt und Kindheit des Protagonisten erzählt wird, weswegen man das Wolframsche Werk wohl als Entwicklungsroman bestimmen, nicht aber zu dem Adoleszenzroman in Bezug setzen kann.39 Eine weitere Affinität ergibt sich dadurch, dass in beiden Gattungen die Hauptfigur eine „existentielle Erschütterung“ erlebt, die zu einer ‚tiefgreifenden Identitätskrise’40 führt. Im Adoleszenzroman sind hierbei zahlreiche Problembereiche von Bedeutung, wie etwa die Loslösung des Jugendlichen von den Eltern, die Erfahrung der Sexualität oder „das Hineinwachsen oder das Ablehnen einer eigenen sozialen Rolle.“41 Auch wenn diese Konfliktpotentiale aufgrund der modernen soziologischen Rahmenbedingungen für einen mittelalterlichen Erzähltext nicht ohne weiteres herangezogen werden können, findet sich der Sachverhalt der krisenhaften Identifikation mit gesellschaftlichen Erwartungen, was ja die Übernahme einer sozialen Rolle eigentlich bedeutet, gerade im Erec und im Iwein wieder, wo die Protagonisten nach der durch das verligen respektive verrîten ausgelösten ‚existentiellen Erschütterung’ lernen müssen, ihrer Position als Herrscher und Ehemann gerecht zu werden. Damit stehen die Hartmannschen Helden in einem sozialen Konflikt, den GANSEL thematisch für den Adoleszenzroman angibt: „Im Adoleszenzroman geht es [...] neben einer möglichen Identitätskrise grundsätzlich um das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und sozialer Integration in einer eigenständigen Lebensphase mit eigener selbsterlebbarer Qualität.“42 Um das Spannungsverhältnis zwischen eigenen Bedürfnissen – Sexualität und Liebe im Erec neben dem Wunsch nach Turnieren und Ruhm im Iwein – und sozialen Forderungen – der Übernahme von Verantwortung für den Hof – dreht es sich in Hartmanns Romanen bekanntlich. Trotz dieser Berührungspunkte zwischen Adoleszenz- und Artusroman gibt es zweifellos erhebliche Unterschiede, die es verbieten, vom Erec und Iwein als Adoleszenzromanen zu sprechen. So sind die Helden der modernen Gattung stets als Individuen gezeichnet, die eine einmalige, nicht wiederholbare Geschichte erleben. Dem korrespondiert die 37

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Vgl. Gansel, Adoleszenzroman [wie Anm. 36], S. 360 und Kap. 2: Adoleszenz und gesellschaftliche Modernisierung. Vgl. ebd., S. 371. Vgl. dazu Ruth Sassenhausen, Der Parzival Wolframs von Eschenbach als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung. Im Manuskript (erscheint Köln 2007). Zu diesem Aspekt des Adoleszenzromans: Lange, Adoleszenzroman [wie Anm. 36], S. 5. Vgl. Gansel, Adoleszenzroman [wie Anm. 36], S. 371. Ebd. (Hervorhebungen dort); vgl. dazu auch: Lange, Adoleszenzroman [wie Anm. 36], S. 6.

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Ruth Sassenhausen

Komposition und Darstellungsweise der Werke, die speziell auf die Innenwelt der Protagonisten zielt und entsprechend mit Methoden wie inneren Monologen, Rückblenden sowie dem Erzählen auf verschiedenen Zeitebenen operiert,43 was in den Artusromanen kaum zu finden ist. Im Übrigen ist zu beachten, dass im Erec und im Iwein ein wesentlicher Schritt in das Erwachsenenleben, nämlich die Hochzeit, ja bereits vollzogen worden ist und sich der geschilderte Übergang von der adolescentia zu der iuventus auf der psychosozialen Ebene nachträglich vollzieht. Der Lebensausschnitt, von dem erzählt wird, ist einer, in dem die Protagonisten durch das Ritual der Vermählung gleichsam ‚formal’ bereits den Status des Erwachsenen erworben haben. Die Diskrepanz zwischen der ‚formalen’ und der psychosozialen Situation der Helden wird bei Hartmann fokussiert, auf die Exposition dieses Schwellenzustandes zwischen den Lebensaltern adolescentia und iuventus hebt die Romankonzeption ab und auf diese Phase der menschlichen Entwicklung wird sie reduziert, wohingegen im Adoleszenzroman die gesamte Jugend in einem Altersspektrum vom zwölften bis in das 25. Lebensjahr beschrieben werden kann.44 Angesichts der ausschnitthaften Darstellung der Jugend im Hartmannschen Artusroman soll deswegen der Gattungsbegriff des Schwellen- oder Liminalitätsromans gelten, der den Moment des Lebensalterüberganges konkret bezeichnet.

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44

Vgl. Lange, Adoleszenzroman [wie Anm. 36], S. 14f., und Gansel, Adoleszenzroman [wie Anm. 36], S. 370. Ebd., S. 360.

Sektion 3: Grenzen der Kommunikation

JOERN-MARTIN B ECKER, DORIS B ULACH, ULRICH MÜLLER

Wissenstransfer, Integration und Ausgrenzungen im Handwerk der südlichen Ostseeküste und Brandenburgs

Integration und Ausgrenzung am Beispiel des sogenannten Wendenpassus Betrachtet man das Wort Grenze näher, so bedeutet es zunächst vor allem eine Unterscheidung zwischen innen und außen, die räumlich zu verstehen ist, die aber auch im übertragenen Sinn auf zahlreiche, nicht nur territoriale, sondern auch religiöse, sprachliche, ethnische, kulturelle oder soziale Systeme und Situationen angewendet werden kann. Allen diesen verschiedenen Verstehensweisen des Wortes ist gemeinsam, dass ein innerer Bereich als eigen und zugehörig und alles außerhalb Liegende als anders und fremd begriffen wird. Da Grenzen immer Trennendes und Beschränkendes meinen, ist in der Idee der Grenze stets auch ein Überschreiten enthalten. Somit stellt die Überwindung der Grenze eine Herausforderung dar, die unter Umständen das bestehende System infrage stellt, aber auch Fortschritt bedeutet. Ohne Grenzüberschreitungen sind Entdeckungen oder Neuerungen undenkbar. Im Folgenden soll das Verhältnis zwischen slawischer, einheimischer Bevölkerung und den zugewanderten Deutschen im Raum östlich der Elbe vor allem seit Mitte des 14. Jahrhunderts zuerst einmal anhand schriftlicher Quellen betrachtet werden.1 Dabei soll das Augenmerk zum einen auf die Ausgrenzung bestimmter Ethnien aus den Handwerksämtern, zum anderen aber auch auf Überschreitung solcher Grenzen gerichtet werden. Das kann in diesem Rahmen nicht umfassend geschehen, sondern im Folgenden sollen die frühesten Beispiele, vor allem aus der Mark Brandenburg und dem Lüneburger Raum, sehr späten Beispielen, vor allem aus dem südlichen Ostseeraum, vergleichend gegenübergestellt werden (Abb. 1). 1

Vgl. dazu auch Kerstin Kirsch, Slawen und Deutsche in der Uckermark. Vergleichende Untersuchungen zur Siedlungsentwicklung vom 11. bis zum 14. Jahrhundert (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 21). Stuttgart 2004 und demnächst ausführlicher als es in diesem Rahmen geschehen kann: Doris Bulach, Ausgrenzung, Eingrenzung, Assimilation? Slawen und Deutsche im mittelalterlichen Handwerk des südlichen Ostseeraums und Brandenburgs. In: Hansische Geschichtsblätter 124 (2006) (im Druck).

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Joern-Martin Becker, Doris Bulach, Ulrich Müller

Betrachtet man das lübische Recht näher, mit dem zahlreiche Städte nordöstlich der Elbe bewidmet wurden, so zeigen sich darin zwar gewisse Vorbehalte gegen die slawische Vorbevölkerung, wenn aber ein Slawe des werdich were, Bürger zu sein, sollte er dasselbe Recht wie alle anderen genießen.2 Konkrete Hinweise auf die Umsetzung dieses Grundsatzes finden sich in den Quellen nur wenige. So enthalten beispielsweise Stadtrechtsprivilegien in der Regel zuerst einmal keine Hinweise auf die ethnische Zusammensetzung der dort lebenden Gemeinschaft oder die Art des Zusammenlebens. Eine Ausnahme bildet die Gründung der Neustadt Salzwedel in der Altmark im Jahr 1247. Hier wurde durch die brandenburgischen Markgrafen festgesetzt, dass neu in die Stadt einwandernde Personen, seien es deutsche oder slawische Bauern, gleichermaßen dem städtischen Gericht unterstellt seien.3 1273 stand in Salzwedel der Erwerb des Bürgerrechtes explizit jedem offen, der Bürger werden wollte.4 Dementsprechend finden sich noch im 14. Jahrhundert Personen mit slawischen Namen bis hinauf in die städtische Oberschicht.5 Die dünne Quellenlage zum Verhältnis der deutschen Einwanderer zur slawischen, einheimischen Bevölkerung in den Städten verändert sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Nachrichten erhält man nun aus den Statuten und Rollen verschiedener Handwerksämter, in denen vor allem ihr Zugang geregelt wurde, aber auch durch die sogenannten Echtbriefe, in denen sich Zugangswillige für ein Handwerksamt von ihrem Heimatort ihre Geburt und ihren Lebenswandel bestätigen ließen. Hierbei gesellten sich zu Forderungen nach einem ehrbaren Leben und der ehrlichen und ehelichen Geburt, die in unterschiedlicher Form auftreten, in manchen Ämtern die Forderung nach deutscher, nicht slawischer Geburt. Dieser Einschub wird in der neueren Forschung, die vor allem durch Winfried SCHICH geprägt ist, als Wendenpassus bezeichnet.6 Eingebunden also in 2

3

4 5

6

Dazu ausführlich Winfried Schich, Zum Ausschluß der Wenden aus den Zünften nord- und ostdeutscher Städte im späten Mittelalter. In: Antoni Czacharowski (Hg.), Nationale, ethnische Minderheiten und regionale Identität in Mittelalter und Neuzeit. Toru( 1994, S. 31-51, hier S. 41f. Siehe dort auch die Angaben zur älteren Literatur, die hier nicht noch einmal bewertet zu werden braucht. Codex diplomaticus Brandenburgensis. Hg. v. Adolph Friedrich Riedel, Hauptteil I, Bd. 14. Berlin 1857, S. 3f., Nr. 5. Dazu die abwägenden Überlegungen zu anderen Städten bei Schich [Anm. 2], S. 40f. Vgl. zum Verbleib der slawischen Bevölkerung im ländlichen Bereich der Mark Brandenburg vor allem Werner Vogel, Der Verbleib der wendischen Bevölkerung in der Mark Brandenburg. Berlin 1960. Codex I, 14 [Anm. 3], S. 11, Nr. 17. Achim Stephan, Die Vogtei Salzwedel. Stadt und Land vom Landesausbau bis zur Zeit der Wirren (Quellen, Fundbücher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 17), Frankfurt am Main 2005, S. 268, 294f.; Schich [Anm. 2], S. 48. So Schich [Anm. 2], S. 31; Winfried Schich, Zur Diskriminierung der wendischen Minderheit im späten Mittelalter. Die Ausbildung des „Wendenparagraphen“ in den Zunftstatuten norddeutscher Städte. Europa Regional. Zeitschrift des Instituts für Länderkunde 10 (2002)2, S. 57-62, hier S. 58. Mit ähnlicher Blickrichtung auch schon Vogel [Anm. 3], S. 128f.

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andere Ehrbarkeitsforderungen – trat dieser Passus anfangs nur in Städten auf, die in der Nähe von zu dieser Zeit noch relativ geschlossenen, von Slawen besiedelten Gebieten lagen, in Gebieten, in denen die slawische Sprache teilweise bis ins 18. Jahrhundert oder sogar bis heute gesprochen wurde und wird. Zum ersten Mal taucht die Forderung nach deutscher Geburt in Lüneburg um 1350 auf. In einer allerdings aus dem 15. Jahrhundert stammenden Abschrift wurden die Statuten der dortigen Krämer festgehalten, die als Voraussetzung für die Amtsaufnahme nachweisen mussten, dass sie echt recht dudesch unde nicht wendisk, vrig unde nemendes egen, unde van framen unberuchteden luden gebaren seien.7 Lüneburg lag zu diesem Zeitpunkt am westlichen Rand eines Siedlungsgebietes, des heute noch sogenannten Wendlandes, in dem die slawische Sprache, das Dravänopolabische, erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts ausstarb.8 Um dieselbe Zeit wie für die Krämer wurde auch für die Lüneburger Riemer, Gürtler und Beutler festgelegt, dass ein neuer Lehrjunge echt unde recht, dudesch unde nicht wendesch, vryg unde nemendes egen, unde dat he sy van vader unde van moder unde van vramen unberuchteden luden sy gebaren.9 Weitere Ämter folgten nach 1400 diesem Vorbild nach.10 Der Rat der Stadt selbst ging bei seiner Abgrenzung gegen die offensichtlich in die Stadt strebenden, umwohnenden Slawen sogar so weit, dass er 1409 Slawen insgesamt vom Erwerb des Bürgerrechtes ausschloss, mit dem Argument, dadurch die Stadt wegen deren Untreue vor Schaden zu bewahren. 11 Zwar lebten und arbeiteten in weniger angesehenen Berufen nachweislich weiterhin Slawen in Lüneburg, aber die slawische Herkunft scheint massive Nachteile nach sich gezogen zu haben.12 So wehrte sich 1456 ein Bürger gegen den Vorwurf ein Wende zu sein, da ihn das in schaden bringen würde. Noch um 1600 wurde bei der Aufnahme in das Bäckeramt nach der echten und rechten Geburt, nach der deutschen, nicht wendischen und nach der freien, nicht eigenen Herkunft gefragt.13 Um die gleiche Zeit 7

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Eduard Bodemann, Die älteren Zunfturkunden der Stadt Lüneburg (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 1). Hannover 1883, S. 130. Zur nicht ganz gesicherten Datierung dieser Statuten: Schich [Anm. 2], S. 33. Vgl. dazu vor allem Matthias Hardt u. Hans K. Schulze, Altmark und Wendland als deutschslawische Kontaktzone. In: Roderich Schmidt (Hg.), Wendland und Altmark in historischer und sprachwissenschaftlicher Sicht. Lüneburg 1992, S. 1-44; erneut abgedruckt in: Hans K. Schulze, Siedlung, Wirtschaft und Verfassung im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zu Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands (Quellen und Forschungen zur Geschichte SachsenAnhalts 5). Köln u. a. 2006, S. 53-93; und mit weiterführender Literatur: Schich [Anm. 2], S. 33f. Bodemann [Anm. 7], S. 136. Mit Quellennachweisen: Olof Ahlers, Die Bevölkerungspolitik der Städte des „wendischen“ Quartiers der Hanse gegenüber Slawen, phil. Diss. Berlin 1939, S. 35; Schich [Anm. 2], S. 37. Wilhelm Reinecke (Hg.), Lüneburgs ältestes Stadtbuch und Verfestungsregister (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 8). Hannover u.a. 1903, S. XXXI. Das Folgende nach Schich [Anm. 2], S. 45. Bodemann [Anm. 7], S. 10f., 19.

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wurde einem Bürger sein Bürgerrecht wieder entzogen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass er slawischer Herkunft war.14 Fast gleichzeitig wie in Lüneburg erscheint im brandenburgischen Beeskow der sogenannte Wendenpassus: 1353 wird in einem Statut der Schuhmacher neben Kindern von Badern, Unfreien und Priestern auch den Kindern von Slawen der Zugang zum Amt verweigert.15 Diese Forderung war eindeutig neu, denn in den Amtsstatuten der Schuhmacher aus dem Jahr 1341 war sie noch nicht vorhanden.16 Auch Beeskow lag im Randbereich eines zu diesem Zeitpunkt noch vergleichsweise geschlossenen slawischen Siedlungsgebietes,17 wo, weiter südlich, das Slawische bis heute im Sorbischen präsent ist. In Beeskow taucht der Wendenpassus dann erst wieder 1387 in den Bäckerstatuten auf, in denen aber zugleich betont wurde, dass Personen, die diese Forderung nicht erfüllten, aber schon in einem Amt waren, davon nicht betroffen seien. Auch Slawen konnten demnach zusammen mit ihren Nachkommen ihr Amt weiter ungestört ausüben.18 Anhand dieses Zusatzes wird sehr deutlich, dass sich der Passus nicht generell gegen alle Slawen richtete, sondern offensichtlich gegen solche, die – wohl häufig vom Land kommend – neu in die Stadt und in das Amt drängten. In Beeskow trat der Passus um 1387/88 in wenigen weiteren Ämtern auf, 1457 galt er – so ein Brief des Rates an die Magdeburger Schöffen – aber für alle Handwerker der Stadt.19 Allerdings arbeiteten in Beeskow auch noch Ende des 16. Jahrhunderts slawisch sprechende Handwerksmeister in den Ämtern,20 was wiederum zeigt, wie vorsichtig man hier bei Pauschalisierungen sein muss. Neben diesen frühesten Erwähnungen grenzten sich seit dem späten 14. Jahrhundert weitere Städte des nordöstlichen Deutschlands gegen Slawen ab, allerdings auffälligerweise weiterhin nur im Umkreis slawischer Siedlungsgebiete. So forderte 1372 ein Statut der Schweriner Wollweber, dass Mitbrüder im Amt echte und recht, Dudes und nicht Wendes, vry unde nicht eyghen unde wol beruchtet sein sollten.21 Schwerin lag nicht weit entfernt von der sogenannten Jabelheide (benannt nach dem Ort Jabel), einem Ende des 14. Jahrhunderts ebenfalls noch relativ geschlossenen, slawischen Siedlungsgebiet.22 14

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Schich [Anm. 2], S. 45 mit den entsprechenden Nachweisen. Weitere Beispiele für die Ausgrenzung von Slawen in Lüneburg bis ins 17. Jahrhundert bei Ahlers [Anm. 10], S. 32f. Codex diplomaticus Brandenburgensis. Hg. v. Adolph Friedrich Riedel, Hauptteil I, 20. Berlin 1861, S. 350, Nr. 16. Zur Entwicklung des Passus in Beeskow: Schich [Anm. 6], S. 57f. Zum Wendenpassus in brandenburgischen Städten vgl. auch Vogel [Anm. 3], S. 121133. Schich [Anm. 6], S. 35. Zur mittelalterlichen Besiedlung vgl. Schich [Anm. 2], S. 33 mit weiterführender Literatur. Codex I, 20 [Anm. 15], S. 366, Nr. 38. Codex I, 20 [Anm. 15], S. 423, Nr. 96. So der Bericht des Studenten Michael Francus aus dem Jahr 1591. Vgl. dazu Schich [Anm. 6], S. 59. Meklenburgisches Urkundenbuch. Hg. vom Verein für Meklenburgische Geschichte und Alterthumskunde, Bd. 18. Schwerin 1897, S. 642, Nr. 10815. Hans Witte, Wendische Bevölkerungsreste in Mecklenburg. Stuttgart 1905, S. 45.

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1384 findet man bei den Schuhmachern im niederlausitzischen Luckau, das wie Beeskow nicht weit vom sorbischen Siedlungsgebiet entfernt lag, sogar die Forderung, dass ein Schuhmacher von allen seinen vier Ahnen her nicht wendisch sein durfte (daz her recht eylich geborn si van erlichen guten duczen luten van alle sinen vir anen her, daz her nicht wendisch si ...).23 So wie in Beeskow richtete sich aber auch diese Forderung wohl nur gegen (ländliche) Zuwanderer. So werden gerade in dem an diese Forderung anschließenden Statut Bedingungen genannt, die Personen erfüllen mussten, die van uzwendig herynkummet.24 Selbst noch 1550 gab es in Luckau Schuhmacher wendischer Art oder geburt.25 Auch in Lübeck, in dessen Umgebung noch Ende des 14. Jahrhunderts zahlreiche Slawen lebten, 26 scheint seit der Zeit um 1400 – vor dem Auftreten des Passus in den dortigen Handwerkerrollen – der Nachweis über deutsche Geburt gefordert worden zu sein. Dies lassen zumindest zahlreiche, in verschiedenen Städten für Lübecker Handwerker ausgestellte Geburtsbriefe vermuten. So findet sich beispielsweise 1385 für einen nach Lübeck ziehenden Schuhmachergesellen die Bestätigung aus Ratzeburg, dass dieser non de genere Slavicali vel alio levis opinionis sed de bonis ac honestis hominibus Teutonicis sei.27 Diese Briefe wurden, wohl auf Bitten von nach Lübeck ziehenden Bürgern, auch in Städten ausgestellt, in denen „Zuzügler“ slawischer Geburt mit Sicherheit keine Rolle spielten.28 In den Statuten eines Amtes selbst taucht der Ausschluss von Slawen in Lübeck zum ersten Mal 1410 in der Gewandschneiderrolle auf, in einem Absatz, in dem der Zugang zum Gewandhaus geregelt wurde. Neben dem Bürgerrecht, einem guten Ruf und echter Geburt sollte der Kandidat auch van nener wendeschen ardt und nene lynneweverschen sone sein.29 In Braunschweig, vom Wendland schon weiter entfernt gelegen, lässt sich für das 14. Jahrhundert die Ausgrenzung von slawischen Handwerkern nicht belegen.30 Zwar lebten 23

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Richard Moderhack, Die Innungsartikel der Luckauer Schuhmacher von 1384. Niederlausitzer Mitteilungen 22 (1934), S. 339-346, hier S. 344, § 2. Vgl. dazu ausführlicher Schich [Anm. 2], S. 34, 36. Moderhack [Anm. 23], S. 344, § 3. Das Folgende nach Rudolf Lehmann, Die Urkunden des Luckauer Stadtarchivs in Regesten (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriften des Instituts für Geschichte II, 5). Berlin 1958, S. 211, Nr. 378; S. 222, Nr. 398. Manfred Gläser, Das Restslawentum im Kolonisationsgebiet, dargestellt am Beispiel der Hansestadt Lübeck und ihrer Umgebung. Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 6 (1982), S. 33-76. Meklenburgisches Urkundenbuch. Hg. vom Verein für Meklenburgische Geschichte und Alterthumskunde, Bd. 25A. Schwerin 1936, S. 588f., Nr. 14691. Zu weiteren Beispielen siehe Ahlers [Anm. 10] S. 38f. So ebenfalls Ahlers [Anm. 10], S. 37f. Carl Wehrmann (Hg.), Die älteren Lübeckischen Zunftrollen. Lübeck 1872, S. 490, Nr. 64. Zur Dekonstruktion des Wendenpassus in Braunschweig, aber auch in anderen Städten, in denen der Passus irrtümlich in die Literatur gelangte: Winfried Schich, Braunschweig und

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auch in dieser Stadt wohl Slawen, und das Stadttor nach Norden, zum Wendland hin, hieß valva Slavorum.31 Allerdings taucht hier die Bestätigung der deutschen und nicht wendischen Geburt in Geburtsbriefen auf, die im städtischen Abschriftenbuch überliefert sind. In ihnen wurde die allgemeine Ehrlichkeitsformel um 1400 auch um die deutsche, nicht wendische Geburt erweitert.32 Diese Geburtsbriefe wurden jedoch immer nur für Bürger ausgestellt, die in Städte zogen, in deren Umgebung sich noch eine slawische Restbevölkerung befand, wie Lübeck, Salzwedel, Lüneburg, Uelzen oder Dannenberg. In zeitgleichen Geburtsbriefen aus Braunschweig beispielsweise für Goslar, Wernigerode, Breslau oder Danzig wird dagegen nur bestätigt, dass der Überbringer „frei, echt und recht“ geboren sei. Der Wendenpassus, so wird deutlich, hatte hier also noch eindeutig einen Bezug zum Umfeld bestimmter Städte. Vergleicht man den gerade dargestellten Befund zum sogenannten Wendenpassus im Binnenland mit der Überlieferung in den Städten der südwestlichen Ostseeküste, fällt trotz der guten mittelalterlichen Quellenlage für Wismar, Rostock und Greifswald auf (für Stralsund sind kaum mittelalterliche Handwerksstatuten überliefert), dass es hier in den Rollen des 13. bis 15. Jahrhunderts keine Ausgrenzung von nichtdeutschen Zuwanderern gegeben hat.33 Die Forderung nach deutscher Geburt taucht in den Urkunden dieses Raumes erst Ende des 15. und im 16. Jahrhundert – allerdings auch dann nur sehr vereinzelt und nicht immer mit dem Wendenpassus verbunden – auf. Zum ersten Mal lässt sie sich wohl 1446 in einem Geburtsbrief des Rostocker Rates für einen Goldschmied der Stadt nachweisen, der augenscheinlich für das Franziskanerkloster in Brandenburg arbeiten wollte. Der Rat bestätigte dabei unter Berufung auf die Alterleute der Goldschmiede, dat he echte unde rechte gheboren is ... dudesch unde nicht wendesch anders hedden se ene in ere ampt nicht to late ...34 1482 taucht der Passus zum ersten Mal in einer Rolle, in derjenigen der Rostocker Grapen- und Kannengießer, auf. Darin

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33

34

die Ausbildung des sogenannten Wendenparagraphen. Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands 35 (1986), S. 221-233, hier v.a. S. 225-227 und Schich [Anm. 2], S. 32. Schich [Anm. 30], S. 229. Vgl. zu weiteren Beispielen für das Auftreten des Passus in Braunschweiger Handwerkerrollen Ende des 15. Jahrhunderts: Schich [Anm. 30], S. 230f. Zwar forderten zahlreiche Ämter vor allem seit Beginn des 15. Jahrhunderts zunehmend den Nachweis der ehrlichen und ehelichen Geburt, ethnische Ausgrenzungen spielten dabei aber keine Rolle. Dazu und zu weiteren Abschließungstendenzen der Ämter siehe Elfie-Marita Eibl, „We dat ampt winnen will ...“ Zunftzugang in wendischen Hansestädten zwischen Gewährung und Verweigerung, Rostock, Wismar, Stralsund, Greifswald. In: Matthias Thumser (Hg.), Studien zum südlichen Ostseeraum vom 12. bis zum 16. Jahrhundert (Mitteldeutsche Forschungen 115). Köln u. a. 1997, S. 63-108, hier S. 78f., 81-86. Zitiert nach Valentin Rose, Verzeichnis der lateinischen Handschriften II, 1.-3. Abt. (Die Handschriftenverzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin 13). Berlin 1901-1905, hier II,2, Nr. S. 239, 404. Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Frau Dr. Petra Weigel, Jena.

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wurde festgelegt, dass jeder potentielle Lehrjunge beweisen sollte, dass he echte unde rechte geboren ys van guden Dudesschen luden.35 1530 erscheint der Passus in einem Echtbrief, den der Wismarer Rat einem Goldschmied für Stralsund ausstellte. Dort wird festgehalten, dass der Besagte echt, recht, frei, ehelich geboren und dudesch und nicht undudesch offte wendesch sei.36 In weiteren, im Stralsunder sogenannten liber memorialis überlieferten Echtbriefen für Knochenhauer und Pelzer aus der Zeit um 1504 wird dagegen bei Zuwanderern aus den umliegenden Dörfern immer nur ihre eheliche Geburt bestätigt.37 Für Wismar und Greifswald selbst ist der Wendenpassus in keiner der zahlreich überlieferten Handwerkerrollen oder in Geburtsbriefen nachzuweisen.38 Aus dem oben Dargestellten wird deutlich, dass das erste Auftreten des Wendenpassus eng mit der noch slawisch geprägten Umgebung der jeweiligen Städte, in denen er auftritt, zusammenhängt. Er hatte also direkten Bezug zu den Bewohnern des Umlandes und grenzte diese aus manchen Handwerken aus. Es fällt auf, dass er vor allem in bestimmten Ämtern auftaucht, so im 14./15. Jahrhundert zuerst nur bei Handelsberufen und bei wichtigen, Kleidung und Nahrung herstellenden Gewerben: Zuerst bei den Schuhmachern und Krämern, dann aber auch bei Knochenhauern, Bäckern, Brauern, Gewandschneidern, Schneidern, Tuchmachern, Wollwebern, Gerbern, Riemern und Pelzern, was (ergänzt durch Schmiede und Goldschmiede) genau der Gruppe entspricht, aus der in Salzwedel 1527 die Slawen generell ausgeschlossen wurden.39 Auffällig ist zudem das verspätete Auftreten des Wendenpassus im südlichen Ostseeraum im 16. Jahrhundert und parallel dazu in Städten, in deren Umgebung zu dieser Zeit keinerlei slawische Siedlungskammern mehr bestanden. Gegen die Zuwanderung der ländlichen Bewohner aus dem noch slawisch geprägten Umland, gegen das zusätzliche Vorurteile bestanden haben mögen, und ihren Aufstieg in die entsprechenden städtischen Handwerksämter in einer Zeit der wirtschaftlichen Stagnation, scheint sich der Wendenpassus gerade im 14./15. Jahrhundert zu richten.40 35

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Rostock, Stadtarchiv, 1.1.3.1. 294, fol. 26v, ediert bei Wilhelm Stieda, Das Amt der Zinngießer in Rostock. Jahrbücher für mecklenburgische Geschichte und Alterthumskunde 53 (1888), S. 131-188, hier S. 164f. Friedrich Crull, Das Amt der Goldschmiede zu Wismar. Wismar 1887, Beilage IV und V und Eibl [Anm. 33], S. 79. Wenige weitere Bespiele bei Oskar Krause, Die ältesten Zunftrollen der Stadt Greifswald. Jahresbericht über das städtische Gymnasium und die mit demselben verbundenen Realklassen zu Greifswald für das Schuljahr 1897-1898. Greifswald 1898, S. 11. Hans-Diether Schroeder (Bearb.), Der Stralsunder liber memorialis, T. 6, 1471-1525 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund 5,6). Weimar 1988, S. 108f., u.a. Nr. 399 und 401. So auch Eibl [Anm. 33], S. 79. Vgl. dazu auch Vogel [Anm. 3], S. 125-127, 191 und Schich [Anm. 2], S. 31f. So auch Schich [Anm. 2], S. 43-47, 51. Zur Zuwanderung vom Land in die Städte im Zuge der Pest 1348/50 und dem schnellen Ausgleich der dortigen Bevölkerungsverluste vgl. Schich [Anm. 6], S. 59.

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Gleichzeitig ist anzunehmen, dass Slawen zu anderen Tätigkeiten weiterhin Zugang fanden, gerade auch als abhängige Arbeitskräfte, als Mägde, Knechte oder Tagelöhner. Durch Gesellenwanderung, die Geburtsbriefe und sicherlich auch durch die verschiedenen Treffen der Hansestädte verbreitete sich die Forderung nach deutscher, nicht slawischer Geburt auch in Städte des zwar ehemals slawischen Siedlungsbereiches, in dem aber – abgesehen vielleicht von manchen Kietzsiedlungen – kaum noch slawisch sprechende Personen lebten.41 Der Wendenpassus wurde dort von manchen Handwerksämtern dann bis ins 16. Jahrhundert übernommen, wohl gerade auch als zusätzliche, wenngleich kaum mehr nötige Forderung, um allen erdenklichen Fremden den Zugang in die Stadt zu erschweren.42 Dies gilt gerade auch für die Ostseestädte, in denen sich seit dem 16. Jahrhundert die Krise der Hanse wirtschaftlich spürbar bemerkbar machte. 43 Damit einher gingen immer stärkere Abschlusstendenzen der Handwerksämter, die es Gesellen zunehmend erschwerten, Zugang zu einem Amt zu finden. Gleichzeitig gingen die Städte auch intensiv gegen das Landhandwerk und gegen Handwerker vor, die außerhalb der Ämter arbeiteten.44 Auch hier wird wie schon im 14. Jahrhundert deutlich, dass mit den wirtschaftlichen Problemen auch die Grenzen der einzelnen Gruppen nach außen, vornehmlich gegen Fremde, in vielen Bereichen enger gezogen wurden. Auffällig bei dem Auftreten des Wendenpassus in den Ostseestädten ist, dass hier vorrangig die deutsche Herkunft als Voraussetzung betont wurde, der Zusatz „nicht wendisch“ fiel gerade Ende des 16. Jahrhunderts zunehmend weg oder wurde durch andere Gruppen ersetzt. Interessant ist auch, dass er hauptsächlich im Umfeld von Metall- und Pelzverarbeitung auftritt. Gerade diese Ämter waren wohl besonders von der wirtschaftlichen Rezession in diesem Raum betroffen. Trotz vieler offener Fragen kann der Wendenpassus im ehemals slawisch besiedelten Raum ein Gradmesser für Ausschlusstendenzen im Handwerk und damit einhergehend für die wirtschaftliche Stagnation einer Stadt, eines Raumes sein, während in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwunges des 13. Jahrhunderts – aber auch zu anderen Zeiten bis in der jüngeren Vergangenheit – Fremde problemlos aufgenommen, integriert und sogar mit weitreichenden Rechten ausgestattet wurden.

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Vgl. dazu ausführlich und mit weiterer Literatur: Schich [Anm. 30], S. 232f.; Schich [Anm. 2], S. 46. Schich [Anm. 6], S. 59f. Vgl. dazu beispielsweise Philippe Dollinger, Die Hanse. Stuttgart 1989, S. 401-427. Vgl. dazu die zahlreichen Beispiele bei Eibl [Anm. 33], S. 86-97 und Knut Schulz, Störer, Stümper, Pfuscher, Bönhasen und „Fremde“. In: Helmut Jäger, Franz Petri u. Heinz Quirin (Hgg.), Civitatum communitas. Studien zum europäischen Städtewesen. Festschrift für Heinz Stoob zum 65. Geburtstag, Bd. 2 (Städteforschung A/21, 2). Köln u. a. 1984, S. 583705.

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Wissenstransfer im Handwerk anhand archäologischer Quellen Die Region des Mare Balticum ist und war in Gegenwart und Geschichte stets eine Zone fruchtbarer Austauschbeziehungen. Gerade in den städtearmen Regionen des „baltic rim“ kommt den Zentralorten des 10.-12. Jahrhunderts wie den späteren „Gründungsstädten“ in Form der gegenseitigen Wahrnehmung und Begegnung deutscher, skan– dinavischer, baltischer und slawischer Bevölkerung eine weitreichende Bedeutung zu. Dies gilt insbesondere für den südlichen Ostseeraum, wo der Landesausbau vielfach zu einem Technologietransfer führte, der sich vor dem Hintergrund einheimischer Traditionen vollzog.45 Dort, wo von der früheren Forschung vielfach Brüche postuliert wurden, zeigen sich inzwischen eher fließende Übergänge. Keramik ist im archäologischen Fundmaterial nicht nur in großen Mengen vertreten, sondern fand in der mittelalterlichen Gesellschaft vielfältige Verwendung. Die Herstellung von Keramik kann sowohl als Laienarbeit als auch hochspezialisiert betrieben werden und bietet sich somit an, um Prozesse des Wissens- und Technologietransfers aufzuzeigen. Bis zum hochmittelalterlichen Landesausbau dominierte im östlichen Mitteleuropa – den Siedlungsgebieten der westlichen Slawen – die sogenannte „slawische Keramik“.46 In den nördlichen Gebieten zwischen Elbe und Weichsel setzte sich im Verlauf des 10./11. Jahrhunderts die Gurtfurchenware durch.47 Sie wurde weitestgehend auf der schnell rotierenden Töpferscheibe gefertigt. Dies stellt im Vergleich zu den vorherigen Waren einen technologischen Fortschritt dar, und ihre Entwicklung ist sicherlich vor dem Hintergrund der frühen Staatsbildungsprozesse bei den Piasten und Abo45

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Ulrich Müller, Handwerk in Hansestädten des südlichen Ostseeraumes. Bemerkungen zum Forschungsstand und zur Problemstellung. In: Ders. (Hg.), Handwerk – Stadt – Hanse. Ergebnisse der Archäologie zum mittelalterlichen Handwerk an der südlichen Ostseeküste (Greifswalder Mitteilungen 4). Frankfurt a. M. 2000, S. 9-36, hier S. 17-20; ders., Riga – Greifswald – Lübeck: Archäologische Nachweise zum städtischen Handwerk. In: Ilgvars M$sans u. Horst Wernicke (Hgg.): Riga und der Ostseeraum. Von der Gründnung 1201 bis in die Frühe Neuzeit (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung 22). Marburg 2005, S. 116143; s. a. Christian Lübke u. Ulrich Müller (Hgg.), Innovation, Professionalisierung und Technologietransfer im mittelalterlichen Handwerk. Zeitschrift für Archäologier des Mittelalters 34, 2006. Sebastian Brather, Früh- und hochmittelalterliche Keramik bei den Westslawen. In: Alfried Wieczorek u. Hans-Martin Hinz (Hgg.), Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, Bd. 1. Stuttgart 2000, S. 114-120. Thorsten Kempke, Die slawische Keramik. In: Hartwig Lüdtke u. Kurt Schietzel (Hgg.), Handbuch zur mittelalterlichen Keramik in Nordeuropa (Schriften des Archäologischen Landesmuseums 6). Neumünster 2001, S. 209-256; Felix Biermann, Über das erste Auftreten spätslawischer Keramik in Ostdeutschland und Polen. EthnographischArchäologische Zeitschrift 43 (2002), S. 61-92.

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driten zu sehen, die die wirtschaftlichen Voraussetzungen schufen. Die ältere Forschung meinte eine von äußeren Einflüssen nahezu abgeschlossene Entwicklung der Keramik der westlichen Slawen erkennen zu können, doch neuere Studien thematisieren den Wissens- und Techniktransfer für den Limes Saxoniae und die Ostseeanrainer.48 Im Zuge des Landesausbaues erscheint seit dem 12. Jahrhundert in den Gebieten östlich der Elbe eine reduzierend, hart gebrannte Keramik, deren Vorläufer in den Altsiedelländern zu suchen ist.49 Die ältere Forschung hat diesen Prozess vielfach ethnisch gedeutet, als eine linear in west-östlicher Richtung verlaufende Entwicklung beschrieben und den Niedergang der slawischen Keramik durch den Import der Harten Grauware betont.50 Inzwischen weiß man um die Differenziertheit der Vorgänge. Weder kann man das Auftreten und die Nutzung ethnisch determinieren noch ihre Ausbreitung im Sinne eines diffusionistischen Modells nachzeichnen.51 Darüber hinaus belegen zahlreiche Studien, dass auch nach Ausbildung der hochmittelalterlichen Rechtsstadt in nicht unerheblichen Quantitäten die einheimische Ware benutzt wurde und im ländlichen Siedlungsraum sicherlich mit einer noch stärkeren Kontinuität zu rechnen sein wird.52 In diesem Sinne wird es auch verständlich, dass die Harte Grauware nicht einheitlich zu einem bestimmten Zeitpunkt auftritt, sondern es zahlreiche „Übergangsformen“ gibt, die innerethnischen und interethnischen Technologietransfer belegen. Dies wird vor allem an den spätestslawischen Waren deutlich, deren Brand deutlich härter ist, und deren Form48

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Sebastian Brather, Feldberger Keramik und frühe Slawen. Studien zur nordwestslawischen Keramik der Karolingerzeit (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 34). Bonn 1996, S. 167-175; Mats Roslund, Gäster i huset. Kulturell överföring mellan slaver och skandinaver 900 till 1300 (Skrifter av Vetenskapssocieten i Lund 92). Lund 2001. Hartwig Lüdtke, Grauware des 12. bis 15. Jahrhunderts. In: Hartwig Lüdtke u. Kurt Schietzel (s. Anm. 47), S. 83-174, hier S. 151-164; Felix Biermann, Die mittelalterliche Keramik der Ausgrabung Altstädtische Fischerstraße 5-6 zu Brandenburg an der Havel. Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landesmuseums für Ur- und Frühgeschichte 33 (2002), S. 179-268, hier S. 187-191; Marian R,bkowski, #redniowieczna keramika miasta lokacyjnego w Ko*obrzegu. Ko*obrzeg 1995, S. 87-105. Zur Forschungsgeschichte: Günter Mangelsdorf, Untersuchungen zur Formenkunde spätmittelalterlicher Keramik im westlichen Brandenburg (Europäische Hochschulschriften Reihe 38, Archäologie 50). Frankfurt a. M. u. a. 1994, S. 22-28. So beispielsweise Sebastian Brather, „Gründungsstädte“ oder Ausbau slawischer Siedlungen? Die Aussagekraft der hochmittelalterlichen Bodenfunde zum Verhältnis von Slawen und Deutschen. In: Krzysztof Wachowski u. Jerzy Piekalski (Hgg.), #redniowieczny #l+sk i Czechy. Centrum $redniowiecznego miasta. Wroc*aw a Europa $rodkowa (Wratislavia Antiqua 2). Wroc*aw 2000, S. 113-126. Rüdiger Schniek, Archäologische Studien zur nachslawischen Besiedlung zwischen Limes Saxoniae und Warnow (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 103). Bonn 2003, S. 75-80; Fred Ruchhöft, Das Ende der spätslawischen Keramik in MecklenburgVorpommern. Bodendenkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern, Jahrbuch 50 (2002), S. 339-352; Marian R,bkoswki, Pierwsze lokacje miast w ksi,stwie zachodniopomorskim. Przemiany przestrzenne i kulturowe. Ko*obrzeg 2001, S. 160-176.

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gebung sich an die hochmittelalterlichen, kolonisationszeitlichen Formen anlehnt (Abb. 2, 1-2). Weiterhin entspricht die als „Harte Grauware Var. A“ bezeichnete Keramik in ihrem technologischen Entwicklungsstand zunächst vielfach noch der jungslawischen Keramik und bot so gesehen kaum Vorteile. Lediglich die Kugeltopfform, zunehmend als Dreibeintopf auftretend, war Ausdruck veränderter Koch- und Bevorratungsstrategien (Abb. 2, 3-4). Der Durchbruch erfolgte schließlich in Form der qualitativ hochwertigeren Keramik, die als „Harte Grauware Variante B“ bezeichnet wird. Deren Herstellung ist das Ergebnis miteinander verbundener Prozess- und Produktinnovationen. Weniger durch die schnell rotierende Töpferscheibe als in der Übernahme und der Fortentwicklung der Ofensysteme erzielten die Töpfer eine marktorientierte Produktion. Der liegende Töpferofen mit zwei Kammern, wie er anhand von Befunden aus Göttin 53 für die Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts aus den Gebieten östlich der Elbe nachgewiesen werden kann, stellt eine solche Innovation dar. Das sich im 13. Jahrhundert rasch ausweitende Formenspektrum reicht von Töpfen über Kannen und Krügen bis hin zu Bechern und belegt handwerkliche Innovationen im Kontext eines neuen, letztlich urbanen Lebenszuschnittes mit veränderten Konsumgewohnheiten. Aus handwerkstechnischer Sicht reflektiert dies einen Prozess der Professionalisierung mit einer quantitativen wie qualitativen Steigerung der Produktion bei einer zunehmenden Standardisierung und Normierung der Produkte. Lassen sich über die Produktion und Nutzung der Harten Grauware interethische Kontakte recht gut fassen, so stellen Gefäße aus „roter glasierter Irdenware“ eine Neuerung im 13. Jahrhundert dar. Auch wenn bereits seit dem frühen Mittelalter glasierte Waren an die Fernhandelplätze der Nord- und Ostseeküste gelangen, führt die Intensivierung und Normierung eines nord-ostseeumgreifenden Handelssystems seit dem 13. Jahrhundert zu einem vermehrten Zustrom. Die polychrome wie bleiglasierte Keramik aus englischen sowie belgisch-nordfranzösischen Regionen besitzt eine dichte Verbreitung bis nach Skandinavien und lässt im Ostseeraum eine Bindung an die urbanen Zentren zwischen Lübeck und Nowgorod erkennen.54 Die Kannen und Krüge, seltener Becher, waren Teil eines gehobenen Lebensstiles, bei dem keramisches Tischgeschirr eine nicht unbedeutende Rolle spielte.55 Die Waren, die als Handelsgut, sicherlich aber auch über andere 53

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Felix Biermann, Der mittelalterliche Töpferofen von Göttin, Stadt Brandenburg an der Havel. Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landesmuseums für Ur- und Frühgeschichte 32 (1998), S. 189-236. David Gaimster, Der Keramikmarkt im Ostseeraum 1200 bis 1600. In: Manfred Gläser (Hg.), Lübecker Kolloquiun zur Stadtarchäologie im Hanseraum II – Der Handel. Lübeck 1999, S. 101 Abb. 1; Heiko Schäfer, Flandrische und nordfranzösische Importkeramik im hochmittelalterlichen Greifswald. Baltische Studien 83 (1997), S. 24-30; Frans Verhaeghe, La céramique très decorée du Bas Moyen Age en Flandre. In: Gilles Blieck u. a. (Hgg.), Travaux du groupe de recherches et d’études sur la céramique dans le Nord-pas-de-Callais. Saint-Josse-sur-Mère 1989, S. 19-113. Ulrich Müller, Tradition und Novation – Bemerkungen zum Wandel des Tischgeschirrs anhand von Beispielen aus Städten des südlichen Ostseeraumes. In: Detlef Kattinger, Jens E.

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Kanäle in den Ostseeraum gelangten, boten vielfach einen Anreiz für die Töpfer, dieses Statussymbol zeitgemäßer Tischkultur auch in die eigenen Produktionslinien aufzunehmen. Töpfereien im städtischen Umfeld, aber auch im Besitz von Klöstern oder Adeligen auf dem Lande, gingen dazu über, bleiglasierte Keramik zu produzieren.56 Kannen und Krüge, stellenweise auch Schalen und Schüsseln, sind mit plastischen Verzierungen versehen und in flämischer oder südskandinavischer Tradition gefertigt (Abb. 3). Auch die vielfältigen Figurenapplikationen gehen auf westliche Einflüsse und Vorbilder zurück.57 Die hierfür notwendigen Ofensysteme waren vielfach dieselben, die auch für die Produktion grauer Irdenwaren verwendet wurden. Der in Lübeck, Koberg 12-15, untersuchte Ofen aus dem frühen 13. Jahrhundert lässt sich als ein stehender Ofen rekonstruieren.58 Die Funde aus dem Ofen und seinem Umfeld belegen die Produktion unterschiedlicher Waren, darunter auch rote glasierte Irdenware, wie sie zeitgleich in Dänemark und Südskandinavien hergestellt wurde. Auch Imitationsprozesse und Adaptionen sind vielfach belegt. Auflagen mit Schuppen oder Nuppen weisen Parallelen zu nordwestlichen Keramiken auf, doch lassen sich auch Vergleiche zu den langsam aufkommenden Bronzekannen ziehen.59 Die grenzüberschreitenden Kommunikationsstrukturen – ob durch Konsumenten, Produzenten oder durch die Gegenstände vermittelt – belegen auch die sogenannten monk-faces, die im 13. Jahrhundert vornehmlich im südlichen Mare balticum erscheinen.60 Markant sind die frei modellierten, drei- bis viertelplastischen Köpfe, die von einer verhüllenden Kopftracht eingerahmt sind. Vorbilder lassen sich im englischen Bereich ausmachen; ging die ältere Forschung noch von einer Herstellung in Skandinavien aus, so liegen nunmehr auch Nachweise für die Produktion an der südlichen Ostseeküste vor. Dieser Formentausch, der mit Vorlagen, Mustern, Ideen und Konzepten die Grenzen zwischen Handwerkern überwand, ist

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Olesen u. Horst Wernicke (Hgg.), Der Ostseeraum und Kontinentaleuropa (1100-1700). Einflußnahme – Rezeption – Wandel (Culture clash or compromise 8). Schwerin 2004, S. 59-76; Peter Carelli, En kapitalistisk anda. Kulturella förändringar i 1100-talets Danmark (Lund studies in medieval archaeology 26). Lund 2001, S. 159-165. Verena Hoffmann u. Heiko Schäfer, Von Töpfer Conrad zu Töpfermeister Richard Kleinschmidt. Töpferei vom Hochmittelalter bis in die jüngste Zeit. In: Hauke Jöns, Friedrich Lüth u. Heiko Schäfer (Hgg.), Archäologie unter dem Straßenpflaster. 15 Jahre Stadtarchäologie in Mecklenburg-Vorpommern (Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns 39). Schwerin 2005, S. 263-268; Heiko Schäfer, Anthropomorph verzierte Gefäßkeramik des 13. Jahrhunderts aus Mecklenburg-Vorpommern. Bodendenkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern, Jahrbuch 46 (1998), S. 223-241. Schäfer [Anm. 56], S. 229-232. Klaus Buchin u. Wolfgang Erdmann, Keramiktechnologie und Brennofen. Untersuchungen und Rekonstruktion zur Töpferei des 13. Jahrhunderts am Koberg zu Lübeck. Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte 12 (1986), S. 41-66. Müller [Anm. 55], S. 65 Abb. 9. Marie Foged Klemensen, Munkeansigter – antropomorf dekoration pa middelalderlige glaserede kander. In: Anno Domini 2 (1996), S. 53-61; Schäfer [Anm. 56], S. 232-234; Müller [Anm. 55], S. 62 Abb. 8.

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bislang kaum erforscht, doch bildet er ein wichtiges Element sozialer Distinktion.61 Ob als Objekt- oder Ideenwanderung, ob in Form von Gefäßen, Konsumenten oder Produzenten, zeugen diese Prozesse von einem vielschichtigen Transfer. Das Know-how der Herstellung beinhaltete nicht nur das Wissen um die Form oder die Arbeitsschritte der Gefäßformung, sondern auch entsprechende Kenntnisse über die Beschaffung und Zusammensetzung der Glasuren, den Ofenbau und die korrekte Befeuerung. Über die lokale Produktion von Grauwaren und glasierten Waren hinausreichend, gelangte ab dem 13. Jahrhundert das Steinzeug als konkurrierendes Produkt auf den Markt. Bei Steinzeugen handelt es sich um eine Keramik, die durch die vollständige Versinterung des Scherbens gekennzeichnet ist.62 Durch die Verschmelzung aller im Ton vorkommenden Partikel – der Versinterung – ist diese Keramik extrem hart, wasserundurchlässig und weitestgehend säurefest, doch nur bedingt hitzebeständig. Das Formenspektrum umfasst daher vor allem Schenk- und Trinkgeschirr sowie mit dem Mahl verbundene Utensilien wie Leuchter, Aquamanilen oder Gewürzbehältnisse. Um dergestalt hochwertige Ware zu produzieren, waren Temperaturen über 1200° C und über längere Zeit notwendig. Damit dies überhaupt erreicht werden konnte, mussten zwei Faktoren zusammenwirken: Das Vorhandensein von feinen, hochplastischen Tonen aus oberflächennahen Lagern, die vor allem aus Regionen stammen, die sich in einem breiten Streifen west-östlich durch die Mittelgebirgszone ziehen. Weiterhin musste auch ein Ofensystem vorhanden sein, mit dem diese hohen Temperaturen erzeugt werden konnten. Die Entwicklung von Steinzeug kann als ein Beispiel für Produkt- und Prozessinnovationen verstanden werden, bei dem die Verfügbarkeit eines speziellen Rohstoffes (Lagerstätten), eine verfeinerte Brenntechnologie und das Know-how der Töpfer ineinander greifen. Dementsprechend lassen sich auch zahlreiche Vorstufen der Steinzeugproduktion fassen. Im archäologischen Fundmaterial sind zahlreiche Waren vorhanden, die als Fast- oder Protosteinzeuge bezeichnet werden.63 Sie deuten Experimentierphasen an, die zu unterschiedlichen Entwicklungsständen der Brenntechnologie zugeordnet werden können, ohne dass es zu einer stringenten Weiterentwicklung gekommen ist. Diese Steinzeugvorstufen zeichnen sich durch eine Teilsinterung des Scherbens aus und setzten sich auch durch ein verändertes Formenspektrum von den Irdenwaren ab. Sie sind bei deutlich höheren Temperaturen und über einen längeren Zeitraum gebrannt, zugleich ist die Keramik im Vergleich zur Irdenware deutlich dünnwandiger, weist eine verbesserte Festigkeit auf und besitzt eine geringere Wasserdurchlässigkeit. 61

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Frans Verhaeghe, Ewers and ewers. An aspect of competion between artisans. Arkeologiske skrifter fra Universitetet i Bergen 5 (1989), S. 199-227. Zum Folgenden: Marion Roehmer, Steinzeug. In: Hartwig Lüdtke u. Kurt Schietzel (Anm. 47), S. 465-538; David Gaimster, German stoneware 1200 – 1900. Archaeology and cultural history. London 1997. Zum Ostseeraum: Heiko Schäfer, Faststeinzeuge und Steinzeuge des 13. bis 15. Jahrhunderts aus der Hansestadt Rostock. Eine Studie zu Chronologie, Handel, Lebensweise und Terminologie. Dipl. Arbeit Univ. Rostock 1991.

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Damit waren letztlich zwei getrennte Entwicklungslinien vorgezeichnet. Die Herstellung von Irdenware ist aufgrund der geringeren Temperatur und der Brenndauer, aber auch der Brenntechnologie insgesamt einfacher und kostengünstiger herzustellen. Zudem war sie nicht lagerstättengebunden. Dies und der Umstand, dass Protosteinzeuge und Steinzeuge hitzeempfindlich sind, bedeutet, dass die traditionelle Irdenwarenproduktion auch in den sich etablierenden Zentren der Steinzeugproduktion fortgesetzt wurde. Außerhalb der Zentren der Steinzeugproduktion im Rheinland, Südniedersachsen oder Sachsen ist regionale oder lokale Produktion nicht nachweisbar. Auch wenn der Innovationsprozess nicht linear verlief und „Experimentierphasen“ sowie eigenständige Produktionslinien deutlich fassbar werden, so wurde bis zur Wende zum 14. Jahrhundert der keramische Markt in den Nord- und Ostseeküstenregionen bis zur Mittelgebirgsschwelle aufgerollt.64 Die Dominanz der neuen Ware und der neuen Formen zeigt sich vor allem im städtischen Umfeld, doch sind Steinzeuge auch in größerer Zahl auf Herrensitzen und in ländlichen Siedlungen vertreten. Aufgrund des schlechteren Forschungsstandes zu diesen Anlagen kann man also nicht unmittelbar davon ausgehen, dass die Distribution generell nur über den städtischen Markt erfolgte. Für den unmittelbaren Küstenbereich mit den Hansestädten wird man allerdings dieser Distributionsform den Vorrang einräumen müssen. Anhand der Untersuchungen in den Küstenstädten lässt sich auch nachzeichnen, wie die Protosteinzeuge und dann Steinzeuge als Bestandteil des keramischen Tischgeschirrs rezipiert wurden. So dominiert auf den zahlreichen innerstädtischen Fundplätzen Rostocks bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts noch die Harte Grauware. Zwischen dem ausgehenden 13. Jahrhundert und dem beginnenden 14. Jahrhundert kam es dann zur schrittweisen Verdrängung der Grauwaren und glasierten Irdenwaren durch Faststeinzeuge und Steinzeuge.65 In Lübeck erscheinen Faststeinzeuge bereits im frühen 13. Jahrhundert, Steinzeuge in größeren Mengenanteilen treten seit dem späten 13. Jahrhundert auf verschiedenen Fundplätzen in Erscheinung.66 Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich auch für Kolberg (Abb. 4) oder für die im Binnenland liegende Stadt Brandenburg.67 Seit dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts sind Faststeinzeuge unterschiedlicher Provenienz bereits in erheblichen Mengenanteilen nachzuweisen, doch erst „um 1300“ verdrängten Steinzeuge Siegburger Produktion zunehmend die bis dahin benutzten Waren. So lässt sich auch für Mecklenburg-Vorpommern erkennen, dass Steinzeuge rheinischer, südniedersächsischer und sächsischer Produktion um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert in größeren Quantitäten und regelmäßig nachzuweisen 64

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Hans-Georg Stephan, Deutsche Keramik im Handelsraum der Hanse. In: Günther Wiegelmann u. Ruth-Elisabeth Mohrmann (Hgg.), Nahrung und Tischkultur im Hanseraum (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 91). Münster 1997, S. 95-124. Zum Folgenden vgl. Müller [Anm. 55], S. 60-61 Abb. 1-5. Uwe Müller, Die Keramikfunde der archäologischen Untersuchungen im Handwerkerviertel zu Lübeck, Hundestraße 9-11. Lübecker Schriften zu Archäologie und Kulturgeschichte 24 (1996), S. 215-263. Biermann [Anm. 49], Abb. 35.

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sind.68 Um diese Vorgänge im Detail nachzuzeichnen, wäre es notwendig, die soziale Bindung des Fundmaterials der einzelnen Fundplätze zu erfassen und im Vergleich mit weiteren Materialien wie Holz, Glas und Metall zu bewerten. Auch wenn derartige Untersuchungen bislang noch nicht vorliegen, so zeigen die oben beschriebenen Tendenzen, dass der Import von Trink- und Schenkgeschirr aus Steinzeugen ab der Zeit „um 1300“ eine regelhafte Erscheinung ist. Auch wenn der keramische Markt zunehmend von Steinzeugen dominiert wird, so bleiben die „traditionellen“ Waren durchaus erhalten. Ähnlich wie dies bereits für die bleiglasierten Irdenwaren regionaler Produktion beschrieben werden konnte, greifen die Töpfer an der südlichen Ostseeküste gezielt das Formengut der importierten Steinzeuge auf.69 So werden Becher, Kannen und Krüge aus der Steinzeugproduktion auch in Form der Harten Grauware zur Verfügung gestellt. Zwar besitzen diese Produkte einheimischer Herstellung keine der technischen Eigenschaften, die ihre Vorbilder auszeichnen, jedoch stellte die Imitation bzw. Adaption von Gefäßformen auch eine der Funktionen dar. Die Handwerker orientierten sich an den Bedürfnissen der Konsumenten, doch wäre es zu kurz gegriffen, für die unterschiedlichen Waren unterschiedliche Nutzerschichten zu sehen. Essen und Trinken stellen ein komplexes System dar, das über soziale Positionen hinaus zahlreiche situative Elemente kennt. Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass die Herstellung und Distribution von Steinzeugen eine Grenze handwerklicher Produktion nachzeichnet. Vor allem die Rohstoffbindung, aber sicherlich auch umfangreiche marktrechtliche Regelungen sorgten dafür, dass es nicht zu einem Technologietransfer und somit zu Herstellung dieser begehrten Waren außerhalb der bekannten Zentren der Steinzeugproduktion kam.70 Die zahlreichen Warenarten und Gefäßtypen der Zeit des 10./11. bis 15. Jahrhunderts in den Regionen östlich der Elbe sind ein Ausdruck vielschichtiger handwerklicher Prozesse im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel. Mit den erstmalig seit dem hohen Mittelalter auftretenden Grauwaren werden zwar keine ethnisch determinierten Grenzen der Herstellung und Nutzung erfasst, wohl aber ein Vordringen andersartiger Kulturformen im Zuge des Landesausbaues. In der Verschränkung von Prozessinnovationen wie dem liegenden Töpferofen und Produktinnovationen wie den Kugeltöpfen werden Vorgänge fassbar, die Teil eines umfassenden Technologie- und Wissenstransfers sind. Die glasierte rote Irdenware, die zumindest im keramischen Segment des 13. Jahrhunderts einen Artikel höherer Qualität darstellt, besitzt ihre Wurzeln in den westeuropäischen Regionen und stellte ein begehrtes Handelsobjekt dar. Im Zuge der Urbanisierung gingen die Töpfer im Ostseeraum dazu über, die Vorbilder aufzugreifen und über Imitationen hinaus lokale Varianten zu entwickeln, die eigenständige Interpretationen darstellen. Die Grundlage hierzu bilden der Austausch von Ideen und materiellen Gütern im Zuge des Handels. Eine Grenze des handwerklichen Wissens und 68

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Heiko Schäfer, Zur Keramik des 13. bis 15. Jahrhunderts in Mecklenburg-Vorpommern. Bodendenkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern, Jahrbuch 44 (1997), S. 297-335. Müller [Anm. 55], S. 65 Abb. 9. Roehmer [Anm. 62], S. 469.

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der Produktion zeichnen die Protosteinzeuge und Steinzeuge nach, die ab dem späten 13. Jahrhundert den keramischen Markt im Ostseeraum dominierten. Rohstoffdeterminiertheit, aber sicherlich auch protektionistische Abgrenzung machen es den lokalen und regionalen Töpfern unmöglich, an dieser erfolgreichen Produktinnovation teilzuhaben. Alle drei Beispiele belegen, dass neue handwerkliche, vielfach standardisierte Techniken adaptiert und den lokalen Besonderheiten angepasst wurden. In diesem Wissens- und Technologietransfer erscheinen die Handwerker als aktive Entwickler und Mitwirkende von Produkt- und Verfahrensinnovationen, selbst wenn überregional gebündeltes Handelskapital und die damit verbundene Infrastruktur für die großräumige Vermittlung von Innovationen eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Vielfältigkeit handwerklicher Tätigkeiten, die Kenntnis regionaler Märkte und die Nutzung regionaler Bezüge mit spezifischen Strukturen erlaubten es den im handwerklichen Bereich Tätigen, sowohl auf schnell externe Einflüsse zu reagieren als auch lokale Strategien zu entwickeln.

Austausch von Wissen, Sprachlicher Transfer und die Entstehung von Fachsprachen Die Quellen zur Fachkommunikation der mittelalterlichen und besonders der slawischen Handwerker in Mecklenburg, Brandenburg und Pommern sind nur spärlich. Vor allem deshalb wird die anfängliche Periode dieser Entwicklung bis ins 17. Jahrhundert in den Überblickswerken zur Geschichte der Fachsprachen kaum berührt oder überhaupt nicht erwähnt.71 Infolgedessen wurde auch in der Fachsprachenforschung die Frage nach den Grenzen zwischen einer nichtfachsprachlichen Kommunikation und einer Fachsprache selten diskutiert. Doch obwohl nicht jede handwerkliche Tätigkeit eine hohe Qualifikation und ein spezifisches Vokabular verlangt, entstanden viele der Produkte, die in den mittelalterlichen Zentralorten, Burg- und Gründungsstädten des südlichen Ostseeraumes gefertigt wurden, nur dank der besonderen Fertigkeiten spezialisierter Kräfte. Eine sprachhistorische Untersuchung von Fachsprachen offenbart eine besondere Schwierigkeit für die Beschreibung ihrer Anfänge, die den Problemen bei der Erforschung des Handwerks im Mittelalter in vieler Hinsicht ähnelt. Die erhoffte Rekonstruktion der Fachsprachen allein auf der Grundlage der verwendeten Quellen muss zu großen Teilen hypothetisch bleiben, da erstens die Kommunikation der mittelalterlichen Handwerker zum größten Teil mündlich verlief, zweitens die wenigen schriftlichen 71

Erhard Barth, Fachsprachen. Eine Bibliographie. Germanistische Linguistik 3 (1971), S. 209-363; Hans-Rüdiger Fluck, Fachsprachen. Einführung und Bibliographie (UTB für Wissenschaft 483). Tübingen 1991; Jörn Albrecht u.a. (Hgg.), Fachsprache und Terminologie in Geschichte und Gegenwart (Forum für Fachsprachen-Forschung 14). Tübingen 1992; Thomas Roelcke, Fachsprachen (Grundlagen der Germanistik 37). Berlin 2005; Hadumod Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart 2002.

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Quellen zum Handwerk, die erhalten geblieben sind (Anweisungen, Anleitungen, Darstellungen), vielfach in Latein verfasst sind oder sie drittens aufgrund fehlender fachlicher Spezifik nur bedingt als Forschungsmaterial brauchbar sind. Der Rekonstruktionsversuch eines fachsprachlichen Bereichs für die historischen slawischen Sprachen im südlichen Ostseeraum und Brandenburg erfolgt auf der Grundlage archaischer sprachlicher Elemente und des umfangreichen Bestandes an Lehnwörtern und Lehnbedeutungen in der deutschen und den slawischen Sprachen. Alle diese sprachlichen Relikte sind ein Hinweis auf einen intensiven interethnischen Kontakt und auf allgemeinen Sprachtransfer im Mittelalter. Der Austausch schließt sowohl die Weitergabe von Wissen und Erfahrung, als auch die eng damit verbundenen sprachlichen Entlehnungsprozesse im südlichen Ostseeraum ein. Dabei stammte das Wissen über neue Materialien, Technologien und Produkte in den Hansestädten nicht nur aus Westeuropa, sondern auch aus dem Norden und Osten, etwa aus Polen und der Kiewer Rus. Das Einhergehen von Innovation, Wissenstransfer und sprachlicher Innovation lässt sich besonders gut anhand der mittelalterlichen Pelzverarbeitung bzw. der langen Pelzhandelstradition zwischen Ost und West dokumentieren. Schon früh, wahrscheinlich im 11. Jahrhundert, wurden durch Pelzhändler die ostslawischen Pelztier- bzw. Pelzbezeichnungen hamustro/hamastra „Hamster“ und zobel „Marderart mit wertvollem Pelz“ in den althochdeutschsprachigen Raum eingeführt.72 Es waren keine genuin slawischen Wörter. Pelzhändler der Kiewer Rus haben sie aus dem Altiranischen bzw. dem Altindischen übernommen, dann aber bis weit in den Westen, ins Frankenreich und auf die Britischen Inseln verbreitet. Das Neue für das west- und mitteleuropäische Mittelalter bestand zum einen darin, dass die Materialpalette für die Bekleidungshandwerke um billige oder edle Sorten bereichert wurde. Somit wurde zum anderen die Grundlage für neue Bekleidungsformen (vor allem Pelzmäntel und Kopfbedeckungen) oder für Formen des schmückenden Beiwerks gelegt. Ein sehr altes Beispiel für die Entlehnung von Lexik der Pelzverarbeitung und des Pelzhandels ist das slawische Wort *krz"no „Pelz; Pelzrock; mit Pelz verbrämter Mantel“.73 In die lateinische, die althochdeutsche, mittelhochdeutsche und mittelniederdeutsche Sprache ist diese Entlehnung wohl aus dem Altrussischen gelangt. Sie erreichte auf zwei Wegen die Handwerkssprachen des Mittelalters, nämlich auf direktem Wege und über das Lateinische. Darüber hinaus wurde das fremde Wort dort nicht nur erfolgreich in das lexikalisch-semantische System eingegliedert, sondern auch selbst Ausgangspunkt für eine erneute Wortbildung. Im Zuge der mittelalterlichen Spezialisierungen in der Pelzverarbeitung entstand aus althochdeutsch chursinna für den „Pelzrock“ das Wort kursin(ri und aus dem mittelhochdeutschen kürse/n in derselben 72

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Hans-Holm Bielfeldt, Die Entlehnungen aus den verschiedenen slavischen Sprachen im Wortschatz der neuhochdeutschen Schriftsprache (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst 1). Berlin 1965, S. 1-59, hier S. 14; Hans-Holm Bielfeldt, Russische Lehnwörter in deutschen Mundarten. Zeitschrift für Slawistik 12 (1967), S. 627-638, hier S. 627. Bielfeldt 1965 [Anm. 72], hier S. 54.

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Bedeutung die Handwerkerbezeichnung kürsenaere „Kürschner“, die wiederum als Lehnwort in fast alle slawische Sprachen Eingang fand.74 Diese Wortgeschichte ist also ein Beispiel dafür, dass sich die einzelnen Mundarten im Rahmen der interethnischen Kommunikation auf sehr unterschiedlicher Basis, aber gegenseitig mit neuer Fachlexik bereichert haben. Da das slawische *krz%no und das altrussische *k$rz%no auch von der allgemeinen europäischen Verkehrssprache Latein (crusina) und von west- und mitteleuropäischen Sprachen aufgenommen worden ist, kann angenommen werden, dass sich die Kürse tatsächlich von allen bis dahin existierenden Kleidungsstücken aus Pelz durch die Herstellungsart und das Aussehen unterschied. Es handelte sich hierbei wohl nicht um den zu einem einfachen Umhang verarbeiteten Pelz, sondern um einen europaweit begehrten, mit Pelz kunstfertig verbrämten Mantel oder Rock. Eventuell war deshalb sowohl das Produkt als auch die Herstellungsart im 11. bzw. 12. Jahrhundert eine osteuropäische Novität. Sowohl in der kaschubischen als auch in der polnischen oder russischen Sprache gibt es je zwei Wörter für den mittelalterlichen Pelzverarbeiter: Ein mit eigenen sprachlichen Mitteln gebildetes (kuo#ë0%ik, ko(usznik, ko#evnik) und ein aus den deutschen Mundarten entlehntes Wort (kuú0%$&, ku'nierz, ku0ner). Sowohl in der kaschubischen als auch in der polnischen Sprache werden die Lehnwörter heute allgemein verbreitet in der Bedeutung „Kürschner“ gebraucht, während kuo#ë0%ik und ko(usznik in die Peripherie des lexikalischen Systems verdrängt worden sind. Eine ähnliche Entwicklung ist in der deutschen Schriftsprache für den Ausdruck Pelzer zu verzeichnen, das dem neueren Kürschner spätestens seit dem 18. Jahrhundert seinen Platz abtreten musste. Bei ko(usznik handelt es sich wohl um eine Lehnübersetzung, die nach dem deutschen Muster Pelz-Pelzer gebildet worden ist, während das heute veraltete autochthone Wort skórnik „Gerber“ die ursprüngliche und undifferenzierte Bezeichnung für Leder- und Pelzproduzenten gewesen sein muss.75 Die ostseeslawischen Mundarten haben wahrscheinlich alle heute noch existierenden Ausdrücke für den Pelzverarbeiter in der einen oder anderen Weise entlehnt. Für das Lehnwort aus der mittelniederdeutschen Sprache (vielleicht durch Vermittlung über das Polnische) hat Friedrich LORENTZ vier mundartlichen Varianten gesammelt (kuú0%$&, kuusm’$&, kuu0n$&, kuu0n&&). Das höchstwahrscheinlich aus dem Polnischen entlehnte kuo#ë0%ik gibt es nur in einer Variante.76 Im Russischen steht als Berufsbezeichnung für den Kürschner skornjak, was insgesamt für die slawischen Sprachen einzigartig ist. Daneben ist auch das Wort ku0ner in den russischen Wörterbüchern zu finden, welches in sehr viel späterer Zeit aus dem Polnischen, Weißrussischen oder Ukrainischen entlehnt worden ist. Jedoch hat sich dieses Lehnwort nicht 74

75

76

Siehe dazu ausführlich bei Maria Frenzel, Die Handwerkerbezeichnungen im Westslawischen. Diss. Masch. Berlin 1968. So auch Bernhard Symanzik, Die alt- und mittelpolnischen Handwerkerbezeichnungen (Veröffentlichungen des Slavisch-Baltischen Seminars der Universität Münster 2). Münster 1993, S. 134. Friedrich Lorentz, Pomoranisches Wörterbuch. Berlin 1958-1975, hier Bd. 1, S. 434.

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durchgesetzt, es wird noch heute als Fremd- bzw. Lehnwort empfunden und nur regional verwendet. Diese scheinbar synonymen Beispiele aus den drei slawischen Sprachen offenbaren aufgrund des Platzes der Wörter im Wortschatz, der Häufigkeit und Sphäre ihrer Verwendung auch eine semantische Differenzierung. Die in den slawischen Sprachen wahrscheinlich nach mittelniederdeutschem Muster gebildeten Lehnwörter bedeuteten möglicherweise nicht das gleiche wie die entsprechenden, mit eigenen sprachlichen Mitteln gebildeten Bezeichnungen. Konnotativ war der Begriffsinhalt der neuen, aus den mittelalterlichen deutschen Städten stammenden Berufsbezeichnung eng mit dem deutschrechtlichen Zunftwesen und der voranschreitenden Professionalisierung im späten Mittelalter verbunden. Das Lehnwort konnte sich vor allem dort ausbreiten, wo der unmittelbare Kontakt der einheimischen Slawen mit deutschrechtlichen Städten und ihren Amtshandwerkern bzw. Händlern vorhanden war, z. B. in Danzig, Breslau oder Krakau. Die Organisation der Kürschner in Ämter setzte auf polnischem Boden im 13. und 14. Jahrhundert ein. Das altpolnische Wort kursznyersz erscheint zum ersten Mal im Jahre 1463 in einem lateinischsprachigen Text eines Rechtsbuches der Stadt Krakau.77 Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts setzt es sich in der polnischen Sprache schnell durch. Das Wort kozuschnyk findet sich erstmalig 1550 in einem polnischsprachigen Buch.78 Es bezeichnete zu dieser Zeit wahrscheinlich den unspezialisierten Handwerker, der sowohl Häute als auch Pelze verarbeitete, meist auf dem Lande lebte und nicht den großen deutschrechtlichen Ämtern angehörte. In den russischen mittelalterlichen Städten war diese konnotative Trennung nicht notwendig, weil es dort eine derartige soziale und rechtliche Differenzierung nach innerhalb und außerhalb der Ämter stehenden Handwerkern nicht gab. Deshalb gelangt zunächst weder mittelniederdeutsch kursenaere noch altpolnisch kursznyersz in den Sprachgebrauch der russischen Pelzverarbeiter und -händler. Das russische Wort ku$ner ist im 18. oder 19. Jahrhundert, als es in der russischen Schriftsprache auftauchte, schon nicht mehr mit dem mittelalterlichen deutschrechtlichen Zunftwesen verbunden, es wird als tatsächliches Synonym zum russischen skornjak behandelt und deshalb bald an den Rand des aktiven Gebrauchs der russischen Gesamtsprache gedrängt. Ein weiteres Beispiel, an dem sowohl sprachliche Grenzen und deren Überschreitung als auch soziale Abgrenzungen im Mittelalter sichtbar gemacht werden können, ist die Fachkommunikation der Fischer im südlichen Ostseeraum und in Brandenburg. Die niederdeutschen Mundarten in diesen Regionen haben eine große Menge an slawischer Lexik bewahrt. Der Wortschatz der ehemals slawischen Fischer an der Ostsee, an den Binnenseen sowie an den Flüssen Elbe, Havel, Spree und Oder gehört zu den besterhaltenen Beispielen von Lexik einer handwerkorientierten Gruppensprache bei den mittelalterlichen Elb- und Ostseeslawen. Mit seiner Hilfe lassen sich Wissenstransfer und sprachlicher Austausch zwischen den einheimischen Slawen und den deutschen 77 78

Symanzik [Anm. 75], S. 140. Ebenda, S. 134.

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Siedlern nachweisen. Es ist zu vermuten, dass die Fülle der bewahrten Slawismen in der Kommunikation der niederdeutschen Fischer dadurch zustande gekommen ist, dass die Fischerei lange Zeit in den Händen der slawischen Bevölkerung gelegen hat bzw. dass die slawischen Fischer im Verlaufe des allgemeinen Sprachwechsels einen bestimmten Teil ihrer vorhandenen und eventuell nicht übersetzbaren Fachlexik in die neue Sprache eingebracht haben. Vielleicht weist dieser Umstand darauf hin, dass zumindest in der letzten Phase der mittelalterlichen Urbanisierung des südlichen Ostseeraums ein Zusammenhang zwischen ethnischer Zugehörigkeit und der Ausübung bestimmter Handwerke, Gewerbe und Berufe bestand. Die slawischen Sprachen und Dialekte im südlichen Ostseeraum hielten sich eher außerhalb der großen Hansestädte, wo sie eng mit der Landwirtschaft und dörflichem Handwerk, aber auch mit dem Fischfang verbunden waren. Die Trennung zwischen dem städtischen und ländlichen Handwerk führte wohl auch zur Verzögerung des Sprachwechsels in bestimmten Gegenden des südlichen Ostseeraums. Gerade hier war es zur Herausbildung einer eigenen ländlichen (agrarischen) Fachkommunikation gekommen, deren Spuren sich bis in das zwanzigste Jahrhundert hineinverfolgen lassen. Es lassen sich drei Wege erkennen, auf denen die Slawismen aus dem fachlichen Bereich des Fischereiwesens in die niederdeutschen Mundarten und schließlich in die hochdeutsche Sprache gekommen sind. Es können Fernentlehnungen und Wanderwörter von der eigentlichen Reliktlexik unterschieden werden. Dazwischen steht ein Teil von Wortschatz, der weder den Wanderwörtern noch der Reliktlexik eindeutig zuzuordnen ist, der zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch sehr lebendig gewesen und Ausdruck der engen Nachbarschaft von zu Deutschen gewordenen Pomoranen und slawisch gebliebenen Kaschuben und Slovinzen ist. Gerade an der hinterpommerschen Ostseeküste wurden in der Vergangenheit einige aus dem Slawischen stammende Fachwörter der dortigen niederdeutschsprachigen Fischer gesammelt (z. B. Broseschka „kleines Netz“, Giz „schlechtes Netzgewebe“, Gubbet „reusenartiges Netz zur Aufbewahrung“, Jidnick „Zugnetz“, Kidduk „kleiner Kescher“, Klownik „großer Kescher“ uva.).79 Eine erste Sammlung wurde am Ende des 19. Jahrhunderts zusammengestellt.80 Typische, stets mit einem Wissenstransfer verbundene Beispiele für Entlehnungen sind die Namen von Fischen. Als ein besonderer Fall von Termini in der Fachsprache der Fischer tauchten diese Benennungen häufig im Austausch von Fachwissen über Fanggründe oder Fangmengen auf, aber auch als wesentliches Kommunikationselement im regionalen Handel müssen die niederdeutschen und polabopomoranischen Bezeichnungen von Fischen codeswitching-artig hin- und hergewechselt haben. Entlehnungen sind sowohl in die niederdeutschen als auch in die westslawischen Mundarten des südlichen 79

80

Diese Beispiele stammen aus Hans Holm Bielfeldt, Pomoranische Wörter in der deutschen Mundart Hinterpommerns im 19. Jahrhundert. Prace Filologiczne 18 (1963/65), S. 171-184, hier besonders 173f. Otto Knoop, Plattdeutsches aus Hinterpommern. Zweite Sammlung: Fremdsprachliches im hinterpommerschen Platt, nebst einer Anzahl von Fischerausdrücken und Ekelnamen. Rogasen 1890.

Wissenstransfer, Integration und Ausgrenzungen im Handwerk

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Ostseeraums nachweisbar. So fingen die niederdeutschsprachigen Fischer in Westpreußen und Hinterpommern die Klische, das Malinchen und den Tscharn sowie Glappken, die Kalonke, den Plit und die Pomuchel.81 Den Fischern von Köpenick waren Fischnamen wie Jäse, Pietze und Iklei bekannt. Diese Bezeichnungen hörte Reinhard PEESCH noch in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in und um Berlin. Auch im Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch sind sie zu finden.82 Fischnamen aus westslawischen Sprachen (Sorbisch bzw. Tschechisch, Polabopomoranisch bzw. Polnisch) sind auch in der deutschen Standardsprache, etwa in den allgemeinen deutschen Wörterbüchern oder in den spezielleren Fachlexika der Zoologie, des modernen Fischereiwesens oder der deutschen Kochkunst zu finden: Dazu gehören Karausche, Peitzker, Plötze, Ukelei, Zärte und Zander, der zu den bekanntesten und beliebtesten Fischen in deutschen Restaurants gehört.83 Meist sind diese Lehnwörter über die ostmittel- und die niederdeutschen Mundarten in die deutsche Hochsprache gekommen. Im Hannoverschen Wendland wurde von einigen wenigen Menschen noch Ende des 17. Jahrhunderts eine slawische Sprache, das Dravänopolabische, gesprochen. In Form von Wörterlisten und kleineren alltagssprachlichen Texten aber auch dem Vaterunser wurden uns Reste dieser Sprache durch mehrere Sammler des 18. Jahrhunderts übermittelt.84 Sie zeugen davon, dass am Ausgang des Mittelalters auch bei den Wendländer Slawen Fachlexik bzw. Terminologie existiert haben muss, die eine gewisse Entwicklungsstufe sowohl der Alltagssprache als auch der fachorientierten Gruppensprache wiedergeben. In diesen Wörterlisten lassen sich große Mengen an Wortschatz finden, die einen Bezug zu diversen Handwerken haben. Darunter sind auch viele Beispiele aus dem Fischereiwesen. In der Phase der Verdrängung der slawischen Sprache in der frühen Neuzeit kam es offensichtlich zur häufigen Übernahme von speziellen Ausdrücken und Benennungen niederdeutscher Provenienz in der regionalen Fachkommunikation. Neben dem bereits aus dem Althochdeutschen entlehnten karp" für den Karpfen, ein Wort, das in ähnlicher 81

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83

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Beispiele aus Hans Holm Bielfeldt, Die slawischen eigentlichen Reliktwörter in den deutschen Mundarten. Zeitschrift für Slawistik 8 (1963), S. 155-172 und Bielfeldt [Anm. 79]. Reinhard Peesch, Der Wortschatz der Fischer im Kietz von Berlin-Köpenick (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 3). Berlin 1955; Willi Lademann, Wörterbuch der Teltower Volkssprache. Berlin 1956; Hans Holm Bielfeldt, Slawische Wörter im Deutschen Brandenburgs. Zeitschrift für Slawistik 15 (1970), S. 29-31; Anneliese Bretschneider u. a. (Hgg.), BrandenburgBerlinisches Wörterbuch. Berlin seit 1968. Beispiele aus Klaus Müller, Slawisches im deutschen Wortschatz. Lehn- und Fremdwörter aus einem Jahrtausend. Berlin 1995. Paul Rost, Sprachreste der Draväno-Polaben im Hannöverschen. Leipzig 1907; Reinhold Olesch, Juglers lüneburgisch-wendisches Wörterbuch (Slavistische Forschungen 1). Graz 1962; Reinhold Olesch (Hg.), Fontes linguae Dravaeno-polabicae minores et chronica Venedica J.P. Schultzii (Slavistische Forschungen 7). Köln, Graz 1967; Kazimierz Pola+ski (teilweise mit Tadeusz Lehr-Sp)awi+ski), S)ownik Etymologiczny J*zyka Drzewian Po)abskich. Wroc)aw 1962-1994.

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Form in fast allen slawischen Sprachen existiert, seien als Beispiele für die Entlehnung von Fischnamen aus der deutschen in eine slawische Sprache folgende dravänopolabische Fischbezeichnungen genannt: Bor% „Barsch“, bunt’" „Forelle“, olant „Aland“, rot%ar" „Stockfisch oder Dorsch“ und %ol’o „Scholle“. Daneben steht auch ein echter Fachbegriff wie %obe für „Schuppe“, der ebenso aus dem Niederdeutschen entlehnt ist. Bezeichnungen für Werkzeuge, die aus dem Niederdeutschen oder Deutschen stammen, lassen sich in diesen Wörterlisten nicht entdecken. Dieser Mangel im Vergleich zu den zahlreichen Entlehnungen von Fischbezeichnungen oder der einen Entlehnung von %obe als einem Körperteil des Fisches lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass die Verdrängung eigener Wörter im Dravänopolabischen durch die Lehnwörter natürlich zuerst und hauptsächlich im Rahmen der Kommunikation auf dem Fischmarkt stattfand. Sowohl die Ostsee als auch die großen Flüssen Elbe, Havel, Spree und Oder dienten nicht nur dem Transport von Waren, sondern waren auch Straßen der Kommunikation und somit des Transfers von Wissen und Sprache. In den Häfen der Hansestädte und auf den Flussschiffen wurden lexikalisch-semantische Fernentlehnungen aus dem Westen, Norden und Osten Europas aufgefangen und in die niederdeutsche Sprache der Schifffahrt, der Fischerei und des Handels integriert: Wie z. B. Dägen „Birkenteer“, Besemér „Schnellwaage“, die beide aus dem Russischen stammen. So findet sich Besemér (auch besmere, bisemer, russ. bezmen’, ursprünglich aus den Turksprachen) seit Anfang des 13. Jahrhunderts in Lübecker Urkunden. Dägen kommt vom russ. deggot’ und ist in den niederdeutschen Mundarten vom Baltikum bis nach Holstein verbreitet (deggot, daggut, daggat, däg oder degen), aber nur in zwei historischen Zeugnissen aus dem 15. und 16. Jahrhundert mit Bezug auf Russland und Livland belegt.85 Außerdem waren gerade Flüsse, wie die Elbe und die Oder, auch Straßen so genannter Wanderwörter. Ein Beispiel für slawische Wörter, die sich möglicherweise auf dem Flusswege vom Südosten in den Nordwesten verbreiteten, ist der mundartliche Ausdruck pomätschen für „treideln, ein Schiff ziehen“ (Pomätscher „Treidler“), das im westmecklenburgischen Raum, an der Elde als baumetschern, bometschern bekannt war.86 Es ist in diesem Fall leicht nachzuvollziehen, wie das tschech. Wort pomaha& „helfen“ auf der Elbe nach Mecklenburg kam. Schwieriger ist es, die Wege anderer Beispiele für mögliche Wanderwörter, Fernentlehnungen oder Reliktwörter aufzuzeigen. Sowohl für das Wort Prahm „Wasserfahrzeug“ als auch für die Bezeichnung Pristabel „Fischereiaufseher“ besteht die Schwierigkeit darin, dass es möglicherweise zwei Ausgangspunkte und dementsprechend auch zwei Wege der Entlehnung gegeben hat. Prahm, im südlichen Ostseeraum im 13. bis 14. Jahrhundert (Riga bis Lübeck) gut bezeugt, wurde wahrscheinlich aus dem Russischen übernommen und im Rahmen des Ostseehandels weiter verbreitet.87 85

86 87

Siehe dazu vor allem Hermann Teuchert, Slawische Lehnwörter in ostdeutschen Mundarten. Zeitschrift für Mundartforschung 26 (1958), S. 13-31; Bielfeldt [Anm. 81]; Bielfeldt [Anm. 72]. Bielfeldt [Anm. 81], S. 168. Zu den mittelalterlichen Erwähnungen von Prahm in der deutschen Sprache und der Verbreitung dieses Lehnwortes siehe Hans Holm Bielfeldt, Die Wege der Wortentlehnungen

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Für die deutsche Sprache könnte also eine Fernentlehnung angenommen werden. Andererseits lässt sich aber wie auch schon im Fall von pomätschen die Möglichkeit der Wanderung einer aus Nordböhmen stammenden Entlehnung an der Elbe entlang nicht ausschließen, wie die Belege aus Obersachsen, Schlesien und aus dem Lüneburgischen nahe legen. Wahrscheinlich ist, dass Prahm „Wasserfahrzeug“ auf zwei Wegen, sowohl als Fernentlehnung im Rahmen des Ostseehandels als auch als Wanderwort in die deutsche Schriftsprache gelangt ist. Weiterhin ist für den brandenburgischen Ausdruck Pristabel „Fischereiaufseher“ nicht mehr festzustellen, ob es sich hierbei um ein altes westslawisches Reliktwort handelt, das die Fischer um Berlin herum aus der Zeit der Zweisprachigkeit in die neue Mundart hinübergerettet haben, oder ob es sich auch hierbei um die Übernahme einer mittelniederdeutschen bzw. hanseatischen Fernentlehnung aus dem Ostslawischen handelt.88 Einige wenige Slawismen sind echte Reliktwörter, die von Slawen beim Sprachwechsel im ausgehenden Mittelalter beibehalten und als Reste ihrer früheren Sprache in ihr neues Idiom eingebracht wurden, oder Wörter, die bereits vor diesem Wechsel, z. B. aufgrund der geographischen Nachbarschaft, in das Deutsche übernommen worden sind.89 Dazu gehören auch Termini des Fischereiwesens aus Brandenburg und dem südlichen Ostseeraum, wie etwa Bezeichnungen für Netze und Netzteile (Bri(e)se, Goonken, Mätritz, Manschen, Pank, Streyer, Zees(e) u. v. a.), Bezeichnungen für Wasserfahrzeuge (Zille, Zülle, Zolle) oder Örtlichkeitsbezeichnungen wie Lanke für ein stilles Seitengewässer oder Jese für ein Fischwehr.90 Auch das Wort Kietz möchte ich hier einordnen, das eine slawische Fischer- bzw. Vorortsiedlung vor allem in Brandenburg bezeichnet hat, dessen sprachliche Herkunft aber noch nicht zu aller Zufriedenheit geklärt ist.91 In diesem Zusammenhang sei auch auf weitere mecklenburgische, brandenburgische und

88 89 90

91

aus dem Russischen ins Niederdeutsche. Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 86 (1963), S. 17-27, hier besonders S. 24f. Ebenda, S. 22. Müller [Anm. 83], S. 15. Diese Beispiele stammen aus den verschiedenen Sammlungen von slawischer Reliktlexik in Brandenburg und Mecklenburg: Peesch [Anm. 82]; Johann Carl Dähnert, Platt-deutsches Wörterbuch nach der alten und der neuen pommerschen und rügenschen Mundart. Wiesbaden 1781, ND Wiesbaden 1967; Bielfeldt [Anm. 82]; Bretschneider [Anm. 82]. Siehe Herbert Ludat, Slawen und Deutsche im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zu Fragen ihrer politischen, sozialen und kulturellen Beziehungen (Mitteldeutsche Forschungen 86). Köln, Wien 1982, S. 242-257; Lieselott Enders, Entstehung und Entwicklung der uckermärkischen Städte im Hohen Mittelalter. Jahrbuch für Regionalgeschichte 13 (1986), S. 24-59; Jan M. Piskorski, Brandenburskie Kietze (chy(e) – instytucja pochodzenia s.owia0skiego czy „produkt“ w.adzy aska0skiej. Przegl/d Historyczny 79 (1988) 1, S. 301329; Schich [Anm. 2], S. 39f. und demnächst Jan M. Piskorski, Brandenburgische Kietze – Eine Institution slawischen Ursprungs oder ein „Produkt” der askanischen Herrschaft? In: Doris Bulach u. Matthias Hardt (Hgg.), Zentrum und Peripherie in der Germania Slavica (Forschungen zur Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas). Stuttgart 2006 (in Vorbereitung).

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pommersche Ortsnamen verwiesen, in denen sich alte westslawische bzw. polabopomoranische Lexik erhalten hat, die direkt oder indirekt etwas mit der Fischerei zu tun hatte. Sie wurden mit polabopomoranischen Wörtern für verschiedene Werkzeuge und Netze der Fischerei, für Boote, Fähren und andere Wasserfahrzeuge, für Tätigkeiten und Fischerbezeichnungen gebildet. 92 Die Fülle der vorgestellten slawischen Spuren in den mundartgebundenen Fachsprachen der Fischer im südlichen Ostseeraum und in Brandenburg zeigt, dass sozial-ökonomische und rechtliche, aber auch ethnische Grenzen für die teilweise Bewahrung des älteren kulturellen Elements sorgten. Im Vergleich zur Stadt, wo der spätmittelalterliche Sprachwechsel in der Germania Slavica für das Aussterben und nahezu völlige Vergessen der slawischen Sprachen in Mecklenburg, Brandenburg und Vorpommern sorgte, konnten sie sich in bestimmten ländlichen Kommunikationsräumen entweder als Spuren oder als voll funktionsfähiges Kommunikationsmittel erhalten. Solche soziogeographischen Räume, in denen sich slawische Fischer, aber auch Bauern und ländliche Handwerker, von der sprachlichen allgemeinen Entwicklung abgrenzten bzw. ausgegrenzt wurden, finden wir im Hannoverschen Wendland, in der westmecklenburgischen Jabeler Heide, im märkischen Oderland und um Berlin herum, auf Rügen, an der hinterpommerschen Ostseeküsten und in der Kaschubei. Letztlich konnten auch in diesen besonderen Gebieten, wo es zu einer gewissen Verzögerung des Sprachwechsels teilweise bis in das 19. Jahrhundert gekommen ist, die Grenzen zwischen der erfolgreicheren niederdeutschsprachigen Kommunikation und den isolierten elb- und ostseeslawischen Sprachinseln nicht aufrecht erhalten werden. Nach intensivem Sprachkontakt und lexikalischem Austausch kam es zunächst zur Aufgabe des Elb- und Ostseeslawischen als Kommunikationsmittel bei gleichzeitiger Bewahrung bestimmter lexikalischer Elemente der aufgegebenen Sprache, die dann aber spätestens mit den sozial-ökonomischen und politischen Veränderung des 20. Jahrhunderts immer mehr in die sprachliche Peripherie gerieten bzw. ganz vergessen wurden.

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An dieser Stelle kann leider nur auf die Belege verwiesen werden: Brandenburgisches Namenbuch, Bd. 1-11. Berlin, Neumünster 1942-1998; Andrzej Ba+kowski, Etymologiczny s)ownik j*zyka polskiego. Warszawa 2000; Friedrich Lorentz, Pomoranisches Wörterbuch. Berlin 1958-1975; Reinhold Trautmann, Die elb- und ostseeslawischen Ortsnamen, Bd. 1-3. Berlin 1948-1950; Max Vasmer, Russisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1-3. Heidelberg 1953-1958.

Wissenstransfer, Integration und Ausgrenzungen im Handwerk

Abb. 1

Das Auftreten des Wendenpassus im 14. Jahrhundert in der Umgebung slawischer Siedlungsgebiete und im 16. Jahrhundert im südwestlichen Ostseeraum. Entwurf und Zeichnung: Doris Bulach

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Abb. 2

Joern-Martin Becker, Doris Bulach, Ulrich Müller

Keramik des 12./13. Jahrhunderts. 1 Keramik spätslawischer Machart. 2 Harte Grauware Var. a und b. Entwurf und Zeichnung: Ulrich Müller

Wissenstransfer, Integration und Ausgrenzungen im Handwerk

Abb. 3

Formenbestand der „Harten Grauware“ und der „Glasierten Roten Irdenware“ Nach: Heiko Schäfer, Anthropomorph verzierte Gefäßkeramik des 13. Jahrhunderts aus Mecklenburg-Vorpommern. Bodendenkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern, Jahrbuch 46 (1998), S. 311-315, Abb. 6-8. Grafik: Institut Ur- und Frühgeschichte Kiel

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Abb. 4

Joern-Martin Becker, Doris Bulach, Ulrich Müller

Chronologische Abfolge ausgewählter Warenarten in Kolobrzeg Nach Marian R'bkowski, (redniowieczna keramika miasta lokacyjnego w Ko&obrzegu. Ko&obrzeg 1995, Abb. 4. Grafik: Institut Ur- und Frühgeschichte Kiel

ROMEDIO SCHMITZ-ESSER

Ein Beispiel für Grenzüberschreitung im 12. Jahrhundert: Arnold von Brescia

Als man Arnold von Brescia aufgrund seiner radikalen Forderung nach apostolischer Armut des Klerus und Verzichts der Kirche auf jede weltliche Gewalt anlässlich der Kaiserkrönung Friedrich Barbarossas 1155 hinrichten ließ, mochte der Brescianer Augustinerchorherr auf ein bewegtes Leben und eine rege Reisetätigkeit zurückblicken, die seinem berühmt gewordenen Wirken in Rom vorangegangen war. In das Thema dieses Symposiums fügt sich nun die Frage ein, wie es sich in der Vita des Brescianer Chorherren mit realen wie geistigen Grenzen und deren Überschreitung verhält. Der Blick richtet sich dabei vor allem auf Arnolds Zeit außerhalb Italiens, die von der modernen Mediävistik meist nur beiläufig betrachtet worden ist. Wie bei jeder Betrachtung von Arnolds Leben stellt auch hier die dünne Quellenlage das Grundproblem dar. Darauf hat bereits Arsenio FRUGONI reagiert, indem er in seiner Studie nicht mehr die Rekonstruktion von Arnolds Vita in den Vordergrund rückte, sondern sich ganz den Quellen widmete, um aus dem Blickwinkel der einzelnen Autoren Arnold zu charakterisieren.1 Freilich rief eine solche Dekonstruktion bereits zu ihrer Zeit die Kritik einiger namhafter Historiker auf den Plan, die wohl nicht ganz zu Unrecht

1

Arsenio Frugoni, Arnaldo da Brescia nelle fonti del secolo XII (Istituto storico italiano per il medio evo, Studi storici 8-9). Rom 1954 (Turin 19892). Anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums fand über dies Buch 2004 im Istituto storico italiano per il medio evo in Rom ein Seminar statt. Vgl. auch Maurizio Pegrari (Hg.), Arnaldo da Brescia e il suo tempo. Brescia 1991. Unter den jüngsten Artikeln vgl. v. a. Jürgen Strothmann, Arnold von Brescia. Christentum als soziale Religion. Theologie und Glaube 87 (1997), S. 55-80. Dem hier behaupteten sozialen Engagement Arnolds widersprach jüngst Romedio Schmitz-Esser, Arnold of Brescia in Exile: April 1139 to December 1143 – His role as a Reformer, Reviewed. In: Laura Napran u. Elisabeth van Houts (Hgg.), Exile in the Middle Ages. Selected Proceedings from the International Medieval Congress, University of Leeds, 8-11 July 2002 (International Medieval Research 13). Turnhout 2004, S. 213-231 und Ders., In Urbe, quae caput mundi est. Die Entstehung der römischen Kommune (1143-1155). Über den Einfluss Arnolds von Brescia auf die Politik des römischen Senats. Innsbrucker Historische Studien 23/24 (2004), S. 1-42.

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Romedio Schmitz-Esser

beobachteten, dass FRUGONI zwar die Dekonstruktion Arnolds, nicht aber die Zusammensetzung der Fragmente zu einem neuerlichen Ganzen gelungen sei.2 Mit den wenigen zeitgenössischen Zeugnissen und ihrer Widersprüchlichkeit wird sich auch dieser Aufsatz auseinandersetzen müssen. So wird hier einmal mehr die kontroverse Frage aufgegriffen, in welchem Verhältnis Arnold von Brescia zu Abaelard gestanden hat, als dessen „Waffenträger“ er nach den Worten des Abtes Bernhard von Clairvaux auf dem Konzil von Sens auftrat.3 Wer sich aber dem historischen Arnold von Brescia nähern will, der darf gerade aufgrund der dünnen Quellenlage nicht die Rezeptionsgeschichte aus den Augen verlieren. Sie hat bis heute in weiten Teilen unser Bild Arnolds und nicht selten auch die Fragestellungen der Historiker direkt beeinflusst.4

Arnold von Brescia: Vom Aufreger zur persona non grata Als 1790 die Apologia di Arnaldo di Brescia aus der Feder des Jansenisten Giambattista GUADAGNINI erschien,5 konnte sich die konservativ-katholische Kritik vor Empörung kaum halten. „Hier findet sich also der Bannerträger der Gegner der kirchlichen Macht, der in der Gosse der Jahrhunderte jemanden fand, der ihn schrulligerweise als Heiligen leben und als Märtyrer sterben lieߓ, urteilt ein Rezensent des „Giornale Ecclesiastico“.6 Doch der Aufstieg Arnolds von Brescia zu einer der Leitfiguren des 19. Jahrhunderts war seit der Aufklärung und noch mehr mit der einsetzenden Romantik nicht mehr aufzuhalten. „Die Trompete Römischer Freiheit blies zuerst Arnold von Brescia“, bemerkt Edward GIBBON in seiner History of the Decline and Fall of the Roman Empire.7 Dem Höhepunkt strebt diese Arnoldbegeisterung im Italien des Risorgimento entgegen. So bemerkt Giuseppe GARIBALDI in einem seiner Briefe: „Arnold von Brescia ist aufs 2

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Vgl. insbesondere Piero Zerbi, A proposito di tre recenti libri di Storia. Riflessioni sopra alcuni problemi di metodo. Aevum 31 (1957), S. 492-531. Bernhard von Clairvaux, Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard B. Winkler. Bd. 3, Innsbruck 1992, S. 68-69 (Ep. 189, 3). Vgl. Anm. 14. Zur Rezeptionsgeschichte vgl. ausführlich Romedio Schmitz-Esser, Arnold von Brescia im Spiegel von acht Jahrhunderten Rezeption. Ein Beispiel für Europas Umgang mit der mittelalterlichen Geschichte vom Humanismus bis heute (Dissertation). Innsbruck 2005. Giambattista Guadagnini, Apologia di Arnaldo di Brescia. 2 Bde., Pavia 1790. „Ecco l’Antesignano dei nemici della Potestà Ecclesiastica, che nella feccia dei secoli ha trovato chei capricciosamente lo ha fatto viver da Santo, e morire da martire.“ G. H., Pavia. Vita di Arnaldo da Brescia descritta da Giambattista Guadagnini Arciprete di Cividate di Valcamonica (Rezension). Giornale Ecclesiastico di Roma 5/17-18 (1790), S. 65-67 und 6972, hier S. 65. „The trumpet of Roman liberty was first sounded by Arnold of Brescia“; Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Hrsg. v. J. B. Bury. Bd. 7, London 19022, S. 219-220.

Ein Beispiel für Grenzüberschreitung im 12. Jahrhundert: Arnold von Brescia

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höchste ausgezeichnet unter den Wohltätern der Humanität und Italiens. Apostel der Wahrheit, gab er für die Wahrheit [sein] Blut. Und so ist es eine heilige Schuld der Italiener, ihm in seiner Vaterstadt Brescia ein Denkmal zu errichten.“8 Wie nüchtern stellt sich demgegenüber die Behandlung Arnolds von Brescia in der modernen Mediävistik dar, wenn etwa Ludwig SCHMUGGE 1992 zur Diskussion um das hochmittelalterliche Rom bemerkt: „Das Fehlen Arnolds von Brescia wurde in der Diskussion von Herrn Maleczek bedauernd zur Kenntnis genommen, aber es ist ein Trend der heutigen Geschichtsschreibung, von den Heroen abzukommen, zumal Arnolds Einwirken auf die kommunale Bewegung erst seit 1149 bemerkbar ist. Seine Rolle ist, obwohl Herr Esch zu seiner Ehrenrettung angesetzt hat, keineswegs so ganz klar.“9 Unter den vielen Bildern, die man sich im Laufe der Zeit von Arnold von Brescia gemacht hat, erweist sich bei einem genaueren Blick für die moderne Mediävistik der Ansatz einer materialistischen Geschichtssicht, die sich seit dem 19. Jahrhundert der Memoria des Brescianer Chorherren bediente, als besonders nachhaltig.10 So findet sich die Vorstellung, Arnold von Brescia habe mit seinem religiösen auch ein soziales Engagement verbunden, bis in die jüngste Forschung.11 Gerade eine Untersuchung der Zeit Arnolds außerhalb Italiens lässt sein Wirken jedoch in einem anderen Licht erscheinen.

Arnolds Zeit im Exil Nur wenig wissen wir aus den Quellen, die über Arnolds Leben berichten. Auf dem Zweiten Laterankonzil 1139 war er, nachdem er in Brescia den Aufstand der Kommune gegen Bischof Manfred mit seiner radikalen Forderung apostolischer Armut aller Kleriker unterstützt hatte, durch Innozenz II. verurteilt worden und musste seine Heimat8

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„Arnaldo da Brescia è distintissimo fra i benefattori dell’Umanità e dell’Italia. Apostolo della Verità, per la Verità diede il sangue. È dunque sacro debito degli Italiani di erigergli un monumento nella natale Brescia.“ Giuseppe Garibaldi, Edizione nazionale degli scritti di Giuseppe Garibaldi 13. Epistolario 7 (marzo-dicembre 1862). Hrsg. von Sergio La Salvia. Rom 1986, S. 77-78. Vgl. dazu ausführlicher Schmitz-Esser, Spiegel [Anm. 4], S. 229-292. Ludwig Schmugge, Kirche – Kommune – Kaiser. In: Bernhard Schimmelpfennig u. Ludwig Schmugge (Hgg.), Rom im hohen Mittelalter. Studien zu den Romvorstellungen und zur Rompolitik vom 10. bis zum 12. Jahrhundert. Sigmaringen 1992, S. 169-179, hier S. 175. Vgl. v. a. Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg. In: Karl Marx u. Friedrich Engels. Hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 7, Berlin 1964, S. 327413; Karl Kautsky, Vorläufer des neueren Sozialismus. Hrsg. v. Hans-Jürgen Mende, Berlin 1991[8]; Naum Abramovic Bortnik, $7452, %7.>/)491/0 – *57.< 675:/+ 1):52/=.9150