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German Pages [439] Year 2021
Martin Kolmar
GRENZBESCHREITUNGEN Vom Sinn, dem gelingenden Leben und unserem Umgang mit Natur
Böhlau Verlag wien köln
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Kulturelle Erneuerung
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Hsia Kuai (Xia Gui) (1195–1224), Ausschnitte aus Pure and Remote View of Streams and Mountains. © National Palace Museum, Taipei. Korrektorat : Sara Alexandra Horn, Düsseldorf Einbandgestaltung : Guido Klütsch, Köln Satz : Bettina Waringer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52300-8
Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende Meer der Woge des Kornfelds gleicht. Friedrich Hölderlin, Hyperion, 2. Brief
It avails not, neither time or place – distance avails not; I am with you, you men and women of a generation, or ever so many generations hence; I project myself – also I return – I am with you, and know how it is. Just as you feel when you look on the river and sky, so I felt; Just as any of you is one of a living crowd, I was one of a crowd; [...] What is it, then, between us? What is the count of the scores or hundreds of years between us? Whatever it is, it avails not – distance avails not, and place avails not. We understand, then, do we not? Walt Whitman, Crossing Brooklyn Ferry
Inhalt
Vorwort ........................................................................................................... 11 Einleitung ....................................................................................................... 15 Die Dose des Aristoteles ................................................................................... 20 Mögliche Einwände .......................................................................................... 24 Übersicht ............................................................................................................ 26 1. Ein Gefühl des Unbehagens ..................................................................... 35 1.1 Einige Trends in westlichen Gesellschaften der Gegenwart ............. 37 1.2 Empirische Evidenz und Erklärungen ................................................ 39 1.3 Das erzählte Selbst ................................................................................ 43 1.4 Größere Erklärungskontexte ................................................................ 46 1.5 Weltbilder und das gelingende Leben ................................................. 53 1.6 Konstruktive Entwürfe ......................................................................... 57 2. Die postheroische Gesellschaft ................................................................ 61 2.1 Experten statt Helden: Ordnung als Technokratie ............................ 62 2.2 Rückkehr der Helden? ......................................................................... 66 2.3 Trickster: Ein erduldeter Raum des Chaos ......................................... 75 3. Grundlagen zum Erhabenen ..................................................................... 81 4. Psychologie und Neurowissenschaft des Erhabenen ............................. 89 4.1 Das Erhabene und die Reise nach innen ............................................ 90 4.2 Gemischte Gefühle ................................................................................ 94 4.3 Kreativität ............................................................................................... 97 4.4 Predictive-Coding-Theorien der Gehirnfunktion ........................... 100 4.5 Methodenkritik ................................................................................... 102 5. Ordnung und Chaos: eine Bedeutungsverschiebung ............................ 111 6. Das Erhabene bis ins 20. Jahrhundert .................................................. 121 6.1 Das Erhabene bei Kant ....................................................................... 126 6.2 Gegenwärtige Spuren des Romantisch-Erhabenen ......................... 134 Inhalt
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7. Erhabene Rhetorik und das Charismatisch-Erhabene ........................... 145 7.1 Charismatische Führung als Inszenierung des Erhabenen ............. 146 7.2 Monster ................................................................................................ 150 7.3 Die Inszenierung des Erhabenen im Gesellschaftlichen ................. 152 7.4 Politik, Krieg und Liminalität ............................................................ 157 7.5 Das Erhabene und das Konservative ................................................. 159 7.6 Zwischenfazit ....................................................................................... 163 7.7 Verhinderungsstrategien erhabener Momente ................................ 165 8. Das Erhabene seit dem 20. Jahrhundert .............................................. 169 8.1 Metonymisches Geschubse 1: Jaques Lacan ..................................... 176 8.2 Metonymisches Geschubse 2: An den Rändern der Erkenntnis .... 183 8.3 Progressive Gesellschaften, Kapitalismus und Individualismus .... 190 9. Helden und transformative Erfahrungen ............................................... 205 9.1 Transformation und Heldenreise ...................................................... 205 9.2 Die dunkle Nacht der Seele ................................................................ 208 9.3 Trauma ................................................................................................. 210 9.4 Helden ohne oder mit unvollständiger innerer Heldenreise .......... 220 9.5 Heldinnen und Helden ....................................................................... 223 9.6 Reduktionen der Selbstwahrnehmung .............................................. 227 9.7 Hinderungsgründe .............................................................................. 232 10. Erkenntnis und Spiritualität .................................................................. 235 10.1 Spiritualität als unbedingte Verpflichtung gegenüber der Erkenntnis ..................................................................................... 237 10.2 Die fehlende Hälfte der Spiritualität ................................................. 240 10.3 Spiritualität als Heilung: naturalistische Evidenz ............................ 242 10.4 Säkulare Spiritualität ........................................................................... 245 11. Buddhismus .......................................................................................... 247 11.1 Grundlegendes zum Buddhismus ..................................................... 250 11.2 Die drei zentralen Vorstellungen ....................................................... 251 11.4 Die Vier Edlen Wahrheiten ................................................................ 253 11.5 Die verwirrende Radikalität des Buddhismus ................................. 260 11.6 Tugenden und Trickster ..................................................................... 261 11.7 Wieso oder in welchem Sinn sollte das Selbst eine Illusion sein? .. 262 11.8 Meditation ............................................................................................ 268 8 |
Inhalt
11.9 Meditation und das Erhabene ............................................................ 274 11.10 Das Erhabene und die Scheinerleuchtung ........................................ 277 12. Schritte zu einer positiven Integration des „Anderen“ ........................ 281 12.1 Grenzen der Vorstellungskraft ........................................................... 282 12.2 Spiritualität und „Natur“ .................................................................... 285 12.3 Wildnis: Zur Entstehung und Problematik eines Begriffs .............. 293 12.4 Das Zivilisierte und das Wilde ........................................................... 305 12.5 Die Grenzen der Sprache: ein Blick von außen ................................ 309 12.6 Daoistische Konzeptionen einer säkularen Spiritualität ................. 313 12.7 Shanshui-Malerei, daoistische Dichtung und der Prozess der „Natur“ ...................................................................... 322 12.8 Nature Writing als Schule der Wahrnehmung .................................. 332 13. Bewusstsein und Natur ........................................................................ 337 13.1 Neuer Animismus ............................................................................... 338 13.2 Wo ist Bewusstsein? ............................................................................ 341 13.3 Gibt es normatives Wissen? ............................................................... 357 14. Und Nun? ............................................................................................... 363 14.1 Überwältigung und der Ausweg Kants ............................................. 366 14.2 Entscheidung zur Verzauberung als everyday sublime und sense of place ............................................................................... 368 14.3 Fazit ...................................................................................................... 382 Anmerkungen .............................................................................................. 388 Literaturverzeichnis ..................................................................................... 397 Abbildungsverzeichnis ................................................................................. 429 Filmverzeichnis ............................................................................................ 432 Personen- und Sachverzeichnis .................................................................. 433
Inhalt
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Vorwort
Die wohl zentralen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte sind die Klima- und die Biodiversitätskrisen. Ich lehre und forsche als Ökonom, wie kommt es dann, dass ich ein Buch zum gelingenden, guten Leben im Angesicht dieser Situation geschrieben habe? Als Ökonom hat man Zugriff auf einen gut gefüllten Koffer mit Theorien und Instrumenten, die man zur Diagnose und Therapie der Krisen benutzen kann. Eine wichtige Einsicht ist z.B., dass sogenannte Externe Effekte eine Rolle spielen, und dass man sie internalisieren muss. Aber hier zeigte sich schnell ein Problem: wir wissen das seit vielen Jahrzehnten, und wir handeln weder schnell noch entschieden genug, um unsere und die Zukunft unserer Kinder zu schützen. Vielleicht zögern wir, weil wir Angst haben, etwas zu verlieren, weil wir den wissenschaftlichen Konsens zu diesen Themen nicht wahrhaben wollen, weil wir denken, es wird schon nicht so schlimm werden oder uns nicht treffen, weil uns unsere Kinder und die anderen Arten egal sind, oder was auch immer. An dieser Stelle kommt man mit dem ökonomischen Latein ans Ende, und es stellt sich eine andere Frage: Was hält uns zurück? Und auch hier gibt es natürlich ökonomische Antworten wie das Problem des Kollektivhandelns. Aber wenn man tiefer bohrt, kommt man schnell zu den grundlegenden Weltbildern, in denen wir denken, fühlen und innerhalb derer wir unserem Leben einen Sinn geben. Es zeigt sich auch noch ein fundamentaleres Problem mit den ökonomischen Lösungen: Die Instrumente, die in unserem Koffer existieren, sind „Sozialtechnologien“, die bei dem nötigen Einsatz dieser Instrumente zu sich stark und schnell verändernden Preisgefügen und disruptivem technologischen Wandel mit den einhergehenden Umverteilungseffekten führen und auch liebgewonnene Freiheiten stark einschränken. Dabei sind diese Verwerfungen aber immer noch deutlich milder als die, die wir erwarten müssen, wenn wir die Probleme nicht ernsthaft angehen. Die Zukunft sieht aus einer ökonomischen Perspektive nach Zwang und Konflikt aus, wenn nicht technologische Innovationen die Krise verhindern, wonach es derzeit aber nicht aussieht. Und das ist ja auch die Wahrnehmung vieler Menschen: Nachhaltigkeit bedeutet Verzicht. Daher stellt sich die Frage, ob es nicht noch einen anderen Weg geben kann, einen guten Umgang mit den Krisen zu finden. Denn das Problem liegt ja ursächlich nicht in Phänomenen wie Externen Effekten, diese sind nur Ausdruck unseres Handelns. Und dieses ist wiederum Ausdruck unserer Sichtweise darVorwort
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auf, was es heißt, ein gutes, gelingendes Leben zu führen. Aber woher wissen wir eigentlich, was das ist? Woher kennen wir unsere Interessen, woher stammen unsere Vorstellungen darüber? Und sind sie richtig? Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führte mich zu faszinierenden intellektuellen und auch erlebten Reisen bis hin zu dem Punkt, an dem Antworten auf Fragen nach Sinn und unserer grundsätzlichen Verortung in der Welt eine bestimmte Struktur bekamen. Ein Blick in verschiedene Bereiche der westlichen und östlichen Philosophie, der Neurowissenschaft, der Psychologie sowie in Literatur und Kunst offenbart ein erstaunlich kohärentes Bild von dem, was es heißt, Sinnerfahrungen zu machen und ein gelingendes, gutes Leben zu führen. Mit zunehmendem Verständnis wurde es für mich auch immer einfacher, Erfahrungen meines eigenen Lebens zu deuten: Manche Sonnenaufgänge in den Bergen, der Blick eines wilden Tiers, der für einen Moment den eigenen trifft, das Verschwinden des Selbst in der Meditation, die Berührung eines geliebten Menschen, die Spiegelung des Mondes in einer Pfütze, eine neue wissenschaftliche Erkenntnis: solche Erfahrungen haben eine gemeinsame Struktur, von der hier die Rede sein wird. Das vorliegende Buch ist ein Versuch, dieses Bild zu vermitteln und sich dabei intensiv auch auf empirische Forschung zu stützen. Eine zentrale These wird sein, dass man sich aus seinem Weltbild lösen und lernen kann, grundlegende Zusammenhänge neu und anders zu denken und wahrzunehmen. Diese neue Verortung in der Welt kann sie zu einem reicheren Platz machen, wenn man das illusionäre instrumentelle Verhältnis zu „Natur“ überwindet. Es wird dabei um Grenz- und Entgrenzungserfahrungen gehen. Und darum, dass man das Wissen um ein gelingendes Leben nicht nur theoretisch lernen kann, sondern es leben muss; dass es ein unabdingbar experientielles, affektives, körperliches Wissen gibt, welches wir in der Wissenschaft mit unserer Konzentration auf kognitive Formen des Wissens gern aus den Augen verlieren. Dieses Buch kommt daher auch selbst an eine unüberschreitbare Grenze der Vermittelbarkeit dieser Einsichten. Ich bin einer Reihe von Personen zu großem Dank verpflichtet, die mir an den verschiedensten Stellen mit viel Geduld weitergeholfen haben. Oftmals ging es dabei gar nicht nur (aber immer auch) um Ideen und inhaltliche Anregungen, sondern auch um die nötige Ermunterung, weiterzumachen. In alphabetischer Reihenfolge sind dies Salvatore Barbaro, Friedrich Breyer, Claudia Fichtner, Judith Gamp, Andreas Härter, Ernst Mohr, Raoul Mörchen, Anaïs Sägesser, Roger Schmidt, Peter Seele, Dieter Thomä und Michael von Brück. Hervorheben möchte ich Vincent Kaufmann, mit dem zusammen ich über mehrere Jahre hinweg in einem gemeinsamen Seminar grundlegende Ideen entwickeln durfte und 12 |
Vorwort
der mir kulturwissenschaftliches Denken näherbrachte. An dieser Stelle seien auch die Studierenden erwähnt, die mit großem Einsatz bei der Sache waren und von denen ich viel lernen durfte. Für die sehr professionelle Unterstützung von Seiten des Böhlau Verlags danke ich stellvertretend Kirsti Doepner. Mein besonderer Dank gilt schließlich Rebecca Atzenweiler und Raphaela Biegler, die mich bei der Erstellung des Manuskripts unterstützt und auch wichtige inhaltliche Impulse zu vielen Kapiteln gegeben haben. Die Studie wurde dankenswerterweise finanziell durch die Stiftung Kulturelle Erneuerung unterstützt. St. Gallen, im April 2021
Martin Kolmar
Vorwort
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Einleitung
Dieses Buch ist ein Versuch, sich mit Fragen des guten, gelingenden, sinnerfüllten Lebens angesichts der Klima- und der Biodiversitätskrise auseinanderzusetzen. Dies hat eine besondere Dringlichkeit, weil wir aufgrund der zu erwartenden Veränderungen wie wohl kaum andere Generationen zuvor aufgefordert sind, solche Fragen neu zu denken. Beide Krisen (im Folgenden kurz Umweltkrisen genannt, wenn eine genauere Unterscheidung nicht nötig ist) haben technologische, ökonomische, politische und weltanschaulich-kulturelle Ursachen. Dabei sind die einzelnen Einflussfaktoren nicht monokausal, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Dies führt zu Produktionsweisen, Konsum- und Reproduktionsverhalten, die zusammengenommen das ökologische Gleichgewicht so stark und in so kurzer Zeit verändern, dass die Art und Weise, wie wir leben, grundsätzlich in Frage gestellt ist. Je nach Szenario reichen die Prognosen von mehr oder weniger dramatischen Anpassungsprozessen in unserer Lebensweise bis hin zur Bedrohung des Fortbestands menschlichen Lebens an sich. Langfristig wird sich ein neues ökologisches Gleichgewicht einstellen, aber in den Übergangsphasen drohen dramatische Verwerfungen. Nach dem sehr bekannt gewordenen UN-Report von 2018 zur Klimakrise wurde zum damaligen Zeitpunkt ein Zeitraum von ca. 12 Jahren identifiziert, in dem man durch konsequentes Handeln noch eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C erreichen könne. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass es hinsichtlich der Folgen für das menschliche Zusammenleben einen riesigen Unterschied ergäbe, ob sich die Erde um 1,5 °C oder um 2 °C erwärme. Die Konsequenzen einer Erwärmung um 3 °C lägen jenseits unserer Vorstellungskraft.1 Der UN-Report von 2019 zur Biodiversitätskrise malte ein ähnlich dringliches Bild. Demgemäß seien von den bekannten 8,7 Millionen Arten ca. 1 Million vom Aussterben bedroht. Und die jeweiligen Ökosysteme könnten bei Ausdünnung an schwer vorhersehbaren Stellen „reißen“ und kollabieren.2 Hier sind einige Beispiele aus dem vierten National Climate Assessment Report der USA, der wichtige Effekte der Klimakrise zusammenfasst:3 Die Durchschnittstemperaturen werden weiter steigen, aber der Temperaturanstieg ist weder räumlich noch zeitlich einheitlich. Der Trend zu vermehrtem Starkregen wird anhalten. Dies gilt auch in Regionen, in denen die Gesamtniederschlagsmengen voraussichtlich abnehmen werden. Es wird mehr Dürreperioden und Hitzewellen geben, Wirbelstürme und andere Starkwindereignisse werden häufiger und Einleitung
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stärker. Der globale Meeresspiegel wird bis zum Jahr 2100 um weitere 30–243 cm ansteigen. Die Arktis wird wahrscheinlich eisfrei werden. Diese Veränderungen haben Konsequenzen für das menschliche Leben und Zusammenleben. Dazu zählen: Massenmigration aufgrund von Ressourcenknappheit, häufigeren extremen Wetterereignissen und dem Anstieg des Meeresspiegels, Verschärfung des inner- und zwischenstaatlichen Wettbewerbs um Nahrung, Wasser und andere Ressourcen, erhöhte Häufigkeit und Schwere von Krankheitsausbrüchen.4 In diesem Buch beschäftigen wir uns nicht primär mit Fakten und Simulationen zu den Umweltkrisen und den am häufigsten diskutierten Bewältigungsansätzen (wie der Internalisierung sogenannter Externer Effekte durch die Bepreisung bestimmter klima- und biodiversitätsrelevanter ökonomischer Aktivitäten, privatwirtschaftlicher Investitionsstrategien in nachhaltige Technologien oder staatlicher Investitionsprogramme, die unter dem Namen Green New Deal firmieren). Hierzu sind ausgezeichnete Studien verfasst und Bücher publiziert worden. Dieses Buch geht einer anderen Frage nach. Die Umweltkrisen sind Konsequenzen menschlichen Verhaltens. Externe Effekte sind nicht die Ursache der Krisen, sondern Ausdruck von Verhaltensweisen, die ihren Ursprung in Weltbildern haben. Dabei hat sich in den vergangenen Jahrzehnten das dominante westliche Weltbild in weiten Teilen der Welt durchgesetzt. Dieses erzeugt die Vorstellung, dass Bewältigungsstrategien der Krisen einen Verzicht mit sich bringen, dass wir unser Leben verändern müssen und dass diese Veränderung zu einer Verschlechterung unserer Lebensqualität führen muss. Die nachdenklicheren Stimmen weisen dabei darauf hin, dass die Alternative des Nichtstuns noch schlimmer ist, dass es aber gleichwohl im Vergleich zur Vergangenheit bergab mit unserem Lebensstandard und unserer Lebensqualität gehen muss. Und tatsächlich ist es so, dass die ökonomischen Maßnahmen zur Eindämmung der Krisen wie z.B. handelbare Emissionsrechte oder ein defunding bestimmter Industrien und einer Umleitung der Investitionsströme in nachhaltige Produktionsweisen zu massiven Veränderungen des Preisgefüges und zu disruptiven technologischen und ökonomischen Veränderungen führen werden, wenn die Maßnahmen mit der nötigen Geschwindigkeit und Intensität umgesetzt werden. Hier ist ein Beispiel, dessen Ziel es ist, die Größenordnungen der Veränderungen besser verständlich zu machen: Ein wichtiges regulatorisches Instrument zur Internalisierung Externer Effekte ist die Bepreisung von CO2. Die Weltbank (2018) schätzt, dass ein Preis von 51 $ pro Tonne CO2 die Umweltexternalitäten internalisieren würde (ob dieser Preis richtig ist, ist für das Argument irrelevant). Die Europäische Union hatte zum Zeitpunkt der Studie einen Durchschnittspreis von ca. 22 $ pro Tonne CO2, und dieser umfasste ökonomische Aktivitäten, die für ca. 45 % der Gesamt16 |
Einleitung
emissionen verantwortlich waren. Für die restlichen 55 % kam dieser Preis nicht zur Anwendung. Daran wird erkennbar, welche Preisanpassungen notwendig sind, wenn man das Problem ernsthaft lösen will. Barron et al. (2018) nahmen eine andere Abschätzung vor. Sie schauten sich an, wie stark CO2-Emissionen im Zeitraum 2020–2030 in Abhängigkeit von Preissteigerungen zurückgehen werden. Bei einem Basispreis von 25 $ pro Tonne im Jahr 2020 und einem jährlichen Preisanstieg von 5 % kommen sie auf eine Reduktion der CO2-Emissionen von ca. 20 % bis 2030. Dies ist viel zu wenig, um damit das Problem wirksam lösen zu können, und gleichzeitig bedeutet diese Lösung, dass der Preis inflationsangepasst um ca. 64 % innerhalb von zehn Jahren steigen muss. Die gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen solcher Prozesse sind immens. Damit einher gehen massive Umverteilungsprozesse und der Verlust von Arbeitsplätzen in den alten Industrien, ohne dass klar ist, dass die Beschäftigten in den neu entstehenden Industrien ein Auskommen werden finden können. Staatliche Green-New-DealProgramme können diese Probleme zum Teil entschärfen, aber sie bleiben latent bestehen: Im Kern der Umweltkrisen stehen Verteilungsprobleme, die Solidarität abverlangen oder politisch zu scheitern bzw. das Politische an sich zu destabilisieren drohen. Die Hoffnung, all dies vermeiden zu können, indem wir uns aus dem Schlamassel herausinnovieren, erscheint vor diesem Hintergrund eine Konfliktvermeidungsstrategie nach dem Prinzip Hoffnung zu sein. Das soll nicht heißen, dass es nicht eine Vielzahl interessanter Innovationen gibt und dass hier Durchbrüche im Prinzip möglich sind, es ist aber alles andere als sicher, dass dies genügen wird, um die Folgen der Umweltkrisen effektiv einzudämmen. Daher bleibt ein Ort, an dem man sowohl nach den Ursachen der Umweltkrisen und nach Lösungsstrategien suchen kann: unsere Weltbilder mit den einhergehenden Vorstellungen von Sinn und einem guten, gelingenden Leben. Woher wissen wir eigentlich, was ein gutes Leben ist? Woher kennen wir unsere Interessen, woher stammen unsere Vorstellungen eines gelingenden Lebens? Und sind sie richtig? Dieses Buch geht den Fragen nach, wie diese Weltbilder aussehen, welche Konsequenzen sie für unser Verhalten, unsere Vorstellungen eines gelingenden Lebens und unser Wohlergehen haben und ob sie in irgendeiner Weise rational begründbar sind. Und es geht der Frage nach, ob es nicht alternative und vielleicht sogar rational besser begründbare Weltbilder gibt, innerhalb derer die notwendigen Verhaltensänderungen nicht als Verzicht erscheinen, sondern mit ihnen eine Sichtweise auf das eigene Leben möglich wird, bei der Nachhaltigkeit und ein gelingendes Leben zusammenfallen. Wenn man diese Möglichkeit plausibel machen könnte, ergäben sich aus den Krisen auch potenzielle Chancen, weil sie auf uns Druck ausüben, neu und anders darüber nachzudenken, wer wir sein Einleitung
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wollen, woher wir unsere Vorstellungen eines guten Lebens beziehen, und ob und wie man diese ändern kann. Kurzgefasst werden wir uns mit den folgenden beiden Fragekomplexen auseinandersetzen: • Was sind die relevanten Elemente unserer Weltbilder? Sind unsere Vorstellungen des guten Lebens „richtig“, oder gibt es Elemente in ihnen, die zu Verhaltensweisen führen, die zum einen die Krisen mit verursachen und die zum anderen einem gelingenden, guten Leben abträglich sind? • In welche Richtungen sollte man diese Vorstellungen verändern, und sind solche Veränderungen tatsächlich möglich? Kann es sein, dass solche Veränderungen nicht nur unsere Leben reicher, gelingender machen, sondern zugleich auch eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise ermöglichen? Mit diesem Programm steht dieses Buch nicht allein da. Die „weltanschaulichen“ Ursachen der Krisen werden z.B. auch vom Committee on Climate Change der Regierung des Vereinigten Königreichs betont, und eine Strategie zum Umgang mit ihnen bestehe nach Ansicht dieses Komitees darin, die Art und Weise, wie wir über unsere Beziehung zur Natur denken, psychologisch und kulturell besser zu verstehen und konstruktiv zu verändern.5 Aber wie kann ein solches Nachdenken erfolgen, ohne in Beliebigkeit oder wilden Spekulationen zu enden? Der Ansatzpunkt, der hier gewählt wird, wird zunächst eine Verortung der Gegenwart versuchen. Diese kann aufgrund der enormen Komplexität nur oberflächlich und selektiv sein. Aber sie wird einige wichtige Aspekte des gegenwärtigen Weltbilds aufzeigen und so etwas wie ein Paradox sichtbar machen: Vielen auch materiell wohlhabenden Menschen geht es trotz allen Fortschritts nicht gut. In der Positiven Psychologie gibt es den Begriff wellbeing literacy, Wohlergehenskompetenz. Sie ist definiert als die Fähigkeit, Konzepte des Wohlergehens kontextübergreifend zu verstehen, artikulieren zu können und anzuwenden, um das eigene Wohlergehen, das Wohlergehen anderer oder der Welt zu erhalten oder zu steigern.6 Es stellt sich heraus, dass man solche Kompetenzen nicht einfach hat, sie aber erlernen kann. Daher ist es denkbar, dass die Ursache für das mangelnde Wohlergehen von Menschen nicht in den objektiven Umständen ihrer Existenz liegen, sondern auch „falsche“ Vorstellungen hinsichtlich dessen eine Rolle spielen, was nötig ist, damit das Leben gelingen kann. Spricht man von einem gelingenden Leben, so kann man den Begriff Sinn nicht auslassen. Wozu tun wir die Dinge, die wir tun? Was ist der Zweck, welchen Sinn können wir unserem Leben geben? Fragen nach dem „wozu?“, dem Sinn sind in einer säkularen Kultur problematisch, aber gleichwohl kann man ihnen 18 |
Einleitung
nicht dauerhaft ausweichen. Schaut man solche Fragen empirisch an und fragt, welche Erfahrungen Menschen als sinngebend erleben, so finden sich zwei Spuren, denen wir in diesem Buch nachgehen werden. Zum einen hat Sinn offenbar etwas mit Entgrenzungserfahrungen in einer sehr allgemeinen Bedeutung des Worts zu tun. Zusammen mit Menschen oder für andere Menschen selbstwirksam etwas zu tun, einen Zusammenhang der eigenen Existenz mit etwas Größerem zu erleben (sei dies Gott, Natur oder eine abstrakte Idee) sind Beispiele hierfür. Und man trifft immer wieder auf die Schilderung desselben Typs von Erfahrung, den man am besten mit dem Begriff des Erhabenen als eine bestimmte Form von Grenzerfahrung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, der Sicherheit und dem Ungewissen, der Ordnung und dem Chaos beschreibt. Begriffe wie das gelingende Leben oder das Erhabene sind unwahrscheinliche Kandidaten für eine Suche nach Bedingungen eines guten Lebens angesichts der Umweltkrisen. Sie wirken auf den ersten Blick wie aus der Zeit gefallen. Vorstellungen eines gelingenden Lebens haben tugendethische Quellen, die mit der europäischen Neuzeit aus der Mode gerieten. Und das Erhabene ist ein Konzept aus der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, das nach postmodernen Ausflügen ins Gesellschaftliche zu Beginn das 21. Jahrhunderts in der Kunsttheorie eigentlich als erledigt galt. Aber wie dies ideengeschichtlich so oft der Fall ist, steht in einem solchen Moment eine Renaissance kurz bevor. Und so ist es auch hier. Insbesondere in der Psychologie hat man in den vergangenen Jahren Erfahrungen des Erhabenen, der Ehrfurcht, des Staunens, der Krisenerfahrung usw. wiederentdeckt und mit Fragen nach dem gelingenden Leben verknüpft. Damit holt man diese Konzepte aus der Ecke der Ästhetik heraus bzw. verwendet den Begriff der Ästhetik in einem umfassenderen, ursprünglicheren Sinn als Wissenschaft der Urteilskraft. In dem Maß, in dem man sich mit diesen Konzepten aus einer neuen Perspektive zu beschäftigen begann, kam es auch zu einer Renaissance tugendethischen Denkens. Insbesondere die Neurowissenschaft hat einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, neu und präziser zu sehen, dass und wie Menschen durch ihre Interaktionen mit ihrer Umwelt und innerhalb der Erzählungen ihrer Kultur bestimmte Gewohnheiten des Fühlens, Denkens und Handelns entwickeln, die sich dann über die Zeit zu einer Persönlichkeit, einem Selbst, verdichten. Auf diese Prozesse kann man gezielt Einfluss nehmen, was nichts anderes als der Kern tugendethischen Denkens ist. In diesem Kern spielt wiederum das Erhabene als prototypische Grenzerfahrung eine wichtige Rolle. Dieses Buch ist der vorläufige Endpunkt einer intellektuellen und auch persönlichen Suche nach Antworten auf die zuvor gestellten Fragen. Eingeflossen sind dabei Vorstellungen der westlichen und östlichen Philosophie, der NeuroEinleitung
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wissenschaft, der Psychologie sowie der Literatur und Kunst. Wenn man versucht, ein sich in der Gesamtschau dieser Perspektiven ergebendes Bild zu zeichnen, so fällt dies überraschenderweise gar nicht so schwer. Tatsächlich bekommen die Antworten auf Fragen nach Sinn und unserer grundsätzlichen Verortung in der Welt eine bestimmte Struktur, wenn man die genannten Forschungsrichtungen und Kunstformen sichtet und ihre Gemeinsamkeiten erfasst. Es zeigt sich dann ein erstaunlich kohärentes Bild hinsichtlich der Erfahrung von Sinn und den Bedingungen eines gelingenden Lebens. Eine Orientierung dieses Bilds entlang der Achse des Erhabenen erweist sich dabei als ausgesprochen fruchtbar, da sie einen doppelten Zugriff auf die Fragen dieses Buchs ermöglicht. Zum einen werden aus der Perspektive des Erhabenen eine Reihe von gesellschaftlichen Prozessen auf Arten und Weisen interpretierbar, die wichtige und neue Einsichten in bestimmte Prozesse der Gegenwart erlauben. Und zum anderen kann dasselbe Konzept herangezogen werden, um besser zu verstehen, wie Menschen Sinn erfahren und wie Vorstellungen des gelingenden Lebens Veränderungen erfahren können. Dabei sind Veränderungsprozesse von Weltbildern selbst (zum Teil existenzielle) Grenzerfahrungen, so dass das Erhabene auch auf dieser Ebene eine Rolle spielt. Folgt man dieser Spur, so kommt man am Ende bei etwas an, das Umweltethik des gelingenden Lebens genannt werden kann.
Die Dose des Aristoteles Wenn man den Begriff Sinn genauer ins Auge fasst, so kommt man bald zu einer wichtigen Unterscheidung, die wir bis zu Aristoteles zurückverfolgen können. Er trennt zwischen Dingen, die wir tun oder besitzen wollen, um damit etwas anderes zu erreichen, und Dingen, die nicht Mittel zu einem anderen Zweck, sondern Zweck an sich sind. Ein Leben, welches sich an diesem Zweck ausrichtet, ist für ihn das gelingende, eudaimone Leben. Damit entsteht eine Bedürfnishierarchie von unterschiedlichen Mitteln, die alle auf einen Zweck zulaufen, wie wir sie etwa bei Maslow (1943, 1964) ausformuliert finden. Er war ein Begründer der Positiven Psychologie und einer der ersten Psychologen, der im 20. Jahrhundert die Frage nach dem guten Leben wissenschaftlich erforscht hat. Die Zusammenfassung seiner Erkenntnisse in der sogenannten Bedürfnishierarchie hat so große Bekanntheit erlangt, dass sie einen guten Ausgangspunkt zur Illustration bildet, auch wenn die Überlegungen dieses Buchs nicht an der Akzeptanz dieser Theorie hängen. Maslow unterscheidet sechs Bedürfnisebenen, die sich je nach sozioökonomischem Status und Lebensalter artikulieren und sich überlappen können. (1) 20 |
Einleitung
Auf der untersten Ebene sind physiologische Grundbedürfnisse, die das kurzfristige Überleben sichern, z.B. Atmung, Wasser, Nahrung oder Schutz vor Witterung. (2) Hierzu treten Bedürfnisse nach Sicherheit, die das Überleben über den Tag hinaus sichern, z.B. physische und psychische Unversehrtheit, Arbeit, Wohnung, Gesundheit. (3) Auf der dritten Ebene treten soziale Bedürfnisse hinzu, also Familie, Freundschaft, Gruppenzugehörigkeit. (4) Die vierte Ebene umfasst die sogenannten Individualbedürfnisse nach Vertrauen, Wertschätzung, Selbständigkeit, Erfolg, Freiheit. (5) Auf der ursprünglich letzten Stufe siedelte Maslow die Selbstverwirklichung an. Dabei geht es um die Umsetzung von Talenten, Potenzialen und Kreativität, um „Entwicklung“ und „Wachstum“. (6) Später ergänzte er die Hierarchie um die Stufe der Transzendenz, womit er sowohl eine Fähigkeit zur Überschreitung der eigenen Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten als auch Erfahrungen der Zugehörigkeit verstand, die über die Gruppenzugehörigkeit der Stufe 3 hinausgehen. Diese 6. Stufe ist dabei nicht notwendig religiös gedacht, sondern entspricht einem Bedürfnis des Menschen, welches sich religiös äußern kann, aber nicht muss. In weiteren Differenzierungen nahm er auch noch kognitive Bedürfnisse nach Wissen und ästhetische Bedürfnisse nach einer verfeinerten Wahrnehmung hinzu, die er zwischen den Individualbedürfnissen und den Selbstverwirklichungsbedürfnissen ansiedelte. Implizit ist dieser Hierarchie ein bestimmtes Menschenbild hinterlegt, und Maslow ist aus den unterschiedlichsten Gründen für sie kritisiert worden: Sind es die richtigen Stufen? Handelt es sich um universale menschliche Bedürfnisse oder haben die Stufen eine kulturelle Färbung? Gibt es eine strenge Hierarchie, so dass man erst zu Stufe 3 kommt, wenn man Stufe 1 und 2 erreicht hat? Und wann hat man sie erreicht? Für uns sind diese Debatten unwichtig, solange man daran festhält, dass Menschen nicht einfach „statisch“ sind, d.h. mit gegebenen Vorlieben, Werten oder Weltanschauungen leben, sondern dass sie sich zu einer bestimmten Persönlichkeit aufgrund ihrer Erfahrungen und im Kontext ihrer Gesellschaft entwickeln. Was in der Hierarchie gut zum Ausdruck kommt, ist, dass Menschen unterschiedliche Typen von Bedürfnissen haben, dass Fragen nach Sinn etwas mit den „höheren“ Stufen zu tun haben und dass Fragen nach dem guten, gelingenden Leben auf das Zusammenspiel aller Stufen bezogen sind. Alternativ könnte man zur Illustration neben anderen auch Piagets (1965 [1932]) Theorie der Moralentwicklung oder ihre Weiterentwicklung durch Kohlberg (1996) heranziehen. Neuere und anders akzentuierte Ansätze von Entwicklungsethiken finden sich z.B. bei Haidt (2006). Dieses Element der Entwicklung ist zentral für die Argumentation dieses Buchs.
Die Dose des Aristoteles
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Fragen nach Selbstverwirklichung oder Transzendenz kommen ohne eine zumindest implizite Antwort auf die Frage nach dem Zweck an sich nicht aus: Was ist dieser Zweck, und wie kann ich ihn erreichen? Und hier wird es schwierig, denn eine inhaltliche, für alle Menschen verbindliche Spezifikation gibt es nicht. Eudaimonie ist so etwas wie ein Aufkleber auf einer Dose, deren Inhalt man nicht kennt. Der Begriff ist ein Platzhalter für eine Leerstelle. Er ist aber eine Leerstelle, die immer wieder zu füllen und zu bestimmen versucht wird. Innerhalb des religiösen Weltbilds der abrahamitischen Religionen ist eine Antwort auf die Frage nach dem guten Leben ebenfalls möglich: es ist ein Leben, welches sich an Gott ausrichtet, was immer das innerhalb der einzelnen Traditionen genau heißt. Wir erreichen hier die höchste Hierarchiestufe in Maslows Vorstellung, die Transzendenz. Der Inhalt der Dose, auf der Eudaimonie steht, ist bestimmt. Mit der Moderne sind wir aber in ein säkulares Zeitalter eingetreten, in dem die religiösen Erzählungen für viele Menschen an Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit verloren haben. Und auch religiöse Menschen innerhalb einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft sind mit dem Umstand konfrontiert, dass andere Menschen zu anderen Schlüssen kommen als sie. Damit stellt sich aber erneut die Frage, was in der Eudaimonie-Dose eigentlich drin ist; die Leerstelle ist zurück. Manche Vertreter einer säkularen Moderne, die einem materialistischen Weltbild anhängen, würden die Idee eines personalen Gotts als Aberglauben zurückweisen und selbst die Idee transzendenter Bedürfnisse bestenfalls als sinnlos erachten. Das Leben hat keinen Sinn, es gibt nur ungerichtete Evolution, und es ist Teil des Erwachsenwerdens des Menschen, dies zu akzeptieren und gleichwohl gut zu leben. Hiermit einher gehen die als Relativismus oder Subjektivismus bezeichneten Überzeugungen, dass Wertefragen, die nicht nur für Vorstellungen nach Sinn und dem guten Leben relevant sind, sondern auch für moralische Fragen des Zusammenlebens, letztlich selbst nicht mehr als Geschmacksurteile sind. Daher findet man in säkularen Gesellschaften oftmals andere Inhalte in der Dose: So kann man zu dem Schluss kommen, dass das gute Leben ein Leben ist, welches den sinnlichen Genüssen gewidmet ist. Diese Position nennt man Hedonismus. Hier würden beispielsweise Maslow und auch Aristoteles widersprechen: Wir würden bei einem solchen Leben die oberen Stufen der Hierarchie nicht erreichen, das Potenzial, welches das menschliche Leben biete, läge brach, man führte ein „flaches“ Leben. Oder man könnte zu dem Schluss kommen, dass das gute Leben darin bestünde, nach Macht, Einfluss und Anerkennung zu streben. Aber auch hier wür-
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den Maslow und Aristoteles widersprechen: Macht sei kein Zweck an sich, sie müsse zu etwas gut sein. Taylor (2007) steht in einer langen Reihe von Gesellschaftstheoretikern, die in dieser Entwicklung eine der zentralen Ursachen für etwas sehen, dass er die Malaise der Moderne nennt, und womit sich eine wichtige anthropologische Prämisse verbindet: In einer solchen Welt, in der jeder Einzelne nach seinem Sinn suchen müsse und in der die grundlegenden Überzeugungen eines materialistischen Weltbilds „sinnfeindlich“ seien, entstehe eine Flachheit des Daseins. Er schreibt, man habe sich zu allen Zeiten über die Gegenwart beschwert, man habe gesagt „that it is fickle, full of vice and disorder, lacking in greatness or high deeds, full of blasphemy and viciousness. But what you won’t hear at other times and places is one of the commonplaces of our day [...] that our age suffers from a threatened loss of meaning.“7 Konsum etc. könne für eine Weile davon ablenken, dass diese Leere im Zentrum der Existenz bestehe, aber die Leere bliebe. Für ihn und andere Gesellschaftstheoretiker ist es Teil des Menschseins, Sinn zu suchen. Ein philosophischer Materialist mag an dieser Stelle einwenden, dass man dieser Prämisse ja durchaus folgen könne, dass ein Bedürfnis nach Sinn aber noch nicht bedeute, dass es einen solchen Sinn auch gebe. Ein Sinnbedürfnis habe vielleicht sogar evolutionär erklärbare Vorteile, jede Vorstellung von Sinn bliebe gleichwohl eine Illusion. Wenn man in die empirische Forschung zu Sinnerfahrungen schaut, so zeigt sich ein Muster. Es sind Erfahrungen, die nach Maslow etwas mit Selbsttranszendenz, mit Einssein und Zugehörigkeit in einem abstrakteren Sinne oder im Sinne der Gruppenzugehörigkeit zu tun haben. Und diese Erfahrungen haben etwas an sich, das sich einer sprachlichen Wiedergabe entzieht. Sie werden als sinnstiftend empfunden, aber gleichzeitig sind sie anderen Menschen nicht wirklich nachvollziehbar mitteilbar. Diese Ineffabilität ist auch ein Schlüssel zum Verständnis, warum der Inhalt der Dose des Aristoteles nicht beschreibbar ist: Sinn ist nichts, was sich in Sprache vermitteln lässt, Sinn zeigt sich als Erfahrung. Was aber nicht heißt, dass solche Erfahrungen beliebig sind. Sie gehen oftmals mit einem Gefühl des Erhabenen und der Ehrfurcht einher und haben für das einzelne Leben einen transformativen Charakter, der Menschen ihre bisherige Lebensführung überdenken lässt, sie in empirischen Studien weniger status- und konsumorientiert, aber dafür mitfühlender und kooperativer macht. Sinnerfahrungen gehen oft auch damit einher, dass Kooperation nicht als Pflicht gesehen wird, die dem kurzfristigen eigenen Interesse widerspricht. Vielmehr ändert sich die Vorstellung des Eigeninteresses und wird „inklusiver“. Dieser durch Sinnerfahrungen ausgelöste transformative Prozess geht einher mit der Wahrnehmung Die Dose des Aristoteles
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größerer Autonomie, Selbstbestimmtheit und Freiheit. Und die Bedeutung von Freiheit verändert sich; mit ihr ist weniger die äußere Freiheit, also die Fähigkeit, der Welt den eigenen Willen aufzuzwingen, gemeint, sondern eine innere Freiheit, eine Art der Selbstbestimmtheit des Willens. Studien zeigen, dass solche Erfahrungen gar nicht so selten sind, wie man denken könnte. Der Weg zu ihnen wird dabei oftmals durch eine Krise initiiert und durch weitere Krisenmomente gekennzeichnet. Transformative Krisen sind ein Initiator dieser Erfahrungen. Weniger dramatisch und auch weniger transformativ, aber mit einer hohen subjektiv zugeschriebenen Bedeutung machen Menschen solche Erfahrungen regelmäßig in der „Natur“. Natur scheint die wichtigste Quelle „spiritueller“ Erfahrungen in einer säkularen Kultur zu sein. Wenn man solche Erfahrungen ernst nimmt und der Frage nachgeht, was sie über den Inhalt der Dose des Aristoteles sagen, so kommt man zu bestimmten Themen, die in der Geschichte immer wieder auftauchen und die es erlauben, einen systematischeren Zugang zu Fragen nach dem „wozu?“, nach Sinn zu finden.
Mögliche Einwände Dies mag zu schön klingen, um wahr zu sein, und einem Herumbasteln an Weltbildern sollte aus unterschiedlichen Gründen mit Skepsis begegnet werden. Der auf eusoziale Insekten spezialisierte Biologe E. O. Wilson antwortete einmal auf die Frage, was er vom Marxismus halte, mit dem Satz „[W]onderful theory, wrong species.“8 Und auch bei den Thesen dieses Buchs stellt sich die Frage, ob sie eine ernstzunehmende Option beschreiben oder Wunschdenken sind. Können Menschen ihre Lebensweise und ihre Weltanschauung ändern und dabei sogar ein besseres, gelingenderes Leben führen? Im Detail wird sich diese Frage erst im Verlauf des Buchs klären, hier sollen aber drei mögliche Einwände kurz diskutiert werden. Als Erstes fallen hier mahnende Beispiele für Umerziehungskampagnen von Menschen oder Bevölkerungsgruppen mit „falschem Bewusstsein“ ein. Solche Experimente waren selten von Erfolg gekrönt und endeten regelmäßig in Tragödien. Wenn hier von einer Veränderung eines Weltbilds gesprochen wird, sind damit keine Experimente in gesellschaftlicher Umerziehung gemeint, sondern eine Einladung, zu schauen, ob die Thesen des Buchs stimmig sind. Zweitens hat die Idee, Weltbilder und Sichtweisen auf das eigene Leben ändern zu wollen, oftmals einen merkwürdigen Beigeschmack. Wir sind Kinder der europäischen Aufklärung, und unser Weltbild verkörpert Wissenschaftlichkeit und Rationali24 |
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tät, so die landläufige Auffassung. Mit diesem Einwand kann man konstruktiv umgehen, wenn mehrere Nachweise erbracht werden. Erstens sollte plausibel gemacht werden können, was die Konstruktionsbedingungen dieses Weltbilds sind. Zweitens sollte gezeigt werden, dass dieses gar nicht immer den Standards der Rationalität und Wissenschaftlichkeit genügt bzw. unvollständig ist. Und es sollte drittens gezeigt werden, dass ein alternatives Weltbild ebenfalls oder in höherem Ausmaß Standards der Rationalität erfüllt und zugleich Vorstellungen eines gelingenden Lebens verwirklicht. Ein weiterer Einwand ist, dass Weltbilder nicht einfach wie Steuersysteme konstruiert werden können. Der beste Weg, mit diesem Einwand umzugehen, besteht darin, historisch und/oder interkulturell nachzuweisen, dass es immer wieder solche Veränderungen gab. Weltbilder als kulturelle Phänomene (oder als Kultur) zu verstehen, heißt aber nicht, damit einen radikalen Konstruktivismus anzuerkennen. Die Wirklichkeit leistet absurden Konstruktionen Widerstand. Aber gleichzeitig gibt es Spielräume für Konstruktion. Innerhalb dieser Spielräume sollte es möglich sein, Kultur und Weltbilder zu ändern. Eine Änderung ist aber nicht einfach, weil an Weltbildern zugleich unsere soziale Identität, unser Selbst, hängt. Wir denken über uns in Form von Geschichten, und verändern wir die Geschichten, so verändert sich unser Selbst. Dies kann auf alle möglichen Widerstände stoßen, mit denen wir uns noch beschäftigen werden. Was zu einem weiteren möglichen Einwand führt: Die Corona-Pandemie ist ein Test für die These, dass Menschen durch eine Veränderung ihrer Weltbilder einen anderen, besseren Umgang mit Krisen finden können. Und auf den ersten Blick sieht es nicht gut aus für diese These: Die Pandemie zwang uns Veränderungen unserer Lebensweise auf, an denen die meisten Menschen litten. Sie führt vielleicht auf einer eher abstrakten Ebene zu einem Verständnis, dass wir weniger Kontrolle haben, als wir uns in normalen Zeiten vielleicht gern einreden würden, dass wir ggf. bestimmte Verhaltensweisen überdenken sollten und dass Werte wie Solidarität eine große Rolle bei einem erfolgreichen Umgang mit Krisen spielen. Aber im Alltag fühlt sich das anders an. Die Pandemie erzwingt Verhaltensänderungen, die gegen unsere tiefsten Instinkte gehen, die wir zum Umgang mit Bedrohungen entwickelt haben: ein enges Zusammenrücken mit Familie, Freunden, Gruppe, um sich besser verteidigen zu können. Eine effektive und rationale Pandemiebekämpfung verhindert dies zumindest kurz- und mittelfristig, und darauf sind die meisten Menschen nicht eingestellt. Ein solches Verhalten ist aber nicht typisch für das, was ein rationaler Umgang mit den Umweltkrisen von uns fordert. Darüber hinaus ist die Situation so schwierig, weil ein Großteil des menschlichen Verhaltens auf Routinen und Gewohnheiten basiert. Mögliche Einwände
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Es dauert lange, um diese zu verändern, selbst wenn das theoretische Wissen darum, dass sie verändert werden sollten, vorhanden wäre. Aus Gründen, die im Buch noch angesprochen werden, sind Verhaltensänderungen zunächst meist unangenehm; sie entfalten ihr positives Potenzial erst langfristig. Wie wir sehen werden, können Veränderungen durchaus durch Krisen hervorgerufen werden, aber am Ende kommen sie nur zustande, wenn man sie im Vertrauen auf ihre positive transformative Kraft auch aktiv anstrebt.
Übersicht Die Frage nach dem guten Leben lässt sich nur durch eine Zusammenschau unterschiedlicher Perspektiven sinnvoll fassen. Es geht um Fragen des Sinns und um Fragen der Erkenntnis. Es geht um individuelle Dispositionen, die aber wiederum nur innerhalb einer Gesellschaft mit ihren symbolischen Ordnungen erschlossen werden können. Und es geht um Erfahrungen, die sich einer sprachlichen Vermittelbarkeit in einem noch zu präzisierenden Sinn entziehen. Der Einstieg über Fragen des gelingenden Lebens und Maslows Bedürfnishierarchie ermöglicht daher einen Zustieg zur Argumentation dieses Buchs, aber es ist nicht in einer stets linearen Struktur geschrieben. Seine Struktur entspricht eher der eines Gewässernetzes. Insbesondere wenn man Theorien aus unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft zusammenbringt, entstehen multiple Bezüge, Schleifen, Uneindeutigkeiten, die man nicht einfach eliminieren sollte, weil gerade in ihnen ein zentrales Erkenntniselement liegt. Die zugrundeliegende Epistemologie ist eher assoziativ, sie sucht nach Kohärenz zwischen unterschiedlichen Gedankengängen und Theorien. Man kann bestimmte Ordnungsmuster schaffen, aber sie folgen keiner klaren Hierarchie oder linearen Struktur. Ein begradigter Fluss ist ein instrumentalisierter Fluss, er wird in den Dienst eines einfachen Ziels gestellt. Die Wirklichkeit ist aber komplex, sie folgt keinem linearen Narrativ. Ähnlich wie ein begradigter Fluss ist ein begradigtes Argument, ein klarer roter Faden eine Vereinfachung im Dienst einer bestimmten Sache, die Klarheit schafft. Dies ist für das Ziel dieses Buchs nicht angemessen. Gewässernetze mit all ihren Verzweigungen, Mäandern, Inseln, Zu- und Abflüssen haben aber gleichwohl eine Richtung, ein „Fließen“. Eine solche Richtung ist auch in diesem Buch gegeben: politische, kulturelle und wissenschaftliche Phänomene säkularer Gesellschaften werden mit Fragen nach Sinn und Transformation aus der Perspektive des Erhabenen betrachtet. Die Hoffnung besteht dabei darin, dass das Erhabene als Ordnungsprinzip sowohl bisher als getrennt gesehene Phänomene miteinander 26 |
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auf interessante Weise verbindet als auch einen neuen Blick auf Fragen nach Sinn und Zugehörigkeit erlaubt. Die einzelnen Argumente fügen sich innerhalb des Textes zu einem Gesamtverständnis zusammen. Gehen wir zurück zu Maslow oder Aristoteles, so sehen wir, dass das gelingende Leben jeweils als ein Entwicklungsprozess gedacht wird. Dieser Entwicklungsprozess wurde in vielen Kulturen und zu allen Zeiten beschrieben, u. a. seit Joseph Campbell (2008 [1949]) als Heldenreise. Interessanterweise stehen bei der Heldenreise als „Reise nach innen“ ebenfalls transformative Erfahrungen im Zentrum, die in den empirischen Studien zu Sinnerfahrungen genannt werden und die wir mit der Erfahrung des Erhabenen in Zusammenhang gebracht haben. Sinn, so lautet daher die These, hat etwas damit zu tun, das Leben als einen Prozess zu verstehen, in dem man durch bestimmte Erfahrungen zu einem tieferen Verständnis des eigenen Lebens, seiner Position in der Welt kommen kann. Der Begriff Held ist wahrscheinlich für die meisten Menschen männlich besetzt. Schließt man daher mit dem Konzept der Heldenreise Frauen aus? Wie sieht es mit sich nichtbinär wahrnehmenden Menschen aus? Der Begriff Held ist am Ausgang einer patriarchalen Kultur intuitiv tendenziell männlich besetzt. Wir werden uns mit der Frage auseinandersetzen, ob damit auch die Erfahrungen der Heldenreise, die durch das Zusammentragen mythologischer Heldengeschichten und ihrer psychologischen und anthropologischen Interpretationen gewonnen wurden, verzerrend und diskriminierend sind, wenn sie als Modell für menschliche Entwicklung genommen werden, und wir werden in Kap. 9 argumentieren, dass die wesentlichen Elemente der Reise nach innen nicht geschlechterspezifisch sind. Aber zuvor müssen wir eine unbequeme Grundsatzentscheidung treffen. Lässt man den Begriff Heldenreise fallen und ersetzt ihn durch etwas anderes, z.B. „Reise nach innen“, so geht mit dem neuen Begriff der bekannte und wichtige Bedeutungsraum des Campbell’schen Begriffs verloren. Also belassen wir es vorläufig oftmals bei dem Begriff und versehen ihn mit einer mentalen Fußnote, die uns daran erinnert, dass er nochmals genau angeschaut wird. Das Erhabene als zentrales Element der Heldenreise erzählt von einer Grenzerfahrung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Die Grenze zwischen diesen Bereichen erschreckt und fasziniert zugleich. An ihr kommt die Fassungsund Vorstellungskraft zu einem Ende, hinter ihr liegt die Freiheit des „Anderen“. Die Geschichte des Erhabenen ist auch eine Geschichte der sicheren Distanz: damit das „Andere“ nicht Schrecken ist, muss man sich der Grenze mit einer Sicherung nähern. Dann aber ist der Schritt ins Andere ein Schritt in die Freiheit, in ein reiches, neugieriges, volles Leben. Traut man sich nicht, den Schritt über diese Grenze zu gehen, sondern sichert man sich, indem man Grenzzäune und Übersicht
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Mauern baut, die vor dem Unbekannten schützen sollen, so verpasst man sein Leben; man wartet nur, bis es vorbei ist. Das Erhabene spielt eine zentrale Rolle, wenngleich man solche Erfahrungen vielleicht nicht mit diesem Namen verbindet, weil der Begriff ein Grenzphänomen beschreibt: es ist eine Erfahrung am Rand des Bekannten und macht damit Freiheit und zugleich Zugehörigkeit spürbar. Was das Konzept letztlich in eine Erfahrung verdichtet, sind die elementaren Phänomene Ordnung/Sicherheit/Bekanntes und Wildheit/Gefahr/Unbekanntes und damit letztendlich die eigenen Ängste, die zurückhalten. Oder umgekehrt die Erfahrung von Sicherheit, die der Wildheit die Bedrohlichkeit nimmt, und schließlich Vertrauen, welches Sicherheit erst möglich macht. Die Heldenreise kann ganz unmittelbar als äußere Reise an den Rand des Bekannten gedeutet werden, an dem das Erhabene wartet. Sie ist aber vor allem auch eine Reise nach innen, und die Prüfungen, die dort auf die Heldin und den Helden warten, sind ihre konventionellen Vorstellungen von Leben und unbewusste Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, mit denen sie sich konfrontieren und die sie zurücklassen müssen, damit ein Leben in Fülle möglich wird. Sie schaffen sich hiermit die Sicherheit, den Grund, auf dem sie ein Leben aufbauen können. Erst wenn sie diese inneren Grenzen überwunden haben, können sie die Vielzahl möglicher anderer Grenzüberschreitungen aus einer Position der Sicherheit erleben. Dies ist die positive Geschichte von Befreiung und Wachstum. Aber die negative Geschichte von Stagnation und Angst gibt es auch: Macht sich der Held nicht auf die Reise nach innen, so werden ihn die Verdrängungen und Konventionen beengen, und die Grenzen werden nicht zu Orten erhabener Bereicherung, sondern zu Angsträumen, vor denen er sich schützen muss. Kontrolle, Mauern und Abgrenzung treten an die Stelle von Freiheit, Offenheit und Wachstum. Das Bedürfnis nach Sinn, existenzieller Sicherheit und Zugehörigkeit bleibt weiterhin bestehen, es führt aber nicht zu innerem Wachstum, sondern äußert sich anders. Das Erhabene kann auch im Aufgehen in der Gruppe erfahren und durch das Charisma einer Führungspersönlichkeit katalysiert werden. Das Bekannte und das Fremde findet dann eine Entsprechung in der Abgrenzung zu „dem Fremden“ und „den Fremden“. Kommen wir zurück zur Ausgangsfrage nach den Möglichkeiten der Erfahrung von Sinn, Zugehörigkeit und dem gelingenden Leben in einer säkularen Kultur. Wenn empirisch solche Erfahrungen gekoppelt sind an Erfahrungen des Erhabenen, stellt sich die Frage, ob sie wissenschaftlich und gesellschaftlich ernst genommen werden können oder sogar müssen. Wir reden hier mit anderen Worten von der Legitimität des Rationalitäts- und Wissensbegriffs, der von einer Gesellschaft zugrunde gelegt wird. Handelt es sich bei solchen Erfahrungen 28 |
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um Spinnereien, oder sind wir angehalten, solche Erfahrungen ernst zu nehmen, wenn wir unsere eigenen Vernunftstandards konsequent anwenden? Wir werden uns auch mit diesen Fragen beschäftigen und zu dem Schluss kommen, dass eine konsequente Anwendung der Idee von Vernunft und ein entsprechend formulierter Begriff des Wissens nicht nur dazu führen, dass man solche Erfahrungen ernst nehmen kann, sondern dass man sie ernst nehmen und in den Begriff von Wissen integrieren muss, dass es eine rationale Grundlage einer säkularen Spiritualität gibt, die sich allein aus einer konsequenten Anwendung der immer schon verwendeten Vernunftstandards ableiten lässt. Der Begriff spirituell wird dabei zunächst im Sinne des lateinischen Begriffs spiritualis, also „geistig, den Geist betreffend“, verwendet, bezieht sich also auf die Ganzheit aller mentalen Prozesse und Phänomene. Er kann aber auch „sich auf den Atem beziehend“ bedeuten, was die körperliche Qualität betont. Das bedeutet nicht, dass alles Gerede über transzendente Erfahrungen oder Sinn diese Standards erfüllt, ganz im Gegenteil. Aber Quacksalberei und dummes Zeug gibt es auch in anderen Bereichen des Lebens, einschließlich der Wissenschaft. Eine genaue Definition folgt in Kap. 10. Wir werden schließlich den Versuch unternehmen, besser zu verstehen, was der Begriff der säkularen Spiritualität konkret bedeuten könnte. Nimmt man die empirischen Ergebnisse mit den kulturtheoretischen und philosophischen Gedanken zusammen, die um Sinnerfahrungen, das Erhabene und die Heldenreise kreisen, so fällt auf, dass sie eine große Nähe zu vielen Weisheitslehren der Menschheit haben. Wir werden mit dem Buddhismus eine solche Tradition als eine Art Fallstudie herausgreifen. Im Buddhismus hat man sich immer schon auf eine Reise nach innen begeben und dabei tiefes Wissen über die Funktionsweise des Geistes erlangt; es handelt sich um eine Phänomenologie des Geistes, die durch genaue Beobachtung und Training zu einem tiefen Verständnis seiner Funktionsweise führt und diese auf positive Art verändern kann. All die zuvor angesprochenen Themen finden sich in den buddhistischen Lehren wieder und werden in einen Zusammenhang gebracht. Ein tieferes Verständnis dieses Zusammenhangs kann es erlauben, besser zu verstehen, was eine Reise nach innen sein kann, und gleichzeitig, einen Blick von außen auf die eigenen kulturellen Prägungen zu werfen, die aus der Innenperspektive oft unsichtbar bleiben. Der Buddhismus bietet sich aber auch deshalb an, weil zu vielen seiner zentralen Vorstellungen in den vergangenen Jahren eine intensive neurowissenschaftliche Forschung entstanden ist, so dass wir eine sich immer weiter vertiefende Anschlussfähigkeit zwischen diesem Denken und modernen westlichen Forschungsmethoden haben.
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Diese Bemerkung ist auch aus einer methodischen Perspektive wichtig. Bei diesem Buch handelt es sich weder um eine kulturtheoretische noch um eine historische Arbeit, wenngleich kulturtheoretische und historische Forschung eine Rolle spielt. Es wurde stattdessen versucht, diese um Theorien und empirische Ergebnisse der Psychologie, Evolutionstheorie und Neurowissenschaft sowie der Kunst und Literatur zu ergänzen, um besser zu verstehen, inwieweit sie Plausibilität außerhalb ihres engen wissenschaftlichen Kontexts besitzen. Die methodische Prämisse ist dabei, dass Hypothesen ein höheres Maß an Vertrauenswürdigkeit besitzen, wenn sie aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven stützbar sind. Hier ist ein Beispiel: Nur subjektiv erlebbare Erfahrungen von Einssein, Auflösung eines „kleinen Selbst“ des Alltagserlebens, Verantwortung usw., die bei Maslow auf Stufe 6 seiner Hierarchie angesiedelt sind und die in der empirischen Forschung zu Sinnerfahrungen immer wieder genannt werden, stehen im Zentrum der buddhistischen Lehre, und durch Ergebnisse der Neurowissenschaft verstehen wir zunehmend, wie im Gehirn ein „Selbst“ entsteht und wie dieses durch bestimmte Praxen und Erfahrungen „entgrenzt“ werden kann. Dieses methodische Verfahren hat Risiken. Das offensichtlichste ist das Risiko des Dilettantismus, welcher zu falschen Schlussfolgerungen führt. In einer Zeit zunehmender wissenschaftlicher Spezialisierung ist es an der Tagesordnung, sich auf einen kleinen Teil der Forschung in einem Gebiet zu spezialisieren, um dann dort mit Verantwortung den Wissensstand und all das nur implizite Wissen um interpretatorische Probleme, Schwächen etc. zu kennen. Es ist heute völlig unmöglich, Generalistentum mit Expertentum zu vereinbaren, und dies gilt umso mehr, wenn man auch noch Vorstellungen integrieren möchte, die aus einem anderen Kulturkreis stammen. Ein solcher Versuch muss notwendig zumindest in den Details zu Fehlern und Fehleinschätzungen führen. Die wohl einzige Rechtfertigung, die man gleichwohl für einen solchen Versuch geben kann, besteht in den Risiken der Spezialisierung. Wenn Philosophie und Forschung eine lebensweltliche Bedeutung haben sollen, muss man versuchen, die spezialisierten Ergebnisse der einzelnen Gebiete zusammenzudenken. Ansonsten verliert man den Zusammenhang aus den Augen. Die Risiken einer Gesellschaft, die mit einem unkoordinierten Expertentum einhergehen, bei dem in Tausenden von Einzelbereichen lokales Wissen zu Veränderungen führt, deren Zusammenhang niemand mehr versteht, ist real. Es ist zu hoffen, dass die Fehler im Detail, die bei diesem Versuch eines Zusammendenkens entstanden sind, keinen wichtigen Effekt auf die generellen Schlussfolgerungen haben. Der Versuch einer Schlussfolgerung und damit auch einer Beantwortung der Frage, ob und wie eine Form der säkularen Spiritualität möglich ist, kommt zu30 |
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rück zu den empirischen Ergebnissen von Erfahrungen tiefer Zugehörigkeit zu und in Natur. Wie die Umweltphilosophie herausgearbeitet hat, sind die Begriffe Natur, Zivilisation und Wildnis höchst problematische kulturelle Konstruktionen. Anhand eines veränderten Verständnisses dieser Begriffe kann das Spirituelle in den Alltag gebracht werden. Es gibt ein Erhabenes des Alltäglichen (englisch everyday sublime), dem man sich öffnen kann, damit es als ständige Quelle von Zugehörigkeit und Sinn erfahrbar wird. Die Erfahrung des Erhabenen angesichts überwältigender Natur kann den Blick für die Wichtigkeit dieser Erfahrung für das eigene Leben öffnen. Sie drängt sich so sehr auf, dass man ihr nicht entgehen kann. Das Erhabene des Alltags ist leiser, und man muss die Aufmerksamkeit entwickeln, um es wahrzunehmen. Aber es ist da. Damit einher geht auch eine Notwendigkeit, sich auf den Ort, an dem man sich befindet, tief einzulassen. Eine solche Ortskenntnis (englisch sense of place) öffnet nicht nur für das everyday sublime, sondern schafft auch Wissen und Verständnis für die geologische Zeit, die ihn geformt haben, für die klimatischen Gegebenheiten, die ihn ausmachen, und für die Tiere und Pflanzen, die dort in Einklang mit den Gegebenheiten existieren. Eines dieser Tiere ist der Mensch, und somit bekommt man auch ein besseres Verständnis für sich selbst, die lokale Kultur und die Interdependenzen und Rhythmen des Orts. Sense of place schafft auch ein Gefühl von Verantwortung, denn man kann nur Verantwortung für etwas übernehmen, das man kennt und zu dem man eine Beziehung aufgebaut hat. Diese Form der Verantwortung ist kein Verzicht, sondern eine Bereicherung. Wir werden eine Möglichkeit des Zusammenspiels säkularer Spiritualität, des everyday sublime und des sense of place exemplarisch anhand der Shanshui-Kunst illustrieren, die vor rund 1500 Jahren in China in einer Situation entstanden ist, die der unseren in bestimmten Dimensionen ähnelt. In der Gesamtschau erkennt man die zweite Herausforderung dieses Versuchs: Die Analyse und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen sind in ihren Einzelelementen oftmals bekannt, und auch die Implikationen für das Leben jedes Einzelnen sind immer wieder benannt worden. Warum also gleichwohl ein weiterer Versuch? Vielleicht kann man hier zwei Antworten geben. Zum einen besteht die Hoffnung darin, dass angesichts der immer drängenderen Umweltkrisen ein Bewusstsein dafür wächst, dass der Umgang mit ihnen nicht nur in der vagen Hoffnung auf eine neue Technologie liegen kann, die es uns erlaubt, so weiterzumachen wie bisher. Und dass auch ein Bewusstsein wächst, dass bei einer unveränderten Sicht auf unsere Interessen und ein gelingendes Leben als bequemes Leben immer weiter fortgesetzten Konsums nur dann nicht ins Chaos führt, wenn wir ein staatliches Zwangssystem aufbauen, welches den Versuch darstellt, Übersicht
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uns vor uns selbst zu schützen. Die Hobbes’sche Vision eines Leviathan-Staats ist für jemanden, der an die Idee von Autonomie und Freiheit glaubt, eine Dystopie. Damit es hierzu aber eine Alternative geben kann, die nicht in Resignation und dem nur halbherzigen Versuch einer Eindämmung der Krisen besteht, bedarf es einer positiveren Erzählung der Möglichkeiten, die man als Mensch besitzt. Dieses Buch soll diesen Gedanken entwickeln und nachvollziehbar machen, dass eine Alternative existiert. Und vielmehr noch, dass Nachhaltigkeit und eine Überwindung der strukturellen Probleme der industriellen und postindustriellen Moderne zusammen erreicht werden können, wenn wir nicht mehr bereit sind, einfach irgendetwas bezüglich unseres Selbst und unserem Wohlergehen zu glauben, sondern unsere Vorstellungen des eigenen Interesses und des gelingenden Lebens zu hinterfragen und nur solche Vorstellungen beibehalten, die dieser Hinterfragung standhalten. Denn wir haben es hier ja mit einem doppelten Treppenwitz der sich rational verstehenden Moderne zu tun. Zum einen übernutzt sie die Ressourcen dieses Planeten in einem Ausmaß, welches ungebremst in die sichere Katastrophe führen wird, ohne dass dieser enorme Aufwand die Menschen systematisch glücklicher macht. Und zum anderen ist sie überzeugt davon, Glauben durch Rationalität und wissenschaftliche Entdeckung ersetzt zu haben, obwohl sie sich an der zentralen Stelle der Selbstkenntnis mit den simpelsten Glaubenssätzen zufriedengibt. Eine konsequente Anwendung des Wissenschaftsparadigmas bedeutet, dass wir es auch konsequent auf die Erfahrungen des Geistes anwenden und damit unser Wünschen und Wahrnehmen „von innen“ zu verstehen lernen. Ist man aber konsequent bei der Anwendung der eigenen Standards, so erkennt man, dass Nachhaltigkeit und das wohlverstandene gute Leben nicht in einem Konflikt miteinander sind, sondern gerade im Gegenteil Harmonie zwischen den beiden Zielen besteht. Und das führt zum zweiten Versuch einer Antwort: Vielleicht legitimiert sich dieses Buch nicht nur durch die Hoffnung auf den richtigen Zeitpunkt, sondern auch durch die spezifische Zusammenschau unterschiedlicher Bausteine zu einem Ganzen. Vielleicht bekommt die These, dass durch eine Veränderung der Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen unser Leben reicher und sinnerfüllter werden kann, durch die unterschiedlichen Sichtweisen, die von individuellen Erfahrungen über Weisheitstraditionen bis hin zu psychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung reichen, eine Plausibilität, die der Botschaft eine neue Überzeugungskraft gibt.
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Einleitung
I VERSUCH EINER VERMESSUNG DER GEGENWART
1. Ein Gefühl des Unbehagens Wenn das hier die beste aller Welten ist, wie muss es dann erst auf den anderen aussehen? Voltaire, Candide
Es finden sich zwei widersprüchliche Diagnosen der Gegenwart. Die eine ist optimistisch und sieht in der Entwicklung der Gesellschaften einen (vielleicht immer wieder umkämpften und mit Rückschritten verbundenen) Prozess des Fortschritts zum Besseren. Die Werte der französischen Revolution gepaart mit einer kapitalistischen Wirtschaftsweise werden oftmals als hierfür zentrale Errungenschaften angesehen. Die andere ist pessimistisch und sieht allerorts Entfremdung und Zerstörung. Insbesondere die kapitalistische Wirtschaftsweise und das westliche Weltbild der Moderne werden hierfür verantwortlich gemacht. Wir finden einen ähnlichen Widerspruch beim Menschenbild. Der moderne Konservatismus geht seit dem 18. Jahrhundert von einem Menschenbild aus, das zum Teil so dunkel ist, dass man die Notwendigkeit eines starken Law-and-OrderStaats und einer strikten Erziehung sieht, um die destruktiven Kräfte des Menschen in Schach zu halten. Umgekehrt findet man ein positives Menschenbild, bei dem der Mensch zur Vernunft und zu Mitgefühl fähig ist. Die Grenzlinien zwischen diesen Sichtweisen sind alles andere als gerade: Im links-progressiven Denken koppelt sich oftmals eine positive Sicht auf den Menschen mit einem prinzipiellen Fortschrittsoptimismus und zugleich scharfer Kritik am Kapitalismus, im konservativen Denken koppelt sich eine historisch negativere Sicht auf den Menschen mit Fortschrittsskepsis und zugleich einer positiven Sicht auf den Kapitalismus. Faszinierend dabei ist, dass alle diese Sichtweisen auf dieselbe gesellschaftliche Wirklichkeit schauen, aus ihr aber diametral unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen. Ein mittlerer Weg, der genau hinschaut, ist hier wohl der richtige. Ideologische Übervereinfachungen, die im 20. Jahrhundert die Regel waren, haben sich historisch diskreditiert. Freiheit ist Grundlage eines gelingenden Lebens, Freiheit ohne Verantwortung führt aber zum Recht der Stärkeren und schadet selbst diesen. Der Kapitalismus hat die Fähigkeit, Millionen von Menschen aus der Armut zu holen und durch zahllose Innovationen das Leben der Menschen besser und angenehmer zu machen. Er hat aber auch die Fähigkeit zur Zerstörung des KliEin Gefühl des Unbehagens
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mas und der Artenvielfalt, zur Ausbeutung, Entfremdung und der Vermittlung von Werten wie Bequemlichkeit und einer materialistischen Konsumkultur, die einem gelingenden Leben entgegenstehen. Unabhängig davon, wie man den ökologischen Krisen begegnen will, müssen grundlegende Elemente unserer Gesellschaften geändert werden. Die Funktionslogiken gesellschaftlicher Ordnungen und Kulturen lassen sich nur und nur in Ansätzen begreifen, wenn sie mit einem Verständnis menschlichen Verhaltens gekoppelt werden. Die mit ihnen einhergehenden Potenziale für ein gutes Leben hängen ebenfalls vom unterstellten Menschenbild ab. Was die Sache zusätzlich verkompliziert, ist der Umstand, dass Verhalten, Weltbilder und Vorstellungen des gelingenden Lebens selbst wiederum an die Ordnung und Kultur gekoppelt sind. Ordnungen und Kulturen sind immer auch Erzählungen, in die man sich einschreibt, um innerhalb ihrer einen Platz zu finden und auf bestimmte Art und Weise ein Leben zu führen. Das ist aus einer sozial- und individualwissenschaftlichen Perspektive ein Problem, weil empirische Beobachtungen immer nur innerhalb einer Ordnung erhoben werden können, so dass die Frage, wie es wäre, wenn man nicht nur Kleinigkeiten an einer Ordnung veränderte, sondern diese radikal umbaute, spekulativ sein muss. Bis zu einem gewissen Grad helfen interkulturelle Vergleiche, sie sind aber schwierig. Aus einer wissenschaftlichen Position stellt sich die Frage, ob man trotz der existierenden tiefen Unsicherheit der Deutungen des Status Quo und der Effekte von Transformationsprozessen einige fundierte Ideen über die Effekte bestimmter Änderungen gewinnen kann. Die folgenden Ausführungen sind dabei nicht als Versuch zu verstehen, eine vollständige Übersicht über die Phänomene und Deutungen der Gegenwart zu geben, sondern einige der Themen so weit zu einem Bild zu verdichten, dass Konturen erkennbar werden. Wo soll man beginnen? Wenn es nach Fukuyama (1992) gegangen wäre, hätte der Zerfall des Sowjetimperiums das Ende der Geschichte eingeläutet, das durch Demokratie und Kapitalismus hätte geprägt sein sollen. Demnach hätte die Menschheit nicht nur „the passing of a particular period of post-war history“ erlebt, sondern „the end of history as such: That is, the end-point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government.“9 Es sollte anders kommen. Das Attentat auf das World Trade Center 2001 erzeugte das wohl erste größere Unbehagen mit dieser Sichtweise, und die Finanz- und Währungskrisen der Jahre 2008– 2010 mit den anschließenden ökonomischen Krisen erschütterten nachhaltig das Vertrauen in (Finanz-)Märkte. Zusammen mit der in vielen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachtenden Vergrößerung ökonomischer Un36 |
Ein Gefühl des Unbehagens
gleichheit vertieften sie bei vielen Menschen eine Skepsis. Danach ging es Schlag auf Schlag: Mit dem Aufstieg Chinas entstand ein gesellschaftliches Alternativmodell zur liberalen Demokratie, und mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus wurde erkennbar, dass sich gesellschaftliche Verschiebungen vollzogen haben, die auch in Europa und den USA die Legitimität des bisherigen Gesellschaftsbilds in Frage stellen. Mit der disruptiven Kraft des Plattformkapitalismus verändert sich das Leben nochmals schneller, als dies in früheren Zeiten der Fall war, und die neuen Möglichkeiten der Sozialen Medien veränderten die Art, wie wir kommunizieren und wie wir Wirklichkeit erfahren, radikal. Mit den entstehenden Möglichkeiten künstlicher Intelligenz existiert das Potenzial, z.B. im Bereich der Medizin viel Gutes zu tun; diese Technologie bringt aber auch die Gefahr eines Überwachungskapitalismus mit sich. Innergesellschaftliche Konflikte, die sich im 20. Jahrhundert lange Zeit entlang von Klassen einordnen ließen, verlagern sich zunehmend zu anderen Dimensionen von individueller und sozialer Identität. Mit der Pandemie kam es zu einem Stresstest für Individuen, Staaten und die Weltgemeinschaft. Werte wie Solidarität, die Bereitschaft zu Verzicht, die Wichtigkeit sozialer Kontakte, die Möglichkeit rationaler, wissenschaftsbasierter Politik: ein kleines Stück Nukleinsäure hält die Welt in Atem und bringt viele Gesellschaften offenbar an die Grenze dessen, was sie rational bewältigen können. Es ist unübersichtlich. Und gleichwohl sind mit all diesen Entwicklungen die beiden größten Herausforderungen noch gar nicht benannt: Dies alles vollzog sich vor dem Hintergrund der auch schon zur Zeit von Fukuyamas Erzählung vom Ende der Geschichte deutlich vernehmbaren Sorge um die Umweltkrisen. Seitdem wurde die Forschung hierzu immer verlässlicher, die Warnungen immer dringlicher, und es änderte sich gleichwohl so gut wie nichts. Beide Krisen werden einige der obengenannten Prozesse weiter beschleunigen, und sie stellen nicht nur unsere heutige Lebensform, sondern ganz grundsätzlich die Möglichkeit menschlichen Lebens in Frage.
1.1 Einige Trends in westlichen Gesellschaften der Gegenwart Die westliche Kultur ist nicht nur durch Demokratie und Marktwirtschaft bzw. Kapitalismus geprägt. Ein wesentlicher Treiber ist die Idee der Optimierung. Technokratisch gedachte Gesellschaften sehen sich als mechanistische Systeme, deren Funktionsweisen durch die richtigen Einstellungen verbessert werden können. Experten haben das Wissen und den Werkzeugkoffer, um diese Einstellungen vorzunehmen. Dies ist besonders auffällig im Bereich der Ökonomie, wo Einige Trends in westlichen Gesellschaften der Gegenwart
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Steuersysteme, Finanzmarktregulierungen, Wettbewerbspolitiken oder Gesundheitssysteme vor dem Hintergrund bestimmter Werturteile über ein gutes Funktionieren optimiert werden. Aber die Metapher der Optimierung findet auch Anwendung auf die eigene Person, den Körper und die Lebensführung. Hier hat sich nach Reckwitz (2017) eine wichtige Verschiebung vollzogen: Insbesondere die gebildete, progressive Mittelschicht der urbanen Zentren wolle Lebensqualität durch florierende Beziehungen, einen sinnerfüllenden Beruf, Fitness, Gesundheit, eine große Wohnung in einem angesagten Quartier, transformative Reisen – die Liste ist lang.10 Man wolle all dies und noch viel mehr im Glauben, dass diese Dinge, Momente und Erlebnisse zu Glück verhelfen und, wenn es gut läuft, dem Leben Sinn verleihen. Gleichzeitig optimiere die progressive Mittelschicht ihr „Humankapital“, um im globalen Wettbewerb zu bestehen, und den Körper und seine digitale Darstellung, um im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Beziehungen als attraktiv wahrgenommen zu werden. Dies stehe oftmals unter dem Primat der Singularität, nach dem das gute Leben sich darin zeige, dass es sich einzigartig im sozialen Raum der Bedeutungen positioniere, wodurch ein hochdimensionaler Raum von Bedeutungen und Identitäten geschaffen werde, der sich ständig weiter differenziere. Diese Positionierung sei aber konsumistisch: sie verwirklicht sich durch die Aneignung einzigartiger Dinge, die in ihrer Zusammenstellung die Einzigartigkeit der Besitzerin oder des Besitzers zeige. Man kann die daraus resultierenden Wünsche und Ziele kulturell nennen. Für ihre Erfüllung ist materielle Absicherung notwendig, aber nicht hinreichend. Diese Diagnose ergänzt sich mit der Beschleunigungsthese Rosas (2005). Er kommt zu dem Schluss, dass das Kernproblem der Gegenwart eine in der Logik der kapitalistischen Wirtschaftsweise verortete Notwendigkeit zu exponentiellem Wachstum sei, die wiederum zu immer rascheren Anpassungsprozessen des Einzelnen führe. Diese Anpassungen seien dabei nicht auf berufliche Qualifikationen beschränkt, sondern umfassten immer weitere Bereiche der menschlichen Existenz. Dies erschwere zunehmend die Möglichkeit eines guten, gelingenden Lebens. Diese Beschleunigung habe darüber hinaus Rückkopplungseffekte mit den Sinnnarrativen, die die Menschen notwendig brauchen, um sich in der Gesellschaft zu verorten, ihr Handeln zu verstehen und als sinnvoll zu erachten. Vorstellungen des guten, gelingenden Lebens würden daher durch die technologisch-institutionellen Gegebenheiten des modernen Kapitalismus geformt. Anstatt eines „inneren Maßes“ für das, was ein gelingendes Leben ausmache, bliebe kaum noch etwas anderes als Strategie der Ressourcensicherung und Dominanz
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sowie der Optimierung des Selbst, zu welchem ebenfalls ein instrumentelles Verhältnis bestehe. Anders als die kulturelle Ausdifferenzierung der gebildeten Mittelschicht reagiere eine traditionelle Mittelschicht laut Reckwitz (2017) anders auf die Anpassungszwänge. Sie orientiere ihr Leben eher am Lebensstandard und gerate durch die kulturellen und ökonomischen Entwicklungen in die Defensive.11 Ihr Lebensstil werde kulturell durch die Werte der gebildeten, progressiven Mittelschicht und ökonomisch durch die Dynamik globalisierter Märkte und eines disruptiven, sich in Richtung der Produktion von Kulturgütern für die urbane Mittelschicht orientierenden Kapitalismus in Frage gestellt. Ökonomische Abstiegsängste koppelten sich hier mit kulturellen Entfremdungstendenzen. Für den Teil der traditionellen Mittelschicht, der weniger von der Möglichkeit des ökonomischen Abstiegs betroffen ist, scheint die Orientierung am Lebensstandard im Vergleich zur Lebensqualität der progressiven Mittelschicht eher auf unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich eines gelingenden Lebens zu basieren. Daneben existiere eine ökonomische Unterklasse, die beiden Mittelschichten als zunehmend heikel erscheine.12 Die progressive Mittelschicht erblicke hier rückständige und dysfunktionale Werte hinsichtlich Gesundheit, Ernährung und Erziehung, mangelhafte Bildung und problematische politische Einstellungen. Hingegen projiziere die traditionelle Mittelschicht ihre eigenen Abstiegsängste auf die Unterklasse. Gleichzeitig erfülle sie eine Vielzahl von Produktions- und Dienstleistungsaufgaben, die insbesondere für die differenzierten Lebensmodelle der progressiven Mittelschicht erforderlich seien. Durch die ungesicherte ökonomische Position sind Fragen der Optimierung der Lebensqualität und selbst des Lebensstandards oftmals sekundär, da es primär um die Sicherung der materiellen Existenz gehe.
1.2 Empirische Evidenz und Erklärungen Was können wir empirisch über das Wohlergehen feststellen, und wie können wir diese Befunde erklären? Es gibt eine Reihe von Forschungsrichtungen, die hinsichtlich der subjektiven Lebenszufriedenheit in dieselbe Richtung zeigen: Sobald elementare Bedürfnisse nach Ernährung, Wohnen und Sicherheit erfüllt sind, ist die Lebenszufriedenheit nicht mehr an den materiellen Wohlstand gekoppelt, sondern Aspekte wie der Vergleich mit anderen Menschen, Würde und Sinn beginnen, eine zentrale Rolle zu spielen. Woran kann das liegen? Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen von einem individuellen happiness Empirische Evidenz und Erklärungen
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setpoint aus, um den herum die Ereignisse des Lebens vom Gehirn/Geist bewertet werden. Eine bahnbrechende Studie, die am Beginn dieser Forschung stand, konnte zeigen, dass weder ein Lotteriegewinn noch ein Unfall mit anschließender Lähmung die langfristige Zufriedenheit der betroffenen Menschen im Durchschnitt verändern konnte.13 Nach einem Zeitraum der Anpassung waren beide Gruppen so zufrieden wie zuvor. Aspekte der individuellen Persönlichkeit wie Resilienz sind für das Glück wichtiger als externe Lebensumstände.14 Dieser Setpoint scheint bis zu einem gewissen Grad vorgegeben zu sein, doch lässt er sich durch gezieltes Training verändern: Lebenszufriedenheit scheint innerhalb bestimmter Grenzen eher eine erlernbare Fähigkeit zu sein, nicht Ausdruck äußerer Lebensumstände.15 Die Ergebnisse einer Reihe weiterer bahnbrechender Studien sind unter dem Begriff des Easterlin-Paradoxes in die Wissenschaft eingegangen.16 Hierbei handelt es sich um das folgende Phänomen: Studien konnten zeigen, dass die durchschnittliche subjektive Lebenszufriedenheit (SLZ) über die Zeit nicht mehr mit dem materiellen Wohlstand eines Landes steigt, wenn dieser ein bestimmtes Mindestniveau erreicht hat. Zugleich fand man aber heraus, dass zu jedem Zeitpunkt die materiell Wohlhabenderen eines Landes zufriedener waren als die weniger Wohlhabenden. Dieses Ergebnis kann damit erklärt werden, dass ab einer bestimmten materiellen Absicherung insbesondere Statusvergleiche mit einer relevanten Vergleichsgruppe eine Rolle spielen. In einem solchen Fall ist ein Statusgewinn des einen notwendig mit einem Statusverlust eines anderen verbunden. Die Gesellschaft wird zu einem riesigen Marathonrennen, bei dem man immer schneller laufen muss, um nicht zurückzufallen. Falls diese Diagnose stimmt, hat sie weitgreifende Folgen für die Wahrnehmung materiellen Fortschritts: Statusknappheit kann mit noch so viel quantitativem Wachstum niemals beseitigt werden, jeder Gewinn der einen Person geht notwendig auf Kosten einer anderen. Vielmehr müsste es darum gehen, dem Einzelnen zu mehr Autonomie zu verhelfen, oder das Statusbedürfnis auf Verhaltensweisen zu lenken, die gesellschaftlich nützlicher sind, als Status an materiellen Wohlstand zu binden. Die subjektive Lebenszufriedenheitsforschung ist – wohl auch aufgrund ihrer radikalen Implikationen – von Beginn an kritisiert worden. Es stimmt, dass man ihre Ergebnisse mit Vorsicht betrachten sollte: Kann man Lebenszufriedenheit auf einer Skala von z.B. 1 bis 5 gut einschätzen? Sind die Einschätzungen einer Person über die Zeit und zwischen Personen sowie zwischen Kulturen vergleichbar? Daher erscheint es sinnvoll zu schauen, wie sich diese Erkenntnisse zu den Erkenntnissen anderer Forschungsrichtungen verhalten. Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: wir finden ein hohes Maß an Übereinstimmung. 40 |
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Zahlreiche medizinische Studien verweisen auf eine Zunahme psychischer Erkrankungen und stressbedingter Krankheiten gerade in den ökonomisch fortschrittlichsten Gesellschaften.17 Besonders problematisch erscheint dabei Ungleichheit zu sein.18 Im Vereinigten Königreich wurde als Reaktion auf das sich ausbreitende Gefühl der Einsamkeit 2018 der Bereich Loneliness in das Ministerium für Sport und Zivilgesellschaft integriert, 9 Millionen Briten fühlen sich einer Studie zufolge immer oder oft einsam.19 In diesem Zusammenhang vermutet MacMahon (2017), dass ein Teil dieser Entwicklung auf die Wahrnehmung dessen, was Glück ist, und die Ansprüche auf dessen Verwirklichung zurückzuführen seien. Demnach spielte es nicht nur eine Rolle, wie wir uns selbst und die Welt wahrnehmen, sondern auch, welche Erwartungen wir an diese stellen. Das subjektive Verständnis von Vergnügen und Erfüllung sowie von Schmerz und gefühlter Leere scheinen dabei eine zentrale Rolle bei der Formulierung solcher Erwartungen zu spielen. In den USA spricht man von einer drohenden Krise der psychischen Gesundheit:20 mehr als 45 Millionen Erwachsene (jeder Fünfte) sind psychisch erkrankt und jeder 25. ist mit einer ernsthaften psychischen Krankheit diagnostiziert. Selbstmorde und Drogenabhängigkeit steigen, und die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist so schlecht wie nie. In den vergangenen sechs Jahren stiegen beispielsweise schwere Depressionserkrankungen unter Jugendlichen um 43,5 %. Insgesamt sind mehr als 2 Millionen Kinder Jugendliche an schwerer Depression erkrankt.21 Ehrenberg (2004) sieht gerade in der Kombination aus Individualisierungsdruck und technokratischer Steuerung ein Grundproblem der Gesellschaft und entwirft eine umfassende soziologische Deutung der Ausbreitung depressiver Krankheitsbilder. Sie ist für ihn eine Reaktion auf die allgegenwärtige Erwartung an die einzelne Person, das Leben mündig und selbstbestimmt zu gestalten, wobei sich die Person gleichzeitig den Zwängen einer immer weitergehend gesteuerten Arbeits- und Konsumwelt ausgesetzt sieht. Dies ist aber im Kern paradox und für den Einzelnen nicht auflösbar: An die Stelle von Disziplin und Regelbefolgung sei eine Kultur der Autonomie getreten, so dass das Individuum heutzutage an Tatkraft und Handlungskompetenz gemessen werde, wobei aber gleichzeitig die Regelungsdichte steige. Dieser an sich selbst gestellte Anspruch geht dann einher mit Erschöpfung und Identitäts- sowie Handlungsunsicherheit. Früher sei die Melancholie die Krankheit des „Ausnahmemenschen“ gewesen, während in heutigen Demokratien jeder angerufen sei, ein Ausnahmemensch zu sein: „Wenn die Melancholie eine Eigentümlichkeit des außergewöhnlichen Menschen war, dann ist die Depression Ausdruck einer Popularisierung des Empirische Evidenz und Erklärungen
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Außergewöhnlichen“.22 Diese Autonomie ist aber den Gesetzen des Marktes und des Kapitalismus unterworfen, so dass die paradoxe Forderung entsteht, außergewöhnlich durch Konsumakte zu sein. Reckwitz (2017) stimmt dieser Analyse weitgehend zu und geht noch einen Schritt weiter.23 Für die kulturell dominante Gruppe der progressiven, urbanen Mittelschicht sei die gängige Norm das außergewöhnliche Leben, welches man durch Singularisierung des eigenen Lebens und Lebensumfelds möglich zu machen versuche. Dieses Sinnversprechen sei aber sehr anfällig, da es ständige und hohe Anforderungen an die Inszenierung und Entwicklung des Selbst stelle. Dieses Lebensmodell versuche einen eigentlich paradoxen Spagat zwischen dem traditionell-bürgerlichen Wert des Status und dem „heroischen“ Modell des aufregenden Lebens der Romantik. Damit werde aber auch sozialer Status dynamisiert und erzeuge den Zwang zur ständigen Weiterentwicklung. Hierin bestünde eine ständige Quelle des Misserfolgs, ohne dass es kulturelle Praxen der Enttäuschungsbewältigung gebe. Aber es gibt weitere Indizien dafür, dass das moderne Leben problematische Aspekte hat. In der Evolutionsbiologie wird die Auffassung vertreten, dass wir mit evolutionsgeschichtlich alten Verhaltensdispositionen auf selbstgemachte Umwelten treffen, die dazu führen, dass zahlreiche Zivilisationskrankheiten unsere Leben belasten. Fehlernährung, Rückenschmerzen, chronischer negativer Stress, schlechte Blutfettwerte und Insulinsensitivität sowie schlechte körperliche Fitness sind Ausdruck von Verhaltensdispositionen, die in unseren modernen, durch Kultur und Technologie selbstgeschaffenen Umwelten zu Fehlverhalten und Krankheit führen.24 Nehmen wir als weiteres Beispiel die Positive Psychologie, eine Forschungsrichtung, die in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl empirischer Studien durchgeführt hat, um die Frage nach den Bedingungen eines gelingenden Lebens besser zu beantworten. Das sich dort ergebende Bild ist ziemlich eindeutig:25 Tätigkeiten wie Freiwilligenarbeit und Sport sowie erlernte Charaktereigenschaften wie Dankbarkeit sind die stärksten Treiber von Lebenszufriedenheit. Ein solches Leben verbindet Momente des flows (als ein tiefes, selbstvergessenes Einlassen auf Aufgaben, die mit Kompetenz beherrscht werden) mit Erfahrungen von Sinn durch Zugehörigkeit und Selbsttranszendenz. Ein materiell wohlhabendes ist kein als gut und sinnvoll erlebtes Leben, wenn es mit Entfremdung, Einsamkeit, mangelnder Selbstwirksamkeit und mangelndem Sinn einhergeht. Die bisher präsentierten Erkenntnisse legen zwei Hypothesen nah, die auch evolutionspsychologisch und neurowissenschaftlich Bestätigung finden. Zum einen gehen Setpoint-Theorien und Theorien relativer Vergleiche davon aus, dass
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Handlungen und Umwelteinflüsse relativ im Gehirn codiert werden. Und zum anderen gehen sie davon aus, dass ein Umlernen möglich ist. Es ist unmöglich, der Forschung hier umfassend gerecht zu werden, es können aber zur Verdeutlichung zentrale Funktionen von Dopamin und Testosteron kurz erläutert werden.26 Dopamin ist ein zentraler verhaltensmotivierender Neurotransmitter, der sich auf der Wahrnehmungsebene gut anfühlt. In einer Reihe von bahnbrechenden Studien wurde gezeigt, dass das Dopamin-Belohnungssystem nicht die absolute Belohnung, die eine Person erhält, sondern eine Abweichung von einem bestimmten Referenzwert codiert:27 „Dopaminbelohnungen“ finden statt, wenn die (unbewussten) Erwartungen übertroffen werden. Diese Erwartungen passen sich aber langfristig an, so dass am Ende Verhaltensweisen aus einer Routine erfolgen. Dies legt nahe, dass man schnell in eine sogenannte hedonische Tretmühle geraten kann, indem man immer mehr und extremere Reize sucht, um positive Erwartungsfehler zu schaffen, die dann mit Dopaminausschüttungen „belohnt“ werden. Dieses Rennen kann aber langfristig nicht gewonnen werden. Die Folge ist, dass ein Mehr an Konsum ab einem bestimmten Niveau, welches das biologische Überleben sichert, keine nachhaltigen Effekte auf die in diesem Sinne gemessene (hedonistische) Lebenszufriedenheit hat. Testosteron auf der anderen Seite scheint eine wichtige Rolle bei der Verteidigung der Position in einer Statushierarchie zu spielen, also ebenfalls eine in einem anderen Sinne relative Codierung.28 Dabei besteht oft die Auffassung, dass damit aggressives Verhalten einhergeht. Dies scheint aber falsch zu sein. Studien mit Männern zeigen, dass dieses Hormon jede Verhaltensweise wahrscheinlicher macht, die notwendig ist, um Gruppenstatus zu sichern. Dass in unserer Gesellschaft oft aggressives Verhalten zur Statussicherung notwendig ist, sagt etwas über die Werte unserer Gesellschaft aus. Es könnte durchaus auch kooperatives und altruistisches Verhalten erzeugt werden, wenn damit Status erlangt werden könnte.29
1.3 Das erzählte Selbst Dem von Reckwitz beschriebenen Individuationsprozess sollte noch weiter nachgegangen werden. In Shakespeares Komödie As You Like It beginnt Jacques seinen Monolog mit den Worten „All the world’s a stage“. Die Uraufführung dieses Stücks liegt nun fast 500 Jahre zurück, dennoch lassen sich Jacques Worte auf ein Verständnis von Individualität anwenden, welches nach wie vor aktuell ist. Das Zitat gibt dabei eine Richtung vor, die in den vergangenen Jahrzehnten von Das erzählte Selbst
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der Narrativen Psychologie bestätigt wurde: Wir sind das Tier, das Geschichten erzählt, und die Hauptdarstellerin resp. der Hauptdarsteller dieser Geschichten sind wir selbst.30 Der kulturelle Kapitalismus ist daher auch ein Kapitalismus der Geschichtenerzählung. Die Narrative Psychologie fasst den Menschen damit einerseits als Schöpfer seiner eigenen Geschichte auf. Das Leben wird zur Darbietung der eigenen Person, wobei das lateinische Wort persona ursprünglich die Maske bezeichnete, die ein Schauspieler auf der Bühne trug. Vor dem Hintergrund des Shakespeare-Zitats erhalten wir eine Perspektive auf den Menschen, bei der sich der Individualisierungsprozess in einem Akt der Performance niederschlägt. Die Geschichten, die sich dabei zu einem Selbst verdichten, fallen in Genres, finden unter gewissen Leitmotiven statt, und Helden, Opfer und Bösewichte treten darin auf.31 Ein wichtiger Aspekt bei der Konstruktion dieser narrativen Identität ist narrative Kohärenz und Sinn.32 Ein „Selbst“ ist immer eine Erzählung, oder wie Daniel Dennett (1991) sagt: [W]e are virtuoso novelists, who find ourselves engaged in all sorts of behavior, more or less unified, but sometimes disunified, and we always put the best „faces“ on it we can. We try to make all of our material cohere into a single good story. And that story is our autobiography.33
Identität zeigt sich hier als ein Schaffensakt; der Mensch scheint sich nicht zu finden, sondern als Person zu erfinden. In den westlichen Gesellschaften stehen bei diesem Schaffensakt anscheinend fast sämtliche Freiheiten offen. An dieser Stelle ist der Ort, die Verwendung des Begriffs „Selbst“ genauer zu definieren. Wir verstehen unter dem Selbst das Konzept, welches ein Individuum von sich hat. Es ist also die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ Es geht aber anderseits nicht nur darum, irgendeine Geschichte zu erzählen, sondern, wie Dennett schreibt, eine möglichst gute. Die Freiheit, die man hier vielleicht vermuten würde, entpuppt sich also als trügerisch. Schließlich sind Gestaltungsoptionen bis zu einem gewissen Punkt immer vom aktuellen kulturellen und gesellschaftlichen Rahmen abhängig. Wir handeln, sprechen und verhalten uns unter Berücksichtigung eines Kontexts.34 Die eigentliche Erzählung des Individuums gestaltet sich demnach als Wiederholung und Permutation bestimmter identitätsstiftender Narrative, wobei sich diese aus von der Gesellschaft vorgegebenen Narrativbausteinen und performativen Akten zusammensetzen.35 Dabei leben wir in einer Kultur des Rechtfertigungsbedürfnisses und -zwangs: welche Vorstellung vom Leben man hat, welchen Beruf man ergreifen möchte, warum 44 |
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man sich für eine bestimmte Ausbildung entschieden hat, wer man ist. Gleichzeitig erklärt einem das Umfeld aber auch, wer man ist oder sein sollte, und sei es nur in Form von erwarteten Verhaltensweisen. Und wenn man einigermaßen reibungslos funktionieren möchte, akzeptiert man diese Rollen und spielt sie, so gut man eben kann. All dies lagert sich in die Vorstellung davon ein, wer man ist, und es ist nur zu verständlich, dass ab einem bestimmten Punkt Persona und Person ununterscheidbar werden. Aber es ist mehr als das. In Shakespeares Schauspiel sinniert Jacques weiter: „One man in his time plays many parts“.36 Das Leben ist eine Serie von Inszenierungen auf den unterschiedlichen Bühnen, und die unterschiedlichen Geschichten müssen nicht einmal zusammenpassen: Kohärenz ist innerhalb einer Geschichte relevant, aber nicht unbedingt zwischen ihnen.37 In den Worten von Nin (1971): „I am a series of moods and sensations. I play a thousand roles […]. My real self is unknown.“38 Die narrative Konstruktion eines „Selbst-Bündels“ steht in Kontrast zu dem immer wieder anzutreffenden kulturellen Stereotyp, dass man sein „wahres Selbst“ finden oder verwirklichen könne und solle. Aber auch das Bewusstsein der Beliebigkeit des Selbst kann problematisch sein. Die Möglichkeit der Eröffnung eines „uneigentlichen“ Daseins hat zunächst auch eine entlastende Wirkung: Die Rollen, die man spielt, müssen oder dürfen nicht ernst genommen werden. Die Lokalisierung des Einzelnen wird durch diese Fragmentierung der Persönlichkeit verunmöglicht; man legt sich nicht fest und entzieht sich somit auch der Verantwortung. Stattdessen lassen sich mit einer ironischen oder zynischen Grundhaltung Rollen anprobieren wie Kleider. Foster Wallace (1996) sieht genau hierin ein zentrales Problem: Irony and cynicism were just what the U.S. hypocrisy of the fifties and sixties called for. That’s what made the early postmodernists great artists. The great thing about irony is that it splits things apart, gets up above them so we can see the flaws and hypocrisies and duplicates. […] Sarcasm, parody, absurdism and irony are great ways to strip off stuff ’s mask and show the unpleasant reality behind it. The problem is that once the rules of art are debunked, and once the unpleasant realities the irony diagnoses are revealed and diagnosed, „then“ what do we do? Irony’s useful for debunking illusions, but most of the illusion-debunking […] has now been done and redone. […] Postmodern irony and cynicism become an end in itself, a measure of hip sophistication and literary savvy. […] Irony’s gone from liberating to enslaving. There’s some great essay somewhere that has a line about irony being the song of the prisoner who’s come to love his cage.39
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Hier liegt ein Anknüpfungspunkt zur Diagnose Ehrenbergs. Was zurückbleibt ist ein Gefühl der Sinnlosigkeit, da in der Mischung aus Notwendigkeit und Beliebigkeit der Erschaffung eines narrativen Selbst eine ironische Haltung den Versuch der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Selbst die Grundlage entzieht und sich ein ernsthaftes Einlassen der Lächerlichkeit preisgibt. Hier zeigt sich der grausame Witz der Gegenwart: Selbst die Flucht in die Uneigentlichkeit kann sich zum einen nur in den narrativen Strukturen der Gesellschaft vollziehen. Zum anderen ist das sich vollziehende Leben immer notwendig das eigentliche, das einzige Leben, das es gibt. Man findet sich in einer Situation wieder, in der sich das ironische, zynische, sarkastische, nicht ernstgemeinte Leben plötzlich ganz ernst zum Eigentlichen gemacht hat. Muss ein Verständnis des Umstands, dass das „Selbst“ erzählt ist, in eine zynische oder existenzielle Leere führen? Eine These dieses Buchs ist, dass dieser Umstand auch als Freiheit erlebt werden kann, die aber nicht die Freiheit der ironischen Unverbindlichkeit ist: „[T]o pierce the veil of selfish consciousness and join the world as it really is.“40 Murdochs (2013) Verständnis, dass das „Selbst“ eine Illusion sei, mündet hier nicht in Schrecken, sondern den Fall des Schleiers der symbolischen Ordnung und einem unmittelbaren Zusammenkommen mit der Welt. Diese Freiheit, von der hier die Rede ist, umfasst die Möglichkeit, eine unironische Haltung einzunehmen und damit eine Rolle zu spielen, die man nicht sofort preisgeben würde. Dies bedarf aber Mut: „What passes for hip cynical transcendence of sentiment is really some kind of fear of being really human.“41 In diesem Sinne verbliebe der Schritt durch den Schleier in die Eigentlichkeit und die Akzeptanz der Notwendigkeit eines unironischen, eigentlichen Lebens als heroischer Akt.
1.4 Größere Erklärungskontexte Diese Befunde kontrastieren mit optimistischen Erklärungsmodellen der westlichen Moderne als Erfolgsgeschichten des technologischen Fortschritts, welcher durch Märkte und Kapitalismus ermöglicht wird. Die Ökonomik, die die Wirtschaftsleistung z.B. gemessen am Sozialprodukt als Wohlfahrtsindikator nimmt, sieht abgesehen von Konjunkturschwankungen ein stetiges Bergauf. Und es ist auch nicht zu leugnen, dass der systematische Eintritt Chinas in die Weltmärkte dort Millionen von Menschen aus bitterster Armut geholt hat. Obwohl ein kapitalistisches Wirtschaftssystem wie kein anderes in der Lage zu sein scheint, Menschen aus der Armut zu befreien, so sehen wir doch angesichts der ökologischen 46 |
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Krisen seine Grenzen. Und wir sehen solche Grenzen auch in der ökonomischen Theorie. Die empirischen Befunde, die wir aufgelistet haben, zeigen, dass der naive Fortschritts- und Wachstumsoptimismus vieler Ökonominnen und Ökonomen vielleicht auch auf einem vereinfachenden Menschenbild basiert, welches sich mit einem ebenso vereinfachenden Bild der Funktionsweise von Märkten und ihrer Interaktion mit der physischen Welt koppelt. Darüber hinaus spielt das Problem der Nachhaltigkeit in vielen Bereichen der Ökonomik weder in den theoretischen Modellierungen z.B. der Wachstumstheorie noch normativ eine Rolle. (Es gibt zwar Forschungsfelder, die sich damit beschäftigen und wichtige Ergebnisse liefern, aber sie haben es nie in den politisch wirksamen Mainstream geschafft.) Man sieht die Probleme nicht, weil sie in den Theorien keinen Platz finden. Verbreiteter sind pessimistische Interpretationen. Taylor (2007) beschäftigt sich in seinen ideengeschichtlichen Vermessungen des westlichen Denkens u. a. mit der These, dass eine unvollendete Säkularisation zentrale Probleme westlicher Gesellschaften erklären kann. Mit der Säkularisation habe sich eine Vielzahl von Welterzählungen gebildet, die das Merkmal der physischen Immanenz, des immanenten Rahmens teilten und das Individuum in seiner modernen Form schafften und zum Hauptakteur auf die Bühne höben, die aber keinen Raum ließen für Antworten auf Fragen nach Sinn und Zweck. Dabei sei man sich des Erzählungscharakters weitgehend nicht bewusst und verabsolutierte daher den Erklärungsanspruch. Die Begriffe säkular und Säkularisation sind vielschichtig und sollten präziser definiert werden. Der Begriff entstand ursprünglich im Kontext der Trennung von Staat und Kirche.42 Wir verwenden ihn hier aufbauend auf Taylor aber im Sinn einer herrschenden Weltanschauung. Bis zur Neuzeit war in Europa die umfassende Weltanschauung religiös, was bedeutet, dass eine religiöse Weltdeutung den weitgehend anerkannten Anspruch hatte, umfassend und vollständig zu sein, so dass sich z.B. wissenschaftliches Denken innerhalb dieses Rahmens verorten musste. Eine Gesellschaft nennen wir säkular, wenn sich dieser Bezugsrahmen umkehrt. Eine naturalistische und wissenschaftliche Weltdeutung wird zur herrschenden Sicht, innerhalb derer sich z.B. religiöses Denken verorten muss. Taylor nennt dies einen immanenten Rahmen, weil diese Weltdeutung keine Transzendenz zulässt. In einer säkularen Gesellschaft verschwindet damit religiöses Denken oder Religiosität nicht, sie muss sich aber prinzipiell innerhalb der herrschenden naturalistischen Weltdeutung rechtfertigen und verorten. Ebenso können bestimmte Vorstellungsweisen des religiösen Weltbilds fortbestehen und weiter (unbewusst) im säkularen Weltbild fortwirken. Größere Erklärungskontexte
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Taylor ist mit dieser Beobachtung nicht allein und knüpft an Entzauberungsthesen wie der von Weber (2002) an. Diese Beobachtung scheint treffend. Wir finden zunehmend abgekapselte Individuen – scheinbar autark und sich selbst genügend – in einer in sich geschlossenen Gesellschaft wieder, wie die genannte Einsamkeitsstudie aus dem Vereinigten Königreich belegt. Fundamentale WozuFragen, die eine Antwort auf Sinnfragen verlangen, wurden durch Wie-Fragen abgelöst. Die Suche nach Antworten auf Wozu-Fragen hat jedoch nicht aufgehört, sie wurde vielmehr delegitimiert, weil sie in naturalistischen Weltdeutungen keinen Platz hat. Traditionelle Religionen werden als Aberglaube verstanden, und andere Formen der Suche nach Spiritualität werden schnell in die EsoterikEcke gestellt. Begriffe wie Mystik und Esoterik haben dabei einen pejorativen Beigeschmack. „Fülle“ ist der Begriff, den Taylor verwendet, um diese herbeigewünschte Sinnerfahrung zu beschreiben. Jedoch prallen wir bereits an die Grenzen des immanenten Rahmens, da er keine Möglichkeit biete, eine Antwort auf Sinnfragen zu finden. Zugleich sehne man sich danach, von diesem Gefühl der Zugehörigkeit, Sinn oder Tragweite erfüllt zu werden, die die eigene Existenz mit Bedeutung versieht. Das Ausbleiben dieser Wahrnehmung führe hingegen zu einem Gefühl der Leere, einem Mangel im Zentrum der Existenz, einem Verlust an Gründen und damit einem Verlust eines Grundes, auf dem man stehen könne: Thus in the humanities – in art, literature, and philosophy – the growing awareness of groundlessness has taken form not through a confrontation with objectivism but rather with nihilism, skepticism, and extreme relativism. […] Its visible manifestations are the increasing fragmentation of life, the revival of and continuing adherence to a variety of religious and political dogmatism, and a pervasive yet intangible feeling of anxiety [...].43
Letzten Endes erscheint es aber zwecklos, über diese Fragen nachzudenken: Innerhalb des immanenten Rahmens kommt nicht nur Fülle abhanden, es scheinen auch die passenden Worte zu fehlen, um das Kind beim Namen zu nennen. Stattdessen greifen wir auf Metaphern wie „Fülle“ zurück oder verwenden unbeholfene und vage Begriffe, z.B. Lacans „das Ding“. Für ihn ist die sich hier auftuende Leere gerade der Antriebsmotor kapitalistischer Gesellschaften: Konsum und Fortschritt werden zu Versuchen, die durch sie letztlich unerfüllbaren Wünsche nach Sinn zu befriedigen. Die Wünsche werden zu einer Leere, um die sich der Kapitalismus wie ein Strudel dreht, ohne diese je füllen zu können. Aber das für ihn zur Verfügung stehende Alternativmodell des Marxismus kommt nicht besser weg: Für ihn ist er eine Utopie, in der Verlangen und Bedürfnisse in eins 48 |
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fallen und damit den Bereich der Wünsche entleeren. Damit fällt aber auch der Antrieb weg, der den Menschen am Leben hält. Wir haben es hier also mit einer tragischen Geschichte dessen zu tun, was es heißt, ein säkularer Mensch zu sein: seine Existenz muss notwendig um unbewusste und unerfüllte Wünsche kreisen. Diese Wünsche erscheinen immer neu als Lebensprojekte auf, deren Verwirklichung aber zeigt, dass sie den Wünschen doch nicht entsprechen, weil sie es prinzipiell nicht können. Diese Wünsche werden aber nicht „künstlich“ geschaffen, sondern sind ein Ergebnis des immanenten Rahmens, der keinen Sinn erlaubt. Um diese Leere zu füllen, macht man Karriere, zeugt Kinder, baut Häuser, pilgert in Yogastudios, trainiert für den Iron Man oder verliert sich in den digitalen fandom bubbles der Popkultur, nur um nach jeder Enttäuschung zum nächsten Projekt fortzuschreiten. Und auch das Spiel mit der Konspirationstheorie verleiht dem Leben eine besondere Bedeutung und lenkt von der Banalität des Alltags ab, indem man zu einem Teil eines heroischen Kampfes zwischen Gut und Böse wird und auf der Seite des Guten steht. Es ist eine Art der negativen Verzauberung. Dies zumindest in der besseren der möglichen Welten. Im schlimmeren Fall folgt Radikalisierung. Atran hat in seinen Arbeiten zu den Beweggründen von westlich sozialisierten Menschen, sich zu radikalisieren, am Beispiel IS genau dieses Muster bestätigt gefunden: es geht nicht um religionstheoretische Unterschiede in der Auslegung des wahren Glaubens, sondern um die Erfahrung eines Lebenssinns in einer Gruppe, der größer ist als das Selbst, und er sieht dieselben Muster bei faschistischen Radikalisierungen am Werk: People are longing for something in their history, in their traditions, with their heroes and their morals; and the Islamic State, however brutal and repugnant to us and even to most in the Arab-Muslim world, is speaking directly to that. [...] Individuals radicalise to find a firm identity in a flattened world. [...] [W]hat best predicted willingness to die on the battlefront was both devotion to a tight-knit group of comrades – fusion with them – and commitment to sacred values.44
Bezieht man sich auf Taylor, so wird hier etwas Typisches sichtbar. Die moderne Weltsicht werde als objektiv und voraussetzungslos wahrgenommen, obwohl sie eigentlich wie jede andere Wirklichkeitswahrnehmung auf bestimmten Annahmen beruhe. Demnach werde ein immanenter Rahmen konstruiert, aus dem das Individuum nicht ausbrechen könne, weil ein Bewusstsein für die Konstruktion eben dieser Wirklichkeitswahrnehmung fehle. Jede Person sei in gewisse Glaubensstrukturen eingebunden und bediene sich gewisser Grundannahmen über die Welt und sozialer Normen. Demnach könne Objektivität, wie sie das gesellGrößere Erklärungskontexte
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schaftliche System in der säkularen Moderne vorschlage, gar nicht existieren. Die Unmöglichkeit der Transzendenz und des Ausbruchs aus dem immanenten Rahmen hätten zu bestimmten Vorstellungen des gelingenden Lebens und einer abgetrennten Gegenüberstellung von Körper und Geist sowie von Verstand und Spiritualität geführt. Die Annahmen für ein gelingendes Leben umfassten dabei normative Strukturen wie Unabhängigkeit, Selbstverantwortung oder Selbstkontrolle und basierten auf der Idee einer Expertengesellschaft, in der allein das eigene Wissen und die eigene Leistung zähle. Die Unmöglichkeit, in einer solchen normativen Struktur Antworten auf die Sinnfragen des Lebens zu finden, werde dabei als Leistungsversagen des Individuums verstanden. Und hier kommt die grausame Pointe: die Weltsicht erlaube keine Antworten auf Wozu-Fragen, und doch würden sie dem Einzelnen abverlangt und letztendlich von ihm auch existenziell benötigt. Hieraus entstehe eine Leere, ein Druck, eine Instabilität, die das Individuum oder die Gesellschaft immer wieder an Kipppunkte bringe. Der daraus resultierende Druck breche temporär und exzessiv in einer Vielfalt an eskapistischen Möglichkeiten hervor. Die ungeheure Entladung dieser paradoxalen Suche nach Sinn innerhalb des immanenten Rahmens bezeichnet Taylor als Nova-Effekt. Der Nova-Effekt benennt dabei eine Explosion an Sinnesnarrativen und Identitätszuordnungen. Die von Atran beschriebenen Radikalisierungen sind daher nichts anderes als eine Ausprägung des Nova-Effekts. Für Adorno und Horkheimer (1987), zwei zentrale Vertreter einer negativen Sicht auf die Moderne, war der Zugang zum Verständnis moderner Gesellschaften gegeben durch die Dialektik zwischen Aufklärung und Mythos: Menschen, die ihre Natur außerhalb ihrer selbst sähen, hätten die Wahl zwischen einer Unterwerfung unter eine magische Welt voller Wunder, Mythen und Geheimnisse und einer Unterwerfung der Natur unter den eigenen Willen. Durch die Entscheidung für die zweite Option habe sich der Mensch aber in die eigene Falle begeben, weil er sich nun selbst beherrschen müsse. Anstatt Autonomie zu erlangen, ende er als Objekt in einem Kontrollsystem von Zahlen und Statistiken, was eine eigene Form der Irrationalität und des Mythos sei. Die Objektifizierung der Natur führe zu einer Objektifizierung des Menschen. Aufklärung sei dabei auf einer psychologischen Ebene ein Projekt der Befreiung von Angst durch den Versuch der Kontrolle. Entzauberung bedeutet hier – und im Unterschied zu Weber – eine Ausrottung von Aberglauben, Wunderglauben usw. Variationen der Entzauberungsthese finden sich neben anderen auch bei Habermas oder Taylor. Josephson-Storm (2017) argumentiert dagegen, dass sie als empirische These falsch sei, und er fasst eine Reihe Studien zusammen, die z.B. zeigen, dass über 80 % der US-Amerikane50 |
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rinnen und Amerikaner entweder an Schutzengel oder andere paranormale Phänomene glauben. Ähnliches gilt für Europa. Und es gibt einen umgekehrten Zusammenhang zwischen Säkularisierung (einem Verlust an Bindewirkung der traditionellen Religionen und Kirchen) und dem Glauben an Geister und Magie. Der Westen sei in diesem Sinne nicht entzaubert, er spiele zumindest mit Ideen des Paranormalen. Josephson-Storm (2017) argumentiert zweitens, dass populäre Ideen der Entzauberung einen viel zu stereotypen und übertriebenen Unterschied zwischen der Rationalität der westlichen Aufklärung und der Irrationalität eines voraufklärerischen Europas und nichteuropäischer Kulturen behaupten. Diese Gegenüberstellung möge dem modernen westlichen Ego schmeicheln, hielte aber einer empirischen Überprüfung nicht stand und verhindere Lernen und Selbstreflexion, indem man das Wissen anderer Zeitalter und anderer Kulturen nicht ernst nehme. Er zieht daraus den Schluss, dass die angenommene Dialektik zwischen Aufklärung und Mythos in dem wichtigen Sinn irreführend sei, dass sie eine Problemwahrnehmung erzeuge, die weder dem Verständnis noch der Gestaltung von Gesellschaften helfe. Aufklärung und Mythos berühren sich nicht nur an den extremen Enden, wie von Adorno und Horkheimer (1987) behauptet, sondern sind durch und durch miteinander verwoben. Die Idee einer Entzauberung als notwendiger Konsequenz eines sich wissenschaftlichen Prinzipien und allgemeinen Vernunftprinzipien verschreibenden Lebens ist aber auch in dem folgenden Sinn falsch. Für Weber bedeutete Entzauberung der Glaube an die prinzipielle Fähigkeit der Vernunft, Fragen zu klären. Für Adorno und Horkheimer war es die Entscheidung gegen alle Formen von Aberglauben. Und für Taylor ist es eine damit einhergehende Erfahrung der Flachheit der eigenen Existenz, die auf ein eher psychologisches Moment der mangelnden Tiefe von Erfahrungen hinweist. Aber diese Erfahrung machen gerade Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oftmals nicht. Auch wenn sie nicht an einen personalen Gott glauben, finden sie doch in ihrer Forschung Momente tiefer Schönheit und erhabene Momente der Ehrfurcht angesichts der Komplexität und zugleich Regelhaftigkeit dessen, was sie erforschen. Und auch für Laien kann Wissenschaft eine wichtige Quelle der Verzauberung der Welt in einem ästhetischen Sinn sein und zu einer säkularen Form von Ehrfurcht und Verantwortung führen. Josephson-Storms (2017) erstes Argument gegen die Entzauberungsthese korrespondiert mit einem analogen Argument gegen die Säkularisierungsthese. Jürgen Habermas (2007) hat maßgeblich den Begriff des Postsäkularen geprägt. Dabei geht es zunächst um die Feststellung, dass die Aufklärung nicht einfach zu einem Verschwinden des Religiösen oder auch nur der Schwächung der traditioGrößere Erklärungskontexte
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nellen Religionen führe. Dies ist offensichtlich auf einer globalen Ebene falsch, auch wenn im „Westen“ religiöse Bindungen zurückgehen. Aber auch dort kann keine Rede von einem Verschwinden sein. Habermas (1978) kommt aber zu dem noch viel weitergehenden Schluss, dass dies auch notwendig sei, weil eine säkulare Gesellschaft aus sich selbst heraus nicht die moralischen Ressourcen schöpfen könne, die sie für ihre eigenen Werte brauche: „Among the modern societies, only those that are able to introduce into the secular domain the essential contents of their religious traditions which point beyond the merely human realm will also be able to rescue the substance of the human.“45 Beides zusammen impliziert für ihn, dass auch ein sich säkular verstehender demokratischer Staat Räume des gegenseitigen Verständnisses schaffen müsse. Letztendlich geht es hier um die Frage der Quellen und Legitimationen von Moral. Religion wird eine rein funktionalistische Rolle als Ermöglicherin eines konfliktarmen gesellschaftlichen Zusammenlebens gegeben. In diesem Buch geht es nur sehr am Rande um diese Debatten zu einer postsäkularen Gesellschaft, wenngleich sie als Hallraum der Argumente selbstverständlich wichtig sind. MacIntyre (1981) verortet in diesem Subjektivismus (oder Relativismus, wie er es nennt) eine Ursache für die Probleme der Gegenwart. Nach MacIntyre ist der moderne Mensch immer noch von moralischen Vorstellungen vergangener Zeiten beeinflusst. Allerdings würden diese, aus ihrem ursprünglichen kulturellen Kontext gelöst, nicht mehr vollständig verstanden. Es ist, als ob wir uns in einem Ruinenfeld bewegen: Ruinen strukturieren immer noch unsere Wege, und ab und zu erkennt man auch noch ein Gebäude, aber gleichwohl ist das Verständnis der Stadt nur noch fragmentarisch vorhanden. Grundlegende Narrativstrukturen der abrahamitischen Religionen wirken nach, sie entfalten auch in der säkularen Moderne eine normative Kraft und prägen die Wirklichkeit. Der relativistische Anspruch auf die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Werte zusammen mit den schlecht verstandenen, aber gleichwohl prägenden Einflüssen der Vergangenheit mache es für das Individuum schwierig, ein kohärentes Selbst zu entwickeln.46 Dies werde weiter auch dadurch erschwert, dass zwei große, aber miteinander in Konflikt stehende Erzählungen der Gegenwart zur Deutung zur Verfügung stehen – eine optimistische Erzählung von Aufklärung und Fortschritt und eine pessimistische Erzählung von Sinnlosigkeit und Scheitern. In seiner Kritik verortet der Tugendethiker MacIntyre auch eine Krise der Moral an sich und daran rückgebunden eine Erschwerung der Möglichkeit des gelingenden Lebens. Der Relativismus führe unweigerlich zu einem Recht des Stärkeren, weil das eigene Handeln letztendlich nicht verbindlich begründbar sei.
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1.5 Weltbilder und das gelingende Leben Wir sind mit der Deutung eines umfassenden Weltmodells z.B. als immanenter Rahmen an einem methodisch sehr wichtigen Punkt angekommen. Dies lässt sich auch mit Rückgriff auf die schon diskutierte Lesart Rosas (2005) verdeutlichen, dass das Wertsystem und die Vorstellung eines gelingenden Lebens letztlich Ausdruck einer Anpassung an die Beschleunigungslogik des Kapitalismus seien. Maßstäbe für ein gutes Leben werden nicht herangezogen, um damit die gesellschaftliche Wirklichkeit zu bewerten und ggf. zu verbessern. Vielmehr entstehen diese Maßstäbe durch die normative Kraft des Faktischen. Dies hat potenziell zwei Effekte. Zum einen kommt es (wie auch schon Taylor [2007] betonte) zur Tendenz einer Schließung des Weltbilds, so dass Kohärenz zwischen Wirtschaftsweise und gesellschaftlicher Realität und Vorstellungen eines gelingenden Lebens hergestellt wird: Die Werte, die das System schafft, legitimieren das System. Und zum anderen kommt die Fähigkeit zu einer kritischen Hinterfragung abhanden, weil eine solche immer zugleich Kritik an den systemischen Gegebenheiten und an dem eigenen Weltbild ist. Selbst wenn es ein besseres Gleichgewicht gäbe, ist aus epistemischen und psychologischen Gründen schwierig, es zu erreichen. Epistemisch, weil innerhalb der eigenen Weltsicht ja alles richtig und sinnvoll erscheint, und psychologisch, weil Veränderungen des Weltbilds immer auch Veränderungen der Identität sind und somit eine Bereitschaft voraussetzt anzuerkennen, dass die eigene Sicht der Dinge möglicherweise nicht die einzige mögliche und ggf. sogar eine dysfunktionale ist. Dies ist konträr zum Naiven Realismus des Alltagsverständnisses, der Vorstellung, dass die Welt so ist, wie wir sie erleben, und wird daher gern vermieden. Schauen wir, welche Entwicklung genommen wurde. Wir sehen in den westlichen Gesellschaften eine langfristige Verschiebung der Vorstellungen darüber, was ein gelingendes Leben ausmacht. Traditionell herrschten aus dem antiken Griechenland kommende tugendethische Vorstellungen vor, nach denen man durch die Kultivierung von Tugenden ein eudaimones, glückseliges, Leben führen könne. Eudaimonie ist dabei aber kaum vergleichbar mit einer Vorstellung von Glück als z.B. sinnliches Vergnügen. Die aristotelische Tugendethik war bis zum Mittelalter auch ein wichtiger Einfluss im Christentum. Dort koppelte sich die Idee der Tugendhaftigkeit aber mit der Vorstellung eines Jenseits, in dem erst Glückseligkeit durch den Eingang in das Reich Gottes erlangt werden kann. Damit spielte das alltägliche Glück eine höchstens untergeordnete Rolle. Das Diesseits war vielmehr geprägt durch die Erbsünde, die jedes individuelle irdische Streben nach Glück als vermessen und sündhaft erscheinen lässt. Erst im Weltbilder und das gelingende Leben
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18. Jahrhundert erlebte das westliche Denken eine Revolution gesellschaftlicher Erwartungen und verwandelte das, was der Mensch als seine irdische Schuld verstand. Im Zuge der Aufklärung, der Verbreitung des Protestantismus und steigender Lebensstandards im Zusammenhang mit der fortschreitenden Industrialisierung veränderte sich die Idee des Strebens nach Glück maßgeblich. Langsam, aber stetig wandelte sich die Vorstellung von Glück hin zu einem Ausdruck des Genusses und der Freude, also eines Hedonismus. Jede und jeder wollte im Laufe des Lebens ein Stück des Kuchens abbekommen. Mit dem sich gleichzeitig verbreitenden Subjektivismus und der kapitalistischen Marktlogik kam es auch zu einer Nivellierung von zuvor als unterschiedlich wertig angenommenen Tätigkeiten. Berühmt geworden ist die Auseinandersetzung zwischen den zwei wichtigsten Vertretern des Utilitarismus, Bentham und Mill. Mill versuchte die Auffassung zu verteidigen, dass es qualitative Unterschiede zwischen unterschiedlichen Handlungen und Vergnügungen gebe, dass mit anderen Worten philosophische Lektüre höhere Empfindungsvermögen anspreche als ein Groschenroman, und dass man zur Verwirklichung des Potenzials des Menschseins eben jene höheren Vermögen kultivieren müsse. Bentham bemerkte dazu lakonisch: „Pushpin is as good as poetry“ (Pushpin war seinerzeit ein Spiel, bei dem man Nadeln auf eine Hutkrempe werfen musste). Die Einebnung der Unterschiede zwischen „hoher Kultur“ und „bloßer Unterhaltung“ vollzog sich nicht nur im Kapitalismus. Auch der Sozialismus sah in diesem Unterschied einen Ausdruck bürgerlicher Machtausübung. Heute sind die Unterschiede weitgehend verschwunden, Bentham hat sich durchgesetzt. Hierzu beigetragen hat sicherlich auch die um sich greifende Logik von Markttransaktionen, die durch Geld eine allgemeine Vergleichbarkeit qualitativ unterschiedlicher Phänomene herstellen (Kommensurabilität). Unterschiede bestehen in einem Preissystem nicht mehr qualitativ, sondern nur noch quantitativ in Form von unterschiedlichen Relativpreisen. Es liegt dann nah, diese Preisunterschiede auch als Ausdruck eines unterschiedlichen gesellschaftlichen Werts zu sehen: Debreu, Nobelpreisträger und führender Theoretiker von Marktsystemen, nannte sein Hauptwerk zum Verständnis der Funktionsweise von Preisen bezeichnenderweise nicht Price Theory, sondern Theory of Value.47 Wir bekommen damit zugleich eine in sich geschlossene Rechtfertigung einer meritokratischen Gesellschaft, da das Markteinkommen dem gesellschaftlichen Wert der Tätigkeit entspricht und damit Unterschiede gerechtfertigt sind. Die Debatte über höhere und niedere Bedürfnisse und deren Kommensurabilität ist aber bis heute nicht ganz verstummt. Philosophen wie Sandel (2012) verweisen immer wieder darauf,
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dass nicht alles, was zu einem Gut gemacht werden kann, auch zu einem solchen gemacht werden sollte. Solche Interventionen sind aber auch deshalb nötig, weil eine Güter- und Tauschlogik in neue Lebensbereiche einzieht. Dies folgt nicht nur aus Gewöhnung, sondern hat auch ideengeschichtliche Gründe: Neben dem Subjektivismus kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Siegeszug des Positivismus (und später dann des Kritischen Rationalismus), einer Theorie legitimen Wissens (Epistemologie), die nur analytische und synthetische Propositionen für wahrheitsfähig erklärt. Eine analytische Proposition ist etwa der Satz „2 + 2 = 4“, ein Beispiel für eine synthetische Proposition ist „diese Flasche ist grün“. Analytische Propositionen sind wahr, wenn sie logisch konsistent aus bestimmten Axiomen ableitbar sind, synthetische Propositionen sind wahr, wenn sie empirisch überprüfbar und bestätigt sind. Werturteile, moralische Urteile, generell normative Propositionen sind weder analytisch noch synthetisch, und daher sind sie nach dieser Vorstellung auch nicht wahrheitsfähig. Aber was sind sie dann? Meinungsäußerungen. Diese Auffassung brachte nicht nur die Normative Ethik in arge Bedrängnis, sondern öffnete ganz neue Bereiche der Kommensurabilität: Nicht nur die Frage, ob man Schokoladenkuchen oder Erdbeereis lieber mag, ist Ausdruck individueller Präferenz, sondern auch die Frage, welche fundamentalen Werte man hat: Contemporary moral argument is rationally interminable, because all moral, indeed all evaluative, argument is and always must be rationally interminable. [...] Emotivism is the doctrine that all evaluative judgments and more specifically all moral judgments are nothing but expressions of preference, expressions of attitude or feeling, insofar as they are moral or evaluative in character.48
Man mag Bentham vervollständigen: „Pushpin is as good as poetry is as good as morals“. Mit der Beschreibung dieser Entwicklung geht selbst keine Bewertung einher, ob diese richtig oder falsch war. Vertreter eines Positivismus oder seiner modernen Varianten würden hierhin einen Siegeszug der Vernunft sehen, die mit falschen Vorstellungen hinsichtlich von Werten und Moral aufräumt. Wichtig ist zu sehen, wie solche ideengeschichtlichen Entwicklungen Einfluss nehmen auf die Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft. Und damit wird auch verständlich, warum Debatten über das gute, gelingende Leben ebenfalls Bedeutung verloren: sie sind unhintergehbar normativ und haben daher keinen Platz in einer Epistemologie, die ihnen die Wahrheitsfähigkeit prinzipiell aberkennt. Dabei ist die Situation komplexer: Auf der einen Seite befindet man sich in einem Weltbild, in dem objektive Standards für Werte prinzipiell unerreichbar Weltbilder und das gelingende Leben
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erscheinen. Und zweitens hat sich dieses Weltbild de facto auf einen einheitlichen Wertstandard, den der Marktpreise, geeinigt und benutzt diesen nicht nur pragmatisch, sondern auch normativ innerhalb einer individualistisch-meritokratischen Erzählung legitimen Erfolgs. Das individualistische und meritokratische Prinzip, jeder Mensch könne sein, was er wolle, solange er nur alles daransetze, seine Ziele zu erreichen, verdeckt den Umstand der gesellschaftlichen Konstruiertheit von Identitäten und Werten: Individualität ist für die meisten Menschen ein Zusammenstückeln von vorgegebenen Versatzstücken, und es ist auch gar nicht klar, ob dies ein Problem ist, oder ob vielmehr der Druck zur Individualität selbst eines werden kann. Gleichzeitig hat eine meritokratisch geprägte Erzählung von Leistung und Erfolg eine dunkle Seite: Wenn Erfolg und Selbstverwirklichung im Wesentlichen von Leistung und Engagement abhängen, ist Misserfolg und mangelnde Selbstverwirklichung Ausdruck mangelnder Leistung und mangelnden Engagements. Dies ist für die Betroffenen fast noch schlechter auszuhalten als ein Kastensystem, in dem ihre soziale Stellung zumindest nicht durch mangelnde Leistung oder mangelnden Willen erklärt wird. Insbesondere quantitatives Wachstum kann dieses Problem bis zu einem gewissen Grad entschärfen, aber es bleibt im Hintergrund bestehen. Es ergibt sich eine weitere Perspektivverschiebung: die wahrgenommene Verantwortung verlagert sich von der Gesellschaft auf das Individuum. Probleme bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, in der Work-Life-Balance usw. werden als individuelle Probleme wahrgenommen. Straffälligkeit, Arbeitslosigkeit, mangelnder Erfolg oder Anerkennung sind Ausdruck individuellen Versagens. Der Umgang mit der Umweltkrise ist Sache der individuellen Konsumentscheidungen; Konsumentensouveränität suggeriert, dass diese über relevante Entscheidungsfreiheit verfügen und ihre Entscheidungen rational sind. Fehlernährung ist kein Problem der Nahrungsmittelindustrie, Suchtverhalten kein Problem der App-Hersteller, sondern Ausdruck von Willensschwäche oder mangelndem Wissen des Betroffenen. Hiermit verlagert sich die Kritik von der systemischen Ebene auf das Individuum, und dieses Individuum ist in seinem Versagen marginalisiert. Das dies keine „natürliche“ Sicht der Dinge ist, sondern Teil einer willkürlichen Erzählung, macht ein Vergleich mit Debatten der 1970er Jahre deutlich. Autoren wie Galtung wiesen damals mit Konzepten wie strukturelle Gewalt darauf hin, dass Verantwortung nicht immer sinnvoll beim Individuum verortet werden kann, sondern dass Probleme ihren Ursprung auch in den Strukturen der Gesellschaft haben.49 Diese Sicht wurde mit dem Siegeszug des Neoliberalismus zunehmend verdrängt. Eine Antwort meritokratischer Gesellschaften auf individuelle Erfolgswünsche und Versagensängste ist dann die Aufsplitterung der 56 |
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Lebensstile, so dass es anscheinend weniger Verlierer und mehr Gewinner gibt. Man sucht sich einfach die passende Metrik des Erfolgs und baut seine Identität entsprechend um.50 Dies aber löst die bindenden Elemente einer an sich schon individualistischen Gesellschaft weiter auf und macht diese noch komplexer. In derselben Zeitperiode kam es auch zu einer zweiten wichtigen Veränderung des Moralbegriffs. In tugendethischen Vorstellungen bezog sich Moral sowohl auf das, was man dem anderen, als auch auf das, was man sich selbst schuldet. Moral in diesem weiteren Sinne bezieht sich auf einen „Komplex von Normen, Werten oder Idealen, der jedem Individuum einen allgemeingültigen Leitfaden für die Gestaltung seines Lebens bereitstellt.“51 Gerechtigkeit war für Aristoteles die erste Tugend, ein gelingendes, eudaimones Leben ohne Gerechtigkeit nicht denkbar. Diese Vorstellung verkürzte sich zur Frage, was dem Anderen geschuldet ist: „Ihrem Inhalt nach beziehen sich [moralische] Vorschriften auf den Schutz der Interessen derjenigen Menschen, die vom Handeln eines Individuums betroffen sind.“52 Und damit wird Moral in diesem engeren Sinne zu einem Konfliktregelungsmechanismus und zu einer (vielleicht verinnerlichten) Ausübung von Zwang gegen die eigentlichen Interessen. Für eine aristotelische Tugendethik gibt es dagegen keinen unüberbrückbaren Unterschied zwischen den Interessen der Gesellschaft und den Interessen des Einzelnen, in der Verwirklichung des Ziels der Tugendhaftigkeit fallen sie in eins. Das moderne, subjektivistisch gedachte Individuum hingegen besitzt gegebene Interessen, und diese müssen mit denen anderer Individuen nicht kongruent sein. Konflikt rückt daher ins Zentrum der Gesellschaft, und Moral ist lediglich eine Form des gebotenen Verzichts, nicht eine Form der Verwirklichung des Menschseins.
1.6 Konstruktive Entwürfe Die generelle Skepsis gegenüber der Möglichkeit, Wissen über Moral und das gelingende Leben zu erlangen, welche in diesem epistemischen Milieu notwendig vorherrscht, erklärt vielleicht auch die Dominanz pessimistischer Erzählungen der Gegenwart, die ohne die Entwicklung eines Auswegs auskommen. Eine Kritik am Kapitalismus oder dem immanenten Rahmen ist normativ, aber ohne einen konkreten Gegenentwurf ist sie eigentlich nur von geringem Interesse, weil aus ihr nichts folgt. In den vergangenen Jahren lässt sich aber eine neue Offenheit gegenüber der Entwicklung konstruktiver Vorstellungen zur Überwindung dieser Tendenzen und zur Ermöglichung eines gelingenden Lebens feststellen. Hier ist insbesondere die Positive Psychologie zu nennen, die diese Renaissance des Konstruktive Entwürfe
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Interesses an Fragen des gelingenden Lebens mit verursacht hat und wesentlich dazu beiträgt, Antworten zu formulieren. Die Positive Psychologie und auch andere Ansätze lassen sich als eine Wiederentdeckung tugendethischer Vorstellungen eines gelingenden Lebens verstehen:53 Das liegt auch an Veränderungen des Menschenbilds, welche sich durch Forschung in der Psychologie und Neurowissenschaft aufdrängen: Menschen sind in ihrem Verhalten und in ihrer Wahrnehmung adaptiv. Sie passen sich von der epigenetischen über die affektive bis hin zur kognitiven Ebene (Lernen) an ihre jeweiligen Umwelten an. Und auch wenn viele Gewohnheiten in der Kindheit und Jugend gebildet werden, lassen sich diese auch im fortgeschrittenen Alter verändern. Die Bildung von guten Gewohnheiten rückt damit ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dazu ist eine tiefe Kenntnis der eigenen Person erforderlich, wozu geistiges und körperliches Training nötig sind. Ein gelingendes Leben ist daher viel mehr als eine Aneinanderreihung guter Gefühle; Glück liegt weitgehend nicht in den Umständen des Lebens (wie z.B. Konsum, ...), sondern in der Haltung, die man ihm gegenüber einnimmt. All das ist nichts wirklich Neues, wir finden die immer gleichen Erkenntnisse in den jeweils kulturspezifischen Metaphern in der griechischen Tugendethik, im Buddhismus, im Hinduismus sowie in den abrahamitischen Religionen, um nur einige wichtige Denktraditionen zu nennen. Der wohl wichtigste und umfassendste soziologische Entwurf einer konstruktiven Theorie des gelingenden Lebens innerhalb der Bedingungen der Gegenwart ist Rosas Theorie der Resonanz (2016, 2018). Er vervollständigt seine an sich negative Gegenwartsdiagnose mit einer positiven Vorstellung, wie Leben unter den Voraussetzungen unserer Kultur gelingen kann. Dabei kann der Begriff Resonanz als Versuch gewertet werden, ein innerhalb der besprochenen Schließungen des bestehenden Weltbilds akzeptables Modell des gelingenden Lebens zu etablieren. Dabei geht es auf einer fundamentalen Ebene darum, die Vorstellungen über die Grundlagen eines guten Lebens an sich in Frage zu stellen und durch konstruktivere zu ersetzen. Nicht Dominanz, Beherrschung und Optimierung, sondern eine „gleichberechtigtere“ und „offenere“ Haltung zur Welt sei deren Grundlage: „Resonanz ist eine durch Af←fizierung und E→motion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren.“54 Dabei sei für Resonanz die intrinsische Motivation sowie die Transformativität der Erfahrung entscheidend. Die merkwürdige Schreibweise im Zitat ist ein Verweis auf die in diesem Konzept notwendige Zweiseitigkeit des Austauschverhältnisses. Ein gutes Leben ist dann „Ergebnis einer Weltbeziehung, die durch die Etablie58 |
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rung und Erhaltung stabiler Resonanzachsen gekennzeichnet ist […].“55 Resonanzerfahrungen haben einen Moment der Unbestimmbarkeit, sie lassen sich auch nicht planen und herstellen. Vielmehr stellen sie sich ein, und man kann nur versuchen, günstige Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass dies geschieht. Für Rosa sind Begehren und Angst zentral für eine Resonanzerfahrung, womit er sie in die Nähe der Erfahrung des Erhabenen rückt. Ohne den Begriff hier vollständig auszudeuten und in ein eindeutiges Verhältnis zum Konzept des gelingenden Lebens zu bringen, welches hier entwickelt wird, soll doch kurz auf einige wichtige Aspekte hingewiesen werden. Resonanz erinnert an tugendethische Vorstellungen, wie wir sie im Daoismus und Buddhismus finden: Ein gelingendes Leben hängt weder an der Fähigkeit, sich die Welt möglichst weitgehend verfügbar zu machen, noch allein in einem selbst, weil dieses Selbst immer schon in Welt und im Austausch mit Welt existiert. Aber gleichwohl, und darauf weisen diese und andere Traditionen immer wieder hin, ist es nicht möglich, einfach nur seine Haltung zu seinem In-der-Welt-Sein zu verändern, und das aus zwei Gründen, auf die wir im Verlauf der folgenden Kapitel noch genauer eingehen werden. Zum einen versteht man die Problematik des eigenen Weltverhältnisses nicht auf einmal und rein theoretisch. Es ist vielmehr so, dass erst durch eine ausdauernde und intensive Beschäftigung mit dem eigenen Denken und Fühlen die problematischen Aspekte des eigenen Weltverhältnisses tief verstanden werden. Auf diesem Weg warten potenziell tiefe Krisenmomente. Und zum anderen führt ein Verständnis noch nicht dazu, dass man ein neues Weltverhältnis auch leben und empfinden kann. Hierzu ist es erforderlich, dass die alten Gewohnheiten und Affekte nach und nach durch neue ersetzt werden. Diese haben sich aber seit unserer frühesten Kindheit in uns verkörpert. Und obwohl dies alles in Welt passiert, ist der einzige „Ort“, an dem diese Erkenntnisse reifen und Gewohnheiten geändert werden können, die eigene Person; es bleibt nur die Reise nach innen. Ein so verstandener Begriff der Resonanz ist das Gegenteil von Wellness, sondern vielmehr ein radikales Programm der Neujustierung des eigenen In-der-Welt-Seins und der damit einhergehenden Werte. Da genügt es nicht, den Kopfhörer abzusetzen und den Vögeln zu lauschen. Ob die Folgen für den Einzelnen, die aus solchen fundamentalen Transformationen folgen, am Ende mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, die wir heute vorfinden, kompatibel sein können, ist völlig offen. Dies führt zum zweiten Punkt. Es stellt sich das Problem der moralischen Orientierung, die sich aus Transformationserfahrungen ergibt. Transformative Erfahrungen haben noch nicht aus sich heraus eine bestimmte moralische Qualität oder stehen im Dienst einer bestimmten inhaltlich konkretisierten Vorstellung des guten Lebens. Konstruktive Entwürfe
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Nichts stellt sicher, dass sie z.B. mit einer freiheitlich-demokratischen Ordnung vereinbar sind und universalistische Werte stützen. Man kann Resonanz in der Fankurve beim Fußballspiel erfahren, aber ebenso beim Aufmarsch auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände in den 1930er Jahren. Insbesondere die eingeforderte Transformativität bedeutet auch immer, dass die konventionellen Vorstellungen auch von Gut und Böse überschritten werden. Daher müssen diese „dunklen“ Seiten transformativer Erfahrungen ernst genommen werden. Hierauf wird in den klassischen Weisheitstraditionen immer wieder hingewiesen, und wir werden uns damit noch ausführlich beschäftigen. Der von Rosa beschrittene Weg, einer negativen Diagnose eine positive „Therapie“ an die Seite zu stellen, indem er über Vorstellungen von dem, was ein Leben gelingen lässt, nachdenkt, ist extrem relevant. Ohne eine solche Debatte ist weder das eigene Leben hinterfragbar noch die gesellschaftlichen und ökonomischen Gegebenheiten, die unsere Welt ausmachen. Es stellt sich aber auch die Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten eines solchen Nachdenkens und den Quellen, aus denen es sich sinnvoll speisen kann. Denn es steht ja viel auf dem Spiel, beliebig oft kann man seine Vorstellungen und Gewohnheiten nicht neu anpassen, und auch die gesellschaftspolitischen Implikationen sind potenziell fundamental. Nach dem Ende der Sowjetunion kursierte eine Karikatur, die Karl Marx mit einer Sprechblase zeigte, in der geschrieben stand „Tut mir leid Jungs! War halt nur so’ne Idee von mir ...“. So etwas sollte man vermeiden. Daher erscheint es sinnvoll, Inspiration aus unterschiedlichen Quellen und möglichst umfassend einfließen zu lassen. Dabei sind auch Vorstellungen und Praxen anderer Kulturen und unterschiedlicher Zeiten relevant. Dies hat zwei Teilaspekte. Zum einen geht es um die Frage, ob es eine Art „Kern“ des Menschseins gibt, welcher mit den Praxen angesprochen wird. Und zum anderen geht es um die Frage, ob die konkrete Integration einer Praxis in das Leben diese zur Unkenntlichkeit entstellt oder ob ihr eine weiterhin konstruktive, positive Funktion zukommt. Die wohl richtige Einstellung zu diesen Fragen ist ein wissenschaftlicher Agnostizismus, bei dem Vorstellungen über ein gutes Leben und die ein solches befördernden Praxen durch die Linsen unterschiedlicher Wissenschafts- und Weisheitstraditionen angeschaut werden. Und dabei müssen auch die epistemischen Grundlagen des Weltbilds auf den Prüfstand. Solange man sich in einem positivistischen oder kritisch-rationalistischen Verständnis von Erkenntnis bewegt, kann ein Beitrag zum gelingenden Leben nicht mehr sein als ein weiteres Geschmacksurteil. Vielleicht ist dem auch so, weil normative Propositionen tatsächlich nicht wahrheitsfähig sind, aber diese Schlussfolgerung sollte am Ende eines Prozesses der Neuevaluation dessen stehen, was wir unter Erkenntnis verstehen. 60 |
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2. Die postheroische Gesellschaft The culture-heroes of our liberal bourgeois civilization are anti-liberal and anti-bourgeois. Susan Sontag (1963)
Zusammen mit den bereits genannten Deutungen der Gegenwart existiert die These, dass die heutige Gesellschaft postheroisch sei. Diese Beobachtung wird sich für die Frage nach dem gelingenden Leben und alle weiteren Ausführungen als äußerst fruchtbar erweisen. Um sich aber mit der Frage beschäftigen können, ob wir uns in einer postheroischen Gesellschaft befinden und was dies bedeutet, muss zunächst geklärt werden, was eigentlich unter den Begriffen Held und heroisch verstanden wird. Der Begriff Held wird in zweierlei Bedeutungen verwendet. Zum einen ist er ein Beschützer einer Ordnung, der es durch seinen besonderen Mut oder andere Fähigkeiten schafft, Bedrohungen abzuwenden, wenn die Ordnung selbst diese Kräfte nicht mobilisieren kann. Er besiegt die Bedrohung, welche von dem „Anderen“ ausgeht. Damit entspricht der Held typischerweise dem, was in einer Kultur als moralisch vorbildlich angesehen wird. Für Zimbardo (2011) ist eine Handlung heroisch, wenn sie (1) im Dienst anderer steht, (2) freiwillig ist und (3) keine persönlichen Gewinne, aber substanzielle Risiken oder Kosten für den Handelnden mit sich bringt. Dabei unterscheidet er Heldentum von Altruismus (nicht notwendig mit hohen Risiken oder Kosten verbunden) und Mitgefühl (Fähigkeit, sich in Andere hineinzuversetzen). Zum anderen ist der Held ein Überwinder von Ordnung. Dies kann im Großen ein Mahatma Gandhi sein, der wesentlich zum Ende der britischen Kolonialherrschaft über Indien beitrug, oder ein Nelson Mandela, der eine wichtige Rolle bei der Abschaffung der Apartheid in Südafrika spielte. Diese beiden Beispiele zeigen zugleich die Ambivalenz dieses zweiten Heldenbegriffs. Beide Personen werden auch und gerade innerhalb ihrer eigenen Kulturkreise scharf kritisiert, auch wenn es ziemlich klar ist, dass von ihnen eine transformative Kraft ausging. Ordnungsüberwindung kann aber auch durch eine innere Heldenreise geschehen, die nach Campbell (2008 [1949]) eine notwendige Transformation eines Menschen von etwas Altem zu etwas Neuem mit sich bringt und auf deren Weg Konfrontationen mit allerlei Herausforderungen und „Monstern“ warten. Konstruktive Entwürfe
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Der Held in diesem Sinne ist nicht Beschützer, sondern Zerstörer von Ordnung und treibende Kraft der Veränderung. Die Spannung zwischen beiden Konzepten ist dabei nicht ohne weiteres auflösbar. Der beschützende Held erlaubt es den Beschützten, in ihrer alten Ordnung zu verbleiben, verunmöglicht damit aber zugleich deren Transformation. Der transformierende Held begünstigt Transformation, indem er diese entweder aufzwingt oder in einer Vorbildfunktion als erstrebenswert erscheinen lässt. In beiden Auffassungen sehen wir aber eine Verbindung zum Erhabenen: Das Heroische bezieht sich auf die Verteidigung oder Überschreitung einer Grenze zwischen „Ordnung“ und „Unordnung“.
2.1 Experten statt Helden: Ordnung als Technokratie Die Ordnung selbst ist nicht heroisch, sie ist wohl am besten technokratisch zu nennen. Eine Konfrontation mit Chaos, Wildheit oder Unordnung soll in ihr möglichst vermieden werden. Solche Kräfte werden idealerweise durch die Ordnung selbst kanalisiert und neutralisiert. Damit liegt das Erhabene und der darin implizierte Heroismus quer zur Idee der „postheroischen Gesellschaft“, die immer wieder als Zustand der Gegenwart diagnostiziert wird.56 Die postheroische Gesellschaft interpretiert die positive Vision der europäischen Aufklärung, eine rationale Gesellschaft zu schaffen, in einer bestimmten Weise. Aus der Sicht des 18. bis 20. Jahrhunderts verstand sich das Heroische vorwiegend als Opfermut für die Sache der Nation. Der Held hatte beide Funktionen: Er zwang den „Anderen“ eine Transformation auf und erhielt damit zugleich die Ordnung der „Eigenen“. Diese Inszenierung des Helden lag faktisch und moralisch spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Trümmern. An dessen Stelle trat die Idee des technokratischen Experten und des Staats als Versorgungsanstalt.57 Die Gesellschaft wird zu einer Maschine, die optimal gesteuert werden muss. Aber auch darüber hinaus entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Idee des Helden und der Idee der Demokratie: Eine demokratische Gesellschaft hat Probleme mit der Idee des Helden, weil sie auf politischer Gleichheit, Gerechtigkeit und der Idee des Universalismus basiert. Das Verhältnis zwischen Demokratie und individuellem Subjekt ist grundsätzlich nicht heroisch, es gilt die Idee der „gleichlangen Spieße“, wie es in der Schweiz so treffend heißt. Den Übergang vom klassischen Heros zum postheroischen Menschen wurde von Adorno und Horkheimer (1987) als paradox rekonstruiert. Für sie war Odysseus der erste moderne Mensch, dessen eigentliches Heldentum nicht in seinen 62 |
Die postheroische Gesellschaft
Reisen und Gemetzeln besteht, sondern in seiner Bereitschaft, sich an den Mastschuh fesseln zu lassen, um dem Ruf der Sirenen nicht zu erliegen. Das Heroische des Verzichts führt dazu, dass der bürgerliche Mensch seine Leidenschaften nur noch in „sublimierter“ Form z.B. des Opernbesuchs zulassen kann (während seiner Mannschaft die Ohren gänzlich verstopft sind und sie daher nicht einmal mehr dieses Vergnügen bekommt) und genau dies als rational verstanden wird. Er stabilisiert die Ordnung, indem er die Wildheit in sich bändigt; die primäre Bedrohung der Ordnung kommt nicht von „außen“, sondern von „innen“. Willenskontrolle als Triebverzicht ist Motor eines ruhelosen und zugleich sterilen Daseins und ebnet den Weg zum postheroischen Menschen. Damit werden für Adorno und Horkheimer die Triumphe Odysseus’ aber zu Symbolen für die „leeren“ Triumphe der Moderne: Es handelt sich um Zielerreichung ohne Ziel. Der Triumph dieser Rationalität richtet sich gegen den Menschen selbst, es ist ein Sieg über die eigene Natur: Der moderne Held beherrscht sie, indem er sie unterdrückt. Damit berauben wir sie aber ihrer vitalen Kraft, sie kann nicht mehr als Lebensenergie, sondern nur noch zum Dampfablassen dienen. Damit finde aber ein Betrug am ästhetischen und am erotischen Potenzial des Daseins statt. Odysseus sei damit nicht Vorbild für ein gelingendes Leben, sondern vielmehr Beispiel eines Scheiterns, welches exemplarisch für das Scheitern des modernen Menschen stehe. Aber dieses Scheitern sei notwendig, da Gemeinschaft Ordnung voraussetze. Wie Hirschman (1977) gezeigt hat, wurde dies zu Beginn des kapitalistischen Zeitalters von den Theoretikern des Kapitalismus durchaus gesehen und auch gewollt. Sie sahen im Kapitalismus eine Möglichkeit, die „dunkleren“ Leidenschaften des Menschen nach Macht, Status und Gewalt in einer neuen symbolischen Ordnung so zu bündeln, dass ihnen nicht nur das direkt destruktive Potenzial genommen wird, sondern dass diese Leidenschaften vielmehr so kanalisiert werden, dass sie etwas gesellschaftlich Nützliches erreichen: „Money making as an ‚innocent‘ pastime and outlet for men’s energies, as an institution that diverts men from the antagonistic competition for power to the somewhat ridiculous and distasteful, but essentially harmless accumulation of wealth.“58 Die Begriffe ridiculous und distasteful sind dabei wichtig: die symbolische Ordnung des Kapitalismus gibt auch den erfolgreichen Menschen potenziell der Lächerlichkeit preis. Das ist der Preis für materiellen Wohlstand und Frieden. John Maynard Keynes (1936) hat diese Vorstellung erneuert: [D]angerous human proclivities can be canalized into comparatively harmless channels by the existence of opportunities for money-making and private wealth, which, if Experten statt Helden: Ordnung als Technokratie
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they cannot be satisfied in this way, may find their outlet in cruelty, the reckless pursuit of personal power and authority, and other forms of self-aggrandisement. It is better that a man should tyrannise over his bank balance than over his fellow-citizens; and whilst the former is sometimes denounced as being but a means to the latter, sometimes at least it is an alternative.59
Psychologische Studien haben die postheroische Persönlichkeit als neuen Zeitgenossen charakterisiert. Dieser habe sich von der „heroischen“ Unterdrückung eigener Impulse ebenso befreit wie von einem „heroischen“ Aus- und Durchhalten einmal getroffener Entscheidungen. Damit leidet er nicht einmal mehr an den Bedingungen seiner Sozialisation. Er ist vielmehr hochgradig flexibel, erkauft seine Beweglichkeit jedoch mit dem Zwang zu fortwährender Anpassung an einen beschleunigten sozialen Wandel. Tugenden und Prinzipien werden ersetzt durch Pragmatismus und Hedonismus. Damit verlagert sich aber Verantwortung von der individuellen auf die systemische Ebene: „Ich glaube schon, dass der Postheroismus durchaus Gefahr läuft, dass die Entscheidungsträger ihre Verantwortung abwälzen. Da gibt es runde Tische, Expertenkommissionen, im Zweifel sagen sie, ich mache direkte Demokratie, das ist immer praktisch.“60 Damit entziehen sich traditionelle „heroische“ Tugenden wie Mut oder Opferbereitschaft einer Rekonstruktion in postheroischen Gesellschaften, die allgemeine Tauschlogik bezieht sich auch reflexiv auf die eigene Person, die als Kapital gesehen wird. Aus Mut wird Risikofreude (beispielsweise bei Anlagestrategien) und aus Opferbereitschaft Reziprozität. Im postheroischen Gesellschaftsmodell sind Tausch, Konsum und Inszenierung die grundlegenden gesellschaftlichen und individuellen Wahrnehmungskategorien. Und dafür gibt es gute Gründe, es ist eine Form der epistemischen Bescheidenheit: Die Lenkung von Unternehmen und Staaten, aber auch politisches Krisenmanagement ist viel zu vielschichtig und komplex, ihre Auswirkungen sind zu gravierend, um sie von der Willenskraft, dem Mut und der Entschiedenheit Einzelner abhängig zu machen. Zeitgemäß sind vielmehr partizipative Entscheidungsstrukturen, die Eigeninitiative und Improvisationsfähigkeit fördern. Verantwortung verlagert sich vom Individuum hin auf die Struktur. Auf der individuellen Ebene sind sie aber gleichsam gekoppelt mit dem Imperativ und dem Glücksversprechen, man selbst sein zu sollen. Heldenfiguren treten hier an den Rändern auf, beispielsweise als disruptive Unternehmerfiguren wie Elon Musk. Hiermit zusammen hängt auch der Siegeszug regelethischer und monistischer Vorstellungen nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Praxis. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, alle moralischen Probleme auf Grundlage derselben 64 |
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Kriterien entscheiden und dann das richtige Verhalten sozusagen im Vorhinein in einem Kodex festhalten zu können. Dies entlastet das Individuum von Unsicherheit, Ambivalenz und Verantwortung, weil nur noch die Einhaltung der Regel gefordert ist, und es legt die Grundlage für ein technokratisches Organisationsverständnis, nach dem der gute Staat nichts anderes ist als die Umsetzung dieser Regelethik in geltendes Recht. Ein sehr anschauliches Fallbeispiel zur Erläuterung dieser Sicht ist die Corona-Pandemie. In liberalen Gesellschaften ertönt oftmals der Ruf nach Eigenverantwortung im Umgang mit den Infektionsrisiken. In der Praxis bedeutet Eigenverantwortung aber dann doch häufig nur, die staatlich gesetzten Regeln einzuhalten, nicht mehr. Dabei wäre das Ideal einer liberalen Gesellschaft, auf eben diese staatlichen Regeln verzichten zu können, weil Eigenverantwortung diese obsolet macht. Die von Liberalen eingeforderte Eigenverantwortung wäre im Sinne Zimbardos ein heroisches Verhalten. Der Behaviorist Skinner war einer der frühen Vertreter einer solchen Gesellschaftsauffassung, und sie entspricht auch der Vorstellung, die wir in den Wirtschaftswissenschaften vorfinden, oftmals gekoppelt mit einer Version des utilitaristischen Moral- und Gerechtigkeitsverständnisses. Die gesellschaftlichen Visionen, die sich in den Kontrollvorstellungen der Forschung zu künstlicher Intelligenz äußern, gehen ebenfalls in diese Richtung, und das chinesische Social-Credit-System ist ein erstes Beispiel dafür, wie sich die Idee einer Regelethik gesellschaftlich implementieren lässt. Und was soll auch an dieser Vorstellung falsch sein? Drei wichtige Faktoren kommen unmittelbar in den Sinn. 1. Die sich hinter Regelethiken verbergende Vision der Planbarkeit vernachlässigt, dass die Zukunft in einem radikalen Sinne offen ist und dass auch in ganz alltäglichen Situationen Probleme so komplex werden können, dass sie unmöglich durch eine Regel sinnvoll koordiniert werden können. Wir haben es also mit einer naiven Vorstellung von Epistemologie zu tun, die dieser Auffassung hinterlegt ist. Hierauf nimmt das tugendethische Konzept der Phronesis, der praktischen Klugheit, Bezug: Man kann sich nur darauf vorbereiten, sich einer Situation moralisch gewachsen zu zeigen, was dies aber konkret bedeutet, zeigt sich nur situativ. Tugendethische Moralvorstellungen waren und sind in diesem Sinne heroisch, sie entlasten den Einzelnen nicht von der situativen Verantwortung, das Richtige zu tun. Und sie entlasten ihn auch nicht von der Verantwortung, dies durch eine Entwicklung von Tugenden zu ermöglichen. 2. Mit dieser Verantwortung wird aber der Mensch mit einer anderen Idee der Freiheit konzipiert. Wendet man Regelethiken auf der gesellschaftlichen Ebene an, so erscheinen Menschen nur noch als Reiz-Reaktions-Muster, die möglichst gut verstanden werden müssen, damit man sie optimal steuern kann. Experten statt Helden: Ordnung als Technokratie
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Der Umstand, dass sich ein Mensch erst durch die Möglichkeit zu richtigem und falschem Handeln als moralisches Subjekt konstituieren kann, spielt hierbei keine Rolle. Regelkonformes Verhalten wird zu einer Sache der Klugheit und der rein instrumentell gedachten Vernunft. Heroismus nach Zimbardo wäre daher Voraussetzung dafür, dass ein Mensch sich als autonomes, moralisches Wesen konstituieren kann. 3. Regelethiken gehen davon aus, dass die gesamte Gesellschaft an demselben Maßstab des Guten gemessen werden kann, sie lassen keinen Raum für legitime moralische Pluralität.61 Dieser Monismus liegt sowohl dem Utilitarismus Benthams als auch Immanuel Kants Moralischem Gesetz zugrunde. Aber wir wissen aus der ethischen Begründungstheorie und aus der Praxis, dass es legitime Divergenzen gibt. Auch im Hinblick auf die genannten epistemischen Probleme ist es nur eine theoretische Vision zu denken, dass man dieses Problem durch eine Art Meta-Regelethik lösen könne, die wiederum die Anwendungsbedingungen der Einzelethiken festlegt. Akzeptiert man dies, so wird klar, dass Phronesis und moralische Autonomie auch hier zentral sind, um Konflikte angemessen zu bewältigen.
2.2 Rückkehr der Helden? Ist die Ära der Helden wirklich vorbei und bleiben am Ende nur die Regelbefolgung und das erschöpfte Selbst Ehrenbergs? Zunächst einmal bedeutet die Rede vom postheroischen Zeitalter nicht, dass heroische Orientierungen ihr Ende finden, sondern dass sie problematisch werden. Ihre Anziehungskraft ist damit keineswegs verschwunden. Der Fragwürdigkeit von Heldenfiguren in der Gegenwart steht vielmehr ein fortdauernder Heldenhunger gegenüber, der z.B. von der Populärkultur bedient wird. Dabei ist die Verwendung des Begriffs Held fast inflationär, insbesondere in den USA. Es gibt Filmhelden und Helden des Alltags; Soldaten, Feuerwehrleute, Aktivistinnen, Pflegeeltern, alle werden als Helden bezeichnet. Es gibt klassische Helden der epischen Dichtungen der Vergangenheit und die Superhelden der Comics. Und manche Unternehmerinnen und Manager werden als Helden eines „disruptiven“ und „transformativen“ Kapitalismus inszeniert. Was macht diese Menschen und Figuren zu Helden, und was hält andere Menschen zurück? Warum werden einige Taten als heroisch wahrgenommen und andere nicht? Und was soll man genau unter dem Begriff „Held“ verstehen? Neiman (2010) spricht sich für eine Erneuerung des Heroischen aus:
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Being wholly alive means refusing to take your life for granted, to struggle to make meaning from this little bit of time and space that’s fallen to you. It means viewing your life as a project – perhaps better, an endeavor. A project needn’t be something as grand as eradicating injustice, or even all the injustice in your neighborhood. But it has to have a different structure than „the sun came up and I consumed this; the sun went down and I consumed that.“ Had Odysseus been able to see his life that way, he would never have left Calypso.62
Und sie sieht in dieser Form des Heldentums auch eine Quelle der Inspiration, Mut für das Heroische zu entwickeln: These kinds of heroes make us feel more alive ourselves, convinced for a moment that more things are possible than we’d hitherto dreamed. Heroes take more and they give more, and they thereby serve as standards for how to live in the world instead of merely existing in it. Heroes remind us that life itself is larger than the dimensions we are urged to accept. If heroes do nothing but throw all their weight against the purveyors of resignation – deadly and seductive as any Siren – they do a great deal. At once challenge, threat, and offering, they’re a balance against all the voices that whisper life sucks and then you die – however high- or lowfalutin the tone. Anyone whose life contains the message that we need not succumb is by that fact alone heroic.63
Hier wird die Möglichkeit eines demokratischen, inspirierenden Helden postuliert. So einfach ist das aber nicht: es wird ein „gesäuberter“ Held vorausgesetzt, der sich im Prinzip innerhalb der freiheitlich-demokratischen Moralvorstellungen bewegt, der die Ordnung ein Stück weit verlässt, ohne sie und insbesondere ihre moralischen Fundamente komplett in Frage zu stellen. Ein bisschen wild: Es ist ein Held, der sich mit Sicherheitsgurt auf die Reise macht bzw. der von den anderen Demokratinnen und Demokraten angeschnallt wird. Dass wir so einen Typ vielleicht gern unter uns hätten, mag sein, die Frage aber stellt sich, ob dies möglich ist, und zwar aus zwei Gründen. Neimans Heldentum erinnert doch sehr an eine Wanderung entlang des Pacific Crest Trails, die man dann als Buch vermarktet. Diese Idee des Heldentums will ohne einen autonomen normativen Kompass des Helden auskommen, weil dieser schon durch die bestehende Ordnung gegeben ist. Aber diese liberal-demokratisch-kapitalistische Ordnung besteht aus einem Subjektivismus und Relativismus, der als kleinsten gemeinsamen moralischen Nenner das kommerzielle Interesse hat, und gegen die der transformative Held eigentlich aufbegehrt. Ohne eine Antwort auf Fragen nach Sinn ist das Pathos eines Thomas (1951), „Do not go gentle into that good night. Rückkehr der Helden?
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// Rage, rage against the dying of the light“, aber hohl. Warum sich gegen den Tod auflehnen, wenn man nicht weiß, wozu es sich zu leben lohnt? Weil es den Nettolebensnutzen vergrößert? Der Akt des sich Auflehnens an sich ist noch nicht heroisch, er ersetzt die Frage nach dem Sinn nicht und wird zur bloßen Attitüde. Im Gegenteil kann man argumentieren, dass ein sinnloses Aufbegehren gegen das „Sterben des Lichts“ ein Mangel an Mut und Einsicht ist, das Unabweisbare anzuerkennen. Heldentum aus dieser Sicht wäre im Gegenteil die radikale Anerkennung der Welt, so wie sie ist. Thomä (2020) knüpft am inspirierenden Helden Neimans an und macht ihn zum Beschützer der demokratischen Ordnung. Die Fähigkeit setzt aber eine Ähnlichkeit voraus, und damit darf der Bruch mit den Werten nicht zu radikal sein: Der Vergleich mit Helden mag dazu führen, dass uns unser bisheriges Leben verleidet wird, doch er schafft auch den Freiraum, an einem anderen Leben zu schnuppern und mit ihm warm zu werden. Ein Held ist genau dann ein demokratischer Held – oder einer von uns –, wenn er uns zu jenem Vergleich anregt und anstiftet. [...] Ein Held kann einer von uns sein, wenn er uns etwas zeigt, in dem wir uns wiedererkennen. [...] Sie machen die Geschichte nicht, wie es ihnen passt, vielmehr greifen sie etwas auf, was als zartes Sehnen über die Gegenwart hinausreicht.64
Diese Korrespondenzbeziehung sichert ihm die Rückbindung an die gemeinsamen Werte. Thomä will, dass demokratische Helden eben diese liberale Demokratie durch Mut und wenn es sein muss auch die Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam verteidigen und damit andere Menschen zur Nachahmung anregen. Und damit ist die Grenze zwischen Helden und Schurken klar definiert. Dass man überhaupt Helden und „Helden des Alltags“ benötigt, liegt an einem angenommenen Steuerungsproblem: offensichtlich führt die Idee der alle paar Jahre neu in Wahlen legitimierten Maschinerie technokratischer Steuerung auf dem demokratischen Schiff zu einem Reparaturstau und auf Abwege. Das angedachte Heldentum ist damit ein Reparaturbetrieb für eine demokratische Gesellschaft, deren Steuerungsfähigkeit an Grenzen kommt und die dann jemanden braucht, der das Schiff wieder flottmacht. Der Held ist kein „Übermensch“, sondern ein „Überexperte“: Greta Thunberg muss den Erwachsenen im Raum erklären, was es heißt, Wissenschaft ernst zu nehmen. Nur wenn der Held inspiriert, weil er „ins Offene“ wirkt, entkommt er dem Schicksal des Reparateurs. Aber genau dann ist es unklar, ob der zu verteidigende Wertekanon noch in diesem Offenen zu liegen kommt. Es ist eine fragile Konstruktion. 68 |
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Der demokratische Held ist damit nur ein partieller Ermöglicher von Wildheit, er muss sie auch unterdrücken. Und das ist als gesellschaftspolitisches Programm ja auch die richtige Schlussfolgerung aus der Geschichte. Es stellt sich im Hinblick auf die Analyse von Neiman (2010) nur die Frage, ob hiermit die gesellschaftlichen Kräfte schon gebündelt und neutralisiert sind, oder ob nicht notwendig ein wilder Rest verbleibt, und sei es nur als Sehnsucht. Das sich hier andeutende Steuerungsproblem zwischen Ordnungsstabilisierung und Ordnungsüberschreitung ist von außerordentlicher Komplexität. Es bewegt sich auf einem schmalen Grat und nimmt dem Helden damit einen wichtigen Teil des transformativen Potenzials: er steht im Dienst einer Sache, und von dieser her wird das Handeln beurteilt. Der transformative Held muss sich einer Vernunft unterwerfen, die ihm ständig Regeln auferlegt. In dem Film One Fast Move or I’m Gone über das Leben Jack Kerouacs wird an einer Stelle gesagt: „He wanted to devour life, and it’s like you want to ride a motorcycle as fast as you can, but have this big catholic parachute on your back that is kind of dragging you down.“65 Dies bringt die ganze Widersprüchlichkeit zum Ausdruck, die entsteht, wenn man die Heldenreise sowohl als Selbstbefreiung versteht und zugleich die Ordnung nicht hinter sich lassen kann. Um diese Balance geht es bei den sogenannten Rites du Passage vieler traditioneller Kulturen, in denen liminale Phasen der Ordnungsauflösung innerhalb einer Ordnung geschaffen werden.66 Ihr fester und ritueller Platz verweist auf die Wichtigkeit der Schaffung einer Balance zwischen Ordnung und Chaos. Es fällt auf, dass Helden und heroische Akte in allen Kulturen und zu allen Zeiten verehrt wurden: „The term hero is universal and understood to provide important physical, psychological, and social benefits to people.“67 In der seit einigen Jahren entstehenden empirischen Heldenforschung wurde festgestellt, dass auch in postheroischen Gesellschaften die Idee des Helden höchsten Respekt genießt: „Heroism represents the ideal of citizens transforming civic virtue into the highest form of civic action, accepting either physical peril or social sacrifice.“68 Dabei fokussiert sich diese Forschung auf den Alltagshelden, der innerhalb der moralischen Ordnung einer Gesellschaft operiert. Dies wird sogar als konstitutiv für einen Helden angenommen. Franco, Efthimiou und Zimbardo (2016) weisen darauf hin, dass die Idee des Helden eng an tugendethische Konzepte von Phronesis (praktische Weisheit) und Eudaimonie (gelingendes Leben) geknüpft ist. In dieser Literatur werden die beiden Modelle des Heroischen miteinander verwoben. Das Heroische hat verschiedene Anknüpfungspunkte zu Tugendethiken. Zum einen sind Heldenreisen immer Entwicklungsgeschichten, in denen der Held auf Rückkehr der Helden?
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einer äußeren oder inneren Reise zentrale Dinge lernt und durch transformative Erfahrungen seine Persönlichkeit hinterfragt und entwickelt. Auf dieser Reise muss er sich mit dem Unbekannten konfrontieren und Krisenmomente bestehen, in denen er „Monster“ besiegen muss (siehe hierzu mehr in Kap. 7), um zu einem Menschen zu werden, der sein volles Potenzial leben kann. Wir werden die Heldenreise ausführlich in Kap. 9 behandeln. Phronesis ist wichtig, um die Krisenmomente zu bestehen. Heroismus als Heldenreise hat einen weiteren wichtigen Aspekt, der in allen Kulturen immer wieder betont wird und der auch in der empirischen Heldenforschung eine wichtige Stellung einnimmt: Entelechie, die Fähigkeit, ein Ziel in sich selbst zu haben, und Eudaimonie sind fundamental mit einer veränderten Erfahrung eines eigenen „Selbst“ verbunden.69 Dies mag zunächst merkwürdig klingen, da man gewohnt ist, „Selbst“ für etwas Gegebenes zu halten. Die transformativen Momente führen aber systematisch und regelmäßig zu der Erfahrung eines „großen Selbst“ im Gegensatz zum „kleinen Selbst“ des Alltags. Dieses „große Selbst“ wird als tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen, anderen Lebewesen, der „Welt“ erfahren, und daraus resultiert typischerweise eine neue Wahrnehmung von Moral: Der Held, der „selbstlos“ anderen Menschen hilft, tut dies aus der Erfahrung, dass er auf einer tiefen Ebene nicht von ihnen getrennt ist. Wir sind hier wieder bei einem Moment des Erhabenen: Im Moment dieser Erfahrung wird die bekannte Welt des „kleinen Selbst“ verlassen und eine unbekannte Welt des „großen Selbst“ betreten. Wir werden hierauf auch hinsichtlich der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zu solchen Entgrenzungserfahrungen in Kap. 11 eingehen. Für Franco, Efthimiou und Zimbardo (2016) sind Transformationen im Alltag begründet, und damit sind Heldengeschichten symbolisch zu verstehen. Heroische Eudaimonie bedeutet, Phronesis im Alltag zu besitzen, um die richtigen, klugen Entscheidungen treffen zu können. Die Nähe zwischen dem Heroischen und der Tugendethik geht aber noch weiter: But perhaps most importantly it offers an interpretation of the eudaimonic, alongside the heroic, as paradox – it is process and outcome, suffering and joy, down-fall and transcendence, weakness and strength, simultaneously. The pursuit of eudaimonia involves the acknowledgement of the mutual value of these contradictory forces, resulting in a negative rationality approach to well-being that transcends the „tyranny of positivity“ […], it sees crisis as a fundamental opportunity for growth, revealing the redemptive quality of phronetic action, and heroic action.70
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An dieser Stelle wird ein weiterer Zusammenhang zum Erhabenen sichtbar: Bei der Heldenreise geht es um Grenzüberschreitungen. Auf einer spirituellen Ebene sind dies Momente, die zugleich krisenhaft sind und tiefe Selbsterkenntnis ermöglichen. Damit geht das Selbst, welches sich in die Krise begibt, fundamentale Risiken ein, da es um seine Selbstüberwindung geht; aber nur so gelangt man zu einem tieferen Verständnis der eigenen Existenz, welche dann als befreiend erlebt wird. Phronesis erlaubt es, auf diesem Weg in die Krise die nötigen intellektuellen, emotionalen und physischen Ressourcen zu besitzen, um zu bestehen. Diese Form des Heroischen ist auch im Alltag zentral: der Moment, in dem man gewahr wird, dass man nicht anders kann, als Risiken einzugehen, um das Richtige zu tun, ist ein Krisenmoment. Die Idee des heroischen Handelns erlaubt es in solchen Situationen, Selbstachtung zu bewahren,71 um damit Eudaimonie als regulative Idee nicht aus dem Blick zu verlieren. Heldengeschichten bieten Orientierung und Validierung bei schwierigen Entscheidungen und sind daher wichtig für die Entwicklung von Phronesis.72 Die auch moralische Komplexität dieser Geschichten ist dabei Ausdruck der moralischen Komplexität der Wirklichkeit, die sich gerade nicht durch einfache Regelethiken erfassen lässt. Sie helfen damit auch dabei, den Mut aufzubringen, Handeln selbst zu bestimmen und damit in Freiheit zu handeln: „Subjectively, the hero is fully invested in the realization of freedom, understood in universal terms.“73 Dabei wird der schon angesprochene Doppelbezug der Idee des Heroischen wieder sichtbar: Der Alltagsheld, der gegen eine Ungerechtigkeit aufbegehrt, muss sich aus dem Alltäglichen herausbegeben, Risiken auf sich nehmen und autonom handeln. Dieses Handeln bekommt dann zugleich eine symbolische Bedeutung als Heldenreise nach innen, die dabei hilft, durch die inneren „Kämpfe“ diese Autonomie zu entwickeln und Phronesis zu erlangen. Die empirische Heldenforschung zeigt, dass es oftmals situative Gegebenheiten sind, die eine Person zum Helden machen. Viele Menschen sind potenzielle Helden. Die Forschung „brought with it the deepening recognition that heroic action is much more commonplace than one would at first suspect [...]. This work has brought us closer to an understanding that heroic activity is actually within the grasp of everyone.“74 Aber die Realisierung ihres heroischen Potenzials hängt auch von den Umständen und der Kultur ab, in der man lebt. Wenige Menschen handeln bösartig, aber noch weniger heroisch. Sie sind die Extreme einer Normalverteilung. Die Masse der Menschen in der Mitte bezeichnet Zimbardo als „zurückhaltende Helden“. Sie schrecken davor zurück einzuschreiten, wenn Hilfe nötig ist. Ca. 20 % der Bevölkerung erfüllen die Definition eines Helden, 72 % helfen anderen Menschen in Notsituationen, 15 % setzen sich gegen ungeRückkehr der Helden?
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rechte Autorität ein, und es gibt einen positiven Zusammenhang zwischen der Erfahrung persönlicher Traumata und heroischem Handeln. Wie bringt man die Mehrheit der potenziellen Helden dazu, sich für eine Sache einzusetzen? Ein Verfahren besteht darin, die heroische Imagination zu wecken, indem die richtigen Rollenmodelle ins Bewusstsein gebracht werden. Ein zweiter wichtiger Punkt ist, ein Verständnis davon zu haben, dass reale Helden selten allein handeln, sondern innerhalb eines Netzwerks agieren, welches die Werte unterstützt und auch ansonsten hilft. Zusammenfassend zeigt diese Forschung, dass Heldentaten nicht Ausdruck außergewöhnlicher Persönlichkeiten sind, sondern aus den richtigen Umständen zusammen mit den psychischen und materiellen Ressourcen heraus resultieren, die dann aus Mitgefühl oder Überzeugung zu Handlungen führen.75 Wir hatten argumentiert, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden Vorstellungen des Helden als Retter und als Überwinder von Ordnung gibt, und damit eine Vereinbarkeit sichergestellt werden muss: Das Heroische soll innerhalb einer moralischen Ordnung stattfinden. Kulturelle Praxen der „Selbst“-Realisierung durch eine Heldenreise nach innen müssen daher irgendwie sicherstellen, dass die Überwindung der Ordnung gleichwohl innerhalb eines geteilten moralischen Rahmens stattfindet, damit das praktische heroische Handeln „gerecht“ ist. Hierzu findet sich viel in einer tugendethischen Lesart des Mahayana-Buddhismus,76 siehe ausführlich Kap. 11. Stark verkürzend ist dabei die Vorstellung, dass man sich zu Beginn der „Reise nach innen“ freiwillig bestimmten moralischen Prinzipien unterwirft, die im Achtfachen Pfad festgelegt sind. Mit zunehmendem Verständnis erkennt man die Relevanz dieser Regeln und braucht sie dann nicht mehr. Denn ein tiefes Verständnis (Erleuchtung) geht damit einher, dass sich moralisches Handeln sozusagen automatisch ergibt (dabei werden Mitgefühl, Güte, Mitfreude und Gelassenheit als zentrale Dimensionen unterschieden). Ein Risiko wird allerdings auf dem Weg zu dieser tiefen Einsicht gesehen, weil man unter der falschen Vorstellung des Erreichens von tiefer Einsicht dazu neigt, Fehler zu machen und unethisch zu handeln, gerade weil man (fälschlicherweise) davon überzeugt ist, bereits den ganzen Weg der Reise zurückgelegt zu haben. Eudaimonie oder Erleuchtung bedeuten daher, dass beide Konzepte des Helden zusammenkommen: Weil er auf der Reise nach innen alle Ordnungsvorstellungen hinter sich gelassen und Freiheit von falschen Vorstellungen und Handlungsimpulsen erlangt hat, kann er nun in der Gesellschaft mit einer tiefen Einsicht des moralisch Gebotenen handeln. Heroisches Handeln ohne diese tiefe Einsicht kann moralisch sein (man rettet ein Kind vor dem Ertrinken), es kann aber auch unendliches Leid mit sich bringen. Wir müssen aus einer subjektivisti72 |
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schen bzw. relativistischen Perspektive, die aus sich heraus keine moralische Verbindlichkeit schaffen kann, hier letztlich passen: Ein Held ist dann immer nur auf eine bestimmte moralische Ordnung zu beziehen, deren Gültigkeit aber niemals letztlich geklärt werden kann.77 Und damit droht der Held am Ende doch nur der zu sein, der sich durchsetzt und damit die Geschichte nach seinen Vorstellungen schreiben kann. Genau dies wird von Tugendethiken aber bestritten, weil sie den Subjektivismus bzw. Relativismus für falsch halten. Anker bieten geteilte Vorstellungen von zu vermeidendem Leid, welche aber als rein theoretische Überzeugungen zu wenig wirksam sind. Im Buddhismus existiert die Vorstellung der „Kunst des Leidens“ (siehe Kap. 11). Hiermit ist nicht gemeint, dass Leid aktiv gesucht werden soll oder etwas Positives an sich ist, sondern dass Leiden unabwendbarer Teil des Menschseins ist und man Leid, wenn es einen trifft, zu einem Teil des Reifungsprozesses machen sollte: „Most people are afraid of suffering. But suffering is a kind of mud to help the lotus flower of happiness grow. There can be no lotus flower without the mud. […] Suffering has its beneficial aspects. It can be an excellent teacher.“78 Krisenmomente sind essentiell für Transformation, so dass man beide Aspekte, „positive“ wie „negative“, benötigt, um das Leben in Fülle zu kennen. Dies gilt insbesondere für die Fähigkeit zu Mitgefühl und Altruismus: Man benötigt eine Vorstellung davon, was eine andere Person bei einer bestimmten Erfahrung empfindet, um echtes Mitgefühl haben zu können. Hierfür findet sich auch empirische Evidenz: Vollhardt (2009) und Zimbardo, Breckenridge und Moghaddam (2013) konnten zeigen, dass es einen Altruismus gibt, der erst aus dem eigenen Leiden entsteht. Die Idee des Heldentums mag für die meisten Menschen irrelevant für das eigene Leben erscheinen. Zu weit weg sind die mystischen Gestalten alter Sagen und die Helden Hollywoods. Aber dies wäre eine falsche Schlussfolgerung. Genau so, wie viele Menschen unter den richtigen Umständen die Fähigkeit zu heroischem Handeln haben, ist die Heldenreise als Entwicklungsgeschichte der eigenen Tugenden hin zu einer „Persönlichkeit“ etwas, das erstens unumgänglich ist und das zweitens oft den strukturellen Elementen der Mythen folgt (wenn man diese richtig zu deuten weiß)79 und die Elemente des heroischen Handelns aufweist:80 Es handelt sich um eine Hingabe an eine empfundene „höhere“ Bestimmung, jenseits der Frage, ob dies angenehm oder unangenehm ist. Dabei hat der Begriff „höher“ keinerlei religiöse Bedeutung, sondern bezieht sich darauf, dass die Bestimmung die gewohnte Welt des „kleinen Selbst“ übersteigt. Hierzu bedarf es der Entelechie. Damit dies möglich ist, muss die Notwendigkeit der Reise als Grenzerfahrung anerkannt werden: „In this sense, heroes are deeply aware of, and find pleasure in negotiating the edge of the event horizon between Rückkehr der Helden?
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entropy and order, between the powers of primordial vastness and the desire to survive in the present finite moment.“81 Die empfundene Bestimmung ist individuell. Und trotz des Risikos des Unbekannten: Dieser Bestimmung nicht zu folgen, wird oft als entmündigend und ohnmächtig empfunden, es entsteht eine Opferhaltung und ein Unbehagen, ein Gefühl von Banalität und Flachheit der eigenen Existenz. Ein Sicheinlassen auf diese Bestimmung wird umgekehrt als selbstbestimmend und kreativ wahrgenommen, unabhängig von der Härte. Dies ist ein Nachklang der aristotelischen Vorstellung eines Zusammenhangs von Entelechie und Energie, lebendiger Wirksamkeit. Franco, Efthimiou und Zimbardo (2016) schreiben: „The effective mastery of pain in all its forms and the achievement of self- transcendence through this uncomfortable process and passage through the ‚unknown‘ world, is thus the pathway to heroic virtue, and heroic eudaimonia.“82 Diese Erkenntnisse haben wichtige Folgen für die Wahrnehmung der Heldenreise: sie gründet sich nicht im Klischee eines „strahlenden“ Helden, sondern in menschlichen Schwächen und Fehlern, die nicht überwunden werden sollen, sondern die die Transformationen erst ermöglichen. Hier erkennt man auch wieder die enge Verbindung zwischen Tugendethik, der Idee des Helden und dem Erhabenen: Es geht um die Überwindung von Grenzen und damit um Grenzerfahrungen jenseits des Alltäglichen und Bekannten. Eine gelingende Grenzerfahrung lässt – so paradox es klingen mag – die Grenze verschwinden (siehe auch Kap. 11). Diese Konzeption steht sperrig in einer Gesellschaft, die Glück mit der Abwesenheit von Leid, Härte und Unbequemlichkeit verbindet, die viel dafür tut, damit man niemals aus der Komfortzone herausmuss. Aus der Perspektive der Forschung zur Heldenreise ist diese Idee zutiefst falsch, sie gibt eine Perspektive auf das Leben vor, welche das Erreichen von Eudaimonie systematisch erschwert, so dass diese eher aus den individuellen Zufälligkeiten des Lebens erwächst, nicht aber systematisch in der Kultur angelegt ist. Allison und Goethals (2014, S. 175) stellen die Frage, ob Menschen, wenn ihr „Wesen“ den tugendethischen Vorstellungen entspricht und Sinn und Selbstrealisierung nur durch eine Heldenreise erlangt werden kann, ein erfülltes Leben vorenthalten wird, wenn sie in einer Gesellschaft leben, die ein solches Denken und Handeln erschwert oder nicht zulässt. Wir werden die Frage nach dem „Wesen“ des Menschen wahrscheinlich niemals beantworten können, und gleichwohl ist die Frage relevant, da das moderne Menschenbild und die sich hierzu korrespondierend entwickelnde Gesellschaft mit ihren Vorstellungen, Normen und Institutionen (nennen wir sie postheroisch oder nicht) genau dies nicht vorsieht. Es fällt auf, dass die Idee des Helden 74 |
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für Kinder eine hohe Plausibilität besitzt. Das hat nicht nur mit Allmachtfantasien zu tun, dazu ist diese Vorstellung zu stark normativ rückgebunden: Vielmehr verweist es auf einen Gerechtigkeitssinn und eine Vorstellung davon, der gerechten Sache zu helfen, jenseits von Eigeninteresse. Wann und warum kommt das abhanden? Es ist wohl auch die Kombination aus Subjektivismus/Relativismus, „Konsumentensouveränität“ etc., die ein Denken und Handeln innerhalb einer solchen Vorstellungswelt erschwert. Am nächsten kommt dieser Vorstellungswelt noch die Idee der Selbstoptimierung, doch hat sie höchstens oberflächlich mit der Idee der Selbsterkenntnis und Transformation zu tun, von der in Tugendethiken und Heldenreisen die Rede ist.
2.3 Trickster: Ein erduldeter Raum des Chaos Der Held ist nicht die einzige Figur, die in fast allen Kulturen auftaucht und die eine doppelte Rolle sowohl als Verteidiger der Ordnung als auch als Regelbrecher spielt. Die Figur, die die Ambivalenz von Ordnung und Chaos viel besser zum Ausdruck bringt, ist der Trickster. In der Forschung werden neben vielen anderen Hermes, Prometheus, Anansi, Rabe, Hase, Coyote in Mythen und Till Eulenspiegel, Felix Krull, Pipi Langstrumpf oder Butch Cassidy in Literatur und Film als Trickster-Figuren dargestellt. In Kap. 11 werden wir mit dem Bodhisattva eine wichtige Trickster-Figur des Buddhismus kennenlernen. In Mythen und Erzählungen handelt diese Figur meist aus einem moralischen Interesse, und sie wird daher mit dem sogenannten Kulturheros in Verbindung gebracht. Er ist jemand, der eine große Tat vollbringt, indem er den Menschen beispielsweise das Feuer übergibt, den Ackerbau erklärt oder bei einem transformativen Prozess hilft. Damit bricht er aber vielleicht eine göttliche Ordnung und provoziert damit die Götter. Diese Konstellation zeigt die Zweiseitigkeit der moralischen Perspektive deutlich stärker als die Heldenfigur: Er hilft den einen, verstößt damit aber notwendig gegen die Regeln der anderen. Radin, Kerény und Jung (1954) schreiben zur Einordnung der Figur (die sie als Schelm bezeichnen): Kaum ein Mythos hat eine so weltenweite Verbreitung, wie der unter dem Namen Der Schelm bekannte [...]. Von wenigen Mythen können wir so zuversichtlich behaupten, dass sie zu den ältesten Ausdrucksformen der Menschheit gehören, und nur wenige andere Mythen haben ihren ursprünglichen Inhalt derart unverändert bewahrt. Der Schelmen-Mythos besteht in klar erkennbarer Form sowohl bei den einfachsten Urvölkerschaften als bei den entwickelteren Völkern; wir finden ihn bei den alten Griechen, Trickster: Ein erduldeter Raum des Chaos
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den Chinesen, den Japanern und in der semitischen Welt. Viele von den SchelmenZügen wiederholen sich in der Gestalt des mittelalterlichen Gauklers und leben weiter bis auf den heutigen Tag im Hanswurst des Kasperle-Theaters und im Clown. Obwohl immer wieder mit anderen Mythen kombiniert und öfters auf drastische Weise neu aufgebaut und neu dargestellt, scheint die Grundhandlung sich doch stets durchgesetzt zu haben.83
Der Trickster findet sich unter den unterschiedlichsten Namen in der Literatur, er ist der Schelm, der Clown, der Idiot. Er ist moralisch oft nicht zu fassen. Im Karneval wird dem Brechen der Ordnung durch Trickster-Rollen ein kontrollierter Rahmen gegeben. Er ist auch physisch ein Mischwesen, welches in manchen Mythen in tierischer Form auftritt (z.B. als Coyote oder Rabe in Mythen der nordamerikanischen indigenen Völker), aber auch zwischen Tier- und Menschengestalt springt oder das Geschlecht wechseln kann. Auf der einen Seite kann er über bemerkenswerte Eigenschaften verfügen, auf der anderen Seite ist er ungeschickt und tölpelhaft. Hynes (1993) hebt hervor, dass „[d]er schiere Reichtum an Tricksterphänomenen [...] einen leicht dazu verführen [kann zu denken], dass der Trickster undefinierbar sei. Zu definieren heisst Grenzen zu ziehen, und Trickster scheinen erstaunlich resistent zu sein gegen Eingrenzungen. Sie sind zwanghafte Grenzübertreter.“84 Wir haben es daher beim Trickster mit einer mythologischen Figur zu tun, die wie keine andere das Spiel mit der Grenze thematisiert. Grenzen existieren für ihn, damit sie überschritten und zerstört werden können. Damit entzieht er sich auch jeder moralischen Ordnung. Der Trickster ist – abstrakter gesprochen – ein Vermittler zwischen den dual abgegrenzten Bereichen einer gesellschaftlichen Ordnung. Die weite Verbreitung deutet darauf hin, dass dies als ein wichtiger Teil von Gesellschaft gesehen wurde: „The good life can only be lived in a society in which tidiness is preached and practiced, but not too fanatically, and where efficiency is always haloed, as it where, by a tolerated margin of mess.“85 Daraus erklärt sich auch seine eigene widersprüchliche Persönlichkeit. Er vereint Gegensätze, er ist weder klar gut oder böse, thematisiert eher die Ambivalenz und Vieldeutigkeit und steht damit für ein Verwischen von Dualität.86 Hierin liegt auch die Faszination dieser Figur; die Möglichkeit des „anderen Lebens“ ängstigt zwar, und doch wird dieses andere Leben auch als Versprechen sichtbar: Owing to the ambiguity and autonomy of the unknown, „a point at the periphery of our awareness may begin to develop attributes of the center, at first dividing our at-
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tention, but then claiming it completely, and for a while keeping ist magical character.“ And for this we not only tolerate this „margin of mess“, this „enemy of boundaries“, we create and recreate him.87
Der Trickster thematisiert damit das marginale bzw. liminale in einer Gesellschaft, er ist zum einen ein cleverer Held,88 der sich aber zum anderen seiner Anerkennung niemals sicher sein kann, im Gegenteil bleibt er oft am Rand und wird aus Sicht der Mainstreamkultur zum Idioten. Der Trickster ist ein universales Phänomen, weil das Marginale, für das er symbolisch steht, notwendiger Bestandteil jeder Ordnung ist. Und dieser Rand zieht an und schreckt zugleich ab. Dies sieht man an der ambivalenten Faszination, die von Menschen ausgeht, die „ihr Ding“ in einer wirklich die gesellschaftlichen Wertvorstellungen in Frage stellenden Art „durchziehen“. Beginnt man in den 1950er Jahren, so waren wohl die Beatniks die erste Trickster-Bewegung, die von den zwischen Zen-Poet und „Penner“ changierenden Figuren z.B. Jack Kerouacs verewigt wurden. Er schrieb zu diesem Begriff: The Beat Generation, that was a vision that we had, John Clellon Holmes and I, and Allen Ginsberg in an even wilder way, in the late Forties, of a generation of crazy, illuminates, hipsters suddenly rising and roaming America, serious, bumming and hitchhiking everywhere, ragged, beatific, beautiful in an ugly graceful new way.89
Die Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft changierte zwischen Bewunderung, Aufladung mit den eigenen Sehnsüchten, Neid und Verachtung. Ähnliches finden wir dann wieder in den 1960er Jahren bei den Hippies. Held und Trickster erscheinen zunächst als widersprüchlich, doch sind sie in vielen Mythen vereint. Der Held thematisiert den Umgang mit Ordnung und Chaos. Doch was in dieser selbst wiederum dualen und der Wirklichkeit unangemessen vereinfachenden Denkart fehlt, ist die Infragestellung dieser Grenze in ihrer normativen Bedeutung. Der Trickster zwingt dazu, die Ambiguität des Lebens in all ihren Facetten anzuschauen. Welsford (1935) schreibt über den Idioten als Trickster: The Fool, in fact, is an amphibian, equally at home in the world of reality and the world of imagination. […] The serious hero focuses events, forces issues, and causes catastrophes; but the Fool by his mere presence dissolves events, evades issues, and throws doubt on the finality of fact.90
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Der Held hat damit die paradoxe Rolle, auch als Ordnungsüberwinder immer Ordnung zu schaffen. Der Trickster stellt diese auf ewig in Frage, und die Lächerlichkeit ist ein Mittel dazu. Der Trickster müsste eigentlich eine zentrale Figur einer relativistischen Gesellschaft sein, die der Idee einer Letztbegründbarkeit von Werten generell skeptisch gegenübersteht.91 Das Burleske, das Ausdifferenzieren von Geschlechteridentitäten und Partnerschaftsmodellen, all das, was man unter Identity Politics versteht, ist Kerngeschäft des Tricksters. Die in den Trickster-Geschichten aufscheinende Ambivalenz des Umgangs der Mehrheitsgesellschaft mit seinen Transgressionen der „normalen Ordnung“ sind illustrativ für das Konfliktpotenzial, das in gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen steckt. Eine relativistische Gesellschaft steht damit aber darüber hinaus noch vor dem Paradox, dass sich gleichwohl eine De-facto-Werteordnung als kleinster gemeinsamer Nenner des kommerziellen Interesses und damit der Kommensurabilität aller Werte durch das Preissystem etabliert. Auch auf diesen unangenehmen Umstand macht der Trickster aufmerksam. Turner (1968) weist darauf hin, dass in liminalen Phasen Kriterien von moralisch und unmoralisch, destruktiv und kreativ, rational und irrational an Bedeutung verlieren, weil sie immer relativ zu einer Ordnung definiert sind. Daher kommt auch das Problem der Einordnung des Tricksters als Idiot oder Held. Die moralische Einordnung seines Handelns ist notwendig Ausdruck des eigenen Wertesystems. Stellt er eine als ungerecht wahrgenommene Ordnung in Frage, so ist er „gut“ und seine subversive Beweglichkeit und Ambivalenz Ausdruck von Cleverness im Umgang mit „Macht“. Ist er erfolgreich, wird er zum Helden. Stellt er eine als gerecht oder „normal“ wahrgenommene Ordnung in Frage, so ist er „böse“ und seine subversive Beweglichkeit und Ambivalenz Ausdruck von moralischer Verkommenheit. Scheitert er, so geschieht es ihm recht. Wir sehen eine Variation dieses Themas in der Kreativitätsforschung (siehe Kap. 4), die darauf hinweist, dass es ein „zu kreativ“ geben kann, wenn die neue Lösung von dem Rest der Nichtkreativen nicht mehr in ihr Ordnungsverständnis eingebettet werden kann. Die Grenze zwischen Nobelpreis und Dorfdepp kann hier eine fließende sein. Für Babcock-Abrahams (1975) verweisen Trickster-Geschichten daher auf the generative situation of ambivalence and contradictions that the very basis of culture engenders. Seeming undifferentiation and ambivalence are characteristic of mediating figures, and it may well be that the mediating figure of trickster […] is created in response to a present and constant perception of opposition, of difference essential to human constructs.92
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II
DIE ERFAHRUNG DES ERHABENEN
3. Grundlagen zum Erhabenen Noch nie Geschautes freu’ ich mich zu schauen, Allein vor Furcht bebt mir das Herz und zittert Bhagavad Gita 11, 45 (Von Schroeder, 1922)
Ein Versuch über Sinn, Helden, Trickster und säkulare Kultur kommt, auch wenn es zunächst überraschen mag, unweigerlich zur Idee des Erhabenen und damit zu einem Kern der Argumentation dieses Buchs. Das Erhabene beschreibt eine Grenzerfahrung, eine Situation existenzieller Unsicherheit, von der eine transformative Kraft ausgeht und die im Zentrum von Heldenreisen und ganz allgemein Entwicklungsethiken steht. Der Begriff des Erhabenen fand seit der Übersetzung des Pseudo-Longinus zugeschriebenen Texts Peri Hypsous durch Smith von 1739 über Burkes A Philosophical Treatise into the Origin of Our Idea of the Sublime and Beautiful von 1756 sowie Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft von 1790 seinen Weg in die westliche Philosophie. Dabei spielt er insbesondere eine Rolle in der Ästhetik, auch wenn er immer wieder als allgemeineres Erklärungsmodell relevant war. Im Folgenden werden wir der Idee, das Erhabene aus dem Raum der Ästhetik herauszulösen und als Erklärungsmodell für einen deutlich größeren Bereich individueller Erfahrung und gesellschaftlicher Phänomene zu benutzen, im Detail nachgehen. Wir hatten bereits gesehen, dass Thomä (2020) den demokratischen Helden als inspirierende Figur denkt. Dazu erforderlich ist für ihn eine bestimmte Einstellung dem Leben gegenüber, eine Bereitschaft, „die Zäune der Routine zu durchbrechen und Freude oder Schmerz ungeschützt, wie neu, zu spüren.“93 Dieser Schritt aus der bekannten Ordnung hinein in das Unbekannte, Wilde, Ungeordnete ist untrennbar mit der Erfahrung des Erhabenen verknüpft, wie wir noch ausführlich zeigen werden. Hierin sieht Thomä aber gerade den zentralen Schritt zur Individuation und Autonomie: „Wenn ich Helden bewundere, mache ich selber Schritte ins Unbekannte, übe mich also darin, nicht nur zu funktionieren, sondern echt zu handeln.“94 In einer Demokratie ist für Thomä das Heroische ein emanzipatorischer Akt des Heraustretens aus dem Vertrauten, auch wenn „danach“ wieder im Vertrauten gewirkt werden muss. Das Erhabene spielt genau auf dieser Grenze zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten, zwischen Ordnung und Wildheit. Der erhabene Moment ist Grundlagen zum Erhabenen
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ein Moment der Überforderung der Vernunft durch die Konfrontation mit einem Phänomen, welches so groß oder komplex ist, dass es die Fähigkeit zu verstehen übersteigt. Oder es ist die Konfrontation mit einem Phänomen, welches so mächtig ist, dass es die eigene Existenz bedroht. Mit dieser Grenzerfahrung geht ein ambivalentes Gefühl von zum einen Schrecken, Verunsicherung und zum anderen Faszination, Glück oder Freiheit einher. Burke nannte es ein Gefühl „between terror and bliss“. In den Worten Schillers (1984 [1793]) stimmen beim Erhabenen „Vernunft und Sinnlichkeit nicht überein, und eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der Zauber, womit es unser Gemüth ergreift.“95 Es kommt zu einer Auflösung, Verflüssigung von Ordnungsvorstellungen über die „Welt“ und das „Selbst“. Turner (1974) nennt diesen Zustand liminal. Der Begriff des Erhabenen ist im Alltag eher ungebräuchlich. Er hat eine lange Geschichte und vereint in sich Fragen nach der Möglichkeit von Erkenntnis mit Fragen des affektiven und ästhetischen Erlebens und des Verhältnisses von Begriff und Gegenstand, oft verbunden mit spirituellen und moralischen Implikationen. Er befindet sich auf der Schnittstelle zwischen Ästhetik, Erkenntnistheorie und Ethik. In all diesen Bereichen liegt dem Begriff ein Paradox zugrunde, die Benennung des nicht Benennbaren; die Erkenntnis von etwas aus einem Moment der Überforderung des Erkenntnisvermögens; ein Gefühl von zugleich terror und bliss, der Gewinn einer moralischen Gesinnung aus dem Zusammenbruch von Moral. Das Erhabene bezieht sich auf die Grenze schlechthin: die Grenze der Sprache, der Erkenntnis, der Ordnung, der Alltagsmoral. Es handelt vom Gewahrwerden eines Kontrollverlusts, eines Ausgeliefertseins: „Das Erhabene markiert eine spezifische Ohnmachtserfahrung, hinter die es kein Zurück mehr gibt und über die hinaus kein Weg führt. Der angehaltene Moment.“96 Die Rezeption der Idee des Erhabenen kommt selbst einer Entgrenzung gleich, die immer neue Facetten von Immanenz und Transzendenz erschließt. Das Erhabene stellt Vorstellungen des „Selbst“ in Frage: Auch das Selbst ist eine narrative Konstruktion, die im Moment der Überforderung wegfällt und einem reinen Gewahrsein Platz macht. Dies kann ein Moment tiefer Verunsicherung sowie tiefer Freiheit sein. Verunsicherung, wenn man das Selbst nie zuvor in seiner Konstruiertheit gesehen hat, Freiheit, wenn man die Schranken dieses Selbst versteht und sie überwinden kann. Es ist ein in der mystischen bis hin zur phänomenologischen Literatur immer wieder zu findender Verdacht, dass das Selbst, das Zentrum des Individualismus, den Menschen am Ende zur Last wird. Diese Vermutung findet auch in der Positiven Psychologie (in Phasen des flows ist man „selbst“-vergessen) und Neurowissenschaft (siehe die späteren Ausführungen zur Rolle des Default-Networks) Bestätigung. Wir werden diesen sehr 82 |
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wichtigen Punkt in Kap. 11 noch genauer entwickeln. Dieses „Selbst“ spielt auch in der Konzeption des Erhabenen bei Adorno (1970) eine wichtige Rolle, und er unterscheidet zwei Formen des Selbstverlusts, den des erhabenen Moments und den der Zerstreuung: „Das Ich bedarf, damit es nur um ein Winziges über das Gefängnis hinausschaue, das es selbst ist, nicht der Zerstreuung, sondern der äußersten Anspannung; das bewahrt Erschütterung […] vor der Regression.“97 Wir werden uns im Folgenden noch ausführlich mit den unterschiedlichen Bedeutungen dieses Begriffs auseinandersetzen. Zuvor soll aber die Grundthese entwickelt werden, auf die die Analyse zulaufen wird. Im Erhabenen trifft die Wahrnehmungsfähigkeit eines Menschen mit einer Wahrnehmung so zusammen, dass ein Konflikt entsteht. Extreme Ereignisse wie Unwetter, Naturkatastrophen usw. standen in der frühen Debatte über das Erhabene im Zentrum. Die Welt wirkt so stark auf den Menschen ein, dass er gar nicht anders kann, als sich seiner Begrenztheit bewusst zu werden. Diese Erfahrung wird ihm sozusagen „von außen“ aufgezwungen. Mit der richtigen Aufmerksamkeit kann diese Erfahrung aber auch bei weniger starken äußeren Reizen bewusst gesucht werden. Alle Phänomene haben das Potenzial, richtig angeschaut, die Fassungskraft zu übersteigen. Wir sehen also ein Zusammenspiel zwischen Phänomenen und Wahrnehmung, der wir nun nachgehen werden. Übersicht 1 zeigt die Struktur auf. Es handelt sich um Erfahrungen der Annäherung an eine Grenze zwischen den dort exemplarisch genannten Gegensatzpaaren. Die Annäherung an die Grenze führt zu einem gemischten Gefühl, das Burke mit den Begriffen terror und bliss bezeichnet hat. Im Umgang mit dieser Grenze stehen zwei qualitativ unterschiedliche Sicherungsstrategien zur Verfügung. Bei der ersten versucht man, sich der Grenze nicht zu nähern, sondern stattdessen diese zu sichern, tatsächliche und symbolische Mauern zu bauen. Dies führt auf der persönlichen Ebene zu Stasis und Stagnation, da die Vorstellungskraft sich nicht weiterentwickelt. Bei der zweiten sucht man Sicherheit in Bereichen, die es erlauben, sich der Grenze zu nähern und diese zu überschreiten. Dies führt zu innerem Wachstum, Kreativität und mehr Empathie, weil durch die Auseinandersetzung mit dem Neuen die Vorstellungskraft vergrößert wird. Sie trägt aber auch die Möglichkeit des Scheiterns in sich. Sicherungsstrategien können im Vertrauen in den eigenen Körper, die eigene Psyche und die eigenen Fähigkeiten oder auch im Vertrauen auf ein Netzwerk von Freunden, religiösem Glauben oder anderen Weltanschauungen liegen. Wir werden dieser Grundthese im Verlauf des Buchs nachgehen. Dazu sollte aber begrifflich genauer gearbeitet werden. Arcangeli und Dokic (2020) sehen das Erhabene als eine spezifische Art der Grenzerfahrung. Sie unterscheiden zwischen (1) gewöhnlichen Erfahrungen, bei denen man im AlltagsmoTrickster: Ein erduldeter Raum des Chaos
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dus funktioniert, (2) gewöhnlichen Grenzerfahrungen sowie (3) radikalen Grenzerfahrungen. Eine gewöhnliche Grenzerfahrung ist gegeben, wenn die folgenden drei Bedingungen erfüllt sind: 1. Ein Individuum führt eine Aktivität A aus, die zu einer bewussten Erfahrung E von F führt. 2. Es kann keine andere Aktivität A’ ausführen, die zu einer größeren oder kleineren, höheren oder niedrigeren usw. Erfahrung als E von F führt. 3. Es ist sich dieser Begrenzung bewusst.
Grenze
affektive Zustände Burke: terror und bliss Forschung: gemischte Gefühle, Ehrfurcht, sense of wonder, …
Bekanntes
Unbekanntes
Ordnung
Chaos
Eigenes
Fremdes
Kontrolle
Spontaneität
Sprache
Unmittelbarkeit
Übersicht 1: Struktur erhabener Erfahrungen.
Arcangeli und Dokic (2020) entwickeln die Definition für kognitive Aktivitäten (z.B. das Hören eines Tons), aber sie lässt sich ohne weiteres auf körperliche Aktivitäten (z.B. das Besteigen eines Bergs) ausweiten. Bei einer gewöhnlichen Grenzerfahrung wird sich das Individuum einer geistigen oder körperlichen Grenze bewusst, und damit unterscheidet sie sich von einer gewöhnlichen Erfahrung. Solche Erfahrungen stellen aber noch keine Bedrohung dar: man lernt, dass man Töne nur bis zu einer bestimmten Frequenz bewusst wahrnehmen kann, dass man 100 Meter nicht schneller als in 15 Sekunden laufen kann usw. Und bei vielen gewöhnlichen Grenzerfahrungen lässt sich die Grenze durch Training oder Lernen verschieben. Für eine radikale Grenzerfahrung muss eine vierte Bedingung hinzukommen 4. Das Individuum ist sich bewusst, dass es keine andere Aktivität A‘ zur Verfügung hat, mit der es die Begrenzung von A bzw. F überwinden kann.
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Grundlagen zum Erhabenen
Die Autoren sehen hierin die Besonderheit erhabener Erfahrungen: das Individuum trifft auf eine absolute Grenze, und das Bewusstsein dieser Absolutheit macht die Erfahrung intensiv und bedroht die gewöhnliche Sicht auf die Dinge. Als Beispiel nennen sie das Konzept der Unendlichkeit. Diese Definition ist für die weitere Argumentation nützlich, wenn man sie in zweierlei Hinsicht präzisiert. (1) Die Übersteigung der Fassungskraft ist eine in diesem Sinn radikale Grenzerfahrung. Von ihr geht aber auch eine Gefahr aus: Man könnte schließen, dass mit dieser Definition eine Klassifizierung von Erfahrungen möglich ist, dass es also in der Natur von F liegt, ob damit gewöhnliche Erfahrungen oder gewöhnliche bzw. radikale Grenzerfahrungen einhergehen. In den folgenden Kapiteln wird argumentiert, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass die Klassifikation vielmehr mit der Betrachtungsweise und der Aufmerksamkeit des Betrachtenden zu tun hat. Für einen Mathematiker, der sich eingehend mit Cantors Konzepten der Unendlichkeit beschäftigt hat, sind diese nur Mittel zum Zweck der Lösung von Problemen und keine unüberwindbaren Grenzerfahrungen. Jede Erfahrung E kann zu einer gewöhnlichen oder zu einer radikalen Grenzerfahrung werden, je nachdem, wie man sich ihr zuwendet. (2) Die Absolutheit der Unüberwindbarkeit einer radikalen Grenzerfahrung macht diese einerseits sehr selten, und sie schließt die betroffene Person eigentümlich in dieser unüberwindbaren Grenze ein. Dies entspricht nicht den Erfahrungen, über die die Literatur zum Erhabenen spricht, und auch nicht den Erfahrungen, die Menschen meist meinen, wenn sie diese als erhaben beschreiben (siehe Kap. 12). Grenzüberwindungen sind mindestens ebenso wichtig; von ihnen geht eine Faszination aus und nur mit ihnen kann das Erhabene eine transformative Kraft entwickeln. Wir werden daher im Folgenden mit dem Konzept der Grenzerfahrung arbeiten, aber diese zum einen eher graduell verstehen und zum anderen in der Einstellung des Betrachtenden verorten. Diese Sichtweise könnte vermuten lassen, dass unter der impliziten Annahme gearbeitet würde, die Erwartung an das Bekannte diesseits sei besser als die Erwartung an das Unbekannte jenseits der Grenze. Das muss aber nicht so sein. Grenzübertritte können auch Ausdruck einer Unzufriedenheit mit, Unerträglichkeit des oder Verzweiflung an dem Bekannten sein. Das Unbekannte kann Quelle von Angst und Unsicherheit sein und gleichwohl verglichen mit dem Bekannten als kleineres Übel erscheinen. Beispiele hierfür sind auf einer konkreten Ebene Migration, insbesondere Flucht, oder auch sozialer Aufstieg, um einem Umfeld zu entkommen, welches als unerträglich, repressiv oder gefährlich empfunden wird. Aber es kommen auch Rebellion und Revolution in den Sinn. Sicherheitsstrategien wie z.B. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten können hier Trickster: Ein erduldeter Raum des Chaos
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auch ein wichtiges Element sein, doch kann im Extremfall als einzige Sicherheit die Überzeugung verbleiben, dass es schlimmer als so nicht mehr kommen kann. Es existiert ein Intervall von Grenzerfahrungen, innerhalb dessen die affektive Erfahrung des Erhabenen möglich wird. Hierzu nötig ist eine gewisse sichere Distanz. Kant schreibt in Bezug auf Naturphänomene: So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muss das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist.98
Ein Ereignis, welches einfach nur vernichtet, ist nicht erhaben, sondern bloßer Schrecken. Am anderen Ende des Spektrums stehen Alltagserfahrungen wie der morgendliche Tautropfen auf einem Grashalm. Auch er hat das Potenzial, mit der richtigen Einstellung betrachtet, das Fassungsvermögen zu übersteigen. Er zwingt sich aber nicht auf, so dass man – wenn man diese Erfahrung nicht explizit sucht – über ihn in der Regel hinweggeht und sich der Erfahrung nicht öffnet. Prinz (2011, 2013) argumentiert, dass wir ein Kontinuum von Empfindungen kennen, die von „wunderbar“ oder „großartig“ und „atemberaubend“ oder „überwältigend“ bis hin zu „erhaben“ und „ehrfürchtig“ reichen, bei denen es sich um dasselbe Gefühl handelt, welches in unterschiedlicher Intensität wahrgenommen wird. Er nennt es sense of wonder, ein Begriff, der schwierig ins Deutsche zu übersetzen ist und am ehesten wohl mit einem Gefühl des Staunens und der Dankbarkeit bezeichnet wird. Nach Adam Smith entsteht dieses Gefühl, „when something quite new and singular is presented […] [and] memory cannot, from all its stores, cast up any image that nearly resembles this strange appearance.“99 Irgendwo zwischen diesen Extremen liegt das Intervall, in dem das Bewusstsein aus dem Alltag gerissen wird und sich seiner eigenen Unzulänglichkeit oder Endlichkeit bewusst wird und zugleich noch genügend Distanz bleibt, um daraus eine Erfahrung zwischen, in den Worten Burkes, terror und bliss zu machen. Wo dieses Intervall liegt, wird für jeden Menschen nur individuell zu beantworten sein. Damit Burke und alle Nachfolgenden von erhabenen Erfahrungen als einer ästhetischen Qualität der Naturerfahrung sprechen können, muss Natur zunächst innerhalb einer solchen Kategorie erfahrbar sein. Dies erlaubt der Begriff der Landschaft. Ritter (2010) datiert den Moment des Entstehens eines Konzepts von Landschaft auf den 26.04.1336, als Petrarca den Mont Ventoux ohne einen Anlass außer dem reinen Vergnügen bestieg. Er sieht in der Nachfolge den Be86 |
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griff der Landschaft an die Entstehung eines modernen Weltbilds gebunden, in dem der ästhetische Sinn und eine Idee der ästhetischen Wahrheit als Ergänzung zu Wissenschaft und Technik mit ihren jeweiligen Begriffen von Wahrheit tritt. Demnach ist „Landschaft [...] Natur, die im Anblick für einen fühlenden und empfinden Betrachter ästhetisch gegenwärtig ist.“100 Daher ist in diese Dualität der Begriffe Wissenschaft/Technik–Landschaft eine Grenze zwischen zwei Erkenntnissphären eingeschrieben, die selbst zugleich als Grenze das Potenzial des Erhabenen in sich trägt. Unterschiedliche landschaftliche Gegebenheiten und Gesellschaftsformen üben einen unterschiedlichen „Liminalitätsdruck“ aus. Hiermit beschäftigten sich hauptsächlich die frühen Theoretiker und Künstler des Erhabenen, aber auch vor Burkes Abhandlung war es in der sakralen Kunst und Architektur als Erfahrung des Göttlichen allgegenwärtig. Dies bringt uns zu einer zentralen These: Nicht nur Landschaften üben ihren jeweils eigenen Liminalitätsdruck aus, sondern auch Gesellschaftsformen und kulturelle Praxen. Diese Verschiebung deutet sich mit der Moderne langsam an und nahm mit der Postmoderne Fahrt auf. Postmoderne Theoretiker haben die Objekte erhabener Erfahrungen in vielfältiger Weise erweitert und abstrahiert, von der kulturellen Negativität einer PostHolocaust-Gesellschaft hin zur Unermesslichkeit des modernen Kapitalismus, von der Undarstellbarkeit des Absoluten hin zur Unsagbarkeit. Das Spekulative dieser Analysen wurde kritisiert, rechtfertigte sich aber im Zweifel durch den gesellschafts- oder kulturtheoretischen Erkenntnismehrwert der spezifischen Analyse. Dabei interessiert uns vor dem Hintergrund der gesellschaftstheoretischen Analyse in Kap. 1 und 2 im weiteren Verlauf insbesondere auch der folgende Aspekt: Progressive Gesellschaften erzeugen durch ihre ständige Veränderung der ökonomischen, technologischen und soziokulturellen Bedingungen einen kontinuierlichen Veränderungsdruck, bei dem alte Ordnungsvorstellungen aufgelöst und durch neue ersetzt werden, nur um diese dann wiederum durch nochmals neuere zu ersetzen. Das Leben in einer progressiven Gesellschaft ist ein Leben an der Grenze zwischen Ordnung und Chaos, Zivilisation und Wildheit, es ist ein Prozess der permanenten Emanzipation, ohne dass klar ist, ob man jemals in die Freiheit entlassen wird, da bereits die nächsten Veränderungen anstehen. Die von Thomä (2020) angesprochene Bereitschaft zur Veränderung wird zu einer zentralen Tugend progressiver Gesellschaften. Damit sind progressive Gesellschaften potenziell Gesellschaften des Erhabenen, in denen man ständig zwischen dem Schrecken und dem Versprechen des Unbekannten steht. Das Erhabene wird damit zur grundierenden Erfahrung des Fortschritts und erzeugt sozusagen zyklisch sowohl ein Modell des Helden als einem Überwinder von Ordnung (Mark Trickster: Ein erduldeter Raum des Chaos
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Zuckerberg, Elon Musk oder Jeff Bezos als Vertreter des disruptiven Kapitalismus kommen in den Sinn) als auch ein Modell des Helden als einem Bewahrer von Ordnung. Dazu muss der Fortschritt aber auf dem Kontinuum zwischen Langeweile und bloßem Schrecken in dem Intervall zu liegen kommen, in dem der Zauber, von dem Schiller sprach, erlebbar wird. Progressive Gesellschaften drohen daher immer, auf die eine oder die andere Seite vom Grat zu rutschen. Ein Abgleiten in Stagnation und Langeweile ist ein Betrug an den Erwartungen an ein intensives Leben. Und ein Abgleiten in eine überfordernde Veränderungsgeschwindigkeit erzeugt Ängste, Verunsicherung, Schrecken und einen Verlust an wahrgenommenem Sinn. Die Ambivalenz der Erfahrung birgt Risiken verschiedener Art: Sie kann zu einer Abkehr vom progressiven Ideal führen. Sie kann zur Ausgrenzung des „Fremden“ in allen Spielarten des Begriffs beitragen. Und sie kann Menschen in die Arme von totalitären Versprechungen führen. Im Zentrum stehen dabei Veränderungen der Distanzierungsstrategien zur Transformation des bloßen Schreckens in den „Zauber, womit [das Erhabene] unser Gemüth ergreift“. Wir werden darauf noch eingehen.
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4. Psychologie und Neurowissenschaft des Erhabenen
Weiskel (1976) entwickelt ein Dreiphasenmodell zur Modellierung der Erfahrung des Erhabenen, welches sich sehr gut als Ausgangspunkt einer Analyse eignet. Dabei handelt es sich in einem weiten Sinn um ein Modell, welchem eine bestimmte Vorstellung „psychologischer Homöostase“ zugrunde liegt.101 Phase 1: In dieser Phase hat der Verstand ein eindeutiges, habituelles Verhältnis zum Gegenstand, welches unbewusst und harmonisch ist. Dies ist der Zustand normaler Wahrnehmung und normalen Verständnisses. Es gibt keine nennenswerten Diskrepanzen oder Dissonanzen, die die Wahrnehmung stören, außer vielleicht einer latenten Langeweile. Phase 2: In dieser Phase bricht das eindeutige, habituelle Verhältnis zum Gegenstand auf. Überraschen oder Erstaunen ist die affektive Entsprechung zu diesem Zustand, der als irritierend empfunden wird. Das Verhältnis von Verstand zu Gegenstand wird unbestimmt und manifestiert sich in einem Überschuss oder einem Mangel an Interpretation. Dies wird je nach Bereich gekennzeichnet durch die Grenze zwischen unterschiedlichen, aber zusammenhängenden Gegensatzpaaren wie zivilisiert–wild, bekannt–unbekannt/fremd, Ordnung– Chaos, Kontrolle–Zufall/Spontaneität, Sprache–unmittelbare Erfahrung/Wahrnehmung, das Eigene–das Andere. Phase 3: Der Verstand erlangt eine neue Balance zwischen Gegenstand und Wahrnehmung, indem eine neue Ordnung aufgebaut wird. Dabei symbolisiert die Unbestimmtheit der Phase 2 das Verhältnis des Verstands zu einer die alte Ordnung transzendierenden Welt, die neu geordnet werden muss. Dieses Verhältnis etabliert eine Metaebene der Wahrnehmung, die sie von der habituellen Wahrnehmung der ersten Stufe unterscheidet. Kommt es zu einer Reversion zur alten habituellen Ordnung, fällt der erhabene Moment in sich zusammen, ohne eine Transformation in eine neue habituelle Ordnung zu erzeugen. Es bietet sich an, an dieser Stelle den Begriff „Transzendenz“ zu klären. Transzendenz im christlichen Sinne verweist auf ein „Außerhalb“ der Welt. Eine solche Begriffsverwendung ist hier nicht angemessen, sondern wir verwenden einen Begriff, der insofern immanent ist, dass er nicht auf etwas jenseits der Welt verweist. Transzendenz bedeutet im Folgenden nur, dass innerhalb eines Systems auf etwas verwiesen wird, was außerhalb des Systems liegt. Entgrenzungserfahrungen des Selbst sind transzendent, weil sie auf etwas jenseits der bisherigen Psychologie und Neurowissenschaft des Erhabenen
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Vorstellung des Selbst verweisen. Das Verhältnis von Ordnung–Chaos, bekannt– unbekannt usw. ist transzendent, weil das Neue außerhalb des Bekannten liegt. Wenn wir daher von Transzendenz reden, dann ist damit diese Form einer relativen Transzendenz gemeint, bei der auf etwas außerhalb eines Bezugssystems verwiesen wird, die aber immer noch immanent in der Welt verbleibt. Die Wahrnehmung einer Unerreichbarkeit in Phase 2 impliziert phänomenologisch eine Negation, weshalb als Symbole „Leere“, „Nichts“, „Abgrund“ oder „Riss“ sich anbieten und auch in Beschreibungen solcher Erfahrungen immer wieder vorkommen.
4.1 Das Erhabene und die Reise nach innen Das Erhabene kann zugleich tiefe Erfahrungen von Ehrfurcht, Sinn und Zugehörigkeit ermöglichen, wenn das „Fremde“ im Intervall zwischen Insignifikanz und Schrecken zu liegen kommt. Es kann auch Quelle von Moral und Verantwortung sein, und zwar nicht als theoretische Konzepte, sondern als gefühlte Überzeugungen, die Einfluss auf das Handeln haben. Und es kann zu einer transformativen, lebensverändernden Erfahrung werden. Die Heldenreise als spirituelle Reise nach innen kommt immer zu dem Punkt, an dem die Reisende eine Grenze überschreitet, eine zentrale Prüfung bestehen muss. Die Schilderungen der inneren Vorgänge in diesem Moment decken sich sehr weitgehend mit dem Gefühl des Erhabenen. Die Verwandlung von terror in bliss ist die Transformation des Individuums zu einer höheren Stufe von Selbstkenntnis, Freiheit, Kontakt, „Existenz“. Wir finden diese Erzählung in vielen Religionen. Erfahrungen, die dem Erhabenen ähneln, stehen im Kern vieler spiritueller Praktiken (siehe Kap. 11). Die Heldenreise nach innen als ein wichtiges Lebensprojekt kann, wenn sie nicht kulturell angelegt ist, durch äußere Ereignisse initiiert werden. Russo (2020) beschreibt dies anhand ihres Erlebens ihrer ersten Sonnenfinsternis. Zu Beginn der Sonnenfinsternis entsteht in ihr ein Gefühl des existenziellen Schreckens: A sense of unease suddenly washes over me. Something is wrong. Looking around, I notice the oddness of the light. It is as if we are on a stage and the Sun is a spotlight that’s dimming. The colour of the world is draining. My senses widen; I notice the cooling of the air on my skin. I shudder. Dread and terror crawl through my body. This isn’t how the world should be! I no longer understand what is happening. The hair on the back of my neck stands up. I shiver again with goosebumps.
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Dieses Gefühl bleibt bis zum Moment der totalen Finsternis bestehen: Suddenly, an eerie darkness envelops us. There is absence of day, the spotlight is gone. Where moments ago the Sun shone, there is now nothingness. We are in totality. […] I cannot believe what I see: cannot comprehend the disappearance of our life force. This surely is the end of the world! Another wave of terror passes over me.
Dann aber beginnt eine graduelle Verschiebung der Wahrnehmung: As my eyes adapt in the darkness, a halo of ethereal light appears around the eclipsed Sun. A somersault of emotions now replace the terror – excitement, euphoria, amazement and wonder. The world is not ending! Instead, we are witnessing our Universe. A profound awe washes over me in a way I have never felt before. How could such immense, sublime beauty be possible? I notice a deep sensation in my chest, buried within, like a swelling, a knowing.
Diesem Moment erhabener Schönheit wird eine besondere epistemische und normative Bedeutung zugeschrieben: Time unravels and unites past, present and future – condensing my existence into this one moment. I am disoriented in place and person. I am here in another lifetime, thousands of years ago, facing the same wonder and terror. I am my primitive ancestors, and also my future selves. Yet I am also present and alive in this moment. How is this possible? It makes no sense, yet this revealed wisdom of unity seems the key to understanding life. My prior-held understandings of the world seem so limited. Instead, I gain a deeper perspective, a life-changing shift in knowing. I understand that I am part of something so much greater than I could have ever imagined. I am connected to our Universe; to life itself. I am connected to humanity – to those immediately around me, and beyond. I understand I am but one person, a small speck of humanity in this vast Universe. I am insignificant, yet powerful in communion. I am humbled and in awe in a way I’ve never before felt, but I understand now. This experience is what makes us human, and unites us. That swelling sensation in my chest returns. I have an embodied appreciation and gratitude for everything.
Solche Schilderungen finden sich in beliebiger Variation immer wieder. Dass eine solche Erfahrung Begriffe wie Spiritualität und Religion hervorruft, verwundert nicht: Hier geht es um eine Verkopplung von affektivem Erleben und narrativen Erklärungen (Kontakt, Einssein, Dankbarkeit, Sinn, Verantwortung,
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...) mit Erfahrungen, die so intensiv sind, dass man meint, in ihnen offenbare sich eine tiefe Wahrheit. Bei als persönlich signifikant betrachteten Erlebnissen – unabhängig davon, in welchem Kontext sie gemacht werden – liegt eine ähnliche Grundstruktur von Erfahrungen zugrunde (Keltner 2009): • Sie entziehen sich einer präzisen sprachlichen Vermittelbarkeit; Sprache wird als in einem wesentlichen Sinn limitierend zur Vermittlung der in einem solchen Erlebnis gemachten Erfahrungen angesehen. Die sprachliche Ordnung wird überstiegen. • Gleichzeitig wird von Einheitserfahrungen berichtet, die sich auf andere Menschen, andere Lebewesen, die Erde oder das Universum beziehen können. Damit einher geht ein moralisches Gefühl der Verantwortung für dieses „große Ganze“. • Dementsprechend findet eine partielle Auflösung des Gefühls des „Selbst“ statt, wie man sie auch in Momenten tiefer Versunkenheit des flows erlebt. Auf die neuroanatomischen Ursachen hierfür werden wir noch eingehen. Aus einer phänomenologischen Perspektive ist ein wichtiger Teil des „Selbst“ narrativ erzeugt.102 Ein Verschwinden dieses narrativen Selbst hängt mit der Überwältigung des Fassungsvermögens zusammen, welche einen Moment der sprach- und konventionslosen Wahrnehmung erzeugt. • Dies geht einher mit der Überzeugung, eine tiefe Einsicht in das „ultimative Wesen der Realität“ zu haben. • Gleichzeitig werden positive Gefühle wie Glück, Verbundenheit und Liebe empfunden. Mittlerweile konnten zahlreiche Studien die Ursachen und Konsequenzen eines Gefühls der Ehrfurcht nachweisen.103 Sie lassen sich anhand von vier Kriterien systematisieren: • Persönlichkeit:104 Die Persönlichkeitsmerkmale „Offenheit“ und „Absorption“ korrelieren positiv mit der Häufigkeit und Intensität von Erfahrungen der Ehrfurcht.105 • Verhalten und Wohlergehen: Erfahrungen der Ehrfurcht führen zu mehr prosozialem Verhalten,106 Umweltbewusstsein107 und subjektiver Lebenszufriedenheit.108 • Erfahrung der Irrelevanz des „Selbst“: Das Gefühl der Ehrfurcht reduziert den Fokus auf die eigene Person109 sowie der Relevanz der Wünsche und Bedürfnisse, die diese empfindet.110 • Erfahrung von Ehrfurcht: Die Erfahrung von Ehrfurcht kann durch erhabene Erfahrungen von „Natur“ hervorgerufen werden.111 92 |
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Begriffe wie „Transformation“ und „Ehrfurcht“ sind in der säkularen Moderne für viele Menschen aus der Mode gekommen, auch wenn der Begriff Transformation derzeit eine Renaissance erlebt. Daher brechen sie auch eher „an den Rändern“ ins Leben ein, z.B. in Form einer Sonnenfinsternis. Sie spielen aber eine zentrale Rolle in vielen traditionellen Weisheitslehren. Diese gehen davon aus, dass solchen Erfahrungen eine hohe Wichtigkeit innewohnt und dass sie aktiv angestrebt werden sollten, um das Potenzial des eigenen Lebens zu verwirklichen. Und sie stellen auch Praktiken wie Meditation oder Tanz bereit, mit denen man solche Erfahrungen systematisch erreichen kann. So gibt es im Zen den Satori genannten Moment einer existenziellen Krise, wenn alle Versuche scheitern, etwas mit den Mitteln seines alten Verständnissystems zu verstehen, welcher dann durch das Aufbrechen dieses alten Verständnisses Platz macht für die Freiheit einer nicht durch Gewohnheiten geprägten Wahrnehmung. Es geht dabei um eine Zerstörung alter Ordnungsvorstellungen, damit man in der Lage ist, ein höheres Niveau an Verständnis zu erreichen. Wir werden im Folgenden beide Ausdrucksformen des Erhabenen entwickeln und miteinander verweben. Dabei sind die beiden Thesen (a) dass das Erhabene eine zentrale Kategorie der Erklärung von Gesellschaft ist und (b) dass mit einer Reaktivierung der Idee der Heldenreise nach innen eine Form der rationalen, säkularen Spiritualität möglich ist, die gleichzeitig das Potenzial hat, viele der Probleme moderner Gesellschaften auf einer tiefen Ebene anzugehen. Es geht dabei immer auch um Fragen der Leere, die sowohl vor als auch hinter der Grenze warten kann. In der pessimistischen Erzählung der Aufklärung wartet die Leere als Mangel tendenziell diesseits der Grenze, und es besteht eine Hoffnung, diese durch Überschreitung zu überwinden. Es gibt aber auch die umgekehrte Vorstellung von Leere als Mangel oder Bedrohung jenseits der Grenze, vor der man sich beschützen muss. Und Leere kann umgekehrt auch als eine Form der Fülle, des Sinns durch den Wegfall von Ordnung verstanden werden. Eine Kultur, in der kein Verständnis der Mechanismen des Erhabenen existiert, wird Leere tendenziell als Mangel, als Sinndefizit erleben; in den Worten Susan Neimans (2010) zur Beschreibung einer daraus resultierenden Einstellung: „Life sucks and then you die.“112 Es gibt aber eine andere Wahrnehmung, die auch säkularen Menschen zur Verfügung steht. Nagarjuna, einer der wichtigsten buddhistischen Philosophen, der im 2. Jahrhundert u.Z. lebte, gibt hierauf einen Hinweis: „Emptiness wrongly grasped is like picking up a poisenous snake by the wrong end.“ Dieser zunächst rätselhafte Satz gibt die Richtung vor: wenn man Leere falsch begreifen kann, dann kann man sie vielleicht auch richtig begreifen, als Fülle und nicht als Mangel. Wie könnte das aber gehen? Mit dieser Frage werDas Erhabene und die Reise nach innen
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den wir uns ab Kap. 11 beschäftigen. Zunächst aber definieren wir schon zuvor das Konzept des Erhabenen präziser, bringen es tiefer in Verbindung mit psychologischer und neurowissenschaftlicher Forschung und verfolgen die Entwicklung des Begriffs.
4.2 Gemischte Gefühle Die zentrale Herausforderung eines Lebewesens ist es, homöostatische Balance zu halten.113 Es kann nur überleben, wenn es genug zu essen, zu trinken, Wärme etc. bekommt. Gleichzeitig muss es Gefahren und Chancen erkennen und ihnen ausweichen bzw. sich ihnen nähern. Mit den Begriffen Approach- und Avoid-Systeme werden diejenigen Reaktionsmechanismen eines Lebewesens bezeichnet, die dies sicherstellen, indem sie entweder eine Annäherungs- oder eine Vermeidungsreaktion auslösen. Emotionen als physiologische Regelungsmechanismen und Gefühle als bewusste Wahrnehmungen dieser sind hierbei von entscheidender Bedeutung. Naturalistische Emotionstheorien sehen Emotionen als natürlich gegebene Reaktionen auf Umweltreize an, die weitgehend universell sind.114 Konstruktivistische Theorien sehen sie als kulturelle Konstruktionen.115 Zwischen beiden Extremen existieren Theorien wie die von Feldman Barrett (2006), die zum einen Emotionen als gegebene Reiz-Reaktions-Mechanismen (die nicht bewusst sein müssen) und zum anderen Gefühle als bewusste und damit narrativ konstruierte Wahrnehmungen dieser Emotionen sehen. Dabei sind die unterschiedlichen physiologischen Prozesse von Kultur zu Kultur unterschiedlich „gebündelt“, und damit werden sie auch unterschiedlich bewusst wahrgenommen. Gemischte Gefühle können ihre Ursache in einer gemeinsamen Aktivierung unterschiedlicher Regelungsmechanismen haben, die auf der Bewusstseinsebene als unterschiedliche Gefühle abgebildet werden. Je nach Kultur kann es dafür einen eigenen Namen geben, der die Ambivalenz sprachlich ausdrückt. Hier ist ein Beispiel: Unterschiedliche Emotionen entsprechen der Aktivierung unterschiedlicher neuronaler Netzwerke des Gehirns und der Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter oder Hormone. Die Amygdala, ein Teil des sogenannten limbischen Systems, ist zentral für Furcht- und Angstreaktionen wie beispielsweise die Kampf-und-Flucht- oder die Freeze-Reaktion.116 Bewusstwerdende Furcht-/Angstreaktionen scheinen dann als Gefühl der Furcht oder Angst als subjektive Erfahrung auf. Diese Reaktion ist Teil der Avoid-Systeme. Umgekehrt ist beispielsweise Dopamin ein zentraler Bestandteil der Approach94 |
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Systeme. Es motiviert zielgerichtetes Verhalten und Lernen, und es reagiert positiv auf Risiko. Nehmen wir diese beiden Systeme zusammen, so sehen wir, dass wahrgenommenes Risiko sowohl eine Avoid- als auch eine Approach-Reaktion hervorrufen kann, und die Begründung ist auch klar: Etwas Neues kann sowohl eine Chance als auch eine Gefahr sein. Chancen und Gefahren sind aber nicht im selben „System“ encodiert, und hierin liegt eine Ursache gemischter Gefühle: In einer Situation, in der nicht klar ist, ob „das Neue“ Chance oder Gefahr ist, wird u.a. sowohl das Dopamin- als auch das Amygdala-System aktiv sein, man ist sowohl freudig erregt über das mögliche Gute als auch ängstlich hinsichtlich der möglichen Gefahren. Die zentrale Bedeutung eines gemischten Gefühls in einer solchen unbekannten Situation ist, dass unvorsichtiges Verhalten vermieden wird. Weder ergreift man zu früh die Gelegenheit, noch nimmt man zu früh Reißaus. Allerdings gibt es im Generellen eine Verzerrung in Richtung der Avoid-Systeme, was evolutionär plausibel ist: Wenn man einmal den Tiger übersieht, ist das Experiment zu Ende, wenn man aber genau diese eine Frucht nicht isst, wird es schon noch eine andere geben. Vielmehr werden so lange weitere Informationen gesammelt, bis das Bild sich klärt. Rees et al. (2013) konnten zeigen, dass gemischte Gefühle die Entscheidungsqualität steigern. Moss und Wilson (2014) sehen gemischte Gefühle als zentral für Kreativität. Man kann sagen, dass viele gemischte Gefühle das Neue, das Unbekannte betreffen. Larsen et al. (2013) haben auf eine weitere mögliche Rolle für die Resilienz hingewiesen: Sie erlaubt es Menschen, einen Umgang mit Notsituationen und Verzweiflung zu finden, indem sie es ermöglicht, die Notsituation in einen positiven Gesamtzusammenhang einzubinden, um damit ein positives Ziel zu entwickeln, eine positive Lehre zu ziehen oder eine Wachstumsgeschichte erzählen zu können: [I]t may be necessary to experience positive emotions if one is able to grapple with the negative emotions associated with a stressor. [...] [I]t is conceivable that the ability to experience coactivation and withstand its ambiguous implications for behavior enhances the likelihood that one can work through and transcend major life stressors.117
Dies ist ein wichtiger Hinweis für die transformativen Geschichten der Heldenreise: Ein Unglück in ein Wachstumsnarrativ einbetten zu können, ist zentral für das psychische Wohlergehen und die physische Gesundheit. Aus dieser Sicht ist das Gefühl des Erhabenen ein solches gemischtes Gefühl, das wir nun aus zwei Perspektiven anschauen können: Ohne weiteren Kontext Gemischte Gefühle
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dreht es sich um eine Situation großer Unsicherheit. Daher werden sich neben anderen mit hoher Wahrscheinlichkeit z.B. Elemente von Amygdala-Aktivierung mit Elementen der Dopaminausschüttung verknüpfen. Bindet man das Erhabene als transformative Erfahrung in eine Heldenreise ein, so spielt es dort die Rolle des Katalysators in einem Wachstumsnarrativ. Die Heldenreise ist dann an sich schon eine Sicherungsstrategie, die das Ereignis in einen größeren Kontext stellt, so dass er einen Teil seines Schreckens verliert. Die z.B. existenzielle Bedrohung einer schweren Krankheit kann damit in ein größeres Sinnnarrativ eingebunden werden und innerhalb dieses zum Beginn einer Transformation werden. Neben dem Erhabenen werden weitere gemischte Gefühle erforscht, die eine Nähe zum Erhabenen aufweisen und die den Zusammenhang zwischen Vertrautheit und Fremdheit, Faszination und Furcht konturierter hervortreten lassen: Sehnsucht als Mischung von Freude und Traurigkeit bringt die Vorstellung der Gewinne und Verluste des Lebens zusammen in einem bittersüßen Gefühl. Es ist verwandt mit Melancholie und Nostalgie.118 Bittersüße Gefühle können dabei in unterschiedlichen Bereichen auftreten, und man findet sie oft in Zusammenhang mit einer vorgestellten verlorenen Vergangenheit, einem verlorenen Land oder einer verlorenen Kultur. Hierin bekommt das Gefühl schnell Obertöne einer Gruppenidentität, z.B. in Form eines wehmütigen Nationalismus oder „Nationalcharakters“. In Hinblick auf das Verhältnis von Bekanntem und Neuem gibt es die beiden Begriffe Heimweh und Fernweh, die zusammengenommen fast paradox wirken, die aber vor dem Hintergrund des Verhältnisses von Risiko und Chance des Neuen als unterschiedliche Gewichtungen der beiden Faktoren erscheinen. Lazarus (2003) nennt Hoffnung als ein gemischtes Gefühl, weil es die generelle Erwartung eines positiven Ergebnisses mit der Angst verknüpft, dass es nicht eintreten wird. Verwandt damit ist die Vorfreude. Pathos als Fähigkeit, sich von der Welt ergreifen zu lassen, wird ebenfalls als gemischtes Gefühl gesehen: „Romanticism encompassed the idea that melancholic sensitivity to suffering is the mark of a refined character or even being too refined for the coarseness of the world.“119 Eine Steigerung hiervon ist Weltschmerz. Man erkennt, dass viele der hier genannten gemischten Gefühle eine Nähe zum Erhabenen aufweisen, und es verwundert nicht, dass sie bei den Schriftstellern und Malern der Romantik hoch im Kurs standen.
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4.3 Kreativität Insbesondere der Aspekt der Kreativität verdient es, detaillierter angeschaut zu werden. In den vergangenen Jahren hat eine wichtige Veränderung in der Wahrnehmung der Rolle von Gefühlen in kreativen Prozessen stattgefunden. Kreativität ist eng an das Erhabene gebunden, weil im kreativen Moment die alte Ordnung verlassen wird, um nach einer Phase des Chaos Platz für eine neue Ordnung zu schaffen. Der Moment der kreativen Einsicht wird dabei als zutiefst erfüllend beschrieben. Einstein schildert den Moment der Einsicht in die Allgemeine Relativitätstheorie als den glücklichsten Moment seines Lebens, und Woolf schrieb: „Odd how the creative power brings the whole universe at once to order.“120
Exkurs: Kreativität und das Erhabene Das Hinterfragen und die Überwindung der bestehenden Ordnungen des Denkens, Fühlens und Handelns ist auch immer ein Infragestellen des Bestehenden durch den Akt der kreativen, neuen Wahrnehmung des Vorgegebenen. Kreativität hat ein subversives Element, welches zugleich beunruhigt und fasziniert. Der Akt der Künstlerin, z.B. das Sehen neu zu sehen, oder der Wissenschaftlerin, auf das, was immer schon da war, neu zu schauen, sind dabei aber nur zwei Aspekte von Kreativität. Politische Kreativität ist immer auch der Akt der Nichtanerkennung der scheinbaren Sachzwänge des Status quo. Und wir sehen in allen Lebensbereichen die Ambivalenz dieser Situation, die zum Teil gewalttätige Bekämpfung und Denunziation der neuen Sicht durch die Verteidiger des Bestehenden und die befreiende Wirkung der neuen Perspektive auf der anderen Seite. Dies ist in der Kunstgeschichte ein vertrauter Vorgang, und Thomas Kuhn (1962) hat ihn unter dem Begriff des Paradigmenwechsels auch für die Wissenschaft beschrieben. Wir haben es jeweils mit liminalen Momenten der Verflüssigung alter Ordnungsvorstellungen und ihrer anschließenden Neukristallisation zu tun. Butler nennt den veränderten Umgang mit Homosexuellen und die Wählbarkeit eines afroamerikanischen Präsidenten in den USA als politische Beispiele, die ein Durchbrechen alter Ordnungsvorstellungen voraussetzen und damit eine Bereitschaft, die Verunsicherungen, die damit einhergehen, zuzulassen.121 Gleichzeitig sieht man an den Beispielen aber auch die regressiven psychologischen Kräfte am Werk, die eine Auflösung alter Ordnungsvorstellungen als Bedrohung empfinden und bis hin zum Einsatz von Gewalt zu gehen bereit sind, um diese Verunsicherung nicht spüren zu müssen. Hier handelt es sich um mehr als um reine Machtkämpfe; Kreativität
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das Ausmaß an Betroffenheit und Gewalt, das in solchen Phasen aufbricht, lässt sich nur durch eine existenzielle Bedrohung erklären, die eine psychologische Dimension der Existenz betrifft, wenn z.B. bei den Beispielen Homosexualität oder Geschlechtergleichberechtigung Rollenbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit in Frage gestellt werden. Aber sozusagen vor jeder inhaltlichen Auseinandersetzung steht die existenzielle Verunsicherung, die entsteht, wenn die Möglichkeit sichtbar wird, dass die eigene Wirklichkeit und das eigene Selbst nicht die „wahre“ Wirklichkeit und das „wahre“ Selbst sind, sondern Konstruktionen, wenn mit anderen Worten der Naive Realismus des Alltags als das erkannt wird, was er ist: eine nützliche Illusion. Eine nützliche Illusion, die aber unsagbares Leid mit sich bringen kann, wenn man sie nicht als solche versteht.
Was passiert vor dem Moment der Einsicht? Und welche Gefühle machen solche Einsichten wahrscheinlicher? Lange dachte man, es seien positive Emotionen, die mit einer Weitung der Perspektive einhergehen, wohingegen negative Emotionen mit einer Perspektivverengung verbunden wurden.122 Diese Sicht hat sich aber als zu eng herausgestellt. Kreativität ist mit beidem verbunden, der Fähigkeit zur Weitung und der Fähigkeit zur Verengung von Aufmerksamkeit. Damit können auch negative Gefühle eine wichtige Rolle im Kreativitätsprozess spielen.123 Fong (2006) hat herausgefunden, dass gemischte Gefühle beim kreativen Prozess eine wichtige Rolle spielen. Ein Beispiel hierfür ist die gemeinsame Wahrnehmung von Begeisterung und Frustration, die viele Forschende wahrscheinlich gut kennen. Gemischte Gefühle liegen dabei dann vor, wenn die einzelnen Zustände nicht nacheinander, sondern simultan auftreten. Fong argumentiert, dass gemischte Gefühle darauf hinweisen, dass man sich in einem ungewöhnlichen Umfeld befindet, was nahelegt, dass in ihm auch ungewohnte Zusammenhänge existieren, auf deren Aufspüren dann verstärkte Aufmerksamkeit gelegt wird. Diese Erklärung ist konsistent mit den Predictive-Coding-Theorien des Gehirns, welche wir im nächsten Abschnitt diskutieren werden. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass das Gehirn solche ambivalenten Zustände tatsächlich erzeugen kann.124 Gemischte Gefühle vermitteln ein Unwohlsein, welches nach Auflösung strebt. Die Ursache lässt sich mit der Approach-und-Avoid-Logik der Wahrnehmung erklären: negative und positive Gefühle erzeugen unterschiedliche Handlungsimpulse. Diese Dissonanz muss aber aufgelöst werden, damit eine Handlung möglich wird.125 Damit dies funktioniert, verändern Individuen z.B. ihre Erinnerung, ihre Aufmerksamkeit oder ihre Bewertungen, bis eine Tendenz hinrei98 |
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chend überwiegt.126 Daraus folgt, dass gemischte Gefühle im Allgemeinen nicht stabil sind. Es gibt aber Menschen, die diese Dissonanz auch langfristig aushalten können,127 und die einen dialektischen Denkstil pflegen.128 Abstraktion ist eine weitere kognitive Strategie zum Umgang mit gemischten Gefühlen: Abstraktion vereinfacht Kreativität, weil man Ähnlichkeiten im Unterschiedlichen leichter erkennt. Abstraktion erlaubt es aber auch, widersprechende Gefühle konsistent zu integrieren.129 Für den kreativen Prozess ist ein Gefühl der prinzipiellen Sicherheit wichtig,130 insbesondere Vertrauen in das Netzwerk anderer und in die prinzipielle Unterstützung relevanter Menschen, also Kollegen, Freunde oder auch Autoritätsfiguren.131 Wichtig ist auch, das Umfeld als kooperativ und nicht kompetitiv wahrzunehmen sowie von der Einhaltung von Fairnessnormen auszugehen.132 Aber auch eine stabile Identität und ein Vertrauen in die eigene Person (Selbstwirksamkeit) sind wichtig.133 Siehe hierzu auch Kap. 9 zu den Effekten von Traumata. Es ist informativ, auf den Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeit und gemischten Gefühlen näher einzugehen. Wenn Menschen vor einer anspruchsvollen Aufgabe stehen, befinden sie sich in einem von zwei Zuständen.134 Sie können entweder glauben, dass sie an der Herausforderung scheitern werden. In diesem Fall steigt der Cortisolgehalt des Bluts (als Teil einer Stressreaktion) und die Herzfrequenz und der Blutdruck steigen.135 Sie fühlen Bedrohung oder Angst, die Situation erzeugt negativen Stress. Wenn sie hingegen glauben, dass sie die Herausforderung meistern werden, steigt der Adrenalingehalt des Bluts (ebenfalls als Teil einer Stressreaktion). Die Herzfrequenz steigt zwar auch, aber gleichzeitig weiten sich die Blutgefäße, so dass der Blutdruck konstant bleibt.136 Sie fühlen eine Herausforderung, die Situation erzeugt positiven Stress. Diese Herausforderung ist ein gemischtes Gefühl: die hohe Herzfrequenz erzeugt Aufregung, der konstante Blutdruck Behagen.137 An den Strategien der Erzeugung von Sicherheit erkennt man, dass Sicherheit und Unsicherheit hochdimensionale Phänomene sind. Kreativität setzt voraus, dass man in einigen der Dimensionen Unsicherheit zulässt. Damit dies möglich wird, muss man in anderen Dimensionen Sicherheit haben. Menschen als soziale Wesen suchen diese Sicherheit intuitiv bei anderen Menschen. Hierbei genügt zumindest in Laborstudien ein einfaches Priming, also eine bewusste oder auch unbewusste Erinnerung an etwas, das mit Sicherheit assoziiert wird138. Kreativität heißt immer auch, sich über Gruppennormen hinwegzusetzen. Dies fällt einigen Menschen leichter als anderen. Es entsteht aber eine interessante Dialektik zwischen Abweichler und Gruppe: Wenn eine Person in ihrem Verhalten oder Denken zu weit von den Gruppennormen abweicht, ist es unKreativität
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wahrscheinlich, dass diese Lösung von der Gruppe als nützlich oder akzeptabel anerkannt wird.139 Hier haben wir eine interessante Parallele zur Figur des Helden und des Tricksters (Kap. 3), der immer zugleich die Ordnung in einer gewissen Weise bricht und sie (eventuell gerade dadurch) verteidigt.
4.4 Predictive-Coding-Theorien der Gehirnfunktion Die hier unterstellte homöostatische Interpretation des Erhabenen erlaubt eine Interpretation mit Hilfe der Predictive-Coding-Theorien, die in kurzer Zeit Akzeptanz als vereinheitlichende Theorien der Gehirnfunktion in den Neurowissenschaften gewonnen haben und vielen Beobachtungen eine einheitliche Erklärung geben können.140 Diese reichen von der Erzeugung von Gefühlen als narrative Interpretationen von Körperfunktionen141, der Funktionsweise des Dopaminsystems142 bis hin zu Out-of-Body-Erfahrungen.143 Diese Theorien basieren auf zwei zentralen Prämissen. Zum einen wird das Gehirn nicht passiv in dem Sinn gesehen, dass sensorische Eindrücke zu bestimmten Reaktionen führen. Vielmehr wird angenommen, dass das Gehirn (bewusst und unbewusst) zu jedem Zeitpunkt Erwartungen darüber bildet, was als Nächstes passiert (es besitzt ein Weltmodell). Zum anderen wird die Gehirnfunktion als ein mehrlagiger Prozess der Signalweitergabe modelliert, bei dem die nächsthöhere Lage nur aktiviert wird, wenn auf den unteren Lagen ein hinreichend großer Erwartungsfehler auftritt, wenn also das, was z.B. sinnlich wahrgenommen wird, und das, was als Erwartung existiert, nicht zusammenpassen. Eine solche Struktur hat Vorteile: Sie geht sehr sparsam mit Informationen um, da nur Erwartungsfehler kommuniziert werden müssen. Die These ist nun, dass das Gehirn versucht, Erwartungsfehler zu minimieren. Dann lassen sich Phänomene wie Lernen und Handeln als unterschiedliche Ausdrucksformen desselben Prinzips der Erwartungsfehlerminimierung rekonstruieren. Lernen bedeutet, dass der Erwartungsfehler zu einer Modifikation des Weltmodells führt, und Verhalten bedeutet, dass man versucht, die Umwelt dem Weltmodell anzupassen. Und mit dieser Theorie verbunden ist eine Vorstellung von Phänomenen wie Aufmerksamkeit resp. Bewusstsein als generative Modelle, welche in einem kontinuierlichen Prozess des Abgleichens von Hypothesen und sensorischen Daten sich an die Umwelt anpassen. Nach diesem Modell wird man sich immer dann einer Situation bewusst, wenn ein hinreichend großer Erwartungsfehler vorliegt:
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[O]ne of the brains key tricks, is to implement dumb processes that correct a certain kind of error: error in the multi-layered prediction of input. In mammalian brains, such errors look to be corrected within a cascade of cortical processing events in which higher-level systems attempt to predict the inputs to lower-level ones on the basis of their own emerging models of the causal structure of the world.144
Was hat all das mit dem Erhabenen zu tun? Eine Übersteigerung des Fassungsvermögens kann innerhalb dieser Theorien als ein besonders großer Erwartungsfehler verstanden werden, der z.B. darauf zurückgeführt werden kann, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Ein solcher Krisenmoment wird auch in Bayesianischen Lernmodellen (die häufig in formalen Modellierungen der PredictiveCoding-Theorien verwendet werden) so interpretiert, dass Rationalität beim Fortschreiben der Wahrscheinlichkeiten aufgrund dieser neuen Erfahrungen keinerlei Begrenzung der Ex-Post-Wahrscheinlichkeiten impliziert.145 Dies ist das transformative Element, welches es erlaubt, nach einer solchen Erfahrung neu und anders auf die Welt zu schauen. Dass die Erfahrung einer (großen) Überraschung eine affektive Tönung hat, ist daher nicht verwunderlich, und in Abhängigkeit vom durch das generative Modell vorgegebenen Kontext können positive oder negative Affekte dominieren oder sich die Waage halten. Fühle ich mich sicher, so führt das Neue eher zu positiven Gefühlen, fühle ich mich bedroht, so ist es gerade umgekehrt. Dabei können kleine Verschiebungen in der Interpretation der Situation die dominanten Gefühle kippen lassen.146 Der Zusammenbruch des Erklärungsmodells aufgrund von mit ihm nicht verträglichen sensorischen Daten stellt aber zunächst eine Bedrohung für das Überleben eines Organismus dar, wenn der Kontext als an sich hinreichend überlebensrelevant interpretiert wird. Erst wenn erkennbar wird, dass dem nicht so ist, entsteht Raum für positive Gefühle. Wir haben mit diesen Theorien daher eine naturalistische Erklärung für die zentralen Elemente „Überforderung – Schrecken – Transformation“, die dem Erhabenen zugeschrieben werden: Die Grenzerfahrung ist nichts anders als ein nicht einfach wegzuerklärender Erwartungsfehler im Weltmodell. Die damit einhergehende Erfahrung erhaben zu nennen, ist eine kulturelle Zuschreibung; in anderen Kulturen mag es dafür andere Begriffe geben (wie Satori im Zen). Die Erwartungsfehlerinterpretation des Drei-Phasen-Modells macht eine weitere potenzielle Stärke zum Verständnis transformativer Erfahrungen dieses Ansatzes sichtbar: Im Prinzip wird jeder nicht „stetig“ korrigierbare Erwartungsfehler zu einer Quelle des Erhabenen. Dies öffnet die Diskussion in Richtung einer Integration z.B. der Debatten zum romantischen und zum postmodernen Predictive-Coding-Theorien der Gehirnfunktion
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Erhabenen sowie Zen-buddhistischer Vorstellungen von Satori, die sich mit unterschiedlichen Erfahrungen auseinandersetzen, in einen gemeinsamen theoretischen Rahmen.
4.5 Methodenkritik Bisher sind wir davon ausgegangen, dass das Erhabene ein für die weitere Analyse sinnvolles Konzept ist. Dies ist nach dem Höhenflug des Erhabenen in der Postmoderne aber aus zwei Gründen in Frage gestellt worden, so dass es in den Debatten zur Ästhetik zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum noch eine Rolle spielte. 4.5.1 Kohärenz der geschilderten Erfahrung
Pelowski et al. (2019) greifen eine Kritik an dem Konzept auf, die besagt, dass das Konzept des Erhabenen durch einen Mangel an Klarheit und konzeptioneller Präzision geprägt sei. Daher stellt sich die Frage, ob es so etwas wie eine spezifische erhabene Erfahrung überhaupt gibt. Was löst die Erfahrung aus? Ist die Erfahrung konzeptionell oder experientiell? Steht sie im Gegensatz zum Schönen? Ist sie in der Kunst erlebbar? Ist sie mit oder durch andere Menschen erlebbar? Um das Problem zu verdeutlichen, erstellen Pelowski et al. (2019) eine Übersicht über die Dimensionen des Erhabenen, die seit Burke in der Philosophie diskutiert wurden. Im Folgenden wird diese sehr nützliche Übersicht verknappt wiedergegeben. Was löst eine Erfahrung des Erhabenen aus? Hier finden sich Naturlandschaften oder Objekte von überwältigender Größe, kleine Naturobjekte (Lichtreflexionen auf einem Stein), erhebende Rhetorik oder Sprache, Theater und Literatur, charismatische Menschen, Gruppen, gedankliche Konstrukte, die das menschliche Denken an eine Grenze bringen, Kunst, die einen Konflikt zwischen Signifikanz und Form ausdrückt oder das Unendliche durch eine Form der Negativität artikuliert, wissenschaftliche Entdeckungen, Ruinen, soziopolitische Prozesse, die zu Hoffnungslosigkeit und Entfremdung führen, Kapitalismus und Sozialismus, urbane Landschaften, Städte, Hochhäuser, Musik und religiöse Messen, alles, was das eigene Leben „erweitert“, laute Geräusche (Gewitter- und Kanonendonner), Drogen. Ist die Erfahrung des Erhabenen perzeptionell oder konzeptionell? Das Erhabene wurde sowohl als eine Eigenschaft der Außenwelt (der Berg „ist“ erhaben) als 102 |
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auch als eine Eigenschaft des Geistes, der Haltung gegenüber einem Phänomen, angesehen. Kunst oder Nicht-Kunst? Die Romantik argumentierte gegen das Erhabene der Kunst. Auch heute findet sich die Auffassung, dass Kunst bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Land Art) nicht in der Lage sei, das Erhabene hervorzurufen. Andere Autoren ließen diese Frage offen. Es findet sich aber auch die Auffassung der Gleichwertigkeit sowie der Dominanz der Kunst. Schön oder nicht? Auf der einen Seite findet sich die Unterscheidung nach dem Schönen und dem Erhabenen. Auf der anderen Seite wird aber auch vertreten, dass Schönheit ein integraler Bestandteil ist, auch wenn diese durch negative Gefühle komplementiert wird. Es finden sich dualistische und gradualistische Auffassungen, die einen Übergang betonen. Die psychologische Literatur spricht sich durchgängig gegen eine Opposition zwischen dem Erhabenen und dem Schönen aus. Was ist mit anderen Menschen? Hier findet sich zum anderen die Auffassung, dass bei nichtsozialen Auslösern das Erhabene allein oder auch zusammen mit anderen erlebt werden kann. Weiterhin wird argumentiert, dass es durch andere Personen oder erst durch das Zusammensein in einer Gruppe ausgelöst werden kann. Es findet sich aber auch die Auffassung, dass andere Menschen dies nicht auslösen können. Weiterhin betonen bestimmte Autoren die kulturelle Einbindung solcher Erfahrungen. Welche Gefühle und kognitive Prozesse definieren das Erhabene? Wie schon zuvor, existiert hier wenig Einigkeit in den Details, aber es gibt auch größere Uneinigkeit hinsichtlich der Frage, ob nur positive oder auch negative Gefühle existieren und ob das Gefühl der existenziellen Sicherheit die Erfahrung definiert oder gerade nicht. • Hier ist eine unvollständige Liste positiver Gefühlswörter: Verehrung, Wunder, Überraschung, Großartigkeit, Ekstase, Freude, Jubel, Harmonie, Anerkennung, Verwunderung, Staunen, Pracht, Ehrfurcht, Freiheit, Stolz, existenzielle Sicherheit. • Hier ist eine unvollständige Liste negativer Gefühlswörter: Gefahr, Bestürzung, Furcht, Angst, überwältigende Macht, Terror, Schrecken, Verzweiflung, Horror, Abwehr, Kleinheit, Enge, Schmerz, Trauer, Kummer, Schock, Machtlosigkeit, Impotenz, Aversion, existenzielle Unsicherheit. • Hier ist eine unvollständige Liste positiver kognitiver Komponenten: Loslösung (positiv), Neuheit, Lernen, Einsicht, Katharsis, Erleuchtung, Klarheit, Selbstrespekt, Erleichterung, Transformation (positiv).
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Hier ist eine unvollständige Liste negativer kognitiver Komponenten: Loslösung (negativ), Konfusion, Unklarheit, kognitives Versagen, Begrenztheit, Transformation (negativ).
Selbsterkenntnis oder Selbstverlust? Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass erhabene Erfahrungen etwas mit dem „Selbst“ machen. Dies wird allerdings auf widersprüchliche Art beschrieben. Zum einen findet man Schilderungen von Selbsterkenntnissen und zum anderen findet man Schilderungen von Selbstverlust und der Auflösung des Selbst mit unterschiedlichen Bedeutungen dessen, was Auflösung bedeutet. Gibt es eine, mehrere oder keine Erfahrung des Erhabenen? Betrachtet man die Diversität, die hinsichtlich des Konzepts des Erhabenen besteht, so stellt sich die Frage, ob die Autoren von derselben Erfahrung sprechen, ob es eine abgrenzbare Klasse ähnlicher Erfahrungen gibt, oder ob die Diversität darauf hinweist, dass das Konzept nicht sinnvoll abgrenzbar ist. Auch wenn Kant zwei Typen des Erhabenen unterscheidet (siehe Kap. 6), ist die Forschung zu diesem Thema relativ neu. Zwei empirische Methoden werden derzeit angewendet. Zum einen werden z.B. literarische Werke systematisch untersucht. Kuiken et al. (2012) fanden in einer solchen Studie heraus, dass sich literarische Schilderungen des Erhabenen in zwei Gruppen einteilen lassen, (1) „erhabene Beunruhigung“ und (2) „erhabene Begeisterung“. In der ersten Gruppe werden unerklärliche Verlusterfahrungen eines begehrten „Dings“ thematisiert (Nicht-Mehr-Verfügen, Beispiel: Celans Gedicht Todesfuge); in der zweiten ein Wünschen, das sich noch nicht realisiert hat (Noch-Nicht-Verfügen, Beispiel: Shelleys Gedicht Mont Blanc). Zum anderen werden Befragungen zu erhabenen Erfahrungen durchgeführt. Gordon et al. (2017) fanden Evidenz für ein negatives (Sturm, Krieg) und ein positives (Polarlicht, Wolkenformationen) Erhabenes. Hur et al. (2018) fanden Evidenz für ein Erhabenes mit hohem und ein Erhabenes mit niedrigem Angstfaktor. Pelowski et al. (2019) fanden Evidenz für einen Typ des Erhabenen mit weitgehend positiven Gefühlen und einen Typ mit deutlich größerem Anteil negativer Gefühle. Vor dem Hintergrund der Interpretation des Erhabenen als Erwartungsfehler im Rahmen der Predictive-Coding-Theorien kann diese Vielfalt nicht überraschen. Es stellt sich nur die Frage, ob diese Fehler sinnvoll unter dem Begriff des Erhabenen gebündelt werden sollten. Die anscheinende Beliebigkeit ist der zweite Grund dafür, dass insbesondere in der angelsächsischen Diskussion des frühen 21. Jahrhundert eine weitgehende Skepsis hinsichtlich der Nützlichkeit des Konzepts herrschte.147 Die Befürchtung war, dass die konzeptionelle Unschärfe entweder zeige, dass das Erhabene zur Analyse nicht tauge, weil es zu viel 104 |
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und damit nichts erkläre, oder dass es als Beschreibung eines spezifischen mentalen Zustands versagt habe, dass es das Erhabene in diesem Sinn gar nicht gebe: „In brief: saying something is sublime does not make it art or provide a judgment that can do much philosophical work or result in much understanding. I think the sublime needs to be abandoned as an interpretive tool […].“148 Ein möglicher Zugang zur Beantwortung dieser Frage ist empirisch. Pelowski et al. (2019) konnten zeigen, dass ca. zwei Drittel der Teilnehmenden ihrer empirischen Studie (hauptsächlich Studierende) mindestens ein Erlebnis hatten, welches sie mit dem Begriff des Erhabenen beschreiben. Wiederum zwei Drittel von diesen gaben an, mehrere solche Erlebnisse gemacht zu haben. Das weist darauf hin, dass es sich hierbei um ein recht übliches Erlebnis handelt, welches weder eingebildet noch nicht benennbar ist.149 Allerdings finden sich sehr unterschiedliche auslösende Faktoren. Neben den „klassischen“ Naturphänomenen (Berge, Vulkane, ...) finden sich auch Blumen, kleine Tiere und Ähnliches. Darüber hinaus werden auch Stadtbilder, Musik, Poesie, Malerei sowie Menschenmassen und intime Gespräche genannt. Die Teilnehmenden nannten damit ziemlich genau all die Phänomene, die auch in der philosophischen und psychologischen Literatur diskutiert werden. Eine Mehrzahl der Teilnehmenden benannten dabei mächtige, überwältigende Stimuli sowie Vorstellungen des Unendlichen. Es gab aber auch systematisch Nennungen intimer und alltäglicher Erfahrungen. Manche betonten die Wichtigkeit des Alleinseins, andere das Aufgehen in der Menge. Manche stellten Kontrollverlust und Gefahr ins Zentrum, andere sichere, kontrollierte Umfelder. Trotz der Vielzahl der genannten Elemente finden sich Muster. „Natur“ ist dabei das wichtigste, und dabei insbesondere Landschaften, Wasser/Meer und Himmel. Dies entspricht den klassischen philosophischen Vorstellungen des Erhabenen und fügt sich in die psychologische Forschung ein, die einen Zusammenhang zwischen tiefen Gefühlen und Naturerfahrungen nachweist.150 Daneben werden „andere Menschen und Menschenmassen“ genannt. Dies fügt sich in die Forschung von Gordon et al. (2017) und Menninghaus et al. (2015) ein, die einen Zusammenhang zwischen Gefühlen wie Ehrfurcht und sozialen Interaktionen fanden. „Große Objekte“ und menschengemachte Umwelten wie Hochhäuser und Stadtlandschaften werden als dritthäufigste Kategorie genannt. Aber es finden sich auch erhabene Erfahrungen „im Kleinen“: [A]lthough most triggers, across the types, tended to match conceptions of powerful or overwhelming encounters – rushing water, great views, speakers, losing oneself in a crowd – there were also multiple examples suggesting infinity – fireflies in the forest; Methodenkritik
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contemplating the stars/universe – and triggers suggesting very intimate aspects – tiny shrimp swimming in a pool; a quiet dinner for two; walking in the rain and watching the lamplight reflected off the cobblestones of Paris.151
Anders als oftmals angenommen, scheint die Erfahrung des Erhabenen also nicht notwendig an physische oder konzeptionelle Größe gebunden zu sein. Wir werden diesem Aspekt später weiter folgen. Zusammenfassend unterscheiden Pelowski et al. (2019) zwei prototypische Erfahrungen des Erhabenen. (1) Der mit Abstand häufigste Typ (ca. 90 % der Fälle) geht mit im Wesentlichen positiven Emotionen, Spannung, erhöhtem Körperbewusstsein sowie einer Transformation des Bewusstseins oder einer tiefen Einsicht einher. Das Erhabene rückt damit in die Nähe zu anderen ästhetischen Erfahrungen wie dem Gefühl des Staunens,152 der Ehrfurcht,153 dem Nervenkitzel154 und der Ergriffenheit.155 Gleichzeitig besteht eine Nähe zum Schönen, was der Sichtweise bei Burke, Kant oder Lyotard widerspricht, aber konsistent mit weiteren empirischen Arbeiten ist.156 Gleichzeitig geht mit diesem Typ des Erhabenen ein kognitives Element des Lernens, des Verstehens und der Transformation einher. Pelowski et al. (2017) weisen darauf hin, dass Transformation und Einsicht zentrale Elemente starker ästhetischer Erfahrungen sind. Dabei entsteht ein zunächst widersprüchliches Bild hinsichtlich der Wahrnehmung des Selbst. Auf der einen Seite bedürfen die genannten Lernprozesse, seien sie transformativ oder nicht, zumindest eines Metabewusstseins, welches die Erfahrung mit diesem „Selbst“ verknüpft. Auf der anderen Seite werden Erfahrungen des „Selbstverlustes“ genannt, wie wir sie z.B. als flow im Bereich der Positiven Psychologie kennen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich aber auf, wenn man sich mit Weiskels Dreiphasenmodell die zeitliche Struktur solcher Erfahrungen in Erinnerung ruft: Selbstverlust, wenn er berichtet wird, ist ein Element von Phase 2, dem liminalen Moment der Auflösung von Ordnung, wohingegen Lernen oder Transformation ein Element von Phase 3, der Integration der Erfahrung in eine neue Ordnung, sind. Dies kann in der Studie von Pelowski et al. (2019) nicht abgebildet werden, weil dort retrospektiv von solchen Erlebnissen berichtet wird und im Studiendesign kein Raum für eine solche zeitliche Strukturierung geschaffen wurde, auch wenn die Autoren genau diese Erklärung anbieten: „In our study, the three components [...] – a pretransformation state of unease, transformation, and a posttransformation state of pleasure – emerged as distinct dimensions of the sublime. This finding supports, for example, Sircello’s (1993) suggested ‚epistemological transcendence‘ in sublime accounts […].“157
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Der Umstand, dass in der Befragung Erinnerungen berichtet wurden, zeigt auch eine von den Autoren selbst benannte potenzielle Schwäche der ansonsten bahnbrechenden Studie auf. Erinnerungen sind typischerweise verzerrt, z.B. durch die überwiegende Erinnerung positiver auf Kosten negativer Aspekte der Erfahrung sowie die zu starke Gewichtung später auf Kosten von frühen Erfahrungen, wenn sich diese zeitlich erstrecken.158 Beide Effekte können erklären, warum in diesem ersten Muster des Erhabenen negative Gefühle kaum eine Rolle spielen, obwohl diese z.B. für Burke als integral angesehen wurden. Eine andere Erklärung kann natürlich auch darin gefunden werden, dass sich die alltägliche Bedeutung des Begriffs des Erhabenen von der philosophischen oder psychologischen unterscheidet. Dieser potenzielle Einwand verweist auf eine andere prinzipielle Schwäche des Studiendesigns: Wenn für die Mehrheit der Menschen der Begriff des Erhabenen nichts weiter als z.B. eine intensive Form des Schönen ist – was die Ergebnisse der Studie zumindest für diesen Typ nahelegen –, wird man genau dies in den Studienergebnissen wiederfinden. Dann unterscheidet sich dieser Begriff in seiner normativen Verwendung aber von z.B. der bei Burke. Damit lassen sich prinzipiell keine Argumente für oder wider die Bedeutung des Begriffs, wie wir sie bei den klassischen Autoren finden, ableiten, da sich eine Verschiebung der Begriffsbedeutung vollzogen haben könnte. (2) Der zweite und seltenere (ca. 9 % der Fälle) Typ erhabener Erfahrungen besitzt eine deutlich negativere affektive Tönung von Angst und Furcht. Hierbei handelt es sich typischerweise um Situationen, in denen die Teilnehmenden ernsthaft in Gefahr geraten oder mit Gewalt konfrontiert worden sind, so dass die Dimension der Distanz nicht oder nur unzureichend gesichert war. Wir werden hierauf noch in Kap. 9 im Zusammenhang mit Trauma- und „Dunkle Nacht der Seele“-Erfahrungen eingehen. Wichtig ist auch, dass es sich häufig um Erfahrungen mit anderen Menschen, z.B. in Form von Missbrauch und Krieg, oder wilden Tieren handelt. Genauso wichtig ist aber, dass unabhängig von den negativen affektiven alle kognitiven Elemente des positiven Erhabenen weiterhin existieren: Lernen, Transformation, Metabewusstsein. Aus einer evolutionären Perspektive ergeben diese kognitiven Aspekte Sinn, da es gerade in Situationen existenzieller Bedrohung wichtig ist, zu lernen, um in Zukunft solche Situationen falls möglich zu vermeiden. Die Distanzierungsstrategien, die eine Dominanz positiver Affekte ermöglichen, wirken dann sozusagen wie eine „Impfung“: Transformation und Lernen wird möglich, ohne dass man sich ernsthaft in Gefahr begibt.
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4.5.2 Kohärenz des theoretischen Konzepts
Der andere Kritikpunkt ist methodisch: eine sinnvolle theoretische Reflexion über das Erhabene sei unmöglich, weil eine solche notwendig vor einem Dilemma stehe.159 Eine solche Theorie könne entweder eine Form der epistemologischen Transzendenz erklären, was dazu führe, sich auf problematische ontologische Vorannahmen wie der Existenz einer transzendenten Realität (wie in den abrahamitischen Religionen) oder eines noumenalen Selbst (z.B. bei Kant) einlassen zu müssen. Oder sie könne eine problematische Ontologie vermeiden, habe dann aber unüberwindbare Schwierigkeiten, die epiphanen Momente, erhabenen Gefühle oder transformativen Erfahrungen zu erklären. Die Gültigkeit dieser Kritik hängt davon ab, was eine Theorie des Erhabenen leisten soll, und basiert selbst auf bestimmten epistemischen und ontologischen Vorannahmen. Es ist nicht nötig, dies hier näher ausführen.160 In den vergangenen Jahren kann ein erneutes intensives Interesse am Erhabenen festgestellt werden, und einer der Gründe für diese Re-Renaissance liegt in dem Umstand, dass inzwischen die Psychologie und Neurowissenschaft das Erhabene und verwandte Gefühle entdeckt hat und damit der Debatte neue Impulse gibt. Ein weiterer Grund liegt darin, dass auch die theoretischen Debatten die Frage der ontologischen und epistemologischen Bindungen (commitments) ernst nehmen und mit ontologisch und epistemologisch sparsameren Konzepten arbeiten. Shapshay (2021) argumentiert, dass theoretische Reflexionen über das Erhabene die Kritik aufnehmen und konstruktiv integrieren können, wenn sie zwischen einer kognitiv flachen und tiefen Erfahrung des Erhabenen unterscheiden. Diese Unterscheidung kann weitgehend an das Modell Weiskels (1976) anknüpfen. Eine Erfahrung ist kognitiv flach, wenn sie nur Phase 2 umfasst, also eine kognitive Integration der Grenzerfahrung nicht stattfindet oder noch nicht stattgefunden hat. Shapshay sieht Burkes Konzept des Erhabenen als ein Beispiel hierfür. Eine Erfahrung wird tief, wenn versucht wird, sie zu interpretieren und in das eigene Weltmodell zu integrieren, sie also Phase 3 umfasst. 4.5.3 Universell oder nicht?
Nicht im Zentrum der methodischen Kritik des Beginns des 21. Jahrhunderts, und gleichsam wichtig, wurde immer wieder die Frage gestellt, ob es sich beim Erhabenen um eine universelle oder kulturrelative Erfahrung handelt. Wie die zahlreichen noch folgenden Beispiele zeigen werden, sind Schilderungen erhabener Momente in der Regel Versuche, Erfahrungen der Phase 2 in Worte zu fas108 |
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sen oder aus ihnen einen Sinn abzuleiten. Mit solchen Schilderungen sind nicht notwendig wenig plausible oder widersprüchliche ontologische und epistemologische Setzungen verbunden, und sie können rein säkular sein. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die Affektivität der Phase 2 dafür spricht, dass die Fähigkeit zu Empfindungen, die als erhaben bezeichnet werden, universell ist. In Phase 3 wird dann aber die kulturelle Färbung der Person relevant, die vor der Herausforderung steht, die Erfahrung zu verstehen und in ein sinnvolles Narrativ ihres Lebens einzubetten. Daher kann sie sowohl als Offenbarung des Göttlichen, als Nirwana, als unendliche Weite des Kosmos oder als Ausdruck einer temporären Deaktivierung des Default-Networks des Gehirns verstanden werden. Wie schon gesagt, ist dies vereinbar mit Predictive-Coding-Theorien: Zur Benennung der Erfahrung eines großen Erwartungsfehlers stehen die Narrativbausteine einer Kultur zur Verfügung, und nur wenn eine Kultur sich bewusst ist, dass dieser Prozess stattfindet und diese Bausteine wiederum in einem gewissen Sinn beliebig sind, kann sie diesen Prozess kritisch reflektieren und von naiven Erklärungsmustern Abstand nehmen. Kulturelle Erwartungen können daher aber auch beeinflussen, welche Erfahrungen typischerweise als erhaben erlebt werden, weil sie so benannt sind. Erst mit der Romantik wurden Berge in Europa zu etwas potenziell Erhabenem.161 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts fährt ein westlicher Mittelklassemensch typischerweise in einen Nationalpark und hat dort erhabene Erlebnisse oder auch nicht. Und auch dem Daoismus verpflichtete chinesische Staatsbeamte zog es vor ca. 1000 Jahren in die Berge, um dort Gedichte zu verfassen oder Bilder zu malen, die wir heute als Darstellungen des Erhabenen interpretieren würden (siehe Kap. 12). Der Zen-Mönch hingegen meditiert in der Hoffnung auf den Moment des Satori (siehe Kap. 11). Shapshay unterteilt die Einordnungsversuche der Phase 3 in drei Klassen: Erklärungen als religiöse Offenbarung, als moralische Berufung oder als metaphysische Einheit, wobei diese sich in individuellen Erklärungen ergänzen können. Hierin unterscheiden sich Erfahrungen des Erhabenen von anderen Grenzerfahrungen. Ein wissenschaftlicher Durchbruch ist eine Grenzerfahrung, die das Denken transformiert. Aber sie führt dazu, die Wirklichkeit in Phase 3 im Licht der neuen wissenschaftlichen Theorie zu erklären. Nicolsons (1963) Analyse der kulturellen Umwertung der Naturerfahrung mit der Romantik zeigt einen für unsere Argumentation wichtigen Punkt: Unsere Wahrnehmung von Bergen, Natur, Landschaft ist nicht in einem objektiven Sinne wahr und gegeben, sondern sie erschließt sich erst durch einen kulturellen Filter. Es liegt nah, zu sagen, dass der vorromantische Europäer etwas anderes sah und empfand, wenn er auf die Alpen blickte, als der nachromantische Europäer. Methodenkritik
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Künstler wie Wordsworth haben daher nicht nur Literatur geschaffen, sondern eine Form der Wirklichkeit. Und das bedeutet auch, dass erstens unser heutiges Welterleben nicht objektiv wahr ist, sondern kulturell gefärbt, und dass zweitens durch eine Umgestaltung der Narrative und Vorstellungsweisen diese Wirklichkeit verändert werden kann. Damit kein Missverständnis auftritt, es wird hier kein radikaler Konstruktivismus vertreten, die Welt setzt unseren Narrativen einen klaren Widerstand entgegen. Aber dieser Widerstand bedeutet nicht, dass es keine Freiräume gibt, innerhalb derer diese Welt erklärbar, wahrnehmbar, erlebbar ist. Zusammenfassend folgt, dass erhabene Erfahrungen als Grenzerfahrungen sowohl Teil der menschlichen Natur als auch historisch und kulturell bedingt sind. Die große Bandbreite der mit dieser Erfahrung einhergehenden Gefühle und Interpretationen sagt etwas über die kulturelle Eingebundenheit und gleichzeitige Versatilität dieser Erfahrung aus. Dieser letzte Punkt offenbart keine konzeptionelle Schwäche, sondern ermöglicht es gerade, wie wir in Kap. 12 und 14 argumentieren werden, die Frage nach Sinn und unserem Verhältnis zur „Natur“ neu und konstruktiv zu stellen. Die Forschung zum Erhabenen legt den Schluss nah, dass es nicht nur eine wichtige Kategorie zum Verständnis von Gesellschaften ist, sondern in einer säkularen Gesellschaft eine zentrale Quelle der Selbsterkenntnis und der Veränderung der Einstellungen und Verhaltensweisen in Richtung eines anderen, nachhaltigeren und respektvolleren Umgangs mit „Natur“ sein kann. Die Erfahrung hat offenbar eine sowohl ästhetische als auch ethische Qualität, und wir werden diesen Gedanken ab Kap. 10 aufnehmen. Dazu genügt es aber nicht, auf die subjektive Qualität der Erfahrung zu verweisen. Vielmehr wird es erforderlich sein, den Zusammenhang zwischen ästhetischer Erfahrung und ethischer Ermunterung oder Verpflichtung genauer anzuschauen.
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5. Ordnung und Chaos: eine Bedeutungsverschiebung Garten, Kulturland war die Idealvorstellung von Kosmos („Ordnung“) bis zur Neuzeit. Wildnis und Wüste waren in diesem Verständnis unvollendet, nicht konform mit den Idealen der Zeit. Sie sind Teil von Chaos, einer Erscheinungsform „vor“ dem eigentlichen Entstehen, der Schöpfung.162 Chaos als Unordnung und als Wildheit ist etymologisch zunächst als Leere gedacht, und diese Leere hat eine negative Bedeutung: der Ort als Nicht-Ort, wo nichts ist und nichts bleibt.163 Wildnis war im christlichen Mittelalter ein Ort der Gefahr, bewohnt von wilden Tieren und Geistern. Sie war nicht mehr nur unvollständiger Plan, Unordnung, sondern stand dem göttlichen Plan entgegen. Jesus Christus traf den Teufel bei seinem 40-tägigen Aufenthalt in der Wüste. Aber Ordnung und Chaos bestehen in einer eigentümlichen Dialektik zueinander: Jesus wird nicht nur versucht, sondern er widersteht den Versuchungen und kehrt damit als ein Veränderter in die Ordnung zurück. Hier kommt die doppelte Signifikanz des Wilden zur Sprache. Wie wurde hieraus im 18. Jahrhundert das Erhabene? Zunächst wurde der Schrecken der Wildnis durch die Entwicklung des modernen Subjekts, die Vermessung der Welt (Kartografie) und ihre wissenschaftliche Untersuchung neutralisiert. Sie wurde, wenn auch von Europäern unbewohnt, diesen bekannt. Allerdings kehrt der Schrecken zurück, wie man in der Malerei und Reiseberichten dieser Zeit sieht. Er ist aber nun vermischt mit einem gewissen Wohlgefallen: Man setzt sich der Möglichkeit der Gefahr aus, aber nur bis zu dem Punkt, an dem sie wirklich gefährlich werden kann. Hier liegt der Ursprung der zeitgenössischen Inszenierung des Erhabenen als Spektakel, z.B. im Film. Der Grat, auf dem man hier geht, ist aber ein schmaler, und so mancher englische Wanderer, der z.B. auf Wordsworths Spuren in den Alpen wanderte, kam nicht mehr zurück. Das Erhabene des 18. Jahrhunderts erschöpft sich aber nicht im Spektakel, in ihm zeigt sich auch die Quelle einer Kritik am geordneten Lebensmodell, an dessen Rändern das Erhabene als Möglichkeit eines tiefen, heroischen Lebens aufscheint. Das Leben innerhalb der geordneten Bahnen des „Gartens“ erscheint plötzlich fad und bedeutungslos. Auch wenn hinter der Grenze Leere, Risiko, Leid, Schrecken und Grausamkeit aufscheinen, so erlauben diese Risiken doch ein volleres Leben als das, das in den Grenzen der Ordnung möglich ist. Der Garten selbst erscheint als Ort eines Schreckens ganz eigener Art: langweilig, flach, Methodenkritik
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nicht authentisch: „Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine unaussprechliche Schönheit der Natur.“164 Damit war aber nicht die in Teilen der 68er-Bewegung des 20. Jahrhunderts anzutreffende Vorstellung verbunden, ein neues Lebensmodell „außerhalb“ des Gartens anzustreben. Wildnis erlaubte es, Kontakt mit etwas aufzunehmen, das größer war als man selbst; das Leben eines Aussteigers in eben dieser Wildnis zu führen, kam aber nicht in den Sinn. Um gut zu leben, muss man in Kontakt auch mit den Kräften sein, die die menschliche Ordnung übersteigen und die sich außerhalb der Zivilisation zeigen, man begibt sich aber nicht dauerhaft dorthin. Diesen Gedanken finden wir beispielsweise bei Thoreau, und sein Leben zwischen der Wildnis in der Hütte am Walden Pond und dem städtischen Treiben Concords legen hier Zeugnis ab. „Wildnis“ sprach zu den Menschen der beginnenden Neuzeit neben dem Religiösen als plausibelste Hypothese der Möglichkeit einer Erfahrung von „Tiefe“. Blumenberg (2020 [1979]) hat die Entwicklung der vielleicht stärksten GrenzMetapher Land–Meer bzw. Schiff–Meer rekonstruiert. Der Blick vom Strand ist immer ein Blick auf eine doppelte Grenze: Wasser und Horizont. Blumenberg zeigt, wie sich wichtige Teile der westlichen Philosophiegeschichte in der Verwendung und Veränderung dieser Metapher rekonstruieren lassen. Und egal, wie sich die Metapher entwickelt, kehrt die Dialektik von innen und außen und der damit mögliche erhabene Moment in immer neuen Variationen zurück. Im frühgriechischen Weltbild stand das sichere Land dem unsicheren Meer gegenüber. Das Meer war das Andere, Unberechenbare, Gesetzlose, wohingegen das Land (und insbesondere der Hafen) für Sicherheit und Berechenbarkeit stand. Gleichzeitig findet sich der Moment der überstandenen Katastrophe, die für Blumenberg eine zentrale philosophische Ausgangserfahrung ist. Es wird hieraus eine Auffassung des guten, eudaimonen Lebens abgeleitet, nach der nur solche Besitztümer wichtig seien, die man bei einem Schiffbruch retten könne. Dies geht über zur Philosophie Montaignes, nach der moralische Autarkie als feste Position „auf dem Land“ angestrebt werden solle, um sich vor dem „Schiffbruch der Welt“ zu retten. Mit der Aufklärung findet sich dann vermehrt eine Umkehr der Metapher, so dass der Aufbruch ins Unbekannte positiv gesehen wird. Das Risiko der Seefahrt wird der Stasis des Verharrens im Bekannten des Landes vorgezogen. Und auch der Schiffbruch selbst wird zu einer transformativen Erfahrung, die notwendig für die Reifung des Menschen ist. Mit der Neuzeit findet dann eine Transformation der gesamten Wahrnehmung statt: Der Mensch hat nicht mehr die Möglichkeit, vom sicheren Land das Geschehen auf See zu betrachten, sondern führt notwendig ein Leben auf dem unsicheren Meer, so dass 112 |
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er keine Alternative hat, als sich durch allerlei Dinge und Geschichten eine Form der Sicherheit zusammenzuzimmern. Das Schiff wird zur Metapher für dieses Bretterwerk. Aber diese relative Sicherheit kann – wie zuvor das Land – auch die Entwicklung hemmen, so dass es erforderlich erscheinen mag, sich ins Wasser zu stürzen. Die Metapher nimmt aber in einer Erweiterung auch die Zuschauenden hinzu, die vom sicheren Land aus den Schiffbruch betrachten. Dies ist die prototypische Aufstellordnung des Erhabenen: Der Schrecken wird aus seiner Position der Sicherheit betrachtet. Dabei finden sich unterschiedliche Vorstellungen über die Wahrnehmung der Zuschauenden. Zunächst ist da die Vorstellung des Genusses des Davongekommenseins oder des Genusses des Gewahrwerdens einer sicheren Basis der eigenen Weltsicht. Diese Sicht kann sich hin zu einer Außerweltlichkeit entwickeln, von wo aus die Welt mit Distanz gesehen werden kann. Der Schiffbruch wird auch zur Metapher für den Zusammenbruch des Staats und der Revolution, er thematisiert den Zusammenhang zwischen Geschichte und Revolution, zunächst weiterhin aus sicherer Distanz betrachtet: „Wir können der Französischen Revolution wie einem Schiffbruch auf offenem, fremdem Meer vom sicheren Ufer herab zusehen, falls unser böser Genius uns nicht selbst wider Willen ins Meer stürzt.“165 Erst mit der Neuzeit werden die Zuschauenden stärker mit ins Geschehen einbezogen und zu einer moralischen Anteilnahme genötigt. Und ihnen wird zunehmend die sichere Distanz genommen, die sie sich erst wieder erarbeiten müssen. Das Erhabene verlagert sich auf die Distanzierungsstrategien der Vernunft, derer man sich im Angesicht der Bedrohungen gewahr wird. Eine intellektuelle Distanzierung von den unmittelbaren Schrecken steht anknüpfend an Kant für Schopenhauer im Zentrum des Erhabenen. Die schon angesprochene Umkehrung vollzieht sich auch für die Zuschauenden: sie werden nach und nach auf das Schiff gezogen. Man muss lernen, mit dem Schiff und dem Schiffbruch zu leben, weil es das Land nicht gibt. (In Kap. 11 werden wir die verblüffend ähnliche Metaphorik des Buddhismus kennenlernen.) Zunehmend verliert sich ein „Außen“, welches einen sicheren Ankerplatz darstellen könnte, und kommt dann doch dadurch zurück, dass die ins Geschehen gezogenen Zuschauenden als Erkenntnissubjekte nun sich selbst zuschauen: „Der Zuschauer übersteigt sich in der Reflexion zum transzendentalen Zuschauer.“166 Aber diese Form der Rettung ins Erhabene erzeugt die Illusion eines objektiven Blicks von außen, der gerade eine Gleichgültigkeit gegenüber den Geschehnissen der Welt möglich macht. Wir werden hierauf in Kap. 12 und 13 zurückkommen. Ein laut Blumenberg vorläufig letzter Versuch der Schaffung eines sicheren Hafens, der Logische Positivismus mit seiner Idee einer idealen Sprache, erwies Methodenkritik
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sich bald ebenfalls als Illusion. Die Schifffahrtsmetapher bezieht sich zunehmend auf die philosophische Frage nach einem stabilen Ausgangspunkt, von dem eine Vermessung der Wirklichkeit möglich ist. Ein solcher ist aber auch in der Sprache nicht gegeben. Auch die Sprache ist als Schiff immer schon da, ohne dass man es jemals verlassen könnte. Von diesem Punkt aus kann die Metapher eigentlich nur in zwei Richtungen weiterentwickelt werden. Es bleibt die solipsistische Schließung, die Blumenberg bei Jakob Burkhardt sieht: „Wir möchten gern die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind die Welle selbst.“167 Oder man findet sich ins Lebensweltliche gewendet mit einem Pragmatismus ab: „Wissenschaft leistet nicht, was Wünsche und Ansprüche in Erwartungen an sie umgesetzt hatten; aber was sie leistet, ist nicht wesentlich überbietbar und genügt den Erfordernissen der Erhaltung des Lebens.“168 Pragmatisch gewendet muss das Schiff stets umgebaut und repariert werden, um seetüchtig zu bleiben, aber all dies muss auf offener See geschehen, weil es kein Dock gibt. Und doch bleibt das Rätsel, dass man sich bereits auf einem Schiff befindet, welches die Vorfahren aus Treibholz zusammengezimmert haben müssen. Daher konnten diese Vorfahren anscheinend schwimmen. Der Pragmatismus offenbart eine Sehnsucht, von der schon Taylor (2007) sprach. Der Sprung ins Wasser ist der ultimative erhabene Moment und immer auch der Versuch des Sprungs heraus aus der Geschichte, den wir in Kap. 8 exemplarisch bei Emerson und Newman untersuchen werden: [Die] künstliche Seenot entsteht nicht durch die Hinfälligkeit des Schiffs, das schon ein Endstadium langwieriger Bauten und Umbauten ist. Aber offenbar enthält das Meer noch anderes Material als das schon verbaute. Woher kann es kommen, um den neu Anfangenden Mut zu machen? Vielleicht aus früheren Schiffbrüchen?169
Und in dieser Wendung liegt auch die Quelle der psychologischen Interpretation des Erhabenen: Die Ordnung verkörpert sich auch in den Menschen, in ihrem Handeln und Fühlen. Das Heroische liegt nun in der Konfrontation mit dem immer noch vorhandenen, aber schlafenden Wilden in einem selbst. Und diese Konfrontation ist etwas Gutes: es gibt etwas zu entdecken, was notwendig für die Vervollständigung des Menschseins ist. Erst außerhalb der Ordnung entsteht ein Gefühl für das, was wirklich wichtig ist, sei es die Unerschöpflichkeit Gottes, das moralische Gesetz Kants oder was auch immer. Dieses Wilde wird aber notwendig zunächst als ein Negatives (wie in Negative Theologie, also nicht normativ gemeint) verstanden, gerade weil es sich Ordnung und damit auch Sprache ent-
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zieht. Das Wilde ist aus Sicht der Ordnung eine Leerstelle; hier muss mit anderen Ressourcen als denen der Sprache und Kultur entdeckt und verstanden werden. Wir haben es mit der Manifestation eines Untergrunds der Rationalität und der klaren Strukturen der Sprache zu tun. Es ist mit einer Gegenthese zur optimistisch-rationalistischen Vorstellungswelt der Aufklärung verbunden, mit einem Menschenbild, welches dunkler und komplexer ist, in dem das „Andere“ noch immer wirksam ist. Gleichzeitig sind wir mit der Idee einer „immanenten Transzendenz“ konfrontiert: The rediscovery of what I really am within is made possible by the resonance I feel with the great current of nature outside of me. […] As creatures who come to be who we are out of animal nature, which in turn arises from the non-animate, we cannot but feel a kinship with all living things, and beyond them with the whole of nature.170
Hier entspringt eine wichtige Quelle der modernen Umweltethik, siehe Kap. 12 und 13. Thoreau erlebte eine tiefe Verwandtschaft zu „Natur“: I was so distinctively made aware of the presence of something kindred to me, even in scenes which we are accustomed to call wild and dreary, and also that the nearest of blood to me and the humanist was not a person or a villager that I thought no place could ever be strange to me again. [...] Shall I not have intelligence with the earth? Am I not partly leaves and vegetable mold myself?171
Dieser Sicht drohte aber von Beginn das Risiko einer Verklärung: Zugehörigkeit zu etwas, das zugleich gleichgültig und manchmal feindlich gegenüber der eigenen Existenz ist, will man das wirklich? Kann die sichere Distanz, aus der nach Burke das Erhabene erst möglich wird, aufgegeben werden, um Verwandtschaft mit etwas zu empfinden, das die eigene Existenz in jeder Sekunde zerstören kann? Der Umstand, dass es eben auch zur Natur gehört, dass wir sterblich und daher alle Geschichten von Gärten und Ordnung vielleicht nur Narrative zur Eindämmung der eigenen Angst sind, ist dabei unerheblich: Es geht nicht um die Ankerkennung einer sterblichen Natur, es geht um das Herauszögern des eigenen Todes. Für Thoreau war die Entdeckung von Wildnis „da draußen“ aber auch eine Entdeckung von Wildnis „im Inneren“ als einer zentralen Quelle von Lebensenergie und Kreativität.172 Die überwältigende Macht der ungebändigten Natur führt zum heroischen Leben, welches seine Energie aus diesen Quellen speist Methodenkritik
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und gleichzeitig den Mut hat, sich mit diesen Quellen auseinanderzusetzen. Das Erhabene erlaubt nicht mehr den Blick auf die wohlgeordnete Welt des moralischen Gesetzes in uns, sondern auf etwas ungeordnetes, rohes, amoralisches in der eigenen „Natur“. Der Umstand, dass es hierbei auch um eine Neubewertung von Krise, Leid und Moral geht, ist auch eine Kritik an der naiven Vorstellung eines Rationalitätsbegriffs, der daran glaubt, zumindest als Zukunftsvision diese Bereiche aus dem Leben verbannen zu können. Die Kritik ist dabei eine zweifache. Zum einen ist der in einer solchen Gesellschaft entstehende Mensch seiner vitalen Kräfte beraubt und führt eine „flache“ Existenz. Vielleicht wird er dabei alt, aber er weiß eigentlich nicht mehr genau, warum er alt werden will. Und zum anderen wird die Plausibilität der Version der perfekt geordneten Gesellschaft, aus der Krise, Leid und Moral verschwunden sind, angezweifelt. Sie ist selbst schon eine Form des Zwangs aufgrund der Normativität des „flachen Lebens“, und sie bietet nur eine Scheinsicherheit, deren Firnis rissig wird, sobald sich die „Natur“ mit ihrer Unbeherrschbarkeit wieder meldet. Anwendungsfall: Lars von Trier, Melancholia Lars von Trier beschreibt den Einbruch des Unplanbaren in seinem Film Melancholia, in dem am Ende ein Planet gleichen Namens auf die Erde trifft und diese vernichtet. Alle symbolischen Ordnungen, die mehr schlecht als recht den Alltag strukturieren und daher Orientierung bieten, alle Wissenschaften, so zeigt sich im Verlauf des Films, können die Sicherheit nicht gewähren, die man sich so sehr wünscht. Als das Ende unabwendbar ist, unternimmt eine der Protagonistinnen einen letzten Versuch zur Schaffung einer letzten symbolischen Ordnung, um ihrer Schwester und deren Sohn die Angst zu nehmen. Sie baut eine Hütte aus Stöcken, in der sie sich „sicher“ fühlen können. Aus Sicht des Erhabenen sind diese Versuche „nichts anderes als jene Stöckerhütte einer eingebildeten Furchtlosigkeit, bevor der Wahnsinn unserer Existenz uns ereilt“, wie dies Schmidt in seiner Rezension des Films formuliert hat.173 In einem solchen Moment, in dem uns die rohe Existenz auf den Leib rückt, sagt Regisseur Lars von Trier, verändern die Dinge ihre ontologische Qualität; keine symbolische Ordnung oder Projektion gewährt mehr Schutz, sie werden als stabilisierende Stöcke einer nur eingebildeten Furchtlosigkeit entlarvt.
Nach buddhistischer Vorstellung ist die einzige Möglichkeit, damit zurechtzukommen, diese rohe Qualität der Existenz radikal anzuerkennen: 116 |
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Reality is neither pleasant nor unpleasant in and of itself. It is only pleasant or unpleasant as experienced by us, through our perceptions. This is not to deny that earthquakes, plagues, wars, old age, sickness, and death exist. But their nature is not suffering. We can limit the impact of these tragedies but never do away with them completely. That would be like wanting to have light without darkness, tallness without shortness, birth without death, one without many. One-sided perceptions like these create our world of suffering.174
Eine solche radikale Anerkennung führt aber gerade nicht zu einer Moral als Recht des Stärkeren, wie sie in der Folge von Nietzsche im westlichen Denken immer wieder thematisiert wird: If there is nothing to morality but expressions of will, my morality can only be what my will creates. There can be no place for such fictions as natural rights, utility, the greatest happiness of the greatest number. […] The concept of the Nietzschean „great man“ represents individualism’s final attempt to escape from its own consequences.175
Die aus dieser Sicht radikale Behauptung des Buddhismus ist, dass im Gegenteil gerade diese Anerkennung zu Mitgefühl (Karuna), Güte (Metta), Mitfreude (Mudita) und Gelassenheit (Upekkha) führe. „Natur“ ist auch deshalb zur Quelle der Ehrfurcht geworden, weil sie mit der Neuzeit eingebettet wurde in wissenschaftliche Erzählungen, die ihr Qualitäten von Größe und Tiefe in Zeit und Raum gegeben haben: Leben ist Ausdruck von Evolution und „tiefer“ Zeit, das Weltall Ausdruck „tiefer“ Raumzeit. Diese Einbettung öffnet erstaunliche Möglichkeiten neuen Verständnisses: z.B. wird die chinesische Berge-und-Wasser-(Shanshui-)Malerei und daoistische Lyrik aus dieser Perspektive lesbar als eine Erzählung des transformativen Wirkens von Zeit, in der alles ineinanderhängt und sich in einem ständigen Prozess der Veränderung befindet (siehe Kap. 12). In den Worten Gary Snyders: „The blue mountains are constantly walking.“176 Die buddhistische Lehre des Bedingten Entstehens und der Impermanenz samt ihren ästhetischen Ausdrucksformen (siehe Kap. 11) fließt zusammen mit dem westlichen Verständnis der Welt, an deren Rändern das Erhabene und die Ehrfurcht ihren ästhetischen und ethischen Platz finden können. Das Erhabene markiert eine Grenze zwischen dem Geordneten und dem Ungeordneten, dem Zahmen und dem Wilden, der Sicherheit und der Gefahr. Als modernes Gefühl und Konzept wurde es erst möglich durch die Leerstelle, die in einer zunehmend säkularen Kultur die Herauslösung eines Gottesbegriffs aus Methodenkritik
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dem westlichen Weltbild hinterlassen hatte, und die zugleich in einem Denken in Dichotomien verhaftet ist. Die dem Erhabenen zugrundeliegende Vorstellungswelt färbt über z.B. Burke, Kant und die Romantiker nach wie vor unsere Gegenwart.177 Eine Wahrnehmung von „innen“ und „außen“ ist in den unterschiedlichsten Kontexten und Ausdrucksformen präsent. Hinsichtlich der Wahrnehmung der subjektiven Erfahrungswelt kommen die folgenden Beispiele in den Sinn: • Als Idee eines Tors zu innerer Freiheit durch Selbsttransformation. • Als Psychoanalyse von Freud über Lacan hin zur postmodernen Philosophie durch ihre Aufspaltung des Individuums in ein geordnetes Bewusstsein und ein wildes Unbewusstes. Das Erhabene (englisch: sublime im Sinne von „unterhalb oder jenseits einer Grenze“) wird zum Sublimierten. • Als ästhetische Erfahrung in der Kunst. Taylor (2007) schreibt dazu: The idea of a deep nature, which we have lost sight of, and may find it difficult to recover, the idea that this has to be recovered, understood, mainly through retelling our story, the idea that this deep nature may be in part wild and amoral, all these are obvious frameworks for self-understanding, intuitively understandable to almost everyone whatever one thinks of particular theories […].178
Wir finden aber auch zahlreiche Beispiele in der Wahrnehmung der „Außenwelt“: • Als Inszenierung und Spektakel z.B. in Filmen wie Star Wars bis hin zu Katastrophen- und Kriegsfilmen, in denen wir aus der sicheren Distanz des Kinosaals der Vernichtung ganzer Welten zuschauen können. • Als Kulturskeptizismus mit einer Verklärung des „Wilden“. • Als Kulturoptimismus mit einer Verklärung des „Zivilisierten“. • Als Erzählungen des „Eigenen“ und des „Anderen“ mit seinen Ausdrucksformen der Angst vor dem Fremden. • Als Erzählung der Reise als Aufbruch in das Unbekannte • und in ihrer Umkehrung als Erzählung des Fremden, der in die Stadt kommt. • Als Erzählung des Meeres als Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. • Als US-amerikanische Erzählung der frontier, die weiter verschoben wird, erst in den „Westen“, dann auf den Mond, und weiter in unbekannte Welten.
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Ordnung und Chaos: eine Bedeutungsverschiebung
• Als Erzählung des Kapitalismus als permanentem Prozess der Grenzverschiebung durch (disruptiven) Fortschritt. • Als Erzählung der Wissenschaft als Verschiebung der Grenze zwischen dem Verstehbaren und dem (noch) nicht Verstehbaren. • Und in maximaler Abstraktion als Ausdruck dichotomen Denkens, welches zwischen Gegensätzen unterscheidet, so dass notwendig Grenzen zwischen dem „Einen“ und dem „Anderen“ entstehen. Beide Wahrnehmungsformen verschränken sich und können jeweils symbolisch aufeinander Bezug nehmen: Jede Reise ist ein Aufbruch in das Unbekannte und zugleich Reise zum „Selbst“. Das Denkmodell des Erhabenen, welches mit dem und zum Teil gegen den optimistischen Vernunftbegriff der frühen Aufklärung entstanden ist, wirkt in vielfältiger Form weiter. Und dies ist kein Zufall, da mit der Aufklärung Neugierde auf das Unbekannte „jenseits der Grenze“ möglich und erstrebenswert wurde, nicht mehr eine zu bestrafende Sünde. Bei der obigen (unvollständigen) Liste wird auch erkennbar, dass das dualistische Denken selbst die Grenzen schafft. Einzelne dieser Grenzen werden dann kulturspezifisch normativ aufgeladen und damit als Quelle des Erhabenen verfügbar gemacht. Diese normative Aufladung enthält immer Elemente von Selbsttranszendenz und Sinn, mit denen der einzelne Mensch sich in die größere Erzählung einschreibt.
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6. Das Erhabene bis ins 20. Jahrhundert Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. Novalis
Der Versuch, eine Geschichte des Erhabenen zu veranschaulichen, muss aufgrund der immensen Fülle der Literatur unvollständig bleiben. Es fällt aber auf, dass es bis auf wenige Ausnahmen innerhalb der Ästhetik diskutiert und in der Kunst prägend wurde. Wie wir sehen werden, erschwert diese Verengung den Blick für die gesamtgesellschaftliche Relevanz dieses Phänomens. Gleichwohl muss sich ein ideengeschichtlicher Überblick zunächst auch auf die Kunst und Theorie der Ästhetik beziehen. Dabei ist Ästhetik nicht nur die Lehre von Schönheit oder Kunst, sondern allgemeiner die Lehre der Wahrnehmung als zentraler Bestandteil der Urteilskraft. Das Erhabene spielt hier insofern eine zentrale Rolle, als dass mit ihm die Urteilskraft an eine Grenze stößt. Das Erhabene oder das Sublime stammt vom lateinischen sublimitas und wurde ursprünglich als Ausdruck für effektive oder metaphorische Höhe verwendet. Zudem war eine alchemistische Konnotation des Begriffs bis ins 17. Jahrhundert ebenso geläufig, mit Sublimierung wurde die direkte Transformation eines Materials von einem festem zu einem gasigen Zustand beschrieben.179 Longinus verwendete den Begriff (hypsous) in seiner ungefähr aus dem Jahr 100 u. Z. stammenden Abhandlung über das Theater. Darin beschreibt er, wie die Erfahrung des Erhabenen als rhetorische Fähigkeit des Schauspielers eingesetzt werden kann. Die Idee ist, dass rationale Argumente zwar eine gewisse Überzeugungskraft haben, die eigentliche Kraft aber in einer Sprache und Ausdrucksform liegt, die emotional überwältigt: „Great writing does not persuade; it takes the reader out of himself […][.] [T]o be convinced is usually within our control whereas amazement is the result of an irresistible force beyond the control of any audience.“180 Mit dem Gebrauch „heroischer“ Sprache sollte das Publikum begeistert und außer Kontrolle gebracht werden, so dass kein Zweifel an der Genialität des Redners bliebe. Am Beispiel verschiedener Kriegs- und Heldengeschichten illustriert Longinus diese Fähigkeit zur bildhaften Sprache. Genialität zeigt sich Das Erhabene bis ins 20. Jahrhundert
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aber gerade darin, dass der Autor Regeln der Darstellung bricht und Grenzen überschreitet. Wir kommen hierauf in Kap. 7 zurück. Galt es vor der Übersetzung und Verbreitung dieser Schrift, Kunst als harmonisches, ordnendes und rationales Mittel zu verwenden, beeinflusste die Übersetzung von Peri Hypsous die Art und Weise, künstlerisch tätig zu sein, maßgeblich. Mit seinem Argument, kraftvolle Worte durch Bilder einer mächtigen Natur zu schaffen, traf Longinus’ Essay den Nerv der Zeit der Romantik. Ein Verständnis von Natur als unzähmbare, ungestüme Gewalt fand Einzug in unterschiedliche Kunstformen. Dass dieses veränderte Naturverständnis aus einer wachsenden Unsicherheit, die durch die Industrialisierung des 18. Jahrhunderts und der sich aus der zunehmenden Säkularisierung ergebenden Veränderung der Lebensund Denkweisen resultierte, erscheint plausibel, kann aber letztlich nur vermutet werden.181 Bilder und Beschreibungen einer wilden, ungezähmten Natur wurden zu einem Synonym für den Begriff des Erhabenen und beeinflussten das künstlerische Schaffen der Epoche der Romantik.182 Das romantische Erhabene war ein Versuch, das Verständnis des Transzendenten zu einem Zeitpunkt neu zu fassen, an dem das traditionelle Verständnis des Transzendenten verloren gegangen war oder an Legitimität eingebüßt hatte: „It provided a language for urgent and apparently novel experiences of anxiety and exitement which were in need of legitimation. In largest perspective, it was a major analogy, a massive transposition of transcendence into a naturalistic key […].“183 Hier wird das Dilemma einer anbrechenden naturalistisch und materialistisch gedachten Moderne angesprochen, der ein systematischer Raum für Transzendenzerfahrungen fehlte. Das Erhabene gedacht als Übersteigerung des Fassungsvermögens weist damit zum einen die aufklärerische Utopie der rationalen Erklärbarkeit der Wirklichkeit in ihre Schranken und macht zum anderen die ansonsten unartikulierte Erfahrung des Erhabenen als Erfahrung der Überschreitung einer Grenze zumindest prinzipiell artikulierbar. Hierin liegt aber zugleich der Ursprung der Möglichkeit, das Erhabene in immer neuen Bereichen zu verorten. Das romantische Lebensgefühl suchte es tendenziell in gewaltigen Naturerfahrungen, wohingegen das postmoderne Erhabene abstrakter auf das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit abstellte, es ins Ökonomische und Gesellschaftliche hinüberzog oder psychologisch in der Tradition der Psychoanalyse die Grenze von Bewusstsein und Unbewusstem ausleuchtete. Schon bei Burke gab es allerdings eine psychologische Interpretation, indem er von Leidenschaften sprach, mit deren Quellen man unvertraut sei. Und ebenfalls Burke sprach von der Französischen Revolution in der Terminologie des Erhabenen. 122 |
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Am Anfang der neuzeitlichen Beschäftigung mit dem Erhabenen steht wie gesagt Burke, der es wie folgt fasste: The passion caused by the great and sublime in nature, when those causes operate most powerfully, is astonishment; and astonishment is that state of the soul, in which all its motions are suspended, with some degree of horror. In this case the mind is so entirely filled with its object, that it cannot entertain any other, nor by consequence reason on that object which employs it. Hence arises the great power of the sublime, that far from being produced by them, it anticipates our reasonings, and hurries us on by an irresistible force.184
Burke unterschied wie seitdem üblich zwischen dem Schönen und dem Erhabenen. Ersteres bringe anhand alltäglicher schöner Objekte Vergnügen und Freude. Letzteres erschüttere jedoch durch den ausgelösten Schrecken im Angesicht der eigenen Unzulänglichkeit und Sterblichkeit und bewege den Menschen dadurch zutiefst. Sein Denken zum Erhabenen steht in der Tradition des Empirismus Lockes und Humes. Laut Burke lässt sich das Erhabene, verstanden als eine Art erschütternde Ehrfurcht, nicht nur während religiöser Rituale spüren, sondern auch durch Wahrnehmungen und Erfahrungen in der Natur erkunden. Grollend lauter Donner oder das ungestüme Wechselspiel von Licht und Schatten führten dem Menschen die eigene Begrenztheit und Sterblichkeit vor Augen. Burke sah diese Verwirklichung der Endlichkeit eines Lebens als stärkste menschliche Emotion, die der Verstand zu fassen fähig sei. Ryan (2001) fasst den Effekt, den diese Erfahrung auf den Menschen hat, wie folgt zusammen: „The sublime experience is seen as leading, on the one hand, to an overpowering of the self and, on the other hand, to an intense self-presence and exaltation, sometimes even to self-transcendence.“185 Als Quellen einer solchen Steigerung des Empfindens identifizierte er damals gängige Bilder von Dunkelheit, Endlosigkeit, stürmischen Ozeanen, Bergen oder Wüsten. Turner hat insbesondere in seinem Spätwerk das Erhabene immer wieder thematisiert, beispielsweise in seinem Gemälde Snowstorm: Steamboat off a Harbour’s Mouth (1842, siehe Abb. 1). Es ist erkennbar, dass er es auch durch die Darstellungsweise, dem Weg in die Abstraktion, erlebbar macht, da sich in der Abstraktion das Figürliche, die Ordnung auflöst. In Abb. 2 sehen wir das Gemälde Das Eismeer des wohl bekanntesten Malers des Romantisch-Erhabenen, Friedrich (1823/1824), in dem wie bei Turner die Schiff-Meer-Metaphorik im Zentrum steht. Sowohl in der Dichtung als auch in der Malerei der Romantik spielte die „wilde Natur“ eine große Rolle. Zentral in der romantischen Bildsprache war dabei, das Methodenkritik
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Abb. 1: William Turner (1775–1851): Snowstorm: Steamboat off a Harbour’s Mouth (1842).
Erhabene als zunächst erschreckend darzustellen, wie Vers 310 von Wordsworths Gedicht The Prelude von 1805 verdeutlicht: If the night blackened with a coming storm Beneath some rock, listening to notes that are The ghostly language of the ancient earth, Or make their dim abode in distant winds. Thence did I drink the visionary power.186
In von Goethes für den Sturm und Drang zentralem Roman Die Leiden des jungen Werther (2016) wird diese Naturerfahrung ebenfalls zum zentralen Bestandteil der Geschichte, und sie verknüpft sich untrennbar mit dem emotionalen Erleben des Protagonisten. Dabei wird auch die ultimative Grenzüberschreitung der Selbsttötung thematisiert: Es war plötzlich Tauwetter eingefallen, ich hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen und von Wahlheim herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts nach eilfe rannte ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter
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Abb. 2: Caspar David Friedrich (1774–1840): Das Eismeer (1823–1824).
die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und Wiesen und Hecken und alles, und das weite Tal hinauf und hinab eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich herrlichem Widerschein rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach, mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund und atmete hinab! Hinab! Und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da hinabzustürmen! Dahinzubrausen wie die Wellen.187
Kunst in der Romantik sollte nicht länger lediglich Imitation oder Abbildung sein. Stattdessen sollte der Künstler durch die Hinwendung zur eigenen inneren Stimme seine originelle Sicht auf den Kosmos als wildes und nicht als geordnetes System verdeutlichen.188 Später (und insbesondere in der Hudson River School, siehe Kap. 12) verliert das Erhabene zunehmend seine Bedrohung, es wird zu einem hochskalierten Schönen oder Pittoresken. Aber auch in religiösen Symboliken wurden Größe und Großartigkeit weiter mit dem Erhabenen assoziiert. Dabei war unabhängig von der Rolle des Schreckens der Begriff der Transzendenz in dieser Kunstrichtung von großer Wichtigkeit, da sie sich mit der InnenMethodenkritik
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ansicht des Menschen befasste und im Bild sowie in der Sprache Ausdruck fand. Transcendentia (lat.) beschrieb ursprünglich das Übersteigen, wobei die Grenzen der menschlichen Erfahrungswelt überschritten werden. Die Suche nach einer solchen inneren Stimme, nach der inneren Quelle der Natur, konnte nur im Künstler selbst stattfinden.189
6.1 Das Erhabene bei Kant Kant nimmt auch hinsichtlich des Erhabenen eine zentrale Stellung in der Philosophie ein. Kants Begriff des Schönen als interesseloses Wohlgefallen oder als Wahrnehmung einer Zweckmäßigkeit ohne Vorstellung eines Zwecks durchmisst den Bereich des Geordneten, in dem sich der Verstand ohne Beschränkung seiner selbst sicher ist.190 Im Schönen erkennt der Mensch, dass die Welt für ihn zweckmäßig eingerichtet ist: „[D]a diese Zusammenstimmung des Gegenstandes mit den Vermögen des Subjekts zufällig ist, so bewirkt sie die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit desselben in Ansehung der Erkenntnisvermögen des Subjekts.“191 Beim Erhabenen ist dies nicht mehr der Fall, wir haben es hier mit einem Scheitern des Versuchs der Schaffung von Ordnung zu tun, entweder durch eine Erfahrung der Größe (das Mathematisch-Erhabene) oder der Macht (das Dynamisch-Erhabene). Für Burke ist das Erhabene ein affektiver Zustand, der seine Auflösung ebenfalls affektiv erfährt. Kant geht hier einen anderen Weg. Um ihn zu verstehen und einordnen zu können, ist es sinnvoll, ihn in den Kontext seines Gesamtwerks einzubetten. Kants Kritiken können als Versuch gewertet werden, sowohl den Empirismus Lockes oder Humes als auch den Rationalismus und Idealismus der neoplatonischen Tradition zu widerlegen. Der Empirismus argumentiert, dass alles Wissen auf Sinneserfahrungen zurückzuführen ist. Der Idealismus argumentiert, dass Wissen im Erkennen von reinen Ideen oder Formen besteht, die bereits vor jeder Wahrnehmung existieren und von denen Menschen als geistige Wesen eine direkte Intuition besitzen. Kant argumentiert, dass Wahrnehmung weder allein auf Sinneseindrücken noch allein auf bereits vorsinnlich existierenden Ideen basieren kann. Vielmehr muss der Geist, damit er wahrnehmen kann, bereits mit bestimmten Erkenntniskategorien ausgestattet sein. Hierzu gehören Raum, Zeit und Kausalität, aber auch bestimmte A-priori-Ideen, die in die Welt hineingetragen werden, ohne die man diese nicht verstehen kann, die man aber durch sinnliche Wahrnehmung allein niemals erschließen könnte. Unendlichkeit, Einheit, Freiheit, Gerechtigkeit, das Absolute usw. sind hierfür Beispiele. 126 |
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Nehmen wir die Idee der Einheit als Beispiel: in der empirischen Welt existieren keine zwei identischen Blätter, und sie sind auch raumzeitlich sowie visuell, olfaktorisch etc. unterschiedlich. Dass wir unterschiedliche Blätter als „Blätter“ wahrnehmen können, kann daher ohne die Kategorie der Einheit nicht allein empirisch erschlossen werden. Diese Kategorien sind daher Ausdruck einer „übersinnlichen“ Qualität der Vernunft, sie sind Ideen, die wir als vernunftbegabte Wesen in die Welt tragen; sie transzendieren die sinnliche Welt. So weit, so idealistisch. Allerdings argumentiert Kant, dass wir mit diesen Kategorien keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit haben, Wahrnehmung vollzieht sich innerhalb dieser Kategorien, was aber wahrgenommen wird, ist nicht schon durch Ideen bestimmt. Die Realität, wie sie wirklich ist, das „Ding an sich“, bleibt hinter dem Schleier der Anschauung verborgen. In diese Vorstellung positioniert Kant das Erhabene: für ihn zeigt sich in ihm die übersinnliche Dimension der menschlichen Vernunft. Im Moment des Erhabenen wird erkennbar, dass die Vernunft des Menschen die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung übersteigt. Hier zeigt sich die übersinnliche Qualität des Geistes, die Vernunft jenseits der Anschauung. Daher ist die Rolle, die das Erhabene sowohl für seine Theorie der theoretischen als auch der praktischen Vernunft spielt, kaum zu überschätzen. Erhaben sind nicht die Objekte der „Natur“, so wie dies noch bei Burke angenommen wurde, sondern die Macht der Vernunft, derer der Mensch gewahr wird, wenn er mit solchen Objekten konfrontiert wird: [D]as eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden. So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muß das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist, indem das Gemüt die Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird.192
Wie kommt es dann aber dazu, dass ein Objekt in uns ein solches Gefühl hervorruft? Um dies zu klären, unterscheidet Kant zwischen dem mathematisch und dem dynamisch Erhabenen. Die Erfahrung des Mathematisch-Erhabenen wird durch Objekte hervorgerufen, die unfassbar groß, formlos usw. sind, so dass unsere Vorstellungskraft dabei versagt, all die einzelnen Sinneswahrnehmungen in eine einheitliche Form Das Erhabene bei Kant
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Abb. 3 Das Mathematisch-Erhabene: Mandelbrot-Menge. Visualisierung der Menge der komplexen Zahlen c, für welche die durch die Iteration z0=0 und zn+1 = zn2+c definierte Folge (zn) n Îℵ beschränkt ist. In den drei Abbildungen sind unterschiedliche Definitionsbereiche abgebildet und entsprechende Farbzuordnungen vorgenommen worden.
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zu bringen. Siehe hierzu Abb. 3 mit drei Details der sogenannten MandelbrotMenge (Mandelbrot 1980). Ihre schiere Größe und Komplexität überwältigen die Fassungskraft. Diese zunächst unangenehme und demütigende Erfahrung kommt aber zu dem Punkt, an dem sich der Geist seiner „übersinnlichen“ Kategorien bewusst wird, also beispielsweise der Idee der Unendlichkeit. In diesem Moment wird klar, dass das Überwältigende der Erfahrung nur die sinnlichen Fähigkeiten überwältigt und bedroht, nicht aber die Fähigkeit der Vernunft, die dem Objekt etwas noch Größeres entgegensetzen kann. In solchen Momenten wird nach Kant die Wahrnehmung weg vom rein Sinnlichen hin zu den höheren, „erhabenen“ Fähigkeiten der Vernunft gelenkt, auf deren Existenz wir somit gestoßen werden. Die Erfahrung des Dynamisch-Erhabenen bezieht sich hingegen auf eine natürliche Kraft (Kant denkt dabei im Wesentlichen an Naturgewalten) einer solchen Größe, dass der Mensch sich seiner Kleinheit, Insignifikanz und Schwäche bewusst wird. Wenn man einer solchen Kraft aus einer Position der Sicherheit beiwohnen kann, so dass von ihr keine direkte Lebensgefahr ausgeht, kann man sie laut Kant als beängstigend wahrnehmen, ohne wirkliche Angst zu empfinden. In diesem Moment entsteht wiederum ein Bewusstsein der Existenz höherer Kategorien als den rein sinnlichen: „[W]ir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.“193 Die Natur ist für Kant sowohl die äußere Natur des Unwetters als auch die menschliche Natur im Sinne einer bloßen auf Affekten basierten Reaktion. Die Sicherheit der Situation erlaubt uns, diesen Impulsen zu widerstehen, und in diesem Widerstehen werden wir uns unserer anderen Natur, die für Kant nicht Natur ist, als Vernunftwesen gewahr: [A]ber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz andrer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann, wobei die Menschheit in unserer Person unerniedrigt bleibt, obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müßte. Auf solche Weise wird die Natur in unserm ästhetischen Urteile nicht, sofern sie furchterregend ist, als erhaben beurteilt, sondern weil sie unsere Kraft (die nicht Natur ist) in uns aufruft, um das, wofür wir besorgt sind (Güter, Gesundheit und Leben), als klein, und daher ihre Macht (der wir in Ansehung dieser Stücke allerdings unterworfen sind) für uns und unsere Persönlichkeit demungeachtet doch für keine solche Gewalt ansehen, unter die wir uns Das Erhabene bei Kant
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zu beugen hätten, wenn es auf unsre höchste Grundsätze und deren Behauptung oder Verfassung ankäme.194
Im Menschen entsteht mit anderen Worten ein Bewusstsein seiner Moralität, seiner Fähigkeit, vom engen Eigeninteresse abzuweichen und zu widerstehen. Erhaben ist dabei die Erkenntnis der Möglichkeit dieses Heroismus. Diese Konzeption des Dynamisch-Erhabenen baut eine Brücke von der Urteilskraft in die Praktische Philosophie:195 Wir tragen die Fähigkeit zur Moral in uns, und im Moment des Erhabenen werden wir uns dessen bewusst. Mit dieser Konzeption emanzipiert Kant auch das Erhabene vom Göttlichen: Man wird nicht mehr Gottes Allmacht gewahr, sondern der Allmacht der eigenen Vernunft. Anwendungsfall: Terrence Malick, A Hidden Life Dieses Konzept der Selbstermächtigung hat potenziell weitreichende Folgen für das moralische Handeln. Tritt ihm das Dynamisch-Erhabene etwa in Form politischer Macht entgegen, ist für Kant die Distanzierungsstrategie gerade nicht die Unterwerfung unter den politischen Willen, sondern der Widerstand gegen ihn, sofern sich in ihm ein Unrecht zeigt. Diese Vorstellung eines „erhabenen Widerstands“ wird in Malicks Film A Hidden Life in beklemmender Weise thematisiert. Der Film basiert auf der wahren Geschichte des österreichischen Bauern Franz Jägerstätter während des Zweiten Weltkriegs, der mit seiner Frau und drei Töchtern in den Bergen lebte und sich weigerte, in den Krieg zu gehen und den Eid auf Adolf Hitler abzulegen. Er wird verhaftet, vor Gericht gebracht und getötet. Der Titel des Films bezieht sich auf den Schlusssatz von Eliots Middlemarch: „The growing good of the world is partly dependent on unhistoric acts; and that things are not so ill with you and me as they might have been, is half owing to the number who lived faithfully a hidden life, and rest in unvisited tombs.“ Und hierin besteht eine der zentralen Fragen des Films, die auch dem Protagonisten immer wieder gestellt wird: Spielt das Verhalten eines Einzelnen eine Rolle, auch wenn es außer dem eigenen Tod und dem damit einhergehenden Leid seiner Familie und seiner Freunde keinen Unterschied ergibt? Wenn sich nicht einmal jemand an seinen Akt des Widerstands langfristig erinnern wird? Franz’ Verhalten wird den Lauf der Geschichte nicht ändern, aber darum geht es für Kant nicht. Gerade in seiner Weigerung, sich auf die Seite des Unrechts zu schlagen, manifestiert sich seine Freiheit und Moralität. Die Gewalt des politischen Systems bedeutet seinen durch sein Verhalten, durch einen einfachen Eid, vermeidbaren Tod. Das Erhabene seines Handelns liegt gerade darin, sich dem nicht zu beugen.
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Es ist eine radikale Position, die sich aus der Konzeption des Erhabenen bei Kant ergibt. Und sie ist nicht beschränkt auf politischen Widerstand. Sie ist ein wichtiges Gegengift gegen eine utilitaristisch-konsequentialistische Logik, die die Moralität einer Handlung an ihren Konsequenzen allein bemessen will und die sofort zu einem resignativen Nichtstun führt, wenn der Einzelne mit Problemen jenseits seiner Wirksamkeit konfrontiert ist. Das drängendste Beispiel ist die Umweltkrise, die auch in den Vorstellungen den Moment des Schreckens erzeugt. Aber was kann der Einzelne schon tun im Angesicht eines Problems von solchem Ausmaß? Kants Position legt einen radikalen Perspektivenwechsel nah: es geht nicht um die Frage, was der Beitrag des Einzelnen zur Lösung des Problems ist (obwohl man diesen niemals unterschätzen sollte), sondern darum, dass sich der Mensch durch sein Handeln zur Verhinderung der Krise seiner Freiheit bedient und sich so erst als moralisches Subjekt konstituiert. Dies ist das Dynamisch-Erhabene.
Hier liegt auch der größte Unterschied zu Burke: Für ihn ist das Erhabene an den Menschen als Sinneswesen gebunden. Daraus entsteht eine Dynamik von terror als Angst vor der Vernichtung und bliss als Gewahrwerden des Entkommenseins. Fragen nach Moral und Werten sind hierbei nicht ausgeschlossen, sie können ein Nebenprodukt einer solchen Erfahrung sein, sie sind aber sekundär. Wir müssen auf zwei weitere Aspekte des Erhabenen nach Kant eingehen, da sie uns immer wieder beschäftigen werden. 1. Man könnte den Eindruck bekommen, dass Kants Konzept des DynamischErhabenen auf tönernen Füßen steht, ja nichts weiter als eine bloße Selbstüberschätzung ist. Immerhin erlebt man sich in seiner Fähigkeit zur Moral aus der sicheren Distanz. Haben wir damit nicht das perfekte Rezept für Hybris beieinander? Ich kann mich aus der sicheren Entfernung moralisch und heldenhaft fühlen, nur um dann Reißaus zu nehmen, wenn es ernst wird? Kant sieht das anders und entwickelt eine tugendethische Vorstellung der Bedeutung erhabener Momente: Diese Selbstschätzung verliert dadurch nichts, dass wir uns sicher sehen müssen, um dieses begeisternde Wohlgefallen zu empfinden; mithin, weil es mit der Gefahr nicht Ernst ist, es auch (wie es scheinen möchte) mit der Erhabenheit unseres Geistesvermögens eben so wenig Ernst sein möchte. Denn das Wohlgefallen betrifft hier nur die sich in solchem Falle entdeckende Bestimmung unseres Vermögens, so wie die Anlage zu demselben in unserer Natur ist; indessen dass die Entwickelung und Übung desselben uns überlassen und obliegend bleibt.196 Das Erhabene bei Kant
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Er sieht mit anderen Worten solche erhabenen Erfahrungen als Initialzündungen. Sie machen aus uns noch keine Helden oder gute Menschen, aber sie legen ein Fundament für die Entwicklung solcher Tugenden. Wir sind hier ganz dicht bei der Idee der Heldenreise als Reise nach innen. Auch hier beginnt die Reise typischerweise mit einer Krise, die die Heldin und den Helden dazu bringt, das Bekannte hinter sich zu lassen und nach einer „vollständigeren“ Version von sich zu streben. Die Krise als transformative Erfahrung, die Veränderung möglich macht, steht also im Zentrum von Kants Konzept. 2. Damit kommen wir zum problematischen Aspekt dieser Konzeption des Erhabenen. Kant schreibt einer Person, die diese Tugenden in sich vereint, etwas zu, was wir heute nach Weber mit Charisma bezeichnen würden, und damit steht er in einer Tradition mit anderen Tugendethiken, beispielsweise dem Daoismus, in dem eine solche Person De zugeschrieben wird, was dem Konzept von Charisma nahekommet:197 Denn was ist das, was […] ein Gegenstand der größten Bewunderung ist? Ein Mensch, der nicht erschrickt, der sich nicht fürchtet, also der Gefahr nicht weicht, zugleich aber mit völliger Überlegung rüstig zu Werke geht. Auch im allergesittetsten Zustande bleibt diese vorzügliche Hochachtung für den Krieger; nur dass man noch dazu verlangt, dass er zugleich alle Tugenden des Friedens, Sanftmut, Mitleid, und selbst geziemende Sorgfalt für seine eigne Person beweise: eben darum, weil daran die Unbezwinglichkeit seines Gemüts durch Gefahr erkannt wird.198
Aber woher kommt die Rückbindung an eine konkrete moralische Ordnung? Wie stellt man sicher, dass der sich seiner Autonomie bewusste Mensch seine Freiheit in den Dienst der guten Sache stellt? Und wie kann er wissen, was die gute Sache ist? Auch der Terrorist und Revolutionär bricht aus seinem engen Eigeninteresse aus und ist in der Regel von der moralischen Legitimation seines Handelns überzeugt. Wer täuscht sich hier? Die Mehrheitsgesellschaft? Der „Krieger“? Beide? Bevor wir skizzieren, wie Kant dieses Problem wohl lösen würde, soll die Problematik in Kants eigenen Konzept noch deutlicher gemacht werden. Er schreibt: Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich, und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war, und sich mutig darunter hat behaupten können: da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handlungsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz,
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Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen, und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt.199
Das Erhabene des Krieges ist nicht das Erhabene des Entkommenseins Burkes, der hieraus wichtige Impulse seines Konservatismus zieht (siehe Kap. 7). Es ist das Gewahrwerden der eigenen Moralität, die nach Kant auch im „gerechten“ Krieg möglich wird. Das hat aus heutiger Sicht einen verstörenden Beigeschmack. Die Faszination für den Krieg, die meist genau so lang anhält, bis die Toten, Verkrüppelten und Traumatisierten sich häufen, ist als historischer Fakt wohl anzuerkennen, und sie wird auch in der Regel politisch als Spektakel des Erhabenen inszeniert (siehe Kap. 7). Kant hat hier aber mehr im Sinn und muss dies innerhalb seines Konzepts des Erhabenen auch: Der Krieg wird hier als notwendig für die Entwicklungen der Tugenden gesehen, Frieden führt zu moralischer Degeneration. Letztlich bleiben hier viele Fragen offen, und vielleicht muss man diesen Passus wie auch einige andere (z.B. sein Frauenbild und seine Vorstellungen über die „Wilden“) in seinen Schriften der Zeitgenossenschaft Kants zuordnen. Die hier zentrale Frage ist aber, ob diese Ausführungen das ganze Konzept notwendig beschädigen. Wenn es stimmt, dass insbesondere das Dynamisch-Erhabene eine Brücke von der Urteilskraft zur Praktischen Philosophie schlägt, sollte der Begriff der Moral auch dort rückgebunden werden. Es ist völlig unmöglich, seiner Praktischen Philosophie hier gerecht zu werden, aber der Gedankengang soll zumindest kurz skizziert werden: Das Gewahrwerden der Autonomie als Vernunftwesen im Moment des Erhabenen hat keine beliebigen Konsequenzen. Der Mensch ist frei in seinem Handeln, aber rückgebunden an das Vernunftgesetz, welches hier als Sittengesetz auftritt, dem er sich freiwillig unterwirft. Und dieses tritt in Form des Kategorischen Imperativs in seinen unterschiedlichen Formulierungen an ihn heran. Ob diese Konstruktion einer Letztbegründung von Moral gelungen ist oder nicht, ist Gegenstand intensiver Diskussionen in der Philosophie. Für uns ist nur der folgende Gedankengang wichtig: Das Erhabene verweist auf Freiheit und Moral als Kategorien des Geistes. Der „Ruf “, der hier ertönt, kann der Beginn einer transformativen Entwicklung sein, in der der Mensch sich als freies und moralisches Wesen verwirklicht. Kants Konzept des Erhabenen hatte einen enormen Einfluss auf z.B. Schiller, Schopenhauer oder Hegel und reicht bis zur postmodernen Konzeption bei Lyotard. Hier soll nur kurz Schopenhauer herausgegriffen werden, da bei ihm stärker als bei Kant das Bewusstsein einer negativen Freiheit hervortritt, welches sich durch die Erfahrung des Erhabenen einstellt:
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[B]ei dem Erhabenen ist jener Zustand des reinen Erkennens allererst gewonnen durch ein bewußtes und gewaltsames Losreißen von den als ungünstig erkannten Beziehungen desselben Objekts zum Willen, durch ein freies, von Bewußtseyn begleitetes Erheben über den Willen und die auf ihn sich beziehende Erkenntniß. Diese Erhebung muß mit Bewußtseyn nicht nur gewonnen, sondern auch erhalten werden und ist daher von einer steten Erinnerung an den Willen begleitet, doch nicht an ein einzelnes, individuelles Wollen, wie Furcht oder Wunsch, sondern an das menschliche Wollen überhaupt, sofern es durch seine Objektität, den menschlichen Leib, allgemein ausgedrückt ist.200
Nach Shapshay (2012) zeigt sich hierin zwar nicht wie bei Kant ein übersinnliches Selbst in Form des moralischen Gesetzes, aber gleichwohl ein Spalt zur Erkenntnis der moralischen Freiheit des Menschen: „[I]t is one of the rare places in Schopenhauer’s system where one can perceive that moral freedom is operative in the phenomenal world.“201 Für ihn zeigt sich hier die Möglichkeit des Abweichens vom vorgezeichneten Weg, die Möglichkeit, anders als egoistisch sein zu wollen. Und die Erkenntnis dieser moralischen Freiheit ist die Quelle des bliss im Angesicht einer Situation, die ansonsten das Potenzial zu terror besitzt.
6.2 Gegenwärtige Spuren des Romantisch-Erhabenen Nach Weiskel (1976) hat ein Übersteigen des Fassungsvermögens immer auch etwas mit Befreiung aus einer übermittelten Geschichte zu tun, woraus er eine Erklärung für die Popularität dieser Erfahrung in der englischen und deutschen Romantik ableitet. Der erhabene Moment transzendiert den Menschen, indem er einen Raum öffnet, der jenseits des bisher Fassbaren liegt. Damit sind zwei zentrale Dualismen der aufkommenden Moderne angesprochen: Das Verhältnis von individueller Authentizität und Autorität sowie das Verhältnis von Identität und Geschichte. Mit der europäischen Aufklärung weicht der Mensch bewusst vom vorgezeichneten Weg der Geschichte ab, und er tritt als sich selbst schöpfendes Individuum in Erscheinung. Tradition und Überlieferung sind nicht mehr länger legitimierende Faktoren im Entwurf dieses Selbst, und gleichzeitig ist alles Handeln, Denken und Fühlen Ausdruck eben dieser Tradition. Ein Heraustreten aus der Tradition ist daher an sich ein erhabener Moment, in dem die alte Ordnung ihre Autorität verliert, ohne dass schon eine neue Ordnung Platz gegriffen hätte. In diesem Zeitraum brechen gesellschaftliche Deutungsmuster im Angesicht einer als zunehmend nicht mehr legitim oder beherrschbar erscheinenden so134 |
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zialen, technischen und natürlichen Umwelt zusammen und hinterlassen einen liminalen Moment existenziellen Schreckens und gleichzeitiger Offenheit und Freiheit hinsichtlich der Zukunft. Es ist ein Moment, in dem der unhinterfragte Zugriff auf das Leben gelockert wird. Die grundlegenden Regeln des Verhaltens werden hinterfragt, und es entsteht eine zumindest momentane Skepsis gegen traditionelle Regeln und Autoritäten. Der liminale Moment ist aber zugleich unstrukturiert und strukturbildend: Mit der Auflösung der alten kristallisieren sich bereits mögliche neue Ordnungen heraus. Hier befindet sich eine wichtige Verklammerung zwischen der individuellen Erfahrung des Erhabenen und der gesellschaftlichen Ebene der Stabilität und Auflösung von Ordnungen, die wir auch bei Burke finden. Hierzu später mehr. Radikale Geschichtslosigkeit ist auch Sprachlosigkeit, Ordnungslosigkeit. Auf der individuellen Ebene entsteht dadurch ein von allen Konventionen befreites Wahrnehmen im „Hier und Jetzt“, welches im Zentrum spiritueller Erfahrungen steht (siehe hierzu auch Kap. 11 und 12). Auf der gesellschaftlichen Ebene entsteht hieraus aber der revolutionäre Impuls der Schaffung einer neuen Ordnung. Komplementär hierzu führt für Weiskel (1976) der Schritt in die Moderne (a) zu einem Sinndefizit durch die Infragestellung eines religiösen Weltbilds und (b) zu einer Entfremdung des Individuums aufgrund des Übergangs zur industriellen Produktionsweise sowie der Idee der Fortschrittsgesellschaft. (a) Weiskel (S. 14) sieht im romantischen Erhabenen der Naturgewalten eine Fortschreibung der Idee Gottes in einer säkularen Kultur. Alle Attribute, die traditionell einem Gott zugeschrieben wurden – Unendlichkeit, Unermesslichkeit usw. –, werden auf die „Natur“ und wissenschaftliche Konzepte wie den physikalischen Raum übertragen. Gefühle wie das Erhabene oder Ehrfurcht wurden damit vom Religiösen auf Phänomene des Geistes und des Raums übertragen. Damit einher ging aber auch eine Übertragung auf das innere Erleben des Menschen: Das Gefühl des Erhabenen wird zu einem Symbol der Unermesslichkeit der inneren Wahrnehmung und durch seine Psychologisierung zugleich ein wichtiges homöostatisches Element der „Seele“ oder „Psyche“. Herold (2013) zieht noch weitergehende Schlussfolgerungen. Die Überforderung ist für ihn eine Obsession moderner Welterfahrung, die sich auf das Scheitern und die Fragmentierung des „Selbst“ fokussiere. Das unteilbare „Individuum“ wird zu einem fragmentierten „Dividuum“, denn es existiert kein Kleber mehr, der die Teile zusammenhält. In diesem Sinne steht die Wiederentdeckung des Erhabenen nicht zufällig am Beginn der europäischen Aufklärung. Die Frage nach Gott ist immer auch die Frage nach dem Absoluten und Unendlichen. In einer Negativen Theologie wird dies durch eine Abwesenheit von Darstellung Gegenwärtige Spuren des Romantisch-Erhabenen
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markiert; mit dem Wegbrechen der Verbindlichkeit des Glaubens ergeben sich aber Zweifel an der Existenz des Dargestellten, auch wenn dies eine Leerstelle ist. Damit steht zu Beginn der Moderne eine Verlusterfahrung, ein „Zerreißen einer mythischen Einheit.“202 Herold (2013) argumentiert, dass dem mythischen Denken die Kategorie des „Ideellen“ fehle, dass das Dargestellte und nicht die Darstellung wahrgenommen werde, dass das Bild die „Sache“ nicht vertritt, sondern diese „ist“. Im mythischen Denken gibt es keine Grenze zwischen dem Immanenten und dem Transzendenten, beides wirkt sozusagen in derselben Welt. Das Umschlagen der Erfahrung im Moment des Erhabenen ist die säkulare Nachfolgefigur der religiösen unio mystica.203 In der Beschreibung der Gotteserfahrung findet sich insbesondere in der Negativen Theologie genau diese Grundstruktur des Erhabenen, es ist das absolut Mächtige, welches zugleich erschreckt und anzieht, es ist rational nicht beschreibbar und sinnlich nicht darstellbar (Herold 2013). (b) Die Industrialisierung führte im Verhältnis zur vorindustriellen Gesellschaft zu großen Umwälzungen der Produktions- und Arbeitsweise der Menschen, was zwar eine Zunahme an materiellem Wohlstand mit sich brachte, aber gleichzeitig auch völlig neue Lebenswelten schaffte. Damit war der Übergang zur Moderne verbunden mit einer Dynamisierung der Gesellschaft hin zu technologischem und kulturellem Fortschritt. Eine solche Gesellschaft erzeugt einen ständigen individuellen Anpassungsdruck und eine latente Liminalität. Ein Beispiel für die möglichen Folgen ist das von Jean Améry (1979) beschriebene und später empirisch bestätigte Phänomen der kulturellen Alterung: „Wer an die Schwelle gerät, dieser an Jahren früher, jener ein wenig später, [...] muss irgendwann erfahren, dass er die Welt nicht mehr versteht. [...] [D]ie Welt, die er versteht, ist nicht mehr.“204 Fortschrittsgesellschaften weisen daher immer schon einen gewissen „Liminalitätsdruck“ auf: Wissen wird wertlos, Werte verändern sich, Berufe fallen weg und entstehen neu: der ständige Anpassungsdruck erzeugt einen Grundschrecken des zunehmenden Nicht-mehr-Verstehens, ökonomischer Unsicherheit und kultureller Marginalisierung. Ohne eine Kant’sche Distanzierungsstrategie kann sich dieser Schrecken nicht in bliss verwandeln. Ähnlich lässt sich die Umweltkrise als ein Problem einer zu großen Veränderungsgeschwindigkeit lesen, die einen Veränderungsdruck erzeugt, der Schrecken verursacht. Bilder von Naturkatastrophen – Wirbelstürme, Sturmfluten, Bränden etc. – folgen oftmals der Ikonografie des Erhabenen, und der Schrecken ist existenziell und apokalyptisch: eine dramatische Veränderung der eigenen Lebensumwelten mit den sich daraus ergebenden existenziellen Ängsten bis hin zu Traumata. Dabei hat der Schrecken mittlerweile viele Menschen erreicht, und es 136 |
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Abb. 4: Waldbrand in Kalifornien (2020).
wurden climate anxiety resp. eco anxiety als medizinische Fachbegriffe geprägt. 2019 wurde in Finnland die erste große Studie zu diesem Phänomen publiziert: Climate anxiety is an aspect of the wider phenomenon of eco-anxiety: it encompasses challenging emotions, experienced to a significant degree, due to environmental issues and the threats they pose. On a wider scale, both eco-anxiety and climate anxiety are components of a phenomenon, in which the state of the world (i.e. the so-called macro social factors) impacts our mental health. […] Climate anxiety can be a problem if it is so intense that a person may come paralysed, but climate anxiety is not primarily a disease. Instead it is an understandable reaction to the magnitude of the environmental problems that surround us. Climate anxiety can often be an important resource as well, but this entails that a person finds, along with others, a) enough time and space to deal with their emotions and b) enough constructive activity to help mitigate climate change.205
Was Menschen fehlt, die an diesen Formen der Angst leiden, ist oft die Möglichkeit einer Distanzierung. So bleibt der reine Schrecken. In Abb. 4 ist als fotograGegenwärtige Spuren des Romantisch-Erhabenen
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Abb. 5: Edward Burtynsky (1955), Nickel Trailings, Ontario, 1996.
fische Inszenierung des Erhabenen in der Natur ein Waldbrand in Kalifornien 2020 dargestellt. Dieser ging mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf den menschengemachten Klimawandel zurück. Eine fotografische und künstlerische Darstellung von Katastrophen ist immer auch eine Ästhetisierung des Schreckens. Wir werden uns mit den Implikationen hiervon in Kap. 7 beschäftigen. Kap. 12 und 14 sind der Frage gewidmet, wie ein guter Umgang mit solchen existenziellen Bedrohungen aussehen könnte. Die genannten Veränderungen machen die romantische Sehnsucht nach „Natur“ als Entfremdungssehnsucht plausibel, folgen aber nicht schon aus dem Konzept des Erhabenen selbst. Man braucht vielmehr einen zusätzlichen psychologische Erklärungsansatz, der eine Hinwendung zum „Natürlich-Erhabenen“ begründet, weil nichts in dem Dreiphasenmodell Weiskels die Möglichkeit eines „Technologisch-Erhabenen“ ausschließt, sondern vielmehr im Gegenteil solche Erfahrungen gerade im Bereich der im 19. Jahrhundert entstehenden Großindustrie plausibel macht. Das Technologisch-Erhabene spielt dann auch später in der theoretischen Diskussion und der Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Beispiele hierfür sind die fotografischen Arbeiten von Edward Burtynsky (z.B. Nickel Trailings, Ontario), Sebastião Salgado (z.B. Gold Mine, Brasil, siehe Kap. 8) oder Andreas Gursky (z.B. Rhein II, siehe Kap. 8).
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Ein Beispiel hierfür ist Abb. 5. Zur Frage, ob die Erfahrung z.B. eines roten Nickelflusses in schwarzer Landschaft erhaben genannt werden kann, oder ob es sich vielmehr um ein Beispiel für schreckliche Schönheit handelt, wird kontrovers diskutiert. Aufbauend auf Brady (2013) argumentieren Arcangeli und Dokic (2020) dafür, dass zu einer Erfahrung des Erhabenen das Element des Überwältigenden gehöre. Clewis (2018, S. 344) teilt diese Meinung und schreibt: „The ‚sublime,‘ I suggest, is paradigmatically predicated of objects or events perceived to be vast, grand, colossal, and/or powerful. Due to its size or might, such an object poses a risk or potential threat to the perceiver.“ Gleichzeitig erscheint ein Konzept von Risiko oder Bedrohung, welches sich auf das physische Überleben einer Person bezieht, selbst schon für das Mathematisch-Erhabene bei Kant deutlich zu eng zu sein. Will man dem Phänomen gerecht werden, müssen diese Begriffe deutlich abstrakter gefasst werden. Es geht nicht nur und nicht einmal primär um die Bedrohung der körperlichen Integrität einer Person, sondern um die Bedrohung einer Sichtweise, eines Konzepts des „Selbst“ oder Ähnliches. Nach Arcangeli und Dokic (2020) ist das entscheidende Merkmal die Grenzerfahrung. Damit ist das Gegenteil des Erhabenen das Gewohnte: „Whenever any object, how great so ever, becomes familiar to the mind [...] the sublime vanishes.“ Und damit wird das Erhabene Ausdruck einer bestimmten Einstellung zur Welt. Ein Arbeiter in der Nickelmine wird das besondere des Nickelflusses nach einer Weile ebenso wenig wahrnehmen wie ein Bergbauer die erhabene Qualität der Alpen. Gleichzeitig kann er sich aber für die Erfahrung öffnen. Wir werden diesem Gedanken in Kap. 12 weiter nachgehen. Betrachtet man Burtynskys Bild hingegen erstmalig, entsteht eine Grenzerfahrung aufgrund der Abweichung vom Gewohnten. Hieraus entsteht eine Spannung zwischen der zugleich fremden Schönheit der Landschaft und dem Gefühl, dass das so nicht richtig ist: Das Dargestellte ist schrecklich schön und zugleich erhaben. Gerade aus dieser Spannung kann ein ethischer Impuls hervorgehen. Wir werden hierauf in Kap. 14 eingehen. Dass aufbauend auf Burke die Romantik stattdessen eine durchaus auch klischeehafte Vorstellung von Natur und Natürlichkeit ins Zentrum des Erhabenen stellte, muss als ein psychologisches Bedürfnis, als Abwehrreflex gegen eine zunehmend technisierte Lebenswelt gedeutet werden, die wir im 20. Jahrhundert im Bereich der Beat-, Flower-Power- und Umweltbewegung wiederfinden. Siehe mehr hierzu in Kap. 12. Das Romantisch-Erhabene steht auch im Zentrum der Arbeiten vieler Land-Art-Künstler wie Robert Smithson (z.B. Spiral Jetty, 1970) und Walter de Maria (z.B. The Lightning Field, 1977). Die beiden genannten Werke werden in Abb. 6a und b wiedergegeben.
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Abb. 6a: Robert Smithson (1938–1973), Spiral Jetty (1970).
Abb. 6b: Walter de Maria (1935–2013), The Lightning Field (1977).
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Aus Sicht dieser Theorien ist das Erhabene ein Moment der Unstetigkeit, in dem der Kraftschluss zwischen Welt und Weltmodell verloren geht, und der damit eine verstörende und beängstigende Leerstelle schafft: Der Grund, auf dem man zu stehen meinte, existiert nicht. Aber es ist auch ein Aufbrechen von Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Handelns, die das Leben langweilig und abgestanden machen. Hieraus entsteht eine Dialektik von Ordnung und Chaos: „The sublime dramatized the rhythm of transcendence in its extreme and purest form, for the sublime began where the conventional systems, reading of landscape or text, broke down, and it found in that very collapse the foundation for another order of meaning.“206 Die Beliebigkeit jeder Ordnung vorausgesetzt, resultiert hieraus ein Prozess ohne Sinn und Ziel, und die Erfahrung des Erhabenen wird zu einem weiteren Konsumakt degradiert, den man z.B. in der „Natur“ oder im Kino vollziehen kann. Einziger Ausweg hieraus liegt in einem Innehalten im Moment des Erhabenen, in dem man die Welt ohne Konvention schaut, wie sie ist. Dies ist der Ansatz, den man im Buddhismus finden kann. Wir werden hierauf in Kap. 11 zurückkommen. Anwendungsfall: T. S. Eliot, The Waste Land (1997 [1922]) Das Ende von T. S. Eliots für die Moderne zentralen Gedichts The Waste Land lautet: These fragments I have shored against my ruins […] Datta. Dayadhvam. Damyata. Shantih shantih shantih207 Die Moderne erlaubt es, das Leben aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und sich diese spielerisch zu eigen zu machen. Der Preis, der dafür zu zahlen ist, besteht aber in einem Verlust von Einheitlichkeit und Verbindlichkeit, von Kontinuität, in die sich ein Selbst einschreiben kann. Im ersten zitierten Vers wird die Fragmentierung des modernen Lebens angedeutet, welches nur noch in einer Anhäufung zersplitterter Perspektiven besteht, angeordnet um die Ruinen der eigenen Kultur. Ruinen sind hier aber auch durchaus wörtlich zu verstehen, da das Gedicht von 1922 noch unter dem Einfluss des Ersten Weltkriegs entstanden ist, dessen Schrecken ein tiefes Misstrauen in die Richtigkeit des westlichen Vernunft- und Fortschrittsglaubens hinterlassen hatte. Der Vers steht zwischen einer Reihe von Zitaten, eben jenen Fragmenten, von denen er spricht. Hier kommt das Gedicht zur Erkenntnis seiner selbst, Eliot gibt einen Hinweis auf die Bedeutung: „To realize that a point of view is a point of view is already to have Gegenwärtige Spuren des Romantisch-Erhabenen
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transcended it.“208 Die Transzendenz führt dabei lediglich hin zu einer Metaebene des Verständnisses, ohne dass auf dieser das Gebrochene bereits überwunden wäre. Alles, was man erwartet kann, ist eine mehr oder weniger kohärente Anordnung von Fragmenten und ein Bewusstsein eben dieser Fragmenthaftigkeit der eigenen Existenz. Das Gedicht endet mit einem Zitat aus der Brihadaranyaka Upanishad, einem zentralen Text der hinduistischen und buddhistischen Philosophie (die beiden letzten zitierten Zeilen). Die Brihadaranyaka Upanishad erzählt die Geschichte von Gott Prajapati, der die Götter, Dämonen und Menschen unterweist. Er sendet ihnen den Donner, der mit dem Klang DA, DA, DA ertönt. Die Götter verstanden DA als daamyata, Zurückhaltung, da sie sich den Genüssen des Himmels hingegeben hatten. Die Menschen verstanden DA als datta, Großzügigkeit, da sie von Natur aus egoistisch waren, und die Dämonen verstanden DA als dayadhvam, Mitgefühl, da sie von Natur aus grausam waren. Der erhabene Moment des Donners hält damit die zentrale ethische Lehre für ein gutes Leben bereit, die jeder nach seiner Disposition versteht. Das schließende Mantra Shantih shantih übersetzt sich mit Frieden Frieden Frieden und ist ein übliches Ende einer Upanishade. Mcnelly Kearns (1987) schreibt: As mantra, ‚shantih‘ conveys […] the peace inherent in its inner sound […]. As a closing prayer, ‚shantih‘ makes of what comes before it a communal as well as a private utterance […]. And as the „formal ending of an Upanishad“ it revises the whole poem from a statement of modern malaise into a sacred and prophetic discourse.209 Im Kontext des gesamten Textes wird hier eine Hoffnung auf Regen angedeutet, der das Land wieder fruchtbar macht, die stellvertretend steht für eine Überwindung der Leere, der Ödnis der Moderne: Here is no water but only rock Rock and no water and the sandy road The road winding above among the mountains Which are mountains of rock without water If there were water we should stop and drink Amongst the rock one cannot stop or think Sweat is dry and feet are in the sand If there were only water amongst the rock […] But there is no water210
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Dieses endzeitliche Szenario steht im Zentrum des Gedichts und verweist auf eine kulturelle Ödnis. Eliot (1997 [1922]) stellt mit dem Ende des Gedichts dem Öden Land der westlichen Moderne eine spirituelle Vision entgegen, in der die Vorstellung ruht, dass durch eine Verinnerlichung der zentralen Tugenden Datta, Dayadhvam und Damyata ein anderes, nicht verödetes Leben möglich ist. Der Donner erklingt nur von weitem, noch ist kein Regen in Sicht. Aber im Donner enthalten ist die Hoffnung auf Regen.
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7. Erhabene Rhetorik und das CharismatischErhabene To believe or not is usually in our own power; but the Sublime, acting with an imperious and irresistible force, sways every reader whether he will or not. Longinus
Obwohl am Beginn der Diskussion, stellt Peri Hypsous wohl nach wie vor eine der wichtigsten Quellen zur Inszenierung des Erhabenen dar, sowohl in der Kunst als auch in der Politik, da es sich auch um eine Art Handbuch zur Rhetorik des Erhabenen handelt. Das Erhabene definiert für Longinus die Fähigkeit des Menschen, sein unmittelbares Dasein zu transzendieren. Für ihn war Rhetorik und das Hervorrufen von Gefühlen das zentrale Mittel, welches sich in großer Kunst verwirklicht. Zentral sei dabei die Idee einer Koautorenschaft zwischen Künstler und Publikum: „For, as if instinctively, our soul is uplifted by the true sublime; it takes a proud flight, and is filled with joy and vaunting, as though it had itself produced what it has heard.“211 Große Kunst erreiche dies z.B. durch die Erschaffung großer anzustrebender Ideen und Konzepte und die Hervorrufung stürmischer und inspirierter Leidenschaft. Diese beiden Mittel seien zum Teil dem Schauspieler gegeben, die Wirkung lasse sich aber durch die gebührende Erschaffung von Figuren, eine vornehme und hehre Sprache und eine würdevolle Komposition verstärken. Das angestrebte Muster ist klar: die Überwältigung des erhabenen Moments soll durch eine Kombination aus affektiver Erregung, Einnahme für eine große Idee und Identifikation mit dieser erreicht werden. Dies ist eine Form der Selbsterhöhungsarbeit, deren psychologische Konsequenz in der Identifikation des Zuhörers mit der folgenden Idee ist: „The affective aggrandizement of the sublime moment supports an illusion, a metaphorical union with the creator which suppresses the inferiority of our status as listeners.“212
Erhabene Rhetorik und das Charismatisch-Erhabene
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7.1 Charismatische Führung als Inszenierung des Erhabenen Das Erhabene als rhetorische Strategie möchte überwältigen. Damit will sie mehr als allein die Katharsis des Zuhörers und begibt sich an den Rand der Propaganda. Politik als Inszenierung hat stets mit Elementen der affektiven Überwältigung gearbeitet. Dies gilt sowohl für die politische Rede als auch für die Inszenierung des Politischen durch Architektur oder Militärparaden. Dies bringt uns zum Verhältnis zwischen dem Erhabenen und Charisma. Der Begriff des Erhabenen und der Liminalität nach Turner (1974) steht im gesellschaftlichen Kontext in Verbindung zum Begriff der charismatischen Persönlichkeit, die von Weber geprägt wurde. Weber (2002 [1921]) definiert den Begriff wie folgt: „Charisma“ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als „Führer“ gewertet wird.213
Die Autorität gründet sich auf einer psychologischen Ebene auf bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen von Anführer und Geführten. Auf einer narrativen Wahrnehmungsebene der Geführten entsteht ein hohes Ausmaß an Identifikation mit den Zielen und Merkmalen des Führers, die in ihnen außergewöhnliche Handlungen und Anstrengungen hervorrufen. Die zentrale Bindung ist affektiv, sie wird aber auch narrativ-ideologisch konstruiert. Die Gruppe der Geführten empfindet sich nicht primär als Individuen, sondern als mit dem Führer und den anderen Geführten verbunden. Charisma gehört daher einer heroischen Gesellschaftskonzeption an, es ist ein Fremdkörper in postheroischen Vorstellungen von Gesellschaften, die in Kategorien von Steuerung und Expertentum denken. Dies heißt aber nicht, dass solche Gesellschaften nicht anfällig für charismatische Personen sind. Jaeger (2012) argumentiert, dass Charisma das Erhabene angesichts des Auftretens eines anderen Menschen ist. Er unterscheidet charismatische Kulturen wie die der Maōri mit ihrer Gesichts- und Körperkunst Tā moko und postcharismatische Kulturen. In Europa war dieser Übergang durch eine Verlagerung des Charismatischen in die Kunst verbunden. Was Jaeger hypermimetische Präsentation nennt (der Versuch, eine große Illusion plausibel und real erscheinen 146 |
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zu lassen, z.B. durch die Präsentation von charismatischen Persönlichkeiten in Malerei, Bildhauerei, Literatur oder Film), spielt eine zentrale Rolle bei der Verzauberung der Welt und der Inspiration des Betrachters zur Selbsttransformation und -perfektionierung im Sinne der Imitation der Eigenschaften der bewunderten Figur. Er sieht eine ungebrochene Geschichte charismatischer Kunst, die von den Darstellungen Christi bis zu modernen Heldenfiguren und Stars des Hollywoodkinos reicht. Charismatische Inspiration ist daher für ihn auch ein effektives Mittel einer Pädagogik, und er nennt als Beispiele für den Typ des charismatischen Lehrers Bernhard von Clairvaux. Hinter einer solchen Vorstellung steckt ein Begriff der Pädagogik, welche nicht primär der Vermittlung von skills and competencies, sondern der Persönlichkeitsentwicklung dient, in deren Windschatten aber Kompetenzvermittlung möglich wird. Das setzt aber voraus, dass der Einfluss, den die charismatische Persönlichkeit über andere Menschen hat, innerhalb einer bestimmten Werteordnung eingesetzt wird. Im Moment beobachten wir mit der Rückkehr der strongmen in die Politik eher das gegenteilige Phänomen, bei dem Skepsis gegenüber Experten zum Bestandteil des Politischen geworden ist. Wenn die Ziele charismatischer Führung gegen den anerkannten Konsens gerichtet sind, stellen Experten eine potenzielle Bedrohung dar, die man zu delegitimieren versucht. Das postheroische Modell technokratischer Organisation gerät dann in Konflikt mit dem charismatischheroischen Führungsstil. Charismatische Führung führt nach Weber zu einer Auflösung von bestehenden Werten und Ordnungen und einem Bruch mit Tradition, auch wenn in der offiziellen Rhetorik ein konservatives Bild der Wiederherstellung einer Ordnung kommuniziert wird. Dies entspricht dem Moment des Liminalen bei Turner. Im Drei-Phasen-Modell des Erhabenen sind wir in Phase 2 des Wegfallens bestehender Interpretationen und Deutungsmuster. Weber sieht diesen Zustand der Auflösung alter Vorstellungen aber als inhärent instabil; er kristallisiert sich in Phase 3 entweder zu einer Traditionalisierung oder Rationalisierung des charismatischen Führungsstils. Der Wegfall von Ordnung in Phase 2 bedeutet, dass sich das Erhabene allgemein und das Charismatische im Besonderen einer Rationalisierung bzw. Ökonomisierung verweigern, da beide definitionsgemäß Ordnungsformen zur Beherrschung der „Welt“, der (eigenen) „Natur“, der Gesellschaft sind. Es handelt sich sozusagen um eine Form der Kontrolle, wohingegen charismatische Herrschaft sich als Gegenmodell einer solchen Ordnung widersetzt. Vielmehr entsteht ein nicht rational begründbarer „Ruf “, eine „Mission“, eine „spirituelle Pflicht“, eine Verzauberung der Welt, die ein säkularer Rationalismus nicht bieten kann. Charismatische Führung als Inszenierung des Erhabenen
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Das „Monströse“ des charismatischen Führers weicht dem bliss der Verzauberung der Welt. Auf „der anderen Seite“ der Ordnung existiert das Mystische, das Wilde, das nicht durch rationale Begründung Einhegbare, dem vielleicht immanent, aber jedenfalls verstärkt und ausgelöst durch den charismatischen Führer eine Versuchung innewohnt. Wenn in diesem Kontext charismatischen Führern die Fähigkeit zu „Wundern“ zugeschrieben wird, ist dies im Sinne des PredictiveCoding-Modells sehr schlüssig: Das Wunder ist ein kategorialer Erwartungsfehler im alten Ordnungsmodell. Stimmt dies, so agiert der charismatische Führer in einem existenziellen Feld menschlicher Bedürfnisse nach (Selbst-)Transzendenz, Verzauberung und Sinn, die die technokratische Vision der modernen rationalistischen Gesellschaft nicht befriedigen kann. Charisma setzt die Kritikfähigkeit und Urteilskraft herab, sie vergrößert die Person, die darüber verfügt, ins Übermenschliche und inspiriert ihre Bewunderer. Dabei geht es nach Jaeger (2012) um Erlösung, um die Rettung von Würde, Leben, Freiheit aus einer diese Werte existenziell bedrohenden Situation in einem kritischen Moment des Lebens. Der Effekt von Charisma besteht für ihn in der Umwandlung der „flachen“ und „flüchtigen“ Momente des Konsums durch Tiefe und Teilhabe an einer großen Sache, Imitation der „heldenhaften“ Eigenschaften des charismatischen Führers und Bewunderung für ihn. Hier scheinen die zwei Gegensatzpaare „Eigentlichkeit–Heroismus“ und „Uneigentlichkeit–Postheroismus“ auf: Konsum ist selbst schon ein Modus der Uneigentlichkeit, in dem die Konsumentin oder der Konsument passiv vorgefertigte Erfahrungspotenziale nachvollzieht. Dieser Modus ist zum Standard der Haltung westlicher Gesellschaften geworden. Wir finden ihn im Rückzug auf das Ironische genauso wie in der Tendenz des Offenlassens von Alternativen. Das Postheroische ist der Modus der Uneigentlichkeit, das Einfügen in die Sicherheiten einer gegebenen Ordnung. Das Charismatisch-Erhabene ist in diesem Sinn der Versuch der Schaffung einer Alternative, eine Rückkehr zum Heroischen, bei dem der charismatische Führer das Wilde verspricht, welches sowohl Angst macht als auch fasziniert. Hier scheint die von Taylor beschriebene Flachheit der säkularen Existenz sowohl einen Druck zur Überwindung der Verhältnisse des eigenen Lebens als auch eine Angst vor genau dieser zu sein. In einer solchen Welt ist der charismatische Führer ein Rollenmodell, weil er sich traut, mit dem Status quo zu brechen. Es ist die Faszination einer Person, die bereit ist, „ihr Ding durchzuziehen“. Damit verzaubert die charismatische Person die Welt ihrer Bewunderer. Es ist nicht der Held als Verteidiger, sondern im Gegenteil der Held als Überwinder der Ordnung. 148 |
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Kant ist zuzustimmen, dass Schrecken ohne Distanz nicht erhaben, sondern grässlich ist. Die Apotheose des charismatischen Führers muss daher als eine solche Distanzierungsstrategie gewertet werden, die den Schrecken in doppelter Hinsicht transformiert: Zum einen ist die Aufgabe der alten Ordnung und die Unterwerfung unter den charismatischen Willen ein Schutz vor der „Monstrosität“ des ordnungszersetzenden Führers: Ich schließe mich ihm an und erkläre seine Sache zur gerechten. Und zum anderen ist seine Apotheose eine normative Rechtfertigung dieser Unterwerfung. Der Übergang auf „die andere Seite“ macht aus Schrecken bliss. Wer auf „dieser Seite“ im Widerstand bleibt, kann bei seinen Werten bleiben, muss aber ohne bliss auskommen. Abstrakter gedacht finden wir diese Distanzierungsstrategie auch hinsichtlich des Schreckens des Gewahrwerdens der Endlichkeit der eigenen Existenz in dem religiösen Sprung in den Glauben als ein Sichfallenlassen in Gott, so dass aus dem Weltuntergang eine Offenbarung wird. Der personale Gott und der weltliche Herrscher ähneln sich hier. Die in Kap. 2 zusammengefasste empirische Forschung zum Heroismus begann wenige Jahre, bevor sich wieder strongmen und Diktatoren auf der politischen Bühne durchzusetzen begannen und die Sehnsucht nach einer starken, ordnenden Hand auch in liberalen Demokratien wieder spürbar wurde. Ausund Abgrenzung, Abwehr des „Fremden“ und ein aggressiverer Grundton sind zurück. Dieser Typ von Politiker tritt als Held auf und findet in der Regel einen Hallraum in Teilen der Bevölkerung. Ein Argument dieses Buchs ist, dass beide Phänomene durchaus zusammengedacht werden können und sollten: die Sehnsucht nach Autorität entsteht in einer grundsätzlich liminalen Gesellschaft, wenn die Veränderungskräfte so groß werden, dass die Balance aus terror und bliss sich zu stark in Richtung terror verschiebt. Hier versprechen politische Heldenfiguren genau die Rettung der alten Ordnung, die ansonsten verloren zu gehen droht, auch wenn es sie nie gab. Verteidigung der alten Ordnung durch Veränderung der alten Ordnung: Was auf den ersten Blick paradox erscheint, löst sich auf, wenn man sich klarmacht, dass wir es hier mit hochdimensionalen Phänomenen zu tun haben. Die aufzugebenden Elemente der alten Ordnung wie Offenheit und Diversität werden zumindest in Teilen der Bevölkerung als wenig relevant oder Teil der Bedrohung wahrgenommen. Politische Heldenfiguren und charismatische Führer spielen dabei eine wichtige psychologische Funktion, sie versprechen die Sicherheit, die durch den Liminalitätsdruck verloren gegangen ist. Es gelingt ihnen, indem sie einzelne Elemente des Fremden und Unheimlichen benennen und versprechen, diese „draußen“ zu lassen. Aus einer bestimmten Perspektive ist all dies ähnlich: die Grenze zwischen Ordnung und Wildheit, die Grenze der Heldenreise, hinter Charismatische Führung als Inszenierung des Erhabenen
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der das Monster, aber auch Transformation und tiefe Einsicht wartet, die politische Grenze, hinter der „das Fremde“ lauert. Aus einer Position der Distanz und Stärke begibt man sich auf die Reise, begibt sich ins Fremde, ins Wilde, ins Unheimliche und lernt sich dort erst wirklich kennen. Aus einer Position der Angst bleibt man in der Ordnung und baut eine Mauer; hofft, dass diese hält, und verbleibt im „kleinen Selbst“. Thomä (2020) sieht hier die Stunde des demokratischen Helden gekommen, der sich für die gute Sache der liberalen Demokratie und der universellen Werte einsetzt. Und die in Kap. 3 zusammengefasste Forschung zeigt eindrucksvoll, dass das Potenzial für solche Heldentaten groß ist. Wir haben aber auch gesehen, dass das Problem komplizierter ist, denn auch die Anhänger der strongmen sind davon überzeugt, dass sie und ihr Idol sich für die gute Sache einsetzen. Das Problem ist nicht so sehr, dass es Gute und Böse, Helden und Schurken gibt, sondern dass sich alle für die Guten halten. Und dieselbe Forschung zeigt genauso eindrucksvoll, dass das Potenzial für Heldentaten der „anders Guten“ auch groß ist. Vielmehr geht es um einen individuell und gruppenspezifisch unterschiedlichen Liminalitätsdruck: Die anderen Verteidiger der alten Ordnung sind von den Veränderungen weniger bedroht, vielmehr sind die „anderen Guten“ Teil des nun wiederum in dieser Gruppe als Bedrohung wahrgenommen Anderen. Wir sind wieder beim bekannten Punkt angekommen: Werterelativismus erlaubt es nicht, hier eine objektive Entscheidung zu treffen. Es ist fast tragisch: Die Idee des moralischen Universalismus und die Idee des Relativismus/Subjektivismus sind im selben intellektuellen Milieu entstanden. Nimmt man Letzteren ernst, so kann man aber nicht einmal den Universalismus gegen seine Angreifer verteidigen. Woher aber nehmen wir dann die geteilten Werte? Wie rechtfertigen wir sie, ohne dass sich am Ende das Recht des Stärkeren durchsetzt? Oder behält MacIntyre recht, wenn er für den Relativismus schließt: If there is nothing to morality but expressions of will, my morality can only be what my will creates. There can be no place for such fictions as natural rights, utility, the greatest happiness of the greatest number. [...] The concept of the Nietzschean ‚great man‘ represents individualism’s final attempt to escape from its own consequences.214
7.2 Monster Die erhabene Erfahrung ist daher die Erfahrung einer Auflösung von Ordnung und Konvention, wofür symbolisch der Begriff Monster (von monstrum, mah150 |
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nendes Zeichen) oder Ungeheuer (vom Adjektiv ungeheuer, Ahd. ungihuiri, unheimlich, unvertraut) steht. Diese brechen die allgemein anerkannten Maßstäbe für Harmonie und ethisches Verhalten. Die sichere Distanz zum Monster im Film ist durch das Medium selbst gegeben; eine solche gegenüber tatsächlichen, menschlichen Monstern aufrechtzuerhalten, kann z.B. durch den Akt der Unterwerfung unter dessen Willen geschehen, in der Hoffnung, verschont zu werden. Oftmals werden existenzielle Bedrohungen explizit durch Monsterwesen dargestellt, beispielsweise im Hinduismus durch Vishnu, die Gottheit des Endes der Welt. Dieser zerstört die Welt erst durch Feuer und dann durch Wasser, so dass am Ende nur Asche bleibt, das ganze Universum wird ausradiert. Hier existiert keine Moral im herkömmlichen Sinn, keine Ordnung und keine Konvention. Vishnu ist jenseits von all dem; die Gottheit ist das Monster, weil sie jenseits aller moralischen Konventionen agiert. Diese Monstrosität finden wir auch in Kap. 13 des Markusevangeliums (Rede über die Endzeit). Dort wird die Macht Gottes ebenfalls durch seine Fähigkeit zur Zerstörung der Welt gezeigt: Erdbeben und Hungersnöte (13,8), die Verfinsterung der Sonne und des Mondes (13,24) und das Fallen der Sterne vom Himmel (13,25) sind erhabene Momente, zu denen sichere Distanz durch die Hinwendung zu Gott und den Glauben an die Errettung ermöglicht wird. Wir haben hier die Schilderung des ultimativen transformativen Moments: der Schrecken des Zusammenbruchs der Welt mit ihrer konventionellen moralischen Ordnung (z.B. 13,12) weicht der Erlösung und Glückseligkeit jenseits des Schreckens. Diesen Aspekt finden wir auch exemplarisch im tibetischen Buddhismus dargestellt. Dort wird der Buddha mit einem friedlichen und in einem zornigen und bedrohlichen Aspekt gezeigt. Solange man an seinem Ego und der kleinen Welt der damit einhergehenden Bedürfnisse festhält, ist der Versuch der Überwindung dieser Anhaftung existenziell bedrohlich: der Buddha tritt als Monster auf. Aber diese existenzielle Bedrohung ist nur eine Illusion, und sobald eine hinreichende Offenheit erreicht ist, erscheint derselbe Buddha als Glückseligkeit. Die Öffnung des „kleinen Selbst“ wird daher in vielen spirituellen Traditionen als gewalttätig geschildert. Jesus kommt mit einem Schwert (Matthäus 10,34), um das kleine Selbst zu „öffnen“, um inneren und nicht bloß äußeren Frieden zu bringen. Im Buddhismus existiert die Figur des Manjushri, eines Bodhisattva, der mit einem flammenden Schwert dargestellt wird, welches die Unwissenheit zerschneidet und das bloß Vorläufige vom Ewigen zu unterscheiden verhilft. Und dieses Ewige zeigt sich in der Öffnung des erhabenen Moments, wenn Wahrnehmung nicht mehr durch Konventionen gebunden ist. Ewigkeit ist die Erfahrung
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des gegenwärtigen Moments, dem man sich ohne eigenes Wollen und Sprache überlässt.
7.3 Die Inszenierung des Erhabenen im Gesellschaftlichen Eine Diskussion des Charismatisch-Erhabenen und seiner Rolle in der Politik wäre unvollständig, würde man nicht die Inszenierung des Raums miteinbeziehen. Aufmärsche, Militärparaden, das Nürnberger Reichsparteitagsgelände als Ort der Inszenierung des Erhabenen sind Beispiele für die Nutzung eines Gefühls für politische Zwecke. Aber auch bürgerliche Architektur, die an feudalen Vorbildern anknüpft, oder kapitalistische Inszenierungen von Macht durch Architektur nutzt diesen Mechanismus. Letztlich kann eine auf den Effekt des Erhabenen basierende Kultur heroischer, charismatischer Herrschaft Gesellschaft als ein Gesamtkunstwerk des Erhabenen verstehen, bei dem alles in den Dienst der insbesondere affektiven Stützung der Ordnung gestellt wird. Durch seine affektive Ambivalenz eignet sich das Erhabene zur Stützung von Macht besonders gut. Postheroisch-technokratische Gesellschaften sind hinsichtlich ihres affektiven Mehrwerts dagegen blass. Ein Beispiel hierfür ist in Abb. 7 gegeben, eine Fotografie eines Aufmarschs auf dem Reichsparteitagsgelände in den 1930 Jahren in Deutschland. Die bewusste Inszenierung von Licht und Menschenmassen erzeugen die Wirkung nicht nur des Bildes, sondern der Teilnahme an der Inszenierung selbst. Der erhabene Effekt stellt sich nicht durch Chaos ein, sondern durch ein Ausmaß an Ordnung, welches die Fassungskraft übersteigt und zugleich bedroht. Aber auch Gegenbewegungen zur bestehenden Ordnung nutzen die affektive Kraft des Erhabenen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Eugène Delacroix’ Gemälde Die Freiheit führt das Volk von 1830, in dem eine heroische Marianne die Aufständischen der Julirevolution von 1830 anführt. Man kann revolutionäre Bewegungen durchaus als „Kunstwerke des Erhabenen“ verstehen. Im „Ruf der Straße“ liegt eine eigene ästhetische Faszination, die jenseits der konkreten politischen Ziele der Bewegung liegt und die ernst genommen und verstanden werden muss, will man revolutionäre Bewegungen verstehen.
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Abb. 7: Das politische Erhabene, Aufmarsch auf dem Reichsparteitagsgelände in den 1930 Jahren in Deutschland.
Anwendungsfall: Olivier Rolin, Die Papiertiger von Paris Rolin verarbeitet dies in seinem biografisch gefärbten Roman Die Papiertiger von Paris (2003), in dem er auf den Mai 1968 in Frankreich zurückblickt. Rolin war zu der Zeit Mitglied der maoistischen Proletarischen Linken, die sich auf den revolutionären Kampf vorbereitete. In dem Roman fahren Martin und Marie eine Nacht lang auf der Périphérique, der Ringautobahn um Paris, im Kreis. Martin war der beste Freund von Maries Vater, der Selbstmord begangen hat, und Martin versucht Marie die Zeit um Mai 68 zu erklären, vielleicht auch, damit sie ihren Vater besser versteht. Dabei wird deutlich, dass Rolin Martin eine Version der Revolution erzählen lässt, in der es den Mitgliedern nicht primär um „die Sache“ ging, sondern um die Überwindung von Langeweile und Sinnlosigkeit: „Die Vergangenheit widerte uns an, die Zukunft ängstigte uns. Wir waren nirgends, in keiner Zeit. La Cause, dieses Narrenschiff, wird meine einzige richtige Verankerung gewesen sein [...]. [D]ass in uns ein Mangel war, ein Stück Leere und vielleicht sogar ein Gefallen an der Leere.“215 Die Inszenierung des Erhabenen im Gesellschaftlichen
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Es wird sogar in Frage gestellt, dass man das Ziel hatte, die Revolution zu gewinnen. Dies wird auch deutlich daran, dass die revolutionäre Gruppe La Cause zweimal daran scheitert, einen Manager und ehemaligen General zu töten resp. zu entführen. Beim ersten Mal, weil eines der Mitglieder der Gruppe zur Toilette muss, beim zweiten Mal, weil sie sich mit ungeladenen Waffen dumm anstellen. Beide Male scheinen sie erleichtert über das Misslingen zu sein: „Sehr gut möglich, dass die gemeinsame Erfahrung des Lächerlichen [...] zu einer Art paradoxen und geheimen Komplizenschaft geführt hatte, die am Rande der heldenhaften Bilder angesiedelt war, aus denen wir unseren Alltag zusammensetzten.“216
Das Gesagte soll nicht in Frage stellen, dass es Menschen gibt, die sich wegen der Sache engagieren, bis hin zu revolutionärem Engagement. Der Punkt ist vielmehr, dass die Faszination „der Sache“ auch im revolutionären Moment selbst liegt, der auf der Grenze zwischen der bekannten Ordnung und der Offenheit der Zukunft liegt und in der das „kleine Selbst“ überwunden werden kann. Ist es am Ende ein Mangel an Vorstellungskraft, der uns der Faszination von gesellschaftlichen Bewegungen, die in Gewalt münden, erliegen lässt? Kommt hier wieder Lars von Triers Diktum zur Geltung, dass die Dinge ihre ontologische Qualität verändern, wenn es ernst wird; dass sie nicht länger Symbole oder Projektionen sind, sondern rohe Wirklichkeit? Sind sie zunächst nur Spektakel und Kitzel einer in langweiliger, bedeutungsloser Leere gefangenen Existenz, denen man sich hingeben kann in der falschen Überzeugung gefahrloser Distanz? Um dann, wenn es ernst wird, feststellen zu müssen, dass man die Prozesse nicht mehr kontrolliert und sie einen verschlingen? Ist das Abrutschen vom Erhabenen zum Grässlichen nichts weiter als Ausdruck dieses Mangels an Vorstellungskraft? Es gibt aber noch einen dritten Aspekt, der betrachtet werden soll: der darstellende Umgang mit Katastrophen und Gräueltaten in einer Gesellschaft, der auf ein Wahrnehmungsproblem hinweist. Echten Katastrophen oder Gräueltaten durch ihre Darstellung eine erhabene Anmutung zu geben, wird schnell für den Vorwurf einer Ästhetisierung des Grauens genutzt. Diese Erfahrung musste der Filmmacher Werner Herzog (2007) machen, der seinen Ansatz und die Reaktion wie folgt beschreibt: Nur von dieser Erhabenheit wird so etwas wie eine tiefere, dem Faktischen eher feindliche Wahrheit möglich, eine Illumination, eine ekstatische Wahrheit, wie ich es nenne. Bei den brennenden Ölquellen in Kuwait nach dem ersten Krieg gegen den Irak waren die Medien, ich meine hier besonders das Fernsehen, nicht imstande, etwas aufzuzeigen, was jenseits eines Kriegsverbrechens ein Ereignis von kosmischen Dimensionen
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Abb. 8a: Attentat auf die Twin Towers.
Abb. 8b: Zerstörung Dresdens.
war, ein Verbrechen gegen die Schöpfung selbst. In keinem der Bilder in LEKTIONEN IN FINSTERNIS wird man unseren Planeten wiedererkennen können, und deshalb ist der Film als Science-Fiction angelegt, als könne dies nur in einer lebensfeindlichen, fernen Sternenwelt gedreht worden sein. Der Film wurde übrigens bei seiner Uraufführung auf der Berlinale in Deutschland mit einer Orgie von Hass überschüttet, und aus dem wütenden Aufschrei des Publikums konnte ich „Ästhetisierung des Grauens“ heraushören [...].217
Herzog spricht hier von einer Wahrheit, die sich Zahlen, Daten und Fakten entzieht, die erst durch bestimmte Strategien der Ästhetisierung sichtbar gemacht wird: Die Inszenierung des Erhabenen im Gesellschaftlichen
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Abb. 8c: Atompilz.
Wir dürfen das Faktische natürlich nicht ignorieren, weil es ja eine normative Macht hat, uns aber niemals eine Illumination geben kann, eine ekstatische Erleuchtung, die der Wahrheit innewohnt. Wäre das Faktische [...] von so ausschließlicher Bedeutung, so könnte man argumentieren, dass […] die Wahrheit ja am konzentriertesten im Telefonbuch seine Heimat haben müsste: hunderttausende von Einträgen, die alle faktisch richtig sind, also der Wirklichkeit entsprechen.218
Wir haben es dabei letztendlich mit einem moralischen Imperativ zu tun, der umgekehrt einer rein faktenbasierten Darstellung der Wirklichkeit Unmoral durch Verharmlosung vorwerfen kann, da jede Darstellungsweise immer auch ästhetisch wahrgenommen wird. Erhabene Darstellungen evozieren dabei bestimmte Gefühle, die innerhalb dieser moralischen Vorstellung beurteilt werden müssen. Siehe hierzu drei Beispiele in Abb. 8. Abb. 8a zeigt das Attentat auf die Twin Towers in New York, unmittelbar bevor das zweite Flugzeug die Türme trifft. Abb. 8b zeigt die Zerstörung Dresdens und nimmt dabei die Inszenierung von Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer auf. Die Figur im Vordergrund schaut über die Trümmerlandschaft wie der Wanderer über den Nebel. Das Foto entstand vom Rathausturm, und die Figur symbolisierte dort die Güte. Dabei markiert sie eine Grenze zwischen Bild im „Diesseits“ und Betrachter im „Jenseits“ und ist Stell156 |
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vertreterin dieses Betrachters. Abb. 8c zeigt einen Atompilz nach einer Testexplosion. Das Wissen um die überwältigenden Kräfte, die hier freigesetzt werden, und die fremdartige Schönheit des Pilzes verbinden sich bei der Betrachtung zur emotionalen Ambivalenz, die das Erhabene auszeichnet. Gleichwohl gibt es Vorbehalte bei solchen Darstellungen: • Ist das Erhabene die richtige Form der Ästhetisierung des Schreckens, da sie immer eine Distanzierungsstrategie beinhaltet und damit verharmlost? Hier bewegt man sich wohl tatsächlich auf einem schmalen Grat zwischen Verharmlosung und Überforderung. Aus einer ethischen Perspektive hat der Effekt des Erhabenen eine dienende Funktion, die dem dargestellten Sachverhalt Aufmerksamkeit verschafft und zugleich durch das transformative Element im Betrachter einen moralischen Impuls freisetzt. Das kann misslingen. Aber gleichwohl ist das Erhabene prinzipiell geeignet, diesen Effekt zu erzeugen. • Wir hatten zuvor gesehen, dass diese zwischen Überzeugung und Manipulation liegende Funktion des Erhabenen an keine moralische Ordnung gebunden ist. Daher ist nicht sichergestellt, dass eine solche Ästhetisierung in den Dienst der „richtigen“ Sache gestellt wird. Vielmehr muss man sich darauf verlassen, dass in diesem Fall der Filmmacher mit einer mit dem Begriff der Redlichkeit fassbaren Charaktereigenschaft ausgestattet ist. Wir werden uns mit dem Begriff der Redlichkeit im Zusammenhang mit epistemologischen Fragen nach Erkenntnis und Spiritualität in Kap. 10 auseinandersetzen. Was insbesondere an Debatten über die Ästhetisierung des Grauens auffällt, ist, dass sie sich typischerweise an der Darstellung realer Katastrophen oder Gräuel entzünden, nicht an Fiktion. Die Inszenierung des Erhabenen als Spektakel durch die Filmindustrie wird in der Regel problemlos akzeptiert, solange die narrativen Formen unsere Erwartungen an Gewalt und Schrecken nicht brechen. Dann ist es völlig problemlos, dass ganze Planeten ausgelöscht werden (Star Wars) oder Gewalt und Gemetzel detailliert in Szene gesetzt werden (selbst in Kinderfilmen wie Harry Potter). Daraus kann nur geschlossen werden, dass das Wissen um die Fiktionalisierung von Gewalt selbst schon eine Distanzierungsstrategie ist, die es erlaubt, vom Kinosessel oder heimischen Sofa aus den Schrecken der Szene entweder verdrängen oder sogar genießen zu können, ohne dass damit in irgendeiner Form ein moralischer Impuls einhergeht, reale Formen des Grauens zu verhindern. Das Wissen um die Authentizität des dargestellten Grauens ist aus dieser Perspektive ein Realitätsgewinn, eine Veränderung des ontologischen Status, die Distanzierung erschwert. Das Unbehagen, das aus dem Wissen um die Realität des Leidens entsteht, ist dann schon ein Hinweis auf die
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Aktivierung eines moralischen Sinns, den man gern verdrängen möchte, weil er eine Veränderung des eigenen Handelns anmahnt.
7.4 Politik, Krieg und Liminalität Die Erfahrung des Erhabenen erzeugt Energie. Dies öffnet die Perspektive in Richtung von Politik, Krieg und Wirtschaft. Allem kann die ästhetische Qualität des Erhabenen zukommen, wie dies von Ernst Jünger (2013 [1920]) geschildert wird: „Ab und zu, beim Schein einer Leuchtkugel, sah ich Stahlhelm an Stahlhelm, Klinge an Klinge blinken und wurde von einem Gefühl der Unverletzbarkeit erfüllt. Wir konnten zermalmt, aber nicht besiegt werden.“219 Dieses vielleicht irrationale Gefühl der Unverwundbarkeit steht in direkter Korrespondenz zu Kants Konzept des Erhabenen, bei dem die Möglichkeit der Zerstörung gegeben sein kann, welche aber – als homöostatisches Prinzip – aus einer sicheren Distanz erlebt werden muss. Diese sichere Distanz kann, wie das Zitat Jüngers zeigt, durchaus eine sehr abstrakte Qualität annehmen, beispielsweise die Unzerstörbarkeit der Seele oder die Entgrenzung des „Selbst“ zu einem Teil eines universalen Prozesses. Diese Sehnsucht nach Authentizität, Eigentlichkeit, Wildheit geht bis zur Sehnsucht nach (wohl meist einer idealisierten Form von) Krieg: War is the strong life; it is life in extremis; war taxes are the only ones men never hesitate to pay, as the budgets of all nations show us. […] Pacifists ought to enter more deeply into the aesthetical and ethical point of view of their opponents. [...] [H]uman life with no use for hardihood would be contemptible. Without risks or prizes for the darer, history would be insipid indeed.220
James benennt ein Paradox der Moderne: die Ehrfurcht vor den Legenden vergangener Heldentaten bei gleichzeitiger Abscheu vor den damit einhergehenden Gemetzeln. Ursache hierfür ist der Reiz der absoluten Freiheit, die sich im Willen zur Unterordnung des eigenen Lebens unter die eigenen Prinzipien erschließt: Es ist die Regellosigkeit des erhabenen, liminalen Moments. Für ihn, einen liberalen Pazifisten, existiert im Menschen eine tiefe Sehnsucht nach Krieg und Gewalt: The plain truth is that people want war. They want it anyhow; for itself; and apart from each and every possible consequence. It is the final bouquet of life’s fireworks. The
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born soldiers want it hot and actual. The non-combatants want it in the background, and always as an open possibility, to feed imagination on and keep excitement going.221
„Des Lebens Feuerwerk“, „füttern der Fantasie“, „den Reiz aufrechterhalten“: Hier kommt das Bedürfnis nach der Überwindung des Geordneten zum Ausdruck, das sich im Erhabenen findet. Russell, einer der Begründer der Analytischen Philosophie und ebenfalls Pazifist, wird später in Why Men Fight (1917) zum Ausdruck bringen, dass James wie kein zweiter den Mut hatte, das Problem der Gewalt auf adäquate Art zu formulieren. Einen sehr ähnlichen Punkt machte Orwell bei seinem Versuch, die Faszination der Persona Hitler zu verstehen: Hitler knows […] that human beings don’t only want comfort, safety, short workinghours, hygiene […] and, in general, common sense; they also, at least intermittently, want struggle and self-sacrifice […]. Whereas Socialism, and even capitalism in a more grudging way, have said to people ‚I offer you a good time,‘ Hitler has said to them ‚I offer you struggle, danger and death,‘ and as a result a whole nation flings itself at his feet.222
Diese Sicht macht es erforderlich, das Erhabene in der Politik noch aus einer allgemeineren Perspektive anzuschauen.
7.5 Das Erhabene und das Konservative Burke gilt nicht nur als Wiederentdecker und Neubegründer einer Ästhetik des Erhabenen, sondern auch als Begründer des modernen, angelsächsischen Konservatismus. Diese beiden Positionen sind nicht unabhängig voneinander, sondern im Gegenteil auf das engste miteinander verbunden. Autoren wie Adorno, Arendt und Žižek haben auf den Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und dem Totalitären in der Politik hingewiesen, aber es ist informativ, bis zu Burke zurückzugehen, der wohl als Erster diesen Zusammenhang auf auch noch aus heutiger Sicht sehr relevante Weise erarbeitet und dabei die Idee des Konservatismus entwickelt hat. Für Kant basiert auf der Ästhetik ein wichtiger Teil der Urteilskraft, welche neben Vernunft und Verstand die drei Erkenntnisvermögen darstellen. Sie hat die Schlüsselstellung zwischen Verstand und Sinnlichkeit. Wie schon gesehen, unterscheidet Burke wie Kant in seiner Ästhetik zwischen dem Schönen und dem Erhabenen, wobei sich nach Kant das Schöne durch ein „interesseloses Wohlgefallen“ auszeichnet. Das Schöne hat grundsätzlich etwas mit dem Gefühl der SiDas Erhabene und das Konservative
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cherheit und der Kontrolle zu tun: es zeigt sich durch eine Begrenztheit der Form, durch das Gefühl der Beförderung des Lebens. Damit einher geht der Eindruck der Sicherheit und Verständlichkeit. Burkes Denken wendet diese Vorstellung auch auf Gesellschaften und Staaten an. Er identifiziert das Despotische, Mächtige, Disruptive und auf Leidenschaften Basierende in der Gesellschaft mit dem Erhabenen. Demgegenüber stellt er die great society, welche auf Prinzipien der Schönheit und der Liebe gegründet sei. Seine Analyse der Französischen Revolution nimmt ständig Bezug auf Begriffe und Kategorien des Erhabenen: [T]he French Revolution is the most astonishing that has hitherto happened in the world […]. Everything seems out of nature in this strange chaos of levity and ferocity, and of all sorts of crimes jumbled together with all sorts of follies. In viewing this monstrous tragicomic scene, the most opposite passions necessarily succeed.223
Die Französische Revolution ist ein liminaler Moment der Auflösung einer Ordnung, der Durchbruch des Anderen, der aber durch mangelnde Distanz nicht zur erhabenen Erfahrung wird, sondern zum reinen Schrecken bzw. Terror. Aber das Erhabene als Politik- und Gesellschaftsmodell ist nicht nur beschränkt auf einzelne revolutionäre Momente. Progressive Gesellschaftsmodelle sind aus dieser Perspektive Verwandte von despotischen Gesellschaften. In despotischen Gesellschaften zeigt sich das Erhabene direkt durch die Form der Herrschaft, durch Terror als Regierungsmodell. Im Progressiven äußert sich die Vorstellung einer Verbesserung durch (planbare, technokratische) Veränderung. Hierin allein liegt ein liminaler Impuls, ein ständiger Veränderungsdruck, der auch das normale Leben zu einer kontinuierlichen Grenzerfahrung macht. Koppelt man diese Einsicht mit einer epistemischen Skepsis hinsichtlich der Planbarkeit von Prozessen solcher Komplexität, erscheint die Zukunft nicht notwendig als Versprechen einer besseren Welt, sondern auch als Schrecken des „Anderen“. Konservatismus ist aus dieser Sicht eine Zurückweisung des Erhabenen in der Gesellschaft, in ihm drückt sich eine Skepsis hinsichtlich des Progressiven aus. Burke spricht sich klar für die „schöne“ Gesellschaft aus, doch bestreitet er nicht die Realität des Erhabenen. Vielmehr sieht er ein tiefes psychologisches Bedürfnis am Werk, welches Menschen nach dem Erhabenen suchen lässt. Im Politischen haben wir es beim Erhabenen damit nicht mit einer kriseninduzierten Erleuchtungserfahrung zu tun, bei der durch den Zusammenbruch einer bestehenden, dysfunktionalen Ordnung der Weg für eine neue Wahrnehmung geöffnet wird, sondern um eine unkontrollierte Herrschaft des Lustprinzips. 160 |
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Umgekehrt gilt: „The other is the great society with man and all other animals. […] [I]t has no mixture of lust, and its object is beauty […]. The passion of love has its rise in positive pleasure.“224 Wenn das Erhabene Schrecken, Terror, Angst, Erniedrigung und Schmerz hervorruft, führt das Schöne zum Angenehmen, zu Zärtlichkeit und Feinheit. Hier wird noch ein weiterer Aspekt sichtbar. Grunberg (2020) warnt in einer Analyse der gegenwärtigen politischen Situation angesichts von Umweltkrise und Radikalisierung davor, dass der Kitzel des Erhabenen, den die Erzählung apokalyptischer Szenarien haben, zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden können: I remember a couple celebrating New Year’s Eve in a hotel in Davos telling me: „It feels like the Titanic here.“ The couple didn’t really mean that we were all condemned, they were referring to something more erotic. Death was just another game because dying is what other people do; in Davos you can feel invincible, or at least you can cherish the illusion of being invincible. If the apocalypse is just another erotic tool, a device to provide us with a feeling of being alive (travel too is often a way of looking for controlled danger – isn’t that the essence of skiing and snowboarding?), there is a risk of our metaphors and warnings becoming self-fulfilling prophecies. […] The looming catastrophe is simply the most dangerous ski slope, the black diamond, reserved for the most capable.225
Die Gefahr, die im Einsatz des Schreckens des Erhabenen als Belustigungsstrategie eines saturierten und zynischen Bürgertums, als Kitzel in einer ansonsten ereignislosen Welt besteht, ist offensichtlich: Der Eisberg, auf den die Titanic zusteuert, ist echt, der Davoser Zauberberg liegt nicht außerhalb der Welt, so dass jede genüssliche Distanz, aus der man meint, den Schrecken der Apokalypse in einen konsumierbaren bliss verwandeln zu können, eine Illusion ist, die letztendlich dazu beiträgt, dass sie Wirklichkeit wird. Man mag Burkes Darstellung insbesondere der great society verklärend und naiv finden, doch bleibt die Relevanz der Analyse des Erhabenen als gesellschaftliche Kraft hiervon unberührt. Sie führt zu einer Ablehnung von einem Zuviel an Macht, einer Ablehnung des Despotischen und einem Politikstil, der einseitig an die Emotionen der Menschen appelliert: „Rage and phrensy will pull down more in half an hour, than prudence, deliberation, and foresight can build up in a hundred years.“226 Sie führen zu einer Skepsis gegenüber der progressiven Idee der Expertengesellschaft, die definitionsgemäß einen liminalen Druck auslöst und deren Versprechen von Kontrolle auf einer epistemischen Illusion der Voraussagbarkeit und Planbarkeit der Zukunft basiert. Gleichzeitig verbleibt ein Das Erhabene und das Konservative
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Unbehagen: Lässt sich mit dem Verweis auf die den Schrecken des Übergangs und die epistemische Offenheit einer bloß imaginierten nachrevolutionären Zukunft nicht jede Form der Ungerechtigkeit des Status quo rechtfertigen? Die stabile Ordnung des Einen ist die tyrannische Unterdrückung des Anderen. Der Konservatismus eines Joseph de Maistre beklagt den Terror der Französischen Revolution und nimmt schulterzuckend das millionenfache Leid und den Terror hin, der mit der Monarchie einhergeht. Anwendungsfall: Joseph de Maistre Neben Burke gilt de Maistre (1753–1821) als zentraler Begründer des Konservatismus (und für manche als Protofaschist, siehe Berlin 2005). Seine Vision der Gesellschaft resultierte aus einem deutlich dunkleren Menschenbild als dem Burkes, und er warf den Denkern der Aufklärung vor, ihre eigenen Maßstäbe an Rationalität, Wissenschaft und Empirie nicht anzuwenden, wenn es um das ihren Gesellschaftsentwürfen unterlegte Menschenbild geht. Dabei setzte er sich insbesondere mit der unterstellten Rationalität, Friedfertigkeit und Benevolenz des Menschen auseinander. Um zu verstehen, was der Mensch sei, müsse man in die Geschichte oder ggf. die Zoologie schauen, und was man dort lerne, sei etwas ganz anderes als das optimistische Menschenbild z.B. eines Rousseau. Was de Maistre dort erblickt, ist eine Natur, in der das eine Tier das andere Tier in Fetzen reißt, und das Studium der menschlichen Geschichte führt für ihn zur selben Schlussfolgerung. Menschen seien nicht gemacht für Freundlichkeit und Frieden. Sie seien auch nicht gemacht für Freiheit, sondern höchstens für Sicherheit, Stabilität und Autorität. Hier kommt sein Argument gegen die Demokratie und Freiheit ins Spiel: Demokratie basiert auf Debatte und Argumenten. Da diese aber stets revidiert und widerlegt werden können, seien sie keine stabilen Fundamente des Zusammenlebens, so dass Sicherheit nie gewährleistet werden könne. Und daraus leitet de Maistre zwei Schlussfolgerungen ab. Die eine bezieht sich auf die Staatsform, die nicht demokratisch sein darf und die die Natur des Menschen durch die Androhung und Ausführung harter Strafen in Schach hält. Demokratie überfordert den Menschen, so wie de Maistre ihn meint in seiner wahren Natur erkennen zu können. Die Gewalt des autoritären Staats ist das kleinere Übel. Und die andere bezieht sich auf die Legitimation von Herrschaft. Diese müsse dem destruktiven Zugriff des Verstandes entzogen sein, sie müsse im Dunkeln liegen und mit einem Schrecken erfüllt sein, so dass niemand sie anzuzweifeln wagt. Uns interessiert hier nicht die Plausibilität dieses Menschenbilds und die Konsis-
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tenz der Ableitung einer Gesellschaftsordnung.227 Vielmehr interessant ist, wie Elemente des Erhabenen in diese hineinspielen. Der totalitäre Staat bietet nach de Maistre die Ordnung und Sicherheit, die der Mensch eigentlich will. Außerhalb seiner Grenzen ist das Chaos, in dem die destruktiven Tendenzen des Menschen sich durchsetzen. Der Schrecken lauert im Menschen selbst, in seiner Natur, und die Mauern des totalitären Staats dürfen niemals eingerissen werden. Und auch die Struktur des Gründungsmythos ist interessant. Er wird als absolute, unhintergehbare Grenze konzipiert, hinter der gleichwohl der Schrecken wartet.
Das Erhabene entstand in einer zunehmend säkularen Gesellschaft auch aufgrund des Verlusts einer religiösen Quelle von Sinn und Transzendenz. Eine solcherart durch den liminalen gesellschaftlichen Druck entwurzelte und durch die individuellen Vermeidungsstrategien von Grenzerfahrungen entfremdete Gesellschaft, deren Möglichkeiten von Sinn und Zugehörigkeit im Säkularen erschöpft sind, ist anfällig für das Versprechen des Politisch-Erhabenen nach Begeisterung, Leidenschaft und Rausch. Wir enden bei einer interessanten Analogie: Die konservative Rechtfertigung des (alten) Totalitären ist ein Zurückschrecken vor dem Politisch-Erhabenen. Im Politisch-Erhabenen selbst kann aber auch ein Versprechen des (neuen) Totalitären liegen, welches wie eine Droge wirkt, die man immer wieder nehmen muss, auch wenn man weiß, dass sie einen zugrunde richtet. Das Aufgehen des Individuums in der Gruppe, die Unterwerfung unter eine große Idee oder einen charismatischen Führer sind Sinnersatz und der Versuch, die Mauer der Uneigentlichkeit zu durchbrechen.
7.6 Zwischenfazit Wir hatten in Kap. 1 schon auf die Forschung Atrans zu den Beweggründen, sich radikalen und militanten Organisationen wie dem IS anzuschließen, verwiesen. Dieter Thomä (2016) stellt in seiner Studie über staatliche Ordnung und ihre Bedrohung durch „Störenfriede“ die Position Carl Schmitts, eines Theoretikers des „totalen Staats“, wie folgt dar: Dem Menschen, der [...] auf sein „Einzelglück“ fixiert ist, bleiben die „großen und bewunderungswürdigen Augenblicke“ des Lebens verschlossen, die er in der „Hingabe an die Sache“, dem „Aufgehen in der Aufgabe“ erfährt. Schmitt legt dem Menschen nahe, sich vom liberalen Individualismus zu verabschieden, also Abstand zu nehmen Zwischenfazit
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von der „Zweigliedrigkeit [...], dem Gegensatz von Staat und freier Einzelperson, von staatlicher Macht und individueller Freiheit, von Staat und staatsfreier Gesellschaft, von Politik und unpolitischer, daher unverantwortlicher und unkontrollierter Privatsphäre.“ Der Weg aus den „Sackgassen des liberaldemokratischen Systems“ führt am Ende zur Identifikation der Menschen (oder der Deutschen) mit dem „totalen Staat“ oder dem „totale[n] Führerstaat“ sowie zu einer Konzeption von Demokratie, in der das Individuum überwunden und die Homogenität des Volks, des demos hergestellt wird.228
Hier kommen die Vorstellungen von Ordnung als Homogenität und von Sinn als Überwindung des „kleinen Selbst“ zusammen. Wie der Nationalsozialismus zeigte, wurde das „Andere“ durch Umerziehung, Vertreibung und Mord auszumerzen versucht. Beim totalen Staat gibt es kein „hinter der Grenze“, und wir kommen zu einem paradoxen Endpunkt der Überwindung des „kleinen Selbst“ in der Masse, die zusammengesetzt ist aus lauter identischen „kleinen Selbst“; es ist eine Überwindung ohne Risiko. Vielmehr versteckt sich hier eine Angst, die so groß geworden ist, dass sie das Andere gar nicht mehr zulassen kann.229 Die Verschmelzung in der Masse und das Aufgehen in der gemeinsamen Sache, die sich auch in der Darstellung „erhabener Ordnung“ manifestiert, ist aber gleichwohl ein psychologisch mächtiger Antrieb. Nach Atran (2017) zeigt sich hierin eine Angst im Umgang mit Freiheit und einer Suche nach Sinn oder Bedeutung im Leben. Die Hinwendung zu einem autoritären System verspricht beides zu lösen. Atrans empirische Arbeiten in Europa, Nordafrika und dem Mittleren Osten zeigen, dass die Bereitschaft zur Erbringung von Opfern für die Gemeinschaft mit den transzendentalen, spirituellen Werten steigt, die diese Gemeinschaft verspricht. Dies gilt für islamistische ebenso wie für rechtsextreme Bewegungen. Für ihn ist die Lösung dieser Probleme nur möglich, wenn sie in Kategorien wie Sinn, Zugehörigkeit und Würde gedacht wird. Es geht nicht (nur) um materielle Aspekte wie Jobs und Einkommen, solange diese nicht mit den obigen Kategorien verbunden werden können. Die Erfahrung von Zugehörigkeit und Ehrfurcht, die zentral für das Empfinden von Sinn und mit dem Erhabenen eng verknüpft sind, stehen in Zusammenhang mit Angst und Vertrauen. Atran (2017) fasst dies wie folgt zusammen: Few of us will ever be free from the anxiety of never-ending change and choice. Some may never escape the hopeless delusion that life must never shift, a sense that can only lead to dread of difference in others. But we still share common grounds of shared passions and ideas in a world where all but the too-far-gone can live with more than a
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minimum of liberty and happiness, if given half a chance. It is for this chance that some of our forebears fought a revolution, civil war and world wars.230
Die positive Perspektive, die er hier eröffnet, ist nach all dem Gesagten aber nur glaubhaft, wenn die Verteidiger universalistischer Werte und Prinzipien von Toleranz und Freiheit ebenfalls Sinn glaubhaft machen können. Es gibt einen ausgetretenen Pfad vom Grat des Erhabenen ins Tal des Gruppenverhaltens und des Totalitarismus. Hier verwirklicht sich eine Form von Sinn als Selbstüberwindung und Zugehörigkeit. Dies zu bestreiten, heißt, der Wirklichkeit nicht ins Auge schauen zu wollen. Die auf den bahnbrechenden Arbeiten von Tajfel und Turner (1979, 1986) aufbauende Forschung zur Social-Identity-Theorie,231 zur neuroanatomischen Kodierung von Gruppendiskriminierung,232 die evolutionsbiologischen Modelle der Entstehung von Gruppenverhalten233 und die Forschung zur Rolle des Neuropeptids Oxytocin bei gruppenkooperativem Verhalten234 sprechen eine klare Sprache: Es ist sehr einfach, Gruppenverhalten auszulösen, und Erfahrungen von Sinn, Ehrfurcht etc. sind phänomenologisch-narrative Korrelate der zugrundeliegenden biologischen Mechanismen.235 Dies rechtfertigt auf der normativen Ebene nichts, doch hilft es, Verhaltenstendenzen besser zu verstehen. Daher stellt sich die Frage, ob es vom Grat des Erhabenen auch einen Pfad in ein anderes Tal gibt, in dem „Selbstlosigkeit“, Zugehörigkeit, Angstfreiheit und Sinn in einer auf universalistischen Werten aufbauenden Gesellschaft erfahrbar werden. Schaut man so noch einmal auf die pessimistischen Erzählungen z.B. Taylors, so sieht man, dass viel auf dem Spiel steht: Seine These lässt sich so zuspitzen, dass säkulare Gesellschaften zumindest in ihrer derzeitigen Verfasstheit des immanenten Rahmens dazu nicht in der Lage sind. Es ist das Ziel der Kap. 10–14, den Nachweis zu erbringen, dass es auch in einer säkularen Gesellschaft einen solchen Pfad gibt, und dass er begangen werden kann, ohne dabei auf die üblichen Standards von Rationalität, Vernunft und Wissenschaftlichkeit zu verzichten. Von der dort eingenommenen Perspektive aus erscheinen die Versuche der Selbstüberwindung durch Gruppenidentitäten, Abgrenzung und Totalitarismus als tragische und letztlich zum Scheitern verurteilte Versuche der Sinngebung, die auf einem mangelnden Verständnis der Grundlagen des eigenen Fühlens und Denkens basieren.
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7.7 Verhinderungsstrategien erhabener Momente Wenn die hier implizit unterstellte Psychologie stimmt, dann gebiert eine postheroische Gesellschaft immer wieder ihre „Monster“. Viel spricht dafür, wenn man sich die Geschichte und die Menge an kulturellen Artefakten anschaut, die vor dem Hintergrund des Konzepts des Charismatisch-Erhabenen produziert werden. Gleichzeitig leidet die Idee des Heroischen unter der Ambivalenz zwischen Erhabenheit und Lächerlichkeit und kann ironisch dekonstruiert werden. Beispielsweise Charles Chaplins Film The Great Dictator kann als Versuch gewertet werden, die Ästhetik der Nationalsozialisten der Lächerlichkeit preiszugeben, siehe Abb. 9. Diese Überlegung legt es nah, dass bestimmte Aspekte des Phänomens des Humors Verwandtschaft mit dem Erhabenen besitzen. Humor basiert häufig darauf, dass zunächst eine Erwartung aufgebaut wird, die dann nicht eingehalten wird, mit anderen Worten im Sinne des Predictive-Coding-Modells ein Erwartungsfehler erzeugt wird (für Freud (1992 [1927]) ist Humor eine Zersetzung von Erwartungen). Das Gelächter ist die emotionale Auflösung des Erwartungskonflikts, die die Rolle des Glückszustands (bliss) einnimmt. Dieser Gedanke geht auf Jean Paul (1804) zurück, der im Humor eine Form des „umgekehrt Erhabenen“ sah: Der Verstand und die Objekten-Welt kennen nur Endlichkeit. Hier finden wir nur jenen unendlichen Kontrast zwischen den Ideen (der Vernunft) und der ganzen Endlichkeit selber. Wie aber, wenn man eben diese Endlichkeit als subjektiven Kontrast jetzo der Idee (Unendlichkeit) als objektivem unterschöbe und liehe und statt des Erhabenen als eines angewandten Unendlichen jetzo ein auf das Unendliche angewandte Endliche, also bloß Unendlichkeit des Kontrastes gebäre, d.h. eine negative? Dann hätten wir den Humor oder das romantische Komische.236
Hierin – und ebenfalls vereinbar mit der Lesart der Predictive-Coding-Theorien – sieht Bataille (1989) das Lachen als einen Effekt des Unbekannten, dem man sich bewusst wird, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden. Humor wird damit aus einer psychologisch-homöostatischen Perspektive zu einer möglichen Strategie im Umgang mit einer Realität, die sich Wünschen und Erwartungen widersetzt: Das Ich verweigert es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen zu lassen, es beharrt dabei, dass ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahe gehen können, ja es zeigt, dass sie ihm nur Anlässe zu Lustgewinn sind [...]. Der Humour ist nicht resigniert, er ist trotzig, er bedeutet nicht nur den Triumph des Ichs,
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sondern auch den des Lustprincips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag.237
Er steht für Critchley (2002) damit in oppositioneller Verwandtschaft zur Depression: „Humour has the same formal structure as depression, but it is an anti-depressant that works by the ego finding itAbb. 9: Charles Chaplin (1989–1977), Der große Diktaself ridiculous.“238 Humor, so tor (1940). kann man schließen, ist eine psychologische Strategie der Distanzierung, die für Kant elementar zum Erleben des Erhabenen ist. Humor, folgt man dieser Sichtweise, kommt aber von einem „dunklen“ Ort der Melancholie oder des Schreckens vor dem Abgrund des Unerklärlichen. Das Erhabene birgt aber insbesondere in seiner künstlerischen Darstellung eine weitere Gefahr, auf die immer wieder hingewiesen wurde, hier in der Formulierung von Thomas Paine (2018 [1794–1807]): „The sublime and the ridiculous are often so nearly related, that it is difficult to class them separately. One step above the sublime, makes the ridiculous; and one step above the ridiculous, makes the sublime again.“239 Ist die Musik von Wagner erhaben oder pompös? Sind die Gemälde von Bierstadt erhaben oder Kitsch? Wie verhält es sich mit Star Wars? Beim Erhabenen macht man ernst, man exponiert sich. Ironie und Zynismus können als Abwehrmechanismen gegen ein solches Gefühl des Ausgeliefertseins gedeutet werden, und sie stehen im Hintergrund bereit. Bei dieser Infragestellung spielt die in Kap. 2 eingeführte Figur des Tricksters eine zentrale Rolle. Es gibt wohl keine Figur, die so sehr verwirrt wie er. Man kann ihn für seine Wohltaten achten, und dann wieder ist er asozial oder ein Idiot. Babcock-Abrahams (1975) sieht die kontinuierliche und interkulturelle Faszination für den Trickster darin begründet, dass er an die Möglichkeit erinnert, die soziale Ordnung zu durchbrechen. Der Trickster verkörpert eine Macht, die aus einer Übertretung von Grenzen, von einer Existenz in Zwischenräumen resultiert „His beneficience, though central, results from the breaking of rules and the violating of taboos. He is, therefore, polluting […] and must remain marginal and peripheral, forever betwixt and between.“240 Er thematisiert den Verhinderungsstrategien erhabener Momente
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Prozess der Kultivierung selbst, mit all seinen moralischen Setzungen, Gewinnen an Sicherheit und Verlässlichkeit und Verlusten an Freiheit und Wildheit. Das Auftreten des Tricksters erinnert an die Möglichkeiten jenseits der Ordnung, die aber nur in gemäßigter Form genossen werden dürfen, beispielsweise im Karneval, in dem uns Trickster-Figuren wie sonst kaum begegnen. Trickster im Allgemeinen heben aber auch den Unterschied zwischen dem Tragischen und Komischen sowie dem Erhabenen und dem Lächerlichen auf. Babcock-Abrahams (1975, S. 153 f.) verweist darauf, dass in der jüdischen und christlichen Tradition das Tragische im Vordergrund stehe, so dass die soziale Ordnung dadurch wiederhergestellt werde, dass der Normübertreter bestraft, das Böse auf ihn projiziert und damit gleichzeitig zu einem Akt der Auflösung von Ambiguität werde. Daher komme man auch in dieser Tradition schwierig mit der anderen Logik des Tricksters zurecht, bei dem Normübertretung typischerweise komische Effekte habe und zu einer Einbeziehung in die Gemeinschaft und zu einer Reduktion von Hierarchien führe. Der Trickster nutzt Chaos, um die Ordnung und ihre stabilisierenden Mythen zu einer Farce zu machen. Anwendungsfall: Umberto Eco, Der Name der Rose Ecos Roman Der Name der Rose (1982) ist neben vielem anderen auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema der subversiven Rolle des Lachens. Der Protagonist William von Baskerville wird in einem Kloster Zeuge einer Mordserie, die er schließlich aufklärt. Es stellt sich heraus, dass der blinde Mönch Jorge de Burgos für die Morde verantwortlich ist, weil er verhindern wollte, dass das in der Klosterbibliothek vorhandene, aber als verschollen geglaubte zweite Buch der Poetik des Aristoteles in die falschen Hände kommt (dass es ein solches geben sollte, ist historisch belegt, aber man streitet bis heute, ob es verschollen ist, niemals geschrieben wurde oder nur in Teilen vorliegt). Dazu bestrich er die Seiten mit einem Gift. Dieses Buch sollte die Komödie, den Humor und die Lächerlichkeit behandeln. In Ecos Buch findet sich das folgende Zitat: „Lachen tötet die Furcht und ohne Furcht kann es keinen Glauben geben. Wer keine Furcht mehr vor dem Teufel hat, braucht keinen Gott mehr […] dann können wir auch über Gott lachen.“
Wir haben hier eine doppelt befreiende Funktion des Lachens: Zum einen erlöst es vom Schrecken „hinter der Grenze“, und zum anderen ist der Witz ein Angriff auf jede Form der Kontrolle.241
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8. Das Erhabene seit dem 20. Jahrhundert The totality of our so-called knowledge or beliefs, from the most casual matters of geography and history to the profoundest laws of atomic physics or even of pure mathematics and logic, is a man-made fabric which impinges on experience only along the edges. Willard Van Orman Quine (1953)
Im 20. Jahrhundert findet sich sowohl ein Diskurs zum Erhabenen in der Moderne als auch in der Postmoderne. Eine Abgrenzung eines modernen von einem postmodernen Begriff des Erhabenen ist schwierig und für unsere Zwecke unwesentlich. Beide Deutungen des Erhabenen sind deutlich abstrakter und damit allgemeiner als zuvor. Lyotard ist einer der wichtigsten Theoretiker des postmodernen Erhabenen; er sieht in ihm den paradoxen Versuch der Präsentation des Nichtrepräsentierbaren. Die Erfahrung des Erhabenen resultiert dann aus einer Krise der Fähigkeit zur Repräsentation im Sinne eines unauflösbaren Konflikts zwischen Wahrnehmung und einer Menge von Objekten, die ihr prinzipiell nicht zugänglich sind, die sie aber gleichwohl zu repräsentieren versucht: „Lyotard identifies the experience of sublimity as the simultaneous feeling of pleasure and pain that accompanies the imagination’s inevitably failed attempt to present to thought an intuition that would adequately correspond to an idea of the absolute generated by the faculty of reason.“242 Lyotard (1994) unterscheidet zwischen zwei ästhetischen Qualitäten, einem nostalgischen und einem progressiven, Avantgarde-Erhabenen. Im Nostalgischen sieht er eine konservative Fortschrittsskepsis, die sich ästhetisch einer das Erhabene evozierenden Formensprache aus der Vergangenheit wie aus einem Baukasten bediene. Das Erhabene der Avantgarde hingegen versuche sich an der Repräsentation des Nichtrepräsentierbaren. Anwendungsfall: Barnett Newman Barnett Newman setzte sich nicht nur als Maler mit dem Erhabenen auseinander, sondern trug mit seinem Essay The Sublime Is Now (1948) maßgeblich zu der Wahrnehmung des Konzepts in der Moderne bei. Newman diskutierte darin die Verhinderungsstrategien erhabener Momente
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Konzepte des Erhabenen nach Longinus, Burke und Kant im Kontrast zu den unterschiedlichen Aspekten des Schönen. Dabei wendete er sich vom Element des Schönen ab und bevorzugte das Ziel des Erhabenen in dieser Kunstströmung. Somit verwarf Newman die bisherige Funktion der Mythenbildung und Nostalgie als eine Art „falsches Erhabenes“, um eine neue Basis für ein „existenzielles Selbst“ zu schaffen.243 Das „wahre Erhabene“ widerspiegelte sich für ihn vielmehr in der aus der Romantik entspringenden Vorstellung der Originalität des Kunstschaffenden. Demnach sollte das moderne Gemälde die betrachtende Person im „Hier und Jetzt“ des Betrachtens konfrontieren und eine direkte Begegnung zwischen der Leinwand und dem Betrachtenden eröffnen. Formlosigkeit und Abstraktheit bildeten dabei den Kern der Gemälde. Jegliche Repräsentation von Objekt oder Subjekt wurde dabei verneint.244 Siehe als Beispiel Abb. 10. Dabei ist der Begriff „Gemälde“ wichtig: Danto (2002) nimmt in seiner Auseinandersetzung mit Barnett Newmans Kunst die Unterscheidung zwischen Bild und Gemälde auf. Ein Bild schafft einen illusionären Raum, in dem die Pigmente auf dem Malgrund auf etwas anderes verweisen als auf sich selbst. Die Betrachterin oder der Betrachter schauen sozusagen durch die Oberfläche des Bildes auf etwas anderes, auf einen symbolischen Raum von Bedeutungen. Ein Bild verweist also immer auf etwas anderes, außerhalb von ihm. Ein Gemälde auf der anderen Seite verweist nur auf sich selbst, die Anordnung der Pigmente auf der Fläche steht für nichts anderes als eben diese Anordnung, keine Jungfrau Maria mit Engeln, keine heroische Schlacht. Ein Bild ist ein Vermittler zwischen Betrachter und einer Vorstellung, ein Gemälde ist kein Vermittler. Ein Bild hat eine Bedeutung jenseits seiner selbst. Vorstellungen wie „Einssein“ oder „absolute Größe“ stoßen an die Grenze der Darstellbarkeit in einem endlichen Rahmen. Danto (2002) sieht das Problem wie folgt: „[C]onsider the Sistine ceiling, where Michelangelo produces a number of pictures of God. Great as these are, they are constrained by the limitation that pictures can show only what is visible, and decisions have to be made regarding what God looks like. How would one picture the fact that God is one?“245 Gemälde sind durch den Umstand, dass sie auf nichts anderes verweisen, diesen Beschränkungen nicht unterworfen: „Abstract painting is not without content. Rather, it enables the presentation of content without pictorial limits. That is why, from the beginning, abstraction was believed by its inventors to be invested with a spiritual reality.“246 Nach Danto ist für Newman der Mensch erhaben, indem er sich seiner Situation und Eingebundenheit bewusst wird. Diese Selbst-Achtsamkeit als eine Haltung der nichtinterpretierenden Offenheit löst Dichotomien zwischen Betrachterin und Betrachtetem auf und verändert Wahrnehmung zu einem Prozess des In-der-Welt-Seins.
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Die Malerei macht hier etwas Neues sichtbar. Wie wir in Kap. 6 gesehen haben, wird es als Qualität mythischen Denkens gesehen, dass es keine Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz gibt.247 Ein Gemälde im obigen Sinn verweigert sich ebenfalls dieser Dichotomie, es ist ganz Teil einer sich rational verstehenden Moderne, und zugleich hält mit ihm die besondere Qualität der mythischen Wahrnehmung Einzug in sie, gerade weil diese Moderne kein „Außen“ anerkennen kann. Hier verstecken sich auch politische Implikationen, auf die wir später zurückkommen werden.
Abb. 10: Barnett Newman (1905–1970), Vir Heroicus Sublimis (1950–1951), 242,3 cm × 541,7 cm.
Ähnlich wie Newman unterscheidet Lyotard zwischen einem Kunstwerk, welches etwas anderes repräsentiert (Transzendenz), und einem Kunstwerk, welches sich nur auf sich selbst bezieht (Immanenz). Dabei baut er auf Burke auf, der das Erhabene nicht als Form der Transzendenz, sondern der Intensivierung versteht. Das Erhabene als voraussetzungsloses Schauen macht sich gerade von Ordnung und damit Vergangenheit frei, und daher kann sich das erhabene Kunstwerk nur auf sich selbst beziehen. Das sich in diesem Moment Zeigende versteht er als Ereignis: es ist nicht fassbar, da Fassbarkeit eine Ordnung voraussetzt, und doch ist es „da“. Aus dieser Ambivalenz entsteht für Lyotard die affektive Tönung der (existenziellen) Angst und ein Schrecken, der Ergebnis dieser Abwesenheit von Beherrschbarkeit ist. Umgekehrt ist Ordnung, Sprache, Kultur daher Ergebnis eines Versuchs der Reduktion existenzieller Ängste durch die Schaffung eines Anscheins der Beherrschbarkeit. Mit Lyotard hat sich über Adorno hinaus noch ein weitergehender Zweifel an den Möglichkeiten der Vernunft ergeben, insbesondere an einer „Metaphysik des Fortschritts“. Für ihn hat die Ästhetik der Moderne das Progressiv-Erhabene nur als abwesenden Inhalt eingefügt, wohingegen die Postmoderne auf der Suche Verhinderungsstrategien erhabener Momente
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nach Darstellungsweisen sei, die das Gefühl für das Undarstellbare schärfen solle. Sein Anknüpfungspunkt bei Kant und seine Anwendung auf die Kunst bietet sich an: Eine am Erhabenen orientierte (ästhetische) Theorie ist stets mit dem Problem konfrontiert, das etwas Nichtsprachliches, Nicht-Gedankliches nicht vollständig gedacht werden kann. Moderne Kunst zeichnet sich durch ihre unendliche Interpretierbarkeit aus und wird damit zur Nachfolgerin der erhabenen Natur der Romantik oder der Nichtdarstellbarkeit Gottes der Negativen Theologie. Die Unfähigkeit, das Kunstwerk vollständig zu erfassen, öffnet die Möglichkeit für das Kunstwerk, Darstellung des Unfassbaren zu werden. Die Leerstelle im Bild wird zur Veranschaulichung des Absoluten. Abb. 11 Robert Rauschenberg (1925–2008), Erased De Kooning Drawing (1953).
Nach Lyotard initiiert ein modernes Kunstwerk eine Erfahrung des ProgressivErhabenen: „[It] presents something, though negatively; it will therefore avoid figuration or representation. It will be ‚white‘ like one of Malevitch’s squares; it will enable us to see only by making it impossible to see; it will please only by causing pain.“248 Negative Repräsentation bedeutet, dass Leerheit und Abwesenheit aufeinander verweisen und eine Spannung entstehen lassen, die die Versprachlichung und Interpretation des Kunstwerks an seine äußerste Grenze führt. Dies führe nach Lyotard zu einem epiphanen Moment, einen Moment der plötzlichen, unerwartet auftretenden Erkenntnis, in dem sich das Unaussprechliche dieser Erfahrung zeige. Da sich die präsentierte Wirklichkeit nicht fassbar machen ließe, bliebe es unmöglich, 172 |
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einen ganzheitlichen Sinn in der Gesamtheit der Welt zu schaffen. Der Schmerz, der aus dem Versuch einer Präsentation des Nicht-Darstellbaren resultiere, geht nach Lyotard im Gegensatz zu Kants Vorstellung jedoch mit einem Gefühl des Genusses einher. Solche Freude basiere demnach auf der Anstrengung des Versuchs, eine allumfassende Realität in dem Kunstwerk zu präsentieren, der unvollendet bleiben müsse. Die unerwartete Erkenntnis einer Verbindung der Betrachterin zum NichtDarstellbaren und Unaussprechlichen ermöglicht für Lyotard eine Art von Spiritualität fernab von Religion.249 Somit verweist das Erhabene nach Lyotard auf die Begrenztheit des menschlichen Verstands und verdeutlicht die Grenzen jeglicher konzeptionellen Ordnung, mit der der Mensch versucht, das Unfassbare greifbar zu machen. Die Erkenntnis dieser menschlichen Begrenztheit bezeichnet für ihn die Unbeständigkeit als zentrales Charakteristikum der Postmoderne. Diese abstrakte Konzeption des Progressiv-Erhabenen zeigt die zentralen Elemente einer Wahrnehmungsverschiebung auf: das Verschwinden einer sprachlichen, auf unsere alltäglichen Belange hin kalibrierten Deutung des Seins und die daraus entstehende tatsächlich als befreiend erlebte Freiheit, die in der interesselosen Gegenwärtigkeit des In-Der-Welt-Seins begründet ist. Hier entsteht die Möglichkeit einer Leere als Fülle. Anwendungsfall: Robert Rauschenberg Rauschenberg thematisierte Leere als zentralen Bestandteil seines Schaffens. Als Schöpfer von Bildern wie White Painting oder Erased De Kooning Drawing trieb er die Erörterung weiter. Die Serie an weißen Leinwänden, die Rauschenberg mit den White Paintings schuf, verursachen bei der betrachtenden Person fokussierte Aufmerksamkeit, was sich auf das allgemeine Bewusstsein ausdehnt. Frei von Deutungszwang inszenieren diese weißen Bilder die Leere und weisen einen Zugang zum everyday sublime, auf das wir in Kap. 12 genauer eingehen werden: Licht, Schatten, Eigenheiten des Farbauftrags können plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und damit vom unwichtigen Hintergrund zum zentralen Vordergrund werden. Hier haben wir eine Parallele zur daoistischen Vorstellung des Dao als generativer Kraft, aus der immer neu die Zehntausend Dinge des Alltags aufscheinen, um im nächsten Moment wieder zu vergehen. In seinem Werk Erased De Kooning Drawing (Abb. 11) wird noch eine andere Form der Leere thematisiert. Es handelt sich um ein fertiges Bild Willem de Koonings, welches Rauschenberg wieder von der Leinwand entfernte. Es finden sich lediglich Spuren und Andeutungen des ursprünglichen Bilds. Dies ist durch den Titel des Bilds mit dem Wissen verbunden, dass diese Leere auf eine vorherige Fülle bezogen ist. Die von Newman geforderte Geschichtslosigkeit, die dem ErhabeVerhinderungsstrategien erhabener Momente
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nen notwendig innewohnt, wird hiermit thematisiert. Es ist der liminale Moment der Auslöschung der alten Ordnung, der hier festgehalten ist und damit zum Symbol wird für ein voraussetzungsloses Schauen als Endpunkt eines Prozesses der Überwindung von Voraussetzungen. Anwendungsfall: John Cage Cage in Zusammenhang mit Rauschenberg zu diskutieren, drängt sich auf. In Bezug auf sein Stück ohne Noten 4’33’’ schrieb er: „To Whom It May Concern:// The white paintings came// first; my silent piece// came later.“250 Was ist damit gemeint? Cage ist wahrscheinlich der wichtigste Komponist des 20. Jahrhunderts, dessen Musik Stille, Leere, Ordnung und Überwindung von Ordnung thematisiert. Dabei war er stark durch das Zen-buddhistische Denken Suzukis beeinflusst, und einige seiner Stücke, allen voran das berühmte 4’33’’, einem Klavierstück in drei Sätzen, bei dem zu Beginn der Pianist das Piano schließt und dann für 4 Minuten und 33 Sekunden keinen Ton spielt, lassen sich als musikalischer Kōan oder als meditativer Akt des voraussetzungslosen Im-Moment-Seins rekonstruieren. Herwitz (1988) bemerkt dazu: Cage asks us to imagine hearing sound as neither structured nor expressive, and we need to imagine what that would be like. Perception is inherently structure-imputing: the eye or ear descries surfaces, seeking coherent patterns. With Cage’s proposal that perception cease to do this we seem to lose all grip on the concept of perception.251 Was ins Zentrum rückt, sind dabei die alltäglichen Geräusche des Hintergrunds, der Straßenlärm, der durch die Fenster drückt, das Räuspern eines Zuhörers. Der Rahmen, den dieses Stück schafft, holt diese Geräusche in den Vordergrund und verändert die Wahrnehmung von und die Erwartung an Klang und Musik. Es ist eine Erziehung zum everyday sublime, es ist eine Schule des Hörens. In einem Interview von 1988 sagte Cage, dass er sein Stück 4’33’’ ständig in seinem Leben nutze: „No day goes by without my making use of that piece in my life and in my work [...]. More than anything else, it’s the source of my enjoyment of life.“252 Es ist damit auch ein radikal egalitäres und zugleich befreiendes Stück, seine „Aufführung“ ist an keine Zeit und keinen Konzertsaal gebunden, es kann jederzeit und überall aufgeführt werden, indem man sich dem „Klang“ der Wirklichkeit zuwendet. In einem Fernsehinterview von 1991 beschreibt er die radikale Geschichts- und Verweislosigkeit, die für ihn „Musik“ hat, wie folgt: People expect „listening“ to be more than listening. And so sometimes they speak of „inner listening“, or the „meaning of sound“. When I talk about music, it finally comes to people’s mind that I’m talking about sound that doesn’t mean anything, that is not „inner“ but is just „outer“. And people who understand that say: „you
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mean it’s just sounds?“, thinking that for something to just be a sound is to be useless. Whereas I love sounds, just as they are. And I have no need for them to be anything more, than what they are. I don’t want them to be psychological. I don’t want a sound to pretend that it’s a bucket, or that it’s president, or that it’s in love with another sound. I just want it to be a sound.253 4’33’’ und seine späteren Zufallskompositionen bringen sich selbst an die Grenze des musikalischen Ausdrucks und erzeugen damit eine Krise des Hörens, da das Wissen um die Zufälligkeit ihres Entstehens in Konflikt kommt mit dem automatischen Bedürfnis nach Mustererkennung durch die Hörenden. Mustererkennung bezieht sich aber immer auf Gedächtnis, Geschichte, Konvention. Diese sind hier aufgelöst. Das Verfahren entspricht der Zen-buddhistischen Meditationspraxis, in der die sprachliche Vernunft durch die Arbeit am Kōan in Konflikt gebracht wird, was eine Krise herbeiführen soll, die dann in Erkenntnis (Satori) umschlägt. Herwitz (1988) schließt daraus: „Cage’s 4’33’’ is not merely a rhetorical instrument; it is an object transfigured, a modernist epiphany [...].“254 Und mit Verweis auf den gedanklichen Hintergrund Cages: [...] Cage believes his radical claims no more than the Zen master believes that one can answer the question of what the sound of one hand clapping is. The Zen master asks his question in full view of its incoherence. It is at best a kind of problematical question, meant to throw the act of questioning and answering into relief. The disciple’s frustrated attempts to formulate the sense in such a question are meant to lead him or her to let go of the need to take words as having sense and import. [...] It is a kind of training (like meditation or riding a bicycle), cultivating a way of seeing. [...] In it belief and philosophy need play little role, because one is not being trained to believe anything but rather simply to let go of certain beliefs and attitudes. [...] What we submit to when we are captured by Cageian epiphany is the sense that we are being detached incomprehensibly from our modes of perception and restored to the totally ordinary, which is now transfigured into the totally extraordinary.255
Aufbauend auf Wittgensteins Konzept der Sprachspiele kommt Lyotard weiterhin zu dem Schluss, dass das Erhabene an den „Rändern“ unterschiedlicher Sprachspiele oder bei Überschreitung dieser aufscheint. Innerhalb eines Sprachspiels herrscht Vertrautheit. Avantgarde-Kunst setzt für ihn gerade an diesen Rändern an und konfrontiert uns mit ihnen und dem Unerwarteten. Dadurch ist diese Kunst auch immer nur temporär. Auf der Ebene der Sprache ergeben sich dann zwei besondere Erfahrungen des „Anderen“. Es gibt den Bereich des durch kein Sprachspiel Sagbaren, des prinzipiell Unaussprechlichen. Und es gibt die prinziVerhinderungsstrategien erhabener Momente
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piellen Unvereinbarkeiten zwischen Sprachspielen von prinzipieller Unübersetzbarkeit. An diesen Klippen entstehen Machtgefälle zwischen Gruppen, wenn z.B. das Sprachspiel der einen Gruppe einer anderen aufgezwungen wird, und daraus resultiert für Lyotard eine ethische Dimension des Erhabenen. Die Unterscheidung zwischen einem nostalgischen und einem progressiven Erhabenen zeigt aber vor allem auch die Versatilität und Präsenz des Phänomens. Eine sich progressiv-links verstehende Person wie Lyotard gibt dem Konzept eine progressive, kapitalismuskritische Färbung, welche zugleich das konservative Festhalten an der erhabenen Formensprache der Antike und Klassik ins Lächerliche zieht und unter Kitschverdacht stellt. Und eine sich konservativ verstehende Person nutzt dasselbe Phänomen, um genau den Fortbestand dieser Formensprache zu rechtfertigen und gleichzeitig die Experimente der Avantgarde verständnislos abzulehnen. Beiden gemeinsam ist die Vorstellung, dass das Erhabene eine zentrale Kategorie individueller Erfahrung, künstlerischen Ausdrucks und gesellschaftlicher Relevanz ist. Der neoklassizistische Regierungspalast dient dabei der Stützung von tradierter Macht durch die Inszenierung des Erhabenen und der Verknüpfung mit der Rolle oder Person des Politikers. Und die Betonung der radikalen Geschichtslosigkeit des Progressiv-Erhabenen dekonstruiert gerade diese Macht durch eine Außerkraftsetzung der Tradition.
8.1 Metonymisches Geschubse 1: Jaques Lacan Auch der französische Psychiater und Psychoanalytiker Lacan identifizierte das Erhabene (Sublime) sowie die Sublimierung in der Begrenztheit der Sprache. Den Begriff der Sublimierung leitete Lacan durch eine Neuinterpretation von Sigmund Freuds Schriften in diesem thematischen Kontext ab. Nach Lacan basierte Sublimierung auf der Idee einer nicht auffüllbaren Leere im Zentrum des Menschen. Diese Leere sei Ergebnis der sprachlichen Erschließung der Welt und des Selbst. Lacan verwendete zur Verdeutlichung dieser These den Begriff des Signifikanten, mit dem er die Struktur der Sprache aufzuzeigen versuchte. Demnach könne innerhalb der Welt der Sprache ein Signifikant nur durch einen anderen Signifikanten erklärt werden. Das Signifizierte vermag es nicht, für sich selbst zu sprechen. Dadurch bliebe innerhalb des sprachlichen Prozesses des Signifizierens eine Leerstelle zurück. Jeder Versuch, die entstandene Leerstelle in der Sprache zu füllen, werde zum Signifikanten dieser Leere und hinterlasse mehr Leere. Somit bliebe es unmöglich, aus dem Prozess der Versprachlichung aus176 |
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zubrechen, wobei Lacan dies auch auf die Vorstellung von „Selbst“ bezog. Alles, was ein Mensch erlebe und wahrnehme, geschehe in einer Erste-Person-Perspektive. Solange sich der Mensch ein sprachliches Bild vom Inhalt des Bewusstseins mache, bliebe dieses ein kulturelles Phänomen. Entsprechend bleibt es ein Ding der Unmöglichkeit, sich selbst gegenwärtig zu sein, da das Einzige, was gegenwärtig sein könne, das entstehende Selbstbild sei. Dies klingt zunächst sehr abstrakt, doch hat es für Lacan eine existenzielle Qualität. Dieses Selbst und die Struktur des Subjekts basieren für ihn auf drei Dimensionen. Die erste Dimension ist konstituiert durch das Symbolische, also gesellschaftliche Konventionen, die sich in Sprache, Sozialem, Kultur und Gesetzen äußern und individuelle Bedürfnisse begründen. Das Imaginäre umfasst den Bereich des Ichs, Fantasien und bewusste Vorstellungen, und deckt sich mit der Ebene des Verlangens. Weiter bedingt das Reale die verlorene Natur der Einzelnen, welche durch die Anpassung an die symbolische Ordnung abhandengekommen sei und somit die Ebene der Wünsche eröffne. Lacan betitelte dieses verlorene Objekt der eigenen Wirklichkeit als das Ding. Das Ding spiegelt für ihn die Hoffnung wider, die eigene Leere füllen zu können, und übersetzt sich bei der Einsicht in seine Existenz in Angst, dass dieses Ding nicht ergründbar sein könne und verborgen bleiben müsse. Lacan verstand unter Subjektivierung eine Lehre der Leere, in der gelernt werde, wie mit diesem Verborgenen und Unbekannten, mit diesem Mangel umgegangen werden könne. Subjektivierung beschreibt somit das konstante Spannungsfeld zwischen der symbolischen Ordnung und der verdrängten „Natur“. Dieser Spannung könne nicht entflohen werden, da die Leere im entsprechenden kulturellen Kontext als vermeintlicher Mangel wahrgenommen werde. Für Lacan existiert in Übereinstimmung mit den kulturpessimistischen Stimmen, die wir zuvor behandelt haben, im Zentrum des Menschen diese Leere, aber sie ist nicht Ausdruck eines falschen Gesellschaftssystems, sie ist notwendig nicht füllbar. Versuche, sie durch Beziehungen, Konsum, Rausch etc. zu füllen, sind notwendigerweise unvollständig, die Leere bleibt und der Mensch unbefriedigt. Für jeden neuen Versuch der Füllung der Leere glaubt er, dass es diesmal gelinge, doch das ist niemals der Fall: „It is in its nature that the object as such is lost. It will never be found again. Something is there while one waits for something better, or worse, but which one wants.“256 Gesellschaftssysteme wie Kapitalismus oder Sozialismus sind für ihn nicht Ursache, sondern Ausdruck eines jeweils spezifischen Missverständnisses, die Leere doch füllen zu können. Jeder sprachliche Versuch des Ausdrucks des Unsagbaren ist in diesem Konzept gleichzeitig eine Sublimierung desselben. Metonymisches Geschubse 1: Jaques Lacan
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Um dem noch weiter nachzugehen, ist die durch Jakobson eingeführte Unterscheidung von Metapher und Metonymie als den beiden gegensätzlichen Polen einer Sprache wichtig. Demnach beruht Metapher auf dem Prinzip der Ähnlichkeit und Metonymie auf dem Prinzip der Nähe. Diskurse entwickeln sich demnach metaphorisch, wenn das eine Thema aus dem anderen durch Ähnlichkeit oder Substitution erfolgt. Sie entwickeln sich metonymisch, wenn ein Thema das andere durch Nähe (zeitlich, räumlich, psychologisch, ...) ergibt. Nach ihm ist die Poesie metaphorisch und Prosa metonymisch. Diese Unterscheidung lässt sich hinsichtlich ihrer Rolle für das Epistemisch-Erhabene verdeutlichen. Eine Metapher ist nach Jakobson und Halle (1956) ein sprachlicher Ausdruck, bei dem ein Wort (eine Wortgruppe) aus seinem eigentlichen Bedeutungszusammenhang in einen anderen übertragen wird. Eine Metonymie ist eine Ersetzung des eigentlichen Ausdrucks durch einen andern, der in naher sachlicher Beziehung zum ersten steht. In manchen Momenten wird für Lacan die Metonymie zur Metapher, in der die Sprache über sich hinausweist. Diese Transzendenz der Sprache hat klar epiphane Elemente, Lacan (1977) spricht hier auch von einem Funken, den die Sprache schlägt und somit das Sprachliche transzendiert: The creative spark of the metaphor does not spring from the presentation of two images, that is, of two signifiers equally actualized. It flashes between two signifiers one of which has taken the place of the other in the signifying chain [...]. [...] [T]hat is the metaphor and if you are a poet you will produce for your own delight a continuous stream, a dazzling tissue of metaphors.257
Besser wird es aber nicht. Für Lacan ist die notwendige Distanz zwischen Realem und Imaginärem sowie der Unerreichbarkeit des Ersteren ein existenzieller Spalt, der für ihn zu einer nicht zu füllenden Leere im Zentrum jeder Existenz führt. Das „Selbst“, welches spricht, und das „Selbst“, von welchem gesprochen wird, fallen auseinander.258 Es existiert ein „verlorenes Objekt“, das „Ding“, welches nicht angeeignet werden kann, nie eigen war. Es ist der Platzhalter für die Leere im Symbolischen. Sublimation ist dann der (scheiternde) Versuch einer Objektifizierung des „Dings“ durch ein Objekt. Dieses symbolisch aufgeladene konkrete Ding wird damit zur Quelle des Erhabenen (Sublimen), weil es die Leere im Zentrum des Symbolischen markiert. Das erhabene Objekt verweist auf die Leere „jenseits des Signifizierten“259, auf die der Prozess des Signifizierens gleichwohl Bezug nehmen muss. Aus dieser Situation entstehe ein endloser Reigen von Sublimationen in der Hoffnung, das verlorene Ding wiederzufinden oder die existenzielle Leere zu betäuben. Die Grenze müsse und könne doch nicht 178 |
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überschritten werden, da jede Überschreitung das Ende des Signifizierens bedeute, das Ende der endlosen Substitution des einen Objekts durch ein anderes und damit das Ende des Begehrens. Beide Formen der Leere, die Leere des endlosen Kreisens und die Leere des Endes des Begehrens, sind für Lacan Formen des Mangels, keine Erlösung in Sicht. Am Ende wird dieser Schrecken nicht zum Erhabenen, weil keine Distanz verbleibt. Dieser „Mythos“ hat hinsichtlich seiner strukturellen Elemente erstaunliche Ähnlichkeiten mit buddhistischen Vorstellungen von Dukkha (Leid). Dort würde man allerdings die Überwindung dieser Form des Begehrens nicht als Mangel, sondern als Fülle, als ultimative Befreiung sehen. Dazu später mehr. Es soll aber kurz angemerkt werden, dass wir bei einem solchen Vergleich unausweichlich auf eine nichtreduzierbare Inkommensurabilität stoßen werden: Die buddhistische Vorstellung der Befreiung durch die Überwindung von Anhaftung/Begehren ist aus der psychoanalytischen Sicht Lacans eine Form der Leere als Mangel. Leere als Mangel wiederum ist aus buddhistischer Sicht eine Form der Anhaftung an „falschen“ Vorstellungen, die eine Theorie (als symbolisches Ordnungsprinzip), die die Möglichkeit von Theorie an sich in Frage stellt, leider ernst nimmt. Das ist bei umfassenden Erklärungssystemen so: Das eine System erscheint aus Sicht des anderen als Pathologie. 8.1.1 Von Lacan zu Jameson
Jameson (1984) nutzte das Konzept des Erhabenen zu einer Kritik am Kapitalismus. Ihm geht es um die Beschreibung der Effekte der Globalisierung des Kapitalismus und der mit ihm einhergehenden Technologien auf Kulturen und Selbstbilder. Er schildert einen Verlust der Verortbarkeit der eigenen Existenz in einem System, das in seiner Komplexität jedes Vorstellungsvermögen sprengt und das durch das Geldsystem und die Logik des Kapitals menschliche Selbstwahrnehmungen und Interaktionen grundlegend verändert. Während für Kant noch die Unfassbarkeit der Natur im Zentrum stand, ist diese für Jameson durch die „zweite Natur“ der künstlichen Netzwerke, Lieferketten und Transaktionsbeziehungen ersetzt. Die Erfahrung dieser zweiten Natur tritt an die Stelle der ersten als Orientierungspunkt für die eigene Existenz. Daraus resultiert die Erfahrung der Fragmentierung. Das kapitalistische Subjekt sieht sich mit einem unverständlichen und anscheinend willkürlichen aus dem globalen System hervordrängenden Strom von Zeichen konfrontiert, die nicht mehr in eine Ordnung gebracht werden können. Siehe hierzu Abb. 12 mit einer Fotografie von Salgado, auf der Arbeiter in einer Goldmine dargestellt sind, die als Teil der globalen
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Abb. 12: Sebastião Salgado (1944), Gold Mine, Brasil (1986).
Wertschöpfungskette von Gold wie Ameisen wirken, die einer von außen nicht benennbaren Logik folgen. Hieraus entsteht zugleich Schrecken und Erregung, ein hysterischer Zustand des postmodernen Erhabenen. Paranoia und Verschwörungstheorien sind für Jameson notwendig scheiternde Versuche, Ordnung in dieses Chaos der Zeichen zu bringen. Anwendungsfall: Thomas Pynchon, The Crying of Lot 49 Die existenzielle Verlorenheit der Abgetrenntheit von Zeichen und Welt wird in Pynchons The Crying of Lot 49 (1965) thematisiert, welches die Geschichte der Oedipa Maas erzählt. Der Grund, auf dem Oedipa Maas steht, ist ein beliebiger und damit auch kein Grund zu handeln oder zu leben: „[W]hat she stood on had only been woven together a couple of thousand miles away in her own tower, [...] only by accident known as Mexico, there’s been no escape.“260 Aber auch ihr
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„Selbst“ ist nur konstruiert, ohne feste Substanz: „[H]er tower, its height and architecture, are like her ego only incidental: that what really keeps her where she is magic, anonymous and malignant [...] for no reason at all.“261 Alles wird zu einem Signifikat, aber was signifiziert es? Wenn Zeichen immer nur auf weitere Zeichen verweisen, bleibt als Ausweg nur Paranoia („Possibilities for paranoia become abundant“262)? Individuelle und gesellschaftliche Ordnung ist notwendig und zugleich notwendig beliebig und kann in ihrer erkannten Beliebigkeit nur noch durch die Angst vor dem „Anderen“ stabilisiert werden. Das Unheimliche des Erhabenen entsteht hier durch den Blick in den Abgrund am Rande des Zeichensystems. Ist die reine Immanenz des Zeichensystems die ultimative Leere als Mangel (die die Protagonistin durch das Knüpfen von Teppichen zu füllen versucht)? Oder führt ein Weg aus dem Spiegelsaal der Zeichen heraus? Pynchons Roman erzählt vom Schrecken eines Epistemisch-Erhabenen ohne jeglichen bliss, da keine schützende Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem verbleibt. Damit geht dem Erhabenen seine transformative Kraft verloren.
8.1.2 Von Lacan zu Žižek
Lacans Konzept des Erhabenen bringt uns über Žižek (1989) zurück zum Erhabenen in der Politik. Žižek entwickelt ein Konzept des Gesellschaftlichen oder Politischen, welches die epistemische Unabschließbarkeit von Ordnungen mit der psychologischen Unabschließbarkeit des „Selbst“ verbindet. Gesellschaftsentwürfe oder Ideologien, insistiert Žižek (1989), leiden ebenfalls unter dem Problem der notwendigen Transzendenz, sie lassen sich nicht „von innen“ schließen und sind demgemäß nur aus der Perspektive des Erhabenen denkbar und verstehbar (im Sinn des Epistemisch-Erhabenen). Die Integrität einer symbolischen Ordnung ist daher immer nur herstellbar in Bezug auf ein ausgeschlossenes Objekt, Žižek (1989) nennt als Beispiele „Gott“, „die Juden“ oder „das Bürgertum“. Gesellschaft konstituiert sich damit immer im Hinblick auf ein Schrecken erzeugendes „Anderes“. Die eigene Ordnung und das Andere stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. In diese Reihe sind auch Geschichten vom „gelobten Land“ einzufügen, wie wir sie nicht nur im Religiösen, sondern beispielsweise auch im Sozialismus vorfinden: die alte Ordnung (Phase 1) muss durch Revolution aufgelöst werden (Phase 2), deren terror sich dann in den bliss der neuen Ordnung des Kommunismus verwandelt (Phase 3). Žižek kritisiert insbesondere die Vorstellung, man könne Ideologie entgehen, man könne „außerhalb“ und unabhängig von ihr einen Ruhepunkt finden. Diese Metonymisches Geschubse 1: Jaques Lacan
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Vorstellung ist für ihn die ideologische Fantasie par excellence. Wir sehen hier eine eigenartige Unentschiedenheit in seiner Konzeption, die zum einen Transzendenz benötigt, aber diese zum andern ausschließt. Dies ist – falls überhaupt – nur auflösbar, wenn man das ausgeschlossene Objekt negativ, als Leerstelle konzipiert. Die epistemologische Plausibilität dieser Vorstellung wird im kommenden Abschnitt näher erörtert. Die psychologische Plausibilität kann sich hingegen breiter als nur auf Lacan abstützen. Psychologische und neurowissenschaftliche Forschung z.B. zu Diskriminierung, Ingroup-Outgroup-Verhalten, Ekel und „Reinheit“ sowie zu Fremdheitsaversion sind konsistent mit dieser Konzeption.263 Das Politisch-Erhabene ist für Žižek ein Hinweis auf eine traumatische Leere, die im Zentrum jeder Form der symbolischen Darstellung existieren muss.264 Damit ist das Erhabene auch nicht mehr wie bei Kant Ausdruck eines Umschlagens des Bewusstseins der Unterlegenheit als Sinneswesen in das Bewusstsein der Überlegenheit als moralisches Wesen, sondern im Gegenteil Ausdruck des Gewahrwerdens einer radikalen Negativität, eines Durchbrechens von existenzieller Leere in das Bewusstsein.265 Žižek (1989) weist die Vorstellung eines substanziellen, individuellen Subjekts zurück, welches das westliche Denken seit Descartes prägt. Für ihn ist das Subjekt mit Lacan rein negativ konzipiert, als notwendige Leerstelle. Transformationen des Selbst durch z.B. Psychoanalyse oder politische und kulturelle Verschiebungen sind für ihn Zurückweisungen der Vorstellung einer objektiven psychischen und politischen Ordnung. Sie kommen im nicht vollständig bewusst hervorgerufenen transformativen Moment der Erhabenen zum Ausdruck, in dem sich die Koordinaten der symbolischen Ordnung, der bisher unhinterfragten Normen und Gewohnheiten des Alltäglichen verschieben. In einem psychoanalytischen Kontext kann dieser Moment erreicht sein, wenn das Subjekt seine Anhaftung an ein objektifiziertes Ding (die Wünsche der Eltern, die Vorstellung von Karriere, die Idee der Therapie usw.) aufgibt, aber für Žižek gilt dies auch beim Zerbrechen gesellschaftlicher Ordnungen (die Russische Revolution als Zurückweisung des Kapitalismus). Hier treffen sich Lacans mit Turners Vorstellungen von Liminalität. Er sieht begrenzte Verstöße gegen die herrschende Ordnung (wie den Konsum von Drogen, Sportveranstaltungen, ...) als ultimativ ordnungsstützend, da die damit einhergehende Distanzierung zur alltäglichen Ordnung die Konformität mit ihr als freiwilligen Akt erscheinen lässt. Gerade dadurch verhindern sie echte Authentizität, welche die Ordnung in Frage stellen könnte. Anscheinende Grenzüberschreitungen werden zu Fallen der Ordnung, die sie stützen. Žižeks Konzeption kommt hier in große Nähe zu Debatten um reine Immanenz bzw. 182 |
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immanente Transzendenz. Metaphysiken, die keine Transzendenz erlauben, so wird argumentiert, haben in ihrer immanenten Schließung auch gesellschaftspolitisch eine Tendenz zum Totalitären;266 Transzendenz wird eine kritische Funktion zugeschrieben, ohne ein „Außen“ gibt es keinen distanzierten Blick auf das „Innen“. Billeter (2015) sieht z.B. einen engen Zusammenhang zwischen konfuzianistischem Denken, das eine „geschlossene Welt“ impliziert, und einer autoritären, despotischen Staatsform: „Wenn die Frage nach den Zwecken in einer solchen Welt nicht gestellt werden kann, gehorcht sie vollständig einer Finalität, die nicht in Frage gestellt werden kann: der Macht.“267 Hier trifft sich die Analyse mit der von MacIntyre (1981) zu den Implikationen des modernen Relativismus, siehe Kap. 1. Diese Konzeption wirft auch ein neues Licht auf das Erhabene bei Burke: Der Berg oder das Gewitter verweisen nicht auf ein übersinnliches „Jenseits“ jenseits der Wahrnehmung, sondern auf die Unangemessenheit der Wahrnehmung selbst. Das Objekt, an dem sich die Erfahrung des Erhabenen festmacht, ist im Lacan’schen Sinn nur ein weiterer zum Scheitern verurteilter Versuch einer Objektivierung des „Dings“. Und damit ist auch dem Moment des bliss keine „echte“ Transzendenzerfahrung, sondern hedonistischer „Konsum“ im endlosen Reigen des Signifizierens. Das Charismatisch-Erhabene der Übertragung des eigenen Willens an den charismatischen Führer ist ein weiterer solcher Signifizierungsversuch, und die Apotheose der charismatischen Person erlaubt eine Sublimierung des Schrecks der Leere zum bliss des „Dings“, aber auch dies muss scheitern.
8.2 Metonymisches Geschubse 2: An den Rändern der Erkenntnis Definitionen von einem Begriff durch andere Begriffe beruhen wie gesagt auf metonymischen Verschiebungen. Dies führt aber bei der Frage, wie dann jemals ein Begriff mit einer Bedeutung versehen werden kann, unmittelbar zum Münchhausen-Trilemma,268 welches eigentlich aus der Epistemologie stammt, aber gleichwohl unmittelbare Relevanz für das Erhabene besitzt. Das Trilemma besagt, dass wir bei der Begründung von Aussagen, Definition von Begriffen usw. die Wahl zwischen den drei unbefriedigenden Alternativen Zirkelschluss, unendlicher Regress und Dogmatismus haben und daher für jede Sprach- und damit Wissenschaftspraxis nur der Dogmatismus als Option verbleibt: Der unendliche Regress kommt nie zu einem Ende, und der Zirkelschluss ist tautologisch. Dogmatismus bedeutet aber, dass ein rein metonymisches Verschieben das Problem der Bedeutung von Begriffen nicht klären kann, da man gezwungen ist, an irgenMetonymisches Geschubse 2: An den Rändern der Erkenntnis
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deiner Stelle abzubrechen und zu postulieren, dass die dort Verwendung findenden Begriffe in ihrer Bedeutung schon klar sind. Jedes mit Bedeutung versehene Sprachsystem ist daher auf Ressourcen außerhalb seines selbst angewiesen, die reine Immanenz der metonymischen Verschiebungen reicht nicht aus. Die Metapher erlaubt dieses notwendige transzendente Moment und bildet damit die im Sinn Alberts „dogmatische“ Grundlage eines jeden Sprachsystems. An dieser Stelle öffnet sich die Möglichkeit der Erfahrung des Epistemisch-Erhabenen: Auch Wissenschaft als Sprache ist damit auf transzendente Quellen ihrer eigenen Bedeutung angewiesen. Diese Feststellung reicht an den Kern der Idee der europäischen Aufklärung: Wir besitzen mit Sprache und Theorien kein selbst-suffizientes Werkzeug zur Erkenntnis der Welt. Vielmehr kann beim Bewusstwerden dieses Umstands in der Immanenz der Sprache eine klaustrophobische Enge und Eingeschlossenheit entstehen, auf der das Epistemisch-Erhabene basiert. Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus kreist wesentlich auch um die Frage nach der Korrespondenz zwischen Sprache und Wirklichkeit sowie der Eingeschlossenheit innerhalb von Sprache. Die Unaussprechlichkeit dessen, was nur metaphorisch verstanden werden kann, findet sich prominent als eine Art Leerstelle in Wittgensteins Abhandlung, in der die Vorstellung einer gewissermaßen Negativen Ethik entwickelt wird. In einem Brief an Ficker von 1919 bringt Wittgenstein zum Ausdruck, dass der Sinn des Tractatus, obwohl er sich vorderhand mit der Analyse des Sagbaren beschäftigt, ein ethischer sei und er demgemäß aus zwei Teilen bestehe, „[...] aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, dass es, streng, nur so zu begrenzen ist.“269 Sprache kann sich daher im gelingenden Fall ethischen Fragen annähern, das Ethische ist aber nicht Teil des Sagbaren. Die Frage nach dem Sinn des Daseins ist für Wittgenstein eine ethische, sie ist aber sprachlich nicht beantwortbar. Allerdings ist hier noch nicht das spontane Element des epiphanen Erschließens des Sinns eines metaphorischen Verweises erkennbar. Dies liegt daran, dass nach den Vorstellungen, die Wittgenstein in der Philosophischen Grammatik entwickelt, jede Erfahrung einer Korrespondenz zwischen dem Gedanken und der Wirklichkeit epiphan sei, da sie nicht sprachlich begründet werden könne. Vielmehr entstehe sie aus einer Art von Harmonie, die sich unmittelbar zeige, in einer „Epiphanie der gemeinsamen Form.“270 Sprache und Wissenschaft spielen daher eine pragmatische Rolle, sie sind hinsichtlich existenzieller Fragen eher Leitern, die es ermöglichen, bis zu einem gewissen Punkt zu gelangen, von dem ausgehend sie aber ihre Nützlichkeit verlieren: „Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, 184 |
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welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)“271 Diese Vorstellung weist große Ähnlichkeit mit den Positionen des buddhistischen Philosophen und Begründers der Māhāyana-Tradition Nāgārjuna (2. Jahrhundert v. u. Z.) auf, mit denen wir uns in Kap. 11 beschäftigen werden. Da diese Form der Erkenntnis nicht mehr innerhalb der Sprache erfolgen kann, ist sie eine Einsicht der besonderen Art: „Die Anschauung der Welt sub specie aeterni ist ihre Anschauung als – begrenztes – Ganzes.“272 Wittgenstein scheint die Einsicht zu formulieren, die Rolle der Philosophie bestehe darin, auch auf das Nichtsagbare zu verweisen. Das innerhalb der Sprache Sagbare (wissenschaftliche Sätze) berührt nach Wittgenstein die Lebensprobleme des Menschen noch gar nicht (Satz 6.52). Nach Wittgenstein verweisen Bilder der Tatsachen daher auf zwei Dimensionen der Erkenntnis: Ist erstere die eindeutig erkennbare Struktur so ist letztere jene Irritation, die als das je ne sais pas aesthetischer Erfahrung nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Es scheint diese unscharfe Sicht auf die Welt als begrenztes Ganzes zu sein, von welcher Wittgenstein am Ende seines Tractatus als der richtigen Sicht, des eigentlichen Ziels der Philosophie spricht.273
Die epistemische Enge spitzt sich mit den zwei klassischen Induktionsproblemen (riddle of induction von Hume, 1910 [1748], resp. new riddle of induction von Goodman, 1946, 1983) weiter zu: In ihrer skeptischen Interpretation besagen sie, dass es in einem strikten Sinn unmöglich ist, aus Vergangenheitsdaten etwas über die Zukunft zu lernen, da stets eine große Klasse von die Zukunft auf Basis von Vergangenheitsdaten extrapolierenden Theorien vereinbar mit den beobachteten Daten ist, gleichwohl sie sich hinsichtlich ihrer Implikationen für die Zukunft unterscheiden. Wir stehen in jedem Moment der Gegenwart an einer Grenze, einem Abgrund und machen den nächsten Schritt im selbst nicht begründbaren Vertrauen darauf, dass die theoretischen Brücken in die Zukunft halten werden. Im Alltag gehen wir einfach weiter, doch kann der Zweifel in jedem Moment einen existenziellen Schrecken erzeugen. Kripke (1982) führte diesen Skeptizismus durch seine Lesart Wittgensteins auf die Spitze: In den Philosophischen Untersuchungen formuliert Wittgenstein das sogenannte rule-following paradox: „This was our paradox: no course of action could be determined by a rule, because any course of action can be made out to accord with the rule.“ Kripke interpretiert diese Aussage als „the most Metonymisches Geschubse 2: An den Rändern der Erkenntnis
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radical and original skeptical problem that philosophy has seen to date“274, da es der Möglichkeit der Regelbefolgung in einer Sprache die Grundlage entzieht. Sein Beispiel ist illustrativ: Nehmen wir an, wir haben einer Person, die Zahlen addiert, in der Vergangenheit niemals bei Operationen zugeschaut, die in Summe größer als 57 sind. Diese Person soll nun 68 + 7 bestimmen. Die erste Intuition ist, dass diese Person ihre Berechnung aufgrund der üblichen Additionsregeln durchführt, so dass wir als Lösung 75 erwarten. Nun kommt aber ein Skeptiker hinzu, der wie folgt argumentiert: Es existieren keine Fakten auf Basis der vergangenen Verwendung von Zahlen, die darauf hinweisen, dass 75 die richtige Lösung ist, und daher existiert keine Rechtfertigung anzunehmen, dass die Person diese Zahl nennen wird. Vielleicht verwendet die Person ja anstatt der +-Funktion die quus-Funktion, die wie folgt definiert ist: x quus y ist gleich x + y, genau dann, wenn x + y ≤ 57, und 5, genau dann, wenn x + y > 57. Falls die Person die quus-Funktion anwendet, ist ihre Antwort daher 5. Und die quusFunktion ist nur eine von unbestimmt vielen möglichen Regeln, die die Person anwenden kann. Nun könnte man sagen, dass dieses Problem nur bei einem induktiven Verfahren auftritt, bei dem aus Vergangenheitsdaten die Zukunft bestimmt werden soll, dass Addition aber nicht induktiv, sondern axiomatisch oder algorithmisch bestimmt ist. Aber dann enthält die Axiomatik oder der Algorithmus Begriffe, die unterschiedlich interpretiert werden können. Wir sind hier wieder beim Münchhausen-Trilemma: „Jede Deutung hängt, mitsamt dem Gedeuteten, in der Luft; sie kann ihm nicht als Stütze dienen. Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht.“275 Das Problem stellt sich für jedes Wort und jeden sprachlichen Ausdruck; die Stärke des Beispiels von Kripke besteht darin, dass gerade in der Mathematik die Regeln klar zu sein scheinen. Auf einer pragmatischen Handlungsebene ist der einzige Umgang mit diesem Problem ein Vertrauenssprung (leap of faith), mit dem man hofft (ohne jemals wissen zu können, ob das stimmt), dass die unterstellte Regel korrekte Vorhersagen erlaubt. Aber wir stehen hier letztlich auf einem grundlosen Grund. Allgemeiner kann das Epistemisch-Erhabene nicht mehr werden: Die Sprache selbst hat Bedeutung, ohne dass wir sagen könnten, woher sie kommt und ob wir sie teilen. Die Erkenntnis dieses Umstands erzeugt eine existenzielle Leere: die Fassungskraft führt uns zum Punkt der Erkenntnis, dass sie ihr eigenes Gewicht nicht tragen kann, dass die Welt der Alltagsbedeutungen aus „Gründen ohne Grund“ besteht. Hieraus kann sowohl ein existenzieller Schrecken resultieren, wenn die scheinbaren Gewissheiten verloren gehen, als auch eine ultimative Befreiung „jenseits“ 186 |
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von Sprache. Die Überwindung einer Idee von Veridikalität, Wahrheit etc. lässt eine Form der Freiheit entstehen, die existenzieller ist als positive oder negative Freiheit (Berlin 1969), oder auch Autonomie, und die am besten ontologisch genannt wird. Diese Freiheit besteht in der grundsätzlichen Möglichkeit des Neuentwurfs von Zeichen zur Konstruktion der sozialen Welt (innerhalb der Grenzen der Welt). Diese Freiheit hat aber als Preis die klaustrophobische Immanenz des Sprachsystems, aus der es kein Entrinnen gibt. Hier liegt eine weitere Quelle des Erhabenen: Ein Bewusstwerden der Gefangenheit innerhalb der Sprache entspricht am ehesten der Vorstellung des Schreckens, da die Scheinsicherheit der symbolischen Welt verloren geht. Es ist ein ontologischer Schrecken. Ein Durchbrechen der Sprache in eine Form des reinen Gewahrseins hingegen entspricht am ehesten der Vorstellung von bliss. Hier erst kann die gewonnene ontologische Freiheit genossen werden. Wie wir zuvor gesehen haben, ist das Funktionieren jedes Sprachsystems ein Rätsel, da es seine Bedeutung nicht aus sich selbst heraus generieren kann. Innerhalb eines jeden Sprachsystems, welches an sich bestimmte Konsistenzanforderungen stellt, entstehen damit auch immer Möglichkeiten zur Paradoxie und zur Unentscheidbarkeit. Anwendungsfall: Bertrand Russells Paradox der Mengenlehre Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben eine Reihe von Paradoxien in der Mathematik und Logik unser Verständnis des Problems der „inneren Stimmigkeit“ von formalen Sprachsystemen grundlegend verändert (Paradoxien der Selbstreferenz). Eines der berühmtesten und am einfachsten zu erklärenden ist Russells (1903) Paradox der Mengenlehre: Es gibt Mengen, die sich selbst nicht enthalten (die Menge aller Blumen ist selbst keine Blume) und Mengen, die sich selbst enthalten (z.B. ist die Menge aller Objekte, die keine Blume sind, selbst keine Blume, womit sie sich selbst enthält). Nun ist die Frage: Enthält die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, sich selbst oder nicht? Enthält sie sich, so kann sie sich nicht enthalten. Enthält sie sich nicht, so muss sie sich enthalten. Hier liegt die Paradoxie/Unentscheidbarkeit. Dieses Paradox mag wie ein Kuriosum wirken, und doch hat es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als ehrgeizige Versuche existierten, die Mathematik in der Logik zu fundieren, den Versuch einer mengentheoretischen Fundierung der Mathematik durch einen der besten Mathematiker seiner Zeit, Frege, zum Einsturz gebracht. Russell schickte ihm nach der Lektüre von Freges Werk einen Brief, der diese Paradoxie enthält, womit Freges Versuch – kurz vor der Drucklegung des Metonymisches Geschubse 2: An den Rändern der Erkenntnis
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Buchs – im Wesentlichen gescheitert war. Frege äußerte sich im Nachwort des zweiten Bands seiner Grundgesetze der Arithmetik zu diesem Ereignis: Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als dass ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte.276
Paradoxien übersteigen die Fassungskraft eines Menschen innerhalb des Bezugssystems, in dem die Paradoxie formuliert ist. Der einzige Ausweg ist ein Verlassen des Bezugssystems. Dies ist das Transzendente. Hiermit haben sich östliche Philosophien, insbesondere der Buddhismus, sehr ausführlich und mit aus westlicher Perspektive radikaler Konsequenz beschäftigt. Im Zen z. B. wird die Paradoxie auch als eine Technik zur Ermöglichung von Transformation eingesetzt. Der Logiker Priest (2014, 2018) hat sich mit den beiden für das traditionelle westliche Denken problematischen Vorstellungen zur notwendigen Widersprüchlichkeit sprachlicher Aussagen und zur Unaussprechlichkeit von Erfahrungen durch einen Vergleich buddhistischer und westlicher Logik beschäftigt. Die buddhistische Philosophie basiert auf dem Prinzip des Catuṣkoṭi (Vier Ecken), einer vierwertigen Logik, nach der eine Aussage wahr, falsch, beides oder weder wahr noch falsch sein kann.277 Demgegenüber basiert die traditionelle westliche Logik auf zwei von Aristoteles entwickelten Regeln, dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (PaD), einer zweiwertigen Logik, nach der eine Aussage entweder wahr oder falsch ist, und dem Nichtwidersprüchlichkeitsprinzip (NWP), nach dem nichts zugleich sowohl wahr als auch falsch sein kann. Diese Prinzipien sind seitdem zum festen Bestand westlichen Denkens geworden, deren Plausibilität darauf beruht, dass man sie als selbstverständlich annimmt, ohne genau zu fragen, warum. Erst mit der Entwicklung der modernen Logik wurde klar, dass das Prinzip des Catuṣkoṭi nicht nur formal sauber formulierbar und modellierbar (eine solche vierwertige Logik ist unter dem Namen first-degree entailment [FDE] bekannt), sondern in vielen Situationen auch angemessener als eine zweiwertige ist: „[T]he US logician Nuel Belnap argued that FDE was a sensible system for databases that might have been fed inconsistent or incomplete information.“278 Die Möglichkeit, in einem relevanten Sinn mit unvollständigen und inkonsistenten Informationen konfrontiert zu sein, mit Ambivalenz und Unschärfe zurechtkommen zu müssen, ist aber in Entscheidungsproblemen einer bestimmten Komplexität die Regel. Aber auch darüber hinaus sind die beiden ungewohnten Kategorien bei näherem Hinsehen Teil der Wirklichkeit. Beispielsweise sind Behauptungen über 188 |
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die Zukunft weder wahr noch falsch. Und die Klasse der Paradoxien der Selbstreferenz (wie das Lügnerparadox „Dieser Satz ist falsch“) scheinen in einem bestimmten Sinne sowohl wahr als auch falsch zu sein. Für die Probleme, die von diesen Paradoxien für das westliche Denken ausgehen, entstand mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein zunehmendes Bewusstsein, welches sich erstmals in Russells Paradox manifestierte. Wir haben es hier wieder mit dem schon diskutierten Immanenz-Transzendenz-Problem zu tun, da jedes Sprachsystem immer auf Ressourcen zurückgreifen muss, welche außerhalb des Bereichs des durch das System Sagbaren liegt; es ist unaussprechlich in diesem Sprachsystem. Diese Bedeutung des Unaussprechlichen zeigt, dass es sich dabei nicht um ein in einem naiven Sinne mystisches oder spirituelles Phänomen handelt, sondern um ein epistemisches Problem jeder Sprache: „Everything [...] which is involved in the very idea of the expressiveness of language must remain incapable of being expressed in language, and is, therefore, inexpressible in a perfectly precise sense.“279 Die Idee der Unaussprechlichkeit spielt eine wichtige Rolle, die der vierwertigen Logik der Catuṣkoṭi sozusagen eine fünfte Ecke hinzufügt: Es ist klar, dass Unaussprechliches weder wahr noch falsch ist. Gilt das auch für „weder noch“ bzw. „sowohl als auch“? Priest (2018) zeigt, dass sich diese Kategorien in Konjunktionen der Form k=p^q unterschiedlich verhalten, so dass sie nicht identisch sein können und damit eine fünfte Kategorie vorliegt. Angenommen, q ist falsch. Dann ist k falsch, auch wenn p wahr ist. Wenn q falsch und p weder wahr noch falsch ist, dann ist auch k falsch. Aber wenn q unaussprechlich und p wahr oder falsch ist, dann ist k immer noch unaussprechlich. Hier sind wir aber anscheinend wieder bei einer Paradoxie angekommen, denn immerhin sprechen wir über das Unaussprechliche. Gorampa, ein tibetischer Philosoph aus dem 15. Jahrhundert, unterschied nicht nur zwischen der konventionellen und der ultimativen Wirklichkeit, sondern unterteilt letztere in eine reale ultimative Wirklichkeit und eine nominale ultimative Wirklichkeit: In the Synopsis, Gorampa divides ultimate truth into two: the nominal ultimate [...] and the ultimate truth [...]. While the ultimate truth [...] is free from conceptual proliferations, existing beyond the limits of thought, the nominal ultimate is simply a conceptual description of what the ultimate is like. Whenever ordinary persons talk about or conceptualize the ultimate, Gorampa argues that they are actually referring to the nominal ultimate. We cannot think or talk about the actual ultimate truth because it is beyond thoughts and language; any statement or thought about the ultimate is necessarily conceptual, and is, therefore, the nominal ultimate.280 Metonymisches Geschubse 2: An den Rändern der Erkenntnis
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Dieses ist aber wiederum aussprechbar (wir tun es gerade). Damit ist es aber falsch, dass es unaussprechlich ist. Aber anders kann es gar nicht gehen, denn um zu erklären, warum etwas unaussprechbar ist, muss man darüber sprechen. Der Widerspruch lässt sich aber in einer vierwertigen Logik im Prinzip als „Sowohl-als-auch“ integrieren. Allerdings bedarf es, damit man kein sinnloses Sprachsystem erzeugt, der obigen fünfwertigen Logik, in der die Konjunktion „wahr“ und „unaussprechlich“ wahr sein kann, was mit einer plurivalenten Logik möglich ist. Interessanterweise führt dies zu einer Variante der Paradoxien der Selbstreferenz, dem sich auf Ordinalzahlen beziehenden Paradox von König, in dem über etwas Unaussprechliches gesprochen wird.281 Nagarjunas Lehre der Leerheit der Dinge (sunya) kann hier innerhalb einer plurivalenten Logik neue Einsichten ermöglichen: Wenn Begriffe durch Begriffe definiert werden, wird angenommen, dass ihnen eine unabhängige „Dingheit“ zukommt. Nach Nagarjuna ist dies aber nicht der Fall, Dinge „sind“ immer nur in Relation zu anderen Dingen, das ist das Prinzip des Bedingten Entstehens, siehe Kap. 11. Damit existiert „richtig“ immer nur in Bezug zu „falsch“, „Form“ in Bezug zur „Formlosigkeit“ usw. Die Bedeutung von Begriffen zeigt sich nur im Kontext ihrer Verwendung. Die zweiwertige Logik von PaD und NWP basiert auf einer dinghaften, nicht prozesshaften Vorstellung von Wirklichkeit, die zu Dualismen wie „wahr“ oder „falsch“ führt. Dies ist aber nur Teil einer konventionellen Wahrheit. Das notwendig Transzendente, Unaussprechliche der Sprache wird durch ihren Kontext in einem prozesshaften Verständnis der Wirklichkeit vermittelt.
8.3 Progressive Gesellschaften, Kapitalismus und Individualismus Zwei Kräfte sind nach wie vor beim Erhabenen am Werk: die Überforderung der Fassungskraft und damit einhergehend die Auflösung von Ordnung sowie das Gewahrwerden der eigenen Unwichtigkeit und damit einhergehend die Bedrohung des Selbst. Der Schrecken Burkes kann sich wandeln zum Unheimlichen, Bedrohlichen, zu existenzieller Angst, Ekel oder Unbehagen, Fremdheit bis hin zu einer Abwesenheit eines negativen Gefühls. Und auch bliss kann in unterschiedlichen affektiven Tönungen auftreten: Stolz, Erleichterung, Freiheit, Trost, Fülle, Zugehörigkeit. Dem liegt ein Prozess der Zuwendung von Aufmerksamkeit zugrunde, der zu tun hat mit Bedrängung, Ängsten, kulturellen Vorstellungen und Zufällen, die sich z.B. Ausdruck in spezifischen Kunstwerken suchen. Bei Burke war es 190 |
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primär die Macht der Natur und sekundär die Revolution und die Macht des Staates (z.B. durch symbolische Architektur), die er als Auslöser des Erhabenen nennt. Das kehrte sich bis zum technologischen Erhabenen um, bis bei Lyotard oder Jameson (der Markt, der Kapitalismus) und Žižek (das Gesellschaftssystem) primär kulturelle Auslöser im Vordergrund stehen. Dies geht parallel mit der beschriebenen normativen Rollenumkehr: Aus dem geordneten Garten der Zivilisation „innen“ und der wilden Wüste der Natur „außen“ wurde der Sehnsuchtsort „Wildnis“ außen und die problematische Zivilisation „innen“. Diese Umkehr findet sich schon sehr früh in Mary Shelleys Roman Frankenstein, in dem der menschliche Versuch der Kontrolle der Natur erst das Monster erschafft. Man kann spekulieren, dass dies mit der durch Technologie möglich gewordenen tatsächlichen und eingebildeten Kontrolle über die „Natur“ auf der einen und der gleichzeitigen Zunahme an Komplexität der „Zivilisation“ auf der anderen Seite zu tun hat. Dies zeigt, dass das Erhabene ein universelles Phänomen ist, welches in einer Korrespondenzbeziehung zu den spezifischen Umständen einer Gesellschaft steht. Der gütige und strafende Gott wird zum Bezugspunkt einer monotheistischen, die unbeherrschbare Natur zum Bezugspunkt einer den Naturkräften, die Technologie zum Bezugspunkt einer den technologischen Risiken (z.B. Atombombe) und die Gesellschaftsform selbst zum Bezugspunkt einer den Risiken dieser (z.B. globaler Kapitalismus, Totalitarismus) besonders ausgesetzten Gesellschaft, jeweils mit ihren eigenen Schreckens- und Erlösungserzählungen. Es gibt aber auch die „spirituelle“ oder psychologische Erzählung des Erhabenen als Bedrohung der Vorstellungen vom „Selbst“, Selbstüberwindung und Eintritt in ein Leben in radikaler Freiheit als Autonomie und Selbstkenntnis. Wir werden uns zum Abschluss dieses Teils nochmals mit dem ersten Typus auseinandersetzen, bevor wir dann im nächsten Teil die Erzählung vom Erhabenen als transformatives Element der Selbstbefreiung genauer anschauen werden. 8.3.1 Die Idee des Progressiven und der Individualismus
Den Großteil der menschlichen Geschichte nach der Entstehung von Ackerbau und Viehzucht verbrachten Menschen in festgefügten Verhältnissen; außer Adel, Klerus, Händlern und Gelehrten verließen die meisten ihren Geburtsort nicht weit, und die Welt, die sie bei ihrer Geburt vorfanden, war weitgehend dieselbe Welt, die sie auf ihrem Sterbebett verließen. Sie waren Mitglied einer bestimmten Klasse, und einem Schreiner wäre es nicht in den Sinn gekommen, z.B. Jurist zu werden, höchstens ein besserer Schreiner als der Vater. Mit der Ausnahme Progressive Gesellschaften, Kapitalismus und Individualismus
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von Naturkatastrophen, Kriegen oder Epidemien (die allerdings häufig waren) kam es kaum zu einschneidenden Veränderungen innerhalb eines Lebens. Die Gesellschaft war im Wesentlichen nicht liminal. Das änderte sich in Europa seit der Renaissance langsam und dann immer schneller mit der Neuzeit. Am Beginn der Aufklärung stand auch der Versuch, den Menschen nicht mehr festgefügt in Schranken von Stand und Klasse zu denken, sondern als freies und in seinen grundlegenden Rechten gleiches Individuum. Zusammen mit technologischem Fortschritt und der zunehmenden Ausdifferenzierung von Lebensmodellen wurde das Liminale zunehmend in die Gesellschaft eingefaltet: Sozialer Auf- und Abstieg wurden möglich, und der technologische und gesellschaftliche Wandel implizierte, dass die Welt der Geburt immer weiter entfernt war von der Welt des Alters. Gleichzeitig kam es zu einer Umwertung: Veränderung, insbesondere gedacht als Fortschritt, wurde als positiv wahrgenommen. Diese Dynamik zusammen mit ihrer normativen Bewertung ist die progressive Gesellschaft. Das Progressive als politische Philosophie geht davon aus, dass durch einen solchen Fortschritt in den Bereichen Wissenschaft, Technologie, wirtschaftliche Entwicklung, Organisation und Kultur eine bessere Gesellschaft in der Zukunft erreicht werden kann. In einer solchen Gesellschaft ist man immer auf der Grenze zwischen Bekanntem und Unbekannten, Ordnung und Chaos und damit zwischen Zukunftssorge und freudiger Erwartung: die progressive Gesellschaft ist derzeit die prototypische erhabene Gesellschaft. Die Idee des Progressiven findet dabei mit der modernen Konzeption des Individuums zusammen. Der Individualismus Emersons als US-amerikanisches Freiheits- und Autonomieversprechen war schon Mitte des 19. Jahrhunderts eng verknüpft mit der Idee des Erhabenen als Überwindung von Ordnung, einem Heraustreten aus der Geschichte: Der erhabene Moment ist ein Akt der Individuation, ein Akt des Heraustretens aus den Konventionen der eigenen Kultur und Vergangenheit. Emersons berühmte Erklärung „whoso would be a man must be a nonconformist“282 bezieht sich auf eine Existenz außerhalb der Ordnung. Er lehnte eine gesellschaftliche und religiöse Ordnung ab, weil sie die authentische Erfahrung des Lebens durch vorgeformte Second-Hand-Erfahrungen vergangener Genies ersetze: „An institution is the lengthened shadow of one man.“283 Um das Leben authentisch zu führen, dürfe man sich darauf nicht verlassen: „Insist on yourself; never imitate“284, denn ansonsten gehe „Kontakt“ verloren. Dies ist der heroische Individualismus eines Landes, welches gesellschaftliche Konflikte noch meint lösen zu können, indem man weiter nach Westen ausweicht. Aber auch der Sturm und Drang in Deutschland vertrat das Ideal des Genies, welches sich der Einhaltung tradierter, für das zu überwindende Feudalsystem stehende 192 |
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Regeln widersetzt und sein Erleben in eine ganz eigene Form bringt. Hiermit einher ging eine Faszination für (antike) Heldenfiguren. Es ist aber auch ein Aufbegehren gegen den Prozess der Zivilisation an sich, der später von Freud in seiner Schrift Das Unbehagen an der Kultur als notwendigen Kompromiss zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung zur Konfliktregulation beschrieben wird, bei dem es darum gehe, „[...] einen zweckmäßigen, d.h. beglückenden Ausgleich zwischen diesen individuellen und den kulturellen Massenansprüchen zu finden, es ist eines ihrer Schicksalsprobleme, ob dieser Ausgleich durch eine bestimmte Gestaltung der Kultur erreichbar oder ob der Konflikt unversöhnlich ist.“285 Newman steht mit seinem Konzept von Freiheit, Geschichtslosigkeit und dem Erhabenen – paradoxerweise – genau in dieser Tradition. Schon hier sehen wir eine doppelte Problematik dieses Ansatzes. Die emanzipatorische Abgrenzung zur europäischen Tradition erzeugt eine Abhängigkeit des Freiheitsbegriffs; er ist immer bezogen auf eine spezifische Geschichte und beschneidet sich damit selbst. Kann man das vermeiden? Eine umfassende Freiheit entsteht nicht aus einem negativen Bezug auf etwas anderes, sie besteht aus einem Verstehen der Konstruktionsbedingungen der Wahrnehmung und der Autonomie, innerhalb dieser so oder so entscheiden zu können. Wir werden diesen Gedanken in Kap. 11 noch genauer entwickeln. Newmans Konzept des Erhabenen war damit kein Projekt der individuellen Befreiung, sondern auch politisches Projekt. Das andere Problem wird erkennbar, wenn man sich die Unvermeidbarkeit des Kompromisses in einer Gesellschaft, die unter Bedingungen der Knappheit operiert, klarmacht. Wie soll ein Heraustreten aus der Geschichte, eine Newman’sche oder Emerson’sche Neuerfindung vonstattengehen, wenn es keine frontier mehr gibt, wenn Konflikte nicht mehr dadurch gelöst werden können, dass man weiterzieht? Der Schritt vom Individuum zur Gesellschaft wird nicht vollzogen. Es ist eine Heldengeschichte, die sich um die Verallgemeinerbarkeit nicht kümmert. Die Idee der individuellen Freiheit ist eine der großartigsten Ideen der Menschheit, aber was hier den Anfang nahm, ist ein Verlorengehen einer Balance zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen äußerer Freiheit und innerer Autonomie als einer Reflexion des eigenen Denkens und Fühlens sowie einer freiwilligen Annahme von Verantwortung. Gekoppelt mit dem Glücksversprechen eines materialistischen Kapitalismus ist eine (nicht intendierte) Folge hiervon eine Wirtschaftsweise, die nicht nachhaltig ist und die mit einem Individualismus, der sich nicht kümmern zu müssen glaubt, in die Katastrophe führen wird.
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Die Erzählung des individuellen Freiheitsdrangs im Konflikt mit den gesellschaftlichen Konformitätsansprüchen findet sich als Topos bis weit ins 20. Jahrhundert. Rorty (1989) beispielsweise versuchte ihn aufzulösen, indem er den Individuationsprozess als erzählte Geschichte des Selbst deutete. Mit einem Bezug zur Sprache lässt er bestimmte Säulen der Kultur stehen, innerhalb dieser hat das Individuum aber maximale Autonomie in der Art der Geschichtserzählung:286 „This view of individuality as (1) the recognition of contingency and (2) the ability to redescribe oneself and one’s origins in a novel and unique way lies at the heart of Rorty’s conception of self [...].“287 Wer sich der Aufgabe der originellen Selbsterzählung nicht stellt, riskiert für Rorty ein Scheitern. Dies geht einher mit einem Subjektivismus, der anders als teleologische-tugendethische Konzepte keinerlei Verbindlichkeiten mehr hinsichtlich der Bedingungen eines gelingenden Lebens bietet. Rortys Konzept stellt auf den ersten Blick einen radikalen Individualismus dar, da es eine Art Imperativ der Originalität des einzelnen Daseins aufstellt, auch wenn die Originalität eher in der ganz eigenen Permutation der gesellschaftlich vorfabrizierten Erzählbausteine zu liegen scheint.288 Dabei scheint es Rorty zu entgehen, dass er einen Zwang zur Individualität deklariert, der nichts anderes als ein negativer Konformismus ist. Zur Beantwortung der Frage, ob meine Geschichte originell ist, muss ich mich auf eine Gesellschaft beziehen, vor deren Hintergrund ich die Abgrenzung vornehme. Eine Gesellschaft, in der alle Individuen dieser Vorstellung folgen, geht auf Ebene der Narrative quasi auf maximalen Abstand. Wie sich abstoßende Teilchen am Ende ein stabiles Muster bilden, in dem die Lage jedes Teilchens durch die Lage aller anderen Teilchen bestimmt wird, sind auch die Geschichten durch die Prämisse der Originalität aufeinander bezogen. In diesem Ansatz kann das Individuum damit der Gesellschaft nicht nur nicht entkommen, weil es schon immer auch sprachlich Teil ihrer ist, sondern auch weil der Begriff der Originalität ein kontingenter ist: wie schon zuvor bei Newman ist eine Freiheit, die sich in Abgrenzung zu etwas anderem definiert, keine. Vielmehr findet sich ein Wettbewerbsgedanke am Grunde dieser Prämisse, der die Individuen argwöhnisch aufeinander schauen lässt, ob ihnen auch niemand erzählerisch zu nah kommt. Emersons Forderung nach Nonkonformismus lässt sich in einer Massengesellschaft nicht ohne weiteres einlösen. Das Vorstellung des Progressiven gekoppelt mit der Vorstellung von Individualismus und gelingendem Leben ergibt zusammen ein fragiles Gesellschaftsmodell, welches sowohl durch zu niedrige als auch durch zu hohe Veränderungsgeschwindigkeiten gefährdet werden kann. Bevor wir hierauf näher eingehen, werden wir es aber noch zusätzlich mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise 194 |
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koppeln, die nicht denknotwendig mit den anderen Elementen zusammengeht, aber doch mit ihnen gemeinsam und relativ zeitgleich zur beherrschenden Wirtschafts- und – was wichtig ist – Kulturform aufgestiegen ist. 8.3.2 Das Erhabene im Kapitalismus
Die Ordnung des globalisierten Kapitalismus, deren Komplexität für den Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar ist und damit zu einer Überforderung der Fassungskraft führt, also einer individuellen Unfähigkeit, eine Ordnung zu verstehen, wurde von Jameson benannt. Dies wird auch durch z.B. Architektur hervorgehoben, siehe als Beispiel den in Abb. 13 gezeigten Burj Khalifa, das bei Abb. 13: Louis Skidmore, Nathaniel Owings und John O. Merrill, Burj Khalifa (2010).
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seiner Errichtung mit 828 m höchste Gebäude der Welt. Doch eine Lesart als spezifische Kapitalismuskritik greift zu kurz. Der globale Kapitalismus ist nur hinreichend, nicht notwendig für eine solche Überforderung. Es ist die Komplexität eines Gesellschaftssystems, die im Zentrum steht. Der Kapitalismus ist das derzeit dominante System, aber jedes andere System von ähnlicher Komplexität, welches den Einzelnen als Spielball eines Spiels, dessen Regeln er nicht versteht, erscheinen lässt, hätte wohl eine ähnliche existenzielle Spannung zur Folge. Die Transformation von Schrecken zu bliss kann dann nur gelingen, wenn das Individuum seinen Anspruch auf Verstehen aufgibt, dem System vertraut und die Fahrt genießt. Der bliss, der im Kapitalismus dann wartet, ist Konsum und Bequemlichkeit. Um die Fahrt zu genießen, muss sich der Mensch mit anderen Worten eine konsumistische, hedonistische Identität suchen, in der er auf die radikale Freiheit des „Jetzt“ zugunsten des marktverwertbaren „Neu“ verzichtet. Jamesons und Lyotards Analysen des Kapitalismus greifen aber zu kurz. Die Erzählung eines durch sein Erscheinen in der Geschichte erhabenes, progressives Gesellschaftsmodell hat wichtige Folgen für den globalisierten Kapitalismus der Gegenwart. Er ist nicht die einzig denkbare, aber gleichwohl empirisch dominante Gesellschaftskonzeption, die Geschichtslosigkeit schon institutionell verwirklicht. In ihm herrscht die Logik des Tauschs und der durch Geld vermittelten Kommensurabilität aller Werte. Der Preismechanismus schafft ein Tauschverhältnis für alles und macht damit alle Werte miteinander substituierbar. Damit steht aber am Ende des Subjektivismus paradoxerweise doch wieder ein einheitliches Wertesystem. Die begründungstheoretische Unmöglichkeit eines Werteuniversalismus, die die Moderne kennzeichnet, führt am Ende zu einem De-facto-Werteuniversalismus der Preis- und Tauschverhältnisse. Das Erhabene als notwendiger Teil des modernen Freiheitsversprechens führt zu einem Freiheitsbegriff der Geschichtslosigkeit und des Tauschs. Der globale Kapitalismus ist das Gesellschaftsmodell, welches dies derzeit verwirklicht. Und gerade dadurch hat er eine neue Qualität des Unbehagens und des Schreckens bekommen, auf die Jameson Bezug nimmt: die globale Ordnung wird für das Individuum undurchschaubar, und die Emerson’sche Freiheit ist für weite Teile der Bevölkerung nicht lebbar. Hier schließt sich ein Kreis zur postheroischen Gesellschaft. Anwendungsfall: Andreas Gursky Der Aspekt der Ausradierung von Ordnung, den wir bei Rauschenbergs Bild Erased de Kooning Drawing kennengelernt haben, wurde von Gursky in seiner Fotografie
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Rhein II (1999) wieder aufgegriffen (siehe Abb. 14). Sie wurde an der Rheinallee in Düsseldorf Oberkassel aufgenommen und hat das Format 185 × 364 cm. Auf ihr sieht man unter einem grauweißen, fast monochromen Himmel einen Streifen grünen Deich, den graugrünen Rhein, dann wieder einen grünen Streifen Deich, der durch einen grauen Weg unterbrochen wird. Die horizontale Anordnung in Streifen erinnert an Arbeiten des abstrakten Impressionismus. Ursprünglich befand sich im Hintergrund zwischen Himmel und dem ersten Streifen Deich das Kraftwerk Lauswart, und im Vordergrund auf dem Weg eine Person mit Hund. Diese wurden vom Künstler digital herausretuschiert. Wir sehen damit einen Ort, aus dem wichtige Teile seiner Geschichte und seines Kontexts entfernt wurden. Gursky selbst kommentiert seine Entscheidung der Manipulation des Bildes wie folgt: „I wasn’t interested in an unusual, possibly picturesque view of the Rhine, but in the most contemporary possible view of it. Paradoxically, this view of the Rhine cannot be obtained in situ; a fictitious construction was required to provide an accurate image of a modern river.“289 Der „moderne Fluss“ ist für ihn damit ein Ort ohne Kontext, ohne spezifische Geschichte. Er nimmt damit dem Betrachter die Möglichkeit zur Entwicklung eines sense of place (siehe hierzu Kap. 12), der Ort wird zu einer Abstraktion. Was übrig bleibt, ist ein abstraktes Bild farbiger Flächen, welches auch durch seine Größe wie eine horizontale Version der Bilder Newmans wirkt und damit dessen Vorstellung des Erhabenen aufnimmt und zugleich parodiert. Gurskys Spiel mit dem romantischen Erhabenen zeigt sich durch die Wahl des Ortes, dem Rhein, der eine wichtige Rolle in der deutschen Romantik spielte. Rhein II zeigt gleichzeitig die Grenzen der Entkontextualisierung, so dass das Bild nur als Parodie erscheinen kann. Das Heraustreten aus der Geschichte durch seine Auslöschung wird auf dem Weg von Rauschenberg zu Gursky zu einer neuen Tradition. Der Ort der globalisierten Moderne ist im Nirgendwo verankert, er wird zu einem Nicht-Ort. Damit macht Gursky aber den Weg frei für etwas, das man das „Erhabene des Anthropozäns“ nennen kann. In seinen großformatigen Fotografien von Börsen (z.B. New York Stock Exchange, 1991), Logistikzentren (z.B. Amazon, 2016), Hochhäusern (z.B. Paris, Montparnasse, 1993), aber auch Berglandschaften (beispielsweise Engadin, 1995) finden sich oft Menschenmassen, die eher wie Ameisenkolonien wirken, jeglicher Individualität beraubt. Es gibt hier keine Welt mehr, in die der Mensch nicht tief eingegriffen hätte, aber dieser Mensch erscheint in dieser nicht mehr als Individuum oder „Schöpfer“, sondern als Teil eines größeren Prozesses. Diese beunruhigende Vision eines Anthropozäns kontrastiert scharf mit der gestalterischen und farblichen Schönheit der Bilder. Die kommodifizierte Welt des Kapitalismus wird selbst zu einer Quelle des Progressive Gesellschaften, Kapitalismus und Individualismus
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Erhabenen. Ehrfurcht und Schrecken sind typische Reaktionen auf diese Bilder: ein Buch ist banal, 1 Million Bücher sind erschreckend und haben zugleich eine enorme visuelle Kraft (Amazon, 2016). In der schieren Skalierung der Massenproduktion eines globalisierten Kapitalismus liegt eine Quelle des Erhabenen, die den Blick auf das Nebelmeer eines Caspar David Friedrich verblassen und niedlich erscheinen lässt. Es ist aber ein Erschaudern nicht angesichts eines allmächtigen Gottes oder einer unbeherrschbaren Natur, sondern angesichts des eigenen Werks, welches als eine totalitäre, entindividualisierende Maschine erscheint: The ‚vertiginous dynamic‘ of globalization, the subject of Gursky’s work, is the contemporary locus of the sublime: a grand power in the face of which we feel our own smallness. We are, in Burke’s term, ‚annihilated.‘ Gursky’s vast photographs – of the Hong Kong stock exchange, massive ships docked at a harbor, cargo planes preparing to take off, a government building – testify to this power. Although his photographs give us images of globalization, Gursky is seeking less to document the phenomenon than to invoke the sublime in it.290 Die Folgen der von Newman geforderten Enthistorisierung, welche auftritt als großes Freiheitsversprechen sowohl im Dienst einer Emanzipation der USA von Europa als auch einer Etablierung eines autonomen Selbst, das sich ungebunden von Kultur und Geschichte gemäß seiner eigenen Vorstellungen erfinden kann, wird hier in seiner ganzen Konsequenz gezeigt: Am Ende dieses Prozesses steht nicht das befreite Individuum, sondern die globalisierte Kapitalismusmaschine. Das voraussetzungslose Schauen, auf die Ebene eines gesellschaftlichen Projekts gehoben, erscheint nicht als Befreiung, sondern als Verantwortungslosigkeit. Aber der einzelne Mensch erscheint in den Bildern Gurskys nicht als Opfer, sondern als gleichgültig und unverständig gegenüber den Prozessen, die ihn treiben. Diese Ignoranz und Unkenntnis diskutieren wir in Kap. 12 als Hinderungsgrund der bereichernden Erfahrung des everyday sublime. Das Desinteresse am Alltäglichen verhindert die Erfahrung des alltäglichen Wunders eines Tautropfens vor der Haustür. Hier wird aber die Kehrseite dieses Desinteresses erfahrbar: Sie lässt uns auch gleichgültig gegenüber unserer eigenen Entfremdung als Rad im Getriebe weitermachen. Und das Gewahrwerden dieses Umstands ist selbst eine Quelle des Erhabenen, aus der sich das Unbehagen bei der Betrachtung dieser Fotografien speist. Damit wird aber auch der manipulierende, entkontextualisierende Eingriff in das Bild, welchen wir exemplarisch bei Rhein II gesehen haben, zu einem Symbol für die entkontextualisierende Macht des globalisierten Kapitalismus. Dieses Bild erzielte am 08.11.2011 bei einer Auktion einen Preis von 3,1 Mio. € und war damit zu dieser Zeit die teuerste Fotografie der Welt. Damit schließt sich der Kreis: Es
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wird selbst zum Teil des Spektakels des Kapitalismus. In Žižeks Terminologie stabilisiert die Kritik an der Ordnung diese, indem sie dem Kritiker/Betrachter das falsche Gefühl der Möglichkeit des Ausstiegs aus ihr vermittelt.
Abb. 14.Andreas Gursky (1955), Rhein II (1999), 185 cm × 364 cm.
Gleichzeitig produziert der Kapitalismus Abwehrmechanismen gegenüber Grenzerfahrungen: Die Kommodifizierung von Gütern, Erfahrungen und Erlebnissen ist eine Strategie der Distanzierung von eben solchen Grenzen. Partnersuche durch Dating-Apps, bis ins Detail geplante Reisen, die zu einer Kette von abfotografierten Instagram-Locations werden, oder auch globale Fast-Food-Ketten vermeiden das Fremde und fixieren die bestehende Ordnung des Erfahrbaren. Der oft strapazierte Begriff der kapitalistischen Entfremdung bekommt hier eine neue Tönung: Der sich in einen Kokon von kommodifizierten Erfahrungen einnistende Konsument lebt in einem Zustand der Uneigentlichkeit, in dem „das Echte“ durch Instant-Erfahrungen ersetzt wird, wodurch die Instant-Erfahrung zu einer eigenen Form des „Echten“ wird, bis hin zur paradoxen Kommodifizierung des Erhabenen selbst, in z.B. Filmen und Games. Dabei ist nicht einmal klar, ob das „Echte“ nicht selbst ein Wunschtraum ist. In diese Reihe lassen sich auch die einem globalen Kapitalismus als globales auf Produktivität reagierendes System eigentlich fremde Fremdenfeindlichkeit, Ideen nationaler „Reinheit“ etc. einordnen. Es geht immer um die Homogenisierung von Erlebnissen mit dem Ziel, den Schrecken des „Anderen“ zu vermeiden. Dieser bleibt nur an den Rändern als Vermutung und Verdacht spürbar. Wir hatten in Kap. 4 argumentiert, dass Unsicherheit und die zugehörigen Progressive Gesellschaften, Kapitalismus und Individualismus
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Sicherungsstrategien mehrdimensional sind, so dass man bei einer Bedrohung eines relevanten Aspekts der eigenen Person in einer Dimension auch auf Sicherungsstrategien und damit die Schaffung eines klaren Ordnungsverständnisses in anderen Dimensionen zurückgreifen kann. Daher kann vermutet werden, dass zwischen ökonomischer Verunsicherung auf der einen und dem Willen zu mehr kultureller Homogenität – wie problematisch es auch sein mag, diese Idee sinnvoll zu interpretieren – auf der anderen Seite ein Zusammenhang besteht. In vielen gegenwärtigen Trends finden sich wichtige Elemente der Vermeidung von Grenzerfahrungen, von der Erfahrung des Kontrollverlusts, von der Erfahrung des „Fremden“. Diese reichen von dem immer gleichen Geschmack der Fast-Food-Industrie über die standardisierten Dienstleistungen globaler Hotelketten hin zu den kontrollierten zwischenmenschlichen Erfahrungen des Internet. Die mediale Gewalt bedroht die Zuschauer nicht wirklich, der facebook friend kann ohne Aufwand unfriended werden, und beim Konsum von Internetpornografie kommt kein Wille eines realen, anderen Menschen in die Quere.291 Der wieder aufflammende Rassismus erscheint in diesem Kontext als besonders abstoßende Facette eines gleichwohl größeren Trends. Die Ambivalenz des Gefühls von terror und bliss führt zu einer ewig konfliktgeladenen Haltung hinsichtlich der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Ordnung und Chaos. Auf der einen Seite zieht die Grenze magisch an, auf der anderen Seite macht sie Angst und will vermieden werden. Schon im „normalen“ technologischen Fortschritt entsteht ein liminaler Druck. Dieser radikalisiert sich aber in Form des disruptiven Kapitalismus. Dabei erscheinen die Entwickler disruptiver Technologien als die Helden einer an sich postheroisch gedachten Gesellschaft. Ihnen wird die Macht eingeräumt, das Leben von Millionen Menschen nach eigenem Gutdünken zu formen und tiefgreifend zu verändern; der Markterfolg ist bereits die Legitimation. Das kapitalistische Erhabene ist dabei immer auch Machtinstrument: Die Unerklärbarkeit der Finanzindustrie und der globalen Lieferketten korrespondiert mit der Inszenierung der Macht in Form von erhabener kapitalistischer Architektur, in Bankentürmen und Treffen der Mächtigen an Orten wie Davos. Banker und Manager sind hier nicht nur Technokraten, sie sind die Helden in einer erhabenen Inszenierung von Macht. Die überfordernde Ordnung des Kapitalismus bei ihrem gleichzeitigen Liminalitätsdruck ist so groß geworden, dass die individuelle Fassungskraft überstiegen wird, Ordnung und Chaos fallen in eins. Wir haben es nicht nur mit einem Technologisch- sondern auch mit einem spezifisch Kapitalistisch-Erhabenen zu
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tun. Damit kann man auch der Entzauberungsthese Webers nur bedingt zustimmen. In Wissenschaft als Beruf schrieb er: Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.292
Für die meisten Menschen bedeutet der moderne Kapitalismus permanente Liminalität und ein Zusammenfallen von Ordnung und Chaos: Das „Geheimnis“ lässt sich auch prinzipiell nicht mehr durch Berechnung lüften. Das Kapitalistisch-Erhabene ist eine Form der Verzauberung. Diese pessimistische Perspektive auf das Kapitalistisch-Erhabene steht in Kontrast zu einer optimistischeren Erzählung, die in weiten Teilen der Bevölkerung noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als inspirierende Geschichte des durch den Kapitalismus ermöglichten Technologisch-Erhabenen geteilt wurde. Die Zukunft versprach eine neue, durch Technologie ermöglichte und symbolisierte Welt, die z.B. im Eiffelturm, im Apollo-Mondprogramm oder in der Concorde auffällige Symbole fand. Aber auch Hochhäuser, Staudämme oder Autobahnen wurden zu Ehrfurcht erzeugenden Versprechen einer besseren Zukunft.293 Man hatte Teil an einem heroischen Projekt, ermöglicht durch die mit der Aufklärung freigesetzte Kraft der Vernunft und angetrieben durch die Maschine des Kapitalismus. Daran angebunden wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts auch ein Mythos der Zugehörigkeit: der US-amerikanische Exzeptionalismus, an dem die westlichen Alliierten aber zumindest teilhaben durften. Nye (1994) zeigt an den Beispielen Grand Canyon, Niagara Falls, dem Ausbruch des Vulkans Mount St. Helens, dem Erie Canal, der ersten transnationalen Eisenbahn, der Eads und der Brooklyn Bridge, den Weltausstellungen, dem Empire State Building und dem Boulder Dam, wie zum einen sich das Erhabene von Naturphänomenen zu Technologie verschob, und wie gleichzeitig die Faszination, die mit dieser verbunden wurde, nur in Burkes Sinn des Erhabenen verstanden werden kann. Progressive Gesellschaften, Kapitalismus und Individualismus
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Dieser Optimismus ist vergangen, und er kann im Angesicht der ungelösten Probleme von Klimakrise, Artensterben und Pandemien auch nicht glaubhaft reanimiert werden. Wie bereits gesagt, überfordert der Kapitalismus viele Menschen, er birgt für sie kein Versprechen mehr, in das sie Hoffnungen, Zugehörigkeit und Sinn einschreiben können. Freiheit als äußere Freiheit hat an Anziehungskraft verloren. Wir stehen nun selbst an einer Grenze. Kann eine andere Geschichte an diese Stelle treten? Gibt es eine Idee des Progressiven, die zu Sinn und Zugehörigkeit, zu angstfreier und bereichernder Öffnung gegenüber dem „Fremden“ führt? Gibt es eine Freiheit, die mehr ist als Konsum?
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III INTEGRATION
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9. Helden und transformative Erfahrungen [Sie] ist wie ein Gebet zur Leere. Und die Leere kehrt uns ihr Gesicht zu und flüstert: „Ich bin nicht leer. Ich bin offen.“ Tomas Tranströmer (2013)
Das Konzept der transformativen Heldenreise bekommt auch in der Psychologie eine neue Aufmerksamkeit (für eine Übersicht siehe Allison et al. 2019). Dabei wird untersucht, wie Menschen einschneidende, positive Veränderungen in ihrem Leben vollziehen. Dies wird die heroische Metamorphose genannt und kann auf drei Wegen erreicht werden, (1) spezifische Formen des Trainings, (2) spirituelle Praxis und (3) die wörtliche Heldenreise, wobei auch Training und Praxis als innere Heldenreisen verstanden werden können. Die symbolische Heldenreise, die sich in allen drei Formen ausdrücken kann, hat notwendig Elemente des Scheiterns und des „Todes“ an sich. Was dabei typischerweise stirbt, ist das vorherige „kleine“ Selbst; man wird „wiedergeboren“ als eine andere, reifere, weisere Variation von sich. Diese Sprache wirkt vielleicht antiquiert oder sogar unangemessen, so dass kurz auf das hier zugrundeliegende Verständnis hingewiesen werden soll. Heldenreisen finden sich in vielen Kulturen, und in jeder finden sie eine spezifische Ausdrucksform. Aufbauend auf Campbell (2008 [1949]) kann man davon ausgehen, dass es sich um Geschichten handelt, die solche Erfahrungen aus Sicht der jeweiligen Kultur begreifbar machen sollen und dass der Kern dieser Erfahrungen in einem bestimmten Sinn gleich ist. Daher muss es darum gehen, die Geschichten ineinander zu übersetzen, ohne sie dabei zu verzerren.
9.1 Transformation und Heldenreise Die Idee der heroischen Transformation des Menschen ist ein universelles kulturelles Narrativ. Sie wird als notwendiges Element der Erreichung des vollen Potenzials des eigenen Menschseins gesehen.294 James (1902) war der Erste, der sich in seinem Buch Varieties of Religious Experience mit diesem Phänomen aus psyProgressive Gesellschaften, Kapitalismus und Individualismus
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chologischer Sicht auseinandergesetzt hat. Und Campbell (2008 [1949]) hat die Universalität der Heldenreise festgestellt und die in vielen Kulturen identische Narrationsstruktur mit dem Begriff des Monomythos versehen. Der nachtransformative Zustand soll durch Erfahrungen wie Frieden, Geistesklarheit, Glück, Einheit mit der Menschheit, der Natur oder dem Universum, Großzügigkeit und Sinn durch ein Aufgehen in etwas, das größer ist als man selbst, gekennzeichnet sein. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass die sich hinter diesen Begriffen verbergenden Erfahrungen einer sprachlichen Vermittlung entziehen; ihre Überzeugungskraft entfaltet sich nicht wie bei analytischen Propositionen durch logische Richtigkeit, sondern intuitiv bzw. experientiell. Nach Campbell (2008 [1949]) hat die Heldenreise drei Phasen, Abreise oder Trennung, Initiation und Rückkehr. Man trennt sich vom bekannten, „sicheren“ Leben oder der bekannten Welt und bricht auf in das Unbekannte. Diese Trennung muss nicht immer freiwillig sein, sondern sie erfolgt oft gegen Widerstände und Ängste, immerhin wird die Sicherheit aufgegeben. Die Initiationsphase besteht aus Herausforderungen, Konfrontation mit „Monstern“, Leid und am Ende transformativem Wachstum: Das eine geht nicht ohne das andere. Dies ist die liminale Phase der Auflösung der bekannten Ordnung, die Konfrontation mit Ängsten und deren Überwindung, der Schritt, mit anderen Worten, in das Erhabene. Bei der Rückkehr verfestigt sich eine neue Ordnung. Die von Campbell abgeleitete Struktur des Monomythos fasziniert und funktioniert immer noch, wie zahlreiche Hollywoodfilme und Serien zeigen. Er selbst beriet Lucas bei der ersten Star-Wars-Trilogie, deren narrativer Bogen nach dem Monomythos konzipiert ist. Dabei fällt auf, dass die gesamte Ästhetik der StarWars-Filme in weiten Teilen eine Inszenierung des Romantisch- und Technologisch-Erhabenen ist. In der liminalen Phase macht der Held Erkenntnisse, die sich einer sprachlichen Vermittlung entziehen und die oft eine mysteriös erscheinende Qualität haben.295 Campbell sieht die psychologisch rekonstruierte Ursache darin, dass die Erfahrungen aus dem Unbewussten des Individuums stammen, die in der liminalen Phase zu Bewusstsein kommen. Er stützt sich dabei auf Jungs Prinzipien des kollektiven Unbewussten und seiner Archetypenlehre.296 In dieser Hinsicht ist Campbell Kind seiner Zeit, in der Vorstellungen von Freud oder Jung dominierten. Wie die weitere Entwicklung z.B. der Psychologie gezeigt hat (siehe Kap. 4, später in diesem und in Kap. 11), ist diese Lesart aber in keiner Weise notwendig. Unabhängig von den hinterlegten psychologischen Theorien wird durch ein einschneidendes Ereignis eine Transformation des Helden möglich: Die Konfrontation mit den bisher unsichtbar gebliebenen, aber gleichwohl das Fühlen 206 |
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und Denken vorgebenden Strukturen der je nach Theorie eigenen Psyche, des eigenen Körper-Gehirns etc. werden erlebbar, es kann damit Distanz zu ihnen gewonnen werden, und sie können ggf. verändert werden. Die äußere Heldenreise ist eine Repräsentation der inneren, psychologischen Reise, deren Ziel ein besseres Verständnis der Bedingtheiten des eigenen Wahrnehmens und der Schaffung eines „reiferen“ Umgangs mit sich selbst und anderen ist. Allison und Smith (2015) unterscheiden fünf Typen heroischer Transformation: physisch (Transmutation) sowie emotional, spirituell, mental und moralisch (Erleuchtung). • Transmutationen spielen in alten Mythen eine wichtige symbolische Rolle und finden sich heute noch in Superhelden- und Trickster-Geschichten. Auf einer bestimmten Ebene ist aber jede psychische auch eine physische Transformation, da beide Ebenen miteinander verbunden sind (jede Wahrnehmung hat ein neuronales Korrelat). • Emotionale Transformation bezieht sich auf die Entwicklung von Empathie und Mitgefühl. • Spirituelle Transformation bezieht sich auf Veränderungen in den metaphysischen Grundsätzen, die für gültig gehalten werden. • Mentale Transformation bezieht sich auf signifikantes intellektuelles Wachstum mit Einsichten über sich selbst und andere. • Moralische Transformation besteht in einer signifikanten Veränderung der Wahrnehmung der Moralität des Verhaltens. Warum ist eine solche Transformation wichtig? Allison und Setterberg (2016) argumentieren, dass Menschen psychologisch unvollständig geboren werden und so bleiben, wenn sie nicht mit bestimmten Herausforderungen (das „Neue“) konfrontiert werden. Das Bestehen dieser Herausforderungen führt zu einer vollständigeren und integrierten Form des In-der-Welt-Seins. Dahinter steht wiederum die Idee, dass unsere Vorstellungskraft allein zu schwach ist, dass bestimmte Erfahrungen gemacht werden müssen, um transformativ wirksam zu sein, seien sie angenehm oder unangenehm. Die Integration solcher Erfahrungen in das „erweiterte Selbst“ führt, wenn alles gut geht, zu einer Überwindung des „kleinen Selbst“ der egoistischen Alltagssorgen.
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9.2 Die dunkle Nacht der Seele Eine solche Integration kann aber auch scheitern: „There is always the possibility for a fiasco.“297 Zum einen in einem greifbar klinischen Sinn. Herausforderungen, die zu transformativem Wachstum führen können, haben durch den damit einhergehenden Schrecken ein traumatisches Potenzial, siehe hierzu den kommenden Abschnitt zu Trauma. Es gibt Menschen, deren Resilienz es ihnen erlaubt, auch aus unangenehmen und schlimmen Erlebnissen langfristig gestärkt hervorzugehen. Bedauerlicherweise führen solche Erfahrungen aber auch z.B. zu posttraumatischen Belastungsstörungen, die das Leben fundamental beeinträchtigen können. Wir haben es hier mit einer Ambivalenz zu tun, die in Weisheitstraditionen wie dem Buddhismus dadurch aufgelöst werden soll, dass der Held einen Mentor hat, der selbst die Transformationen schon durchlebt hat und daher weiß, wie sich diese „anfühlen“ und daher an den kritischen Punkten Rat und Sicherheit geben kann. In traditionellen Gesellschaften, in denen transformative Erfahrungen explizit zum Teil der Kultur gehören, sind diese Teil einer Praxis, welche wiederum Sicherheit vermittelt. Nehmen wir Zen als Beispiel. Dort wird der Krisenmoment provoziert, indem die Schülerin oder der Schüler ein Kōan bekommt, ein sprachliches Rätsel, welches sie oder er lösen soll. Dies ist aber mit den normalen Mitteln der Sprache und des rationalen Denkens nicht möglich. Ein sich Einlassen auf das Kōan wird dann eine Krise herbeiführen, da der Geist, der es mit seinen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln lösen möchte, dies nicht kann.298 Da aber klar ist, dass ein weiterer Fortschritt auf dieser Heldenreise nur durch dieses Tor des Kōans gehen kann, können Momente existenzieller Verzweiflung entstehen. Am Ende kommt die Schülerin oder der Schüler in einen Zustand, in dem alles in Frage gestellt ist. Dieser wird Der Große Zweifel genannt. Wenn dieser Zustand erreicht ist, wird das habituelle Denken und Fühlen unterlaufen, und die bestehenden Ordnungsund Verständnismuster lösen sich auf und machen den Weg frei, das Kōan, die Welt neu zu sehen. Wenn der Punkt erreicht ist, an dem nichts, was die Schülerin oder der Schüler versucht, richtig ist, kommt es zu einem Kippen des Bewusstseins, welches Satori (Erkenntnis vom universellen Wesen des Daseins) heißt. Dies klingt, wenn man es liest, allerdings zu harmlos. Der Große Zweifel, das Auflösen aller Ordnung, ist ein Schrecken, den man sich nicht vom Leib halten kann. Dieser Schrecken der transformativen Erfahrung wird auch durch den Titel eines Gedichts von Johannes vom Kreuz als „dunkle Nacht der Seele“ benannt. Hunt (2007) untersucht die kognitive Basis solcher Erfahrungen und vergleicht 208 |
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sie mit der Anhedonie (Unfähigkeit, Freude und Lust zu empfinden) in Krankheiten wie der Schizophrenie. Er unterscheidet dabei integrierende von desintegrierenden Transformationen des Bewusstseins und interpretiert „Dunkle Nacht der Seele“-Erfahrungen als „[s]emantic satiation leading to a relative deletion of experienced presence in the context of its previous enhancement, a focalized version of the more general anhedonic despair shared by clinical schizotypy and aspects of a larger secularized culture.“299 Jäger (2008) beschreibt die existenzielle Dimension solcher Erfahrungen sehr detailliert (es ist wichtig, diese Erfahrungen klar von psychischen Erkrankungen zu trennen, die andere Ursachen haben und medizinischer Hilfe bedürfen): Verwirrung, Schmerzen, Angst vor dem Wahnsinn, Hoffnungslosigkeit sind der Preis, der für die spirituelle Entfaltung zu entrichten ist. [...] Diese Phase der spirituellen Entwicklung kann auch von psychosomatischen Beschwerden begleitet sein – Kopfweh, Magenschmerzen, Erschöpfungszustände, Gliederschmerzen, um nur ein paar Symptome zu nennen. [...] Es ist die blanke Angst. Sie resultiert aus der Bedrohung des Ich. [...] Einerseits trägt die Ichebene nicht mehr, andererseits ist die neue spirituelle Ebene noch nicht gefestigt genug. Ja diese spirituelle Ebene ist es sogar, die sich bedrohlich auf das Ich auswirkt und zur Ursache der Angst wird. [...] Jetzt hat der Prozess der spirituellen Evolution richtig begonnen. [...] Das aber zu akzeptieren, wenn man richtig drinsteckt, fällt ungeheuer schwer. Und doch befindet sich der Mensch jetzt nicht in einem bemitleidenswerten Zustand, sondern am Ausgangspunkt zu einer neuen Ebene des Bewusstseins.300
Die blanke Angst: hiervon spricht Burke, wenn das Unwetter das eigene physische Überleben in Frage stellt, und hiervon sprechen die metaphorischen Lesarten dieses Transformationsmoments, wenn das psychische, narrative Selbst der Gewohnheiten „stirbt“. Dieses Nichts bietet keinen Halt, es erlaubt keine Eingrenzung. Hier hilft keine Distanzierungsstrategie; Kants Gewahrwerden der eigenen Überlegenheit als Vernunftwesen ist ein Versuch, sich den existenziellen Schrecken doch vom Leib zu halten, aber das gelingt hier nicht mehr. Nhat Hanh (1998) beschreibt diesen Prozess in seinen Tagebüchern wie folgt: I experienced destruction upon destruction, and felt a tremendous longing for the presence of those I love, even though I knew that if they were present, I would have to chase them away or run away myself. When the storm finally passed, layers of inner mortar lay crumbled. On the now deserted battlefield, a few sunbeams peeked through the horizon, too weak to offer any warmth to my weary soul. […] I have looked the beProgressive Gesellschaften, Kapitalismus und Individualismus
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ast straight in the eye, and seen it for what it is. I am like someone just recovered from a near-fatal illness who has stared death in the face. I got dressed, walked outside, and strolled along Broadway, thirsty for the morning sun after so many days of darkness. The winds of the storm had finally dispersed.301
Nietzsche hatte den Mut, diesem horror vacui ins Gesicht zu schauen, wenn er sagt, Gott sei tot, und er habe ihn getötet. Er ist aber an diesem Punkt steckengeblieben. Wir bekommen, sind wir bereit, bis hierin zu folgen, eine andere Perspektive auf das Erhabene in der transformativen Erfahrung: Da ist keine Distanz, die Sicherheit gibt, zumindest nicht in dem Moment. Aber man muss auch nicht in diesem Moment steckenbleiben: Worin sich alle Weisheitstraditionen, die diesen Prozess beschreiben, einig sind, ist die folgende Erfahrung: „Im Nichts führt [...] eine Spur in den Nihilismus und eine Spur in die Erfahrung der letzten Wirklichkeit. Erst wer dieses Nichts wirklich annehmen kann, wird herausfinden, dass es eine Qualität hat, die ins Unendliche hineinreicht.“302
9.3 Trauma Im Zusammenhang mit dem Erhabenen und den Transformationen der Heldenreise ist immer wieder von der Notwendigkeit existenzieller Krisenerfahrungen die Rede, die Katalysator dieser Transformationen sind. Hier begibt man sich auf riskantes Terrain, weil aus existenziellen Krisen rasch traumatische Erfahrungen werden können. Was im Moment des Erhabenen die Balance zwischen terror und bliss hält, ist die Distanzierung, die für Kant essentiell ist, damit die Erfahrung nicht bloß grässlich ist: Es ist das Wissen, dass man auf einer existenziellen Ebene sicher ist, selbst, wenn durch den Schritt aus der Ordnung in das Chaos das „kleine Selbst“ zerstört wird. Und wenn Burke oder Kant vom Erhabenen sprachen, dann dachten sie an Naturgewalten und nicht an Misshandlung, Vernachlässigung oder Vergewaltigung. Krieg hingegen spielt durchaus eine Rolle in der ästhetischen Debatte über das Erhabene, wie wir am Beispiel Jüngers, aber auch bei Kant gesehen haben. Wie die Vielzahl von traumatisierten Kriegsheimkehrern traurig belegt, scheint es nur den wenigsten zu gelingen, einen ästhetischen Gewinn aus den „Stahlgewittern“ zu ziehen. Die Gefahr einer Ästhetisierung der Kriegserfahrung besteht in den Grenzen der Vorstellungskraft, die beispielsweise die jugendlichen Soldaten im Ersten Weltkrieg singend und beseelt von Volk und Vaterland in die Schützengräben Flanderns ziehen ließ, nur um dann kurze Zeit später – wenn man denn überlebte – als Versehrte und „Kriegszitterer“ (den Be210 |
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griff Kriegstrauma kannte man damals noch nicht) zurück nach Hause zu kommen. Wir werden uns in diesem Abschnitt damit beschäftigen, zu verstehen, was passiert, wenn der Krisenmoment ohne existenzielle Sicherheit erlebt wird und in einem Trauma endet. Ein Blick auf die Forschung zu Trauma erlaubt es darüber hinaus, besser zu verstehen, woraus diese existenzielle Sicherheit resultiert, was sie zerstört, und was es bedeutet, diese auch nach einer solchen Erfahrung zu haben oder nicht zu haben. Wir basieren uns dabei, soweit nicht anders angemerkt, auf Levine (2005, 2010) und van der Kolk (2014). Traumatisierung basiert auf bedrohlichen Erlebnissen, welche die CopingMechanismen einer Person überwältigen. Trauma ist eine hierauf zurückzuführende Störung des limbischen Systems, das wesentlich die emotionalen Reaktionen auf Umweltreize regelt. Es kommt in Folge zu einer Veränderung der affektiven Wahrnehmung, und bestimmte Trigger können dazu führen, dass die traumatisierende Situation immer wieder durchlebt werden muss. Bis zu diesem Punkt ist die Definition eines Traumas noch ähnlich der Definition des Erhabenen und des transformativen Moments der Heldenreise. Anders als dort verändert ein solches Erlebnis aber die Wahrnehmung nicht in eine positive Richtung: Man sieht sich vielmehr nach der Erfahrung als hilflos und die Welt als einen gefährlichen Ort. Dabei ist nicht nur das Ereignis selbst entscheidend für das Entstehen eines Traumas, sondern das damit einhergehende Gefühl der Hilflosigkeit, der Immobilisierung, des Ausgeliefertseins. Das Center for Disease Control and Prevention hat für die USA verblüffende Zahlen publiziert: Jeder fünfte US-Amerikaner wurde demnach als Kind sexuell missbraucht, jeder vierte wurde von den Eltern so stark geschlagen, dass Spuren am Körper verblieben sind, und in jeder dritten Partnerschaft existiert physische Gewalt. Jeder Vierte wuchs mit alkoholischen Verwandten auf und jeder Achte wurde Zeuge einer körperlichen Misshandlung der Mutter. Naturkatastrophen, Krankheiten, Kriege, Vernachlässigung und Misshandlung haben Menschen immer begleitet. Trauma gehört zum Menschsein dazu und hat zugleich dramatische negative Folgen für die Opfer. Van der Kolk (2014) zieht daraus einen wichtigen Schluss: Trauma ist heute trotz dieser Zahlen nicht häufiger als in der Geschichte, sondern seltener. Es gibt Gesellschaften, in denen das Ausmaß an Sicherheit schon hinreichend lange hinreichend hoch ist, so dass Menschen ohne wesentliche traumatisierende Erfahrungen dort leben. Und erst dadurch wird es möglich, die Effekte von Trauma auf den Einzelnen und die Gesellschaft zu studieren und damit auch das gesellschaftliche Potenzial zu verstehen, welches existiert, wenn Menschen systematisch Traumatisierung erspart bleibt. Und das Trauma
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Bild, das dann sichtbar wird, zeigt einen klaren Handlungsbedarf: Die Vermeidung und Behandlung von Trauma muss höchste Priorität haben. Trauma tendiert dazu, sich in die Zukunft durch Coping-Strategien der Opfer fortzusetzen und in kulturellen Narrativen einen Hallraum bis hin zu Freund-Feind-Erzählungen zu finden, die z.B. Konflikte in die Zukunft tragen. Die Geschichte und Kultur Deutschlands lässt sich wahrscheinlich nur als Geschichte individueller und kollektiver Traumatisierungen richtig verstehen. In Ländern wie Afghanistan gibt es wohl kaum einen Menschen, der nicht an einem Trauma leidet. Ein traumatisierendes Erlebnis verändert dauerhaft die Wahrnehmung der traumatisierten Person, indem sich die Funktionsweise des Gehirns verändert.303 Insbesondere die Sensitivität der Amygdala nimmt zu,304 welche auf Bedrohungen reagiert. Eine Person mit posttraumatischer Belastungsstörung hat eine erhöhte Sensitivität für Bedrohung und befindet sich daher häufiger im KampfFlucht-Modus, welcher u.a. mit einem erhöhten Muskeltonus einhergeht. Im Extremfall tritt die Freeze-Reaktion auf, bei der man jeden aktiven Widerstand aufgibt. Diese Reaktionen können wiederum vom Gehirn interozeptiv als Evidenz für das Vorliegen weiterer Bedrohung fehlinterpretiert werden, so dass der Muskeltonus weiter erhöht wird. In diesem Zustand bleibt die betroffene Person gefangen, und es lassen sich langfristig Veränderungen in der Funktionsweise des Gehirns305 und epigenetische Effekte306 nachweisen. Mit dem Trauma geht typischerweise ein Gefühl der Scham, der eigenen Schwäche und der Verwundbarkeit einher. Auch noch viele Jahre später kann selbst beim kleinsten Hinweis auf eine reale oder vorgestellte Gefahr eine akute Stressreaktion ausgelöst werden, bei der der Körper in den Kampf-und-Flucht- bzw. Freeze-Modus versetzt wird und z.B. den Muskeltonus erhöht. Hiermit sind intensive, unangenehme Gefühle verbunden. Teil dieser Reaktion ist eine reduzierte Sauerstoffzufuhr zu den Temporallappen des präfrontalen Cortex, der für Exekutivfunktionen wie rationales Denken, Willenskontrolle etc. zuständig ist. Damit ist eine willentliche Kontrolle des Zustands erschwert, und rationale Argumente, dass beispielsweise die Gefahr nicht echt ist, erreichen nichts. Diese posttraumatischen Reaktionen erschweren es, Verbindungen zu anderen Menschen aufzubauen, weil dadurch oftmals Angstzustände getriggert werden. Der Rückzug ist ein Coping-Mechanismus, der eine gewisse Kontrolle über die Trigger erlaubt. Das ist aber fatal, weil gerade der Kontakt zu anderen Menschen einer der effektivsten Wege aus dem Trauma ist: „Being able to feel safe with other people is probably the single most important aspect of mental health; safe connections are fundamental to meaningful and satisfying lives.“307 212 |
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Dabei ist der zentrale Punkt die Sicherheit, nur unter Menschen zu sein, genügt nicht. Insbesondere wenn die Ursache des Traumas andere Menschen sind, ist das Gefühl der existenziellen Bedrohung an Menschen gebunden. Van der Kolk sieht die folgenden vier Punkte als zentral zum Umgang mit Trauma an: (1) Our capacity to destroy one another is matched by our capacity to heal one another. Restoring relationships and community is central to restoring well-being; (2) language gives us the power to change ourselves and others by communicating our experiences, helping us to define what we know, and finding a common sense of meaning; (3) we have the ability to regulate our own physiology, including some of the so-called involuntary functions of the body and brain, through such basic activities as breathing, moving, and touching; and (4) we can change social conditions to create environments in which children and adults can feel safe and where they can thrive.308
Es gibt eine evolutionär begründbare Tendenz, auf der Hut zu sein. Auch ohne Traumatisierung sind unsere Verteidigungssysteme immer wachsam, und im Zweifel dominieren die Avoid- die Approach-Reaktionen. Ein gutes Beispiel ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme bei der Bewertung von Risiken. Das Dopaminsystem als Teil der Approach-Systeme des Gehirns ist wichtig für Motivation, Lernen und vieles mehr (siehe Kap. 4). Auf der Wahrnehmungsebene fühlt sich Dopamin gut an. Und die Ausschüttung von Dopamin ist positiv mit dem Risiko des Gewinns einer Belohnung korreliert:309 Wir mögen Risiko in Situation, in denen wir uns prinzipiell sicher fühlen und es um etwas geht, das in einem evolutionären Sinn gut für uns ist (z.B. Nahrung und Sex). Wenn dieselbe Situation aber leicht anders wahrgenommen wird, wenn beispielsweise das Vertrauen in die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Nahrung durch einen plötzlichen Zweifel in Frage steht oder man die ganze Situation für eine Falle hält, so übernehmen Teile des Avoid-Systems. Bei einer möglichen Gefahr z.B. die Amygdala, welche Risiken negativ bewertet. Die Dominanz der Avoid-Systeme bedeutet, dass man zur Erfahrung von Freundschaft und Nähe Mechanismen benötigt, die diese temporär dominieren können, die die Balance von avoid zu approach in Richtung approach verändern. Jeder hat da seinen eigenen Wohlfühlpunkt. Für den einen ist ein Begrüßungskuss wichtig, dem anderen ist er zu viel Nähe. Und je mehr Nähe und Intimität entstehen soll, desto stärker muss man das natürliche Misstrauen im Griff haben. Menschen mit Trauma haben es hier oft besonders schwer, insbesondere wenn sich die Nähe mit der Erfahrung des Traumas verbindet. Die Grenze zwiTrauma
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schen dem Eigenen und dem Anderen ist besonders gut überwacht. Und gerade deshalb sind Therapien effektiv, die mit körperlicher Nähe innerhalb eines als sicher wahrgenommenen Bereichs arbeiten. Hieran erkennt man, was mit den Distanzierungsstrategien des Erhabenen auf dieser Ebene gemeint ist: Man benötigt eine grundsätzliche Sicherheit, dass nichts geschehen kann, damit man sich in die Unsicherheit z.B. der körperlichen Nähe fallen lassen kann. Egal, wo die eigene Grenze zwischen Ordnung und Chaos liegt, ihre Überschreitung kann nur als Befreiung erlebt werden, wenn sie in prinzipieller Sicherheit erfolgt. Wird dies nicht für möglich erachtet, so zieht man sich auf die Sicherheitsstrategie der wörtlichen Distanzierung zurück. Man nähert sich, wenn immer möglich, der Grenze nicht. Damit verunmöglicht man aber auch die bei Trauma so existenzielle Möglichkeit der Transzendenz und Befreiung. Die Erfahrung mit Überlebenden eines Traumas hält damit aber auch für andere Menschen eine wichtige Botschaft bereit, denn die Balance zwischen Approach- und Avoid-Reaktion ist für alle relevant. Wachstum als Grenzüberschreitung benötigt einen Rahmen, der Sicherheit bietet. Sicherheit ist dabei ein ganzheitliches Phänomen, es ist keine abstrakte Vorstellung, es ist der Körper im Raum, der sich sicher fühlen muss. Das beginnt dabei, dass man sich im eigenen Körper zu Hause fühlen sollte, dass man ihn versteht und darauf vertraut, dass er trägt. Es geht aber weiter im Verhältnis zu anderen menschlichen und sonstigen Körpern, dem Vertrauen, dass sie einem nicht schaden und dass man sich ihnen nähern kann. Wir reden hier schon über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, des Aufbrechens des kleinen, abgekapselten Selbst. Hierzu gehört auch, Kontrollverlust auszuhalten. Angst vor dem Fremden als fremder Körper hat hier eine Ursache, und sie wird über verschiedene Avoid-Systeme wie die Angst- und Furchtreaktion oder die Ekelreaktion encodiert. Die Effekte gehen aber deutlich darüber hinaus. Wir hatten gesehen, dass die Exekutivfunktionen des Gehirns herunterreguliert werden, wenn eine Bedrohungssituation lokalisiert wird. Es ist in der Forschung wohldokumentiert, dass negative Emotionen wie Ärger, Angst oder Furcht die Fähigkeit zu vernünftigem Denken und zu bewusstem Lernen herabsetzen. Auch Lernen und Kreativität sind Grenzüberschreitungen ins Unbekannte (siehe Kap. 4). Dem kann man sich nur öffnen, wenn man sich prinzipiell sicher fühlt. Dies hat wichtige Folgen für die Gestaltung von Lern- und Kreativitätsumgebungen. Das elementare Selbsterhaltungssystem des Gehirns reagiert extrem auf ein wahrgenommenes Todesrisiko, woraus auf der Wahrnehmungsebene Angst und Schrecken und eine extreme physiologische Erregung resultiert. Wird bei Menschen, die an einem Trauma leiden, dieses getriggert, so durchleben sie diesen 214 |
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Zustand mit jedem weiteren Trigger nochmals. Sie leben, als wären sie in konstanter Lebensgefahr. Eine Reaktion darauf kann in einer Dissoziation vom eigenen Körper bestehen, so dass man keinen Kontakt mehr zu ihm hat, oder in einer Betäubung der sinnlichen Wahrnehmung, so dass nicht mehr so schlimm gelitten, aber auch nicht mehr genossen werden kann. Dies führt dazu, dass man ein Verständnis seiner Gefühle verliert und damit auch das Vertrauen in die eigene Urteilskraft: „If you have a comfortable connection with your inner sensations – if you can trust them to give you accurate information – you will feel in charge of your body, your feelings, and your self.“310 Dies ist schlimm genug, doch droht eine solche Situation, weitere Retraumatisierungen nach sich zu ziehen: Because traumatized people often have trouble sensing what is going on in their bodies, they lack a nuanced response to frustration. They either react to stress by becoming „spaced out“ or with excessive anger. Whatever their response, they often can’t tell what is upsetting them. This failure to be in touch with their bodies contributes to their welldocumented lack of self-protection and high rates of revictimization and also to their remarkable difficulties feeling pleasure, sensuality, and having a sense of meaning.311
Was am Ende dieses Prozesses droht, ist ein Zustand der Depersonalisierung. Dieser Zustand ist zugleich das Gegenteil der Leere (Anatta), die als ultimative Befreiung im Buddhismus angestrebt wird. Es ist der Unterschied zwischen Abhandenkommen und Loslassen, der hier entscheidend ist. Ein wichtiger Aspekt von Sicherheit ist agency, Selbstwirksamkeit. Typischerweise trägt eine Situation des Ausgeliefertseins, der Unabwendbarkeit zum Entstehen eines Traumas bei. Agency beginnt mit Interozeption, der Wahrnehmung der Vorgänge im eigenen Körper, der subtilen Gefühle, Körperzustände, Gedanken und ihrer Zusammenhänge. Die beschrieben Coping-Strategien bei Trauma bedeuten, dass gerade diese Dimension von agency geschwächt ist. Aber auch bei anderen Menschen ist sie typischerweise nicht sehr weit ausgeprägt. Zentral für das Gefühl der Sicherheit ist Kontakt und Vertrauen zum eigenen Körper sowie Kontrolle über Erfahrungen und Gefühle. Notwendig hierzu sind nach van der Kolk (2014) die Fähigkeit, ruhig und konzentriert sowie den Emotionen nicht ausgeliefert zu sein, im gegenwärtigen Moment zu leben und echten Kontakt zu den Menschen und der Umgebung aufzunehmen, in der man ist. Darüber hinaus ist Selbstkenntnis und Ehrlichkeit hinsichtlich der eigenen Person wichtig. Schaut man sich diese Liste an, so verblüfft ihre Nähe zum Buddhismus und zum
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Yoga: All die genannten Fähigkeiten werden dort durch die unterschiedlichen meditativen Techniken erlernt und als integral für Befreiung gesehen. Die Beobachtung der Relevanz der Kenntnis seiner physischen Existenz erlaubt ein tieferes Verständnis der Wirksamkeit von Yoga (von Yamas und Niyamas als Regeln ethischen Lebens und Asanas über Pranayama zu Meditation). Ein gesunder Körper ist auch ein Aspekt von agency, aber worum es beim Yoga vor allem geht, ist eben diese interozeptive Selbstkenntnis und die umfassende Erweiterung der körperlichen Fähigkeiten, insbesondere im Bereich der Atmung. Atmung besitzt deshalb eine besondere Wichtigkeit, weil sie direkt auf das sympathische und parasympathische Nervensystem wirkt, so dass man mit Atmung unmittelbaren Zugriff auf emotionale Zustände bekommt. Atmung als spiritus ist damit ein wichtiges Element von Spiritualität. Nicht überraschend zeigt sich, dass eine Behandlung von Patientinnen und Patienten mit traumatischen Belastungsstörungen mit Elementen aus dem Yoga oder der Vipassana-(Achtsamkeits-)Meditation oftmals effektiver ist als medikamentöse Behandlungen.312 Man kann indische und buddhistische oder daoistische Traditionen wie Yoga und Meditation daher als kulturelle Praktiken verstehen, die Menschen im Umgang mit Trauma helfen. Asanas im Yoga helfen dabei, Kontakt zum Körper aufzubauen und Körperspannung zu reduzieren. Meditation führt dazu, die Funktion des Geistes besser zu verstehen und loszulassen. Schaut man aus der Perspektive Trauma auf diese Praxen, so wird auch erkennbar, dass die kontrollierte Erzeugung von Krisenerfahrungen zwar Elemente mit traumatisierenden Erfahrungen teilen, Transformation und Wachstum aber gleichwohl ermöglichen und nicht verhindern, weil Elemente der Distanz und Sicherheit immer vorhanden sind. Wir finden dieses Element der Sicherheit auf Campbells Heldenreise (2008 [1949]) als Konfrontation mit den eigenen Traumata: Die Konfrontation mit den Traumata ist die Konfrontation mit den Monstern, die auf der Reise warten, es sind die Herausforderungen, die überwunden werden müssen. Die Konfrontation mit ihnen kann nur gelingen, wenn sie aus einer Position der prinzipiellen Sicherheit erfolgt. Dazu dient die Figur des spirituellen Lehrers oder Weisen, oder in modernerer Version des Therapeuten. Dazu dient aber auch das oftmals in diesen Geschichten vorkommende mentale und physische Training des Helden zu Beginn der Reise. Er konfrontiert sich nicht unvorbereitet mit den Monstern. Popova (2016) bringt die Implikationen dieser Forschung wunderbar auf den Punkt und auch zurück zur allgemeinen Diskussion über das Erhabene:
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As long as we feel safely held in the hearts and minds of the people who love us, we will climb mountains and cross deserts and stay up all night to finish projects. Children and adults will do anything for people they trust and whose opinion they value. But if we feel abandoned, worthless, or invisible, nothing seems to matter. Fear destroys curiosity and playfulness. In order to have a healthy society we must raise children who can safely play and learn. There can be no growth without curiosity and no adaptability without being able to explore, through trial and error, who you are and what matters to you.313
An dieser Stelle wird eigentlich erstmalig der volle Zusammenhang zwischen dem Erhabenen und der inneren Heldenreise erkennbar: Das Überschreiten der Ordnung, das Entdecken des Unbekannten in uns und in der Welt sind zentral für die Fülle des Lebens. Hier wird das Erhabene zu bliss. Damit man sich auf die Unsicherheit in der einen Dimension seiner Existenz aber einlassen kann, muss man aus einer Position der Sicherheit in einer anderen Dimension agieren. Diese Sicherheit beginnt im eigenen Körper und im eigenen Geist und führt dann zu einer tiefen Verbundenheit mit allem. Entgrenzungserfahrungen in transformativen Momenten und der Meditation sind keine Wunschträume oder Hirngespinste, sondern sind Ausdruck eines Agierens in tiefer Sicherheit, die auf Vertrauen basiert.
Anwendungsfall: Statische und dynamische Selbstbilder Das Offene und das Geschlossene spielt auch eine wichtige Rolle bei der Lebensgestaltung. Dweck (2017) hat in ihrer Forschung zwei unterschiedliche Narrative gefunden, mit denen Menschen sich selbst und ihre Erfolge und Misserfolge bewerten, ein statisches und ein dynamisches Selbstbild. Diese Selbstbilder sind narrativ erzeugt und werden dadurch in das Selbst integriert, dass man sie für wahr hält. Menschen mit einem statischen Selbstbild glauben, dass ihr Charakter, ihre Intelligenz und ihre Kreativität gegeben und unveränderlich sind. Erfolg und Misserfolg sind dann Manifestationen dieser gegebenen Eigenschaften, man lernt aus ihnen, wo man sich im Vergleich zu anderen Menschen befindet. Die Suche nach Erfolg wird damit eine Form der Bestätigung der eigenen Intelligenz oder Kreativität, und Misserfolg wird zu einem Signal des Mangels an Fähigkeiten. Menschen mit einem dynamischen Selbstbild hingegen suchen Herausforderungen und interpretieren Misserfolg nicht als Bestätigung mangelnder Fähigkeiten, Trauma
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sondern als Ansporn zu lernen. Diese Selbstbilder haben weitreichende Folgen für die Lebensführung. Menschen mit einem statischen Selbstbild suchen nach Anerkennung, während Menschen mit einem dynamischen Selbstbild nach Möglichkeiten zu lernen und zu wachsen suchen: When you enter a mindset, you enter a new world. In one world – the world of fixed traits – success is about proving you’re smart or talented. Validating yourself. In the other – the world of changing qualities – it’s about stretching yourself to learn something new. Developing yourself. In one world, failure is about having a setback. Getting a bad grade. Losing a tournament. Getting fired. Getting rejected. It means you’re not smart or talented. In the other world, failure is about not growing. Not reaching for the things you value. It means you’re not fulfilling your potential. In one world, effort is a bad thing. It, like failure, means you’re not smart or talented. If you were, you wouldn’t need effort. In the other world, effort is what makes you smart or talented.314 Dweck (2017) fand weiterhin heraus, dass ein statisches Selbstbild dazu führt, Herausforderungen zu vermeiden; man bleibt beim Altbekannten, weil man dort Erfolg hat und sich Enttäuschungen im Neuen erspart, Sicherheit und Ordnung sind wichtig. Die Konsequenz aber ist, dass die Persönlichkeit stagniert. Ein Problem ist, dass solche Personen keine Sicherheit im Neuen haben, weil Misserfolg als Versagen interpretiert wird. Es kann kein Vertrauen in das Unbekannte aufgebaut werden, weil das Unbekannte eine Bedrohung ist. Menschen mit einem dynamischen Selbstbild haben eine solche Sicherheit, weil Misserfolg im Neuen keine Bedrohung ist, sondern Information und Chance zu Wachstum. In der Terminologie des Erhabenen hängt die Frage, ob das Unbekannte terror oder bliss ist, an einer Erzählung über das Selbst, welche man für wahr hält, obwohl sie nur eine Erzählung ist. Die dysfunktionalen Aspekte eines statischen Selbstbilds gehen aber noch weiter: Solche Menschen zeigen kein Interesse an Informationen, wie sie sich verbessern können, sondern nur an Informationen über ihre unmittelbare Leistung, sie interessieren sich auch nicht für die richtigen Lösungen eines Problems, wenn sie einen Fehler gemacht haben. Damit wird ihre Entwicklung weiter gehemmt. Darüber hinaus führt für sie wahrgenommenes Versagen zu gesellschaftlicher Scham, so dass sie tendenziell unaufrichtig hinsichtlich ihrer eigenen Leistung sind (in einer Studie manipulierten 40 % der Teilnehmenden mit einem statischen Selbstbild ihr Abschneiden in einem IQ-Test nach oben). Für Menschen mit einem dynamischen Selbstbild stellt ein schlechtes Abschneiden ihr narratives Selbst gar nicht erst in Frage, weil sie dieselbe Information als Chance zur Verbesserung
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auswerten. Die beiden Selbstbilder spielen auch in Partnerbeziehungen eine wichtige Rolle. Dort gehen Menschen mit einem statischen Selbstbild davon aus, dass man entweder zueinander passt oder nicht. Es gibt eine Checkliste von Merkmalen, die einem wichtig sind, und man sucht nach möglichst vielen Übereinstimmungen. Damit werden aber Probleme in einer Beziehung wahrgenommen als ein Mangel an Übereinstimmung, an der man nichts ändern kann, so dass ab einem bestimmten Punkt die Konsequenz die Trennung sein muss. Ein weiteres Problem ist, dass davon ausgegangen wird, das Gute müsse sich automatisch einstellen, denn es ist ja Ausdruck zueinander passender gegebener Eigenschaften. Mit einem dynamischen Selbstbild sieht man den Beginn einer Beziehung weniger als Matching-Problem, und Streit und Auseinandersetzungen bedeuten, dass man miteinander wachsen und sich ändern kann. Die Beziehung wird zu einem Entwicklungsprojekt. Diese Forschungsergebnisse verweisen auf die buddhistische Idee der Selbstillusion, derer man sich durch Meditation bewusst werden kann. Beide Selbstbilder sind Konstruktionen, sie werden zu einem wichtigen Teil des Selbst, weil man an sie glaubt. Der Naive Realismus des Alltags bedeutet, dass die Strukturierung der Wirklichkeit durch diese Narrative unsichtbar bleibt: man hält sie für einen Teil der objektiven Realität. Damit sperrt man sich aber in eine Illusion ein, die am Ende zu einem Leben führt, in dem man zentrale Aspekte des Menschseins nicht erschließt. Das Unbekannte bleibt Bedrohung und nicht Möglichkeit, das Leben kennenzulernen. Man schreckt vor der Grenze zurück in der festen Überzeugung, dass es dahinter schrecklich ist. Selbstrealisierung und Freiheit heißt dann, dieses narrative Selbst als das zu verstehen, was es ist, und es fallen zu lassen. Dwecks Vorschläge zur Veränderung des Selbstbildes gehen in diese Richtung.
Agieren in Sicherheit ist nicht nur ein individuelles, sondern auch ein kollektives Projekt. Man kann spekulieren, dass es zwei gesellschaftliche Gleichgewichte gibt, ein „Trauma-Gleichgewicht“ einer Dominanz der Avoid-Systeme: gegenseitigen Misstrauens, Angst vor dem Fremden (und damit auch sich selbst) und einem Handeln aus Gewohnheit. Die Grenze bleibt eine stetige Bedrohung und muss durch eine Mauer geschützt werden. Und es gibt ein „offenes“ Gleichgewicht einer Dominanz der Approach-Systeme: gegenseitiges Vertrauen, Erfahrungen des Einsseins und einer tiefen Kenntnis des Selbst sowie einem Handeln in Autonomie. Die Grenze ist eine Quelle des Wachstums. Ist das naiv? Vielleicht drei Dinge dazu: (1) Was wir empirisch beobachten können, sind aus welchen Gründen auch immer oftmals im obigen Sinn TraumaTrauma
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Gleichgewichte. Und aus dem Inneren eines solchen Gleichgewichts erscheint die Möglichkeit eines anderen Gleichgewichts der reine Unsinn zu sein. Alles, was man beobachtet, weist anscheinend darauf hin, dass Kontrolle und Unterwerfung besser als Vertrauen sind. Alles andere, Entgrenzung, Kontakt, Erleuchtung sind Behauptungen von Spinnern, ja schlimmer noch Betrügern und Quacksalbern. Jedes System neigt zur epistemischen Schließung.315 Damit kann fast jede Beobachtung schlüssig innerhalb der eigenen Wahrnehmungswelt erklärt werden. Aber das heißt nicht, dass es nicht andere Gleichgewichte geben kann. (2) Es ist aber wohl tatsächlich so, dass unsere evolutionäre Geschichte uns so ausgestattet hat, dass die Avoid-Systeme schnell die Oberhand gewinnen. Das Trauma-Gleichgewicht wird damit zum Rückfall-Gleichgewicht, und man benötigt besondere Anstrengungen und Gegebenheiten, um es in Richtung eines Besseren zu verändern. (3) Aber der springende Punkt scheint ein anderer zu sein: auch wenn man sich kollektiv im Trauma-Gleichgewicht befindet, so ist es doch für jeden Einzelnen gleichwohl vernünftig, sich auf die innere Heldenreise zu begeben. Es gibt hier nichts zu verlieren, sondern vielmehr alles zu gewinnen. Der Grund, warum dann das Gleichgewicht trotzdem eines ist, liegt an den Grenzen der Vorstellungskraft. Die befreienden Erfahrungen, die man auf der Reise nach innen macht, sind nicht mitteilbar, und in einer Kultur des Individualismus und gegenseitigen Misstrauens ist es einfach, sich auf den Gedanken gar nicht erst einzulassen, die eigene Wahrnehmung sei nicht identisch mit der Wirklichkeit, sondern vielmehr Ausdruck eines Lebens, welches sein Potenzial nicht ausschöpft.
9.4 Helden ohne oder mit unvollständiger innerer Heldenreise Es ist nicht klar, ob jeder dieselben Lehren aus denselben transformativen Erfahrungen zieht. Der liminale, erhabene Moment ist ein Moment der Auflösung von Ordnung, zu der auch die Alltagsmoral gehört. Krishna erscheint immerhin als Weltzerstörer, und die obigen Absätze sollten klargemacht haben, was diese Metapher auf der Erfahrungsebene des Einzelnen bedeuten kann. Die Struktur der neuen moralischen Ordnung in der nachliminalen Phase kann daher von dem Alltagsverständnis von Moral abweichen. Im Buddhismus wird davor gewarnt, erste Erfolge auf dem Weg zur Erleuchtung/Befreiung schon als Erleuchtung/Befreiung misszuverstehen, so dass die Begrenztheit der Erfahrung nicht gesehen wird. Daraus kann die Überzeugung der Richtigkeit der eigenen Sichtweise resultieren, die diese anderen Menschen anscheinend im Dienst der guten Sache auf220 |
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zwingen will. Dies kann hin bis zu politischen Extremismen gehen. Wir haben es dann mit Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit zu tun, die eine Gefahr nicht nur für den eigenen Transformationsprozess darstellen, sondern auch für andere Menschen. Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit sind dabei Anzeichen eines noch nicht überwundenen „kleinen Selbst“. In der Überzeugung, dieses überwunden zu haben, bläht es sich gewissermaßen voller Stolz auf diese Leistung auf. Die benannte Tendenz zu Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit wirft auch ein kritisches Licht auf den Begriff der Heldenreise, weil an dem Begriff des Helden sozusagen „Blut klebt“, zu eng verknüpft ist mit der Idee des Helden die äußere Reise, bei der der Held der Welt seinen Willen und damit sein Ego aufzwingt. Die symbolische Heldenreise ist gerade das Gegenteil dieses Egotrips. Da bei diesem „verkürzten“ Helden, der der Welt seinen Willen aufzwingen will, die innere Transformation nicht notwendig mitgedacht wird, stellt sich die fundamentale Frage nach seiner Einbettbarkeit in eine moralische Ordnung. Wir müssen daher noch einmal auf die Debatte aus Kap. 3 über die beiden Heldenrollen als Beschützer und Überwinder von Ordnung zurückkommen. Diese Figur des Helden hat in doppelter Hinsicht eine komplexe moralische Struktur. Ein Held aus Sicht der einen moralischen Ordnung ist möglicherweise ein Verbrecher aus der Sicht der anderen. Eine nur aus Sicht der Gewinner erzählte Heldengeschichte als Geschichte des moralischen Fortschritts verkennt diese Dialektik und wird somit zu einer moralischen Verklärung des „Rechts des Stärkeren“. Jesus von Nazareth war für die späteren Christen der Sohn Gottes und für die Römer eine Bedrohung der staatlichen Ordnung. Der Siegeszug der Französischen Revolution mit ihren Werten ist eben nur aus der moralischen Position dieser Werte ein moralischer Fortschritt, aus Sicht des untergegangenen Feudalsystems nicht. Dieser Punkt soll nicht als ein radikaler Werterelativismus missverstanden werden, der jegliche Ordnung als durch sich selbst gleich legitimiert erklärt. Werte benötigen Begründungen ganz eigener Art, sie folgen nicht schon allein aus den legitimierenden Narrationen der bestehenden Ordnung. Was der Punkt aber illustrieren soll, ist die fundamentale Dialektik heroischen Handelns, welches primär nach außen als gesellschaftliche und nicht nach innen als innere Transformation wirkt. Zum anderen gesteht man dem Helden auch gewalttätige Handlungen (je nach Kultur wörtlich oder sublimiert, z.B. disruptiven technologischen Fortschritt) zu. Dazu muss diese Gewalt aber innerhalb eines normativen Rahmens legitimiert sein, der Held muss Charakterstärke und Tugenden zeigen, damit er nicht nur ein Übeltäter ist. Damit wird er zum Vorbild und tritt in ein dialektisches Verhältnis von Heros und Unterstützern ein, die Teil der „richtigen Sache“ Helden ohne oder mit unvollständiger innerer Heldenreise
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sind: Es entsteht ein Sinnmehrwert auch für die Nichthelden; sie werden Teil einer heroischen Gemeinschaft.316 Damit dies geschehen kann, muss der Held aber erzählt werden, und zwar nicht von sich selbst: „Was aber bleibet, stiften die Dichter“.317 Gesellschaften ohne Geschichten oder anderen Formen der kulturellen Erinnerung wie Literatur sind nicht heroisch, sondern höchstens gewalttätig. Aber genau durch den Akt der Erzählung wird das Verhalten des Helden einer narrativen Ordnung und damit zumindest implizit einem moralischen Regelsystem unterworfen, gegen das er bei Strafe der Entehrung nicht verstoßen darf, da er auf die Chroniken der Chronisten angewiesen ist. Die Narrationen dienen auch als Vorbild zukünftiger Helden, damit sie wissen, was sie zu tun haben, um als Held zu gelten. Diese Konzeption des Helden in der Gesellschaft ist im Kern scheinbar unauflösbar paradox: Zum einen muss der Held die Ordnung brechen, darf es aber zugleich nicht. Der Held ist gerade kein Technokrat oder Experte, der durch das Regulieren von Stellschrauben den Gesellschaftsapparat optimieren möchte, dieser ist eine Figur postheroischer Gesellschaften. Während der Technokrat versucht, durch fleißiges Studium den Knoten zu lösen, durchschlägt ihn der Held mit der ganzen moralischen Ambivalenz des Durchschlagens, des Infragestellens des common sense und der normativen Kraft des Faktischen. Nehmen wir den folgenden Auszug aus Greta Thunbergs (2019) Rede vor der UN als Beispiel: You are failing us. But the young people are starting to understand your betrayal. The eyes of all future generations are upon you. And if you choose to fail us, I say: We will never forgive you. We will not let you get away with this. Right here, right now is where we draw the line. The world is waking up. And change is coming, whether you like it or not.318
Die Radikalität dieser Forderung, die Ablehnung der Anerkennung von technokratischen „Sachzwängen“, macht die Rede zu einem heroischen Akt. Und gerade deshalb geht für die einen eine große Faszination von dieser Entschlossenheit aus, wobei es den einen Status quo verinnerlicht habenden Technokraten schwerfällt, auch nur die Legitimität des Anliegens zu sehen, da sie die Forderungen für „unrealistisch“ halten. Was aber die besondere Rolle Greta Thunbergs ausmacht – neben ihrer Jugend und generellen Erscheinung –, ist der Umstand, dass sie sich in der Legitimation ihrer Forderungen genau auf den Werten abstützt, die eine technokratische Expertengesellschaft eigentlich für sich anerkennt: Wissenschaft und faktenbasiertes Argumentieren. Damit schafft sie es, die Paradoxie aufzulö222 |
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sen. Dies ist möglich, wenn der heroische Akt darin besteht, die Widersprüche und Inkonsistenzen der bestehenden Ordnung bloßzustellen. Und durch diese Bereitschaft, sich über die „Vernunft“ der Anerkennung von „Sachzwängen“ hinwegzusetzen, beflügeln Helden in diesem Sinne die Fantasie.
9.5 Heldinnen und Helden Befasst man sich mit der Heldenreise, drängt sich die Frage auf, ob eine solche Reise unterschiedliche Geschlechteridentitäten gleichermaßen umfasst. Campbell beschreibt immer wieder die Anstrengungen und Herausforderungen des Helden auf seiner Reise zu tieferen Erkenntnissen. Diese Beschreibungen sind abgeleitet aus epochen- und kulturübergreifenden mythologischen Erzählungen und Legenden.319 Allerdings lässt sich nur schwer übersehen, dass die Protagonisten dieser Geschichten, welche sich zu Campbells Monomythos verdichten, mit wenigen Ausnahmen männlich sind.320 Campbell spricht sich in der damaligen vorherrschenden binären Logik grundsätzlich dafür aus, dass die Heldenreise als Modell für Männer und Frauen gleichermaßen anzusehen ist. Allerdings ist es interessant zu betrachten, wie das Weibliche in Campbells Schilderungen in Erscheinung tritt. Ein wichtiger Aspekt der Heldenreise ist die Vereinigung zwischen dem Menschlichen und dem „Göttlichen“. Aus der Perspektive des männlichen Helden vollzieht sich dieses Zusammenkommen wie folgt: „The mystical marriage with the queen goddess of the world represents the hero’s total mastery of life; for the woman is life, the hero its knower and master.“321 Aus der Perspektive des weiblichen Helden betrachtet beschreibt Campbell dieses Treffen wie folgt: And when the adventurer, in this context, is not a youth but a maid, she is the one who, by her qualities, her beauty, or her yearning, is fit to become the consort of an immortal. Then the heavenly husband descends to her and conducts her to his bed – whether she will or not. And if she has shunned him, the scales fall from her eyes; if she had sought him, her desire finds its peace.322
Während der Kontext der Gleiche ist, könnte der Vollzug dieses Treffens kaum unterschiedlicher sein. Ob die Frau nun als Heldin in Erscheinung tritt oder nicht, es ist der Mann als Held, der handlungsfähig bleibt und Entscheidungsmacht besitzt, während der Frau eine passive Rolle zugeschrieben wird. Anders als beim männlichen Helden, sind es nicht ihre Errungenschaften, ihre HandHeldinnen und Helden
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lungen, die sie hin zu diesem Treffen geführt haben, sondern ihr Wesen, ihre Schönheit und Sehnsucht. Einmal ganz abgesehen von der bitteren Tönung der Einschränkung sexueller Einwilligung,323 hat auch ihr Treffen keinen Einfluss auf das Ergebnis dieser Interaktion. Die Heldenreise, die gemäß Campbell sowohl für den Mann als auch die Frau Gültigkeit hat, wird hier durch Campbells eigene Schilderungen zum Nachteil der weiblichen Perspektive verzerrt. Der Normalfall der Heldenreise scheint männlich zu sein. In anderen Texten Campbells wird diese Tatsache noch deutlicher und scheint auch seinen eigenen früheren Aussagen, wonach die Heldenreise ein Modell sowohl für den Mann als auch die Frau sei, zu widersprechen. „In the whole mythological tradition the woman is there. All she has to do is to realize that she’s the place that people are trying to get to“324 und: „In all of literature there is very little of the woman’s adventure because she is already ‚It,‘ and her problem is the realization of that.“325 Eine wohlwollende Interpretation dieser Aussage käme vielleicht zum Schluss, dass die Frau die Antworten auf ihre Fragen bereits in sich trage. Doch im Hinblick auf ein anderes Zitat Campbells ließe sich auch die Aussage treffen, dass sich diese Frau solche Fragen erst gar nicht erst zu stellen braucht. Hier tut sich ein schmaler Grat zwischen Realisierung und Resignation auf: „[W]aiting in solitude to be achieved, which is the woman’s normal role.“326 Die Rolle der Frau ist somit jene der Wartenden, bereit, den Helden zu empfangen. Dringt die Frau aber dennoch in traditionell männlich dominierte Sphären vor, so ist eine Identifikation mit der männlich geprägten Heldenreise anscheinend möglich: [I]f a woman engages in the man’s task of entering the field of achievement, then her mythology will be essentially the same as that of the male hero. The heroine will, of course, encounter difficulties and advantages which are not those that the male meets, but whether one is male or female, the stages of the inner journey, the visionary quest, are the same, even though the imagery is going to be a little different.327
Obwohl Campbell auch hier auf die Reise nach innen verweist, scheint es, als würde spezifisch das Aufgabenfeld, dem man sich annimmt, darüber entscheiden, ob eine solche Reise angetreten werden und letzten Endes gelingen kann. Diese materialistische Perspektive auf die Heldenreise widerspricht der Perspektive, die üblicherweise eingenommen wird:
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Transformation und Heldenreise
This quest has been understood, since time out of mind, as one undertaken in order to feel alive again, to remember and to keep what is holy in life. It is a journey to find a truer selfhood; one that cannot be easily corrupted by the outer world, or by time. The impulse fulfills a longing to unearth and reveal one’s greatest and deepest shadows and gifts. It provides the balances required for a person to feel one thing especially – contentment.328
Campbells Aussagen hinsichtlich der Heldin lesen sich widersprüchlich und lassen bestenfalls nur ein lückenhaftes Bild zu. In der Mythologie finden sich anscheinend keine Modelle, die für die einzelne Frau als Wegweiser zur Selbstrealisierung dienen könnten. Ebenso wenig existieren Modelle für den Mann in Relation zur individualisierten Frau.329 Von nichtbinären Identitäten war zu der Zeit noch nicht die Rede. In einer Zeit, in der die klassischen Rollenbilder allmählich aufbrechen, befinden wir uns gemäß Rossi (2013) in „a period of free fall into the future, and each has to make his or her own way.“330 Doch gerade vor diesem Hintergrund erscheint es umso wichtiger, Metaphern und Erzählungen zu finden, die für Frauen im fortlaufenden Prozess des Werdens richtungsweisend sein können. Denn die Vorstellung, dass eine Frau immer schon ist,331 muss – zwar nicht nur, aber besonders – aus heutiger Perspektive und im Rahmen der Gender-Debatte zurückgewiesen werden, ebenso die binäre Logik einer Unterteilung in Mann und Frau. Wie kann man da Abhilfe leisten? Murdoch, eine ehemalige Studentin Campbells, widerspricht der Auffassung, dass es die Aufgabe der Frau sei, zu warten und zu „sein.“ Ebenso widerspricht sie Campbell in Anbetracht seines Vorschlags, dass die Heldenreise auch der Frau bei ihrer Selbstverwirklichung helfen würde, sofern ihr Streben männlicher Natur sei: „They learned how to be successful according to a masculine model, but that model did not satisfy the need to be a whole person.“332 Hier scheint die Anmerkung wichtig, dass Murdoch sich jeweils auf die „äußeren“ Aspekte der Heldenreise bezieht, die in die Welt hinauswirken. Am Ende dieser äußeren Heldenreise stehe für viele Frauen die erschütternde Frage: Was habe ich verloren? Es ist diese transformative, nach innen gerichtete Sinnerfahrung, von der die Frau im Rahmenwerk der männlichen Heldenreise scheinbar ausgeschlossen bleibt. Murdoch liefert eine Antwort darauf, was eine Frau erwartet, wenn sie den Rahmen patriarchalischer Regeln verlässt.333 Während sich der Weg des Helden als äußere Reise angesichts von Errungenschaften und Erfolgen für die Einzelne bereichernd anfühlen mag und in einer materialistisch orientierten Gesellschaft auf Anerkennung stößt, erfährt eine Reise nach innen selten Validierung und wird im schlimmsten Fall sabotiert. Heldinnen und Helden
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Hier liegt ein Anknüpfungspunkt zu bestimmten Aspekten der zeitgenössischen Gender-Debatten: Die Erforschung der eigenen Geschlechteridentität jenseits jeder binären Logik aber in einer Gesellschaft, in der diese dominant ist, ist Teil dieser Reise nach innen. Die Heldinnenreise ist für Murdoch gleichermaßen aufregend und furchterregend, sie strebt nach Balance, Verbundenheit und Unversehrtheit. Die einzelnen Schwellen dieser Reise sind an einer weiblichen Perspektive ausgerichtet. Als Psychotherapeutin griff Murdoch bei der Ausgestaltung der Reise neben ihrer Eigenen auch auf die Erzählungen ihrer Klientinnen zurück und berief sich auf deren Erfahrungen innerhalb einer männlich dominierten Gesellschaft.334 Die Heldinnenreise ist nach Pinkola Estés allerdings nicht zwangsläufig auf die Erfahrungen aller Frauen in allen Lebenslagen anwendbar. Damit unterscheide sie sich vom Monomythos.335 Murdoch beschränkte ihre Heldinnenreise ursprünglich nicht nur auf ein Geschlecht: […] I have found that neither is it limited only to women. It addresses the journeys of both genders. It describes the experience of many people who strive to be active and make a contribution in the world, but who also fear what our progress-oriented society has done to the human psyche and to the ecological balance of the planet.336
Damit finden wir uns in einer eigentümlichen Situation wieder. Zweifellos ist Murdochs Entwurf eine Antwort auf Campbells Heldenreise und ein Versuch, die weibliche Erfahrung in der Welt zu würdigen. Allerdings stellt sich die Frage, auf welche Reise Murdoch tatsächlich Bezug nimmt. Fast scheint es so, als sei ihr Buch eine Antwort nicht auf die ursprünglich angedachte Heldenreise Campbells, sondern eine materialistisch angepasste Version dieser Idee: „The quest for […] acclaim, and riches, for one’s fifteen seconds of fame in the news is no longer germane. That misguided quest has taken too much of a toll on the body/soul of woman and the cellular structure of Mother Earth.“337 Doch unterscheidet sich die Heldenreise tatsächlich so drastisch von der Heldinnenreise? Die Frage nach dem Verlorenen, die sich nach Murdoch Frauen an einem Punkt der gescheiterten äußeren Heldenreise stellen,338 ist auch bei Campbell zentral, und er schreibt: „anyone continually knitting his life into contexts of intention, import, and clarifications of meaning will in the end find that he has lost the sense of experiencing life.“339 Aus dieser Perspektive lassen sich sowohl die ursprüngliche Heldenreise Campbells und die Heldinnenreise Murdochs im Sinne von transformativen Reisen verstehen. Der Graben zwischen den beiden Perspektiven scheint damit auf den ersten Blick tiefer, als er tatsächlich ist. 226 |
Transformation und Heldenreise
Letzten Endes geht es also um eine Reise, die – unabhängig vom Geschlecht – eine Transformation einleiten kann. In einer ohnehin schon gespaltenen Welt sind Begriffe wie Held und Heldin womöglich nicht zweckdienlich und verleiten zu vorschnellen Schlüssen und zur Tendenz, die eine oder andere Perspektive auszugrenzen. Wir hätten hier wieder eine Grenze eingezogen, die das Bekannte vom Unbekannten angstvoller trennt, als es vielleicht nötig ist. Schenkt man den Berichten über die tiefen Erfahrungen von Kontakt, Einssein und Verbundenheit Glauben, die am Ende der Reise stehen, so sind diese Grenzen nichts weiter als Ausdruck von kulturellen Konstruktionen, die auf der Heldenreise gerade verstanden und überwunden werden sollen: Es gibt einen Unterschied im biologischen Geschlecht, aber das kulturelle Geschlecht ist eine Konstruktion. Die biologischen Unterschiede sind aber nichts weiter als Akzentuierungen von dem, was beispielsweise im Buddhismus interbeing genannt wird. Auch die Frage, ob Frauen schon „da“ und schon von vornherein „vollständig“ sind, während Männer als Mängelwesen sich erst vervollständigen müssen, erscheint müßig, Ausdruck von Verwirrung. Auch hier ist ein Blick in den Buddhismus wieder erhellend: dort wird davon ausgegangen, dass jedes Lebewesen Buddha-Natur in sich trägt. Es geht auf jeglicher Heldenreise daher um nichts anderes, als eben dies nicht nur zu denken, sondern zu „erfahren“. Reise als „Erfahrung“ hat eine körperliche, emotionale Dimension, die hier zentral ist und die uns im Folgenden noch ausführlich beschäftigen wird. Eine Reise im Sinne einer transformativen Reise ist allumfassend und schlägt sich weder auf die eine noch auf die andere Seite, weil die Seiten selbst schon Teil der Illusion sind. Die Monster, die der Heldin oder dem Helden auf dem Weg zu diesem Verständnis begegnen, mögen sich vielleicht unterscheiden, aber der grundsätzliche Weg ist derselbe.
9.6 Reduktionen der Selbstwahrnehmung Wir hatten zuvor immer wieder von der Veränderung der Selbstwahrnehmung in Momenten des Erhabenen und auf Heldenreisen nach innen gesprochen. Diese Veränderungen sind wichtiger Teil dieser Literatur, und zugleich sind sie zutiefst kontraintuitiv für das Alltagserleben einer Gesellschaft, die das „Selbst“ ins Zentrum stellt. Wir haben es dabei mit einem schwierigen Problem zu tun: Auf der einen Seite können Veränderungen des Selbst subjektiv erlebt werden, auf der anderen Seite kann man das Gefühl niemandem vermitteln, der so etwas nie erlebt hat. Können wir aus Sicht der Psychologie und Neurowissenshaft mehr darüber sagen? Reduktionen der Selbstwahrnehmung
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Aspekte der Auflösung und Veränderung der Selbstwahrnehmung sind in vielen Bereichen der psychologischen und neurowissenschaftlichen Literatur beschrieben und analysiert worden. Yaden et al. (2017) haben diese in einer Übersichtsarbeit zusammengetragen. Sie definieren selbsttranszendente Erfahrungen (STE) als zeitweilige mentale Zustände der Auflösung der Wahrnehmung des eigenen Selbst. Diese können hinsichtlich ihrer Intensität von alltäglich (Selbstvergessenheit beim Hören von Musik oder Lesen eines Buchs) bis zu intensiv und potentiell transformativ (ein Gefühl des Einsseins mit allem) reichen. Solche Erfahrungen werden zu allen Zeitaltern und in allen Kulturen beschrieben und verweisen darauf, dass das, was wir oft als selbstverständlichen Bestandteil unseres Bewusstseins nehmen, das Selbst, unter bestimmten Voraussetzungen verschwindet.340 Allerdings kann man das Selbst nicht als eine eindimensionale Einheit verstehen, vielmehr setzt es sich aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Aspekten zusammen, z.B. die raumzeitliche Positionierung. Die Definition des Selbst ist schwierig und uneinheitlich. Man kann aber zwei Komponenten von STE unterscheiden: (a) eine Auslöschungsdimension, bei der die Vorstellung einer abgetrennten Körperlichkeit und die Salienz des Selbst reduziert ist, und (b) eine Zugehörigkeitsdimension, bei der das Gefühl von Verbundenheit oder Einssein mit etwas jenseits des „Alltagsselbst“ erfahren wird. Das können andere Menschen, andere Lebensformen, die Welt oder das Universum sein. Beide Dimensionen treten in unterschiedlicher Ausprägung auf. Yaden et al. (2017) untersuchen Phänomene, die vier Kriterien erfüllen: Sie müssen relativ häufig sein, sie müssen ein mentaler Zustand sein, der selbsttranszendierende Zustand muss wissenschaftlich und theoretisch untersucht sein und es muss eine angemessene Messmetrik geben. Sie unterscheiden und untersuchen dann fünf Varianten von STE, die diese Kriterien erfüllen: meditative Zustände (Achtsamkeit), flow, selbsttranszendente positive Gefühle wie Liebe und Ehrfurcht, Gipfelerlebnisse (peak experiences) und mystische Erlebnisse. Weiterhin untersuchen sie pathologische Aspekte von STE. Nichtpathologische STE einer bestimmten Intensität sind dabei in der Regel mit positiven Erlebnissen und prosozialen Verhaltensveränderungen verbunden. Sie wirken sich positiv auf das Wohlergehen aus, sie stärken das Gefühl von Sinn und Zugehörigkeit bis hin zur Überzeugung, in einem wohlwollenden Universum zu leben. Intensive STE werden von Menschen, die sie hatten, zu den wichtigsten Momenten ihres Lebens gezählt. Ein Verlust des Selbst ist dabei nicht verbunden mit einem Verlust an wahrgenommener Handlungsfähigkeit (agency). Achtsamkeit: In Momenten der Achtsamkeit ist man in einem offenen, nichtbewertenden Bewusstseinszustand des „Hier und Jetzt“. Dabei entsteht die 228 |
Transformation und Heldenreise
Wahrnehmung, das Selbst von außen zu beobachten (decentering), und Gedanken und Gefühle werden als flüchtige Phänomene wahrgenommen, die keinem Selbst zugehörig sind.341 Dies kann bis zu einer nichtdualen Wahrnehmung führen, in der die Selbst-Anderes-Trennung aufgelöst ist.342 Hölzel et al. (2011) fassen diese Erfahrungen wie folgt zusammen: „In place of the identification with the static self, there emerges a tendency to identify with the phenomenon of ‚experiencing‘ itself.“343 Flow: Der Begriff flow entstammt der Positiven Psychologie. In diesem Zustand intensiver Konzentration, der typischerweise bei einer interessanten und fordernden, aber nicht überfordernden Tätigkeit auftritt, verschwindet das Bewusstsein des Selbst.344 Positive Gefühle: Einige als positiv wahrgenommene Gefühle haben eine selbsttranszendente Komponente. Sie werden als moralische Emotionen bezeichnet, und zu ihnen zählen Mitgefühl, Bewunderung, Dankbarkeit und Liebe.345 Mit ihnen geht manchmal ein Gefühl des Einsseins mit einer anderen Person oder auch so etwas wie Natur einher. Ehrfurcht: Das Gefühl der Ehrfurcht (awe) nimmt eine Sonderstellung bei STE ein, weil es in Schilderungen solcher Erlebnisse immer wieder auftritt und eine gemischte affektive Qualität besitzt (es hat eine positive Tönung, aber wie der Name schon sagt, mischen sich negative Elemente wie Furcht hinein). Mit dem Gefühl der Ehrfurcht können veränderte Zeitwahrnehmungen einhergehen.346 Die psychologische Forschung unterscheidet dabei wie Kant mit seinen Konzepten des Dynamisch- und des Mathematisch-Erhabenen zwischen perzeptionellen und konzeptionellen Ursachen der Ehrfurcht. Eine perzeptionelle Ursache ist z.B. ein „großes“ Naturereignis wie ein Nordlicht, welches unfassbar erscheint. Eine konzeptionelle Ursache ist z.B. die erstmalige Konfrontation mit einer Theorie, die mit einem Mal einen neuen Zugang zum Verständnis der Wirklichkeit eröffnet. Piff et al. (2015) fassen die Effekte dieser Erfahrung wie folgt zusammen: „These lines of research on awe, self-categorization, and feelings of smallness indicate that awe can significantly alter the self-concept, in ways that reflect a shift in attention toward larger entities and diminishment of the individual self.“347 Gipfelerlebnisse: Maslow (1964) führte den Begriff Gipfelerlebnis (peak experience) in die Literatur ein, und er beschrieb damit ein Gefühl der Verschmelzung mit dem Universum (unabhängig davon, ob für die Person, die diese Erfahrung macht, ein Gott vorkommt oder nicht). Solche Ereignisse sind selten, sie besitzen aber eine hohe subjektive Wichtigkeit für die Personen, die sie machen.
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Sie korrelieren positiv mit Wohlergehen, dem Gefühl von Sinn und empathischem Verhalten. Mystische Erlebnisse: James (1902) unterscheidet die folgenden Komponenten einer Erfahrung, die mystisch genannt wird: sie ist kurz, sie ist in Worten nicht auszudrücken, sie ist passiv (man erlebt sie als überwältigend) und sie fühlt sich wirklich an. In solchen Erlebnissen kann die Idee eines Selbst vollständig verloren gehen.348 Obwohl sie für viele Menschen spontan eine esoterische (im umgangssprachlichen Sinne) Qualität haben – und aufgrund ihrer mangelnden sprachlichen Vermittelbarkeit –, gibt es zahlreiche Ansätze, solche Phänomene auch quantitativ zu erforschen. Hood (1975) kommt zu dem Schluss, dass in solchen Erlebnissen eine bewusste Erfahrung gemacht wird, in der aber kein Selbst mehr vorhanden ist. Seit einigen Jahren kommt es zu einer Renaissance der pharmakologischen Forschung zu mystischen Erfahrungen (insbesondere mit Psilocybin). Griffiths et al. (2006) führten eine Studie durch, die verblüffende Ergebnisse hatte: In this study, two thirds of participants who were administered psilocybin met the criteria for a mystical experience. Additionally, about two thirds of the participants rated their experience among the top five most meaningful moments of their entire lives (alongside events like childbirth and marriage [...]). We suggest that the frequently observed increase in the sense of meaning in life is an important and understudied outcome that many STEs may have in common. Psychological outcomes associated with mystical experiences (elicited by psilocybin) include increased positive attitudes about one’s life and self, positive mood, altruistic social effects, positive behavior change, meaning in life, and life satisfaction […]. These beneficial effects have been shown to last at least 18 months after a laboratory session […]. Indeed, the empirical evidence supports James’s supposition that mystical experiences are often lasting, positively transformative moments that rank among the most meaningful of one’s life […].349
Pathologien: Ein Verlust eines Bewusstseins des Selbst kann auch als Pathologie klassifiziert werden und wird als Depersonalisierung bezeichnet. Aspekte von Schizophrenie und Psychose haben ebenfalls mit Selbstverlust zu tun. Die damit einhergehenden Zustände werden aber nicht als positiv beschrieben. Es scheint sich daher um eine andere Klasse von Phänomenen zu handeln, was auch dadurch bestätigt wird, dass Menschen mit mystischen Erfahrungen im Verhältnis zur Gesamtpopulation keine gesteigerte Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung von psychotischen oder neurotischen Störungen haben. Yaden et al. (2017)
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Transformation und Heldenreise
schließen: „Self-loss should thus be considered an alteration of consciousness with potentially pathological or positive consequences.“350 Es gibt aber auch überlappende Phänomene. STE können eine wichtige Rolle bei der Heilung und Auflösung von Leiden haben,351 und Konzepte wie posttraumatisches Wachstum deuten darauf hin, dass auch extrem negative Erfahrungen zu einer Quelle psychologischen Wachstums werden können.352 Was wissen wir über die neuropsychologischen Ursachen eines Selbstverlusts? Hinsichtlich der Auslöschungsdimension existiert ausführliche Evidenz für die These, dass ein starker Fokus auf das Selbst mit zahlreichen negativen Konsequenzen verbunden ist: selbstzentriertes Grübeln in depressiven Phasen,353 extremes Bewusstsein des eigenen Selbst in Phasen von Angst,354 enger Selbstbezug bei negativen Emotionen355 inklusive Scham und Schuld356 sowie die mit dem Bewusstsein der Körpergrenzen einhergehenden Emotion des Ekels.357 Diese Mechanismen, ausgelöst in den richtigen Umständen, spielen eine wichtige Funktion zur Sicherung des Überlebens. Sie sind auf der Wahrnehmungsebene aber auch zutiefst unangenehm und können lähmen, wenn sie außerhalb ihres evolutionären Kontexts empfunden werden. Ein Verlust des Selbst führt zu einer Reduktion der Wahrnehmung dieser Gefühle: „[M]ost fears and anxieties come from the prospect of damage to one’s physical or social self. Therefore, when the self temporarily disappears, so too may some of these fears and anxieties.“358 Zentral dafür ist eine Reduktion im Aktivitätsniveau des oberen Paretiallappens des Gehirns, was zu einem Gefühl der Einheit führt. Der obere Parietallappen spielt eine Rolle in der Wahrnehmung der Körpergrenzen, der Position des Körpers im Raum und der Unterscheidung von eigen und fremd.359 Es gibt ebenfalls ausführliche Evidenz für einen Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und Ausschluss mit Angst und Depression.360 Die Wahrnehmung von Kontakt und Eingebundenheit hat umgekehrt zahlreiche positive Effekte auf die mentale und physische Gesundheit.361 Oxytocin und Vasopressin sind Neuropeptide, die mit einem Gefühl von Verbundenheit einhergehen. Sie haben auch einen Effekt auf den Vagusnerv, dessen Aktivität wiederum korreliert mit der Erfahrung von Ehrfurcht, Mitgefühl, Dankbarkeit und Liebe, was einen möglichen Mechanismus hinter STE anbietet.362 Keltner (2009) schreibt, dass Menschen mit einem gesunden vagalen Tonus weniger selbstfokussiert sind und häufiger transformative Erfahrungen machen. Das Gefühl der Einheit kann von anderen Personen auf die räumliche Umwelt ausgedehnt zu einer all-inclusive identity ausgedehnt werden.363 Dabei wird die als Einheit wahrgenommene Welt typischerweise mentalisiert, d.h., ihr wird In-
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tention und/oder Bewusstsein zugeschrieben. Dies kann zu einer Überwindung existenzieller Angst in dem folgenden Sinn führen: While the tendency to overperceive mind in one’s environment in this way is sometimes associated with schizotypy […], perceiving social connection in one’s spatial environment may nonetheless have underexplored positive outcomes. For example, William James observed that one outcome from mystical experiences can be the feeling of being at home in the universe […]. Similarly, Einstein remarked that one of the most important questions that one can ask is whether the universe is a „friendly place“ […]. STEs may provide both a temporary, yet emphatic „yes!“ in answer to Einstein’s question and turn, for a while, a threatening universe into a warmer and more inviting home.364
Die Autoren schließen: „Experiences of self-transcendence, then, do seem to provide some of life’s most positive and meaningful experiences, and, as James claimed, may comprise some of our moments of ‚greatest peace.‘“365
9.7 Hinderungsgründe Rites du Passage spielen bei der kulturellen Ermöglichung der Heldenreise eine ähnliche Rolle wie spirituelle Praktiken, z.B. Meditation oder Yoga.366 Säkulare Gesellschaften haben viele Initiationsriten verloren, auch wenn die äußere Hülle ggf. noch praktiziert wird (z.B. Taufe, Konfirmation oder kirchliche Heirat durch Menschen, die formell einer Kirche angehören, die aber keine tiefere Verbundenheit mit ihr und ihren Riten haben). Und gleichzeitig gibt es einen gesellschaftlichen Trend hin zu Meditationspraxen wie Mindfulness, deren Effekte auf den Geist auch wissenschaftlich immer besser verstanden werden. Es ist aber wichtig festzustellen, dass es in unseren Gesellschaften eine Reihe kultureller Hinderungsgründe für die Aufnahme der Heldenreise gibt. Hier sind einige wichtige: • Wie schon gesagt, existiert in einer säkular-positivistischen Kultur eine Skepsis gegenüber der Wirklichkeit und Legitimität solcher Erfahrungen. Spirituelle Scharlatanerie untergräbt einen solchen Legitimitätsanspruch weiter. • In einer Kultur des Werterelativismus ist es eher natürlich, davon auszugehen, dass es spirituell nichts zu lernen gibt. In einer individualistischen Kultur gibt es zwar den Druck zur Individuation, aber diese wird nicht als transformative Heldenreise gedacht. • Die vorherrschende Vorstellung von Freiheit ist nach außen gerichtet, sie beschreibt die Fähigkeit, der Umwelt den eigenen Willen aufzuzwingen. Der 232 |
Transformation und Heldenreise
Freiheitsbegriff der Heldenreise ist aber ein fundamental anderer, es geht um die Überwindung der Bindung an affektive Impulse, unhinterfragte Konventionen etc. Frei ist nicht, wer seinen Impulsen ohne Beschränkung folgen kann, sondern wer seinen Impulsen nicht ausgeliefert ist. • Es besteht die weitgehende Annahme, dass Bequemlichkeit etwas Gutes ist. Aber die Heldenreise ist unbequem. Man muss den Widerwillen überwinden, sich mit den eigenen Monstern zu beschäftigen, und existenzielle Krisen in Kauf nehmen. Aus dieser Perspektive scheint die Psychotherapie der einzige Ort innerhalb einer säkularen Kultur zu sein, an dem man sich solchen Lebensaspekten gegenüber systematisch öffnen kann; die Therapeutin wird zur spirituellen Ersatzlehrerin. Die gesellschaftlichen Folgen hiervon sind aber immens, denn diese Form der Heldenreise beginnt typischerweise erst mit einer existenziellen Krise des Einzelnen, einer Erkrankung, dem Tod eines geliebten Menschen oder einer Trennung. • Allison et al. (2019) weisen darauf hin, dass in unserer Gesellschaft eine Tendenz bestehe, sich als Opfer zu sehen: Individuals who have been harmed and who derive their entire personal identity from being wronged by someone else, or by society, may find it difficult to grow and transcend their victimhood. We are not making the claim that there are no legitimate victims; there most certainly are people who have been harmed and have real grievances. Our argument is that adopting a strong and permanent victim identity is a sure way of avoiding growth and moving beyond the pain of having been harmed.367
• Sie weisen darauf hin, dass eine solche Identität doppelt schädlich ist. Sie behindert nicht nur das eigene Wachstum, sondern sie erzeugt auch gesellschaftliche Konflikte: Wenn man Opfer ist, muss es einen Täter geben, und dieser Täter muss bestraft werden. Sie sehen in der Suche und Bestrafung solcher Sündenböcke eine der zentralen Ursachen für Gewalt und Krieg. Das vorhergehende Argument verweist auf einen allgemeineren, wichtigen Punkt: Wenn eine Gesellschaft keinen gedanklichen und rituellen Raum für solche Erfahrungen schafft, verschwindet das Bedürfnis nach ihnen nicht einfach, sondern findet andere Wege an die Oberfläche. Hierfür hat Taylor (2007) den Begriff Nova-Effekt geprägt. Er argumentiert, dass eine mangelnde Befriedigung „spiritueller“ Bedürfnisse nach Sinn und Tiefe einen permanenten psychologischen und gesellschaftlichen Druck erzeugt. Typischerweise werden „Therapien“ dieses Drucks aber wiederum innerhalb des bekannten epistemischen und ontologischen Rahmens gesucht, welcher sich den Menschen bietet. Innerhalb Hinderungsgründe
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dieses Rahmens erscheint die Suche nach Transzendenz aber idiotisch. Jeder ist bei der Aufgabe, Antworten auf die „Wozu“-Fragen zu finden, auf sich allein gestellt, und innerhalb des Bezugsrahmens gibt es keine Antworten. Der NovaEffekt beschreibt nun die Tendenz, dass sich die hieraus resultierende Spannung unkontrolliert in alle möglichen Richtungen entladen kann. Dies kann relativ harmlos sein: Zahlreiche legale und illegale sowie kommodifizierte und spontane Verhaltensweisen sind nur in Bezug auf ein angestrebtes Gefühl der Überwältigung und Selbstauflösung mit der Auslösung von terror und bliss zu verstehen. Drogen als Entgrenzungs- und Transzendenzerfahrung, der Blick hinab von einem Wolkenkratzer, Musikkonzerte, nächtliches Rasen auf dem Autobahnring, Achterbahnfahrten, Bungee-Jumping: Die Erfahrung wird zu einem Punkt der Überwältigung gesteigert, der zu einer Entgrenzungserfahrung führt. Aber auch Sportarten wie Klettern, Fallschirmspringen, Abfahrtski, Marathon und Triathlon führen zu Überwältigung der Sinne und Erfahrungen der Entgrenzung. Es ist paradox: Das „Selbst“ im Zentrum individualistischer Gesellschaften scheint sich zur Last zu werden. Es kann aber auch weniger harmlos sein, da auch politischer Extremismus und Terrorismus letztlich als Spielarten des Nova-Effekts lesbar gemacht werden können, siehe Kap. 1 und 7.
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Transformation und Heldenreise
10. Erkenntnis und Spiritualität The enemy of science is not religion [...]. The true enemy is the substitution of thought, reflection, and curiosity with dogma. Frans de Waal (2001)
Der typischerweise verwendete Heldenbegriff als Stabilisierer oder Überwinder von Ordnung ist nur der dritte und finale Akt der größeren Heldenreise, bei der zuerst Transformation und die Erlangung eines tieferen Verständnisses steht. Dieses Denken speist sich aus tendenziell teleologischen Quellen, die mit der europäischen Aufklärung zunehmend problematisch erschienen. Aber gleichwohl ist die Behauptung (und für diejenigen, die die Transformation vollendet haben, auch Erfahrung) immer dieselbe: Es offenbart sich eine moralische Ordnung der Einheit und des umfassenden Mitgefühls mit allem Lebenden und darüber hinaus. Moderne Ethiken und Gerechtigkeitstheorien wie die von Rawls (1971) oder die Neufundierung des Utilitarismus durch Harsanyi (1953, 1955) nutzen zu ihrer Legitimation typischerweise kontraktualistische Gedankenexperimente. Es wird argumentiert, dass ein fairer Standpunkt zur Beurteilung moralischen Verhaltens oder gerechter Institutionen dann eingenommen wird, wenn Menschen bestimmte Informationen über ihre gesellschaftliche Identität und Stellung nicht besitzen, also man z.B. nicht weiß, ob die Eltern reich oder arm sind, ob man über gute oder schlechte Fähigkeiten verfügt oder ob man bedürftig oder nicht bedürftig ist. Damit entsteht eine hypothetische Entscheidungssituation, in der eine Form der Interessengleichheit durch „Entgrenzung“ geschaffen wird, indem Menschen sozusagen zu „durchschnittlichen“ Mitgliedern ihrer Gesellschaft gemacht werden. Dies lässt sich wie z.B. von Bentham für den Utilitarismus vorgedacht auch auf Tiere ausdehnen (siehe Kap. 13). Die modere normative Ethik kommt daher qualitativ zu demselben Punkt, zu dem die transformative Erfahrung der Heldenreise führt, sie erreicht ihn aber rein kognitiv, als Gedankenexperiment, womit ihr ein zentrales motivationales Element fehlt, welches nur durch die tiefe, affektive Erfahrung der Richtigkeit einer Position erreicht werden kann.
Hinderungsgründe
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Es ist aber die Erfahrung des tiefen Einsseins, die eine motivationale Kraft entfaltet. Arne Næss (1988) würde an dieser Stelle gar nicht mehr von Moral sprechen, sondern von Ontologie: Es gibt keinen Zwang mehr zum richtigen Handeln, sondern durch die Perspektivverschiebung versteht man, dass es nur ein geteiltes Interesse gibt. Dies ist natürlich für einen Vertreter des Relativismus schwer zu schlucken, und am Ende läuft es auf die Frage legitimen „Expertentums“ und der Legitimität des zugrunde gelegten Wahrheitsbegriffs hinaus. Ein positivistischer Wahrheitsbegriff lässt keinen Raum für nichtsprachliche, experientielle Formen der Erkenntnis, die sich zeigen, aber nicht artikulieren lassen. Dort sind die einigen legitimen Experten Wissenschaftler und Technokraten, die Leute mit dem Werkzeugkoffer. Wie wir aber in Kap. 8 gesehen haben, ist eine solche Epistemologie zum Scheitern verurteilt, da sie notwendig auf Verständniselemente jenseits ihrer eigenen Ausdruckfähigkeit angewiesen ist. Damit stellt sich die Frage danach, wie man eine umfassendere Epistemologie sinnvoll strukturieren kann, in der dann auch in legitimer Weise so etwas wie „spirituelle Experten“ existieren müssen. Solche Formen des „spirituellen“ Wissens können dabei – wenn man den Wahrheitsbegriff nicht explizit durchdacht hat in vielleicht verblüffender Weise – die Rationalitätsstandards erfüllen, die wir an wissenschaftliche Argumentationen anlegen. Hier sind zwei Beispiele: • Jones (2016) konnte zeigen, dass signifikante nichtsprachliche Erfahrungen (im Unterschied von alltäglichen wie dem Geschmack einer Frucht) dieselben Rationalitätsstandards wie die Wissenschaften erfüllen können, und im Fall z.B. von Nagarjunas Strukturierung buddhistischen Denkens auch tun. • Jonas (2015) weist nach, dass mathematische und religiöse Überzeugungen epistemisch äquivalent sind, woraus sie schlussfolgert, dass solche Erfahrungen nicht einfach aus rationalen Diskursen ausgeschlossen werden dürfen. Jones (2016) argumentiert weiter, dass signifikante nichtsprachliche Erfahrungen nicht automatisch zu moralischem Verhalten im Alltagssinn führen, es bedarf einer Einbettung in eine normative Ordnung, die ihre Legitimität im Modell des „spirituellen Experten“ findet. Deshalb werden in allen spirituellen Traditionen Tugenden wie Demut und Gleichmut als zentral angesehen; sie stellen einen gewissen Schutz dar. Es ist jedenfalls nicht so, dass Transformationsprozesse, wenn sie sich unkontrolliert und ohne jede Anleitung und moralische Klammerung vollziehen, automatisch zu erleuchteten, friedlichen und sich für die Weltgemeinschaft aller Lebensformen einsetzenden Menschen führen, die idealerweise auch noch die Details unserer Alltagsmoral mit uns teilen.
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Erkenntnis und Spiritualität
10.1 Spiritualität als unbedingte Verpflichtung gegenüber der Erkenntnis Metzinger (2013) entwickelt einen Begriff der Spiritualität ausgehend von den unterschiedlichen, derzeit gelebten spirituellen Praxen. Seine Definition ist dabei deontologisch: Spiritualität ist eine bestimmte epistemische Einstellung einer Person, die diese in Gänze als denkendes, fühlendes und körperliches Wesen umfasst. Dabei geht es um eine erfahrungsbasierte Form der Erkenntnis, die mit innerer Aufmerksamkeit, Körpererfahrung und der Kultivierung veränderter Bewusstseinszustände zu tun hat. Worum geht es dabei? Seine Position kann der virtue epistemology zugerechnet werden, wobei er ein bestimmtes Konzept von Erkenntnis bzw. Wissen vertritt, welches nichtsprachliche Erfahrungen einbezieht. Der Gegenstandsbereich, die Erkenntnisziele, die gesuchten Gegenstände des Wissens sind begrifflich nicht klar und deutlich benennbar. Diese Gegenstände decken sich aber teilweise mit denen, die früher von den Religionen und der traditionellen Metaphysik gesucht wurden, insbesondere den Mystikern. Sehr häufig gibt es dabei auch so etwas wie ein Erlösungsideal, manche nennen es „Befreiung“, andere „Erleuchtung“. Typischerweise wird die gesuchte Form von Wissen als eine sehr spezielle Form von Selbsterkenntnis beschrieben, sie ist also nicht nur befreiend, sondern auch reflexiv auf das eigene Bewusstsein des spirituell Praktizierenden gerichtet – man kann sagen, dass es dabei um die Bewusstheit als solche geht, unter Auflösung der Subjekt-ObjektStruktur und jenseits der individuellen Erste-Person-Perspektive.368
Da das Erkenntnisziel nicht klar benennbar ist, die Methoden nicht schon gegeben sind und das Wissen keine sprachliche Form hat, ist es schwierig, von außen (und vielleicht auch von innen) Erkenntnis von Wahn oder Selbsttäuschung zu unterscheiden. Daher setzt Metzinger an den Beginn ein ethisches Ideal, die Integrität, als Kriterium für Spiritualität. Integrität ist dabei eine an ethischen Grundsätzen orientierte Lebensführung: „Es geht bei der spirituellen Einstellung zur Welt in einem sehr besonderen Sinn gleichzeitig um Erkenntnis und um Ethik.“ Dieses Ziel ist mehr als Therapie oder Wellness, es geht um eine radikale Befreiung durch Selbstkenntnis. Dazu ist es aber erforderlich, nichts als gegeben hinzunehmen. Metzinger nennt dies Unbestechlichkeit. Damit ist eine Haltung gegenüber bestehenden Glaubens- und Wissenssystemen gemeint, aber auch eine Haltung gegenüber sich selbst. Er spricht sich dabei explizit gegen einen Erkenntnisbegriff aus, der ohne Begründung bestimmte Formen des Wissens als Spiritualität als unbedingte Verpflichtung gegenüber der Erkenntnis
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illegitim ausschließt. Auch eine solche Verengung, die er bei dogmatischen Religionsauslegungen, aber auch im rationalistischen Reduktionismus vieler Wissenschaften exemplarisch sieht, ist eine Form mangelnder Unbestechlichkeit. Dieser Begriff der Spiritualität macht ihn anschlussfähig an einen wissenschaftlichen Erkenntnisbegriff, der in der Tradition der Aufklärung ebenfalls nur der Wahrheit verpflichtet sein sollte. Metzinger nennt dies intellektuelle Redlichkeit: Spiritualität ist eine epistemische Einstellung, der unbedingte Wille zum Wissen, nämlich zu einer existentiellen Form von Selbsterkenntnis jenseits aller Dogmen und Theorien. […] Was heißt es, dass Wissenschaft und die spirituelle Einstellung aus derselben normativen Grundidee entstehen, aus einer gemeinsamen Wertvorstellung? Erstens der unbedingte Wille zur Wahrheit – es geht um Erkenntnis, nicht um Glauben und zweitens das normative Ideal der absoluten Ehrlichkeit sich selbst gegenüber.369
Spiritualität und Wissenschaft haben es nach diesem Verständnis mit derselben Grundmotivation zu tun, dem Erkennen der Wahrheit, wie immer das geht und worin immer sie besteht. Die beiden Bereiche beschäftigen sich dann mit unterschiedlichen Aspekten dieses Unterfangens. Die Wissenschaft bedient sich symbolischer Ordnungen (Sprachen), mit denen sie syntaktisch und semantisch bestimmte Aspekte der Wirklichkeit „nachzubilden“ versucht, die hinsichtlich ihrer Implikationen getestet werden sollen. Die Spiritualität arbeitet subsymbolisch, indem sie untersucht, was Wahrnehmung ist, wenn man diese nicht mehr nur innerhalb einer symbolischen Ordnung erlebt. Beide Formen der Erkenntnis gehören für Metzinger zusammen. Hier ist unschwer ein buddhistischer Einfluss in Metzingers Konzeption zu erkennen (siehe auch Kap. 11). Auch dort unterscheidet man zwischen Philosophie (der wissenschaftliche Teil) und Praxis (z.B. Meditation) als die zwei prinzipiellen und sich gegenseitig ergänzenden Quellen der Erkenntnis, wobei am Ende die Philosophie eine dienende Funktion hat; sie ist eine Leiter, die man, einmal hinaufgestiegen, nicht mehr benötigt. Man erkennt den Einfluss auch an Metzingers konsequenter Orientierung an Erkenntnis. Spiritualität hat zunächst einmal nichts zu tun mit einem Gefühl von Aufgehobenheit oder Sinn und ist in dieser Hinsicht nicht therapeutisch. In der westlichen Wahrnehmung des Buddhismus wird Meditation oft als eine Technik zur Steigerung des Wohlergehens, der Gesundheit, der Konzentrationsfähigkeit, der Wahrnehmungsregulation oder des Mitgefühls verstanden. Endpunkt im Buddhismus ist aber die Erleuchtung bzw. das Erlöschen (Trungpa und Goleman, 2005). Diese Erfahrung kann das Wohl238 |
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ergehen steigern, es wäre aber gleichwohl nur ein Nebeneffekt. Insbesondere im Zen ist der Weg zu einer Erfahrung von Satori keiner, bei dem zunächst das Wohlergehen zunimmt, sondern im Gegenteil gehen mit ihr existenzielle Krisen einher. Es existiert die Vorstellung, dass ein Leben in Illusion Dukkha erzeugt, so dass mit dem Durchbrechen zur wahren Erkenntnis der Wirklichkeit auch Dukkha verschwindet. Aber dieser Begriff von Wohlergehen ist so abstrakt, dass er wohl wenig zu tun hat mit einem alltäglichen Verständnis. Nhat Hanh (1998) macht diesen Punkt sehr explizit: I knew early on that finding truth is not the same as finding happiness. […] You are still hostage to arbitrary conventions set up by others. People judge themselves and each other based on standards that are not their own. In fact, such standards are mere wishful thinking, borrowed from public opinion and common viewpoints. […] Truth cannot be borrowed. It can only be experienced directly.370
Mit dem in den vorherigen Kapiteln Gesagten ist deutlich, dass Metzingers Begriff von Spiritualität und Wissenschaft unüblich ist. Er verwirklicht seinen Anspruch an intellektuelle Redlichkeit, indem er den unhintergehbar normativen Kern jeder Wissenschaft anerkennt und damit auch den normativen Kern seines Erkenntnisbegriffs offenlegt. Hierzu gibt es keine überzeugende Alternative, und es wäre in den Fachwissenschaften einiges gewonnen, wenn ein besseres Verständnis der notwendigen epistemischen Normativität im Kern jeder Wissenschaft existierte. Aber das Problem, welches damit einhergeht, ist offensichtlich: MacIntyre (1981) und Taylor (2007) z. B. haben eindrücklich darauf hingewiesen, dass einer sich subjektivistisch oder relativistisch verstehenden Gesellschaft Werturteile, moralisch, ontologisch oder epistemisch, nichts anderes als Geschmacksurteile oder Meinungen sind. Sie sind nicht letztbegründbar, und niemand kann darauf verpflichtet werden, ihnen zu folgen. Mit einer Epistemologie und Ontologie, die eine scharfe Trennung von Sein- und Sollen-Aussagen mit sich bringt, und in der Sollen-Aussagen keinen Wahrheitswert haben können, wird auch der Kern der epistemischen Normativität zu einer Machtfrage. Warum sollte ich mich auf Aufrichtigkeit und Integrität einlassen? Was aber, wenn wir dieselben hohen Standards der intellektuellen Redlichkeit auch hinsichtlich der Begründungsfrage normativer Konzepte anwenden und zu dem Schluss kommen, dass die Nichtwahrheitsfähigkeit normativer Konzepte die bestbewährte Schlussfolgerung ist? Dann kommt dieses Konzept von Spiritualität und Wissenschaft nur vom Boden, wenn die Menschen sich zufällig freiwillig darauf verständigen. Spiritualität als unbedingte Verpflichtung gegenüber der Erkenntnis
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Klassische Tugendethiken hatten das Problem nicht, weil sie bei allen Dingen ein Telos voraussetzen, und Metzingers Denken folgt klar tugendethischen Linien. Innerhalb solcher Denktraditionen stellt sich das Problem anders. Für z.B. Wittgenstein (1998 [1921]) gehört das Ethische und das Mystische in den Bereich dessen, was sich zeigt. Sprache kann es nicht sagen, aber Sprache kann darauf verweisen. Dadurch ist es aber nicht weniger wahr. In tugendethischen Konzepten wie dem Buddhismus wird davon ausgegangen, dass sich dieses Ethische (in einem noch zu klärenden Sinn) zeigt, wenn man auf dem Weg zur „Erleuchtung“ fortgeschritten ist. Man unterwirft sich aber freiwillig ethischen Regeln, ohne ein tiefes Verständnis ihrer Begründung. Diese Regeln, wie sie im Achtfachen Pfad festgelegt sind, sind nicht perfekt, weil ein tiefes Verständnis eben nicht zu versprachlichen ist. Aber sie dienen als Leitplanken auf dem Weg. Mit dem Wegfall der Illusion, so die Vorstellung, kommt man auch zu einem Verständnis des Ethischen, aber es zeigt sich nicht mehr als abgetrennter Bereich, sondern ist tief verwoben in der Natur des Daseins. So kann man Arne Næss (1988) und auch Nhat Hanh (1998) in dem folgenden Zitat verstehen: People think it is impossible to establish a system of ethics without referring to good or evil. But clouds float, flowers bloom, and wind blows. What need have they for a distinction between good and evil? There are people who live like clouds, flowers, and wind, who don’t think about morals, yet many people point to their actions and words as religious and ethical models and praise them as saints. These saints simply smile. If they revealed that they do not know what is good and what is evil, people would think they were crazy.371
Wie man erkennt, erzeugt auch ein solches System genau wie der Subjektivismus und der Relativismus eine Tendenz zur epistemischen Schließung. Aber aus der Binnenperspektive des in unserer Kultur dominanten Systems erscheint eine solche Begründung von Normativität nicht ohne weiteres überzeugend.
10.2 Die fehlende Hälfte der Spiritualität Damit verbleibt aber das Problem, wie man einen Anschluss zwischen diesem Begriff der Spiritualität zu einem Begriff schafft, bei dem man sich auf Erfahrungen des „Einsseins“ oder der „Heilung“ bezieht. Kamitsis und Francis (2013) beispielsweise definieren Spiritualität als die Erfahrungen und/oder die Überzeugungen eines Individuums, die seinem Dasein Sinn geben und es erlauben, 240 |
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den gegenwärtigen Kontext zu transzendieren. Dieser Begriff ist z.B. in der Umweltethik verbreitet, wo erhabene Erfahrungen in der Natur als spirituelle Erfahrungen gewertet werden (siehe Kap. 12). Diese Definition scheint sich zunächst deutlich von Metzinger (2010) zu unterscheiden, auch wenn er mit dem Hinweis auf „Praxis“ eine nichtkognitive, körperliche Form von Wissen andeutet. Sie sind sich aber näher, als man auf den ersten Blick denken könnte, wenngleich sie in einem wichtigen Sinn nicht deckungsgleich zu sein scheinen. Sinn entsteht für Metzinger gerade daraus, dass man unbestechlich nach Erkenntnis strebt. Damit engt er den Sinnbegriff zunächst ein. Sinn ist keine rein kognitive, sondern eine ganzheitliche Erfahrung, die eine körperliche und eine zeitliche Perspektive hat. Metzingers Begriff der Spiritualität, der seinem Anspruch nach empirisch gewonnen ist, erscheint an dieser Stelle zu eng zu sein. Begriffe wie „Heilung“ oder „Einswerden“, die auf „Krankheit“ oder „Fragmentierung“ als Ausgangszustand verweisen, implizieren, dass man diese durch spirituelle Praxis überwinden will. Eine ähnliche Vorstellung finden wir in Tugendethiken, die zwischen einer defizitären „ersten Natur“ und einer „zweiten Natur“ der Fülle unterscheiden: Erst mit Entwicklung der Tugenden wird der Mensch eudaimon, glückselig sein, und dies ist mit Erkenntnis und mit Übung verbunden. Erkenntnis ist insofern zentral, als dass die Einübung der Tugenden nicht dogmatisch erfolgen sollte, also bloßer Glaube an die Richtigkeit ohne tiefe Einsicht in sie ist. Erkenntnis erlaubt daher, das Wesen und die Facetten des Defizitären zu erkennen und zu verstehen, welche Einflüsse es ausübt und wie man es überwinden kann. Aber die bloße Einsicht genügt nicht: auf dem Weg von der ersten zur zweiten Natur müssen schlechte, alte Gewohnheiten aufgelöst und neue, gute Gewohnheiten gebildet werden. Es ist wie das Erlenen eines Musikinstruments: Es genügt nicht, theoretisch zu verstehen, wie man spielt, man muss es einüben. Die virtuose Musikerin spielt mühelos und situativ angemessen. Dies ist in der Tugendethik Phronesis, praktische Weisheit. Die Musikerin verkörpert die Fähigkeit, das Instrument und die Musik sind zu ihrer zweiten Natur geworden. Diese Idee wenden Tugendethiken auch reflexiv auf Verhaltens- und Denkweisen im Umgang mit sich selbst und anderen an. Fähigkeiten wie Achtsamkeit sind hier zentral. Wir finden ähnliche Ideen z.B. in der aristotelischen Tugendethik, im Buddhismus, in den yogischen Traditionen des Hinduismus und im Daoismus. Hier ein kurzes Beispiel: Im Daoismus wird das mit den Begriffen Wu-wei und De repräsentiert: Ein Handeln im Zustand des Wu-wei ist anstrengungslos, harmonisch. Dieser Zustand der Harmonie ist umfassend und komplex, er umfasst den Körper, die Gefühle und den Geist. Menschen, die im Zustand des Wu-wei sind, wird De zugeschrieben, eine Art von charismatischer Ausstrahlung, die als Signal für das Die fehlende Hälfte der Spiritualität
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Erreichen innerer und äußerer Harmonie genommen wird. Die Fähigkeit ist aber nicht einfach gegeben, sie muss kultiviert werden.372 Die Körperlichkeit dieser Praxis ist auch für die Art der Erkenntnis wichtig: Wie wir aus den Neurowissenschaften wissen, entsteht bewusste Wahrnehmung in einem komplexen Prozess der Intero- und Exterozeption,373 es werden also körperexterne und körperinterne Reize zu einem Bild der bewussten Realität verdichtet, die das Denken „grundieren“. Veränderungen in den körperinternen Vorgängen haben daher einen Einfluss auf das Bewusstsein. Diese Veränderungen beeinträchtigen natürlich nicht das Ergebnis der Rechnung „2 + 2 = 4“, aber der spirituelle Erkenntnisbegriff will ja gerade über analytische Propositionen wie die obige hinausgehen. So sehr sich diese Traditionen in den Details unterscheiden mögen, teilen sie doch dieselbe Grundstruktur, die zu Selbsterkenntnis und dem guten Leben führt. Auch wenn Selbsterkenntnis wichtig ist, kann man gelebte Spiritualität nicht angemessen verstehen, wenn man diesen zweiten Teil der Selbstkultivierung außer Acht lässt. Es geht immer auch um die Balance zwischen dem, was man kognitiv versteht, dem, was man affektiv erlebt, und der Art und Weise, wie man handelt.
10.3 Spiritualität als Heilung: naturalistische Evidenz Aber spätestens hier stellt sich die Frage, warum die „erste Natur“ überhaupt defizitär sein sollte? Und selbst wenn sie es ist, würde der Prozess der Kultivierung der Tugenden wirklich zu Einsicht, Harmonie und dem guten Leben führen, oder hat nicht vielmehr Freud recht, der diesen Prozess der Zivilisation als notwendig, aber auch notwendig defizitär betrachtet: die zweite Natur ist, selbst wenn alles gut geht, eine neurotische Triebsublimation? Kommen wir zur ersten Frage und beantworten sie aus Sicht der Gegenwart und exemplarischer Evidenz der modernen Evolutionspsychologie, Psychologie und Neurowissenschaft, weil hier die Forschung der vergangenen Jahrzehnte ein deutlich klareres Licht auf die zum Teil sehr alten Tugendlehren wirft. In der Evolutionsbiologie wird der Begriff Mismatch verwendet, um eine Situation zu beschreiben, in der ein Organismus nicht perfekt an seine Umwelt angepasst ist. Der normative Maßstab ist hierbei die Überlebenswahrscheinlichkeit der genetischen Information, und die Ursachen für Mismatches sind vielfältig. Lieberman (2014) hat den Begriff aus diesem Kontext geborgt und auf Menschen angewendet. Dort ist der normative Referenzmaßstab Wohlergehen oder Gesundheit. 242 |
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Und er argumentiert, dass viele der gängigen Zivilisationskrankheiten – wie der Name schon sagt – Ausdruck von Mismatches durch eine Interaktion mit einer von Menschen selbstgeschaffenen Umwelt sind. Die Grundüberlegung ist sehr einfach und lässt sich auch auf andere Verhaltensweisen übertragen: Das, was wir unsere Persönlichkeit nennen, ist der vorläufige Endpunkt eines Anpassungsprozesses an die Welt, in der wir leben, inklusive anderer Menschen, Supermärkte, Social Media und Netflix. Zwischen Generationen können Anpassungen durch eine Veränderung der genetischen Information erfolgen. Der Mensch ist aber insbesondere auch dadurch ausgezeichnet, dass er innerhalb eines Lebens mittels verschiedener Mechanismen Anpassungen vollbringt. Diese reichen von den epigenetischen Aktivierungen bestimmter Sequenzen der DNA über die Kalibrierung der Emotionen an bestimmte Erfahrungen (man lernt durch eine Verbindung von Situationen mit Emotionen, dass z.B. bestimmte Musik „schön“ klingt oder dass eine bestimmte Straße „gefährlich“ ist) bis hin zu den bewussten Erinnerungen und deren Einbettung in Geschichten, die die Struktur der Sprache und kulturelle Geschichtsbausteine verwenden. Diese Kalibrierungs- und Lernprozesse wiederum verlaufen innerhalb bestimmter genetisch determinierter Lernmechanismen (wir geben Signalen von Gewalt oder Sex besondere Aufmerksamkeit, das Dopaminsystem ermöglicht Lernen auf eine bestimmte Art, ...). Individuelle Mismatches können unterschiedliche Ursachen haben, und wir betrachten hier nur einige, die durch individuelle Anpassungen innerhalb eines Lebens entstehen können: Der Lernprozess kann dysfunktional verlaufen. Ein extremes Beispiel ist eine posttraumatische Belastungsstörung. Während der Traumatisierung lernt das Gehirn sehr rasch, um in Zukunft solche Situationen vermeiden zu können. Aber der Lernprozess lähmt die Person in der Zukunft (siehe auch Kap. 9 zu Trauma). Die Erfahrungen, auf Basis derer ein Mensch sich adaptiert, sind für die Umwelt nicht repräsentativ. Ein Beispiel hierfür ist ein Elternhaus, welches selbst dysfunktionale Verhaltensweisen an den Tag legt und diese an das Kind weitergibt. In der gegenwärtigen Gesellschaft finden sich aber insbesondere technologische Ursachen mangelnder Repräsentativität. So sind wir, wie bereits gesagt, evolutionär darauf eingestellt, Gewalt und Sex Aufmerksamkeit zu schenken. In der modernen Aufmerksamkeitsökonomie hat dies aber zur Folge, dass in den Medien Sex- und Gewaltdarstellungen im Verhältnis zum Alltag deutlich überrepräsentiert sind, was negative Folgen haben kann.374 Insbesondere unsere emotionalen Lernmechanismen unterscheiden nicht perfekt zwischen der „wirklichen“ Wirklichkeit und der medial aufbereiteten Wirklichkeit: beides „wirkt“.
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Die Erfahrungen, auf Basis derer ein Mensch sich adaptiert, sind im Moment des Lernens zwar adaptiv, aber die Umwelt ändert sich schneller als die Adaptionsfähigkeit des Menschen. Ein Beispiel ist der von Améry benannte Prozess der kulturellen Alterung (siehe Kap. 6): Durch eine rasche Änderung der technologischen und kulturellen Standards findet mit dem Altern ein Prozess der Entfremdung statt, weil die alten Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen in der veränderten Umwelt nicht mehr passen. Der Lernmechanismus selbst ist für die Umwelt, in der er lernt, schlecht adaptiert. Ein Beispiel hierfür ist das Dopamin-Belohnungssystem (siehe auch Kap. 1 und 8), welches eine wichtige Rolle in Lernprozessen und zur Motivation von Verhalten zur Sicherung von Ernährung, Reproduktion und sozialer Rangordnung spielt. Die spezifische Funktionsweise (es kodiert positive Überraschungen) führt dazu, dass man in eine „hedonische Tretmühle“ geraten kann, in der man nach immer extremeren Reizen sucht.375 Weiterhin spielt es eine wichtige Rolle bei der Bildung von Gewohnheiten, wovon die Werbeindustrie schon lange Gebrauch macht. Aber erst mit der Entwicklung von Social-Media-Plattformen und anderen Apps, die explizit darauf ausgelegt sind, Anwesenheitszeit und Aufmerksamkeit durch eine gezielte Aktivierung des Dopaminsystems zu maximieren, wurde dieser Mechanismus gezielt großflächig genutzt.376 Ähnliches sehen wir bei industriell gefertigten Lebensmitten, die z.B. unsere evolutionär verankerten Reaktionen auf Zucker und Fett ausnutzen.377 Diese Beispiele sollen genügen, um einen ersten Einblick in das moderne Verständnis von Tugendethik als Habitualisierungsethik zu geben. Was Philosophen in Ost und West vor ungefähr 2500 Jahren offenbar schon thematisierten, wird heute wiederentdeckt: Wir werden, was wir wiederholt tun, egal, was es ist. Daher sollten wir, wenn möglich, Sorgfalt bei der Auswahl der Erfahrungen walten lassen, die wir suchen. Die skizzierten Lernmechanismen und affektiven Belohnungs- und Bestrafungssysteme beeinflussen dabei auch die Ebene der Narrative, der Geschichten, die wir über uns und die Welt erzählen; auch sie bekommen eine affektive Tönung und werden zu unserer zweiten Natur. Tugendethik ist dann zu Beginn auch ein Aufruf, den Naiven Realismus, der uns glauben macht, die Welt entspräche genau unseren Wahrnehmungen mit allen Gefühlen und Geschichten, als Teil der Illusion zu betrachten, die es zu überwinden gilt, wenn man den Weg von der ersten zur zweiten Natur nicht einfach geschehen lassen will, sondern ihn aktiv gestalten möchte. Und die Beispiele sollten verdeutlicht haben, dass es auch in unserer Welt zahlreiche Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung gibt, die man als Mismatch bezeichnen kann. Säkulare Spiritualität bedeutet dann auch einen Willen zum „Einswerden“, zur „Heilung“, zur 244 |
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Transformation als einer bestmöglichen Entwicklung einer „zweiten Natur“. Dies scheint die beste Übersetzung zwischen diesen Philosophien und der naturalistischen Evidenz moderner Forschung zu sein. Wenn man sich die Beispiele für Mismatches ansieht, so könnte leicht der (falsche) Eindruck entstehen, es gebe eine allein individuelle Verantwortung für den Umgang mit Prozessen, die gesellschaftlich sind. Das Gegenteil ist der Fall, es steht auch die Gesellschaft in der Verantwortung, es dem Einzelnen nicht unnötig schwer zu machen. Aristoteles formulierte das so: We become just by the practice of just actions, self-controlled by exercising self-control, and courageous by performing acts of courage. […] Lawgivers make the citizens good by inculcating [good] habits in them, and this is the aim of every lawgiver; if he does not succeed in doing that, his legislation is a failure. It is in this that a good constitution differs from a bad one.378
Diese Ausführungen sollten zugleich auch eine Antwort auf die zweite Frage geben: Wenn Habitualisierung und andere Formen des Lernens und der Anpassung Teil des Menschseins sind, und wenn unterschiedliche Formen der Anpassungen einem guten Leben unterschiedlich zuträglich sind, dann sollte man, so gut es geht, Sorge tragen, dass diese Anpassungen gelingen, was immer die konkrete Vorstellung eines gelingenden Lebens sein mag.
10.4 Säkulare Spiritualität Selbsterkenntnis bedeutet daher auch, die unterschiedlichen Mechanismen der Adaption immer besser zu verstehen. Also beispielsweise zu sehen, welche Rolle Sprache bei der Konstruktion der Welt und des Selbst hat, und welche Verhaltensweisen und Denkmuster einem guten Leben zu- und abträglich sind. Dies ist aber nur die Diagnose. Die Therapie, die dann zu „Heilung“ führt, ist eine Anwendung auf das eigene Leben, indem man versucht, so gut es geht, schlechte Gewohnheiten und Denkweisen zu überwinden und gute Gewohnheiten und Denkweisen zu entwickeln. Ja mehr noch, diese Prozesse verstärken sich gegenseitig: Mit zunehmender Praxis kommt man auf immer höhere Ebenen des Verständnisses, was dann wiederum zu einer veränderten Praxis führt. Unbestechlichkeit bedeutet in diesem Prozess, nichts einfach dogmatisch zu glauben, sondern an jedem Punkt selbst zu erspüren, ob „es stimmt“. Säkulare Spiritualität lässt sich damit zusammenfassend als ein unbedingter Wille zur Wahrheit und Säkulare Spiritualität
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zur Transformation verstehen. Man wird vielleicht nie an einem Endpunkt ankommen, aber darum geht es nicht, es geht um den Prozess. Alles so zu lassen, wie es ist, mag bequem sein, aber es ist auch Ausdruck einer selbstgewählten Illusion und Unfreiheit.
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11. Buddhismus How may we overcome the fear of birth and death and arrive at the state that is as indestructible as a diamond? Beginn der Diamond Sutra
Wir hatten gesehen, dass Helden als Bewahrer der Ordnung und als Zerstörer der Ordnung auftreten können. Helden als Bewahrer lösen dabei auf eine sehr bequeme Art ein motivationales Problem, welches in postheroischen Gesellschaften auftritt: Wenn der gesellschaftliche Entwurf Verantwortung an die Regelebene abgibt und damit die Verfolgung des engen Eigeninteresses für das postheroische Subjekt legitim erscheint, benötigt man bei einer Bedrohung dieser Ordnung einen Menschen mit besonderer Motivation, der aber gleichsam die zentralen Werte verteidigt und sie nicht überwindet. Dieses Modell nimmt den gewöhnlichen Nichthelden aus der Verantwortung: Er mutet sich nichts zu. In dieser Vorstellungswelt bleiben der Konflikt, die Bedrohung und die Gewalt aber latent im Hintergrund aktiv, sie werden dadurch neutralisiert, dass der Held sie sich zur Verteidigung der Ordnung aneignet. Anders als in tugendethischen Vorstellungen der Persönlichkeitsentwicklung erscheint dieser Umgang in einer subjektivistischen Gesellschaft, in der die Erzählung von Werterelativismus und gegebenen und damit höchstens zu entdeckenden Persönlichkeitsmerkmalen und Wertvorstellungen ein hohes Maß an Plausibilität genießt, auch der einzig mögliche. Und doch ist diese Konzeption des Menschen als der Gesellschaft entgegengestelltes Individuum mit schon vorgefertigten Interessen wie gesehen weder konsistent mit der Forschung, noch ist sie ideengeschichtlich die Regel. Wenn dem aber so ist, so öffnen sich neue und zugleich sehr alte Möglichkeiten des Umgangs: Angst vor dem „Chaos“ muss nicht mehr bewältigt werden, indem man entweder das Regelsystem weiter technokratisch perfektioniert, die Verantwortung an einen Helden abgibt oder sich selbst durch Anhäufung von Macht vor dem „Anderen“ schützen will. Vielmehr kommt als weitere Option die Heldenreise als Reise nach innen, als einer Überwindung der Angst durch eine Konfrontation mit ihren inneren Quellen ins Sichtfeld. Diese dritte Option würde es erlauben, auf Leid, Bedrohung und Angst mit Liebe und Mitgefühl und Versöhnung zu reagieren. Sie würde es erlauben zu verstehen, im Handeln des Anderen dessen Ängste und Leiden zu erkennen. Und sie würde es erlauben, das Säkulare Spiritualität
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eigene Leben aus einer Position der inneren Freiheit zu führen. Moral ist dann nicht mehr nur ein Regelungsmechanismus für unvermeidliche Konflikte, sondern Ausdruck eines in diesem Sinne aufgeklärten Eigeninteresses. Diese Vision steckt im Kern des Christentums und anderer Religionen, unabhängig von den sie umgebenden metaphysischen Lehren und gelebten Praxen. Die Heldenreise ist eine erhabene Reise nach „innen“, auf der „Monster“ besiegt werden müssen, damit man nach „außen“ mit sich selbst und allem anderen gut umgeht. Aus dieser Sicht sind die vielfältigen Krisen der Gegenwart zunächst einmal spirituelle Krisen einer mangelnden Selbstkenntnis. Und nur, wenn sie als spirituelle Krisen verstanden werden, kommen Lösungen in den Sinn, die nicht auf Zwang basieren oder selbstwidersprüchlich sind: The ecological form of the dialectic of Enlightenment is this: Enlightenment’s instrumentalization of nature frees mankind from the tyranny of nature (disease, famine), but its disenchantment of nature licenses the destruction of nature and hence of mankind. […] That crisis is as likely to be spiritual as material.379
Aber ein gewichtiger Einwand bleibt bestehen: Ist Selbsttransformation möglich? Und falls ja, in welcher Weise? Wir werden uns in diesem Kapitel hiermit exemplarisch auseinandersetzen. Als Beispiel dient dabei die Vorstellung von Selbsttransformation, die im Buddhismus entwickelt wurde. Diese Entscheidung hat Vor- und Nachteile. Ein wesentlicher Nachteil besteht sicherlich darin, dass der Eindruck entstehen könnte, es solle eine Art von Bekehrung zum Buddhismus als Religion versucht werden. Es könnte auch der Eindruck entstehen, dass die Inhalte zwar vielleicht interessant sind, aber ohne Relevanz bleiben, weil man nun einmal im „Westen“ nicht in einer buddhistischen Kultur beheimatet ist. Buddhismus soll hier aber nicht primär als Religion, die gekoppelt ist an spezifische Kulturen, verstanden werden. Vielmehr sprechen drei Umstände für diese Strategie. (1) Der blinde Fleck auf der eigenen Netzhaut des Denkens wird am besten rekonstruierbar, wenn man versucht, die Welt aus der Perspektive eines anderen Denkens zu verstehen. (2) Darüber hinaus entwickelt Batchelor (1998, 2010) eine strikt säkulare Lesart des Buddhismus, indem er auf die ersten Schriften des Buddhismus zurückgeht und zeigt, dass dort kein Interesse daran bestand, ein geschlossenes metaphysisches System zu Erklärung des Wesens der Realität zu entwickeln. Vielmehr werden aus diesen dem historischen Buddha zugeordneten Schriften Ideen geborgt, die in der damaligen indischen Kultur existierten (wie Reinkarnation oder Karma), um Vorstellungen des guten Lebens vermitteln zu können. Ontologische oder metaphysische Fragen sind für diesen 248 |
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Zweck aber unerheblich, und der historische Buddha hat sich konsistent geweigert, zu solchen Fragen Stellung zu nehmen. Ein Beispiel hierfür ist die Parabel vom vergifteten Pfeil, in der es um einen Mann geht, der von einem solchen Pfeil getroffen wurde. Der Buddha argumentiert, dass man in einer solchen Situation nicht danach fragen sollte, wer einen verwundet hat, welchen Namen der Täter hat und welchem Clan er angehört, ob er klein oder groß ist, helle oder dunkle Haut hat, ob die Bogensehne von einem Ochsen oder Wasserbüffel stammt und aus welchem Material der Pfeil gefertigt ist. Wenn man sich mit diesen Fragen aufhält, stirbt man, bevor man sich an die eigentliche Arbeit machen kann: den Pfeil aus der Wunde zu entfernen. Daher handelt es sich nach Batchelor bei den Lehren des Buddha vor allen Dingen um eine Anleitung zur Praxis und eine Ethik im tugendethischen Sinn des Begriffs, um eine Lehre des gelingenden Lebens. Man kann daher die buddhistische Lehre als reine Praxis verstehen, ohne damit irgendwelche metaphysischen Wahrheiten über Reinkarnation, Karma etc. akzeptieren zu müssen. (3) Gleichzeitig und hiermit anschlussfähig existiert eine ausführliche empirische Forschung zu bestimmten Aspekten der buddhistischen Lehre, die eine Bestätigung oder Falsifizierung erlauben. Es geht hier also nicht um den Buddhismus als solchen, sondern darum, was man aus ihm lernen kann, wenn man die Idee der inneren Heldenreise ernst nimmt. Ein solcher Versuch der komparativen Philosophie steht gleichwohl legitimerweise unter dem Verdacht des „Orientalismus“, einer Tendenz zur Übervereinfachung komplexen Denkens in stereotype „Ost“- und „West“-Schemata,380 die dann eventuell noch mit romantisierenden oder rassistischen Vorurteilen aufgeladen werden. Wong (2020) fasst die Probleme und Chancen wir folgt zusammen: Doing comparative philosophy well can be very difficult because of the vast range of texts and their intellectual and historical contexts it requires its practioners to cover. Oversimplifications, excessively stark contrasts, and illicit assimilations count as the most frequent sins. One benefit of comparative philosophy lies in the way that it forces reflection on the most deeply entrenched and otherwise unquestioned agendas and assumptions of one’s own tradition. Another benefit at which its practioners often aim is that the traditions actually interact and enrich one another.381
Der Buddhismus (mit seinen vielen Schulen, hier geht es gleich schon los) ist deshalb relativ gut geeignet, weil die westliche Forschung hierzu mittlerweile sehr ausführlich ist.
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11.1 Grundlegendes zum Buddhismus Buddhistische Meditation insbesondere in der Mahayana-Tradition hat auf zwei Ebenen einen Bezug zum Heroischen. Auf der einen Seite wird behauptet, dass zunehmende Erleuchtung dazu führe, dass Menschen mit mehr Mitgefühl wahrnehmen und handeln. Die Erfahrung der „Selbstlosigkeit“ (Anatta) verändert die Perspektive auf das Verhältnis zwischen den eigenen Interessen und den Interessen anderer Menschen und Lebensformen. Im Mahayana-Buddhismus erreicht ein Meditierender irgendwann einen Grad der Erleuchtung, der ihn zum Bodhisattva macht. Ein Bodhisattva strebt die Buddhaschaft an, um sich für das Heil aller Lebewesen einzusetzen und ihnen zur Erleuchtung zu verhelfen (was aber nicht bedeutet, dass dieses Heil mit den Alltagsvorstellungen von Wohlergehen und Moral identisch ist).382 Zum anderen ist der meditative Weg selbst eine Heldenreise, bei dem es um die fundamentale Transformation der Wahrnehmung geht. Dieser Weg geht in der Regel mit Krisenmomenten einher. Diese Krisenmomente bilden auch die Verbindung zum Erhabenen, welches ja an der Schwelle zwischen Ordnung und Chaos angesiedelt ist. Das Erhabene bezieht sich auf ein Gefühl der Bedrohung des „Selbst“ (das Dynamisch-Erhabene nach Kant) oder der Überforderung des Verstandes (das Mathematisch-Erhabene nach Kant). Bei der Zerstörung des Selbst geht es prinzipiell auch um die Bedrohung des physischen Lebens, aber es ist vor allen Dingen von einer symbolischen Zerstörung die Rede, von einem Außerkraftsetzen der Denk- und Fühlgewohnheiten, die sich um die Wahrnehmung eines „Selbst“ gruppieren. Dies wird insbesondere deutlich, da die Verfügbarkeit einer Distanzierungsstrategie vorausgesetzt wird, die den eigenen Tod zwar evoziert, ihn aber gleichsam ausschließt. Die Überwindung des „Selbst“ wird damit zu einer symbolischen. Beide Formen des Erhabenen entspringen somit derselben Quelle, denn auch bei der Überforderung des Verstandes kommt es zu einem Zusammenbruch dieser Interpretationsmuster. Wenn im Moment des Erhabenen aber ein „Selbst“ bedroht ist, was ist mit diesem „Selbst“ genau gemeint? Die wohl umfassendsten Antworten auf diese Frage wurden im Buddhismus entwickelt, und wir werden in diesem Kapitel sehen, dass eine ausführlichere Beschäftigung mit der Vorstellung von „Selbst“ in dieser Philosophie es erlauben wird, die Einzelteile der bisherigen Argumentation zusammenzufügen und eine Deutung der Verfasstheit moderner Gesellschaften abzuleiten. Dazu werden wir im kommenden Abschnitt zunächst einige der Grundprinzipien des Buddhismus kurz einführen (insbesondere Bedingtes
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Entstehen, Impermanenz, Dukkha, Vier Edle Wahrheiten), um daran anschließend ausführlicher die Vorstellungen zum Selbst anzuschauen. Zuvor ist aber noch eine grundlegende Bemerkung wichtig: Der Buddhismus ist eine mehr als 2500 Jahre alte Philosophie, Weisheitslehre, Religion, gelebte Tradition, die von enormer Komplexität ist. Viele Behauptungen der gelebten Praxis widersprechen fundamental einem modernen wissenschaftlichen Weltverständnis. Gleichwohl existiert ein philosophischer oder wissenschaftlicher Kern, der unabhängig von der Frage, wie man sich zu all den anderen Elementen dieser Weltsicht stellt, tiefe Einsichten erlaubt und auch weitgehend konsistent mit einem modernen Wissenschaftsverständnis ist. Im Gegenteil zeigt die sich intensivierende Beschäftigung mit der buddhistischen Lehre in der westlichen Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten, dass hier ein Fundus an Wissen verfügbar gemacht werden kann, der auch der wissenschaftlichen Weiterentwicklung wichtige Impulse gibt. Wir werden den Buddhismus im Folgenden nur auf diesen Kern beschränken und an vielen Stellen über die subtilen Unterschiede zwischen den einzelnen Denktraditionen in der Hoffnung hinweggehen müssen, gleichwohl die Schnittmenge eines gemeinsamen Verständnisses dieser Traditionen zu treffen.
11.2 Die drei zentralen Vorstellungen In der buddhistischen Lehre spielen neben Dukkha die Begriffe Impermanenz (Anicca) und Bedingtes Entstehen (Paticca-Samuppada) eine zentrale Rolle.383 Impermanenz besagt, dass alles in einem Prozess ständiger Veränderung begriffen ist. Aspekte der Welt mögen dem Geist als unveränderlich erscheinen, dies basiert aber auf einer Illusion. Impermanenz spielt insofern eine wichtige Rolle, da eine Weigerung, sie anzuerkennen, eine Quelle von Dukkha, Unzufriedenheit oder Leid, ist. Es geht einem gut und man will keine Veränderung, man altert und möchte jung bleiben: in den Moment der Erfüllung schiebt sich Leid, welches darauf basiert, dass man die Veränderung, die die Zeit mit sich bringen wird, nicht anerkennen möchte: „It is not impermanence that makes us suffer. What makes us suffer is wanting things to be permanent when they are not.“384 Impermanenz enthält auch Implikationen für die eigene Identität. Wenn Menschen in einem Prozess der ständigen Veränderung begriffen sind, dann muss die Vorstellung eines stabilen Selbst eine Illusion sein. Dies ist eine Dimension des Konzepts des Nicht-Selbst, der Leerheit der eigenen Existenz (Anatta):
Die drei zentralen Vorstellungen
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Bloß Leiden gibt es, doch kein Leidender ist da. Bloß Taten gibt es, doch kein Täter findet sich. Erlösung gibt es, doch nicht den erlösten Mann. Den Pfad gibt es, doch keinen Wand’rer sieht man da.
Diese Verse aus dem Pali-Kanon verweisen auf die Technik, mit der man solche theoretischen Behauptungen einer Überprüfung unterzieht: Wenn behauptet wird, es gebe nur Leiden und keinen Leidenden, so klingt dies zunächst für viele Menschen absurd. Der Buddhismus basiert aber auf einer detaillierten Erkundung des Geistes auf Basis der Introspektion. Wenn man sich auf diese Introspektion einlässt, so wird man feststellen, dass im Bewusstsein (also phänomenologisch) einfach nur Leiden existiert und niemand, an dem dieses Leid festgemacht ist. Dass wir gleichwohl glauben, es gäbe auf der Ebene des Bewusstseins jemanden, der leidet, liegt daran, dass diese rein konventionelle Interpretation akzeptieren, ohne uns ihres Konventionscharakters bewusst zu sein. Das vielleicht zentrale Element der buddhistischen Lehre ist, genau hinzuschauen, um zu verstehen, an welcher Stelle Konventionen des Denkens und Fühlens eine verzerrte Darstellung davon geben, was tatsächlich auf der Ebene des Bewusstseins passiert. Auf diesen für unser Argument zentralen Punkt werden wir im nächsten Abschnitt noch im Detail eingehen. Das zweite zentrale Konzept nennt sich Bedingtes Entstehen. Damit ist gemeint, dass alle Phänomene, die wir für existent halten, von der Existenz anderer Phänomene abhängen. Man kann ein Phänomen nicht aus seinem Kontext herausnehmen, ohne das Phänomen zu verändern. Wenn etwas erscheint, dann erscheint es zusammen mit allem anderen: Der Kaffee in meiner Tasse mit dem Wasser aus dem Hahn, das Wasser im Hahn mit dem Regen usw. Aber auch Begriffe müssen als aufeinander bezogen gesehen werden: Man kann einen Berg nur erkennen, weil es ein Tal gibt und man kann Leid nur erkennen, weil es Freude gibt. Die Phänomene sind nicht isoliert. Bedingtes Entstehen hat zwei für unser Argument wichtige Folgen: Zum einen verweist es zurück auf die Idee von Anatta, Nicht-Selbst, da ein Selbst nicht nur permanenten Veränderungen unterworfen ist, sondern in seinem Aufscheinen auch von allem Anderen abhängt. Eine Unterscheidung Individuum–Umwelt ist auf einer pragmatischen Ebene zur Erreichung bestimmter Ziele vielleicht nützlich. Man begeht aber einen Fehler, wenn man dieses konventionelle Modell der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit verwechselt und z.B. davon ausgeht, ein Individuum sei auch unabhängig von dieser Umwelt denkbar. Und zum anderen
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Buddhismus
führt es zur Einsicht der Interdependenz aller Dinge, seien sie organisch, seien sie anorganisch. Die beiden Konzepte Impermanenz und Bedingtes Entstehen sind komplementär aufeinander bezogen, wir haben es sozusagen mit einer zeitlichen und räumlichen Dimension desselben grundlegenden Prinzips zu tun, nach dem alles prozesshaft ineinanderhängt, will man eine Verankerung dieser auch wiederum nur konventionell gedachten Dimensionen versuchen.
11.4 Die Vier Edlen Wahrheiten Vier Edle Wahrheiten sind der wohl bekannteste Aspekt der buddhistischen Lehre, und wir werden sie kurz diskutieren. Die Erste Edle Wahrheit: Das Leben ist Dukkha, Leid, Unzufriedenheit, ein Auseinanderfallen von Wollen und Können. Aufgrund dieses Startpunkts wird der Buddhismus manchmal als pessimistisch beschrieben, was aber auf einem zu engen Verständnis des Begriffs basiert.385 Es handelt sich vielmehr um einen Zustand, in dem in einem sehr umfassenden Sinn das Wollen und das Können nicht zusammenpassen. Diese Vorstellung ist in bemerkenswerter Weise kongruent mit westlichen Vorstellungen, die sich z.B. in der Ökonomik finden, die sich als Wissenschaft der Knappheit versteht. Allerdings sind die Schlussfolgerungen, die man in der Ökonomik und im Buddhismus aus diesem sehr ähnlichen Startpunkt zieht, diametral entgegengesetzt: Stellvertretend für den westlichen Ansatz sucht die Ökonomik nach einer Linderung der Knappheit durch eine Vergrößerung der zur Verfügung stehenden Mittel. Die Fähigkeit des Einzelnen, in der Welt wirken zu können, soll vergrößert werden. Im Buddhismus geht es ebenfalls um die Verringerung von „Knappheit“ im Sinne von Dukkha, aber die Lösung liegt darin, die Perspektive auf das, was wir sind, zu verändern: Dukkha existiert, weil wir eine verfehlte Einstellung zu den Dingen haben. Wie noch darzulegen ist, wird damit nicht die Existenz physiologischer Grundbedürfnisse geleugnet. Das wäre absurd. Zimmer (1973) beschreibt das wie folgt: Das Begehren aus Unwissenheit, das Nichts-Besseres-Wissen (avidyā) ist das Problem – nichts weniger und nichts mehr. [...] Wir wissen eben nur nicht, dass wir uns in einer Welt bloßer Konventionen bewegen und dass unser Fühlen, Denken und Handeln von ihnen bestimmt wird. Wir bilden uns ein, unsere Vorstellung von den Dingen stellten ihre letzte Wirklichkeit dar, und so sind wir in sie verfangen wie in den Maschen eines Netzes. Dabei wurzeln sie in unserem eigenen Bewusstsein und in unseren persönDie Vier Edlen Wahrheiten
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lichen Einstellungen; sie sind bloß Schöpfungen unseres Verstandes, konventionelle, unwillkürlich entstandene Modelle, die Dinge anzusehen, zu urteilen und uns zu verhalten; unsere Unwissenheit aber nimmt diese Modelle in jeder Einzelheit und ohne zu fragen an und hält sie und ihre Inhalte für Fakten des Daseins. Dieser Irrtum aber über das wahre Wesen der Wirklichkeit, er ist die Ursache aller Leiden, die unser Leben ausmachen.386
Die Zweite Edle Wahrheit: Die Ursache von Dukkha ist eine Form des selbstzentrierten Verlangens, welches mit Tanha bezeichnet wird. Tanha hat viele Bedeutungen, die alle von Relevanz sind. Der Begriff wird manchmal mit Anhaftung übersetzt. Die Lehre sagt nicht, dass man zur Beseitigung von Dukkha Verlangen ganz generell überwinden muss, was schon biologisch nicht plausibel wäre. Vielmehr bedeutet Tanha so etwas wie Durst, Gier, Habgier, also eine Form des Wollens, die bis zum Punkt gesteigert ist, an dem es der eigenen Realisierung im Wege steht und die uns an Vorstellungen festhalten lässt, obwohl sie reine Konventionen sind.387 Folgt man Zimmers Lesart der Ursachen von Leid, so erkennt man den Zusammenhang zum Begriff der Spiritualität als ein unbedingter Wille zu wissen: Wenn man erkennt, dass das ganze Gemisch aus unerfülltem Begehren, Angst usw. Ausdruck eines mangelnden Verständnisses der Konstruiertheit und den Konstruktionsbedingungen unserer Weltsicht ist, dann ist der Versuch, Heilung von diesem Leiden zu finden, nichts anderes als ein Gebot der Vernunft.388 Es ist aber eine Vernunft, die nicht innerhalb der Sprachspiele operiert, sondern sozusagen auf einer Metaebene. Wie das im Einzelnen aussieht, werden wir noch behandeln. Wir erkennen hier aber auch eine Art „epistemische Schwäche“ dieser Lehre: „Und dennoch kann die Lehre kaum den vielen etwas bieten, denn diese vielen sind gar nicht davon überzeugt, dass ihr Leben so ungesund sei, wie es wirklich ist.“389 Es ist wirklich ein epistemisches Dilemma mangelnder Vorstellungskraft, denn das Leben fühlt sich ja für jeden Menschen „normal“ an, die Konstruktionen bleiben unsichtbar. Wieso sollte ich, wenn ich mich gesund fühle, jemandem vertrauen, der mir sagt, ich sei eigentlich krank? Hier besteht ein Zusammenhang zur Krise der Heldenreise, denn in solchen Krisenmomenten entsteht eine Möglichkeit oder ein intensiver Wunsch, das Leben anders sehen zu wollen als bisher. Tanha kann dabei auf angenehme Erfahrungen gerichtet sein: Ich stelle mir vor, dass der Besitz eines Autos angenehme Erfahrungen ermöglicht, und deshalb entwickle ich Tanha für das Auto. Aber Begierde kann auch auf die Abwesenheit von unangenehmen Erfahrungen gerichtet sein. So kann der einsetzende Regen 254 |
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bei einem langgeplanten Gartenfest dazu führen, dass der Regen nicht akzeptiert wird, dass man besessen ist von der Vorstellung, der Regen möge jetzt und hier nicht sein. All diese Vorstellungen beenden den Regen zwar nicht, aber es entsteht eine Doppelung: Zum unmittelbaren Leid durch den Regen kommt nun noch ein selbstfabriziertes Leid hinzu, welches auf der Einstellung zum Regen basiert. Dieses selbstfabrizierte Leid ist Tanha, das Wollen, dass der Regen stoppt, das Wollen, dass die Welt nicht so ist, wie sie ist. Was sich hier andeutet, ist charakteristisch für den Buddhismus: Nur wenn man die Welt radikal so anerkennt, wie sie ist, kann Dukkha überwunden werden. Tanha kann auch auf die Sorge gerichtet sein, neutrale oder positive Erfahrungen zu verlieren. Wir wünschen uns etwas, bekommen es, und begehren dann, es nicht wieder zu verlieren. Dies basiert auf der Nichtanerkennung von Impermanenz. Tanha kann aber auch auf das Selbst bezogen sein: man möchte eine bestimmte Person sein, ein bestimmtes Leben führen, und wird dann von diesem Gedanken eingenommen. Dies kann bis zu dem Punkt gehen, an dem man sich durch die Äußerungen anderer Menschen bedrängt fühlt, weil sie anscheinend die Idee des Selbst in Frage stellen, an welche man sich gebunden hat. All diese Arten von Tanha führen zu Dukkha, und diese Begierde kommt nach buddhistischer Vorstellung aus unserem Inneren und basiert auf Unwissenheit über die wahre Wirklichkeit. Daher kann man Dukkha nur überwinden, indem man tief in die Mechanismen des Geistes schaut, die Tanha erzeugen. Diese Unwissenheit kann dazu führen, dass man Tanha zum Lebensmodell macht, weil man irrtümlich annimmt, dass die Erfüllung der Wünsche zur Erfüllung im Leben führt, zu Glückseligkeit. Dieses Lebensmodell kann für alle Lebensbereiche gelten: Konsum, gesellschaftliche Anerkennung, Karriere und Arbeit, Lebenspartner usw. Die Vorstellung innerhalb eines solchen Modells ist, dass man mit den richtigen Dingen, der richtigen Karriere, den richtigen Freunden und dem richtigen Partner Glückseligkeit findet. Findet man sie nicht, so muss es an den äußeren Umständen liegen, und man muss weiter konsumieren, den Arbeitsplatz wechseln, neue Freunde suchen oder den Partner wechseln. Die Lösung des Problems des eigenen Glücks liegt in der Außenwelt, die man sich auf die richtige Art und Weise zu eigen machen muss. Aus buddhistischer Sicht ist diese Vorstellung, die im Westen vorherrschend ist, Ausdruck tiefer Unkenntnis über die Wirklichkeit. Den Begierden nachzugeben, führt nicht zu Glückseligkeit, sondern macht Thana nur noch stärker, anstatt es zu beseitigen.390 Derselbe Mechanismus gilt aber auch umgekehrt in Situationen des Leids, des Verlusts, der Krankheit. Und auch hier soll Dukkha durch Tanha entstehen. Wie kann das sein? Um das zu verstehen, muss man zwischen Schmerz und Leid Die Vier Edlen Wahrheiten
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unterscheiden. Die Idee dabei ist, dass Schmerz unvermeidlich, Leid aber durch die eigene Haltung zum Schmerz beeinflussbar ist. Dabei ist es wichtig, zu unterscheiden, wie viel des Leids aus dem eigentlichen Ereignis resultiert und wie viel aus einem Selbst, das von dem Schmerz getrennt sein möchte. Wenn man hier genau beobachtet, wird man erkennen, dass ein Teil des Leids nicht durch das Ereignis selbst, sondern durch ein Selbst verursacht wird, welches dieses Ereignis nicht akzeptieren will. Negative Gedanken und Einstellungen zu dem Ereignis führen aber dazu, dass man an dem Schmerz festhält und ihm erst Kraft gibt.391 Ein Teil des Leids entsteht daher dadurch, dass die Wirklichkeit nicht so akzeptiert wird, wie sie ist. Ursache des Leids ist eine verfehlte Haltung zum ursprünglichen Schmerz, die sich in einer bestimmten Form der Begierde äußert. Dann muss zur Überwindung der Begierde aber die Illusion überwunden werden, die dazu führt, die Wirklichkeit nicht so zu akzeptieren, wie sie ist. Stößt man sich beispielsweise den Zeh an einem Möbelstück, geht es nicht darum, den unmittelbaren Schmerz nicht anzuerkennen. Oft reagiert man in einer solchen Situation aber mit einer Kaskade von negativen Gedanken, Gefühlen und Handlungen. So kann man sich selbst für seine Dummheit schelten, man kann der Person Vorwürfe machen, die das Möbelstück dorthin geräumt hat, oder man kann selbst dem Möbelstück Vorwürfe machen. All das ändert den ursprünglichen Schmerz nicht, multipliziert aber das Leid. Mit diesen Einstellungen und Handlungen setzt sich aber die negative Energie fort: Erst durch den spezifischen Umgang mit dem negativen Ereignis wird ihm Energie gegeben, welche in einer Spirale von Negativität endet und welche in der Welt wirkt. Mit dem Verhältnis von Dukkha und Tanha wird eine wichtige Dimension des buddhistischen Freiheitsbegriffs angesprochen, der in sehr ähnlicher Form auch in anderen Tugendethiken existiert: Freiheit als Selbstbestimmtheit des Willens, die möglich wird durch Aufmerksamkeit: It is here in this space between feeling and craving that the battle will be fought which will determine whether bondage will continue indefinitely into the future or whether it will be replaced by enlightenment and liberation. For if instead of yielding to craving, to the driving thirst for pleasure, if a person contemplates with mindfulness and awareness the nature of feelings and understands these feelings as they are, then that person can prevent craving from crystallising and solidifying.“392
Bedeutet all das, dass man im Buddhismus jede Form des Wünschens überwinden muss? Und bedeutet dies dann nicht, dass keinerlei Motivation für das eigene Handeln mehr übrigbleibt? Wie der Begriff Begierde zeigt, geht es mehr 256 |
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darum, nicht dem Entstehen und Vergehen von Gedanken und Affekten hilflos ausgeliefert zu sein und ihnen in einer Kaskade von Emotionen und Narrationen eine Bedeutung zu geben, die dysfunktional ist. Hunger, Liebe, Anerkennung sind normale Bedürfnisse, die Frage ist nur, welchen Stellenwert wir ihnen in der komplexen Dynamik des Begehrens geben. Die Dritte Edle Wahrheit: Die Überwindung von Dukkha wird erreicht, indem Tanha beseitigt wird. Gelingt dies, so erreicht man Nirwana. Nirwana ist dabei kein Ort (wie in bestimmten Vorstellungen der Himmel), sondern eine Erfahrung. Es ist die Erfahrung des Erlöschens (was auch der wörtlichen Übersetzung des Begriffs entspricht). Diese Erfahrung wird als unaussprechlich beschrieben.393 Es ist eine transformative Erfahrung, die sich einer Beschreibung in Worten entzieht, sie muss erlebt werden. Fasst man sie gleichwohl in ein Wort, so wird oft Glückseligkeit verwendet.394 Aber was erlöscht bei dieser Erfahrung? Eine eher tautologische Antwort könnte lauten, dass Dukkha erlöscht. Was aber eher ein Verständnis dieses Erlöschens erlaubt, ist die Vermutung, dass die Vorstellung eines permanenten, vom Rest getrennten Selbst erlöscht. Bei dieser Annäherung kommen die zentralen Ideen des Bedingten Entstehens und der Impermanenz zusammen. Der Begriff Nirwana deutet dann auf einen Zustand hin, in dem die Erfahrung gemacht wird, dass Bedingtes Entstehen und Impermanenz eine bestimmte Bedeutung hinsichtlich des eigenen Lebens haben: Das Selbst ist eine Illusion, die Dukkha erzeugt. Wenn es kein Selbst in diesem Sinn gibt (Anatta), dann gibt es auch nichts, woran sich Tanha festmachen kann. Diese Erfahrung wird ermöglicht, weil das Selbst wegfällt und die Welt ohne Habitualisierungen und Konditionierungen erfahren wird, die die konventionelle Wirklichkeit bestimmen. Dieser Punkt wird eine zentrale Brücke zur Erfahrung des Erhabenen bereitstellen und erscheint zunächst wahrscheinlich nicht sehr überzeugend. Wir werden ihn daher im nächsten Abschnitt genauer betrachten. Ein Ausstieg aus diesen Habitualisierungen und Konditionierungen wird dabei als ultimative Befreiung bezeichnet und beschrieben. Dies ist eine radikale Form der Freiheit, da sie ein Wahrnehmen und Handeln ohne die Bande der Konditionierung und Habitualisierung einfordert. Betrachtet man den Bereich des narrativen Denkens, so heißt dies, dass man sich z.B. der gesellschaftlichen Konventionen, die sich in den Sprachbausteinen verstecken, aus denen man sich die Erzählungen über die Wirklichkeit und die eigene Rolle in dieser zusammenbaut, bewusst ist und diese Geschichten nicht mit der Wirklichkeit verwechselt. Hier wird also eingefordert, dass man den Naiven Realismus des Alltags hinterfragt und in dem Sinn überwindet, dass er nicht mehr handlungsleitend oder Die Vier Edlen Wahrheiten
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-legitimierend ist. Wir haben es hier also mit einer Vorstellung zu tun, die einer radikalen Vorstellung der europäischen Aufklärung ähnelt: Sie fordert Selbstermächtigung ein, Reflexivität in typischerweise transparent bleibende Mythen und Geschichten der eigenen Existenz und der Wirklichkeit zu bringen. Dieser Freiheitsbegriff lässt sich daher am besten mit dem Begriff der Autonomie als Selbstbestimmtheit des Willens beschreiben: Auch wenn ein Handeln aus Konvention im Alltag unvermeidlich ist, wird doch eine Beobachtungsinstanz eingefordert, die diese Konventionen dekonstruiert und damit auch ihre implizite Normativität freilegt. Das ist der Begriff der Spiritualität, den wir im vergangenen Kapitel kennengelernt haben. Dieser Autonomiebegriff folgt aber keiner einfachen Logik von äußerer und innerer Freiheit, da die Einlagerungen der Gesellschaft in das Selbst durch Sprachspiele und Gewohnheiten keine solche Abgrenzung erlauben. Anatta, Nicht-Selbst, steht in enger Verbindung zu einem weiteren wichtigen Begriff, Sunyata: Eine Einsicht in das Bedingte Entstehen und die Impermanenz führt zur Einsicht der Leerheit.395 Es stellt sich aber die Frage: Leerheit von was? Die konventionelle Wahrheit bezieht sich auf die alltägliche Erfahrung und das alltägliche Verständnis der Welt. Sie ist notwendig, um im Leben zurechtzukommen, und sie wird am pragmatischen Maßstab ihres Erfolges hinsichtlich der hinterlegten Ziele gemessen. Aber sie ist auch trügerisch, wenn man sie mit der ultimativen Wahrheit verwechselt. Dies ist ein Glaube an eine inhärente Existenz und ist Ursache von Leid. Zentral dabei ist, wie schon gesagt, die illusionäre Vorstellung unabhängiger Phänomene. Leerheit bedeutet daher die Nichtexistenz inhärenter Phänomene. Das gilt auch für das Selbst und wird dann als Anatta bezeichnet. Die ultimative Wahrheit bezieht sich auf die direkte, nicht-konzeptionelle Wahrnehmung der Leerheit der Phänomene, unvermittelt durch Sprache, Vorstellungen und Gedanken. Wenn diese Erfahrung in immer mehr Bereichen gemacht wird, wird die Leerheit der inhärenten Existenz erfasst. Leerheit ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als das. Sie besagt z.B. nicht, dass nichts existiert oder konventionelle Wahrheit bedeutungslos ist. Auch die konventionelle Wahrheit ist Teil der ultimativen Wahrheit. Die Konventionen führen lediglich nicht mehr in die Irre. Die Vierte Edle Wahrheit: Nirwana kann durch eine bestimmte Form der Praxis erreicht werden, die als Achtfacher Pfad bezeichnet wird. Die dieser Praxis hinterlegte Lehre ist die des Dharma. Der Achtfache Pfad wird oft mit dem Symbol des Rads, dem Rad des Dharma, dargestellt. Diese Metapher ist intentional: mit einem Steuerrad kann die Richtung, in die ein Fahrzeug sich bewegt, beeinflusst werden. Hinter dem Achtfachen Pfad besteht daher die Vorstellung, dass das Fahrzeug so gesteuert werden sollte und gesteuert werden kann, dass Befrei258 |
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ung von Dukkha möglich wird. Radikal am Buddhismus ist die These, dass wirkliche Befreiung nur an dem Punkt möglich wird, an dem keine Konditionierung das Handeln, Denken und Empfinden mehr strukturiert. Zimmer (1973) macht die zentralen Elemente der buddhistischen Lehre sehr intuitiv fassbar, indem er sie ausgehend von der zentralen Metapher lebensweltlich interpretiert. Die Lehre des Buddha wird yāna, Fahrzeug, oder genauer Fähre, genannt. Die Lehre/Fähre ermöglicht, von der Welt des Alltagsverständnisses ans andere Ufer zu kommen, an dem man das Alltagsverständnis überwunden hat und die Welt so sieht, wie sie wirklich ist. Eine Fähre war für den Alltag Indiens mit seinen vielen, wilden und breiten Flüssen zu Zeiten des historischen Buddha von großer Wichtigkeit. Sie waren oftmals die einzige Möglichkeit, von einem Ort an den anderen zu kommen. Und eine Überfahrt war immer mit Mühen und Risiken verbunden. In ihr ist wiederum auch die Idee der Reise als Heldenreise nach innen gespiegelt: Man will von einem Ort an einen anderen. Wenn nun die Reisende an den Fluss kommt, so kommt sie an die Grenze zwischen der bekannten und der unbekannten Welt. Die Überfahrt selbst ist mit Risiken verbunden, und was am anderen Ufer wartet, ist noch unbekannt und ist aus der Ferne auch nur unscharf zu erkennen, wenn überhaupt. Der Fluss ist der Ort der Liminalität, die ganze Situation entspricht dem Erhabenen mit seinen Elementen bekannte Welt – unbekannte Welt – ambivalentes Gefühl – Sicherheit/ Vertrauen: Die Reisende wird sich nur auf den Weg über den Fluss machen, wenn sie darauf vertraut, dass sie am anderen Ufer ankommen und dort finden wird, was sie erhofft hat. Auf der Überfahrt ändert sich langsam die Perspektive: Das andere Ufer taucht aus dem Nebel auf und wird sichtbarer, und das alte Ufer verschwindet langsam und wird unschärfer. Was bisher noch wichtig war, verliert zunehmend seinen Zauber. Vom anderen Ufer aus hat man auch eine ganz neue Sicht auf die Landschaft: Die „normale“ Perspektive hat sich verändert. Während der Überfahrt hat die Reisende nur die Fähre, auf die er sich verlassen muss. Sie ist die einzige greifbare Realität, weder das alte noch das neue Ufer sind da. Nur die Fähre und ihre Ausrüstung können sicherstellen, dass man mit der Strömung und den Untiefen des Flusses zurechtkommt. Die Fähre ist der Achtfache Pfad, die Ausrüstung die Meditation. Sie stellen im Bild des Erhabenen die Sicherheiten dar, das andere Ufer erreichen zu können: Man ist in der Periode der Liminalität nicht auf sich allein gestellt. Auch wenn die Reisende zum Beginn der Überfahrt noch nicht versteht, wozu die einzelnen Ausrüstungsgegenstände gut sind, vertraut sie doch darauf, dass sie ihr werden helfen können, und mit zunehmender Fahrt versteht sie ihren Sinn immer besser. Die Vier Edlen Wahrheiten
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11.5 Die verwirrende Radikalität des Buddhismus Nachdem die Reisende aber am anderen Ufer angekommen ist, benötigt sie die Fähre nicht mehr, es ergäbe keinen Sinn, sie wieder an Land mit sich herumzuschleppen. Die dem historischen Buddha zugeschriebenen Schriften drücken dies so aus: „[I]n gleicher Weise soll man das Fahrzeug der Lehre wegwerfen und vergessen, sobald man das andere Ufer der Erleuchtung einmal erreicht hat.“396 Und ab diesem Punkt zeigt sich die großartige Radikalität der buddhistischen Lehre: Alles das, was hier erzählt wurde, ist wieder nur eine Geschichte, Teil der konventionellen Wahrheit. Am anderen Ufer erkennt man, dass nicht nur die Fähre, sondern auch der Fluss und das zurückgelassene Ufer eine Illusion waren, Ausdruck eines dualistischen Denkens, welches man überwunden hat: Was kann er erblicken, er, der die Grenze überschritten hat, hinter der es keine Dualität gibt? Er schaut – und da gibt es gar kein „anderes Ufer“ mehr; Es gibt keinen trennenden, reißenden Fluss, kein Floss, keinen Fährmann; es kann gar keine Überfahrt über einen nichtexistierenden Strom gegeben haben. Der ganze Schauplatz mit den zwei Ufern und dem Fluss dazwischen ist spurlos verschwunden. Für Auge und Seele des Erleuchteten kann es ja so etwas nicht geben, denn irgend etwas als ein „anderes“ zu sehen oder zu denken [...][,] würde heißen, dass die letzte Erleuchtung noch nicht erreicht worden ist.397
Man hat gegen eine Illusion gekämpft, und das war ja auch die These, mit der man begonnen hat. Die Transzendenz des anderen Ufers entpuppt sich von diesem aus als reine Immanenz. All die Kämpfe des Alltags, die Tragödie und Komödie des alltäglichen Lebens, selbst die Heldenreise werden als Teil einer großen Illusion erkannt. Und auch das Rad von Karma und Dukkha, Samsara, und Nirwana selbst: alles nur Begriffe und Teil der Illusion. Wer noch denkt, dass Samsara und Nirwana sich unterscheiden, bleibt im Grundirrtum verhaftet. Es gibt nicht einmal den Buddha und den Buddhismus.398 Diese große Illusion bedeutet aber nicht, dass die ganze Lehre damit wertlos ist. Sie ist notwendig, um aus der Illusion herauszuführen, und damit sie das leisten kann, muss sie in der Illusion ansetzen. Sie ist die Fähre. Man muss an dieser Stelle vielleicht kurz innehalten, um sich zu vergegenwärtigen, was hier gesagt wurde. Zimmer fasst es vielleicht am besten in Worte: „Der Buddhismus [...] hält an jenem kühnsten Paradoxon als an seiner eigentlichen Wurzel fest. Es ist die erstaunlichste Auslegung der Wirklichkeit, die je von Menschenohren vernommen wurde.“399 260 |
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11.6 Tugenden und Trickster Wie bereits gesagt, wird Nirwana nicht als ein dauerhafter Zustand beschrieben, der, einmal erreicht, immer anhält. Diese Erleuchtung darf nicht als eine psychologisch und biologisch völlig unplausible dauerhafte Transformation verstanden werden: „[S]ince he continued to inhabit the same body, nervous system, and brain with which he was born, I can see no reason why his primary intuitive sense of being the person he was would have changed significantly [...].“400 Vielmehr ist es ein manchmal sehr kurzes, manchmal länger anhaltendes tiefes Verstehen, welches transformatives Potenzial besitzt. Das tägliche Handeln basiert immer auf Konventionen und Routinen. Es geht daher um zweierlei. Erstens werden diese Routinen und Konventionen im Moment von Nirwana als das gesehen, was sie wirklich sind, eben Routinen und Konventionen ohne eine tiefere Realität. Zweitens geht es aber natürlich auch darum, bestimmte Routinen und Konventionen zu kultivieren und andere zu überwinden. Viele Aussagen über den Achtfachen Pfad dienen genau diesem Zweck: der Kultivierung von Routinen und Konventionen, die es leichter machen, den Zustand des Erlöschens zu erreichen. Es wird aber nicht eine beliebige Formbarkeit des menschlichen Geistes behauptet oder vorausgesetzt. Am Tag nach der Erfahrung von Nirwana geht man wieder seinen gewohnten Tätigkeiten nach.401 Was nachwirkt, ist das transformative Element, welches es erlaubt, diese Tätigkeiten in einem neuen Licht zu sehen. Die Intention des Achtfachen Pfads ist die Schaffung eines größeren Bewusstseins der Art und Weise, wie wir denken, empfinden und handeln. An der Figur des Bodhisattva kann der Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Wahrnehmens und der Erleuchtung dargestellt werden: Auch wenn der Bodhisattva auf dem Weg noch nicht am anderen Ufer angekommen ist, so kann er anhand des Achtfachen Pfads seine Persönlichkeit entwickeln, bis er ihn zuletzt perfekt verkörpert. Dabei geht es aber nicht um eine Aneignung von etwas, das nicht schon von Anfang an als Potenzial da war, sondern um eine Rückkehr zum eigentlichen Potenzial.402 Im Mahayana-Buddhismus spielt die Figur des Bodhisattva noch eine weitere wichtige Rolle. Er bleibt sozusagen an der Schwelle zur Erleuchtung stehen, um allen anderen Wesen auf ihrem Weg zu helfen. Er entspricht daher dem Schwellenwesen des Tricksers, von dem wir in Kap. 2 und 7 gehört haben. Er steht symbolisch für die Vereinigung der Gegensatzpaare Samsara und Nirwana, die beide gleichermaßen Leerheit (Sunyata) sind. Sein Agieren in Volkserzählungen widerspricht oft dem Alltagsverständnis von Sinn und Moral und muss es auch,
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weil er gerade dadurch den Konventionscharakter der Alltagskategorien von moralisch und sinnvoll sichtbar macht: In den Legenden wird geschildert, wie die Bodhisattva Leib und Leben, ja sogar Weib und Kind für etwas aufopfert, was dem normalen Verstand als eine ganz unbillige Zumutung erscheinen muss. Besitztümer, die jedem Durchschnittsmenschen als die kostbarsten und heiligsten gelten, gibt der Bodhisattva ohne Bedenken auf, um einem unsinnigen und durchaus ungerechtfertigten Anspruch zu genügen, etwa dem Hilferuf eines geängstigten Vogels oder Tigerjungen, oder dem Befehl eines bösen, habgierigen, genusssüchtigen alten Brahmanen.403
Dabei ist das Ziel nicht, die Vorstellungen der Alltagsmoral als fasch zu entlarven, sondern das Bewusstsein darauf zu lenken, dass sie Teil der Alltagsmoral sind.
11.7 Wieso oder in welchem Sinn sollte das Selbst eine Illusion sein? Der rätselhafteste Aspekt der buddhistischen Lehre ist wohl die Idee von und die Möglichkeit des Erlebens von Nicht-Selbst. Dass das „Selbst“, das Zentrum des Erlebens der eigenen Existenz, eine Illusion sein soll, ist zumindest einmal verblüffend. Wenn es kein „Selbst“ gibt, wer empfindet denn da gerade, wer handelt, wer hat Erinnerungen? Was kann mit der Illusion des „Selbst“ gemeint sein? Ein tiefes Verständnis der Lehre von Anatta steht im Zentrum der buddhistischen Lehre, hieran hängen die Überwindung von Dukkha und die ultimative Befreiung des Geistes von Illusionen. Um sich dieser Vorstellung zu nähern, kann man zunächst einmal feststellen, dass wir auf der Wahrnehmungsebene weder aus Atomen, Molekülen, Zellen noch Neuronen bestehen, obwohl uns die Physik, Chemie und Biologie sagt, dass dem so sei. Diese „Tiefenstruktur“ unserer Körper bleibt einem direkten Zugriff unserer Wahrnehmung verborgen. Man hat ein Bewusstsein von mentalen Phänomenen, und dort tauchen (in unseren Gesellschaften) Moleküle etc. nur als theoretische, aber nicht unmittelbar erfahrbare Phänomene auf. Bewusstsein hingegen ist das einzige Phänomen des Universums, welches keine Illusion sein kann.404 Alle anderen Begriffe, Theorien, Gefühle sind Konstruktionen des Geistes, die innerhalb von Bewusstsein stattfinden. Hier sind einige der bemerkenswerten Fakten: Ohne Bewusstsein gäbe es keinen Hinweis auf die Existenz von irgendetwas. Und ohne ein Bewusstsein unseres eigenen Bewusstseins würde man im Universum allein durch Beobachtung niemals einen Hinweis darauf fin262 |
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den, dass Bewusstsein existiert. Bewusstsein kann nur durch die direkte, introspektive Erste-Person-Perspektive der Erfahrung seiner selbst etwas über sich lernen. Bewusstsein kann aus der Dritte-Person-Perspektive einer Beobachtung von „außen“ nicht gefolgert oder entdeckt werden. In diesem Sinn gibt es auch keine „Reisen nach außen“. Gleichzeitig ist Bewusstsein aber an Körper-Gehirne gebunden. Studien mit Split-Brain-Patienten, deren Corpus Callosum durchtrennt wurde, zeigen, dass durch diesen Eingriff ein Bewusstsein der linken und ein Bewusstsein der rechten Gehirnhemisphäre geschaffen werden, die voneinander unabhängig sind.405 Durch die physische Trennung beider Gehirnhälften werden sie funktional unabhängig, lernen unabhängig und bilden unabhängige Erinnerungen. Dabei ist das Bewusstsein der linken Hemisphäre dominanter, weil dort die Fähigkeit zur sprachlichen Artikulation sitzt. Ob der rechten Hemisphäre ein eigenes Bewusstsein zugeschrieben werden kann, wird debattiert. Was man allerdings weiß, ist, dass Menschen, deren linke Gehirnhälfte entfernt wurde, weiterhin über ein Bewusstsein verfügen. Daher ist es nicht plausibel anzunehmen, dass dies allein dadurch verschwindet, dass eine linke, aber anatomisch unverbundene Gehirnhälfte existiert. In manchen Menschen verfügt auch die rechte Gehirnhälfte über die Fähigkeit zur Sprache, und dort werden beide Formen von Bewusstsein auch nach außen sichtbar.406 Macht man sich auf die „Reise nach innen“, so kommt man unmittelbar mit dem zentralen Akteur des eigenen Bewusstseins in Kontakt, dem „Selbst“. Die Illusionshaftigkeit der konventionellen Vorstellungen eines „Selbst“ als eine Illusion zu sehen, kann auf unterschiedlichen Wegen erfolgen, aber letztlich geht es darum, dies unmittelbar zu erfahren. Mit zunehmender Fähigkeit, die Tätigkeit des eigenen Bewusstseins z.B. in der Meditation zu beobachten, entsteht ein vertieftes Verständnis dessen, was dieses „Selbst“ ist.407 Man versteht, dass es sich um eine Konstruktion handelt und zunehmend auch die Konstruktionsbedingungen. Das Wissen, um das es hier geht, kann nicht durch theoretische Überlegungen gewonnen werden. Theoretische Reflexion ist nur ein Hilfsmittel, welches z.B. nützlich sein kann, um bestimmte Vorstellungen des „Selbst“ zu dekonstruieren. Ein gutes Beispiel für eine solche theoretische Dekonstruktion sind die Gedankenexperimente, die Derek Parfit (1984) entwickelt hat, um zu zeigen, welche Vorstellungen des „Selbst“ in sich widersprüchlich sind. Er kommt zu dem Schluss, dass man beim „Selbst“ so etwas wie dem psychischen Fortbestand von Erfahrungen im Sinn haben muss, nicht notwendig den körperlichen Fortbestand.408 Parfits Gedankenexperimente sind nützlich, um ein theoretisches Verständnis von Identität zu hinterfragen und in Widersprüche zu verwickeln. Sie Wieso oder in welchem Sinn sollte das Selbst eine Illusion sein?
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verfahren in diesem Sinne ähnlich wie z.B. das Haufen-Paradox von Sorites und verweisen damit auf Grenzen sprachlicher Erfassbarkeit. Sie bleiben aber in dem Sinn abstrakt, dass mit ihnen keine Erfahrung eines wie auch immer gearteten Verschwindens des Selbst einhergeht. Der Umstand, dass man sich in sprachlichen Dickichten verheddert, wenn man Begriffe wie „Selbst“ fassen will, ist noch lange kein Grund, ein solches auf der experientiellen Ebene in Frage zu stellen, denn dort und nur dort erscheint es ja dem ungeübten Geist mit Zuverlässigkeit. Die Illusionshaftigkeit des Selbst beginnt sich theoretisch zu erschließen, wenn man sich die drei wesentlichen Vorstellungen des Verhältnisses von Sprache und „Wirklichkeit“ bewusst macht: • Es existiert eine Lücke zwischen der unmittelbaren Erfahrung und der sprachlichen Erfassung einer Situation. Dies ist alltäglich und wird gleichwohl oft übersehen:409 Jede Erfahrung hat eine nicht sprachlich ausdrückbare Qualität. Jemand, der Kaffee trinkt, weiß genau, wie dieser schmeckt, aber er kann es anderen Menschen nur imperfekt vermitteln, sie müssen den Kaffee schon selbst trinken.410 • Sprache, Kultur und Tradition legen eine Struktur über die Wirklichkeit, die dieser nicht entspricht, die aber gleichwohl im Alltag notwendig ist. Der Unterschied zwischen dieser Struktur und einer „Wirklichkeit an sich“ bleibt oft unsichtbar, so dass beides miteinander identifiziert wird. Diese Identifikation kann problematisch sein, wenn Aspekte der Existenz betroffen sind, für die diese Strukturierung nicht geeignet sind. • Sprache, Kultur und Tradition beeinflussen die Erfahrung von Wirklichkeit. Mit dem Genuss von Kaffee gehen Erinnerungen, Vorstellungen etc. einher, die die Wahrnehmung des Geschmacks beeinflussen.411 Gefühle selbst sind sprachlich-kulturelle Konstruktionen, die physiologische Reaktionen bündeln und benennen.412 Die Konstruierbarkeit von Wahrnehmung ist aber nicht beliebig, sondern setzt auf einem Fundament auf. Kaffee hat unterschiedliche Geschmacksnoten, Gefühle sind Bündel von physiologischen Reaktionen, mit denen der Körper auf seine Umwelt reagiert. Aber gleichzeitig entsteht innerhalb der Konstruktionsbedingungen ein Freiraum. Knüpfen wir direkt an diesen Freiraum an: Typischerweise hat man den Eindruck, dass Erfahrungen einen Bezug zu etwas haben, das nicht identisch mit dem Körper ist, sondern abstrakter irgendwo im Körper verortet ist und welches wir „Selbst“ nennen. Da wir im Alltag solche Phänomene oft nicht genau anschauen, erscheinen sie uns als real und offenbaren nicht ihre Konstruktion.
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Eine der zentralen Erfahrungen der Meditation ist, wenn man die Konzentration aufbringt, an der Grenze der Konstruktionen wahrzunehmen, dass dieses Selbst, welches ein Bewusstsein hat, eine solche Konstruktion ist. Es ist eines unter vielen Objekten, welche als Bewusstsein aufscheinen. Der Glaube an ein stabiles, substanzhaftes Selbst basiert damit auf der Unachtsamkeit des Beobachters, der aus habituellem Denken mentale Zustände einem Selbst zuschreibt, auch wenn diese Zustände tatsächlich einfach so auftreten. Entsteht eine Anhaftung (tanha) an dieses Selbst, weil wir ihm eine inhärente Existenz zuschreiben, identifizieren wir uns mit ihm (Goldstein 2003). Dies ist eine zentrale Quelle von Dukkha, deren Ursprung aber eine Halluzination der Wahrnehmung ist: Die Phänomene kommen und gehen, das „Selbst“ identifiziert sich aber mit ihnen und möchte sie festhalten. Aber es existiert etwas in unserem Bewusstsein, das wir Selbst nennen und das über den Umstand des bloßen Bewusstseins hinausgeht, wenn auch nur als Objekt unter vielen. Dieses Selbst ist nicht identisch mit dem Bewusstsein, es ist ein Objekt in ihm.413 Es ist verblüffend festzustellen, dass ausgehend von diesem Punkt das westliche und das östliche Denken so unterschiedliche Richtungen eingeschlagen haben. Im Westen wurde dieses Selbst zu einer Art Homunculus gemacht, ähnlich dem Begriff der Seele, der dann tief in die Wahrnehmung von Interesse und Gesellschaft eindrang und im Zentrum des Individualismus und dem damit einhergehenden Begriff von Freiheit als Abwesenheit von äußerem Zwang liegt. In den östlichen Philosophien hingegen machte man sich genauer auf die Suche nach diesem Selbst und fand, dass es keinen z.B. zeitlich stabilen Kern gibt, sondern dass es nur aus Konventionen, Denkgewohnheiten usw. besteht, welche Teil einer zu überwindenden Illusion sind. Freiheit ist dann zunächst innere Freiheit, das Erlöschen von irrigen Meinungen über das Selbst und den damit einhergehenden Impulsen. Das Problem des westlichen Denkens ist dabei, dass dieses Konzept des Selbst einer genaueren Überprüfung nicht standhält, sobald man sich aus dem Naiven Realismus der Richtigkeit der eigenen Wahrnehmung befreit und dann diejenigen epistemischen Standards (empirische Tests) heranzieht, die auch in anderen Bereichen der Wissenschaft gelten.414 Die Aussage, dass das Selbst eine Illusion ist, bedeutet nicht, dass es den Menschen als Lebewesen mit Bewusstsein, in dem sich allerlei abspielt, nicht gibt; dies wäre absurd. Aber das biografische Selbst, welches der Hauptdarsteller der Geschichten ist, die sich in unserem Bewusstsein abspielen, ist das Problem. Dieses Selbst, der Denker der Gedanken, der Fühler der Gefühle, ist die Illusion. Doch selbst wenn man intellektuell davon überzeugt ist, dass ein solcher Homunculus Wieso oder in welchem Sinn sollte das Selbst eine Illusion sein?
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nicht existiert, fühlt es sich in den meisten Momenten doch so an, als ob es ihn gäbe, weil Sprache, Kultur und Traditionen sehr stark sind. Dieses Selbst entsteht dabei nicht in einem sozialen Vakuum, es ist vielmehr bezogen auf Andere und zusammengesetzt aus kulturellen Bausteinen: [E]ventually the culturally shaped cognitive and linguistic processes that guide the self-telling of life narratives achieve the power to structure perceptual experience, to organize memory, to segment and purpose-build the very ‚events‘ of a life. In the end, we become the autobiographical narratives by which we ‚tell about‘ our lives. And given the cultural shaping to which I referred, we also become variants of the cultures’ canonical forms.415
Die Illusionshaftigkeit dieses Selbst kann sich als Leerstelle, als Abwesenheit des Selbst manifestieren. Dies kann sich in der Meditation vollziehen. Eine solche Manifestation ist aber keine theoretische Erkenntnis, sondern eine unmittelbare Erfahrung. Diese ist aber nicht einfach zu machen, so wie man, wenn man noch niemals eine bestimmte Frucht gegessen hat, die Erfahrung ihres Geschmacks erleben kann, indem man sie isst. Das liegt daran, dass die Idee eines Selbst tief in die Struktur der Weltwahrnehmung eingeschrieben ist. Goldstein (2003) macht dies mit dem Vergleich des Sternbilds Großer Wagen klar. Der Große Wagen existiert nur als Konvention des Denkens, diese erleichtert die Orientierung am Nachthimmel. Niemand würde aber ernsthaft behaupten, es gäbe in einem diese Konvention übersteigenden Sinne einen solchen Wagen am Nachthimmel. Aber hier ist das Problem; hat man sich einmal an die Konvention gewöhnt, so ist es fast unmöglich, den Großen Wagen nicht am Nachthimmel zu sehen. Damit dies möglich ist, muss man sich von diesen Konventionen lösen. Und genauso ist es mit dem Selbst. Aus den genannten Gründen ist das Wissen darum, wie dieses Ziel erreicht werden kann, im westlichen Denken nicht weit entwickelt. Goldsteins Beispiel zeigt noch mehr. Die Konvention des Großen Wagens hat einen pragmatischen Wert im Leben. Und dies gilt auch für das Selbst. Ein Problem existiert nur, wenn die Konvention nicht als solche verstanden und verwendet wird. Nhat Hanh (1998) beschreibt dieses Missverständnis wie folgt: „We are like an artist who is frightened by his own drawing of a ghost. Our creations become real to us and even haunt us.“416 Hebt man das Gesagte auf eine allgemeinere Ebene, so gilt für jedes Denken, jede Narration, dass die Begriffe und Grammatiken einen pragmatischen Konventionscharakter haben. Sie erlauben es, in der Welt zurechtzukommen, das Soziale zu organisieren, zu planen usw. Es ist aber nicht mehr als das. Sie geben der 266 |
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Wirklichkeit eine Struktur in der Wahrnehmung des Einzelnen. Die Probleme entstehen, wenn man den Konventionscharakter der Konventionen nicht versteht und diese mit der Wirklichkeit verwechselt oder die Konventionen außerhalb des Bereichs ihrer pragmatischen Nützlichkeit anwendet. Hieraus resultiert Dukkha. Ein Großteil des Alltags wird im Rückfallmodus des Naiven Realismus verbracht, man ist sich weder seiner Gedanken und Gefühle bewusst noch deren Konventionscharakters. Die Entwicklung eines solchen Bewusstseins bedarf des Trainings. Fast alle unerfahrenen Meditierenden teilen die Erfahrung, dass es so gut wie unmöglich ist, sich auch nur für eine Minute auf seinen Atem, seine Gedanken, oder irgendetwas anderes zu konzentrieren, ohne dass der Geist abschweift. Die erste tiefe Erfahrung der Meditation, das Beobachten des Kommens und Gehens der Gedanken und Gefühle ohne eigenes Zutun und eigene Kontrolle und ohne ein Selbst, auf das diese bezogen sind, hat dann aber oft transformativen Charakter. Aber ist es schlimm, wenn man diese Konzentration und Distanzierung nicht aufbringt, sondern sich mit den eigenen Gedanken und Gefühlen identifiziert, wenn man sie zu einem wichtigen oder alleinigen Teil seines Selbst erklärt? Aus Sicht des westlichen Denkens wird diese Unachtsamkeit und Identifikation typischerweise nicht als großes Problem wahrgenommen, sondern eher im Gegenteil zu einem wichtigen Teil der eigenen Persönlichkeit erklärt. In der buddhistischen Tradition besteht hierin die zentrale Quelle vermeidbaren Leids. Die Gedanken an sich sind dabei nicht das Problem, sondern die Identifikation mit ihnen. Der Eindruck eines Selbst entsteht aus einem Denken, welches sich seiner selbst nicht bewusst ist. Der Prozess des Denkens und Fühlens kommt ohne ein Selbst aus, aber dies ist ohne weiteres nicht einfach zu bemerken, da sich zum einen die Konventionen des Denkens wie eine Folie über die Wirklichkeit ziehen, und zum anderen das Bewusstsein, in dem sich all dies abspielt, im Hintergrund immer schon da ist. Beides kann also unbemerkt bleiben, obwohl beides gewissermaßen offen vor Augen liegt. Dies muss eine theoretische Behauptung bleiben, solange man die empirische Überprüfung dieser These nicht an sich selbst nachzuvollziehen beginnt. Wenn man dies aber tut, so erkennt man, dass das Selbst verschwindet, wenn man nach ihm sucht. Wenden wir uns also genauer der Praxis der Meditation zu.
Wieso oder in welchem Sinn sollte das Selbst eine Illusion sein?
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11.8 Meditation In den vergangenen Jahren wurden mittlerweile unüberschaubar viele empirische Studien zu den Effekten unterschiedlicher Meditationspraktiken auf alle möglichen Bereiche der Gesundheit, des Wohlergehens und der Wahrnehmung durchgeführt. Wir werden diese hier recht ausführlich zusammenfassen, damit deutlich wird, was wir aus Sicht der Wissenschaft über die Effekte buddhistischer Meditationspraxis wissen. Behauptungen wie Veränderungen der Selbstwahrnehmung bis hin zu Anatta, Zunahme von Mitgefühl, Reduzierung und Auflösung von Anhaftung (Tanha) klingen zunächst meist ungewohnt und wie einfache Glaubenssätze. Was die Forschung aber zeigt, ist, dass die im Buddhismus beschriebenen Phänomene der Wahrnehmungsveränderung Bestätigung finden, auch wenn das Bild noch unvollständig ist und einige Behauptungen einer direkten wissenschaftlichen Überprüfung entzogen sind. Die frühen Studien wiesen zum Teil methodische Mängel auf oder waren rein explorativ. Im Folgenden werden nur Studien genannt, die diese Probleme nicht haben. Ergebnisse bezüglich der Wahrnehmung des „Selbst“: In den fortgeschrittenen Stadien der Meditation entsteht ein Gefühl der nichtdualen Wahrnehmung,417 die auch als Selbsttranszendenz beschrieben wird418 und im abrahamitischen Kontext oft als religiöse Erfahrung gedeutet wird.419 Allen Begriffen gemein ist die Auflösung eines abgetrennten Selbst oder von Anatta,420 einer Verbundenheit mit anderen Menschen und der Umgebung. Dies lässt sich beschreiben als die zunehmende Entfernung von kognitiven, wahrnehmenden und sensorischen Schichten der Informationsverarbeitung durch das Gehirn.421 Wir hatten in Kap. 9 schon einen wesentlichen Teil der psychologischen und neurowissenschaftlichen Literatur zur Wahrnehmung des Selbst zusammengetragen. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der hier relevant ist. Hinsichtlich der Wahrnehmung des „Selbst“ existiert in der Neurowissenschaft eine interessante Erklärung für dessen pragmatischen Wert. Das sogenannte DefaultNetwork im Gehirn scheint eine wichtige Rolle bei der Erzeugung dieser Erfahrungen zu spielen. Es umfasst hauptsächlich Areale des medialen präfrontalen Cortex, des Precuneus und des Gyrus cinguli, die einen Teil des Core-Networks bilden. Dieses ist beim Prozess der Erinnerung und der Zukunftssimulation aktiv. Es wurde mehr oder weniger zufällig entdeckt, als Versuchspersonen, deren Gehirnaktivitäten bei bestimmten Tätigkeiten überwacht wurden, nichts zu tun hatten. In diesen Momenten kam das Gehirn nicht zur Ruhe, vielmehr konnte ein erhöhtes Aktivitätsniveau in eben diesem Netzwerk nachgewiesen werden.422 Nach Addis et al. (2007) simuliert dieses Netzwerk in Zeiten der Ruhe durch die 268 |
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Aktivierung von Erinnerungen aus der Vergangenheit mögliche Zukünfte. Zukunft in diesem Sinn ist eine Extrapolation vergangener Erinnerungen. Und sie muss um ein in der Zukunft agierendes Selbst organisiert sein,423 an welchem sich die simulierte Zukunft vollzieht und von dem aus diese bewertet wird. Dazu sind drei Elemente erforderlich: eine Zuschreibung der simulierten Konsequenzen zu diesem Selbst, eine Evaluation dieser Konsequenzen hinsichtlich ihrer homöostatischen Effekte für den Organismus und eine Identifikation des gegenwärtigen Organismus mit dem zukünftigen Selbst. Episodische Simulation findet daher immer in Bezug zu einem vorgestellten Selbst in der jeweiligen Situation statt. Kommt dieses Netzwerk zur Ruhe, so verschwindet damit auch dieser Aspekt des „Selbst“. Das Selbst ist damit ein Prozess der zukunftsbezogenen Erinnerung.424 Andrews-Hanna (2011) und Buckner et al. (2008) konnten zeigen, dass Meditation die Aktivität des Default-Networks reduziert und erfahrene Meditierende besser in der Lage sind, im „Hier und Jetzt“ zu leben und eine geringere Bindung an ihr „Selbst“ aufweisen. Es konnte weiterhin nachgewiesen werden, dass experimentell erzeugte Erfahrungen des aus der Positiven Psychologie bekannten Zustands des flows425 zu einer reduzierten Aktivität des Default-Networks führen. Flow ist nach Seligman und Csikszentmihalyi (2000) ein Zustand der Selbstvergessenheit, in dem die Fähigkeiten und die Anforderungen zueinanderpassen. Er ist gekennzeichnet durch intensive Konzentration, Verlust des Bewusstseins eines Selbst, vollständiges Einssein mit dem Handeln und das Gefühl der Zeitlosigkeit. Flow wird als intrinsisch befriedigend empfunden und kann weiteren Zielen dienen. Er lässt sich nicht aktiv erwerben, sondern ist das Nebenprodukt einer Meisterschaft im Umgang mit einer Tätigkeit. Brewer et al. (2011) dokumentieren Erfahrungen der Erleuchtung oder des Erlöschens in einer tiefen meditativen Versunkenheit. Die Effekte ähneln denen von psychedelischen Drogen, die ebenfalls zur Erfahrung der Selbstauflösung führen.426 Dabei ist zugleich das Default-Network weniger aktiv.427 Yaden et al. (2017) argumentieren, dass all diese Praktiken zu einer Reduktion der Salienz des Selbst führen, welche mit Gefühlen wie Ehrfurcht und der Erfahrung des Erhabenen korreliert sind. Goleman und Davidson (2017) kommen zu dem folgenden Schluss: Our sense of self gets woven in an ongoing personal narrative that threads together disparate parts of our life into a coherent story line. This narrator resides mainly in the default mode but brings together inputs from a broad range of brain areas that in themselves have nothing to do with the sense of self.428
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Aber die Wahrnehmung des Selbst ist komplexer, und wir sind gerade erst am Anfang eines vertieften Verständnisses, wie es erzeugt wird und wie Meditation darauf wirkt. Millière et al. (2018) argumentieren, dass Meditation einen wichtigen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung hat. Allerdings gibt es unterschiedliche Mechanismen, die zu unterschiedlichen Aspekten von „Selbstverlust“ führen. Sie sehen daher die Notwendigkeit, Selbstwahrnehmung als ein mehrdimensionales Phänomen zu verstehen, aus dem sich ein Selbst aus unterschiedlichen „Komponenten“ zusammensetzt. Selbstverlust kann daher je nach Wirkungsmechanismus unterschiedliche Formen annehmen. Beispielsweise Single-PointedMeditation (z.B. Konzentration auf den Atem) führt zu reduzierter Aktivität im lateralen präfrontalen Cortex und dem Parietallappen.429 Garrison et al. (2013) konnten zeigen, dass ähnliche Meditationstechniken zu einer Deaktivierung des vorderen Gyrus cinguli führen. Diese Gehirnregionen spielen eine Rolle beim Bewusstsein des eigenen Selbst. Shapiro et al. (2008) fanden bei langfristigen Meditierenden eine Reduktion in der Aktivität des präfrontalen Cortex in Bereichen, die ebenfalls für die Wahrnehmung von Raum und Zeit und das bewusste Selbst verantwortlich sind.430 Bei fortgeschrittenen Meditierenden findet sich eine reduzierte Aktivität in Bereichen des Gehirns, die für die Wahrnehmung des eigenen Körpers verantwortlich sind.431 Meditation hat weiterhin einen Einfluss auf Regionen, die mit Meta-Wahrnehmungen und Introspektion sowie Körperbewusstsein zu tun haben, und sie reduziert die Aktivität des Default-Networks.432 Weiterhin zeigen Millière et al. (2018), dass man zwischen kurz- und langfristigen Effekten des Selbstverlustes unterscheiden muss. Meditativ erzeugte Effekte sind typischerweise vorübergehend, aber es gibt erste Evidenz, dass durchaus auch langfristige Effekte existieren können. Diese Forschungsergebnisse sind generell konsistent mit den Vorstellungen über die Auflösung des Selbst durch Meditation. Was allerdings noch zu leisten ist (neben weiterer Forschung zu den grundlegenden Mechanismen des Gehirns), ist eine Verbindung zwischen den spezifischen Aspekten des Selbstverlustes, die die Neurowissenschaften nachweisen, mit den sehr detaillierten Beschreibungen dieser Phänomene in buddhistischen Schriften. In dem Maß, in dem man die neuronalen Korrelate von z.B. Erfahrungen der Einheit oder des Selbstverlusts versteht, kann man die berechtige Frage stellen, ob man ihnen eine Bedeutung zumessen soll. Unzweifelhaft ist, dass Menschen solchen Erfahrungen zum Teil zentrale Bedeutung in ihrem Leben geben. Aber darüber hinaus? Könnte man nicht argumentieren, dass es sich dabei nur um so etwas wie Illusionen handelt, ausgelöst durch eine temporäre Veränderung der Aktivierungsmuster einzelner Gehirnbereiche und dann abgelegt im Gedächt270 |
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nis? Diese Frage zielt auf einen zentralen Punkt, wie wir an dem folgenden Beispiel sehen. Wie verhält es sich, wenn ein Mensch nach langer Arbeit endlich ein mathematisches Theorem versteht? Auch hier würden wir, wenn wir dabei Gehirnaktivitäten messen würden, ein spezifisches Aktivierungsmuster feststellen. Würden wir jetzt auch argumentieren, dass es sich um eine Art Illusion handelt, weil es ja „nur“ bestimmte Aktivierungsmuster des Gehirns sind? Der von Koch et al. (2016) so genannte Neural-Correlates-of-Consciousness-Ansatz besagt, dass es zu jedem subjektiven Bewusstseinszustand einen entsprechenden neuronalen „Fingerabdruck“ geben muss. Dieser Ansatz ist in der neurowissenschaftlichen Bewusstseinsforschung weit verbreitet. Folgen wir ihm, so sehen wir, dass eine Entscheidung, den einen Typ von Wahrnehmung ernst zu nehmen und den anderen nicht, auf einem Werturteil basiert, welches begründungsbedürftig ist. Ergebnisse bezüglich der Regulation von Emotionen: Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass es durch Meditation zu einer verbesserten Distanzierung zwischen Erfahrungen und der ihnen zugeschriebenen Relevanz kommt. Goleman und Davidson (2017) fassen hinsichtlich der Schmerzforschung zusammen, dass es eine positive Korrelation zwischen Schmerztoleranz und Meditationserfahrung gibt. Aktivierungsmuster erfahrener Meditierender unterscheiden sich systematisch von jenen von Novizen. Insbesondere waren die für Exekution, Evaluation und Emotionen zuständigen Prozesse des Gehirns deutlich weniger aktiv, als dies für nicht meditierende Menschen typisch ist. Dies ist ein indirekter Hinweis darauf, dass bestimmte Aspekte einer habituellen Reaktivität überwunden werden. Schmerz hat aus buddhistischer Sicht zwei Elemente: das unmittelbare Erleben und die reaktiven Zuschreibungen. Um dies zu verdeutlichen, wird in den Gotama, dem historischen Buddha, zugeschriebenen Schriften die Parabel von den zwei Pfeilen benutzt: Physischer Schmerz ist, wie von einem Pfeil getroffen zu werden. Dagegen kann man nicht viel tun. Dieser Schmerz kann dann aber unnötig durch einen zweiten Pfeil verstärkt werden, der aus Gedanken, Selbstmodellen etc. besteht: Wird [der] gewöhnliche Mensch von einem Wehgefühl getroffen, dann ist er traurig, beklommen, er jammert, schlägt sich stöhnend an die Brust, gerät in Verwirrung. So empfindet er zwei Gefühle: ein körperliches und ein gemüthaftes. Gleichwie, ihr Mönche, wenn da ein Mann von einem Pfeil angeschossen würde, und er würde dann noch von einem zweiten Pfeil angeschossen. Da wurde dieser Mensch, ihr Mönche, die Gefühle von zwei Pfeilen empfinden.
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Ebenso nun auch, ihr Mönche, wenn der unbelehrte gewöhnliche Mensch, von einem Wehgefühl getroffen, traurig, beklommen ist, jammert, sich stöhnend an die Brust schlägt, in Verwirrung gerät, dann empfindet er zwei Gefühle, ein körperliches und ein gemüthaftes. Ist er von einem Wehgefühl getroffen worden, so leistet er Widerstand. Dann wird in ihm, der dem Wehgefühl Widerstand leistet, der Hang zum Widerstand gegen das Wehgefühl angelegt. Wird aber der erfahrene edle Jünger, ihr Mönche, von einem Wehgefühl getroffen, dann ist er nicht traurig, beklommen, jammert nicht, schlägt sich nicht stöhnend an die Brust, gerät nicht in Verwirrung. So empfindet er nur ein Gefühl, ein körperliches, kein gemütmäßiges. Gleichwie, ihr Mönche, wenn da ein Mann von einem Pfeil angeschossen würde, aber kein zweiter Pfeil würde nach ihm geschossen.433
Anscheinend hat sich durch Meditation eine funktionale Entkopplung zwischen den Wahrnehmungszentren („das brennt“) und den evaluativen Zentren („das schmerzt mich, das soll aufhören!“) ergeben. Meditative Praxis bewirkt, dass der Schmerz nicht mehr integraler Bestandteil des Selbst ist, sondern dass man ihm „von außen“ zuschaut.434 Insbesondere im Vajrayana-Buddhismus ist es ein wesentlicher Teil der Praxis, in Gefühle wie Schmerz hineinzugehen, um sie sozusagen „von innen“ zu verstehen. Hier ist ein Zitat des Meditationslehrers Kobun Chino Otogawa zur Meditationspraxis: „A lot of pain starts to be felt by your mind. [...] It seems that being born as a human form of life has some very sacred meaning in not escaping, but digesting, our position in existence. [...] [Y] ou have discovered that the other side of pain is the intensity of knowing where you exist.“435 Diese Ergebnisse bestätigen sich auch für andere Emotionen. Sobolewski et al. (2011) fanden, dass Meditierende weniger abgelenkt von negativen emotionalen Stimuli sind und eine geringere Gehirnreaktion auf emotional negative Bilder haben. Diese Ergebnisse können ein Resultat von besserer Distanzierung und einer verbesserten emotionalen Grundstimmung sein.436 Erstere Erklärung passt zur Vorstellung, dass durch Meditation Tanha überwunden wird und damit Autonomie entsteht. Dafür spricht auch, dass die Fähigkeit, nicht einfach emotionalen Impulsen zu folgen, sondern zu ihnen in Distanz zu bleiben, bei erfahrenen Meditierenden ausgeprägter ist; sie kann zu einer automatischen Strategie der Emotionsregulierung werden, welche die Aktivierung des sympathischen Nervensystems reduziert und damit zu mehr innerer Ruhe führt.437 Ergebnisse zu kognitiven Fähigkeiten und zur Alterung des Gehirns: Creswell et al. (2016) konnten zeigen, dass drei Tage intensive Mindfulness-Meditation zu einer stärkeren Konnektivität zwischen dem linken dorsolateralen präf272 |
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rontalen Cortex und dem posterioren cingulären Cortex des Default-Networks führt. Dies wurde in der Cross-Section-Studie von Brewer et al. (2011) bestätigt. Der dorsolaterale präfrontale Cortex ist wichtig für die Ausübung von Exekutivfunktionen wie kognitive Flexibilität, Planung, Hemmung, Organisation, Regulation und abstraktes Denken. Daher wird davon ausgegangen, dass eine bessere Konnektivität auch zu einer verbesserten Kontrolle des Gedankenwanderns führt: „Our findings demonstrate differences in the default-mode network that are consistent with decreased mind-wandering. As such, these provide a unique understanding of possible neural mechanisms of meditation.“438 Meditation hat darüber hinaus Effekte auf die Veränderung des Gehirns durch das Alter. Sperduti et al. (2016) verglichen ältere Menschen (Durchschnittalter 67) mit langfristiger Meditationserfahrung mit einer Kontrollgruppe ähnlich alter Menschen ohne Meditationserfahrung und einer Kontrollgruppe von jüngeren Menschen ohne Meditationserfahrung (Durchschnittsalter 27). Man stellte einen deutlichen Abbau der kognitiven Fähigkeiten (insbesondere den sogenannten Exekutivfunktionen des Gehirns) der Alten im Vergleich zu den Jungen ohne Meditationserfahrung fest. Dieser Effekt zeigte sich nicht im Vergleich zwischen den langfristigen meditierenden Alten und der jungen Kontrollgruppe. Diese waren so leistungsfähig wie die Jungen. Erfahrene ältere Meditierende weisen auch signifikant schnellere Reaktionszeiten auf als gleichaltrige Nichtmeditierende.439 Eine Erklärung hierfür konnten Luders et al. (2015) liefern, die zeigen, dass der altersbedingte Rückgang von Grauer Substanz in den relevanten Gehirnbereichen bei Meditierenden deutlich reduziert ist. Van Lutterveld et al. (2017) fanden eine bessere Integration des sogenannten Alpha-Band-Networks bei erfahrenen Meditierenden während der Meditation. Dies ist konsistent mit einem besseren Informationsaustausch zwischen verschiedenen Gehirnbereichen.440 Diese Studien weisen darauf hin, dass Meditation die Geschwindigkeit und Versatilität des Gehirns erhöht und die Struktur des Gehirns verbessert und länger erhält. Damit stellt sich die Frage, wo die Grenze dieser Veränderungen liegt. Ergebnisse bezüglich des Mitgefühls: Die Effekte von Meditation auf Mitgefühl und Altruismus sind mittlerweile gut dokumentiert:441 Man findet eine Zunahme an prosozialem Verhalten, transzendentale Meditation führt zu geringerer Aggression und Gewalttätigkeit442 und Loving-Kindness-Meditation führt zu einer höheren emotionalen Reaktivität auf Laute von Menschen in Not.443 Hier kommen wir zu einem wichtigen Punkt der buddhistischen Lehre, der sich aber auch in anderen Tugendethiken findet (beispielsweise ist für Aristoteles Gerechtigkeit die erste Tugend, ohne die Eudaimonie nicht möglich ist): Wie stellt Meditation
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man sicher, dass die Zunahme an mentalen Fähigkeiten auf der Heldenreise der Meditation im Dienst der „richtigen“ Sache steht, dass am Ende ein Held, ein Bodhisattva, und kein Schurke vor uns steht? Hierzu stehen zum einen die moralischen Verhaltensregeln des Achtfachen Pfads zur Verfügung, aber diese wirken nur „von außen“. Es wird immer wieder davor gewarnt, dass eine alleinige Spezialisierung auf Achtsamkeitspraktiken nicht genug sei, sondern dass diese durch Loving-Kindness-Meditation ergänzt werden müssen. Ricard (2009) schreibt dazu: „Bare attention, as consummate as it might be, is no more than a tool […] which can also be used to cause immense suffering. Obviously, what is entirely missing is the ethical dimension of a mindfulness that deserves the qualification of ‚wholesome‘ and can lead to enlightenment.“444
11.9 Meditation und das Erhabene Die obigen Studien zeigen, dass Erfahrung in Meditation, sei es in Mitgefühl, sei es in Achtsamkeit, bestimmte alltägliche Formen von dem, was Dukkha umfasst, reduziert. Die Effekte auf das wahrgenommene Selbst sind dabei komplex und subtil. Wenn man diesen Bereich betritt, so ist mit dem Erleben der Illusionshaftigkeit des Selbst eine Form des Wohlergehens verbunden, die dem Bewusstsein selbst inhärent ist. Dabei existieren zwei unterschiedliche Vorgehensweisen: Etwa im TheravadaBuddhismus wird ein gradueller Weg beschrieben, bei dem nach und nach ein Verständnis hiervon erlangt wird (Goodman 2009). Dieser Weg führt aber über anscheinende Paradoxien, weil z.B. ein Selbst überwunden werden soll, welches aber als illusionshaft gesehen wird: Da ist nichts zu überwinden. Oder weil damit die Erreichung eines Ziels verbunden ist, das eine Form der Anhaftung (an eben dieses Ziel) bedeutet, welche aber gerade überwunden werden soll. Ein solcher gradueller Weg akzeptiert gewissermaßen eine Illusion auf dem Weg, um daraus die Illusionshaftigkeit dieser Illusion erkennbar zu machen. Im Dzogchen-Buddhismus wird ein Weg der plötzlichen Erleuchtung beschrieben, der der plötzlichen Erfahrung des Erhabenen ähnlicher zu sein scheint.445 Cochrane (2012) argumentiert durch einen Vergleich von Erfahrungen, die als erhaben oder auch nicht bezeichnet werden, jeweils aber das Kriterium von Schrecken erfüllen, dass Bedrohung oder Schrecken nicht die richtigen Begriffe für das Gefühl seien, welches sich im Moment des Erhabenen einstelle, sondern vielmehr Selbstverneinung (self-negation), welche sich als Schrecken oder Bedrohung äußern kann, aber nicht muss. Die durch den Begriff des Erhabenen ange274 |
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sprochenen Erfahrungen sind plötzliche Erfahrung „reinen“ Bewusstseins (mit dem Wegfall eines Selbst), welches immer schon vorhanden, aber gleichwohl schwierig zu erfahren ist. Schilderungen des Schreckens im Prozess der Erkenntnis der Illusionshaftigkeit des Selbst finden sich in der buddhistischen Literatur regelmäßig. Goldstein (2003) beschreibt diese Erfahrung mit dem Beispiel eines Fallschirmsprungs: Imagine yourself dropping out of an airplane and free-falling for the first few minutes. Imagine the sense of exhilaration. But then you realize that you do not have a parachute, so you panic as you fall through space. Falling, falling, falling, filled with terror that you do not have a parachute … until a certain moment arrives when you realize that there is no ground. At that point of understanding you just enjoy the ride. We often go through a similar emotional sequence in meditation practice. As our identification with things loosens up a little and we see the rapidity of change, at first there can be real exhilaration, a greater sense of spaciousness. But feelings of panic can come when we realize that there is nothing at all to hold onto. Both the objects of awareness and the faculty knowing them are continuously falling away like water over a waterfall. We understand now on a deeper level that nothing we grasp at for security actually provides it. But as we continue with the practice, enlightenment dawns: there is no ground to hit and no one to hit it – just empty phenomena rolling on. Then we feel the great relief of letting go, the deep feeling of equanimity and the joy of ease.446
Das ist die Beschreibung des Erhabenen als ein Den-Boden-unter-den-FüßenVerlieren. Der zentrale Unterschied besteht nur in der kulturellen Einbettung der Erfahrung: Anders als Burke oder Thoreau, die ihren Erfahrungen eher hilflos ausgeliefert waren, versteht man hier, dass sie Teil eines Prozesses der Überwindung von Anhaftung an Konventionen, von Illusionen sind, an deren Ende eine radikale Form der Freiheit steht. Seel (1996) argumentiert ähnlich, dass das Erhabene nicht an eine Naturerfahrung im Sinne von Berggewalten, Fluten, Gewittern und Ähnlichem geknüpft sein muss, sondern an eine Erfahrung des Boden-unter-den-Füßen-Verlierens: Der Standort der Wahrnehmung wird zur beliebigen Stelle, zum bodenlosen Ort. Daraus resultiert die Krise des wahrnehmenden Bewusstseins, von der die Theorie des Erhabenen spricht; der affektlose Raum erzeugt den erhabenen Affekt. Der Schwindel, der zum erhabenen Bewusstsein in allen Deutungen gehört, hat seine Ursache in einer plötzlichen Vakanz der Welt. In ihr gründet die Ambivalenz dieser Erfahrung. Der Bestürzung über diese Bedeutungs-Leere entspricht der Jubel über die BedeutungsMeditation und das Erhabene
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Freiheit. In der erhabenen Irritation sind wir so frei, die Welt – einmalige Zustände der Welt – außerhalb unserer zweckgerichteten und deutungsbeladenen Sicht der Dinge zu sehen.447
Die hier zum Ausdruck gebrachte Erfahrung entspricht der Vorstellung eines grundlosen Grunds im Buddhismus, aus dem entweder existenzielle Angst oder eine tiefe Befreiung entsteht. Nach Batchelor (2015, S. 59) bezeichnet Tanha ganz allgemein den „Grund“ einer Annahme, Meinung, Handlung etc., und zwar in der doppelten Bedeutung, den das Wort besitzt: Grund als das, was eine Antwort auf Wozu-Fragen bietet, und Grund als Ort, auf dem man steht. Leerheit ist dann auch eine Leerheit von Gründen, eine Erkenntnis, dass das Fundament, auf dem man sich abzustützen glaubte, eine Illusion ist: What people assume to be their ground, [Gotama] suggests, turns out not to be a ground at all but merely a temporary place to which they cling in the futile hope of finding existential security in a profoundly insecure world. […] Although Gotama declared that such a ground was clearly visible, he acknowleded that is was ‚hard to see‘ (dudaso).448
Die Ähnlichkeit der Erfahrung kann durch einen Vergleich einer Schilderung des bliss einer Epiphanie von Rousseau und der Schilderung einer Erleuchtungserfahrung von Nhat Hanh illustriert werden. Rousseau schildert nach Thomä (2007) einen Zustand, in dem „[d]as Selbst [...] befreit [ist] von ‚Genuss‘ und ‚Freude‘ ebenso wie von ‚Kummer‘ und ‚Furcht‘“449: Die Nacht schritt voran. Ich nahm den Himmel wahr, einige Sterne und ein wenig Grün. Diese erste Empfindung war ein köstlicher Augenblick. Nur dadurch empfand ich mich. In diesem Moment wurde ich zum Leben geboren.450
Bei Nhat Hanh (1998) klingt das wie folgt: At that moment, I felt perfectly at peace. Not one sad or anxious thought entered my mind. […] Ideas of past, present and future dissolved. And I was standing at the luminous threshold of a reality that transcends time, space and action. I arose and sat in meditation the rest of the night. Waterfalls of consciousness cascaded through my being. Large raindrops and swirling streams cleansed, penetrated, and fed me. All that remained was a deeply rooted peace. I sat like a mountain and I smiled.451
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Das Erhabene ist ein Element des Wegs, es erzeugt vielleicht die Sehnsucht nach der Fährfahrt. Aber wenn all das, was vom ursprünglichen Ufer aus nach Grenze und Unbekanntem aussah, vom neuen Ufer aus zum Teil der Illusion wird, dann gibt es dort auch kein Erhabenes. Das Erhabene ist an eine dualistische Vorstellung von Welt gebunden, die Quelle und Ausdruck von Dukkha ist. In diesem Schritt in die letzte Furcht des Unbekannten und im Vertrauen auf die Fähre gelangt man zu einem Verständnis, welches die Grenze selbst aufhebt. Vielleicht ist das die Lehre, die man aus den Debatten über das Erhabene am Ende ziehen kann: Es ist letztendlich gebunden an das dualistische Denken. Und dort wird es mit seinem „das Eine“ und „das Andere“ wirken, solange mit der so geschaffenen Grenze Angst und Faszination verbunden sind. Und das Versprechen der Freiheit, welches an dieser Grenze spürbar ist, ist real, denn jenseits der Grenze wartet schließlich die Freiheit der Unabhängigkeit von den Konventionen und Illusionen, die die ganzen Grenzen erst erzeugt haben. Es ist Teil der Illusion und Mittel zum Zweck der Transformation. Danach verschwindet es aber wie die Fähre, der Fluss und die beiden Ufer. An dieser Stelle finden dann aber endlich auch das Erhabene und das „umgekehrt Erhabene“ des Humors (siehe Kap. 7) zusammen: Was sonst könnte auf die Erfahrung dieser Illusion folgen, wenn nicht ein großes Gelächter?
11.10 Das Erhabene und die Scheinerleuchtung Mit der Vorstellung des spontanen Gewahrwerdens eines unbedingten Bewusstseins geht auch die Gefahr einer „Scheinerleuchtung“ einher, denn es besteht die Möglichkeit, dass immer noch die Erfahrung eines „Selbst“ im Hintergrund existiert, welches diese Erfahrung macht.452 Dies ist sicherlich bei den meisten Erfahrungen des Erhabenen gegeben. Scheinerleuchtung bedeutet hier, dass aus einer solchen Erfahrung die falschen Schlüsse gezogen werden. Aus buddhistischer Sicht verstellt ggf. die kulturelle Konditionierung den Blick auf deren wahre Signifikanz. Diese wird nicht einfach offengehalten, sondern dem liminalen Moment der Unbestimmtheit wird ein Großteil seiner transformativen und befreienden Energie genommen, indem es in eine fixe Denkstruktur überführt wird, die man dann für „wahr“ hält. Und gleichwohl öffnet sich mit der Erfahrung des Erhabenen im westlichen Denken ein Spalt, der auf etwas verweist, das jenseits der Erklärbarkeit der Konventionen und Sprache liegt. Dieser in den Konventionen nicht erklärbare, „transzendente“ Rest macht sowohl den Schrecken als auch die Faszination des Erhabenen aus. Es zeigt sich hier aber aus einer östlichen Das Erhabene und die Scheinerleuchtung
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Perspektive die mangelnde Vertrautheit der westlichen Vorstellungswelt mit den Implikationen einer ernsthaft aufgenommen „Reise nach innen“ für das Verständnis dieses Selbst, welches im Moment des Erhabenen in Gefahr gerät. Diese Gefahr stellt kein Risiko dar, sondern im Gegenteil eine notwendige Erfahrung auf dem Weg aus der Illusion. Die Beobachtung Burkes und Kants, dass die Erfahrung des Verlusts des Selbst im Moment des (Dynamisch-)Erhabenen auf eine sichere Distanz angewiesen ist, so dass sie nicht einfach nur zum – im geschilderten Fall der Naturgewalten – physischen Tod führt, ist wichtig. Damit bekommt die Bedrohung des Selbst eine symbolische Dimension, die aber nichtsdestotrotz eine existenzielle Bedrohung darstellen kann. Die Überforderung der Vorstellungskraft lässt das Selbst für zumindest einen kurzen Moment verschwinden und macht damit einer unmittelbaren Wahrnehmung Platz, die dem Gewahrwerden reinen Bewusstseins entsprechen kann. Man beraubt diese Erfahrung daher ihres zentralen Potenzials, wenn man sie als abzulehnenden Schrecken, als Bestätigung der Überlegenheit des Selbst in der Kant’schen Konstruktion als innewohnendes Vernunftgesetz oder auch einfach nur als Nervenkitzel einer ansonsten gelangweilten Konsumgesellschaft sieht. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Erhabenen als Selbstverluste vom Politischen über Naturerfahrungen bis hin zum Epistemisch-Erhabenen zeigen darüber hinaus die Wichtigkeit einer nicht naiven Einbettung der Bedeutung dieser Erfahrungen. Es führt ein ausgetretener Weg vom Erhabenen in der Politik hin zu Gruppenverhalten, Totalitarismus und Faschismus, weil man der als sinnhaft und entgrenzend erscheinenden Erfahrungen, die man in der Gruppe machen kann, hilflos ausgeliefert ist und sie nicht als das versteht, was sie potenziell sein könnte. Auch dies ist eine Form der Scheinerleuchtung. Hier wird das Risiko einer Gesellschaft erkennbar, die auf der illusorischen Vorstellung eines stabilen, substanzhaften Selbst gegründet ist, und die sich dann auf Ideen von „Stamm“, „Nation“, „Rasse“ usw. überträgt, und die kein Interesse an, keine Techniken für und keine Erfahrungen mit der Erkundung des „wahren Selbst“ besitzt. Taylors Nova-Effekt ist aus dieser Sicht Ausdruck eines verständnislosen Kreisens um eine Leere, die nicht gefüllt werden kann, weil das Selbst, welches man zu finden versucht, nicht gefunden werden kann. Momente des Selbstverlusts werden zwar als sinnhaft, befreiend, zugehörig erfahren, es existieren aber keine Verständnisressourcen, um die Bedeutung dieser Erfahrungen wirklich einordnen zu können. Das Ding Lacans, jener notwendig verlorene Sehnsuchtsort, ist nicht Ausdruck eines notwendigen Subjektivierungsprozesses, wie er in der Tradition Sigmund Freuds zu erkennen glaubte, sondern Ausdruck 278 |
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einer Hilflosigkeit hinsichtlich des Verständnisses dessen, was das Subjekt, das Selbst ist. Man verlässt sich zu schnell auf die Richtigkeit der nächsten Stufe der Erkenntnis von Wirklichkeit und zieht daraus weitreichende Schlussfolgerungen für das eigene Leben und die Gesellschaft. All diese Theorien sind aus buddhistischer Sicht mehr oder weniger hilflose Schnellschüsse, die höchstens zufällig mal ins Ziel treffen, weil man innerhalb des westlichen Denkens die „Reise nach innen“ nicht nur nicht konsequent antritt, sondern eine solche auch noch regelmäßig als unwissenschaftlichen Mystizismus disqualifiziert und Menschen belächelt, die eine solche Reise machen. Das psychologische Bedürfnis der Überwindung des liminalen Moments durch eine neue Ordnung mag plausibel sein, aber gleichwohl ist klar, dass die neue Ordnung eben auch Illusion sein kann. Hier kommt die Tendenz eines jeden Weltbilds zur epistemischen Schließung zusammen mit den in unserem Weltbild akzeptierten Strategien des Zynismus, der Ironie und der Uneigentlichkeit. Dies könnte man tragikomisch nennen, wenn die gesellschaftlichen und globalen Konsequenzen nicht so gravierend wären. Die traditionellen abrahamitischen Religionen haben an diese Leerstelle den personalen Gott gesetzt. Erhabene Erfahrungen der Überforderung sind damit als Offenbarungen Gottes deutbar. Damit einher gingen aber zentrale Elemente einer bestimmten metaphysischen Erzählung, die mit den Anforderungen an Konsistenz und Belegbarkeit einer säkularen Gesellschaft in mehr oder weniger offenen Widerspruch gerieten. Die Reaktion sich aufgeklärt gebender säkularer Atheisten hat aber wiederum auf ihre eigene Art tragikomische Elemente, weil sie den Begriff der Spiritualität als an das Religiöse in diesem Sinne gebunden sehen und sich daher bestimmter zentraler Erfahrungen berauben, die aber in ihrer Struktur allen Anforderungen an Rationalität genügen, wenn man nur mal genauer hinschauen würde. Eine rationale Spiritualität ist die notwendige Vervollständigung des Projekts der Aufklärung. Wenn Sprache der Welt notwendig eine Struktur gibt, die aber nicht identisch mit der Struktur der Welt ist, und wenn darin eine Ursache von Dukkha besteht, dann folgt, dass die buddhistische Lehre keine sprachbasierte Philosophie im gewöhnlichen Wortsinn sein kann, und es folgt auch, dass „westliche“ Philosophie und Wissenschaft ihr oft naives Verständnis von Sprache überdenken muss (siehe auch Kap. 8). Die buddhistische Lehre ist vielmehr Therapie, die Sprache einsetzt, um Menschen dort abzuholen, wo sie stehen, die sich aber an jeder Stelle bewusst ist, dass die Sprache nur Mittel zu diesem Zweck ist und nicht mehr. Daher stellen sich Fragen nach Ontologie, Metaphysik, Epistemologie in gewissem Sinne gar nicht oder anders als in einer Philosophie, die die Sprache, in der sie formuliert ist, absolut nimmt. Das Erhabene und die Scheinerleuchtung
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Es ist eine große Leistung der buddhistischen Schriften und Bildsprache, die Relativität immer mitzudenken und erlebbar zu machen. So wird der Buddha in vielen bildnerischen Darstellungen weggelassen. Er ist nur als Leerstelle sichtbar. Wir kennen dies aus der Negativen Theologie oder dem Bildverbot von Religionen. Aber auch schon der Begriff „Buddha“ ist eigentlich zu viel; Leere, wenn es nicht auch ein Begriff wäre, ist letztlich die einzig angemessene Darstellung: Man kann nur staunen über das kühne Unterfangen, über den Versuch, das Letzte einer im Grunde nicht mitteilbaren Intuition in Worten und Begriffen darzustellen, die dem gewöhnlichen philosophischen und religiösen Verständnis zugänglich sind. Aber das Erstaunliche ist gelungen: in dieser beispiellosen Sammlung seltsamer esoterischer Texte wird in der Tat ein lebendiges Verständnis für die unaussprechliche, Auslöschung (Nirwana) genannte Wirklichkeit vermittelt.453
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12. Schritte zu einer positiven Integration des „Anderen“ It will take tremendous political will to avoid the next pandemic. And it must begin with a reckoning with our relationship with nature. That tiny necklace of RNA tearing through patients’ lungs right now is the world we live in. And have always lived in. We can’t be cut off from the environment. When I see the suffering in hospitals, I can only ask, Do we get it now? Kevin Berger (2020)
Ein ausführliches Kapitel über die buddhistische Lehre erlaubt es, in gewissem Maße in Distanz zur eigenen erlernten Perspektive zu treten, um diese damit besser zu verstehen. Es erlaubt auch eine erste Abschätzung, wie sich zentrale Vorstellungen des westlich-säkularen Denkens mit buddhistischem Denken verbinden und in welchen Bereichen eine Integration dieser Weltsichten sinnvoll sein kann. Insbesondere haben wir gesehen, dass sich Vorstellungen von Selbstverlust, die sich in der Literatur zum Erhabenen immer wieder finden und die für Fragen des Sinns zentral zu sein scheinen, im Buddhismus sehr präzise formulieren und verstehen lassen. Es besteht aber auch das Risiko des fundamentalen Missverständnisses, alles Weitere in diesem Buch hinge davon ab, dass man buddhistische Erleuchtung (oder was immer das in einer westlichen Kultur sein kann) anstreben müsse. Wie wir gesehen haben, ist die buddhistische „Reise nach innen“ als „philosophische Lebenspraxis“ (in einem hinreichenden Sinn) verträglich mit westlichen Vorstellungen von Vernunft, Rationalität und Wissenschaft. Das bedeutet aber nicht, dass man alle Vorstellungen dieser Lehre annehmen muss oder auch nur kann. Man kann diese Lehre auch einfach als Inspirationsquelle für die Entwicklung einer säkularen Spiritualität nehmen und versuchen, neu oder anderswo zu starten. Wir hatten gesehen, dass Fragen nach Sinn und Zugehörigkeit, wenn sie nicht in Richtung einer totalitären Gruppenidentität gehen, in säkularen Gesellschaften oft mit Naturerfahrungen assoziiert werden und dabei Vorstellungen des Romantisch-Erhabenen eine Rolle spielen. In diesem Kapitel werden wir daher aufbauend auf den bisherigen Ergebnissen dieses Buchs versuchen, grundlegende Schritte zu einer positiven Integration des „Anderen“
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Vorstellungen von Natur, Zivilisation, Wildheit und Sinn besser zu verstehen und einzuordnen, damit die Konturen einer säkularen Spiritualität erkennbar werden. Dabei werden wir zu Beginn auf ein Grenz-Thema zu sprechen kommen, das im Verlauf unserer Überlegungen verstreut immer wieder auftauchte: Grenzen der Vorstellungskraft.
12.1 Grenzen der Vorstellungskraft Das Thema Grenze sollte noch aus einer anderen Perspektive angeschaut werden: An verschiedenen Stellen dieses Buchs kam die Sprache auf die Grenzen der Vorstellungskraft, auf die das Erhabene aufmerksam macht. Das potenziell transformative Moment des Erhabenen deutet eine solche Veränderung der Verständnistiefe an: Man weiß beim Burke’schen Erhabenen nicht mehr nur theoretisch, dass man sterblich ist, man bekommt eine konkrete Vorstellung davon, was es heißt, dass man jetzt und hier sterben kann. Je weniger „gesichert“ diese Erfahrung gemacht wird, umso intensiver drängt sie sich auf. Vorstellungskraft bedeutet, dass man nicht nur theoretisches Wissen besitzt, sondern dass man mit dem theoretischen Wissen eine Form der körperlichen, affektiven Erfahrung verbinden kann. Das bedeutet nicht, dass Entscheidungen in einem Zustand emotionaler Erregung getroffen werden sollten. Es bedeutet aber, dass Entscheidungen, die allein auf Basis von theoretischen Konzepten getroffen werden und die ohne eine Vorstellung der subjektiven Bedeutungen und körperlichen Erfahrungen, die mit ihnen einhergehen, unvollständig sind. Die empirische Forschung zeigt, dass Menschen, die eine schwere Krankheit, eine Naturkatastrophe oder den Verlust ihrer materiellen Existenz erleben mussten, sich danach oft verständnisvoller, altruistischer und kooperativer als zuvor verhalten. Ihnen ist das Leben sozusagen „auf den Leib gerückt“, so dass sie mit abstrakten Begriffen nun Erfahrungen verbinden können. Und diese Erfahrungen verändern ihre Perspektive auf das Leben und ihr Verhalten. Ihre Vorstellungskraft hat sich verändert.454 Wir unterliegen gerade in unserer Kultur schnell der Illusion, dass die Beschreibbarkeit eines Erlebnisses und das Erlebnis dasselbe sind, dass sich kein Abgrund zwischen Wort und Erfahrung auftut. Abstrakte Konzepte und Namen müssen aber durch Erfahrungen unterfüttert sein, damit man versteht, was sie für das Leben bedeuten. Wie wir gesehen haben, beginnt dies bei so alltäglichen Phänomenen wie dem Wort Kaffee und der Erfahrung, Kaffee zu trinken (siehe Kap. 11). Es endet aber nicht beim Alltäglichen. Die buddhistische Vor282 |
Schritte zu einer positiven Integration des „Anderen“
stellung einer Kunst des Leidens bezieht sich darauf, dass Mitgefühl auch darauf beruht, eine Vorstellung davon zu haben, was in der anderen Person vorgeht. Ein Mensch, der keine Vorstellung von Schmerz besitzt, wird dem Schmerz eines Anderen hilflos gegenüberstehen. Er kann vielleicht helfen, wie dies auch ein Roboter könnte, aber ihm fehlt die Innenperspektive des Schmerzes: Für Bodhisattvas [...] wird die Erfahrung des Krankseins nicht zum Hindernis, sondern zu einem Katalysator, zu einem elementaren Impuls, der zu einer erneuten und verstärkten Hingabe an die spirituelle Arbeit anregt. Anstatt den Bodhisattva dazu zu veranlassen, die Erlösung von seinen körperlichen Schmerzen durch den Eintritt in die Seligkeit des Nirwana zu suchen, soll Krankheit für ihn der große Gleichmacher sein, der ihn im Teilen der leidvollen Erfahrung des Krankseins an die essentielle Brüderlichkeit aller Menschen erinnert. Im Bewusstsein seiner Verbundenheit mit allen Wesen, sollte er seinen Entschluss bekräftigen, ihnen helfend beizustehen.455
Die Untersuchung der Implikationen der Trennung von Begriff und Erfahrung ist mit einer Ausnahme nie tief in den wissenschaftlichen Mainstream vorgedrungen: der Debatte über Können (knowledge by acquaintance) und Wissen (knowledge by description).456 Da die deutschen Begriffe Können und Wissen umgangssprachlich anders besetzt sind, werden wir die englische Terminologie verwenden, um den zentralen Unterschied zu erläutern. Knowledge by acquaintance bezieht sich auf das Wissen, welches sich aus der unmittelbaren Interaktion mit einem Objekt ergibt. Wie der Begriff schon sagt, basiert knowledge by description auf Sprache, es ist das sprachlich vermittelbare Wissen über ein Phänomen. Knowledge by acquaintance steht damit in engem Zusammenhang mit dem Begriff des impliziten Wissens (tacit knowledge).457 James (1981 [1890]) beschrieb diese Form des Wissens wie folgt: I know the color blue when I see it, and the flavour of a pear when I taste it; I know an inch when I move my finger through it; a second of time, when I feel it pass; an effort of attention when I make it; a difference between two things when I notice it; but about the inner nature of these facts or what makes them what they are, I can say nothing at all. I cannot impart acquaintance with them to any one who has not already made it himself I cannot describe them, make a blind man guess what blue is like, define to a child a syllogism, or tell a philosopher in just what respect distance is just what it is, and differs from other forms of relation. At most, I can say to my friends, Go to certain places and act in certain ways, and these objects will probably come.458
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Die Debatte über das Verhältnis dieser beiden Formen des Wissens geht in wesentlichen Teilen zurück auf Russell, der knowledge by acquaintance wie folgt definierte: „We shall say that we have acquaintance with anything of which we are directly aware, without the intermediary of any process of inference or any knowledge of truths.“459 Knowledge by acquaintance wird von einigen Philosophen in der Nachfolge von Russell als einzige Möglichkeit gesehen, eine Theorie mit Bedeutung zu versehen. Ein Verständnis der ersten, dogmatisch gesetzten Konzepte (siehe Kap. 8) ist möglich, weil sie in Form von acquaintances in Bezug zur Wirklichkeit stehen.460 Die Folgen dieser Trennung sind aber weitgehend unbeachtet geblieben. Ein Mangel an Vorstellungskraft liegt im Zentrum vieler Missstände. Entfernte militärische Konflikte, kombiniert mit der richtigen Propaganda, machen das menschliche Leid abstrakt. Man sieht Bilder, die einem Computerspiel entnommen zu sein scheinen und die die Kriegsführung als klinisch, präzise und abstrakt erscheinen lassen. Die Distanzierung ist eine der erfolgreichsten Strategien, Gewalt- und Tötungshemmungen auszuschalten. Die Abstrahierung schaltet systematisch Empathie und Mitgefühl aus. Das reicht bis tief in die Sprache hinein, so dass Menschen beispielsweise „fallen“. Und dieses Argument lässt sich natürlich auf die globalisierten Produktionsweisen ausdehnen. Man nimmt als Konsumentin und Konsument die Arbeitsbedingungen von Näherinnen in Bangladesch oder Fabrikarbeitern in China billigend in Kauf. Das Gewissen beim Kauf eines neuen iPhone oder eines weiteren T-Shirts meldet sich nur zögerlich, weil die Arbeitsbedingungen in diesen Fabriken abstrakt bleiben. Aus nachvollziehbaren evolutionären Gründen ist Wahrnehmung auf persönliche, sich wiederholende Kontakte kalibriert; das war der evolutionäre Normalfall. Die Fähigkeiten für moralisches Verhalten und Verantwortung ist in diesem Sinn ein Nahsichtgerät und basiert auf der Kenntnis anderer Menschen, dem Ort, an dem man lebt, und den unmittelbaren Erfahrungen, die man im Leben gemacht hat. Die Grenzen der Vorstellungskraft liegen im Zentrum vieler gegenwärtiger Krisen und Probleme, und sie haben auch mit einer Abschirmung vor dem „Anderen“ zu tun. In Kap. 8 hatten wir bereits die Kommodifizierung von Gütern, Erfahrungen und Erlebnissen als „Homogenisierungsstrategien“ genannt. Aber auch Gentrifizierung und andere Phänomene vermindern die Vorstellungskraft, weil diese notwendig an Erfahrungen gebunden ist. Letztlich hat der Umgang mit der Umweltkrise auch wichtige Elemente mangelnder Vorstellungskraft. Wir wissen aus der Psychologie zwar, dass wir vertrautere Risiken weniger scheuen als unvertraute. Paradoxerweise fürchten wir aber unvorstellbare Risiken gar nicht.
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Schritte zu einer positiven Integration des „Anderen“
12.2 Spiritualität und „Natur“ Wir wollen nun der Frage nachgehen, wie man die Erfahrungen tiefer Verbundenheit und Sinn, die viele Menschen in „der Natur“ machen, nutzen kann, um Schlussfolgerungen für eine säkulare Spiritualität ableiten zu können. Dabei kann auch religiöser Glaube als Versuch der Sinngebung mit eingeschlossen sein: Säkularisierung wird als eine Form der Verweltlichung verstanden, in der in immer mehr Lebensbereichen Bindungen an Religion gelockert sind. Säkulare Spiritualität ist daher explizit nicht atheistische Spiritualität, sondern sie ist wie in Kap. 10 ausgeführt auf der symbolischen und subsymbolischen Ebene ein unbedingter Wille zur Wahrheit und richtet sich damit gegen jedwedes Dogma. Vielmehr geht es, anknüpfend an die Ergebnisse zur Vorstellungskraft und zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, um die Verfügbarmachung von Erfahrungen. Tiefe Erfahrungen von Sinn, Zugehörigkeit und Selbstüberwindung stellen menschliche Universalien dar. Die Sprachlosigkeit, die Nichtmitteilbarkeit der Erfahrung und das gleichzeitige Bedürfnis, sich mitzuteilen, führen dazu, dass sich unterschiedliche und kulturrelative Geschichten entwickelt haben, mit denen man diesen Erfahrungen gerecht werden wollte.461 Kultur mag dabei auch den Weg zu diesen Erfahrungen hin und vielleicht auch die Erfahrungen selbst beeinflussen,462 hier ist aber nicht der Ort, um Fragen nach Perennialismus (alle Religionen und spirituellen Traditionen verweisen letztlich auf dieselben mystischen Erfahrungen) oder Relativismus (mystische Erfahrungen sind kulturrelativ) einzugehen.463 Um sich der Beantwortung dieser Frage zu nähern, kommen wir auf die Gegensatzpaare zivilisiert–wild, bekannt–unbekannt/fremd, Ordnung–Chaos, Kontrolle–Zufall/Spontaneität, Sprache–unmittelbare Erfahrung/Wahrnehmung, das Eigene–das Andere zurück, die im Zentrum des Erhabenen stehen. Röllicke (2001) weist darauf hin, dass der Begriff Natur wohl erstmalig in Homers Ilias als Physis Erwähnung findet. Natur als Physis meint dort „[...] die Erfahrung einer Grenze, bei der der Mensch und das Wachsende aneinanderstoßen.“464 Eine solche Grenze bedeutet für Röllicke, dass „[...] das Menschsein schon abgetrennt vom Sein der ‚natürlichen‘ Dinge [...]“465 gedacht wurde. Damit können wir Mensch–Natur als weitere Grenzerfahrung hinzunehmen. Das Erhabene entsteht bei der Erkundung des Unbekannten, des Ungeordneten, des Wilden, sei es „da draußen“ oder in einem selbst. „Das Wilde“ liegt nah bei „Wildnis“ und „Natur“, und auch das RomantischErhabene nahm immer wieder Bezug auf die spirituelle Dimension der dort möglichen Erfahrungen. Darum wollen wir im Folgenden schauen, ob sich dort Spiritualität und „Natur“
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ein möglicher Zustieg zu einer säkularen Spiritualität öffnet. Dies legt auch die intensive zeitgenössische Forschung zu diesem Thema nah, die zeigt, dass die Einstellung der Menschen zur „Natur“ nur zu verstehen sind, wenn man den Begriff Spiritualität ins Zentrum rückt.466 „Natur“ scheint das Phänomen zu sein, bei dem säkulare Menschen systematisch Erfahrungen von Sinn und Aufgehobensein machen. Man muss aber aufpassen, dass man hier hinreichende und notwendige Bedingungen nicht durcheinanderbringt. Zahllose Studien aus den unterschiedlichsten Forschungsbereichen zeigen, dass diese Wahrnehmung existiert, Begriffe wie „Natur“ oder „Wildnis“ sind aber kompliziert, sie tragen einen schweren Rucksack an kulturellen Bedeutungen und Sehnsüchten. Wir werden uns damit später in diesem Kapitel ausführlich beschäftigen. Bethelmy und Corraliza (2019) kommen in einer Literaturübersicht zu dem Schluss, dass „Natur“ eine zentrale Quelle der Erfahrung von Spiritualität ist, und sie entwickeln ein empirisches Maß, um spirituelle Reaktionen auf Naturerfahrungen besser zu verstehen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Transzendenzerfahrungen auf der Erfahrung des Erhabenen in der Natur basieren. Dabei verwenden sie einen Begriff des Erhabenen, der angemessen für den Anwendungsbereich „Natur“ auf Burke und Kant basiert: „[S]ublime is experienced as boundlessness that can eventually overwhelm or even destroy the observer.“467 Zentral ist für sie das Gefühl der Ehrfurcht, das sich angesichts dieser Erfahrung einstellt. Ansel Adams hat mit seiner Landschaftsfotografie solche Momente oftmals festgehalten,468 wie beispielhaft in Abb. 15 gezeigt wird. Williams und Harvey (2001) verwendeten Hoods (1975) Mystizismus-Skala, um die Erfahrung transzendenter Emotionen von Menschen zu messen. Sie fanden heraus, dass sich transzendente Gefühle (positive Stimmung, Einheit, Selbstvergessenheit und Zeitlosigkeit) einstellen, wenn man sich klein und insignifikant fühlt und einen Zustand des flow erlebt. Damit einher geht eine Haltung des Staunens, der Ehrfurcht und Demut. Seamon (1984) unterzog die Gedichte Wordsworths (1770–1850) einer linguistischen Untersuchung und fand ein sehr ähnliches Muster an Erfahrungen, die dieser in seiner Lyrik umgesetzt hat. Cousins et al. (2009) stellten fest, dass wilde Tiere ebenfalls transzendente Gefühle wie Ehrfurcht und Staunen hervorrufen. Ehrfurcht ist das in diesem Zusammenhang bestuntersuchte Gefühl. Shiota et al. (2007) fanden heraus, dass Natur (27 %) und Kunst (20 %) die beiden wichtigsten Quellen dieses Gefühls sind. Es scheint positiv mit unterschiedlichen Dimensionen von Wohlergehen im Sinne von Eudaimonie, prosozialem Verhalten und einer Reduktion der Identifikation mit und Wahrnehmung des Selbst korreliert zu sein.469 Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Ehrfurcht dabei ein Teil der Erfahrung des Erhabenen ist 286 |
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Abb. 15: Ansel Adams (1902–1984), Clearing Winter Storm (1940).
und daher Naturerfahrungen in diesem Sinn als Erfahrungen des Erhabenen verstanden werden sollten. Diese Erfahrung des Erhabenen beinhaltet neben dem Element der Ehrfurcht das Element der Freisetzung einer inspirierenden Energie, die eine Bindung an und Verantwortung für „Natur“ stärkt: „Awe and inspiring energy suggest the possibility of the duality of sublime emotion toward nature: inspiring energy provoking externally oriented activities, and awe, conversely, prompting an inner, personal process.“470 Auf einer tiefen Begründungsebene haben wir bei der Assoziation bestimmter affektiver Zustände mit „Natur“ möglicherweise ein Problem, da niemand die „Natur“ oder „Wildnis“ betritt, der nicht schon kulturell geformte Vorstellungen hinsichtlich der dort auf ihn wartenden Erfahrungen hat. Dies ist umso ernster zu nehmen, da Natur und Wildnis selbst kulturell geformte Konzepte sind. In diesem Fall wäre eine Quelle von Sinn, die auf solchen Erfahrungen aufbaut, selbst wiederum nur eine kulturelle Konstruktion, die funktioniert, solange man an sie glaubt. Hierfür spricht auch die in Kap. 3 rekonstruierte Umkehr des
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Abb. 16: Jackson Pollock (1912–1956), Number 1 (1949).
normativen Verhältnisses von Zivilisation und Wildnis, auf welches wir noch detaillierter eingehen werden. Die Möglichkeit der kulturellen Erzeugung transzendenter Naturerfahrungen wird auch dann plausibel, wenn man sich die Dimension der Sicherheit vor Augen führt, die das Erhabene vom Grässlichen trennt und die mit einer echten Distanzierung von Gefahren einhergehen kann (man stellt sich nicht direkt an den Abgrund), die aber oft narrative Strategien der Distanzierung sind. Umgekehrt gibt es aber überzeugende Evidenz für die positiven Gesundheitswirkungen von Naturerfahrungen, siehe Williams (2017) für eine Zusammenfassung der wissenschaftlichen Evidenz. Wenn es sich dabei nicht nur um Placeboeffekte handelt, die durch die erwähnten kulturellen Konstruktionen der Wildniserfahrung ermöglicht werden, so weisen sie darauf hin, dass unsere evolutionäre Herkunft, z.B. unsere biologisch verankerten Stressreaktionen, auf eine Welt kalibriert sind, die wir aus heutiger Perspektive „Natur“ oder „Wildnis“ nennen würden. Der urbane Raum kann zu einer Daueraktivierung z.B. des Stresssystems führen, welche an weniger kulturell überformten Orten nicht auftritt,471 auch wenn in der Wildnis eigene Gefahren warten. Daher wird die Wahrheit wahrscheinlich wie so oft in der Mitte liegen: Natur ist immer kulturell konstru288 |
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iert, und gleichzeitig reagieren wir auf unterschiedlich kulturell überformte Umfelder unterschiedlich. Will man mehr als die Möglichkeit eines kulturellen Hallraums erklären, so muss man eine milde Form eines Perennialismus annehmen: zu jedem Zeitpunkt sind Erfahrungen in der Natur oder Wildnis zwar kulturell gefärbt, und doch haben sie gewisse einheitliche Elemente, die mit einer Zunahme an Verständnis und einer Überwindung dieser kulturellen Prägungen offener zu Tage treten. Das durch Gefühle wie Ehrfurcht oder gar Epiphanien472 geweckte Gefühl des Interesses an und Verantwortung für „Natur“ kann dann Antrieb zu einer tieferen Auseinandersetzung mit Ideen wie Zivilisation–Wildnis oder Selbst–Umwelt führen, die es erlauben, ein Denken und Erleben in diesen Kategorien zu überwinden und zu einem „tieferen“ Verständnis vorzudringen. Wir werden in diesem Kapitel versuchen, diesen Weg zu skizzieren und auch Metzingers Konzept von Spiritualität als Bereitschaft zur konsequenten Hinterfragung umzusetzen. Wir beginnen mit den für die Umweltbewegung bahnbrechenden Vorstellungen Snyders. Auch die dem Erhabenen eingeschriebenen Dichotomien sind für ihn nur Kategorien des Denkens und führen zu einer Entfremdung mit schwerwiegenden Konsequenzen für die einzelne Person sowie für ihre „Umwelt“. Die stereotype Dichotomie zwischen „Mensch“ und „Natur“ als Ort, der sich durch die Abwesenheit des Menschen auszeichnet, suggeriert beispielsweise, dass der Mensch außerhalb der Natur steht. Dies ist aber in einem wichtigen Sinne falsch: „Sience and some sorts of mysticism rightly propose that everything is natural. By these lights there is nothing unnatural about New York City, or toxic wastes, or atomic energy, and nothing – by definition – that we do or experience in life is ‚unnatural‘.“473 Für Snyder bezieht sich der Begriff Natur – vom lateinischen natura von nasci, entstehen, geboren werden – auf die materielle Welt mit allen Objekten und Phänomenen, einschließlich des Menschen. Aus dieser Perspektive gibt es keine Mensch-Natur-Dualität. Anwendungsfall: Fraktale, Natur und Stress Der Physiker Richard Taylor fand heraus, dass die Drip Paintings Pollocks eine bestimmte Ordnung aufweisen: sie sind fraktal, und die Komplexität der Fraktale stieg mit der Erfahrung Pollocks (siehe Abb. 16).474 Der Mathematiker Benoît Mandelbrot begründete den Begriff Fraktal, um damit selbstähnliche Muster zu bezeichnen, die auf unterschiedlichen Größenskalen immer wieder auftauchen (siehe auch die Mandelbrot-Menge in Abb. 3). Fraktale liegen zwischen Ordnung und Chaos, und man kann das Verhältnis anhand der Fraktaldimension messen. Spiritualität und „Natur“
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Eine gerade Linie hat Fraktaldimension 1, und je höher die Komplexität, desto höher die Fraktaldimension. Taylor fand heraus, dass die frühen Bilder Pollocks eine Fraktaldimension von ungefähr 1 haben, währen die späten Bilder bei ca. 1,7 liegen. Taylor geht davon aus, dass sich in der Fraktaldimension z.B. eines Bildes eine fundamentalere Dimension unserer Wahrnehmung verbirgt: Die Welt, in der wir leben, ist selbstähnlich und fraktal. Wie Abb. 17 und 18a zeigen, finden sich selbstähnliche Strukturen überall in der Natur. Daher wäre es adaptiv, wenn wir in unserer Wahrnehmung auf Fraktale reagieren würden. Wie Abb. 18 b zeigt, finden sich selbstähnliche Strukturen auch innerhalb der Drip Paintings Jackson Pollocks. Spehar und Taylor (2003) konnten zeigen, dass Pollocks Fraktale und Fraktale, die in der Natur vorgefunden werden, bei Menschen dieselben physiologischen Reaktionen hervorrufen. 2015 fand Taylor heraus, dass Menschen am einfachsten Muster in computergenerierten Bildern erkennen, die eine Fraktaldimension aufweisen, die wir auch in der Natur finden (im Intervall von 1,3 bis 1,5). Auf Bilder in diesem Bereich reagieren wir auch mit unserem Stresssystem: Im Vergleich zu Bildern außerhalb dieses Bereichs reduziert die Betrachtung von Bildern mit Fraktaldimensionen innerhalb von 1,3 bis 1,5 die Stressreaktion um bis zu 60 %, was ein sehr hoher Wert ist. Die Immunologin Sternberg (2017) erklärt das wie folgt: „The parts of the brain that recognize a beautiful view are very rich in endorphins, a feel-good, anti-pain molecule. […] This helps reduce the stress response. So even if there’s no direct evidence yet that looking at fractals helps you heal, you can make the link by adding up all these different kinds of studies.“475 Wir können selbstverständlich auch vom Menschen geschaffene Strukturen hinsichtlich ihrer Fraktaldimension messen. Dies wurde mit dem Zen-Meditationsgarten in Kyotos Ryoanji-Tempel gemacht, in dem 15 Felsen auf einem kiesbedeckten Rechteck verteilt sind und der bei Meditierenden und Besuchern sehr beliebt ist. Van Tonder et al. (2002) fanden heraus, dass die Achsensymmetrie der Felsen der Fraktalkontur eines Baums entspricht. Durch Computersimulationen der Felsanordnungen stellte sich heraus, dass der meditative Effekt verloren geht, wenn die Anordnung der Steine verändert wird. Sternberg interpretiert dies wie folgt: „The people who built the temple didn’t know about fractals. But they understood at some unconscious level that placing the rocks in that way made people feel calm.“476 Weitere neurowissenschaftliche Studien unterstützen diese Ergebnisse:477 Umfelder mit einer Fraktaldimension, die der der Natur entspricht, haben positive Wirkungen auf Stress, Gesundheit und andere Gehirnfunktionen wie das Ge-
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dächtnis. Dies gilt auch für Musik. Umgekehrt ist die Fraktaldimension moderner Städte mit ihren großen, unstrukturierten Flächen deutlich geringer als die der Natur. Dies kann eine Erklärung für das durchschnittlich höhere Stressniveau in solchen Umfeldern und den positiven Effekt von Naturerfahrung sein. Taylor (2021) fasst den Stand der Forschung so zusammen: „As people increasingly find themselves surrounded by urban landscapes, they risk becoming disconnected from nature’s fractals and their stress-reduction qualities.“478
Abb. 17: Selbstähnlichkeit in der Natur: (a) Nautilusmuschel, Galaxie, Sonnenblume, Wüstenpflanze; (b) Sturmformation, Farnknospe, Welle, Fingerabdruck; (c) fraktale Eigenschaften eines Baums, Blatt, Flussbett, menschliche Lunge, in: Perera & Coppens (2019).
Wenn aber alles „Natur“ ist, ergeben sich verschiede Probleme. Wir werden darauf in Kap. 14 zurückkommen und hier nur auf das zentrale Immanenz-Transzendenz-Problem kurz eingehen. Wie insbesondere Adorno (1996) bezugnehmend auf Kants Transzendentalphilosophie herausgearbeitet hat, sind mit der Moderne Metaphysiken mit einer traditionellen Transzendenzvorstellung unakzeptabel geworden.479 Dies betrifft den abrahamitisch-religiösen Gottesbegriff, die Idee ewiger und unveränderlicher Werte sowie die Idee der Geschichtslosigkeit. Und damit ist auch die Fähigkeit zur Perspektivität und Kritik betroffen: Spiritualität und „Natur“
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Abb. 18a Selbstähnlichkeit in der Natur (Baum), in: Taylor et al. (2005). Abb. 18b: Selbstähnlichkeit in den Gemälden Pollocks, in: Taylor et al. (2005).
Ohne einen „Blick von außen“ ist man in der reinen Immanenz verhaftet. Adorno leitet dann aber dennoch den Begriff einer immanenten Transzendenz ab, die er wie folgt bestimmt: „Das, was Natur transzendiert [...], ist die ihrer selbst innegewordene Natur.“480 Hiermit ist das Bewusstsein zu verstehen, mit welchem der Mensch einen Blick auf „die Natur“ inklusive seiner selbst wirft. Bewusstsein fußt damit zum einen in Natur, ragt aber über sie hinaus. Adorno unterscheidet 292 |
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daher zwischen „bloßer Natur“ und der ihrer selbst gewahr seienden Natur: „Wir sind eigentlich in dem Augenblick nicht mehr selber ein Stück der Natur, in dem wir merken, in dem wir erkennen, dass wir ein Stück Natur sind.“481 Die „bloße“ Natur spannt er dialektisch weiter in Naturverfallenheit und Naturbeherrschung, in Mythos und Vernunft auf. Im Mythos sei der Mensch dabei in der vollständigen Immanenz des Naturzusammenhangs befangen, er habe sich noch nicht subjektiviert. Dies geschehe durch die Vernunft: Ich glaube, zugespitzter kann man es überhaupt nicht sagen, denn Verblendung ist eigentlich nichts anderes als jenes sture Vor-sich-hin, das des Prinzips der Selbstbesinnung überhaupt nicht mächtig ist [...]. Und das, was sich dem entzieht, was man in einem sehr emphatischen Sinn Subjekt überhaupt nennen könnte, das ist nichts anderes als jene Selbstbesinnung, jene Besinnung auf das Ich, in der das Ich merkt: ich selber bin ja ein Stück Natur – und gerade dadurch wird es der blinden Verfolgung der Naturzwecke ledig und zu etwas anderem.482
Es ist ein merkwürdiger Naturbegriff, der die Vernunft deshalb aus sich ausschließt, weil sie erlaubt, der „blinden Verfolgung der Naturzwecke“ zu entgehen. Der Kunstgriff einer Doppelung des Naturbegriffs in „bloße“ und „ihrer selbst gewahr seiende“ Natur versucht, einen Körper-Geist-Dualismus zu umgehen, nur um ihn dann doch wieder zu etablieren. Durch den Umweg über die Vernunft bleibt das Konzept auch wieder in den symbolischen Ordnungen von Sprache und Kultur verhaftet, durch die sich eine solcherart entworfene Vernunft äußert. Dies erscheint aber ganz und gar unnötig zu sein, wenn man den Erkenntnis- und Vernunftbegriff wie in Kap. 10 und 11 geweitet hat. Es ist völlig unklar, warum hier an einer am Ende doch außerhalb der Natur stehenden Vernunft als „Natur zweiter Ordnung“ festgehalten wird.
12.3 Wildnis: Zur Entstehung und Problematik eines Begriffs Wie kam es zu der Vorstellung einer Trennung des Menschen von der Natur, von Zivilisation und Wildnis? Wir haben es beim Begriff der Wildnis mit zwei komplementären Begriffen zu tun: Wildnis versus Zivilisation, womit der Mensch nicht zu ihr gehört, und dialektisch aufeinander bezogen Wildnis als gut (schlecht) versus Zivilisation als schlecht (gut). Wir hatten in Kap. 3 bereits die Bedeutungsumkehr rekonstruiert, die sich im Lauf der Zeit vollzogen hat. Wir werden diese jetzt weiter vertiefen. Wildnis: Zur Entstehung und Problematik eines Begriffs
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Hinsichtlich der moralischen Aufladung war vor der europäischen Aufklärung Wildnis kein Sehnsuchtsort, keine Idee eines verlorenen Paradieses, sondern im Gegenteil eine bedrohliche Ödnis. Es gab die Grenze zwischen Kultur und Wildnis, aber das Gute lag diesseits dieser Grenze, es war die Vorstellung eines Garten Eden. Außerhalb dieses Gartens war man Mächten jenseits der eigenen Kontrolle ausgesetzt; dort lebte Satan. Für Jahrhunderte nach der Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht versuchte man, sich durch Mauern und Zäune vor all dem zu schützen, was „da draußen“ lauerte. Das Paradies war ein Garten, eine Oase, nach menschlichen Regeln gestaltet. Innerhalb der Stadtmauern war man sicher. Weiter im Norden spielte bis ins Mittelalter hinein der Wald die Rolle der Wüste. Es war ein unheimlicher, dunkler Ort, in dem man sich verirren und den Verstand verlieren konnte. Es war aber zugleich ein Ort der potenziellen Transformation: „Angeblich steht die erste Beschreibung von Waldangst am Anfang von Dantes Die göttliche Komödie. Doch von der Angst ‚im dunklen Walde‘ wurde im Norden schon sehr lange gesungen. [...].“483 Hier ist der Beginn der Reclam-Ausgabe von 1986: Als ich auf halbem Weg stand unsers Lebens, Fand ich mich einst in einem dunklen Walde, Weil ich vom rechten Weg verirrt mich hatte; Gar hart zu sagen ist’s, wie er gewesen, Der wilde Wald, so rauh und dicht verwachsen, Daß beim Gedanken sich die Furcht erneuert; So herb, dass herber kaum der Tod mir schiene:
Auch in den Märchen spielt der Wald diese Rolle: Rotkäppchen trifft dort den Wolf und lernt, dass man nicht jedem trauen darf. Hänsel und Gretel treffen dort die Hexe. Aber sie besiegen sie auch: Der Wald wird zu einem Ort der Transformation und inneren Reifung, gerade weil er Angst macht. Der Beginn der Göttlichen Komödie setzt sich wie folgt fort: Doch eh’ vom Heil, das drin mir ward, ich handle, Meld’ ich erst andres, was ich dort gewahrte.
Auch die Reise nach innen, die Konfrontation mit dem Wilden in einem selbst, wurde assoziiert (und als kulturelle Praxis auch gelebt) mit einem Verlassen der Zivilisation.484 Jesus verlässt die Sicherheit der Stadt und geht in die Wüste, wo er auf die Probe gestellt wird, die Versuchungen besiegt und in diesem Sinn trans294 |
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formiert zurückkehrt. Das ist der Campbell’sche Monomythos: Die Heldenreise ist immer auch ein Aufbruch aus der geordneten Welt in die Wildheit des eigenen Selbst „jenseits der Mauer“. In der Romantik wird der Wald dann zunehmend zum Symbol für Schutz und Dauerhaftigkeit: Zwei Träume scheint es von Anfang an gegeben zu haben. Der erste Traum war, den Wald zu besiegen. Man träumte davon, das Chaos zu bezwingen und sich einen Weg durch die Unzugänglichkeit zu bahnen. Man wollte sich alles Nützliche und Essbare holen, das in dem fruchtbaren Wirrwarr sonst nur verfaulte. [...] Alle Tiere ausrotten, die Mensch und Vieh bedrohten. Der zweite Traum war, den Wald wieder in den jungfräulichen Zustand zurückzuversetzen, in dem er sich befunden hatte, bevor der Mensch ihn in seine Gewalt gebracht hat. Beide Träume haben uns bis in unsere Gegenwart begleitet.485
Mit der Neuzeit drehte sich das Verhältnis dann vollends um, und man begann, z.B. mit der Entwicklung von Nationalparks, Zäune zu ziehen, um „die Natur“ vor „den Menschen“ zu schützen. Die einst bedrohliche Natur wurde zum eigentlichen Ort der Reinheit. Das Heimische wurde zum Un-Heimlichen, die Zivilisation wurde zum Ort der Bedrohung, während die „unberührte“ Natur zum Sehnsuchtsort einer Idee des eigentlich Heimischen wurde; das (verlorene) Paradies war nun nicht länger ein Garten, wie man exemplarisch im folgenden Gedicht Lord Byrons (1812) sieht: I live not in myself, but I become Portion of that around me; and to me, High mountains are a feeling, but the hum Of human cities torture: I can see Nothing to loathe in nature, save to be A link reluctant in a fleshly chain, Class’d among creatures, when the soul can flee, And with the sky, the peak, the heaving plain Of ocean, or the stars, mingle, and not in vain.486
Dieser Prozess war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. Die wertlose und gefährliche Ödnis war für manche zum Ort des eigentlich Wertvollen geworden, während die Zivilisation stellvertretend für das Negative, Flache, nicht Authentische, Entfremdete stand: dieselbe Grenze, eine Umkehr der Wertung. Wildnis: Zur Entstehung und Problematik eines Begriffs
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Für Muir hat Wildnis nichts vom Schrecken des Erhabenen, sie ist eins mit einem gütigen Gott, der Schrecken wartet vielmehr in der Stadt: Thousands of tired, nerve-shaken, over-civilized people are beginning to find out that going to the mountains is going home. [...] [G]etting in touch with the nerves of Mother Earth; jumping from rock to rock, feeling the life of them, learning the songs of them, panting in wholesome exercise, and rejoining in deep, long-drawn breaths of pure wildness.487
Wie Cronon (1995) und nach ihm viele andere bemerkt haben, ist die Romantik mit ihrer Idee einer erhabenen Wildnis dominant für unser heutiges Verständnis geworden. Die Vorstellung einer unberührten Natur, zu der der Mensch nicht gehört, die aber durch den Menschen beschmutzt werden kann, ist damit selbst ein kulturelles Artefakt, welches eine Erwartungshaltung schafft: Natur ist nicht einfach Natur, sondern Ausdruck unserer Sehnsüchte und Wünsche. Und es besteht kein Zweifel daran, dass erhabene Natur tiefe, für viele Menschen vielleicht sogar die tiefsten Empfindungen auslösen kann. Aber das liegt nicht an „Natur“ als solcher, sondern an bestimmten kulturellen Vorstellungen, die seit der Romantik entstanden sind. Wichtig für diese Umkehr in den USA waren nach den Romantikern sicherlich die amerikanischen Transzendentalisten, Maler wie Bierstadt und die Hudson River School (siehe Abb. 19), oder der für die Wahrnehmung dieser Vorstellung von Wildnis einzigartig prägende Muir. Für ihn und viele weitere US-Amerikaner seitdem wurde Wildnis vom Ort Satans zur Kathedrale Gottes. Dabei kam es auch zu einer Verschiebung vom Erhabenen zum Pittoresken: in Bierstadts Gemälden sind alle Elemente des Romantisch-Erhabenen vereint, und doch sind sie so komponiert, dass ihnen der Schrecken fehlt. Hier findet sich eine Vorahnung der modernen Sicht auf Nationalparks. Eine wichtige Rolle hierfür spielte sicherlich auch die Emanzipation der USA von Europa und damit die Notwendigkeit, ein eigenes Selbstbewusstsein zu finden. Europa hatte zwar den Petersdom, aber dies war bei genauer Betrachtung nur ein blasser Abglanz von Yosemite Valley. Solche nationalpatriotischen Untertöne finden sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, z.B. bei Barnett Newman: „Instead of making cathedrals out of Christ, man, or life, we are making it out of ourselves, out of our own feelings. The image we produce is the self-evident one of revelation, real and concrete, that can be understood by anyone who will look at it without the nostalgic glasses of history.“488 Eine Überwindung der Ordnung im Erhabenen ist immer auch eine Überwindung von Erinnerung, Gedächtnis 296 |
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Abb. 19: Albert Bierstadt (1830–1902), Among the Sierra Nevada Mountains (1868).
und Geschichte. Die unmittelbare Wahrnehmung ist eine geschichtsvergessene Wahrnehmung; Kultur, Sprache und Konventionen existieren nur in der Erinnerung. Aber anders als im Buddhismus, in dem der Moment des voraussetzungslosen Schauens die konventionelle Wahrheit nicht leugnet, sondern als Teil der ultimativen betrachtet, ohne dass die Vorstellung existiert, man könne die in diesem Zustand möglichen Erfahrungen in einer neuen Ordnung fassen, ist die moderne Wildniserzählung einfach nur eine andere Geschichte, eine Geschichte, die die USA aus ihren historischen Bindungen zu Europa entlässt, und eine Geschichte, die die abrahamitischen Werte säkularisiert, in dem „Wildnis“ den Platz Gottes einnimmt: Thus it is that wilderness serves as the unexamined foundation on which so many of the quasi-religious values of modern environmentalism rest. The critique of modernity that is one of environmentalism’s most important contributions to the moral and political discourse of our time more often than not appeals, explicitly or implicitly, to wilderness as the standard against which to measure the failings of our human world. Wilderness is the natural, unfallen antithesis of an unnatural civilization that has lost its soul. It is a place of freedom in which we can recover the true selves we have lost to the corrupting influences of our artificial lives. Most of all, it is the ultimate landscape of authenticity. Combining the sacred grandeur of the sublime with the primitive simpli-
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city of the frontier, it is the place where we can see the world as it really is, and so know ourselves as we really are – or ought to be.489
Wenn von Wildnis als Kathedrale Gottes gesprochen wurde, dann war damit auch nicht irgendein von Menschen unbewohnter Ort gemeint, sondern die erhabene Wildnis, das Spektakel des Yosemite Valley. Die Idee der Wildnis wurde mit den tiefsten Werten aufgeladen, die eine säkulare Kultur zur Verfügung hat, sie wurde zu einem säkularen Ersatz für das Heilige, wie man am Gedicht The Simplon Pass von William Wordsworth (1980) gut erkennen kann: The immeasurable height Of woods decaying, never to be decayed, The stationary blasts of waterfalls, And in the narrow rent at every turn Winds thwarting winds, bewildered and forlorn, The torrents shooting from the clear blue sky, The rocks that muttered close upon our ears, Black drizzling crags that spake by the way-side As if a voice were in them, the sick sight And giddy prospect of the raving stream, The unfettered clouds and region of the Heavens, Tumult and peace, the darkness and the light Were all like workings of one mind, the features Of the same face, blossoms upon one tree; Characters of the great Apocalypse, The types and symbols of Eternity, Of first, and last, and midst, and without end.490
Aber mehr als das lieferten Poeten wie Wordsworth mit ihren Gedichten eine Schule des Sehens, sie erlaubten es anderen Menschen, bisher als nutzlos, abweisend und bedrohlich wahrgenommene Berge als Orte tiefer transzendenter Erfahrung zu sehen. Dabei fällt von Beginn an auf, dass auch hier hauptsächlich Mitglieder der privilegierten Klassen in diese Schule des Sehens gingen. Es waren englische Aristokratenkinder, die Wordsworth in die Alpen folgten, und es sind bis heute tendenziell Mitglieder der gut ausgebildeten und ökonomisch wohlhabenden Gesellschaftsgruppen, die eine Erfahrung der Wildnis suchen. Und es ist ja richtig, dass erhabene Landschaften tiefe Empfindungen wecken, die die Qualität religiöser Offenbarungen haben können. Die Romantiker waren 298 |
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etwas auf der Spur, das real ist und das in einer säkularen Kultur Raum für das Spirituelle lässt. Es stellt sich aber die berechtigte Frage, ob die daraus entstandene massentouristische Erschließung der einzige und überhaupt der richtige Weg ist, das Bedürfnis nach „erhabenen Erfahrungen“ zu stillen. In dem Maße, in dem z.B. Nationalparks von einem immer größeren Ansturm von Touristen „zu Tode geliebt“ werden, kommt es auch zu einer Zähmung des Erhabenen. „Wilde“ Landschaften werden selbst zu Gärten, in denen eine Illusion kultiviert wird. Der transformative Schrecken Edmund Burkes findet nicht mehr statt. Landschaften wie der Grand Canyon in den USA oder Orte wie der Predigerstuhl in Norwegen erlauben zweifellos Erfahrungen, denen eine besondere Bedeutung beigemessen wird, aber vielleicht gibt es noch viel mehr solcher Orte: Wenn der erhabene Berggipfel eine kulturelle Konstruktion ist, eine Betrachtungsweise, dann ist die Erfahrung möglicherweise weniger an den Ort, sondern vielmehr an die Betrachtungsweise selbst geknüpft. Es ist vielleicht wie im Museum: Der Rahmen um ein Objekt erzeugt eine gewisse Erwartung, die dann zu einer Erfahrung werden kann, nicht das Objekt selbst ist dafür verantwortlich. Damit wird aber das Erhabene der Natur durch Domestizierung sowohl zum Spektakel als auch zum Pittoresken. Andrews (1989) sieht anknüpfend an die Analysen Adornos (1970) im Pittoresken eine Kommodifizierung von Landschaft: He values the kind of scenery which has been aesthetically validated in paintings, postcards and advertisements; he appraises it with the words „picturesque;“ and then he takes a photograph of it to confirm its pictorial value. In participating in such a process, we turn the places we visit into commodities implicitly or explicitly encouraging others to follow our footsteps there, and thus to make them ever less pristine, less natural and uncontaminated by the science and relics of mass humanity.491
Letztlich handelt es sich beim Pittoresken um eine Radikalisierung der Idee der Kultur, die in Form der Kunst „Natur“ nicht mehr nachahmt, sondern umgekehrt diese dem Paradigma der Kunst unterwirft: „Although my argument has been advanced by way of caricature, the point is deadly serious. The picturesque was among the first artistic movements in history to throw out the classical premise that art should imitate nature and to propose instead that nature should imitate art.“492 Bate (2000, S. 144 f.) radikalisiert diesen Gedanken, indem er eine intellektuelle Linie von Wordsworth zu Adorno spannt. Für beide verstecke sich hinter dem Geschmack für das Pittoreske eine reaktionäre Gesinnung; Schönheit könne Wildnis: Zur Entstehung und Problematik eines Begriffs
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nur historisch gedacht werden. In Wordsworths Gedicht Tintern Abbey werde gerade dies thematisiert, indem die namensgebende Abtei abwesend sei, wie der vollständige Titel zeige: Lines Composed a Few Miles above Tintern Abbey, On Revisiting the Banks of the Wye during a Tour. July 13, 1798. Wordsworth schreibt von regionalen, nicht nationalen oder historischen Geschehnissen und stellt das Gedicht somit außerhalb der Geschichte. Hier kommen unterschiedliche Linien dieses Buchs zusammen. Wir hatten in Kap. 7 gesehen, dass in seiner Auseinandersetzung mit dem Erhabenen der Französischen Revolution und dem Schönen der great society Burke sich für das Konservative, das Schöne, das Pittoreske entscheidet. Wordsworth ist mit seinem Verfahren, wie wir gesehen haben, aber auch ein Vorläufer Newmans, für den das Erhabene seiner Kunst genau darin bestand, dass sie sich auf nichts bezieht außer auf sich selbst. Sie tritt damit aus der Geschichte, und dieser emanzipatorische Akt ist für Newman eben auch einer der Vereinigten Staaten von Amerika in ihrem Verhältnis zu ihren europäischen Wurzeln. Das Erhabene als Außerkraftsetzung von Ordnung und das Schöne als seine Anerkennung: Politik, Kunst und „Natur“ lassen sich nicht trennen, sie kommen an dieser Stelle zusammen. In der zur Idee des Erhabenen komplementären Idee der Grenze findet sich aber gleichwohl ein nationalpatriotisches Element, welches eine interessante dynamische Dialektik zwischen Ordnung und Chaos bzw. Geschichte und Emanzipation aufscheinen lässt: Bis weit ins 19. Jahrhundert gab es die frontier als realen und mythischen Ort im Bewusstsein der USA. Als mythischer Ort hat er bis heute überlebt und durch ihre kulturelle Hegemonie in den vergangenen 70 Jahren weltweit das Denken beeinflusst, auch weil er so gut mit dem Begriff des Fortschritts als Grenzverschiebung gekoppelt werden kann. Die Idee der frontier ist aber eine zutiefst widersprüchliche. Zum einen findet sich darin die alte Idee, die Zivilisation ausdehnen zu wollen: Wildnis ist etwas, das es zu überwinden gilt, und die frontiermen sind die Helden, die dieses Projekt nach vorne treiben und die dabei edle, „männliche“ Charaktereigenschaften entwickeln. Gleichzeitig dazu existiert aber die Vorstellung eines Naturzustands, der ein besseres, authentisches Leben als das in der Zivilisation erlaubt. Auf der einen Seite galt es, den Kontinent zu kultivieren, und auf der anderen Seite war damit eine Trauer über den unwiederbringlichen Verlust einer älteren, „wahreren“, „einfacheren“ Welt verbunden. Diese Vorstellung ist besonders absurd oder herabsetzend, wenn man bedenkt, dass diese anscheinend wilden Landschaften Kulturland der indigenen Völker waren. Ein Teil der heutigen Probleme mit z.B. Feuern in Kalifornien geht darauf zurück, dass die europäischen Siedler nicht verstanden, dass Wälder durch regelmäßige kontrollierte Feuer gepflegt werden müssen, da sie das 300 |
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Unterholz beseitigen und so schwerwiegende Brände verhindern. Die Wälder des Ostens und Westens waren keine Wildnis, sondern eher mit Parklandschaften zu vergleichen, die ein nachhaltiges Leben der dort ansässigen indigenen Völker ermöglichten. Der Verlust an Wissen, der mit der europäischen Besiedlung einherging, der Verlust eines sense of place, ist daher für die heutigen verheerenden Brände mitverantwortlich.493 Wir werden hier bei der Diskussion des Konzepts eines ökologischen Selbst in den Arbeiten Næss’ wieder anknüpfen. Neben Vertreibung und Genozid an diesen Völkern birgt die Sprache von Wildnis und Zivilisation eine weitere, ganz eigene Qualität der Unmoral: Diese Geschichte ergibt überhaupt nur Sinn, wenn man den indigenen Menschen entweder ihr Menschsein abspricht und sie damit definitionsgemäß zum Teil der nichtmenschlichen Wildnis macht, zum Wilden. Oder wenn man willentlich in Kauf nimmt, dass diese dort keinen Platz haben, so dass man über einen künstlich menschenfrei gemachten Ort spricht, den es über Jahrtausende zuvor niemals gab. Wir kommen hier zu einer generellen Problematik, die nicht weiter vertieft werden soll, aber gleichwohl angesprochen werden muss. Wie wir gesehen haben, spielte das Erhabene immer auch in der Politik, und dort insbesondere im Zusammenhang mit Revolution und Totalitarismus eine Rolle. Genauso spielt der Naturbegriff eine unrühmliche Rolle in der Politik. Bate (2000) weist auf die Geschichte der Gefahr einer Vereinnahmung hin: […] Anna Bramwell has demonstrated that the connections between deep ecology and fascism have been anything but accidental. At the center of Luke Ferry’s assault on the new ecological order is an alarming chapter called ‚Nazi Ecology‘, which proposes that Hitler was the greenest political leader of the modern era. One might invoke Gandhi in immediate response to this claim, but what cannot be gainsaid is that disturbing connections between ecologism and extreme right-wing politics may be traced well back into the 19th century: to Social Darwinism, to Ernst Haeckel (the originator of the word ‚ecology‘), to the co-presence in the later work of John Ruskin of a prescient ecological awareness and an atavistic neo-feudalism.494
Eine solche Vereinnahmung liegt aber nicht in der „Natur der Sache“. Ein sense of place ist nicht gleichzusetzten mit völkischen Ideen von „Blut und Boden“, und die Idee der Lokalität und Zugehörigkeit zu einem Ort als Ausgangspunkt für tiefes Wissen und Verantwortung muss unbedingt zurückgeholt und als imaginatives und nicht politisches Projekt neu beansprucht werden. Hierzu nochmals Bate (2000), der die potenziell inspirierende Rolle der Poesie bei diesem Projekt betont: „Poets who find their home in a specific environment have an imaginaWildnis: Zur Entstehung und Problematik eines Begriffs
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tive, not proprietorial, interest in belonging. The equal poetic vision is inclusive, not exclusionary.“495 Gerade eine Schließung entlang beliebiger Grenzen wirkt dem Projekt der Sinngebung durch ein Einlassen auf die Umstände von Ort und Zeit entgegen. Aber vielleicht war die US-amerikanische Spielart der Vermischung von Imagination und Politik einfach nur Unachtsamkeit? Auch noch im heutigen Westen der USA leben außer in den Küstenagglomerationen relativ wenige Menschen, und das ungeübte Auge findet auch keine Spuren von ihnen. Wichtig dabei ist der Begriff des ungeübten Auges. Landschaft ist auch dort weitgehend Kulturlandschaft mit unterschiedlich intensiver Nutzung und mit unterschiedlichen Spuren, die Menschen hinterlassen haben. Die Idee der Wildnis kann daher gerade mit einem Mangel an Sensibilität im Umgang mit dem Ort zusammenhängen. Auch hier waren es wieder die kulturellen Eliten der Ostküste wie Roosevelt, die diese Erzählung der frontier zum Teil des kulturellen Selbstverständnisses machten. Es handelt sich daher um eine bürgerliche Form der Gegenwartskritik, erzählt in Form von Heldenmythen: Die Profiteure der industriellen Moderne waren zugleich diejenigen, die den Konsequenzen dieser glaubten entfliehen zu müssen, aber nicht als Ausstieg, sondern als Erholung. Damit wurde Wildnis nochmals mehr zu einem Konsumgut. Was dabei aber neben vielem anderen verloren geht, ist ein sense of place, eine Ortskenntnis in einem umfassenden Sinn des Begriffs. Die Grenze zwischen dem Wilden und dem Zivilisierten als Urlaubsort zu verstehen, bedeutet, dass man sich mit den Besonderheiten der Landschaft, mit den Bedingungen, ihr ein Leben abzuringen, nicht auseinandersetzen muss. Sie wird zur Kulisse, und je weniger man über sie weiß, desto einfacher ist es, sie mit den eigenen Sehnsüchten aufzuladen. Menschen, die in der „Wildnis“ nicht Urlaub machen, sondern dort leben, sprechen von diesem Ort selten in Begriffen des Erhabenen, obwohl gerade indigene Völker oftmals Natur nichtdualistisch und animistisch denken, siehe Kap. 13. Die Erzählung der erhabenen Wildnis, die zu einem Sehnsuchtsort eines vollen, nichtentfremdeten Lebens wird, stammt von Menschen, die dort fremd sind, die den Baum nicht kennen, aus dem ihr Tisch getischlert wurde, und nicht den Baum, an dem der Apfel auf ihrem Tisch wuchs. Und nur so ist die zentrale Paradoxie dieser Erzählung überhaupt erklärbar: Wenn die Wildnis ein Ort ohne den Menschen ist, dann zerstört er sie durch seine Anwesenheit immer schon, dann hat er keine Möglichkeiten, von den „magischen Kräften“ zu profitieren, die einem Leben in der Natur zugeschrieben werden. Wildnis und Natur bleiben notwendig Sehnsuchtsorte, die dualistische Trennung zwischen Menschen und Natur verfestigt sich. Und wenn die Wildnis der eigentliche Ort ist, an dem 302 |
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unsere Bestimmung liegt, hält dies uns davon ab, Verantwortung für das urbane Leben zu übernehmen, welches wir führen.496 Die Idee der erhabenen Wildnis verschlimmert das Problem weiter: Nun wird der Ort des wahren Menschseins zu einem knappen Gut. Es sind Orte wie der Nationalpark Sarek in Schweden oder Laugaveluar auf Island, jedenfalls nicht der Ort, an dem man lebt. Und es ist ja richtig: der tiefen Wirkung und transformativen Kraft solcher Orte können sich wenige Menschen, die sich auf den Weg dorthin machen, entziehen. Aber der entscheidende Punkt ist: Solche Menschen tun dies mit einer bestimmten Erwartung, die diese Erfahrungen erst ermöglicht. Für die dort ansässigen Rancher war der Bryce Canyon in Utah nichts weiter als „a hell of a place to loose a cow.“497 Bate (2000) beschreibt dieses Phänomen wie folgt: „If you are a peasant or a sailor, your relationship with nature will be bound up with self-preservation; if you live in the luxury of technological modernity, your relationship with nature will be aesthetic.“498 Wenn sich die Wirkung eines Orts aber immer auch aus der Haltung des Betrachters ergibt, dann können diese speziellen Orte Lehrstätten der eigenen Betrachtungsweise sein. Selbst ein Tautropfen übersteigt die Fassungskraft, wenn man sich ihm widmet. Allein die Gewöhnung des Alltags lässt darüber hinweggehen. Eine Öffnung der Perspektive in Richtung eines Erhabenen des Alltags, eines everyday sublime kann daher mehrere positive Effekte haben. Sie erlaubt es, Erfahrungen wie Ehrfurcht und Zugehörigkeit im Alltag wahrzunehmen, sie lässt einen Bezug zum Ort, einen sense of place entstehen, indem sie Aufmerksamkeit auf das tatsächliche Leben an dem Ort lenkt, an dem man lebt, und sie hilft dabei, erhabene Natur nicht als Spektakel zu sehen, bei dem man Ursache und Wirkung verwechselt. Auf einer abstrakteren Ebene kann eine Kultivierung der Aufmerksamkeit auf den Alltag dazu beitragen, die Dualismen im Kern unserer Vorstellung zu lockern und durch prozesshafte Vorstellungen einer Rolle als Teil von Natur zu ersetzen. Von hier ist der Weg nicht weit zu Vorstellungen ökologischer sowie ökonomischer Regionalität, wie sie z.B. von E. F. Schumacher (1973) vorgedacht wurden und die im globalen Kapitalismus zunehmend keinen Platz mehr finden konnten. Sale formuliert den Zusammenhang prägnant: To come to know the earth, fully and honestly, the crucial and perhaps only and allencompassing task is to understand the place, the immediate, specific place, where we live. In the question of how we treat the land, our entire way of life is involved. We must somehow live as close to it as possible, be in touch with its particular soils, its waters, its winds; we must learn its ways, its capacities, its limits; we must make its rhythms our patterns, its laws our guide, its fruit our bounty.499 Wildnis: Zur Entstehung und Problematik eines Begriffs
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Dies sollte aber nicht zu einer Gleichmacherei und Gleichwertigkeit allen Handelns führen. Das everyday sublime sensibilisiert für die Eigenwertigkeit des Nichtmenschlichen in der Natur, es lehrt, dass Bescheidenheit und Respekt ihr gegenüber nicht eine Form der Dummheit und der nicht genutzten ökonomischen Potenziale sind, sondern Möglichkeiten der Zugehörigkeit und Freiheit. Freiheit als Verzicht auf etwas, das man tun könnte, weil man es für richtig erachtet, es nicht zu tun. Hier schließt sich der Bogen zu Kant. Das romantische Erhabene nimmt hierauf keinen direkten Bezug, und gleichzeitig öffnet es den Weg, mit dem Abstand der Zeit das Potenzial der eigentlichen Einsicht dieses Begriffs zu sehen: Wildheit ist eine Haltung den Dingen gegenüber. Ein solches Staunen erlaubt es, den Ort, an dem man das Leben verbringt, zu seinem Zuhause zu machen und ihn tief zu verstehen.
Anwendungsfall: Bioregionalismus Viele der hier entwickelten Gedanken finden sich auch im Bioregionalismus.500 Die Literatur startet von der Beobachtung, dass die urbane Lebensform zu einer sowohl physischen, emotionalen als auch kognitiven Abkopplung von nichtstädtischen natürlichen Prozessen führe. Dies habe negative Folgen sowohl für den Umgang mit der Umwelt als auch für das eigene Wohlergehen. Dies liege an einem Mangel an Umweltwissen und Verständnis für die lebenserhaltenden Prozesse der Erde aufgrund der städtebaulichen Strukturen und allgemeinen Lebensformen,501 da Verhalten und Verantwortung immer auf persönlicher Kenntnis basiere. Hieraus folgen Verhaltensweisen, die nicht nachhaltig sind.502 Bioregionalismus spricht sich dabei nicht generell gegen urbane Lebensformen aus, fordert aber, diese so zu verändern, dass die dort lebenden Menschen wieder stärker in Kontakt mit anderen Lebensformen und Mitmenschen kommen, indem städtebaulich andere, nachhaltige Konzepte verfolgt und die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger gefördert wird, um damit Umweltbewusstsein und Gemeinschaftsidentität zu schaffen. Dies wiederum könne zu einer allgemeinen Umweltethik beitragen, bei der die Menschen die lokale Ökologie verstehen und sich so verhielten, dass sie nicht zur Umweltzerstörung beitragen. Hieraus entstehe ein an den Besonderheiten des Orts ausgerichtetes dezentrales Modell der Stadtentwicklung. Dazu gehöre Wissen über die Kultur, die Menschen, die Umwelt und das nicht-menschliche Leben in der Region.503 Und es gehöre dazu Wissen über die Herkunft und Herstellung der grundlegenden Ressourcen und Lebensmittel.504
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Die Idee, dass Verantwortung und Zugehörigkeit mit einem sense of place zu tun haben, führt auch zu einer konsequenten Orientierung an der Idee der politischen Dezentralisierung.505 Verantwortung wird dabei ganzheitlich gedacht und hat soziale, politische, wirtschaftliche, ökologische, räumliche und spirituelle Aspekte. Zentral sei, dass durch die Förderung aktiver Beteiligung ein sense of place geschaffen werde, der Wissen mit Verantwortung verbinde.506 Dabei handelt es sich aber nicht nur um das Wirken instrumenteller Vernunft, die versteht, dass es zu Nachhaltigkeit keine Alternative gibt. Es wird davon ausgegangen, dass ein sense of place ein Bewusstsein für die Natur und natürliche Prozesse schaffe, was schließlich zu einer tiefen Verbundenheit und Liebe zur Natur führte.507
Nun kann man die Frage stellen, wo beim everyday sublime noch der Schrecken bleibt, der bei Burke essentiell ist. Unsere Erörterungen des Erhabenen sollten gezeigt haben, dass in seinem Zentrum eine Überwindung alter Ordnungs- und Wahrnehmungsweisen und daher eine Unvertrautheit steht. Dies verunsichert und fasziniert zugleich. Die Fokussierung der frühen Debatten über das Erhabene auf Ereignisse von großer emotionaler Kraft ist ein Weckruf, sich diesen Erfahrungen zu öffnen und sie im Alltag zu finden. Die emotionale Intensität der Verunsicherung ist dann zweitrangig, aber aus der Ambivalenz der Erfahrung speist sich die Ehrfurcht und Bedeutung. Daher ist das everyday sublime eine Quelle des Erhabenen genau dann, wenn man sich für diese Erfahrung öffnet. Dazu erforderlich ist aber auch eine bewusste Weiterentwicklung der Sprache, in der wir uns als Teil der Natur wahrnehmen. Wie kann dies gelingen?
12.4 Das Zivilisierte und das Wilde Snyder spricht von einer Dualität zwischen Zivilisation und Wildheit. Wildheit hat zu tun mit „a diversity of living and nonliving beings flourishing according to their own sorts of order.“508 Diese Ordnung widersetzt sich einer Beherrschung durch Zivilisation. Daher sind, um ein Beispiel Snyders zu nennen, New York City und Tokio natürlich, aber nicht wild. Sie weichen nicht von den Naturgesetzen ab, aber sie sind als Lebensräume so restriktiv, dass sie nicht als wild bezeichnet werden können. An dieser Stelle eröffnet sich für Snyder die Frage im Zentrum des Erhabenen: „Where do we start to resolve the dichotomy of the civilized and the wild?“509 Daher gilt es, den Begriff „wild“ und unser Verhältnis zu ihm zu klären. Monbiot (2014) schlägt dabei in seiner Auseinandersetzung mit der Idee des Rewilding (der deutsche Begriff Renaturierung kann wegen seines Bezugs zu Das Zivilisierte und das Wilde
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Natur hier nicht verwendet werden), des bewussten Rückzugs von menschlicher Kontrolle über „Natur“, die folgende Definition vor: „Rewilding, to me, is resisting the urge to control nature and allowing it to find its own way.“510 Es ist daher die Nutzung der menschlichen Freiheit zum Verzicht auf das Machbare, ohne dabei zu vergessen, dass der Mensch auch Natur ist: The rewilding I envisage has nothing to do with shedding civilization. We can, I believe, enjoy the benefits of advanced technology while also enjoying, if we choose, a life richer in adventure and surprise. Rewilding is not about abandoning civilization but about enhancing it. It is to ‚love not man the less, but Nature more‘.511
In einer direkten Lesart muss es auch um eine Kalibrierung von Raum vor dem Hintergrund der Gewichtung unterschiedlicher Interessen gehen. Wie das Beispiel der Waldbrände zeigt, kann ein unkontrolliertes Rewilding zu Katastrophen für Menschen führen, die in einer Interessenabwägung als inakzeptabel erscheinen. Es gibt eben keine Dichotomie zwischen Kulturland und Wildnis, sondern nur graduelle Verschiebungen in der Intensität menschlicher Interventionen sowie Verschiebungen in der Wahrnehmung dessen, was „Natur“ ist. Neben diese anthropozentrischen Überlegungen treten aber weitere ethische Aspekte hinsichtlich der Frage, welche Rechte in diesen Interaktionsprozessen nichtmenschlichem Leben, Ökosystemen oder sogar der nichtanimierten Welt eingeräumt werden sollten, siehe Kap. 13.
Anwendungsfall: T. C. Boyle, When the Killing’s Done (2011) Boyles Roman spielt in dem Ort Ventura und dem Nationalpark Channel Islands in Südkalifornien. Es ist die Geschichte einer Auseinandersetzung zwischen der Nationalparkverwaltung und Umweltaktivisten über die Frage, inwieweit der Mensch bei der Gestaltung von „Natur“ in diese eingreifen sollte. Die Channel Islands waren ursprünglich von indigenen Völkern bewohnt und dienten dann für längere Zeit als Weideland für Rancher, bis diese irgendwann aufgaben. Auch das Militär nutzte die Inseln. Seit 1980 haben fünf der Inseln Nationalparkstatus. Dort leben mehr als 2000 unterschiedliche Pflanzen- und Tierarten, viele von ihnen nur dort. Mit der Insellage und dem Nationalparkstatus stellte sich bald die Frage, welchen Zustand man auf diesen Inseln erreichen wollte. Es wurde versucht, sogenannte invasive Arten wie Ratten und Wildschweine sowie bestimmte Pflanzenarten
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auszurotten, um ein „ursprüngliches“ ökologisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Dagegen verwehrten sich Aktivistinnen und Aktivisten, die die Gleichwertigkeit allen Lebens reklamierten und die Idee eines „natürlichen“ Zustands in Frage stellten. Hierum dreht sich der auf dieser wahren Geschichte basierende Roman. Die zentrale Frage stellt einer der Umweltaktivisten an eine Mitarbeiterin der Nationalparkverwaltung: „Those rats have been there for a hundred and fifty years!... What’s your baseline? A hundred years ago? A thousand? Ten thousand? […] And who exactly was it appointed you god, lady?“512 Ökosysteme haben sich ständig verändert und werden sich weiter verändern. Hier wird klar, dass jede Vorstellung einer „unberührten“, „richtigen“, „natürlichen“ Natur auf einem Werturteil basiert und damit Teil von „Kultur“ ist. Dies stellt nicht nur die Begriffe „Natur“, „Wildnis“ und „Kultur“ in Frage, sondern führt zu komplizierten ethischen Fragen, die Rick (2012) wie folgt zusammenfasst: What is natural or pristine? Are humans part of or separate from nature? Given deep time (centuries, millennia, or more) interactions between people and the environment around the world, how do we best manage earth’s ecosystems for the future? Should the goal be to erase people from the system and harken back to pre-human environments, such as the Pleistocene in the Americas and Australia, but as early as the Miocene in Africa? Is there middle ground, where people are not divorced from the ecosystems they inhabited for centuries, millennia, or more and modern management efforts account for different temporal ecological baselines? What about animal rights concerns and the eradication of invasive species?513 Allein die Liste der Fragen zeigt, dass es keine einfachen Antworten gibt und Zielkonflikte existieren: Selbst wenn man sich darauf einigen könnte, dass der Zustand z.B. vor der Besiedlung der nachkolonialen Zeit der „richtige“ ist, rechtfertigt dies die Tötung von Tausenden von Tieren, die nun einmal dort leben? Die Inseln als Quelle spiritueller Erfahrungen scheinen zumindest im Roman von all diesen Entscheidungen allerdings weitgehend verschont zu sein, Ratten hin, Wildschweine her: „Sometimes, when she’s out here alone, she can feel the pulse of something bigger, as if all things animate were beating in unison, a glory and a connection that sweeps her out of herself, out of her consciousness, so that nothing has a name, not in Latin, not in English, not in any known language.“514
Psychologisch gedeutet geht es zum anderen um eine Öffnung und Integration zwischen dem geordneten und dem sich dieser Ordnung entziehenden Bereich des Erlebens. Wenn das Wilde immer auch eine Form der Wahrnehmung ist, Das Zivilisierte und das Wilde
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dann geht es um das Zulassen der nichtreduzierbaren Wildheit in einem selbst, um die Aufgabe von Kontrolle. Dies erlaubt es auch, die zweite Dichotomie von Körper und Geist zu überwinden und damit beides, Mensch und Geist als einem „In-Natur-Sein“ fundamental zu integrieren. Die nicht reduzierbare Wildheit hat eine doppelte Qualität. Sie ist etwas, das sich der menschlichen Ordnungsvorstellung und sprachlichen Erfassung entzieht, und sie ist eine geistige Sensitivität im Erspüren ihrer Gegenwart. Wildheit im zweiten Sinn ist eine Eigenschaft der Betrachtenden: „What constitutes the wild […] is this very play between appearance and disappearance, the slipping in and out of the limits of presence […]. Untamed and not named, the wild […] escape[s] the frames of our knowledge.”515 Diese Unaussprechlichkeit einer Beschreibung von Wildheit führt dazu, dass das Gespür für sie leicht verschüttet wird. Namen und Konzepte sind bereits Zähmungen: „Nature description is a kind of writing that comes with civilization and its habits of collection and classification.“516 Daher ist Wissen über Wildheit ein implizites, nichtsprachliches, verkörpertes Wissen, welches nur durch unmittelbare Erfahrung gewonnen werden kann. Eine intellektuelle Erkenntnis bedeutet, die Welt z.B. auf die Klassifikationsschemata der Zoologie und die Gesetze der Physik zu beschränken. Dieser Welt fehlt aber die Erfahrung, die Gerüche und Geschmäcker, das Unbestimmte und sich Entziehende. Anwendungsfall: Howard Nemerov, Learning the Trees (1977) Mit dem Gesagten könnte man den Eindruck bekommen, nur eine Wahrnehmung ohne Konstruktion sei „richtige“ Wahrnehmung. Dies wäre aber völlig unplausibel. Auch Konventionen sind Teil der Wirklichkeit und nicht etwas, was dieser „von außen“ gegenübergesetzt wird. Vielmehr geht es um ein spielerisches Bewusstsein des Verhältnisses von Konstruktion und dem, worauf sich diese bezieht. Sprache kann wie Scheuklappen wirken und den Großteil der Wirklichkeit unsichtbar machen. Hier tritt der pragmatische Charakter von Sprache in den Vordergrund: Die Ordnung, die sie herstellt, dient Zielen wie Verständigung, Orientierung, Bedürfnisbefriedigung usw. Ein endlicher Geist muss vereinfachen, um diese Ziele erreichen zu können. Diese Tendenz zur Vereinfachung gilt aber immer, auch in einem Zustand reiner Wahrnehmung. Damit kann Sprache Wahrnehmung auch bereichern, Begriffe auf mögliche Unterscheidungen erst hinweisen und damit die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt lenken und so Erfahrungen erst ermöglichen. Feldman Barrett (2017) konnte beispielsweise zeigen, dass erst der Name für ein Gefühl es möglich macht, einen bestimmten affektiven Zustand zu erleben. Sprache und
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Wirklichkeit stehen sich nicht gegenüber, sondern sind wie alles andere auch miteinander verwoben. Sprache ist Teil der Wirklichkeit, und sie kann beides, dem Denken und Fühlen Grenzen setzen und es befreien. Wir kommen darauf in Kap. 14 zurück. Nemerov geht hierauf in seinem Gedicht Learning the Trees (1977) ein. Before you can learn the trees, you have to learn The language of the trees. That’s done indoors, Out of a book, which now you think of it Is one of the transformations of a tree. Diese starke Aussage zu Beginn, man müsse zunächst die Sprache lernen, die zur Beschreibung der Bäume entwickelt wurde, und zwar im Haus, nicht bei den Bäumen, provoziert aus Sicht der Vorstellung, Sprache sei eine Zwangsjacke: Finde ich dann nicht, wenn ich den Baum zum ersten Mal sehe, nur das, was mir die Sprache vorgibt? Muss ich dann nicht erst wieder die Sprache transzendieren, um den Baum (oder den Baum wiederum integriert in seine „Umwelt“) so sehen zu können, wie er wirklich ist? Nemerov sieht aber in den Bezeichnungen, die wir dem Baum geben, selbst schon eine Quelle der neugierigen Freude. Und er thematisiert auch die notwendigen Vereinfachungen der Sprache, die dem einzelnen Blatt niemals gerecht werden können: Das durchschnittliche Blatt existiert nur als Abstraktion. Vielmehr führt für Nemerov das durch Sprache geschulte Wahrnehmen auch zu einem Verstehen der Rolle von Sprache: Little by little, you do start to learn; And learn as well, maybe, what language does And how it does it, cutting across the world Not always at the joints, competing with Experience while cooperating with Experience […]. Sprache ist hier nicht der Welt entgegengesetzt, kein anscheinendes Abbild, sondern Teil von ihr. Wirklichkeit verstehen heißt dann auch, Sprache in und als Wirklichkeit zu verstehen. Mit dem Bewusstsein dieses Umstandes kann sich eine Art Tanz zwischen sprachlicher und nichtsprachlicher Wahrnehmung entfalten, der ästhetisch, ethisch und intellektuell bereichert.
12.5 Die Grenzen der Sprache: ein Blick von außen Da wir im Rahmen unserer Konditionierungen, Narrative und Konventionen der Wildheit begegnen, findet sich das Erhabene notwendig auf der Grenze zwischen Die Grenzen der Sprache: ein Blick von außen
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Zivilisation und Wildheit. Die Grenze wird zum zentralen Ort der erhabenen Erfahrung des Wilden: „A frontier is a burning edge, a frazzle, a strange market zone between two utterly different worlds.“517 Eine Grenze ist damit auch immer ein Ort der Transzendenz: „The state of mind that today most defines wilderness is wonder […]. The striking power of the wild is that wonder in the face of it requires no act of will, but forces itself upon us.“518 Die Grenze zur Wildheit liegt damit innerhalb des eigenen Körpers und Geists. Man kann Wildheit erfahren, indem man eine bestimmte Form des offenen Bewusstseins, der Rezeptivität entwickelt. Dann sieht man sie überall. Wildheit und das Wilde findet man daher nicht, indem man sie „in der Außenwelt“ sucht, sondern indem man sich für das zu interessieren beginnt, was da ist. Hiermit lässt sich auch das Gefühl des Abgetrenntseins überwinden, welches eine dichotome Wahrnehmung von „Mensch“ und „Natur“ mit sich bringt: „People from the high civilizations in particular have elaborate notions of separateness and difference and dozens of ways to declare themselves ‚out of nature,‘ […]. We are ignorant of our own nature and confused about what it means to be a human being.“519 Für Thoreau wird die fehlgeschlagene Besteigung des Mount Katahdin zur Erfahrung des Erhabenen. Er beschreibt einen solchen existenziellen Moment, in dem alle Erklärungen und Erfahrungen wegfallen und er sich einem unerklärlichen Sosein gegenübersieht, das er als nicht verstehbar und unaussprechbar beschreibt: This was that Earth of which we have heard, made out of Chaos and Old Night. Here was no man’s garden, but the unhandseled globe. It was not lawn, nor pasture, nor mead, nor woodland, nor lea, nor arable, nor wasteland […]. Man was not to be associated with it. It was Matter, vast, terrific […] rocks, trees, wind on our cheeks! the solid earth! the actual world! the common sense! Contact! Contact!520
Kein Garten als Teil der symbolischen Ordnung, als Teil der eingebildeten Furchtlosigkeit. Dafür Kontakt: Es ist eine Erfahrung der Verbindung mit einer dem Menschen gegenüber nur im dualistischen Denken indifferenten Natur, die in all ihren Äußerungen lebendig und eins mit dem Bewusstsein ist. Thoreaus Erfahrung von „Kontakt“ resultiert daraus, dass die Erwartungen wegfallen. Der Krisenmoment des Scheiterns seiner Bergbesteigung angesichts einer übermächtigen Natur schafft einen Raum ohne Ziel, ohne Plan, ohne Ordnung. Hieraus entsteht die Freiheit, sich dem Moment zu öffnen, dem unerklärlichen Dasein der Dinge. Im Gewahrwerden des Kontakts mit der Welt entsteht die Distanz zum Schrecken, die ihn in bliss verwandelt. Der Begriff Kontakt zeigt auch, was 310 |
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mit Distanz gemeint ist, die Burke und Kant für so zentral gehalten haben. Es ist nicht das Geländer am Abgrund, welches daran hindert zu fallen. Diese Distanz führt höchstens zum Erhabenen als Nervenkitzel, als Spektakel. Distanz bedeutet, wie wir in Kap. 12 gesehen haben, für eine derartige transformative Erfahrung etwas Inneres: die Erkenntnis, dass das metaphorisch gedachte Fallen nicht schlimm ist, weil es keinen Grund gibt aufzuschlagen. Der Moment, in dem Orientierung versagt, schafft einen Spalt, durch den die Erfahrung reiner Unmittelbarkeit sichtbar wird. Die Erfahrung eines von jeglichem Inhalt befreiten Geists, eines Geists, der alle Konventionen des „wer?“ und „wo?“ fallengelassen hat und sich der Wildheit des Alltäglichen öffnet. Und diese Erfahrung ist absolut; sie ist erhaben, transzendiert die Welt der Konventionen, nicht aber die der vollständigen Unmittelbarkeit. Die Erfahrung ist zugleich unvermittelbar, weil Vermittlung wiederum auf die Sprache, auf die Konventionen angewiesen ist, die zurückgelassen werden. Sprachliche Vermittlungen werden leicht Opfer ihrer eigenen Bedingungen. In den abrahamitischen Religionen sind wir Seelen, die in ihrer Essenz fundamental unterschieden sind von den Körpern der materiellen Welt, die sie für eine Weile besuchen, um dann wieder zurück in das Reich Gottes zu kehren. Dieser körperlose Geist ist auch in einer säkularen Kultur meist das Zentrum abstrakten, rationalen Denkens. Damit sind wir aber der Natur, also der materiellen Form der Existenz dualistisch entgegengesetzt, und abstraktes Denken wird körperlicher Erfahrung vorgezogen. Dieses Denken hat bis in die Gegenwart Spuren in der Wissenschaft hinterlassen: der Descart’sche Körper-Geist-Dualismus findet bis heute einen Hallraum im sogenannten Hard Problem of Consciousness (wie kann Materie ein Bewusstsein ihrer eigenen Existenz erlangen?) oder im Homunculus-Problem, dem Problem des Cartesischen Theaters der Neurowissenschaft. Daniel Dennett hat es wie folgt beschrieben: Cartesian materialism is the view that there is a crucial finish line or boundary somewhere in the brain, marking a place where the order of arrival equals the order of ‚presentation‘ in experience because what happens there is what you are conscious of. [...] Many theorists would insist that they have explicitly rejected such an obviously bad idea. But [...] the persuasive imagery of the Cartesian Theater keeps coming back to haunt us – laypeople and scientists alike – even after its ghostly dualism has been denounced and exorcized.521
Die Grenzen der Sprache: ein Blick von außen
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Die moderne Wissenschaft hat damit ein Bewusstsein ihrer eigenen problematischen Denkfundamente erlangt, ohne damit aber diese Fundamente schon überwunden zu haben. Wir werden hierauf nochmals in Kap. 13 zurückkommen. Taylor (2007) argumentiert, dass die spezifischen Konstruktionsbedingungen der westlichen Kultur weitreichende Folgen haben: insbesondere der angesprochene Cartesische Dualismus zwischen Körper und Geist mache Menschen nicht zu einem Teil der Natur, sondern setze ihn dieser entgegen. Daraus folge die Suche nach Vorhersagbarkeit und Kontrolle dieser dann fremden Natur. Dies gilt auch reflexiv für den eigenen Körper, woraus eine Ethik des „Selbst-Besitzes“ resultiere. Naiver Realismus ist der Rückfallmodus der Wahrnehmung: Wir nehmen intuitiv an, dass die Welt genau so ist, wie sie uns erscheint, Konstruktionsbedingungen unserer Sprache hin, Konventionen unserer Kultur her. Die Struktur, die durch gesellschaftliche Konventionen über die Wirklichkeit gezogen wird, bleibt im Alltag transparent. Nur so können wir überleben. Aber dennoch ist diese Struktur nur eine Konvention. Nach Taylor (2007) ist die Wirklichkeitswahrnehmung innerhalb eines solchen Rahmens nicht objektiv, sondern trägt einen schweren Rucksack an Exformation, an Konstruktionen, die wir als selbstverständlich erachten, ohne uns ihres Konstruktionscharakters bewusst zu sein: „[N]ot only is the immanent frame itself not usually, or even mainly a set of beliefs which we entertain about our predicament, however it may have started out; rather [the immanent frame] is the sensed context in which we develop our beliefs.“522 Diese Konstruktionen führen zu Vorstellungen des gelingenden Lebens und zu einem Verständnis des Selbst und des Körper-Geistes, die die moderne säkulare Verfasstheit ausmachen. Solche Konstruktionen, wenn sie kein Bewusstsein ihrer eigenen Konstruiertheit und Konstruktionsbedingungen haben, neigen dazu, sich von innen zu stützen, sie schaffen selbstverstärkende epistemische und ontologische Schließungen, innerhalb derer sie konsistent erscheinen und die ihre Relativität verstecken. Eine der großen Ausnahmen im modernen westlichen Denken ist von Humboldt, von dem ein direkter Weg zu Thoreau, Muir und damit der modernen Umweltbewegung führt. Für ihn stellte sich im Erhabenen der Natur ein Gefühl der Ehrfurcht ein, welches aber nicht zu einem Gefühl der Trennung, sondern der Zugehörigkeit, der Kommunion mit ihr führe. Dieser christlich geprägte Begriff hat bei ihm eine säkulare Bedeutung. Natur ist eine Einheit in Unterschiedlichkeit, eine Harmonie aller Lebensformen und der sie hervorbringenden Elemente, eingeschlossen den Menschen. Diese Harmonie ist aber nicht die domestizierte Sicherheit des Gartens und auch nicht eine verklärte Vorstellung von Friedlich312 |
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keit der „Natur“. Vielmehr sieht er in ihr das Wirken einer Lebenskraft, in der alle Prozesse und Lebensformen ineinanderwirken.523 Bewusstsein ist dieser nicht gegenübergestellt, sondern mit ihr verwoben: External nature may be opposed to the intellectual world, as if the latter were not comprised within the limits of the former, or nature may be opposed to the art when the latter is defined as a manifestation of the intellectual power of man; but these contrasts, which we find reflected in the most cultivated languages, must not lead us to separate the sphere of nature from that of mind […].524
Was die Sicht von Humboldts hier nahelegt, ist eine mittlerweile vertraute These: Der Schrecken im Moment des Erhabenen ist Ausdruck der Konstruktionen der Sprache und des Weltbilds. Im Moment des Erhabenen öffnet sich ein Spalt, durch den das Bewusstsein zu einem Ort gelangt, an dem Vorstellungen wie Körper und Geist, Mensch und Natur, eine Struktur des Abgetrenntseins keine Bedeutung haben; Bewusstsein ist hier eine Offenheit, „bevor“ Sprache das „Selbst“ abspaltet, welches der „Natur“ gegenübersteht. Im Moment der Erhabenen reißt auch für von Humboldt die interpretatorische Folie und erlaubt einen Blick auf Bewusstsein jenseits der Konstruktion. Der Schrecken resultiert aus dem Versagen der alten Wahrnehmungsmuster. Das Durchbrechen dieser Ordnung führt das Bewusstsein aber zu einem Ort jenseits des Schreckens, an einen Ort reiner Wahrnehmung. Bei Muir hört sich das wie folgt an „[Y]ou lose your consciousness of your separate existence: you blend with the landscape and become part and parcel of nature.“525 Dabei stellen für Muir ähnlich wie für von Humboldt wissenschaftliche Erkenntnis und Epiphanie keine Gegensätze dar, sondern sind für ein vollständiges Erleben des Menschseins notwendig ergänzende Zugänge zur Wirklichkeit.
12.6 Daoistische Konzeptionen einer säkularen Spiritualität Die Integration von Geist in Natur ist bei von Humboldt von größter Wichtigkeit, weil sie es möglich macht, ganz im Sinne des Buddhismus Geist als empirisches Phänomen zu sehen und damit Selbstbeobachtung als eine empirische Wissenschaft verfügbar zu machen. Eine ähnliche Transformation vollzog sich um das 6. und 5. Jahrhundert v. u. Z. in China, als Philosophen wie Konfuzius und Lao Tzu innerhalb der Trümmer der Religion der Shang- und Shou-Dynastien ein philosophisches System entwicDaoistische Konzeptionen einer säkularen Spiritualität
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kelten, welches eine spirituelle und zugleich empirische Weltsicht ermöglichte.526 Wir werden versuchen zu ermessen, inwieweit sich in dieser Weltsicht Elemente finden, die auch heute zu einer positiven Wahrnehmungsveränderung beitragen können, die sowohl das individuelle Leben reicher und sinnvoller macht als auch einen Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen ermöglicht, der nachhaltig ist. Auch hierbei geht es nicht um romantisierenden „Orientalismus“, sondern um den ganz pragmatischen Versuch, Lösungen für das drängendste Problem der Menschheit anzudenken, bei denen das menschliche Leben als Prozess des spirituellen, tugendethischen Wachstums gedacht wird, welches sich nicht gegen die, sondern als Natur vollzieht. In dem damals entstehenden System fand sich Geist als Bestandteil einer rein empirischen Welt, die aber gleichwohl als sinnvoll erfahrbar ist: „One aspect of this transformation was the reinvention of heaven as an entirely empirical phenomenon: it became the generative cosmological principle that drives change, thereby secularizing the sacred while at the same time investing the secular with sacred dimensions.“527 Dao, „Weg“, wird von Lao Tzu als empirischer Kosmos beschrieben, als ein lebendes, generatives Gewebe, in dem alles entsteht und vergeht und dem wir als „Körper-Geist“ angehören. Dabei gibt es zwei Weisen, auf Dao zu schauen: in der Form von Tzu-jan, als eine Zusammenstellung von individuellen Formen, den „Zehntausend Dingen“ unserer Alltagswahrnehmung, und in der Form des Dao selbst, als einheitliches Gewebe, aus dem heraus durch und in Wahrnehmung immer wieder neu die Zehntausend Dinge erscheinen und vergehen. Dabei ist Tzu-jan selbst Teil des Dao, denn Wahrnehmung mit seinen Konventionen entsteht auch in diesem Prozess. Diese Vorstellung verband sich ab dem 4. Jahrhundert u. Z. mit dem aus Indien nach China kommenden Buddhismus zum Ch’an- (japanisch Zen-) Buddhismus. Es entwickelten sich insbesondere zwei kulturelle Praxen, die ein Durchbrechen der Alltagswahrnehmung der Zehntausend Dinge vereinfachen sollten, KōanPraxis und Meditation. Bei der Kōan-Praxis werden Schülerinnen und Schüler mit im Alltagsverständnis unlösbaren Rätseln konfrontiert, deren Ziel es ist, die konventionellen Denkstrukturen aufzubrechen, um damit einen unmittelbaren Zugang zu Wahrnehmung zu ermöglichen. Hierbei wird die Ordnung an ihre eigene Grenze gebracht, um diese dann in einem transformativen Akt hin zu einer neuen, freieren Sicht zu übersteigen. Dieser Prozess geht typischerweise mit einer Krisenerfahrung einher; es sind alle Elemente der im westlichen Denken erhaben genannten Erfahrung beieinander. 314 |
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Mit zunehmender meditativer Praxis (siehe Kap. 12) kommt man zu dem Punkt, an dem ein „leerer“ Geist wahrnimmt. In diesem Moment ist Bewusstsein bei seiner fundamentalen Natur angekommen, da ist nur noch Kosmos, der sich seiner selbst gewahr wird.528 Auch hier finden wir wieder zentrale Momente dessen, was mit dem Erhabenen beschrieben wird: die Überwindung des Alltagsverständnisses von Wirklichkeit hin zu einer unmittelbaren Präsenz des Moments. Der Schrecken des Zusammenbruchs der konventionellen Ordnung äußert sich eher in zeitlich ausgedehnter Form von Krisen in der meditativen Praxis, wenn verschiedene Schichten an Konventionen schrittweise abgetragen werden. Man kann spekulieren, dass wir es hier mit kulturellen Praxen zu tun haben, die den Unwägbarkeiten spontaner, transformativer Erfahrungen des Erhabenen eine kulturelle Einbettung geben, die diese deutbar und replizierbar machen. Wobei Deutbarkeit auf dem Weg zur „Leerheit“ natürlich selbst wieder Teil der Zehntausend Dinge ist, die irgendwann abfallen. Diese Deutbarkeit hat aber eine zentrale Wichtigkeit, wenn sich Daoismus und Ch’an-Buddhismus einem Humanismus verpflichtet fühlen: Der Schrecken des „westlichen“ Erhabenen ist Ausdruck eines Modells von Wissen und Vernunft, welches abstraktem Denken einen größtmöglichen Stellenwert gibt. Es ist nur eine Manipulation von Regeln eines Sprachspiels. Das Erhabene tritt auf, wenn dieses Sprachspiel an seine Grenzen kommt. Dabei bleibt kein Raum für experientielles, nichtsprachliches Wissen, sie sind keine legitimen Formen des Wissens. Kommt ein solches Sprachspiel, eine Erscheinungsform der Zehntausend Dinge an seine Grenzen, verfügt es über keine Ressourcen, diese Erfahrungen fassbar oder verstehbar zu machen. Solche Erfahrungen sind daher erschreckend, und dieser Schrecken zieht sich durch die westliche Philosophie, z.B. in Begriffen wie existenzieller Angst oder Nausea (Lebensekel) im Existenzialismus. Ganz anders stellen sich solche Erfahrungen in einer Kultur dar, in der ihnen Platz eingeräumt wird, weil jedes Weltbild nur als eine Erscheinungsform der Zehntausend Dinge gesehen wird und ein Verständnis von Wissen existiert, welches dem Experientiellen, Nichtsprachlichen einen wichtigen Raum lässt. Man verfällt nicht in einen existenziellen Schrecken, sondern sieht sich vielmehr in seiner Zugehörigkeit zu Dao bestärkt. Anwendungsfall: Po Chü-I, das Paradox der Darstellung der Leere und das Vertrauen in das Dao Po Chü-I (772–846 u. Z.) gilt als Dichter, der am intensivsten Ch’an-buddhistische Vorstellungen in seine Dichtung hat einfließen lassen. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Hinton (1999). Wie wir gesehen haben, werden das Selbst Daoistische Konzeptionen einer säkularen Spiritualität
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und seine Konstruktionen der Welt in der Meditation dekonstruiert, bis nur noch ein leerer Geist übrig ist. Man spricht oft davon, dass dieser leere Geist wie ein Spiegel ist, der die Welt der Zehntausend Dinge aufnimmt und in ihrer Einfachheit und Selbstgenügsamkeit unverändert wieder zurückgibt. Ch’an-Poesie kann mit dieser Vorstellung so umgehen, dass sie in ihrer selbstgenügsamen Klarheit das Selbst zu entleeren hilft. Im Idealfall entstehen Selbst-lose Texte, die die Zehntausend Dinge aufscheinen lassen. Wang Wei (772–846 u. Z.) war ein Meister dieser Gedichtform. Hier ist ein berühmtes Beispiel: Deer park No one to see. In empty mountains, hints of drifting voice, no more. Entering deep woods again, late sunlight on green moss, rising.529 Eine andere Art der Umsetzung Ch’an-buddhistischer Vorstellungen ist, auf ein Selbst-loses Selbst zu verweisen. Dabei stößt man aber auf eine Paradoxie: Auch ein zurückgenommenes Gedicht ist immer noch eine Konstruktion, die es beim Selbst-losen Selbst zu überwinden gilt. Der Dichter Po Chü-I ist sich dessen bewusst, und er spielt damit: Idle song After such painstaking study of empty-gate dharma, everything life plans in the mind has dissolved away: there’s nothing left now but that old poetry demon. A little wind or moon, and I’m chanting an idle song.530 Nur der poetry demon verbleibt und verleitet zum Schreiben über die Leere. Dem zugrunde liegt vielleicht die Erkenntnis, dass das „Selbst“ zu den Zehntausend Dingen gehört, die aus dem Dao entspringen und wieder in ihm aufgehen, es ist nur eine momentane Form der ständigen Transformation. Damit eröffnet sich aber die Möglichkeit, dieses Selbst in seinen Variationen im Gedicht als eines der Zehntausend Dinge zur Sprache zu bringen. Po Chü-Is Kunst dreht sich immer wieder um Vertrauen als Voraussetzung des Sich-Einlassen-Könnens. Das von ihm oft verwendete Piktogram Hsien bedeutet sowohl Erleuchtung als auch Müßigkeit oder tiefe Ruhe und Stille (hier übersetzt mit dem Begriff idleness). Er verwendet es häufig zusammen mit dem Zeichen Lan. Dieses wird piktografisch aus dem Zeichen für Vertrauen (Lai) und dem Zeichen Hsin gebildet.531 Die chinesische Sprache unterscheidet nicht scharf zwischen Emotionen und Verstand; Hsin hat am ehesten die Bedeutung Herz-Geist. In dieser Verbindung geht es also um den Herz-Geist des Vertrauens, der sich zusammen mit Erleuchtung, Müßigkeit oder tiefe Ruhe und Stille einstellt.
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Late autumn, dwelling in idleness My gate overgrown in this isolate land, greetings and farewells rare, I loosen my robe and sit in idleness, nurturing the mystery of solitude. This autumn courtyard’s never swept. Finding myself a walking-stick, I just amble and stroll all idleness here among yellow wu-t’ung leaves.532 Dieses Vertrauen ist ein tiefes Vertrauen in die Welt: Hsien steht in enger Verbindung zum zentralen Konzept Wu-wei, welches ein Nichthandeln im Sinne eines Nicht-gegen-die-Natur-Handelns oder eines Handelns ohne Selbst bezeichnet. Tzu-jan bedeutet „aus sich selbst“, „spontan“ oder „natürlich“. Zusammen mit dem Begriff Wu-wei meint Tzu-jan, dass man sich mit dem Fluss des Dao bewegt, dass sich alles Handeln natürlich oder als Impuls eines erdachten „Selbst“ vollzieht. Dies passt am ehesten zu der Vorstellung des flows in der Positiven Psychologie. Hsien ist daher ein meditatives Gewahrsein oder Schwelgen in Tzu-jan.533 Wir hatten in Kap. 4 und 9 über die Rolle von Vertrauen für ein sich dem Unbekannten öffnendes Leben gesprochen. Hier finden wir die Entsprechung dieser Vorstellung und zugleich eine Verortung dieses Vertrauens in Wu-wei und Dao: Das Wasser wird tragen, wenn man nicht hektisch und ängstlich zu zappeln beginnt.
In gewisser Hinsicht hat mit dem Übergang von einer monotheistischen zu einer säkularen Weltsicht im Westen ein tragischer Verlust stattgefunden, weil in einer Welt mit Gott transformative Erfahrungen als z.B. Offenbarung des Göttlichen rekonstruierbar sind und damit nicht nur lesbar, sondern auch erstrebenswert werden. Anders als beim Übergang zum Daoismus oder Ch’an-Buddhismus hat man mit der westlichen Säkularisation sozusagen das Kind mit dem Badewasser ausgeschüttet, und die Möglichkeit einer säkularen Integration solcher Erfahrungen in das Leben des Einzelnen zeigt, dass dies nicht notwendig gewesen wäre. Das Erhabene als Zustand zwischen terror und bliss wird damit zu einem tragischen Ereignis: Mit ihm zeigt sich noch die Möglichkeit eines transformativen Lernens hin zu einem Gefühl des Aufgehobenseins, ohne dass diese Erfahrungen aber ohne weiteres sinnvoll in die Vorstellungswelt integrierbar wären. Sie bleiben „Mystik“, „Esoterik“ usw. und damit tendenziell Unfug. Auf einer individuellen Ebene tragisch ist diese Sichtweise, weil sie den Weg zu solchen Erfahrungen versperrt. Auf einer kollektiven Ebene tragisch ist diese Sichtweise, weil die damit einhergehende Sicht auf Menschen, Umwelt, Interesse etc. einen wichtigen Anteil an der Umweltkrise hat. Eine erneute Integration solcher Erfahrungen ist dabei nicht prinzipiell ausgeschlossen, erfordert aber ein Prozess des Bewusstwerdens. Daoistische Konzeptionen einer säkularen Spiritualität
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Man kann aus dieser Sicht zu dem Schluss kommen, dass das westliche Denken den Übergang von einem religiösen Monotheismus zu einer säkularen Spiritualität noch nicht vollständig vollzogen hat, dass mit dem Verlust der Verbindlichkeit Gottes eine Leerstelle entstanden ist, an deren Rändern das Erhabene als Demarkationslinie aufscheint. Habermas (2007) sieht in dieser Leerstelle aber keine Zwangsläufigkeit aufgeklärten Denkens, sondern gerade das Gegenteil, er richtet sich „gegen die bornierte, über sich selbst unaufgeklärte Aufklärung, der Religion jeden vernünftigen Gehalt abstreitet [...]“.534 Er sieht in dieser Haltung „das Unabgeschlossene der Auseinandersetzung einer selbstkritischen und lernbereiten Vernunft mit der Gegenwart religiöser Überzeugungen.“535 Da sprachliche Vermittlung als Medium des Denkens immer einer bestimmten Ordnungsvorstellung folgt, geht es bei den hier angesprochenen Erfahrungen von Wahrnehmung jenseits solcher Ordnungen immer um eine „Renaturierung“, ein Rewilding der Sprache, Identität und Wahrnehmung. Daher ergibt es Sinn, dass solche Erfahrung oft in Kontexten von „Wildnis“ gemacht werden, die sich nicht an die Ordnungsvorstellungen des Menschen hält. Dass sich die Kunst insbesondere im 20. Jahrhundert dieser Ideen angenommen hat (siehe Kap. 8), ist ebenfalls nachvollziehbar: In ihr wurden Erfahrungsräume geschaffen, in denen vertraute Ordnungsvorstellungen überschritten wurden. Dies sind Schritte zu kulturellen Praxen und Erwartungshaltungen als Schulen der Wahrnehmung. Die ordnende, komplexitätsreduzierende Funktion der Sprache und anderer gesellschaftlicher Konventionen ist nötig, um im Alltag bestehen zu können, aber darin darf sich Wahrnehmung nicht erschöpfen. Vielmehr kann es darum gehen, Freiheit zu entwickeln, Zugang zu beiden Formen des Weltzugangs im Alltag zu haben. Dies gelingt umso einfacher, je stärker solche Vorstellungen in das Denken integriert sind und je umfassender die Praxis jedes Einzelnen ist. Hinsichtlich der Hilfestellungen, die durch eine Integration in das Denken geleistet werden können, werden wir später noch ausgewählte daoistische Gedichte und Gemälde der chinesischen Shanshui-Kunst anschauen. In der daoistischen Lyrik finden sich zwei formale Ansätze zur Erzeugung des Effekts der Zugehörigkeit und Unmittelbarkeit:536 eine organische Form, bei der die natürlichen Rhythmen des Denkens nachgebildet werden, und eine Fragmentierung oder Kollage, durch die eine lineare, logische Erzählung aufgebrochen wird. Dabei wird gegen die strukturschaffenden Eigenschaften einer mimetisch konzipierten Sprache selbst angegangen, die implizit davon ausgeht, dass Wörter mit Dingen korrespondieren, die nach Maßgabe der Regeln der Grammatik grundlegend miteinander verbunden sind. Anders im christlichen Gründungsmythos, in dem das kausale Verhältnis zwischen Welt und Sprache eindeutig ist: 318 |
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Sprache bildet nicht Welt ab, sondern Welt wird durch Sprache geschaffen, indem Gott sprach (1. Buch Mose). Im Johannesevangelium heißt es: „Im Anfang war das Wort // und das Wort war bei Gott, // und das Wort war Gott. // Im Anfang war es bei Gott. // Alles ist durch das Wort geworden // und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“537 Wort ist hier die Übersetzung von Griechisch Logos, das sowohl Wort als auch Vernunft bedeutet. Papst Benedict XVI. hat den Zusammenhang 2006 wie folgt erläutert: Den ersten Vers der Genesis, den ersten Vers der Heiligen Schrift überhaupt abwandelnd, hat Johannes den Prolog seines Evangeliums mit dem Wort eröffnet: Im Anfang war der Logos. […]. Logos ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen kann, aber eben als Vernunft.538
Die Gleichsetzung von Wort und Vernunft impliziert zum einen, dass Vernunft sprachlich sein muss. Aber es impliziert noch mehr: Sprache und Vernunft sind konzeptionell nicht Teil der Welt, sondern dieser gegenüber- oder sogar vorausgestellt und existieren gleichsam unabhängig von ihr. Diese Annahme grundiert auch noch das säkulare westliche Alltagsverständnis, und selbst wenn ein solches Bewusstsein existiert, ist es immer ein Bewusstsein innerhalb einer mimetisch konzipierten Sprache: „[W]hen language functions in that mimetic sense, [...] it still embodies an absolute ontological separation between material reality and an immaterial soul. That separation defines the most fundamental level of our experience […].“539 Hinton argumentiert, dass diese Struktur auch durch die Entstehung der Schrift befördert wurde, die dem einzelnen Wort Dauer und den Sätzen die Fähigkeit der Außerkraftsetzung von Zeit durch die Möglichkeit ihrer Überarbeitung gegeben wurde. In einer mündlichen Kultur hingegen ist Sprache ein vergänglicher Prozess. Mit der Dauerhaftigkeit entsteht in der Wahrnehmung Wirklichkeit aber als eine Anordnung von kontextunabhängigen Dingen, die als Abstraktionen außerhalb von Raum und Zeit stehen. Diese Wirklichkeit ist eine Konstruktion, die aber dem untrainierten Geist im Alltag nicht als solche auffällt, sie ist transparent. Das klassische Chinesisch erweist sich als weniger anfällig für solche Zuschreibungen, weil es so gut wie keine Grammatik kennt und daher „Bedeutung“ immer neu aus einem leeren grammatischen Raum erschlossen werden muss, und weil Verben keine Zeitformen besitzen, so dass Sprache in einer immerwährenden Gegenwart operieren muss.540 So entstehen wie alles andere auch mit der richtigen Aufmerksamkeit Wörter wie „Baum“ aus dem undifferenzierten Gewebe des Dao und damit zugleich das Objekt „Baum“ als unabhängige EinDaoistische Konzeptionen einer säkularen Spiritualität
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heit aus diesem Gewebe, so dass er vor einem Hintergrund hervortritt, um nach einiger Zeit wieder zusammen mit dem Wort in diesem zu verschwinden. In einer nichtmimetischen Sprache zeigt ein Wort damit nicht auf ein Ding, vielmehr entstehen beide aus derselben Quelle von „Wahrnehmung in der Welt“. Dieser Prozess des „Wahrnehmens in Welt“ hat auch kein Selbst, keinen Homunculus, der wahrnimmt oder an dem sich das Wahrnehmen vollzieht, dort ist nur Wahrnehmung. Aber auch aus der Perspektive einer mimetischen Sprache zeigt sich durch Introspektion, dass dieser Prozess des nichtmimetischen Wahrnehmens der alltäglichen Erfahrung entspricht, wenn man diese nicht mit dem mimetischen Interpretationsmodell „strukturiert“. Was man bei einer solchen Introspektion findet, ist ein leerer, Selbst-loser Prozess. Wir nehmen an, dass das Selbst für ein substanzhaftes Ding steht, weil unsere Sprache uns diktiert, dass Begriffe für substanzhafte Dinge stehen. In einer Auseinandersetzung mit der zuvor diskutierten Erfahrung Thoreaus bindet Moor (2016) dies zurück zur Erfahrung des Wilden: This is the most succinct definition of the wilderness I have found: the not-self. There, in the one place we have not re-molded in our own image, a very deep and ancient form of wisdom can be found. […] We over-civilized humans cherish wilderness because it both fosters and embodies that sense of not-self – it is a brazenly naked land, where a person, in mingled fear and awe, verging on nonsense, can cry out: Contact.“541
Sprache, jedes Konzept, jede Kategorie zieht eine Folie über die Wirklichkeit, die diese strukturiert und die im Alltagsverständnis transparent ist und in ihrer Strukturierung nicht wahrgenommen wird. Das ist der für das Funktionieren im Alltag notwendige Naive Realismus. Die Gemeinsamkeit zwischen den Schilderungen existenzieller Krisen in der Meditation, den Krisen der Heldenreisen und dem Schrecken des Erhabenen besteht genau darin, dass die Folie als Folie erstmals und zunächst vielleicht nur kurz und an den Rändern sichtbar wird: das, was bisher für wirklich gehalten wurde, wird als Konstruktion erkannt. Und damit einhergeht ein existenzieller Schrecken, ein Den-Boden-Unter-DenFüßen-Verlieren einer vermeintlichen Sicherheit, die man aber nie gehabt hat. Die ablehnenden Reaktionen darauf können vielfältig sein: Unsicherheit, Angst, Aggression, Verzweiflung, Leugnung; es gibt viele Gründe, diese Erfahrung zurückzudrängen und ihr auszuweichen. Was die Heldenreise und die Meditationstraditionen aber gleichermaßen fordern, ist, an diesem Punkt innezuhalten. Der bliss der erhabenen Erfahrung besteht in der Empfindung von Freiheit, wenn die alten Begriffe nicht nur in ihrer sicherheitsgebenden Funktion, sondern auch 320 |
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und vor allem in ihrer einengenden, beschränkenden Funktion erkannt werden. Freiheit heißt dann, mit zunehmender Erfahrung immer vollständiger und öfter an diesem Ort des Bewusstseins der Konstruktionen der Welt verweilen zu können, ohne diese mit ihr zu verwechseln. Stattdessen können sie nach Belieben verwendet und zur Seite gelegt werden, ohne ihnen unfreiwillig Macht geben zu müssen. Der existenzielle Schrecken und die Freiheit, von der hier die Rede ist, mögen zunächst an den Existenzialismus erinnern, was aber in einem ganz wesentlichen Sinne nicht stimmt. Existenzielle Angst wird typischerweise als ein negatives Gefühl dargestellt, welches aus der Erfahrung der menschlichen Freiheit resultiert, die aber notwendig eine sinnlose ist.542 Dieser Schrecken bleibt unerlöst, weil er sich nicht aus seiner sprachlichen Form lösen kann, weil er an die Grenze dieser vordringt, ohne zu verstehen, dass er an sie gebunden ist. Die existenzielle Freiheit, von der hier die Rede ist, entsteht nicht innerhalb von Konventionen, sondern jenseits von ihnen, und damit geht die Möglichkeit der Überwindung des Schreckens einher. Der Existenzialismus bleibt in einer Sinnlosigkeit verfangen, weil er sich seiner eigenen Konstruktionsbedingungen nicht bewusst ist, seine eigene Folie bleibt ihm transparent. Und wir haben ein weiteres Potenzial für Missverständnisse: Freiheit heißt hier nicht Unabhängigkeit eines isolierten Individuums von dem Willen anderer, also als höchste Verwirklichung des individualistischen Ideals der äußeren Unabhängigkeit. Unabhängigkeit und Sinnlosigkeit der Existenz paaren sich gern zu einem merkwürdigen Heroismus, in dem man sich im Aushalten dieses existenziellen Schreckens zum stoischen Märtyrer macht. Taylor (2007) sieht aber eine noch größere Versuchung säkularer Gesellschaften: Der von Camus vorgedachte Weg fortgesetzten Altruismus und der Philanthropie wird zum ultimativen Heroismus in einem sinnlosen Universum, einem Heroismus, der sogar den der christlichen Märtyrer übersteigt, da er ohne eine Hoffnung auf Auferstehung auskommen muss. Er ist aber für Taylor (2007) notwendig ein einsamer Heroismus, der mehr aussagt über die Begrenzungen einer individualistischen Weltsicht als über Quellen von Mitgefühl und Nächstenliebe. Diese haben für Taylor vielmehr unhintergehbar soziale Wurzeln: But this [altruism] is not just a service performed by one human being for another. It only succeeds where it is other and more than this, where a bond of love arises. This is a bond where each is a gift to the other, where each gives and receives, and where the line between giving and receiving is blurred. We are quite outside the range of „altruistic“ unilateralism.543 Daoistische Konzeptionen einer säkularen Spiritualität
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In dieser Sicht sieht er unabhängig von der Idee Gottes eine der zentralen Quellen des christlichen Verständnisses von Kommunion, Gemeinschaft. Und aus dieser Perspektive wird die Idee des individualistischen Altruismus aus doppelter Perspektive problematisch: Sie verkennt zum einen das wahre Potenzial von Mitgefühl und Nächstenliebe, indem ein Interessenkonflikt vorausgesetzt wird, der durch den heroischen Akt des Altruismus erst überwunden werden kann. Aber dieser Interessenkonflikt ist eine Illusion, die davon abhält, das wahre Potenzial von Gemeinschaft zu erfahren. Und sie radikalisiert den Individualismus, indem sie diesen Altruismus zum ultimativen Ausweis „heroischer“ Exzellenz macht. Wir können uns Sisyphos nur als einen glücklichen Menschen bei einem zutiefst problematischen Verständnis von Menschsein vorstellen.
12.7 Shanshui-Malerei, daoistische Dichtung und der Prozess der „Natur“ Thoughts never twisty. Konfuzius, The Analects
Jullien (2016) entwickelt ein alternatives Verständnis von Natur und Landschaft, indem er den daoistischen Landschaftsbegriff als Kontrastfolie zum westlichen benutzt. Dabei geht es nicht um eine Forderung der Integration dieser Vorstellungswelt in die westliche, sondern darum, einen Reflexionsprozess auszulösen, der die kulturellen Konstruktionsbedingungen unser Begriffswelt sichtbar macht und dabei hilft, nach Alternativen zu suchen. Es geht ihm auch nicht um konkrete Gesellschaftspolitik, sondern um Angebote, die eine Veränderung der Wahrnehmung auslösen können. Jullien sieht den Beginn des europäischen Landschaftsbegriffs im 16. Jahrhundert und durch drei Vorstellungen konzipiert: Die Landschaft ist ein Ausschnitt eines homogenen Raums. Es gibt ein Primat des Visuellen. Und es wird eine Trennung zwischen Natur und Beobachter angenommen. Daraus ergibt sich für ihn entweder die Vorstellung von Landschaft als Ressource oder als Raum subjektiver Projektionen von Wünschen und Sehnsüchten, den wir schon nachgezeichnet haben. Dies wird allenfalls von den Dichtern der Romantik aufgebrochen: The romantic poem may be regarded as a model of her certain kind of being and of dwelling; whilst always at several removes from the actual moment of being and place
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of dwelling in which it is thought and written, the poem itself is an image of ecological wholeness which may grant to the attentive and receptive reader the sense of being-athome-in-the-world.544
An die Stelle der „europäischen Landschaft“ lässt Jullien eine Vorstellung treten, bei der diese ein offener Prozess des Umherschweifens ist, welche immer neu aus dem Land aufsteigt und wieder in ihm verschwindet. Diese Vorstellung ist an die in der Shanshui-Malerei vermittelten daoistischen Sichtweise angelehnt. Hieraus kann sich ein relationales Denken und Wahrnehmen entwickeln, welches sich erst in der Bewegung des Menschen in der Landschaft entfaltet und aus dem heraus eine innere Resonanz entsteht. Was ist damit gemeint? Eine Analyse des chinesischen Begriffs Tzu-jan (oft auch Ziran) gibt Hinweise. Tzu-jan bedeutet ungefähr „Dinge, die in die Existenz aufscheinen“,545 wird aber oft mit „Natur“ übersetzt. Möglicherweise weil dieses Entstehen am ehesten in der westlichen Vorstellung von „Natur“ wahrnehmbar ist: Phänomene, die ohne stabiles Selbst erscheinen und vergehen. Es gibt die Vorstellung, dass das gute Leben ein Leben im Einklang mit Tzu-jan ist. Übersetzt man den Begriff mit „Natur“, stülpt man die westliche Metaphysik über dieses Konzept (wie wir zuvor gesehen haben z.B. in einer Bedeutung wie „alles, was nicht menschlich ist“), womit die Bedeutung im Text verändert wird. Dabei war die ganze Idee des daoistischen Denkens, das menschliche Bewusstsein als mit allem integrierter Prozess erfahrbar zu machen. Man bemerkt diese Bedeutungsverschiebung aber nicht, wenn der Begriff „Natur“ in einer Übersetzung auftaucht, weil aus westlicher Perspektive der exformative Gehalt des Naturbegriffs in der Regel unbemerkt bleibt. Damit nimmt man sich aber die Möglichkeit der Erfahrung eines anderen „In-der-Welt-Seins“. Wenn beispielsweise in einem chinesischen Gedicht jemand zu Tzu-jan zurückkehrt, dann beginnt er kein Leben in den Bergen oder auf dem Lande, sondern er kehrt zur unmittelbaren Erfahrung des kosmologischen Prozesses des Entstehens und Vergehens zurück. Eine Vorstellung von „Natur“ als Tzu-jan entspricht nicht der romantischen Idee der erhabenen Naturerfahrung bei z.B. Wordsworth, obwohl im Moment des Erhabenen Tzu-jan erfahren werden kann. Der Mensch als Teil von Natur hat überall die Fähigkeit des Gewahrseins von Zzu-jan.546 Solche Gedichte haben dann die Funktion einer Schule der Wahrnehmung von Momenten, die eine tiefe Bedeutung im Sinne des Erhabenen für die eigene Existenz haben können. Die Shanshui-Malerei entstand ungefähr ab dem 4. Jahrhundert u. Z. zusammen mit einer bestimmten Form daoistischer Dichtung. Shanshui wird oft mit Berg und Wasser übersetzt, und diese Begriffe bringen das thematiShanshui-Malerei, daoistische Dichtung und der Prozess der „Natur“
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sche Spektrum dieser Malerei, aber auch der Dichtung gut auf den Punkt: Wir finden sehr direkte Naturschilderungen und -darstellungen, die ihren Bedeutungskontext im Daoismus und dem sich in dieser Zeit in China verbreitenden Buddhismus haben. Diese Gedichte wirken erstaunlich modern und erzeugen unmittelbar Bilder und Empfindungen von hoher Suggestivkraft. Hier ist ein frühes Beispiel von Hsieh Ling-Yün, der von 385 bis 433 u. Z. lebte: ON THATCH-HUT MOUNTAIN . . . Above jumbled canyons opening suddenly out and away, level roads all breaking off, these thronging peaks nestle up together. People come and go without a trace here, sun and moon hidden all day and night, frost and snow falling summer and winter. . . . Scale cliff-walls to gaze into dragon pools and climb trees to peer into nursery dens. . . . No imagining mountain visits. And now I can’t get enough, just walk on and on, and even a single dusk and dawn up here shows you the way through empty and full. . . . 547
Viele der damaligen Dichter waren in der staatlichen Bürokratie tätig und gehörten einer gesellschaftlichen und kulturellen Elite an. Die gesellschaftliche Situation entsprach in vielen Facetten unserer heutigen.548 Diese Elite empfand das Amt mit all seinen Einschränkungen oft als wenig erfüllend und das Leben in der Stadt als flach, und daher versuchte sie in abgelegenen Klöstern oder Rückzugsorten die Ruhe zu finden, die sie zurück zu Tzu-jan brachte. Wang An-shih war ein solcher Bürokratendichter, und er war sogar der Premierminister des damaligen Reichs, die wichtigste Person nach dem Kaiser. Er sparte sein Geld, um sich in den Bergen der Dichtung und dem Verweilen in Tzu-jan zu widmen.549 Die chinesische Gesellschaft, in der diese Kunst entstand, war unserer kapitalistischbürokratischen Gesellschaft nicht unähnlich. Die „bürgerliche Elite“ arbeitete als Angestellte, und sie dachte innerhalb eines weitgehend säkularen Bezugsrahmens. 324 |
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Die große Ähnlichkeit macht es interessant, den dortigen Zugang zu Fragen nach Sinn und Zugehörigkeit zu verstehen, denn genau an dieser Stelle findet sich ein entscheidender Unterschied: Während der moderne westliche Angestellte seine Ferien in der Regel nicht bei einem z.B. Meditations-Retreat verbringt, kommt dies der damaligen Vorstellung sehr nah: Man suchte Spiritualität, die man in der Hektik und der Oberflächlichkeit des Stadtlebens nicht finden konnte, und man fand sie im Versuch, so voll es geht in der Welt zugegen zu sein und darin Weisheit und das gute Leben zu finden. Tzu-jan ist dabei der Samen, der von einem Schössling zu einem Baum wird, um dann wieder zu vergehen und zu Erde für weitere Pflanzen zu werden; der Berg, der sich durch tektonische Prozesse hervorhebt, um dann nach und nach wieder durch Erosion abgetragen zu werden; und es sind auch die Gedanken und Gefühle, die in einem nicht endenden Strom kommen und gehen. Fasst man diese Gedanken in Worte, so sind sie zugleich einfach und als Gedanken banal. Darum geht es aber nicht, es geht darum, die hinter diesen Gedanken stehenden Erfahrungen verfügbar zu machen, um darin ein Dasein in Tiefe und Fülle möglich zu machen. Dies ist viel schwieriger, und die Gedichte und die Malerei helfen dabei, diesen Ort des In-der-Welt-Seins einzunehmen. Diese Gedichte und Malereien lassen sich als Umsetzung daoistischer und buddhistischer Vorstellungen verstehen. Sie sind zugleich ergreifende Darstellungen von „Natur“ als Dao und Darstellungen „innerer“ Landschaften. Konfuzius’ im Eingangszitat wiedergegebene Forderung nach Geradlinigkeit des Gedankens und Ausdrucks ist dabei ein zentraler Ausweis von Meisterschaft. In Hsieh Ling-Yüns Gedicht finden sich einfache, aber gleichwohl assoziative Schilderungen von „Natur“, aus denen ein Erleben spricht, welches sich tief mit dem Ort (hier Thatch-Hut Mountain) auseinandergesetzt hat und diesen zugleich mit dem Inneren des Dichters verbindet. Diese Überwindung eines dualistischen Verhältnisses von Betrachter und Betrachtetem lässt sich anhand der Gedichte Han Shans (Kalter Berg, 7.–9. Jahrhundert u. Z.) verdeutlichen. Der Dichter lebte am Berg Han Shan und nannte sich zugleich Han Shan. Wenn daher in seinen Gedichten der Name „Kalter Berg“ auftaucht, sind immer zugleich der Berg und der Dichter gemeint: Nichtdualität, Prozesshaftigkeit und Bedingtes Entstehen werden auf ganz natürliche Art im Gedicht thematisiert. In der typischen Metaphorik dieser Zeit wird damit der Mondaufgang über Cold Mountain zugleich eine Schilderung der Erleuchtung des Dichters Cold Mountain. Hier sind drei Beispiele. Im ersten wird Meditation als individuelle Reise zum Kalten Berg thematisiert.
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People ask about Cold Mountain Way. Cold Mountain Road gives out where confusions of ice outlast summer skies and sun can’t thin mists of blindness. So how did someone like me get here? My mind’s just not the same as yours: if that mind of yours were like mine, you’d be right here in the midst of this.550
Im zweiten geht es um die Erfahrung einer Erleuchtung, die jenseits der menschlichen Ordnung der „Straße“ erfahren wird. I delight in the everyday Way, myself among mist and vine, rock and cave, wildlands feeling so boundlessly free, white clouds companions in idleness. Roads don’t reach those human realms. You only climb this high in no-mind: I sit here on open rock: a lone night, a full moon drifting up cold mountain.551
Und im dritten Beispiel geht es um das Verhältnis von Kultur und Wildheit sowie das Verhältnis von innerer und äußerer Reise. Born thirty years ago; I’ve been constantly roaming about – one thousand, ten thousand li. I’ve walked by rivers where the green grasses merged, Entered the borders where red dust kicked up. Refining drugs, in vain I sought to become an immortal; I read books and wrote poems on historical themes. But today I’ve come home to Han-shan To pillow my head on the stream and wash out my ears.552
Liest man diese Gedichte, so ist man überrascht, wie direkt sie über viele Jahrhunderte und kulturelle Grenzen zu uns sprechen: Die Erfahrungen chinesischer Dichter sind uns auf unsere jeweils eigene Weise zugänglich, und das intuitive Verstehen kann mit einer Zunahme der Kenntnis der daoistischen Kosmologie und Ontologie zu einer Transformation des Natur- und Landschaftsverständnis326 |
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ses beitragen. Sie haben eine Sprache gefunden, die ein verbindendes Element dessen ist, was es heißt, Mensch zu sein. Die Faszination, die diese Gedichte ausüben können, ist möglicherweise auch Ausdruck ihrer Fähigkeit, eine Form der „immanenten Transzendenz“ erlebbar zu machen. Dass sich das Verständnis der Gedichte mit dem Wissen um die daoistische und buddhistische Kultur vertieft, bereichert die Erfahrungen, die bei der Lektüre gemacht werden können (wie dies auch für zeitgenössische und „westliche“ Kunst gilt). Aber auch ohne eine solche Kenntnis entstehen intensive Assoziationen. Der Begriff Dao verweist auf eine Vorstellung des Universums als ein einheitliches, lebendiges Gewebe, welches aus sich selbst in einem Prozess kontinuierlicher Wandlung alles hervorbringt: The cosmos is all dragon, all generative transformation driven by a restless hunger, and perception shares this dragon-nature, as does any other dimension of this being I am: thoughts, feelings, memories, desires, they all keep relentlessly appearing and evolving and disappearing into the forgetfulness that is the texture of our day-to-day lives. [...] Self, that center of identity, is a denial of dragon and the empirical reality it represents [...]. That denial is part of dragon, of course, but it is dragon’s blindness to itself. 553
Die Zugehörigkeit zu diesem Gewebe gibt aus sich heraus dem Leben Tiefe: Das Universum hat durch uns ein Bewusstsein seiner eigenen Existenz erlangt. In der Landschaftsmalerei wird dies durch verschiedene Elemente umgesetzt. In Abb. 20a-d sind drei Ausschnitte und ein Detail des Bilds Pure and Remote View of Streams and Mountains von Hsia Kuai (Xia Gui, 1195–1224 u. Z.) wiedergegeben. Solche Bilder sind Tuschmalereien, die als Rollen aufbewahrt werden. In diesem Beispiel ist das Format 46,5 cm x 889,1 cm. Allein die Größe macht es daher unmöglich, das Bild „auf einen Blick“ zu erfassen. Wir haben es hierbei also nicht mit einer europäischen Landschaft zu tun, die sich einem ihr gegenüberstehenden Betrachter mit einer Erwartung der Zentralperspektive zeigt. Vielmehr kann der Blick von einem zum anderen Bildelement wandern, ohne dieses jemals in Gänze sehen zu können. Dies ist auch ein Zulassen eines Verlusts von Kontrolle, wodurch offene Wahrnehmung und Überraschungen entstehen können. Die Wahrnehmung wird damit Teil des Prozesses von Landschaft. Landschaft kann daher mehr sein als eine statische, durch die Zentralperspektive erschlossene Ordnung, festgehalten in zahllosen Instagram-Fotos der 10.000 schönsten scenic views, sie ist aus einer daoistischen Perspektive Teil der Zehntausend Dinge, die aus dem Dao entstehen und wieder in ihm vergehen, indem Shanshui-Malerei, daoistische Dichtung und der Prozess der „Natur“
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Abb. 20a–c: Hsia Kuai (1195–1224), drei Ausschnitte aus Pure and Remote View of Streams and Mountains 46,5 cm × 889,1 cm.
Abb. 20d: Hsia Kuai (1195–1224), Detail aus Pure and Remote View of Streams and Mountains 46,5 cm × 889,1 cm.
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wir ihnen Aufmerksamkeit geben, und die damit das Leben in Spannung und Interaktion versetzen. Diese Landschaft ist als Potenzial immer schon da, das Besondere liegt in ihrer jeweiligen Eigenartigkeit. Und sie ist auch keine unwissenschaftliche Schwärmerei, Wissen aus z.B. den Naturwissenschaften führt nicht zu einer Entzauberung, sondern macht die Erfahrungen potenziell reicher (siehe z.B. den Anwendungsfall zu David Haskell, The Forest Unseen (2012) in Kap. 14). Die Tuschtechnik nimmt dabei die Leere als integralen Bestandteil in das Bild auf, wie man am ersten und zweiten Ausschnitt erkennen kann. Dort verschwinden Berge in einer dunstigen Leere, und diese Leere wird durch die Andeutung von Bergen selbst akzentuiert. Aus dieser Leere treten dann einige der Zehntausend Dinge hervor, bis sie wieder aus dem Blick geraten. Landschaft bildet auch anders als in der europäischen Malerei keinen Hintergrund für ein Portrait oder eine andere menschliche Szene. Gleichwohl finden sich Spuren menschlicher Artefakte in diesen Bildern, wie man in Abb. 20a (Brücke), Abb. 20b (Häuser) und Abb. 20c (überdachte Brücke) erkennen kann. Im Detailausschnitt in Abb. 20d finden sich auf einem Fels plateau ungefähr in der Bildmitte auch zwei menschliche Figuren, die auf der Reproduktion kaum erkennbar sind. Die Figuren werden durch ihre Insignifikanz im Vergleich zum Rest zu einem Teil des sich im Bild entfaltenden Prozesses von Landschaft. Dies wird in der Malerei z.B. auch dadurch umgesetzt, dass oft drei unterschiedliche Perspektiven enthalten sind, ähnlich zum Kubismus. Solche Malereien waren auch als Ersatz für das unmittelbare Sein in Landschaft und als Schule der Wahrnehmung gedacht. Aus dem Gewebe des Dao entstehen die Zehntausend Dinge des Erlebens, die durch und mit Wahrnehmung entstehen. Diese ist geprägt durch Denkgewohnheiten und andere Habitualisierungen, die ein Funktionieren im Alltag notwendig machen, die aber gleichsam einen unverstellten „Blick“ auf Dao verhindern; sie sind Teil von Dao und gleichwohl ist Dao durch sie verborgen. Li Po (701–762 u. Z.) thematisiert das Zusammenkommen von Bewusstsein und Welt in dem folgenden Gedicht. Dort verschwindet das „Selbst“, bis nur noch Bergbewusstsein bleibt. REVERENCE-PAVILION MOUNTAIN, SITTING ALONE The birds have vanished into deep skies. A cloud drifts away, all idleness. Inexhaustible, this mountain and I gaze at each other, it alone remaining.554
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Wie zuvor bezieht sich idleness hier sowohl auf Erleuchtung als auch Müßigkeit oder tiefe Ruhe und Stille, die einhergeht mit einem Himmel, auf dem keine Wolken mehr ziehen, und einem Geist, der nicht mehr durch Gedanken gestört ist. „Bergbewusstsein“ ist dabei kein Zufall, denn nirgends offenbart sich das daoistische Denken so klar wie im Denken von Landschaft als Berge und Gewässer: Statt von „Landschaft“, einem einzigen Terminus, spricht China von einem endlosen Wechselspiel verschiedener, einander entgegengesetzter, zusammenwirkender Faktoren, durch die die Welt matrixartig verfasst ist und sich organisiert. Da gibt es kein regentenhaft dominierendes Subjekt (unser Renaissance-Subjekt in Europa), das als Individuum die Welt seinem Gesichtspunkt unterworfen hat [...], da gibt es als Gegenüber kein „Ob-jekt“, das seinem Blick „vor-geworfen“ wird [...].555
Schon die frühesten philosophischen Texte thematisierten nach Jullien (2016) den Riss zwischen dem Berg und dem Selbst, zwischen Landschaft und Selbst als zentrale Fragen der menschlichen Selbstkultivierung. Das christliche Denken näherte sich solchen Vorstellungen in seinen mystischen Traditionen z.B. bei Meister Eckhart oder in Form des Pantheismus bei Baruch de Spinoza oder Johann Wolfgang von Goethe sozusagen „von innen“, indem es die Vorstellung eines personalen Gotts bis zum Extrem dehnte. In der Shanshui-Malerei wird Leere als Fülle erlebbar: Da ist kein einer Landschaft gegenübergestelltes Selbst, sondern nur Prozess und Sinn und Erhabenheit und Schönheit durch eine radikale Anerkennung der Welt, wie sie ist. Diese Kunst fand aber natürlich nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt. Es gab in der Zeit schwere Staatskrisen und Bürgerkriege, so dass wichtige Dichter im Exil ihre bedeutendsten Gedichte schufen. Tu Fu (712–770 u. Z.), einer der berühmtesten chinesischen Dichter, wuchs in einer Zeit beispiellosen Friedens und Prosperität auf, bis in seinem 43. Lebensjahr ein Bürgerkrieg ausbrach, bei dem am Ende seines Lebens zwei Drittel aller Chinesinnen und Chinesen entweder tot oder vertrieben waren und er selbst verarmte und ein Leben auf der Flucht verbringen musste. MOONRISE Thin slice of ascending light, arc tipped Aside all ist bellied dark – the new moon Appears and, scarcely risen beyond ancient Frontier passes, edges behind clouds. Silver, changeless – the Star River spreads across
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empty mountains scoured with cold. White dew dusts the courtyard, chrisantemum blossoms clotted there with swollen dark.556
In Tu Fus Gedicht entsteht der Mond in einem liminalen Raum zwischen Abund Anwesenheit, zwischen Leere und Fülle. Aber all das existiert nicht abstrakt, sondern ganz konkret im Hof des Dichters, in dem sich die entscheidende Transformation vollzieht: von der Erhabenheit der Mondsichel und der Milchstraße zur Erhabenheit der Tautropfen und der Blütenblätter. In diesem Hier und Jetzt entsteht durch Aufmerksamkeit für das Große und das Kleine die Erhabenheit des Moments. Dies ist eine Schule des Wahrnehmens, eine Aufforderung, diese Momente nicht einfach unbemerkt vorbeiziehen zu lassen, sondern aus ihrer Leere wieder und wieder die Dinge hervortreten zu lassen und in ihnen Sinn und Wunder zu finden. Man lernt eine Verschiebung der Wahrnehmung, bei der Identität sich aus allem ergibt, was die Sinne und den Geist in einem Prozess permanenten Wandels füllt. Dies klingt nach mystischer Schwärmerei, ist aber eher eine genaue Beobachtung des Geistes bei seiner Tätigkeit. Diese Leere hat dabei eine Funktion für den transformativen Prozess des Betrachters, sie ist eine Unterweisung in Wahrnehmung: „In reading a Chinese poem, you mentally fill all that emptiness, and yet it always remains emptiness, the space into which Tu Fus moon perennially rises.“557 Eine Verzauberung, ein Entstehen von Transzendenz in der Immanenz ist prinzipiell möglich, ohne einem Irrationalismus zu verfallen, wie diese Kunst zeigt. Jullien (2016) illustriert dies am Beispiel des Begriffs der Landschaft: Denn wir müssen einen Ausweg finden aus der Alternative, in die uns die gegenwärtige Ideologie eingezwängt hat, nämlich jener, entweder die Welt mechanisch zu behandeln [...] oder nostalgisch von ihr als einem verlorenen Paradies zu träumen [...]. Wir haben [...] eine Ethik der Disponibilität zu konzipieren, die in der Entzäunung eines „Selbst“ besteht, als Ergänzung – nicht Überhöhung – zu jener Ethik der Freiheit, die auf dessen Emanzipation abzielte. 558
Und andernorts: Von daher lässt sich sagen, dass wenn der Garten durch seinen Rückzug von der Welt und seine Umzäunung dazu gedient hat, den Menschen von der Natur auszusondern [...], die Landschaft ihrerseits genau das Gegenteil macht. Denn durch ihre Grenzenlosigkeit des In-Spannung-Versetzens, zu dem die Landschaft Zugang verschafft, gibt Shanshui-Malerei, daoistische Dichtung und der Prozess der „Natur“
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es keine prinzipielle Trennung und Aufspaltung mehr, der Mensch wird darin eines grundlosen Grundes der Existenz gewahr und findet in dieser Integration sein zureichendes „Element“. Dies ist die „Offenbarung“ oder das, was ich Verführung der Landschaft nennen würde [...].559
Jullien entwickelt keine Naturästhetik, sondern regt einen Prozess des Nachdenkens über das Verhältnis zum Ort und damit zum Menschsein an. Er entwickelt einen Vorschlag, Landschaft weder als auszubeutende Ressource zu sehen noch als Sehnsuchtsort zu verklären. Ressource ist sie nur insofern, als dass durch sie Kenntnis des In-der-Welt-Seins möglich wird, wenn man sich ihr widmet. Eine solche Neuverortung ist nicht nur ein spirituelles Projekt der Erschließung von Sinn, sondern auch ein zutiefst ethisches: Die Umweltkrise hat ihre Wurzeln auch in einem Weltbild, welches uns von dem trennt, was wir auch sein könnten. Jullien nennt diese alternative Sicht eine Ethik der Disponibilität.560
12.8 Nature Writing als Schule der Wahrnehmung Shanshui-Malerei und daoistische Dichtung können eine Schule der Wahrnehmung und letztlich auch eine Schule der Moral sein. Aber sie sind für westliche Leserinnen und Leser zunächst eine Möglichkeit, die eigene Perspektive besser zu verstehen, weil man ein Stück weit aus ihr heraustritt. Aber auch im „Westen“ gibt es in der Kunst und Literatur Genres, in denen es um die ästhetische Wahrnehmung von „Natur“ geht. Insbesondere im angelsächsischen Bereich existiert Nature Writing als eine ausgeprägte Gattung, deren Anfang man bei den USamerikanischen Transzendentalisten verorten kann, die über Autoren wie Muir und später dann neben vielen anderen Leopold, Abbey, Carson, Snyder oder Lopez ein Genre geprägt haben, welches an der Grenze zwischen „Natur“- und „Selbst“-Erfahrung sowie Umweltaktivismus steht.
Anwendungsfall: William Wordsworth Grenzüberschreitungen und Radikalität bilden das Zentrum des Denkens des heute paradigmatisch für das Romantisch-Erhabene in der Literatur stehenden jungen Wordsworth. Diese Radikalität zeigt sich in zumindest drei Bereichen, Politik, Natur und Schreibstil.561 Er war zunächst ein glühender Anhänger der Französischen Revolution und den mit ihr einhergehenden demokratischen Werten.
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Sein politischer Radikalismus verschob sich mit dem Bekanntwerden der nachrevolutionären Schrecken aber in die beiden anderen Bereiche. Die für ihn typischen erhabenen Naturschilderungen grenzten Ende des 18. Jahrhunderts an Blasphemie.562 Und er scheint dies bewusst in Kauf genommen zu haben: Sein berühmtes Gedicht Tintern Abbey handelt gar nicht von den Ruinen dieser Abtei, sondern von dem Verhältnis von individueller Wahrnehmung und der lebenden Landschaft des Tals, in dem in einiger Entfernung die Abtei steht. Es geht ihm nach Bate (2020) um nichts weniger als der Etablierung eine Religion der Natur. Stilistisch erkennt man die politische Radikalität an der Verwendung einer „einfachen“, direkten Sprache, die mit dem Status quo bricht. Diese Radikalität ist aus heutiger Sicht fast unsichtbar, weil die Sichtweise und Sprache Teil unseres normalen Erzählens und Erlebens geworden sind. Sein „religiöses“ Naturverständnis führt über z.B. Muir zum National Trust im Vereinigten Königreich und dem National Park Service in den USA und wird von diesen Organisationen auch ästhetisch umgesetzt. Damit steht er am Anfang und im Zentrum einer Entwicklung, die einen Perspektivwechsel auf „Natur“ und „Umwelt“ ermöglicht hat.
In den vergangenen Jahren kam es unter dem Namen New Nature Writing mit Autoren wie Jamie (2005), Deakin (2007) oder MacFarlane (2019, 2012) zu einer Weiterentwicklung. Dabei fällt auf, dass diese Autoren sich auch stark mit Fragen nach der Abgrenzung von Natur und Kultur, Wildnis und Zivilisation auseinandersetzen und damit stärker auf die europäische Situation und Fragen der Nachhaltigkeit eingehen. Die großartigen Schilderungen z.B. der Alaska-Reisen Muirs oder der Erkundungen der Arktis durch Barry Lopez sind als Modelle der Naturerfahrung nicht massentauglich, so dass durch ihre Nachahmung eine noch weitergehende Zerstörung der Orte und Erfahrungen resultiert, die von diesen Autoren bereist und beschrieben wurden. Und ein solches Modell der Naturerfahrung lenkt durch seine Vermittlung einer Erfahrungserwartung die Aufmerksamkeit noch weiter weg von dem, was vor der eigenen Haustür liegt. Deakin (2000) ist einen anderen Weg gegangen, indem er britische Flüsse und Seen durchschwommen und mit seinem Buch eine ganze Wild-Swimming-Bewegung hervorgerufen hat, bei der es aber nicht nur um eine neue Freizeitaktivität geht, sondern auch ganz grundsätzlich Fragen nach der Weiterentwicklung von Landschaft und dem Verhältnis von privatem und öffentlichem Eigentum an diesen Orten gestellt werden. Dabei steht diese Literatur auch immer wieder in der Kritik. Jamie (2008) sieht in ihr insbesondere ein Betätigungsfeld von akademisch ausgebildeten männliNature Writing als Schule der Wahrnehmung
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chen Eliten auf der Suche nach Distinktion: „What’s that coming over the hill? A white, middle-class Englishman! A Lone Enraptured Male! From Cambridge! Here to boldly go, „discovering“, then quelling our harsh and lovely and sometimes difficult land with his civilised lyrical words.“563 Jim Perrin geht noch weiter, indem er hier eine Literaturgattung entdeckt, die hauptsächlich für eine urbane Leserschaft geschrieben sei, die an Natur als einer gelebten Erfahrung kein Interesse habe und die nach einer Fantasie von Wildnis als „gelobtem Land“ als Erbauungsliteratur suche. Die Konsequenz sei, dass sie damit wichtige Aspekte der Zerstörung weglasse. Cocker (2015) kommt zu dem Schluss, dass diese Literatur damit das Gegenteil von dem zu erreichen drohe, was sie eigentlich wolle: Does this mean that all nature books have to be filled with the grief and pain of loss? Of course not. But they have to navigate […] between joy and anxiety. Nature writers must ponder and engage with these troubling realities. Otherwise, we are just fiddling while the agrochemicals burn. The real danger is that nature writing becomes a literature of consolation that distracts us from the truth of our fallen countryside, or – just as bad – that it becomes a space for us to talk to ourselves about ourselves, with nature relegated to the background as an attractive green wash.564
Die Frage, die hier angesprochen wird, ist von zentraler Wichtigkeit: Was ist die Rolle einer Literatur, die sich zwar auch politisch und aktivistisch versteht, aber zunächst eine ästhetische Schule der Wahrnehmung durch die Schaffung kultureller Narrative von Naturerfahrung ist? Wird sie damit im Sinne Žižeks letztendlich zu Stützen einer Ordnung, die sie zu überwinden vorgibt (Kap. 8)? MacFarlane, der als einer der führenden Autoren dieser Bewegung für eine solche harmlose Ästhetisierung insbesondere angegriffen wurde, entwickelt ein Argument, welches wahrscheinlich ziemlich nah am Kern des Problems liegt: Gute Literatur hat die Fähigkeit, Menschen zu inspirieren und ihnen eine neue Form der Wahrnehmung zu eröffnen. Damit kann Literatur zu Aktivismus und Aktivismus zu Politik führen. Wir schützen aber nur das, was wir schätzen, oder in den Worten Monbiots: The reality is that we care because we love. Nature appealed to our hearts, when we were children, long before it appealed to our heads, let alone our pockets […]. Acknowledging our love for the living world does something that a library full of papers on sustainable development and ecosystem services cannot: it engages the imagination as well as the intellect. It inspires belief; and this is essential to the lasting success of any movement.565
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Und hierin besteht die Rolle der Literatur und Kunst. MacFarlane (2015) fasst dies wie folgt zusammen: [L]iterature is exceptionally good at acknowledging love, inspiring belief and engaging „the imagination as well as the intellect“. That is why we should welcome the full range of „ecological aesthetics“. To see ourselves as within the ecology for which we plan, we require fury, burn, scorch and scour in our contemporary nature culture – but also wonder, joy, beauty, grace, play and concentration.566
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13. Bewusstsein und Natur Der Grund dafür, dass unser fühlendes, wahrnehmendes und denkendes Ich in unserem naturwissenschaftlichen Weltbild nirgends auftritt, kann leicht in fünf Worten ausgedrückt werden: Es ist selbst dieses Weltbild. Es ist mit dem Ganzen identisch und kann deshalb nicht als ein Teil darin enthalten sein. Erwin Schrödinger (1986, S. 77)
In diesem Kapitel werden wir uns sowohl mit einer inhaltlichen als auch mit einer methodischen Frage auseinandersetzen, die beide erstaunlicherweise zusammenlaufen. Die hier entwickelten Vorstellungen eines Einsseins mit „Natur“ (in dem in Kap. 12 entwickelten Verständnis) könnten als Illusion abgetan werden. Als Kinder dachten wir vielleicht auch, dass unser Stofftier lebt und ein Bewusstsein hat. Das war aber falsch. Gefühle von Einheit und Sinn können aus dieser Perspektive wie Wohlfühlillusionen erscheinen: nützlich, aber irrig. Und genau zu dieser Schlussfolgerung kommen die üblichen materialistischen Deutungen der Welt. Damit käme man aber zu dem Schluss, dass die hier entwickelten Ideen gut gemeint, aber ultimativ unsinnig sind. In einer evolutionären Logik sind Gefühle von Einssein und Sinn nichts anderes als kulturell gefärbte Narrative von bestimmten biochemischen Prozessen, die unser Überleben in der Vergangenheit gesichert haben. Wir gehen dazu auf die kontroverse Vorstellungswelt des (Neuen) Animismus ein, die wir in einer modernen Fassung präsentieren und in den Kontext der derzeitigen Debatten über Tierethik stellen. Dies ist zwangsläufig notwendig, weil ein wichtiger Kern der gegenwärtigen Debatte um Tierwohl die Frage nach dem Bewusstsein ist: Falls ein Organismus über Bewusstsein verfügt, kann er zum ethischen Subjekt werden. Wie können wir dies aber wissen? Bewusstsein ist das einzige, von dem wir sicher sein können, dass es existiert (wir sind uns in diesem Moment bewusst, dass wir uns bewusst sind), aber gleichzeitig gibt es keine Möglichkeit, durch Verhaltensbeobachtung auf das Vorliegen von Bewusstsein in anderen Menschen oder anderen Lebensformen zu schließen, und Verhaltensbeobachtung ist alles, was uns prinzipiell zur Verfügung steht.
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Es ergibt Sinn, die Diskussion bei Adorno (1970) zu beginnen. Für ihn waren die Kunst und – in einem bestimmten Sinn – Natur ein Ausweg aus der Entzauberung, die er als eine Folge des Positivismus und Materialismus der Aufklärung sah.567 Dieser Zugang zur Natur führt demnach zu einer Haltung, diese allein aus einer instrumentellen Nützlichkeitsperspektive der Ausbeutung und Dominanz heraus zu betrachten, inklusive der eigenen Natur und es Umgangs mit sich selbst. Einen Ausweg sehen Adorno und Horkheimer in der Ersetzung des hier aufscheinenden instrumentellen Modells der Rationalität durch eines, in dem ästhetische, moralische und sinnliche Aspekte des Daseins im Zentrum stehen: „Thus, their aim is not to give up our rational faculties or powers of analysis and logic. Rather, the ambition is to arrive at a dialectical synthesis between Romanticism and Enlightenment, to return to anti-deterministic values of freedom, spontaneity and creativity.“568 Adorno sieht die Kunst und die „Natur“ als exemplarisch für dieses Projekt, da sich in beiden Bereichen stets ein Überschuss zeige, der die bloße Materialität und den Tauschwert übersteige. Daher könne es zu einer Wiederverzauberung der Welt und damit des menschlichen Lebens durch ästhetische Erfahrungen kommen. In diesem Übersteigen der Materialität verwirklicht sich ein (schwacher) Animismus und Anthropomorphismus.569 Und gleichzeitig wird doch Natur durch ihre Parallelführung mit Kunst in einen goldenen Käfig gesperrt. Sie ist nicht bloß, sondern sie dient wiederum einem Zweck und wird dementsprechend narrativ ihrer Wildheit beraubt. Im Übersteigen der instrumentellen Rationalität öffnet sich der Raum des Erhabenen, aber es werden massive Sicherungen benötigt, um ihn auszuhalten.570
13.1 Neuer Animismus Der sogenannte Neue Animismus nimmt sozusagen die Natur aus dem Käfig und verpflichtet sich dabei, nicht einfach nur einer Naturromantik zu verfallen, sondern seine Vorstellungen konsistent zu begründen. Harvey (2013) definiert den Begriff wie folgt: „Animism is the attempt to live respectfully as members of the diverse community of living persons (only some of whom are human) which we call the world or cosmos.“571 Nach Kant schuldet man Tieren oder „der Natur“ keinen unmittelbaren Respekt.572 Man habe gleichwohl die Pflicht, ihre Schönheit nicht sinnlos zu zerstören und sogar zu lieben sowie unnötige Grausamkeit gegenüber Tieren zu unterlassen, weil man ansonsten moralisch abstumpfe. Der Umgang mit der Natur ist 338 |
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sozusagen ein Training für den Umgang mit anderen Menschen, wo sich erst die Moralität zeigt. Der (Neue) Animismus geht hierüber hinaus, indem die Grenze zwischen Person und Nicht-Person, zwischen Zweck und Mittel anders gezogen wird. Menschen, Tiere, Pflanzen, Ökosysteme bis hin zu Bergen und Flüssen sind Teil eines lebenden Ganzen, in dem Bewusstsein in unterschiedlichen Formen existiert. Diese Betrachtungsweise verändert das Erleben und würde für Adorno daher als eine Form der Rückverzauberung gelten. Gleichzeitig verändert ein solches Erleben Verhalten, welches essentiell für den Umgang mit der Umweltkrise sein kann. Aber ist diese Verschiebung tatsächlich begründbar? Animismus ist eine Weltsicht, die bei Naturvölkern weit verbreitet ist. Es ist eine praktische Erfahrung, die für alle Menschen offen ist, wenn man sich ihr öffnen möchte. Aber es ist schwierig bis unmöglich, dieses Erleben als sinnliches, körperliches und nicht bloß sprachlich-abstraktes Geschehen zum Ausdruck zu bringen. Animismus ermöglicht es, dem Leben mehr Wert und Sinn zu geben. Es verändert die Perspektive auf Dinge von etwas, das wir benutzen, zu etwas, zu dem wir eine Beziehung haben.573 Man sieht z.B. bei den Ngāi Tahu (indigenes Volk der Māori in Neuseeland) Tiere, Berge, Flüsse und Seen als Mitglieder der Familie. Innerhalb des westlichen Denksystems ist es einfach, dies nicht ernst zu nehmen, aber vielleicht ist es möglich, dies für einen Moment doch zu tun und zu versuchen zu verstehen, wie es begründbar ist und welche Konsequenzen es nach sich zieht, wenn man die verbreiteten Natur-Metaphern unserer Kultur durch animistische ersetzt oder ergänzt.574 Wie verhält man sich zu seiner „Umwelt“, wenn man diese als mit einem Bewusstsein ausgestattet betrachtet? In diesem Volk existiert der Begriff Mauri, Lebensprinzip, Lebenskraft, welcher die spezifische Qualität und Vitalität eines Wesens oder Dings bezeichnet.575 Der Begriff wird für Lebewesen, Objekte, Ökosysteme und auch soziale Gruppen und Gesellschaften verwendet. Wenn beispielsweise ein Fluss verschmutzt wird, reduziert das die Anzahl der Fische, die Biodiversität, die Lebenskraft des Flusses. Angenommen, man würde den Fluss als Person betrachten. Was würde mit einer Person geschehen, der man die Lebenskraft nimmt, seine Fähigkeit abzugeben? Man nimmt ihr die Würde (Mana in Maōri). Daraus entsteht ein Teufelskreis: Handlungen reduzieren Mauri des Flusses, damit nimmt Mana des Flusses ab, dies führt zu Knappheit, und dies reduziert Mana der dort lebenden Menschen. Man kann den Kreislauf aber auch umkehren: Man erhöht Mauri des Flusses, damit steigt sein Mana, dies führt zu Reichhaltigkeit und dies steigert Mana der dort lebenden Menschen. Und dies gilt für alles, was Mana besitzen kann: Menschen, Lebewesen, Ökosysteme usw. Nehmen wir als Beispiel einen Menschen: Wenn er durch sein Handeln sein Neuer Animismus
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Mauri steigert, nimmt seine Fähigkeit, einen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten, und damit seine Würde zu. Und dies wird zu Verhaltensweisen führen, die wiederum Mauri und Mana aller anderen Mitglieder (menschlicher und anderer) der Gemeinschaft steigern. Ein Problem mit dem richtigen Verständnis solcher Weltsichten besteht in der Begrenztheit von Sprache, Erlebnisse zu kommunizieren. Eine Person aus einer Kultur und einem Sprachsystem, welches keinen Raum für animistische Vorstellungen lässt, kann sich die Erfahrung nur innerhalb seines eigenen Bezugs- und Erfahrungssystems verfügbar machen, falls überhaupt die Bereitschaft besteht, es prinzipiell ernst zu nehmen. Wir haben es hier mit einem im westlichen Denken oft vernachlässigten, aber in der jüngeren Vergangenheit auch wissenschaftlich wieder ernster genommenen epistemischen Problem zu tun. Paul (2014) macht dies am Beispiel der Entscheidung, ein Kind zu zeugen, deutlich. Bevor man Mutter oder Vater eines Kindes ist, lassen sich bestimmte Charakteristika des Elternseins beschreiben, gleichwohl ist es unmöglich, zu einem vollen Verständnis des subjektiven Erlebens der Elternschaft zu kommen, wenn man sich dies nur theoretisch erschließt (siehe Kap. 12). Es bleibt eine Lücke, die Elternschaft zu einer, wie Paul (2014) sagt, transformativen Erfahrung macht: Sie ist in Sprache nicht vermittelbar, und somit muss sie selbst gemacht werden, damit man sie verstehen kann. Solche transformativen Erfahrungen sind aber alltäglich.576 Es ist unmöglich, jemandem den Geschmack eines Apfels zu erklären, wenn die Person noch nie einen gegessen hat, und wenn sie einen gegessen hat, ist es nicht mehr nötig. Jede sprachliche Beschreibung wie süß, sauer, knackig gibt einen wichtigen Aspekt des Apfelgeschmacks wieder, und doch wird man, wenn man noch nie einen Apfel gegessen hat, erst wirklich verstehen, wie ein Apfel schmeckt, wenn man ihn isst. Sprache ist bloß Signifikant von etwas Sinnlichem und Körperlichem; Sprache ist entweder ein bequemes Kommunikationsmittel, welches Austausch erleichtert („Gib mir bitte den Apfel.“) oder ein Wegweiser hin zu einem „tieferen“ Verstehen. Dieses tiefere Verstehen ist somit notwendig epiphan, es offenbart sich im Handeln, nicht im Sprechen: This conceptual, knowledge-based self is nothing but a game of created self-consciousness, an image of ignorance, so to speak. Life has to be freed and lived, instead of being known. Knowing never satisfies, although knowing is one of our major intellectual functions. It’s as if you say, „Oh, I got it,“ and then go to sleep.577
Aber das Problem eines tiefen Verstehens ist noch komplexer, wie Feldman Barrett (2017) argumentiert: Alle bewussten Wahrnehmungen von Prozessen in der 340 |
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Umwelt und im Körper basieren auf einem auch sprachlich gegebenen Weltmodell (im Sinne der Predictive-Coding-Theorien). Damit sind Gefühle konstruiert und zugleich nicht beliebig konstruiert, da sie zur Aufrechterhaltung des homöostatischen Gleichgewichts beitragen. Verfolgt man die Idee der Konstruktion von Gefühlen, kommt es zu zunächst nicht intuitiv erscheinenden Implikationen: Es ist oftmals nicht so, dass die Dinge, die man sieht und hört, beeinflussen, wie man sich fühlt, sondern dass umgekehrt unsere Gefühle beeinflussen, was und wie wir etwas sehen oder hören: 578 „It is unlikely that we are born knowing what out feelings are any more than we are born knowing the world and reality. Instead, we learn what our feelings are and this learning has a social-verbal experiential basis.“579 Es ist also ein Weltmodell nötig, welches sagt, was ein physischer Zustand in einer Situation bedeutet, damit auf der Handlungsebene Differenzierungen entstehen können.
13.2 Wo ist Bewusstsein? Aber ist es möglich, dass man die „Beseeltheit“ der Natur erleben kann, oder ist das nur Aberglaube? In welchem Sinne muss man eine solche Behauptung verstehen? Ein guter Startpunkt sind Haustiere. Die meisten Menschen, die z.B. einen Hund besitzen, würden zustimmen, dass der Hund zur Familie gehört. Und das ist kein theoretisches Wissen, sondern eine Erfahrung von Verbundenheit, des Austauschs, der Persönlichkeit des Hundes. Diese Erfahrung wird aber nur machen, wer sich ihr gegenüber öffnet. Wir haben es hier möglicherweise mit einem Mangel an Vorstellungskraft zu tun, der dazu führt, dass man ohne direkte Erfahrung diese Verbundenheit nicht nachvollziehen kann. Und genauso ist es bei anderen Lebewesen, mit denen wir zu unterschiedlichen Graden genetisch verwandt sind. Die derzeitigen Tierrechtsbewegungen sind ein Beispiel für eine Ausweitung des Kreises der Organismen, denen ein ethischer Zweck- und nicht bloß Mittelcharakter zugeschrieben wird. In den westlichen Gesellschaften kann generell eine solche Ausweitung von der Familie über den Stamm, die Nation und der Menschheit bis über diese hinaus beobachtet werden.580 Am Beginn dieser Ausweitung zu einer nicht anthropozentrischen Ethik im westlichen Denken standen Bentham und Rousseau, die bis heute wichtige Grundlagen für die Frage nach der Anerkennung von Rechten für nichtmenschliche Wesen gelegt haben:
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Other animals, which, on account of their interests having been neglected by the insensibility of the ancient jurists, stand degraded into the class of things. […] The day may come, when the rest of the animal creation may acquire those rights which never could have been withholden from them but by the hand of tyranny. The French have already discovered that the blackness of skin is no reason why a human being should be abandoned without redress to the caprice of a tormentor. It may come one day to be recognized, that the number of legs, the villosity of the skin, or the termination of the os sacrum, are reasons equally insufficient for abandoning a sensitive being to the same fate. What else is it that should trace the insuperable line? Is it the faculty of reason, or perhaps, the faculty for discourse? [...] the question is not, Can they reason? nor, Can they talk? but, Can they suffer? Why should the law refuse its protection to any sensitive being? [...] The time will come when humanity will extend its mantle over everything which breathes [...].581
Diese Position folgt konsequent den Prinzipien des von Bentham mitbegründeten Utilitarismus, der allein Gefühle von pleasure und pain für ethisch relevant erklärt. Wenn Tiere solche Gefühle haben, so müssen diese auch berücksichtigt werden. Diese Position wurde im 20. Jahrhundert von Singer mit seinem Buch Animal Liberation (1975) weiterentwickelt. Die derzeitige Debatte um Tierrechte fokussiert sich oftmals auf die Frage, was es heißt, leiden zu können. Und dabei steht die Frage nach dem Vorliegen eines Bewusstseins im Zentrum. Leid ohne Bewusstsein von Leid ist keines, so dass wir in einem utilitaristischen Sinne den Nachweis erbringen müssen, dass nichtmenschliche Organismen Freude und Leid empfinden können. Bewusstsein nimmt daher den Platz der Beseeltheit in animistischen Vorstellungen ein: By this method also we put an end to the time-honoured disputes concerning the participation of animals in natural law: for it is clear that, being destitute of intelligence and liberty, they cannot recognise that law; as they partake, however, in some measure of our nature, in consequence of the sensibility with which they are endowed, they ought to partake of natural right; so that mankind is subjected to a kind of obligation even toward the brutes. It appears, in fact, that if I am bound to do no injury to my fellowcreatures, this is less because they are rational than because they are sentient beings: and this quality, being common both to men and beasts, ought to entitle the latter at least to the privilege of not being wantonly ill-treated by the former.582
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Damit haben wir aber zwei der schwierigsten Felder der Philosophie des Geistes und der Neurowissenschaft betreten, das sogenannte Hard Problem of Consciousness und das Other-Minds-Problem. Das Hard Problem bezieht sich auf materialistische Erklärungen der Wirklichkeit:583 Wenn die Grundstruktur alles Seins, seien es Elektronen, Quarks, Strings oder was auch immer, ohne Bewusstsein ist, wie kann es dann dazu kommen, dass bestimmte Anordnungen dieser Grundstruktur (in Molekülen, Neuronen, Gehirnen, Körpern) zu einem subjektiven Bewusstsein führen? Der Materialismus ist eine Kombination aus Objektivismus (Wissenschaft erlaubt einen Zugang zur realen, wahrnehmungsunabhängigen Welt) und Physikalismus (die physische Wirklichkeit ist alles, was es gibt). Elementarteilchen, Raumzeit, Moleküle, Gene, Gehirne sind fundamental real, und damit werden Erfahrung, Wahrnehmung und Bewusstsein als emergente, physikalisch erklärbare Phänomene betrachtet. Dieser Erklärungsrahmen hat zwei Probleme. Zum einen haben wir niemals außerhalb unserer Wahrnehmung Zugang zu einer physischen Realität. Das bedeutet nicht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse arbiträr sind, manche Modelle funktionieren besser als andere. Es bedeutet aber, dass Wahrnehmung mindestens so fundamental für wissenschaftliche Erkenntnisse ist wie die physische Realität. Wissenschaft findet notwendig immer innerhalb von Bewusstsein statt; Bewusstsein kommt in diesem Sinn zuerst. Aber Bewusstsein ist auch „transparent“, da jeder Gedanke immer schon Bewusstsein voraussetzt. Daher ist es verständlich, dass der Vorrang von Bewusstsein vergessen werden kann. Dies kann aber zu Problemen führen, wenn Objektivismus und Physikalismus nicht nur als Methoden zur Lösung konkreter Probleme gesehen werden (im Sinne des Pragmatismus), sondern eine Art impliziter Metaphysik bilden, die auf alles Denken angewendet wird. Zum anderen führt die Notwendigkeit, Bewusstsein als emergentes Phänomen zu erklären, zu der notwendigen Hypothese, dass bestimmte Anordnungen von Molekülen resp. (über Chemie zu Physik) Elementarteilchen die Eigenschaft haben, Bewusstsein zu erzeugen, wohingegen andere Anordnungen diese Eigenschaft nicht haben. Wie bewusstseinslose Materie durch eine solche Anordnung dies leisten soll, ist völlig unklar. Strawson (2009) kommt zu dem folgenden Schluss: What does physicalism involve? [..] Well, one thing is absolutely clear. You’re certainly not a realistic physicalist, you’re not a real physicalist, if you deny the existence of the phenomenon whose existence is more certain than the existence of anything else: exWo ist Bewusstsein?
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perience, ‚consciousness‘, conscious experience, ‚phenomenology‘, experiential ‚whatit’s-likeness‘, feeling, sensation, explicit conscious thought as we have it and know it at almost every waking moment.584
Dass es Bewusstsein gibt, kann also nicht bezweifelt werden, und damit muss es innerhalb des wissenschaftlichen Materialismus als emergentes Phänomen der – welche dies auch immer sein mögen – ultimativen „Bausteine“ erklärt werden. Dabei fasst Strawson die gängige Position in zwei Axiomen zusammen: [NE] Physikalische „Bausteine“ sind auf der elementaren Ebene nicht bewusst. [RP] Bewusstsein ist ein reales Phänomen, und jedes reale Phänomen ist physisch. Nimmt man NE und RP zusammen, entsteht ein Emergenzproblem, weil erklärt werden muss, wie durch das Zusammenwirken von elementar nicht bewussten Bausteinen Bewusstsein entstehen kann. Wenn die elementaren Bausteine unbewusst sind und es gleichzeitig Bewusstsein gibt (nämlich zumindest das eigene), muss irgendwo eine Grenze existieren, eine Demarkationslinie zwischen bewusst und unbewusst, und das Bewusstsein muss dann erklärt werden durch die Veränderungen in der „Anordnung“ der elementaren Bausteine an dieser Grenze. Aber Emergenz kann nicht einfach vom Himmel fallen. Irgendetwas in den elementaren Bausteinen muss dazu führen, dass Bewusstsein entsteht: Emergence can’t be brute. It is built into the heart of the notion of emergence that emergence cannot be brute in the sense of there being absolutely no reason in the nature of things why the emerging thing is as it is (so that it is unintelligible even to God). For any feature Y of anything that is correctly considered to be emergent from X, there must be something about X and X alone in virtue of which Y emerges, and which is sufficient for Y.585
Wenn man brute emergence zuließe, könnte man damit alles und nichts erklären, sie wäre das wissenschaftliche Pendant eines religiösen Wunders. Daher muss der wissenschaftliche Materialismus Theorieelemente wie brute emergence kategorial ausschließen und tut dies auch. Dieses Demarkationsproblem ist aber fatal für die gängige Interpretation des wissenschaftlichen Materialismus in Form von NE und RP. Als Ausweg bietet sich nur, entweder RP fallenzulassen, was entweder bedeutet, dass das Einzige, von dem wir wissen, dass es existiert – das Bewusstsein –, für nicht real erklärt wird, oder dass wir uns von der Auffassung trennen, die Wirklichkeit sei im klassischen Sinn physisch. Diese Position wird von den sogenannten KörperGeist-Dualisten vertreten, die in einer Reihe mit Descartes stehen und behaup344 |
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ten, Geist sei zwar irgendwie an das Physikalische angebunden und doch selbst nicht Teil von ihm. Diese Position ist aber problematisch, solange die Interaktion zwischen den beiden Bereichen „Geist“ und „Körper“ nicht in irgendeiner Form geklärt ist. Und selbst wenn eine solche Interaktion geklärt wäre, stellte sich die Frage, ob man es dann nicht wieder mit einem Monismus zu tun hätte, unabhängig davon, ob man ihn als Physikalismus, als Idealismus oder als neutralen Monismus konzipiert. Daher ist dieser Ausweg zutiefst unbefriedigend, weil die Differenzierung kollabiert. Oder man kann NE fallenlassen, was dann aber bedeutet, dass Bewusstsein als etwas konzipiert werden muss, das essentiell und fundamental in der Welt existiert, unabhängig davon, wie fremd der Gedanke erscheint und wie unverständlich so ein Bewusstsein für uns sein mag. Durchdenkt man die Konsequenzen unseres konventionellen Wissenschaftsmodells, erscheint der Animismus plötzlich in einem ganz anderen, zumindest plausiblen, wahrscheinlich aber sogar zwangsläufigen Licht, das eine Sichtweise beleuchtet, welche als Panpsychismus bezeichnet wird. Das Other-Minds-Problem startet mit der Beobachtung, dass das einzige, dessen man sich sicher sein kann, das eigene Bewusstsein ist. Alle Wahrnehmungen, Theorien etc. sind Objekte oder Prozesse in Bewusstsein. Man kann sich niemals sicher sein, dass andere Lebewesen inklusive anderer Menschen ebenfalls ein Bewusstsein haben, es könnte „dunkel“ in ihnen sein, niemand zu Hause. Und wenn sie Bewusstsein haben, dann kann man nicht wissen, wie es sich „anfühlt“,586 dieser Mensch oder dieses Tier zu sein. Das Vorliegen von Bewusstsein in anderen Organismen lässt sich nicht wissenschaftlich testen, man ist auf Analogieschlüsse angewiesen: Der Organismus verhält sich ähnlich, also muss er ähnlich wie ich empfinden. Auch eine direkte Frage wie „Bist du bewusst?“ ist nicht hilfreich, denn die Antwort „Ja“ könnte von einem Algorithmus stammen, der programmiert ist, auf diese Frage so zu antworten. Mit anderen Worten ist der Entschluss, anderen Organismen ein Bewusstsein zuzuschreiben, immer eine nicht weiter beweisbare Entscheidung. Birch (2017) entwickelt daraus ein Vorsichtsprinzip, wie es oft in Bereichen tiefer Unsicherheit angewendet wird: „Where there are threats of serious, negative animal welfare outcomes, lack of full scientific certainty as to the sentience of the animals in question shall not be used as a reason for postponing cost-effective measures to prevent those outcomes.“587 Nehmen wir als Beispiel Hummer, die typischerweise lebend gekocht werden. Was wir heute wissen, ist, dass sie über ein extrem sensitives Nervensystem verfügen, welches es ihnen erlaubt, auf kleinste Temperaturunterschiede zu reagieren. Dies ist aus einer evolutionären Perspektive wichtig, weil die Wassertemperatur Wo ist Bewusstsein?
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ein wichtiger Indikator für die Verfügbarkeit von Nahrung ist. Sie migrieren daher je nach Wassertemperatur in tiefere oder flachere Gewässer. Die Praxis des Lebendkochens wird daher auf Lebewesen angewendet, deren Nervensystem gerade auf Temperaturen sensitiv reagiert. Können wir wissen, ob sich Temperaturen für einen Hummer angenehm oder unangenehm anfühlen? Nein. Aber aufgrund der prinzipiellen Unbeantwortbarkeit der Frage und den beobachtbaren Reaktionen des Tiers im Kochtopf würde das Vorsichtsprinzip sich dafür aussprechen, davon auszugehen, dass dem so ist. Wenn aber Krebstiere diesen Standard erfüllen, dann erfüllen ihn auch Tintenfische, Säugetiere und zahlreiche andere Arten. Nimmt man das menschliche Bewusstsein zum Referenzpunkt, so steht der Vorwurf des Anthropomorphismus im Raum, der unangebrachten Übertragung menschlicher Eigenschaften, Fähigkeiten und Qualitäten auf andere Arten. Anthropomorphismus ist der Rückfallmodus unserer Wahrnehmung. Es ist evolutionär sinnvoll, dass wir bei anderen Wesen so etwas wie Intentionen vermuten, um unser Verhalten dementsprechend anpassen zu können. Da wir dabei nur unsere eigene Wahrnehmung als Referenzmaßstab haben, muss man diese heranziehen, um das Verhalten anderer Lebewesen abzuschätzen. Daher zielt dieser Vorwurf am Ziel des Vorsichtsprinzips vorbei. Vielmehr geht es um die Anerkennung der Unmöglichkeit auszuschließen, dass andere Lebewesen auf ihre jeweils spezifische Art wahrnehmen und empfinden, und diesem Umstand Rechnung zu tragen, indem man so gut es geht versucht, unnötiges Leid zu verhindern. Die bisherige Argumentation nimmt aber immer noch den Menschen als Referenzpunkt und argumentiert über Ähnlichkeit in der Reaktion auf Reize als Hinweis auf das Vorliegen von Bewusstsein. Charlton und Francione (2013) gehen noch einen Schritt weiter. Sie argumentieren, dass unabhängig von Bewusstsein das Töten eines Tieres per se moralisch falsch sei. Bewusstsein sei aus einer evolutionären Perspektive selbst nur Mittel und nicht Zweck der kontinuierlichen Existenz. Für sie geht es nicht nur um die Frage, wie man Tiere richtig behandelt, sondern ob die Idee der Nutzung nicht selbst schon ethische Rechtfertigungsprobleme mit sich bringt. Diese (durchaus problematische) evolutionäre Rechtfertigung von Tierrechten speist sich aus einer nichtutilitaristischen Denktradition, die im westlichen Denken zumindest bis zu Schweitzer (1990 [1923]) zurückgeht, der sein Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben aus dem Willen zum Leben alles Lebendigen ableitet: Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem Schaden
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zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig.588
Die Probleme einer in diesem Sinne evolutionären Begründung seiner Ethik umgeht er, indem er anthropomorphe Analogien verwendet, die dem Leben allgemein menschliche Empfindungsfähigkeit zuschreiben. Sie schützen ihn aber zugleich vor einer romantisierenden Verklärung von „Natur“: „Auf tausend Arten steht meine Existenz mit anderen in Konflikt. Die Notwendigkeit, Leben zu vernichten und Leben zu schädigen ist mir auferlegt. [...] Um mein Dasein zu erhalten, muss ich mich des Daseins, das es schädigt, erwehren.“589 Es geht ihm darum, in diesem Prozess unnötiges Leid zu verhindern. Sein Anthropomorphismus erscheint auf den ersten Blick irritierend, da er als Arzt wissenschaftlich ausgebildet war und wusste, dass vielen Lebensformen die neurologischen Strukturen fehlen, die wir als notwendig für unsere Vorstellung von Bewusstsein erachten. Der Grund liegt wohl daran, dass er sich gerade als Wissenschaftler des Zuschreibungscharakters von Bewusstsein und der notwendigen Metaphorik der Sprache bewusst war. Der folgende Anwendungsfall geht hierauf näher ein. Anwendungsfall: Peter Wohlleben, Das geheime Leben der Bäume (2015) Wohllebens Buch Das geheime Leben der Bäume war ein Sensationserfolg. Es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und löste ein riesiges Interesse am Ökosystem Wald aus. Es eignet sich wie kaum ein anderes Buch, den Grundgedanken einer säkularen Spiritualität als unbedingter Verpflichtung der Wahrheit gegenüber beispielhaft zu verdeutlichen. In dem Buch werden die zahlreichen Interdependenzen und Austauschverhältnisse der unterschiedlichen Organismen vorgestellt, die einen Wald ausmachen. Das, was immer schon vor Augen liegt, wird durch Wissen auf eine ganz neue Art erfahrbar. Kern des Buchs ist eine Zusammenfassung wissenschaftlicher Erkenntnisse über das Leben von Bäumen und Pflanzen, und es zeigt sich sehr schnell, dass diese nicht in Isolation, sondern nur als System verstanden werden können, in denen z.B. Bäume in Synergie mit bestimmten Pilzarten leben und hierdurch ein Netz von gegenseitigen Austauschverhältnissen entsteht, in dem Bäume miteinander Nährstoffe austauschen und kommunizieren. Wohlleben nennt dies das Wood Wide Web. Die Besonderheit des Buchs, die wohl zugleich einen Beitrag zur großen PopulaWo ist Bewusstsein?
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rität geleistet hat und auch harsche Kritik nach sich zog, war die Bereitschaft des Autors, die Prozesse des Waldes in menschlichen Erlebniskategorien zu schildern. Schon der Untertitel „Was sie fühlen, wie sie kommunizieren“ zeigt dies. Dieser Ansatz brach mit dem impliziten Konsens, nichtmenschliche Lebensprozesse nur auf Verhaltensebene oder biochemisch zu beschreiben. Es ist daher sinnvoll, dies ideengeschichtlich genauer anzuschauen. Der sogenannte Morgan-Kanon (nach dem Psychologen Lloyd Morgan) ist eines der fundamentalen Deutungsprinzipien der Tierpsychologie: „In no case is an animal activity to be interpreted in terms of higher psychological processes if it can be fairly interpreted in terms of processes which stand lower in the scale of psychological evolution and development.“590 Der Primatologe de Waal (2001) sagt, dass dies das meistzitierte Prinzip der Psychologie sei, und es spielte eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Behaviorismus, der forderte, auch menschliches Verhalten ohne Rückgriff auf mentale Prozesse zu untersuchen. Der Kanon dient dem anscheinend sinnvollen Ziel, der Tendenz, nichtmenschliches Verhalten in menschlichen Kategorien zu deuten und zu interpretieren, einen Riegel vorzuschieben und gleichzeitig dem Umstand gerecht zu werden, dass wir aus kategorialen Gründen keinen Zugang zum Erleben anderer Wesen haben können. Gleichzeitig wirkt es aber normativ, weil es für eine große Zahl tierischer Verhaltensweisen unterschiedliche Deutungen gibt und man in diesem Fall derjenigen den Vorzug geben muss, die am wenigsten auf höheren psychischen Prozessen basiert. Macht man sich den zentralen Stellenwert des Morgan-Kanons klar, überrascht es nicht, dass Peter Wohllebens Ausweitung anthropozentrischer Beschreibungen auf Pflanzen und Ökosysteme ein noch viel radikalerer Bruch ist. Daher stellt sich die Frage, was von dem Kanon zu halten ist. Die Forderung, nichtmenschliches Verhalten auf eine bestimmte Art zu interpretieren, basiert nicht auf empirischen Erkenntnissen über die Existenz oder Nichtexistenz nichtmenschlicher Formen des Bewusstseins, sondern ist eine dogmatische Setzung. Diese kann man ablehnen, ohne damit in Konflikt mit empirischer Forschung zu kommen. De Waal setzt beispielsweise bei einer Idee an, die man reflektierten Anthropozentrismus nennen kann und die den Morgan-Kanon ablehnt: „To endow animals with human emotions has long been a scientific taboo. But if we do not, we risk missing something fundamental, about both animals and us.“591 Dieser Anthropozentrismus ist reflektiert, da er sich der Tendenz zur anthropomorphen Interpretation nichtmenschlichen Verhaltens oder Daseins bewusst ist. Nimmt man diese interpretatorische Setzung zum Ausgangspunkt, bekommt dasselbe Verhalten eine andere Deutungsmöglichkeit und auch -notwendigkeit als im Fall
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des Morgan-Kanons. Dieser erzeugt eine Wahrnehmung, welche auf einer beliebigen Annahme basiert, die aber zentrale Folgen für unsere Wahrnehmung von nichtmenschlichem Leben hat, woraus dann wiederum normative Schlussfolgerungen für unseren Umgang mit ihm nahegelegt werden. Aber die implizite Normativität geht weiter, weil sie den Menschen in dem Sinne vereinzelt, als dass er sich einer „blinden“ Natur gegenübersieht. Diese Wahrnehmung ist aber nur narrativ erzeugt. Wohllebens Buch zeichnet aus (und damit erklärt sich wohl auch ein Teil seiner Faszination), dass es durch seine Deutungsangebote und Emotionalisierungen des Ökosystems Wald ein Angebot der Zugehörigkeit macht. Wald ist nicht mehr nur Ressource, sondern Teil eines Prozesses, an dem auch der Mensch teilhat. Diese „Romantisierung“ (im Sinne der Vorstellungswelt der Romantik) der Welt erzeugt Zugehörigkeit, verstößt aber nicht gegen die Prinzipien der Wissenschaftlichkeit. Und sie trifft auf ein Bedürfnis.
Bei Schweitzer wird eine tugendethische Vorstellung greifbar, nach der Moral nicht als Instrument der Regulierung von Interessenkonflikten gesehen wird, sondern die Vorstellung vorherrscht, dass ein Leben, welches anderem Leben nicht Platz einräumt und es um seiner selbst willen respektiert, kein gutes Leben sein kann. Der von ihm hierfür gewählte Begriff, Ehrfurcht vor dem Leben, ist auch ein direkter Verweis auf die Erfahrung des Erhabenen: Ehrfurcht stellt sich ein, wenn man die Gedankenlosigkeit des Alltags überwindet und dem Unbegreiflichen gewahr wird, das darin besteht, dass da Leben ist, das sich seiner selbst bewusst ist. Wer Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum erlebt hat, kennt vermutlich diese Erfahrung: Der Blick, der sich mit dem des Tiers findet, erzeugt sowohl Respekt als auch ein eigentümliches Gefühl der Zugehörigkeit. Wir wissen nicht, ob und was es empfindet, aber es lässt uns nicht gleichgültig. Schweitzer besteht darauf, dass es eine Form von falschverstandenem Eigeninteresse ist, dieser Erkenntnis auszuweichen, weil es letztlich die Würde und den Sinn des eigenen Lebens beschädigt. Diese Vorstellung findet sich im Buddhismus wieder: Let’s go back to Dogen Zenji saying, ‚To meet with your true self is to forget yourself.‘ As long as your brain is entangled, your knowledge is entangled with your own selfdynamic, inside of your skin, you are still a blind man. I mean that your state is still in utter darkness, so that there is no way to identify yourself with anything or anyone. Other people are utter strangers. Animals are kind of ghost-like, wind-like creatures to you. You have no feeling about them. In such a state, even if you feel you are a very fine
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human being, a pretty good shape of human being, still you are alone in this universe. It is like the state of Dr. Faust in Goethe’s Faust.592
Am konsequentesten weiterverfolgt wurde diese Richtung von der Deep-EcologyBewegung, die maßgeblich von Næss mitgeprägt wurde. Auch dort wird die Vorstellung vertreten, dass das Wohlergehen und Gedeihen allen Lebens ein Wert an sich ist. Tiere und Pflanzen haben Wert, unabhängig von ihrem Nutzen für Menschen. Die Reichhaltigkeit und Diversität von Lebensformen trägt hierzu bei und ist ebenfalls ein Wert an sich. Daraus entsteht ein ethischer Imperativ als Verpflichtung zur Erhaltung dieser Lebensformen, soweit sie nicht wiederum eine existenzielle Bedrohung für die Lebensform Mensch darstellen. Der letzte Punkt verweist dabei auf ein Problem der derzeitigen Debatte um Rechte von nichtmenschlichen Lebensformen und Ökosystemen, da typischerweise Interessenkonflikte ausgeklammert werden. Viren und Bakterien sind auch Lebensformen, aber die wenigsten Menschen würden so weit gehen, eine Infektion, die das eigene Leben gefährdet, systematisch in Kauf zu nehmen, um die Viren oder Bakterien zu schützen. Und der menschliche Stoffwechsel ist anders als der der meisten Pflanzen darauf angewiesen, anderes Leben zu töten, um am Leben zu bleiben. Dass diese Konflikte in der derzeitigen Debatte weitgehend ausgeklammert sind, ist vielleicht verständlich, weil es um die prinzipielle Anerkennung von Tierrechten geht und der Fokus auf dem unfassbaren Ausmaß unnötigen Leids für Tiere liegt, das mit der industriellen Haltung und Schlachtung verbunden ist. Gleichzeitig müssen solche Zielkonflikte ernst genommen werden. Das Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben kann als ein Kriterium des Interessenausgleichs gewertet werten. Es ist ein Prinzip des Minimalen Schadens, welches als moralisches Prinzip im Jainismus, Buddhismus und Hinduismus eine wichtige Rolle spielt. Es ist genau wie zwischen Menschen eine Entscheidung, eine Linie zu ziehen zwischen „uns“ und den „Anderen“ und zwischen vermeidbarem und unvermeidlichem Schaden. Aber warum sollte man noch weiter gehen und auch nichtanimierte Materie einbeziehen? Dies hat wiederum mit Erfahrung bzw. Erleben zu tun. Wer einen wichtigen Teil seines Lebens in den Bergen verbringt, versteht mit zunehmendem Wissen, dass ein Berg eine Art Persönlichkeit besitzt und dass man diese respektieren muss. Ebenso ist es mit dem Meer. Wissen bedeutet hier, dass man eine Ortskenntnis (sense of place) entwickelt: Wenn man lange genug an einem Ort lebt und sich auf ihn einlässt, versteht man zunehmend das „Wesen“ des Ortes, die Zusammenhänge von Geologie, Klima, Flora und Fauna. Man versteht, welche Verhaltensweisen dem Ort angemessen sind und welche nicht. Und man 350 |
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versteht seinen Platz an diesem Ort. Ein ernsthaftes Sicheinlassen auf einen Ort führt zu einem Gefühl von Eingebundenheit in Prozesse, die größer sind als man selbst, aber auch von Verbundenheit, Verantwortung und einem Verständnis, dass langfristig für einen Selbst nur gut sein kann, was auch gut für den Ort ist. Das Gefühl von Harmonie in einer schönen Landschaft (siehe Kap. 12) hat sicherlich evolutionäre Wurzeln: Die Landschaft kann ernähren und bedroht nicht. Aber das Gefühl geht darüber hinaus, auch erhabene Landschaften werden in ästhetischen und ethischen Kategorien wie Harmonie und Würde wahrgenommen. Man kann dem Land die Würde nehmen, indem man invasiv eingreift. Die industrielle Nutzung des Landes hinterlässt Narben, die einen Schrecken angesichts des eigenen Tuns erahnen lassen. Dem kann man nur aus dem Weg gehen, wenn man sich dem Land entzieht. Ähnlich wie wir uns den unangenehmen Gedanken an die Arbeitsbedingungen der meisten Näherinnen, die billige T-Shirts möglich machen, fernhalten können, weil diese in Bangladesch leben, halten wir uns den Missbrauch des Landes vom Leib, weil dieser nicht vor unserer Haustür stattfindet. Jeweils bleibt der Missbrauch nur als Ahnung eines Schreckens am Rande des Sichtfelds erhalten. Der Neue Animismus trägt diesem Umstand Rechnung, er ist ein Bündel von Narrativen und daraus entstehenden Wahrnehmungsweisen, welches ein nachhaltiges Handeln befördert, unabhängig von irgendwelchen metaphysischen Behauptungen über das „wahre Wesen der Natur“. Aber er ist mehr als das, er erlaubt es auch, Sinn und Zugehörigkeit zu etwas zu empfinden, das viel größer ist als das „kleine Selbst“. Der Neue Animismus ist eine Gegenbewegung zu bestimmten Vorstellungen der Moderne mit der Annahme eines Cartesischen Dualismus, der zu einer nur gedanklichen, aber gleichwohl wirkmächtigen Trennung von Mensch und Natur, Körper und Geist, außen und innen, Objekt und Subjekt etc. führt. Ein zentraler Referenzpunkt dieser Denkrichtung sind die Arbeiten von Bruno Latour (1996), der in Zweifel stellt, dass der zentrale Dualismus zwischen Natur und Kultur im Alltagsleben jemals existierte. Gleichzeitig werden Begriffe wirkmächtig, wenn man die Distanz zu ihnen verliert und vergisst (oder niemals bemerkt hat), dass sie Wirklichkeit nur auf eine bestimmte Weise strukturieren, nicht aber identisch mit ihr sind. Dies gilt auch für die anscheinend objektive Idee von Rationalität und Vernunft: Der rein instrumentell gedachte Vernunftbegriff der Moderne kann in bestimmten Situationen extrem erfolgreich bei der Lösung bestimmter Probleme sein, doch ist eine unreflektierte Übernahme in andere Bereiche nicht nur nicht begründbar, sondern potenziell schädlich. Zum einen sehen Menschen sich in persönlichen Beziehungen und Sinnbezügen zu allen möglichen Dingen und Wo ist Bewusstsein?
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Lebewesen, sie bilden nicht nur eine utilitaristische Sphäre mechanistischer Objekte. Und zum anderen führt eine unreflektierte Übernahme der lokalen positivistischen Erkenntnismodelle mit ihren Dichotomien in andere Lebensbereiche zu einem Verlust an Sinn und einer nun im Bereich der Umweltkrise nicht mehr bestreitbaren Zerstörung der Lebensgrundlagen. Ähnlich wie Taylor (2007) argumentiert Gabriel (2021): To believe is to make a commitment to a set of symbols that assuage doubt. To believe is to passionately commit to a way of experiencing the world. Any given set of beliefs is real to anyone who shares it. […] In a secular age, our beliefs concerning the nature of the mind can’t be affirmed by any higher authority than our affective drive towards belief. […] The Enlightenment was a shift towards freedom of judgment by liberating individuals from dogma. It brought about a world where the space for religious belief became the space for opinion, political affiliation and consumerism. […] In this way, modernity takes up the energy of religious belief and produces substitutes such as professional sports, Marxism-Leninism, social justice and celebrity worship. […] Belief is an option, a choice between a set of theories or construals of reality.593
Wenn wir die Ergebnisse der modernen Epistemologie ernst nehmen (siehe Kap. 8), müssen wir eingestehen, dass damit jede Geschichte, auch eine wissenschaftliche Erklärung, Elemente eines Mythos trägt. Theorien, auch die besten, sind niemals veridikal und in diesem Sinne auch nicht „wahr“, sie sind, wie der amerikanische Pragmatismus betont, sinnvoll oder weniger sinnvoll hinsichtlich eines bestimmten Erklärungsziels. Dies lässt sich mit einer anderen Metapher nochmals neu fassen. Hoffman et al. (2015) verstehen bewusste Wahrnehmung als eine Benutzeroberfläche. Beim Computer ist eine solche nicht gut, wenn sie die Vorgänge im Computer möglichst realistisch beschreibt, sondern wenn sie Abstraktionen schafft, die es erlauben, mit den begrenzten kognitiven Fähigkeiten Entscheidungen zu treffen: [I]ts in part by hiding this complex structure that the desktop makes it easier to use the computer. Why? Because if you were forced to be aware of the true facts about circuits, voltages, and magnetic fields, when your goal was simply to edit a photo or write a paper, you would be wasting time, memory, and energy on truths of no relevance to accomplishing your goal. In similar fashion […] our perceptions have been shaped by natural selection to make it easier for us to act effectively in the world, so that we can survive and reproduce (or, more accurately, so that our genes can survive and repro-
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duce). Our perceptions have not been shaped to make it easy to know the true structure of the world but instead to hide its complexity.594
Das bedeutet nicht, dass Weltbilder und Theorie damit beliebig werden, es gibt schon eine Welt „da draußen“, die den Narrativen Widerstand leistet, aber wir befragen diese Welt immer aus der Perspektive unserer sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten innerhalb der durch unsere Sprache vorgegeben Strukturelemente und hinsichtlich unserer Ziele. Damit erfüllen sie einen Teil von Campbells Definition eines Mythos, tun sich aber schwer mit der Erfahrung von Sinn. Und vielleicht sind sie in diesem Sinne nicht die besten. Das dualistische Denken führt zu einem Abgetrenntsein, und die Idee der Unterwerfung der Welt unter den eigenen Willen zerstört diese und uns. Es sind Narrative der Dominanz und Kontrolle im Gegensatz zu Narrativen der Ehrfurcht und des Respekts. Die Debatte um das Romantisch-Erhabene zeigt, dass diese Elemente nur noch an den Rändern unserer Kultur vorkommen, und dort zunächst als und durch Schrecken. Der Moment des bliss entsteht durch ein Sicheinlassen auf das „Andere“, auf eine Form des Animismus, wenn man so will.
Anwendungsfall: John Muir Muir ist eine für die US-amerikanische Umweltbewegung zentrale Figur. In seinen Schriften verweist er an vielen Stellen auf die transformative Erkenntnis einer tieferen Wahrheit im Angesicht der Natur bzw. einer Konfrontation mit „Wildnis“. Der von ihm hierfür gebrauchte Begriff der good tidings (frohe Botschaft) entstammt seiner christlichen Erziehung und hat eine ähnliche Bedeutung wie der Begriff Satori im Zen-Buddhismus: Er beschreibt ein Bekehrungserlebnis, welches sich einer rationalen, sprachlichen Vermittlung entzieht.595 Muir beschreibt eine erste, für ihn prägende transformative Erfahrung in seinem Bericht A Thousand Mile Walk to the Gulf of Mexico als Konsequenz der Konfrontation mit einer überwältigenden Natur. Diese Erfahrung entspricht einer Entgrenzung und einem Aufgehen im Moment, die sein zukünftiges Denken und Handeln zentral beeinflussen werden. Diese Erzählung einer tatsächlichen und spirituellen Reise enthält all die klassischen Elemente, die Campbell als Teil aller Kulturen in seinem Monomythos festgemacht hat. Es ist das Ziel dieser Reise, verwandelt durch Erfahrungen, die jenseits der sprachlichen Fassbarkeit liegen, Sinnerfahrungen zu machen, an denen er sein weiteres Leben ausrichtet. Dabei stellen für Muir ähnlich wie für sein großes Vorbild von Humboldt wissenschaftWo ist Bewusstsein?
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liche Erkenntnis und Erfahrungswissen keine Gegensätze dar, sondern sind für ein vollständiges Erleben des Menschseins notwendig sich ergänzende Zugänge zur Wirklichkeit.596 Transformative Erfahrungen werden sich bei Muir wiederholen, so oft er auf Wanderungen ist: „[Y]ou lose your conciousness of your separate existence: you blend with the landscape, and become part and parcel of nature.“597 Hinsichtlich seines Buchs My First Summer in the Sierra schreibt Simonson (1980): At the age of 31 he experienced – he did not merely speculate or understand – he experienced confirmation that all things are ‚hitched‘ together in the universe, that design is the eternal rule, and that his own heart pulsed in harmony with the universal throb. He discovered an awakened self, a ‚conversion‘ he called it, a sublime consciousness that to be truly in the mountains is to have them in oneself, quickening every nerve and filling every cell. [...] To Muir wildness was not a confrontation but a confirmation. To regard nature as an opponent was to alienate oneself from deep sources of identity, to have enmity toward one’s surroundings, and to make war upon them. [...] It needs to be said, however, that Muir was not guilty of the sentimentality that holds nature as a benign ‚friend.‘ Such a relationship as this he knows to be fraudulent, its implicit narcissism resulting in the same alienation. [...] For Muir, the real epiphany occurs when a person experiences the corresponding order between his own deep wildness and that of nature.598 In dramatischer Form findet sich die Erfahrung des Erhabenen in Muirs Beschreibung seiner Besteigung des Mount Ritter. Cohen (1984) fasst das dortige Geschehen wie folgt zusammen: „The walk to Ritter was a journey out of self, the wandering toward the center of the world which would later return the mountaineer to his true home in Tuolumne, a new man in a new world, yet the same man in a familiar place.“599 Während des Aufstiegs brachte er sich in eine Situation, aus der er sich nicht mehr befreien zu können glaubte, wodurch er unbeweglich in der Felswand eine Panikattacke erlebte: „My doom appeared fixed [...]. I must fall.“600 Aber genau in diesem Moment übernimmt etwas anderes die Führung: Life blazed forth again with preternatural clearness. I seemed suddenly to become possessed of a new sense. The other self, bygone experiences, instinct, or Guardian Angel – call it what you will – came forward and assumed control. Then my trembling muscles became firm again, every rift and flaw in the rock was seen as though a microscope, and my limbs moved with a positiveness and precision with which I seemed to have nothing at all to do. Had I been borne aloft upon wings, my deliverance could not have been more complete.601 Auch Muir kam durch die transformativen Erfahrungen durch und in der Natur zu einem Wissen, welches sich einer sprachlichen Vermittlung verschloss.602 Sein
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späteres Schreiben und Handeln als Umweltaktivist lässt sich daher als Versuch lesen, andere Menschen in Situationen zu versetzen, die eine transformative Erfahrung ermöglichen. Die Wegleitung zu diesem Punkt ist auch bei Muir sprachlich, er macht anderen Menschen die Erfahrungen, die eine Konfrontation mit „Wildnis“ bieten, durch Artikel und Bücher attraktiv, ohne dass die Artikel und Bücher selbst schon diese Erfahrung ermöglichen würden. Es ist das Angebot bestimmter Geschichten, die sich in das Selbstmodell der Lesenden integrieren lassen und die Neugierde erzeugen und am Ende transformative Erfahrungen ermöglichen. Dies erkennt man an seiner Einstellung zum Fischen. Prinzipiell lehnt er dieses Freizeitvergnügen ab. Später in seinem Leben sieht er aber das Potenzial dieses Sports; er stellt für Muir einen Einstieg in eine Naturerfahrung, die am Ende zu tieferen, transformativen Erfahrungen führen kann: „Catching trout with a bit of bent wire is a rather trivial business, but fortunately people fish better then they know. In most cases it is the man who is caught. Trout fishing regarded as bait for catching men, for the saving of both body and soul, is important [...].“603 In diesem Sinn sind auch die Rollen, in die Menschen schlüpfen, wenn sie sich in die Natur begeben, als Einbindung von Narrationsangeboten in das narrative Selbst zu werten, welche ein sich Öffnen gegenüber transformativen Erfahrungen erleichtert. Diese Rollenangebote machen eine Sehnsucht nach der Heldenreise symbolisch greifbar und verfügbar und sind damit als ein Zwischenschritt interpretierbar, der zum eigentlichen Punkt der Transformation führt. Die nichtsprachliche Erkenntnis, die sich vollzieht, besitzt für Muir stets auch eine ästhetische und moralische Dimension. Moralische Erkenntnis, so die Hypothese, ist nichtsprachliche Erkenntnis. Woran wird dies bei Muir deutlich? Das typische Muster von nicht rationalem Erkennen, Entgrenzung und Gegenwärtigkeit führt bei ihm zu einer auf Alexander von Humboldt aufbauenden Erkenntnis der Interdependenz alles Lebenden, die für ihn auch zu einer normativen Gleichrangigkeit menschlichen und nichtmenschlichen Lebens führt: „And what creature of all that the Lord has taken the pains to make is not essential to the completeness of that unit – the cosmos. The universe would be incomplete without man; but it would also be incomplete without the smallest transmicroscopic creature that dwells beyond our conceitful eyes and knowledge.“604 Collomb (2008) macht die ethische Dimension deutlich: „Above all, A Thousand Mile Walk can be seen an an onslaught on anthropocentrism. Muir sought to refute the centrality of mankind in nature. [...] Muir also argues against the Judeo-Christean rationale which puts natural resources at the mercy of man [...].“605 Die Entgrenzungserfahrung führt zur Erkenntnis der normativen Gleichrangigkeit allen Lebens. Und auch das motivationale Element klingt an, welches es braucht, um ein moralisches Handeln zu Wo ist Bewusstsein?
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erklären: Das Gute und das Schöne sind letztlich eins. Ein Verstoß gegen das moralisch Gebotene, so Muir, zerstört die natürliche Anmut, Würde und Schönheit der (eigenen) Natur und schadet letztlich jedem Einzelnen.
Man sieht die Welt, als ob man ein Teil von ihr wäre und nicht ihr gegenübergestellt. Es existiert ein Gefühl der Zugehörigkeit, welches nur durch ein Einlassen auf und eine Kenntnis des Orts entstehen kann, an dem man lebt. Eine Unkenntnis des Orts und seiner Prozesse ist eine Dimension der Entfremdung, die Teil des westlichen Lebensmodells ist. Diese Entfremdung führt zur Furcht und Angst vor dem „Anderen“ der Natur. Wie wir in Kap. 11 gesehen haben, spricht der Buddhismus von Interdependenz und Bedingtem Entstehen (Impermanenz) als den zwei zentralen Prinzipien der Existenz. Alles hängt mit allem in einem ständigen Prozess des Wandels zusammen. Jede Idee des Abgetrenntseins, Konstanz und eines stabilen „Selbst“, das der Welt gegenübergestellt ist, ist daher eine Illusion, die den richtigen Blick verstellt. Nath Hanh (1999) zeigt anhand eines Beispiels, was diese Prinzipien bedeuten: For a table to exist, we need wood, a carpenter, time, skillfulness, and many other causes. And each of these causes needs other causes to be. The wood needs the forest, the sunshine, the rain, and so on. The carpenter needs his parents, breakfast, fresh air, and so on. The each of those things, in turn, has to be brought about by other conditions. If we continue to look in this way, we’ll see that nothing has been left out. Everything in the cosmos has come together to bring us this table. Looking deeply at the sunshine, the leaves of the tree, and the clouds, we can see the table. The one can be seen in the all, and the all can be seen in the one. One cause is never enough to bring about an effect. A cause must, at the same time, be an effect, and every effect must also be the cause of something else. Cause and effect inter-are. The idea of a first or only cause, something that does not itself need a cause, cannot be applied.606
Diese Sichtweise ist nicht deckungsgleich mit dem, was man vielleicht Naiven Realismus eines westlich geprägten Menschen nennen kann, sehr wohl aber mit wissenschaftlicher Evidenz, z.B. aus der Ökosystemforschung. Aber auch die intuitive Wahrnehmung des eigenen Körpers mit scharfen Grenzen gegenüber einer Außenwelt ist aus wissenschaftlicher Sicht unhaltbar, da ständig Austauschprozesse zwischen ihm und seiner Umwelt stattfinden, die wir aber mit unseren Sinnen ohne technische Hilfe nicht wahrnehmen können. Und auch, wenn dieser Punkt schon oft gemacht wurde, ist es wichtig, ihn nochmals zu wiederholen: 356 |
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Menschen haben Grundbedürfnisse nach Nahrung, Sicherheit, Gemeinschaft etc. Was dies aber für das konkrete Handeln und Lebensmodell bedeutet, ist weitgehend kulturell geprägt. Diese kulturellen Prägungen können zu wahrgenommenen Bedürfnissen, Verhaltensweisen usw. führen, die dysfunktional sind. Da Kultur aber so früh und so stark wirkt, bleibt ihre Kontingenz weitgehend unsichtbar, wenn man sie nicht aktiv hinterfragt, und sie wird durch unsere Adaptivität auch zu unserer „zweiten Natur“. Dabei sind die narrativen Strukturen der westlichen Erzählung sehr wirkmächtig und werden global imitiert. Gleichzeitig sind sie weder nachhaltig für den Einzelnen noch für das Gesamtsystem. Noch einmal Nhat Hanh: [W]e lose ourselves in buying and consuming things we don’t need, putting a heavy strain on both our bodies and the planet. Yet much of what we drink, eat, watch, read, or listen to is toxic, polluting our bodies and minds with violence, anger, fear, and despair. As well as the carbon dioxide pollution of our physical environment, we can speak of the spiritual pollution of our human environment: the toxic and destructive atmosphere we’re creating with our way of consuming. We need to consume in such a way that truly sustains our peace and happiness. Only when we’re sustainable as humans will our civilization become sustainable.607
13.3 Gibt es normatives Wissen? Dass die Erfahrung des Erhabenen bei vielen Menschen eine normative und moralische Qualität besitzt, genügt der Ethik typischerweise nicht als Begründung für ethische Normen. Und die Hoffnung, dass sich aus der transformativen Kraft der Entgrenzungserfahrungen des Erhabenen eine Ethik des Schutzes der Natur als Nebenprodukt ergibt, kann trügerisch sein. Wir hatten in der Diskussion des Charismatisch-Erhabenen gesehen, dass die normative Kraft solcher Erfahrungen in alle Richtungen gehen kann. Wir hatten auch gesehen, dass z.B. im Buddhismus darauf hingewiesen wird, dass Mitgefühl, Güte und Mitfreude kultiviert werden müssen, damit von den Entgrenzungserfahrungen der Meditation nicht nur irgendeine, sondern eine wünschenswerte normative Kraft ausgeht. Können wir daher mehr sagen als nur, dass das Erhabene eine für die praktische Philosophie prinzipiell relevante, aber letztlich unverbindliche normative Kraft entfaltet? Zum einen ist da die von Kant und Schopenhauer für zentral befundene Qualität der Freiheit. Das Gewahrwerden der eigenen Freiheit, der Fähigkeit, vom vorgezeichneten Weg des Willens abzuweichen (Schopenhauer) oder sich als Gibt es normatives Wissen?
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moralfähige Person zu erleben (Kant), ist eine Art notwendige Voraussetzung für die Fähigkeit des Menschen zu moralischem Verhalten. Aber auch Schopenhauer sieht nur, dass der Mensch zu mehr als zu Egoismus fähig ist, und Kant rekurriert auf die Kategorischen Imperative als Verfahren, um Moral inhaltlich zu füllen. Moral als autonome Entscheidung wird überhaupt nur relevant, weil man sich im Moment des Erhabenen seiner Freiheit bewusst wird, aber dies genügt nicht. An dieser Stelle berühren wir explizit die alte Debatte zum Verhältnis zwischen Ästhetik als Philosophie der Urteilskraft und Ethik als Philosophie des guten (Moral der Lebensführung) und richtigen (Moral der Rücksicht auf andere) Lebens, ohne hierauf tiefer eingehen zu können. Aber es zeigt sich in dieser Erfahrung eine weitere Verschränkung oftmals getrennt behandelter philosophischer Teildisziplinen: Ethik und Ontologie sowie Epistemologie. • Wir hatten schon auf die etwas rätselhafte Aussage Næss’ (1988) hingewiesen, dass Ethik eigentlich Ontologie sei. Er bezieht sich dabei die Entgrenzungserfahrungen des Erhabenen, die durch die Auflösung der im Alltag gültigen Kategorien zeigt, dass die ontologischen Bindungen (commitments) bis zu einem gewissen Grad willkürlich, aber gleichzeitig normativ relevant sind: z.B. die Grenze zwischen Ich und Du ist typischerweise die Grenze, auf der Fragen des richtigen Lebens abgehandelt werden (was schulde ich dir?). Verschiebt sich diese ontologische Grenze, so verschiebt sich für Næss auch die Wahrnehmung von „ist für dich gut“ zu „ist für mein erweitertes Selbst gut“. Konkrete Fragen der Moral, so die wichtige Erkenntnis, folgen den Vorgaben der ontologischen Bindungen, was diese normativ macht. Für Næss haben wir hiermit auch die Möglichkeit der inhaltlichen Bestimmung von Moral. Dazu fehlt aber noch der nächste Punkt. • Die Epistemologie kommt ins Spiel, weil die experientielle Qualität der Erfahrung des Erhabenen unmittelbar Fragen nach den Quellen legitimer Erkenntnis stellt. Wir haben es hier mit der subjektiven Erfahrung zu tun, etwas gelernt oder erfahren zu haben, das wichtig und wahr ist, aber diese Erfahrung ist in ihrer Essenz nicht sprachlich. Es ist seit Humes Sein-Sollen-Dichotomie und Moores Naturalistischem Fehlschluss weithin anerkannt, dass sich normative und positive Propositionen qualitativ unterscheiden. Koppelt man dies mit bestimmten im vergangenen Jahrhundert populären Epistemologien wie dem Logischen Positivismus oder dem Kritischen Rationalismus (siehe Kap. 1), so ergeben sich drastische Folgen für die Möglichkeit einer normativen Ethik, also einer Ethik, die richtig und falsch, gut und schlecht inhaltlich begründen will. Beiden Epistemologien ist gemeinsam, dass nur analytische (wie „2 + 2 = 4“) oder synthetische (wie „dieses Glas ist gelb“) Propositionen 358 |
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potenziell wahrheitsfähig sein können. Normative Propositionen sind aber weder analytisch noch synthetisch, so dass sie prinzipiell nicht wahrheitsfähig sind. Wir finden hier das perfekte Anschlussstück zum Werterelativismus, über den wir in Kap. 1 gesprochen haben. Das Heraustreten aus Konventionen im Moment des Erhabenen lenkt die Aufmerksamkeit auf die Schlussfolgerung von Kap. 8: Ein alleiniges Hantieren mit synthetischen und analytischen Propositionen ist nichts weiter als metonymisches Geschubse. Eine experientielle „Grundlegung“ ist nötig, um diesem eine Bedeutung geben zu können. Epistemologien sind genau wie Ontologien stets auch normativ, sie können sich nicht am eigenen Schopf in die Bedeutung ziehen. Und es scheint so zu sein, dass die normative Qualität experientieller, körperlicher, affektiver Erfahrung eben dieses fehlende Bindeglied ist. Es wird also erkennbar, dass auch der traditionelle Erkenntnisbegriff auf eine Epistemologie angewiesen ist, die diese Erfahrungen potenziell wahrheitsfähig macht, will man nicht jeden Prozess der Erkenntnisgewinnung der Beliebigkeit preisgeben. Und wir haben sie ja auf ganz natürliche Weise unmittelbar vor uns, weil wir diese Erfahrungen intuitiv für wahr halten. Dies sagt aber natürlich nicht, dass jede für wahr gehaltene Erfahrung auch als wahr anerkannt werden muss (wir qualifizieren ja auch analytische Propositionen wie „2 + 2 = 5“ als falsch). Aber auch das Gewahrwerden der Konstruktion der eigenen Weltanschauung hat eine ethische Qualität insofern, dass die Dinge plötzlich nicht mehr so sein müssen, wie sie einem zuvor erschienen sind. Dies macht erfahrbar, dass Grenzen auch ganz anders gezogen werden können, was die Alltagsmoral in Frage stellt und damit Spielräume schafft, neu über sie zu denken. Vom Naiven Realismus des Alltags geht eine normative und moralische Qualität aus, und diese wird durch die Erfahrung des Erhabenen gelockert. Aber all das genügt nicht, weil Zugehörigkeitserfahrungen und damit möglicherweise einhergehende Formen der Solidarisierung und Anteilnahme mit vielerlei möglich ist; sie lassen sich beispielsweise auch in den Dienst von Ingroup-Outgroup-Ideologien stellen. Für eine bestimmte normative Ethik benötigt man bestimmte Entgrenzungserfahrungen, und um diese zu rechtfertigen, muss argumentiert werden, dass sie für ein gelingendes Leben besser sind als andere. Beispielsweise im Buddhismus wird großer Wert darauf gelegt, dass die ethischen Dimensionen des Achtfachen Pfads beachtet werden. Seel (1995) hat einen Versuch vorgelegt, das gute Leben an das Naturschöne und damit eine bestimmte Form der Öffnung zu binden. Er fasst unter dem Begriff des Naturschönen sowohl schöne als auch erhabene Erfahrungen der NaGibt es normatives Wissen?
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tur zusammen und sieht in einer Orientierung des Lebens am Naturschönen ein Modell eines guten, gelingenden Lebens: Zur Anziehung des Naturschönen gehört, dass es in der Intensivierung oder Erweiterung unserer Entwürfe über unsere Entwürfe hinausgeht. [...] Das Naturschöne, darauf zielt die ethische Fortführung unserer ästhetischen Analysen, ist ein beispielhaftes Gegebensein der Form guten Lebens, die nicht an bestimmte Lebensentwürfe gebunden ist, vielmehr von diesen Entwürfen beachtet oder verfehlt werden kann.608
Aber warum sollte dieser Ansatz einen Vorteil gegenüber den üblichen Versuchen der Norm- oder Moralbegründung haben? Einen Grund hatten wir bereits gesehen: Mit den üblichen Epistemologien sind sie schlicht und einfach nicht erfolgreich. Aber es geht darüber hinaus. Die klassische Tugendethik vertrat die Position, dass das gute Leben nicht ohne das richtige Leben möglich ist. Zum guten Leben gehört, dem „Anderen“ gerecht zu werden. Wie in Kap. 1 argumentiert wurde, änderte sich dies mit der Moderne, der Moralbegriff verengte sich. Der Universalismus einer Erfahrung des Einsseins musste daher seitdem theoretisch und kognitivistisch durch die Fiktion eines Urzustands oder Schleiers des Nichtwissens rekonstruiert werden, um bestimmte Vorstellungen von moralischem Universalismus zu verwirklichen. Dies führt aber zu zwei Problemen. Zum einen muss eine Werterfahrung wie z.B. Nutzen in die Modelle integriert werden, ohne diese wiederum begründen zu können. Seel (1996) nennt eine solche Werterfahrung existenziell. Sie weist, wie die Emotionsforschung sagen würde, affektive Valenz auf. Sie grundiert jedes Denken und motiviert jedes Handeln (eine im lockeren Sinn mit Hume vereinbare Position). Beides, so wissen wir heute, ist höchstens hypothetisch voneinander trennbar. Diese Zerlegung ist daher psychologisch und neurowissenschaftlich unplausibel. Und die hinter einem solchen Schleier des Nichtwissens ableitbaren moralischen Normen bleiben aber als Pflicht dem Einzelnen auferlegt. Das richtige Leben kann in diesem Sinn nicht das gute Leben sein, weil man, um das Richtige zu tun, sich Zwang auferlegen muss. Die moralische Qualität der Erfahrungen des Erhabenen erinnert daran, dass dies nicht so sein muss und dass antike und östliche Tugendethiken hier ein wichtiges Argument auf ihrer Seite haben. Solche Erfahrungen qualifizieren sich für Seel als legitime ethische Erfahrungen, weil dies eine Situation ist, die nicht allein für mich oder dich, für Abend- oder Morgenländer, sondern für alle (unmittelbar oder mittelbar) gut ist. Ethische Erfahrung ist
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existenzielle Erfahrung, die in ein Bekanntsein mit der Qualität intersubjektiver Lebensmöglichkeiten mündet.609
Das gute Leben orientiert sich am Naturschönen und hat damit keine beliebige, sondern eine bestimmte ethische Qualität. Dies klärt noch nicht und nicht ein für alle Mal, was wann wie zu tun ist, aber es gibt einen verbindlichen Rahmen vor, in dem diese Fragen geklärt werden können. Erfahrungen sind Werterfahrungen, denen Menschen eine besondere Bedeutung geben. Die typische Werterfahrung des Erhabenen ist, dass nicht die Interessen des „kleinen Selbst“ relevant sind, sondern dass „Natur“ in einem umfassenden Sinn Zweck und nicht bloß Mittel ist.
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14. Und Nun? If anything is going to alter our destructive path, it’s a shift in consciousness. Until people start feeling a connection between their own body and mind and the rest of „nature“ – until they come to understand this as a continuum – they’re not going to care. David Hinton
Der Endpunkt klaustrophobischer Eingeschlossenheit innerhalb der Sprache, den die Postmoderne und die Philosophie des 20. Jahrhunderts erreicht haben (siehe Kap. 8), weist zusammen mit den Reflexionen zum Verhältnis von Erfahrung, Sprache und Wissen sowie den Konstruktionen des „Selbst“ und von Begriffen wie „Wildnis“ und „Natur“ in Kap. 11 und 12 eine Richtung, die zugleich eine positive Integration des Erhabenen als Grenzüberwindung als auch eine Form von Sinn ermöglicht. Wenn das Verhältnis von Sprache zu Wirklichkeit nicht mimetisch und schon gar nicht veridikal ist, wenn jede Theorie auf Bedeutungsressourcen außerhalb ihrer selbst angewiesen ist, ist jeder Moment der Erfahrung ein potenziell erhabener Moment des Kontakts (im Sinne Thoreaus). Nicht nur das große Spektakel, sei es in der „Natur“, sei es im Politischen, sei es im Denken, übersteigt unsere Fassungskraft, jedes Ereignis hat das Potenzial, sie zu übersteigen. Wahrnehmung ist notwendig Komplexitätsreduktion. Es ist nur ein Mangel an Aufmerksamkeit, die man dem Augenblick schenkt, der dies vergessen macht. Das romantische Erhabene drängelt sich vor und erlaubt es nicht, es zu ignorieren. Was dabei aber vergessen geht, ist der Abgrund unter jeder Erfahrung, das alltägliche Erhabene. Auch die im Morgenlicht glitzernden Tautropfen in einem Spinnennetz sprengen unsere Fassungskraft und erzeugen einen sense of wonder, wenn wir sie mit der richtigen Aufmerksamkeit betrachten. Walter Benjamin entwickelt den Begriff Aura, um die spezifische Wirkung des Betrachteten in der Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Betrachtenden auszudrücken: „An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“610 Das Beispiel Zweig zeigt, dass Aura keine Eigenschaft „besonderer“ Natur ist, sondern allen Dingen potenziell zu eigen ist. Dabei geht es Benjamin um die Einmaligkeit des Und nun?
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Moments, dem man sich öffnen kann, und in dem sich zugleich auch im Alltäglichen eine „Ferne“ zeigt: „Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft.“611 Diese Ferne verweist auf den Moment des Erhabenen mit seiner affektiven Koppelung von Ehrfurcht und einem sense of wonder. Eine positive Integration des Erhabenen kann daher bei der Kultivierung der Aufmerksamkeit beginnen, bei einem sich öffnen für das Wunder des Alltäglichen. Wie wir in Kap. 8 gesehen haben, hat jede Epistemologie immer einen normativen Kern, eine Perspektive. Begriffe und Theorien haben einen Alltagswert, indem sie Komplexität reduzieren und sozialen Austausch ermöglichen. Mehr aber nicht. Hinter diesem pragmatischen Wert liegt das unbestellte Feld des Unbezeichneten und Unbezeichenbaren, dem man sich öffnen kann, um den Moment der erhabenen Erfahrung als positive Kraft in den Alltag zu integrieren. Die Verwirrung, die die grundlegenden Strukturen von Weltdeutungen hinsichtlich eines Verständnisses des eigenen Orts in der Welt mit sich bringen, bietet einen Nährboden für weitere Misskonzeptionen des „Selbst“, auf die Næss (1988) hingewiesen hat. Bei ihm wie bei vielen anderen Denkern vor und nach ihm entsteht die Vorstellung eines besseren Lebens durch ein weniger theoretisch, sondern stärker auf unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen basiertes Verstehen des eigenen Körpers am eigenen Ort in der Welt. Daraus resultiert eine Veränderung des Interesses und des Verhaltens. Dies ermöglicht einen verantwortlichen, nachhaltigen Umgang mit „Natur“, sei es mit der eigenen Natur in Form von Sinnerfahrungen und Wohlergehen, sei es mit all dem „Anderen“, mit dem diese koexistiert. Næss spricht in buddhistischer Tradition davon, dass das westlich-individualistische Weltbild regelmäßig zu einer Fehlwahrnehmung des Selbst führe, er nennt dies ebenfalls das „kleine Selbst“. Diese Fokussierung ist eine Konsequenz einer Nichtauseinandersetzung mit zentralen Fragen des Lebens. Eine „reife“ Weltsicht führt auch für ihn zur Erkenntnis des Einsseins: „[W]e cannot avoid ‚identifying‘ our self with all living beings, beautiful or ugly, big or small, sentient or not.“612 Diese Behauptung deckt sich mit den typischen Entgrenzungserfahrungen im Moment des Erhabenen, über die wir gesprochen haben. Was versteht Næss unter Identifizierung? Die Lehre, die er aus Jahrhunderten und Jahrtausenden des Nachdenkens und Nachspürens in den verschiedensten Kulturen über die „wahre Natur“ des Selbst zieht, ist einfach: Man kann kein solches unabhängiges und stabiles Selbst finden. Wir benutzen den Begriff im Alltag, ohne dass ihm eine eigenständige ontologische Qualität zukommt.
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Und Nun?
Der Schritt zum ökologischen Selbst ist nach Næss mit einer Zunahme an Wohlergehen und Lebenssinn verbunden: Eine „Verbreiterung“ des Selbst führt dazu, dass das Potenzial des Lebens voller ausgeschöpft wird. Das experientielle Wesen dieser Behauptung macht es unmöglich, sie nachzuvollziehen, wenn man sie nicht selbst schon gemacht hat. Und gleichwohl steht ihre Richtigkeit für diejenigen, die sie teilen, völlig außer Frage. Russell weisst darauf hin: Make your interests gradually wider and more impersonal, until bit by bit the walls of the ego recede, and your life becomes increasingly merged in the universal life. An individual human existence should be like a river – small at first, narrowly contained within its banks, and rushing passionately past rocks and over waterfalls. Gradually the river grows wider, the banks recede, the waters flow more quietly, and in the end, without any visible break, they become merged in the sea, and painlessly lose their individual being.613
Für Næss (1988) hat diese Entwicklung zu einem ökologischen Selbst eine zentrale Folge für unser Verständnis von Moral und Ethik: Mit einem „kleinen Selbst“ sind moralische Forderungen immer Appelle an ein Pflichtgefühl. Eine Situation stellt sich als Interessenkonflikt dar, und um dem anderen das Seine zuzugestehen, muss man verzichten. Empfindet man eine tiefe Einheit mit allem Lebenden, so verschwindet der Interessenkonflikt, man handelt aus (erleuchtetem) Eigeninteresse. Hiermit lasse sich gesellschaftlich viel mehr erreichen als mit Moral oder Altruismus. Diese Vorstellung ist nicht neu, sondern belebt tugendethische Vorstellungen. Es muss kein ewiger Interessenkonflikt, keine innere Zerrissenheit zwischen Wollen und Sollen existieren. Wenn es aber kein „Selbst“ in diesem Sinn gibt, verschiebt sich die Perspektive auf den Begriff der Identifikation. Man kommt zum „erweiterten Selbst“ durch einen Akt der Freiheit, sich dafür zu entscheiden, Empathie, Mitgefühl und Liebe für das „Andere“ zu entwickeln und in diesem Prozess zu lernen, dass man in dem Maße, in dem man Andere zu lieben lernt, auch sich selbst zu lieben beginnt. Næss (1988) zitiert Fromm: „Love of others and love for ourselves are not alternatives. On the contrary, an attitude of love toward themselves will be found in all those who are capable of loving others. Love, in principle, is indivisible as far as the connection between ‚objects‘ and one’s own self is concerned.“614 Eine Entwicklung eines ökologischen Selbst ist ein Prozess der Realisierung dieses Lebenspotenzials, und damit ist etwas anderes gemeint als die materialistischen Ziele des „kleinen Selbst“, des ökonomischen Selbst: „The ego-trip interpretation of the potentialities of humans presupposes a marked underestimation of the Und nun?
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richness and broadness of our potentialities.“615 Die Idee der Entwicklung eines ökologischen Selbst kann auch als rein strategische Maßnahme gedeutet werden: Es ist in meinem Interesse, mich um die Umwelt zu kümmern, weil es mir sonst schadet. Dies könnte man den „erleuchteten Egotrip“ nennen. Aber darum geht es Næss nicht, sondern um eine Veränderung nicht nur der theoretisch konstruierten, sondern der experientiell empfundenen Wirklichkeit.
14.1 Überwältigung und der Ausweg Kants Nehmen wir an, die Entwicklung eines ökologischen Selbst sei tatsächlich erstrebenswert, und Snyders Hinweis, dass der Mensch immer auch schon Natur ist, ist sicherlich auch nicht bestreitbar. Führt uns dies aber nicht in noch tiefere Probleme? Führt ein Naturbegriff, der uns als Bestandteil integral miteinbezieht, nicht unabwendbar dazu, den Menschen auch in seinem vielleicht unerleuchteten, aber gleichwohl realen Egoismus und Materialismus als Teil der Natur zu sehen und ihn damit auch in seinen destruktiven Tendenzen als eine unter vielen anderen „natürlichen“ Ursachen für Desaster zu sehen? Diese Vorstellung bietet gerade Menschen, die sich für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen engagieren, wenig Trost. Vielmehr erzeugt die Umweltkrise Angst im großen Stil, wie wir unter dem Stichwort climate anxiety bereits gesehen haben. Es gibt keine Distanz zum Burke’schen Gewitter, der Eliot’sche Donner am Horizont verspricht nicht den ersehnten Regen, sondern nur noch Zerstörung. Diese zersetzende Verzweiflung kennen Aktivistinnen und Aktivisten, und sie wirkt lähmend. Ganz grundlegend scheinen Menschen mit Schreckensgeschichten, die keine Hoffnung bieten, nicht umgehen zu können. Aus einer psychologischen Perspektive treten dann Reaktionen wie Verweigerung und Unterdrückung anstelle von innerem Wachstum auf: If Western society is too frightened of the consequences of its exploitation of nature, it will simply refuse to claim those consequences; it will banish its aggressive tendencies to the night, to unconsciousness, where they will get free to take their most literal, dissociated, and barbaric form. As psychotherapists always insist, you cannot break through to the next stage of consciousness unless you embrace your devil, and you cannot embrace your devil if you are too terrified of its destructiveness.616
Hier kann der Begriff des Erhabenen von Kant helfen: Auch im Moment der Überwältigung durch den Schrecken einer Zukunft, deren Abwendung jenseits 366 |
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unserer Möglichkeiten zu liegen scheint, bleibt die Freiheit, dazu eine Haltung zu gewinnen. Das ist das Umschlagen des Bewusstseins der Unterlegenheit als Sinneswesen in das Bewusstsein der Überlegenheit als moralisches Wesen. Wir finden in einem ganz anderen Zusammenhang einen ähnlichen Gedanken, den Frankl in seinem Buch ... trotzdem Ja zum Leben sagen (1959) formuliert hat. Dort verarbeitet er seine Erlebnisse als Häftling in Auschwitz. Eine seiner zentralen Beobachtungen aus dem Konzentrationslager ist, dass Hoffnung auf die Zukunft und die Fähigkeit zu lieben entscheidend für das Überleben und den Umgang mit der Situation waren: Da durchzuckte mich ein Gedanke: Das erstemal in meinem Leben erfahre ich die Wahrheit dessen, was so viele Denker als der Weisheit letzten Schluß aus ihrem Leben herausgestellt und was so viele Dichter besungen haben; die Wahrheit, dass Liebe irgendwie das Letzte und das Höchste ist, zu dem sich menschliches Dasein aufzuschwingen vermag. Ich erfasse jetzt den Sinn des Letzten und Äußersten, was menschliches Dichten und Denken und – Glauben auszusagen hat: die Erlösung durch die Liebe und in der Liebe!617
Das Erhabene erinnert auch daran, dass Kräfte jenseits der eigenen Kontrolle uns jederzeit alles nehmen können. Alles außer einem: „[D]ie letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen.“618 Hier treffen sich Kant und Frankl: Das Moralische und das Erhabene sind durch den elementaren Akt der Freiheit miteinander verwoben. In einem sehr intensiven Abschnitt des Buchs beschreibt Frankl, wie an einem der seltenen Momente der Rast vom Arbeitseinsatz ein Mitgefangener die Gruppe bat, den Sonnenuntergang anzuschauen. Frankl beschreibt die Erfahrung als eine Romantisch-Erhabene, die für den Moment den Schrecken verloren hat: Und wenn wir dann draußen die düster glühenden Wolken im Westen sahen und den ganzen Horizont belebt von den vielgestaltigen und stets sich wandelnden Wolken mit ihren phantastischen Formen und überirdischen Farben vom Stahlblau bis zum blutig glühenden Rot und darunter, kontrastierend, die öden grauen Erdhütten des Lagers und den sumpfigen Appellplatz, in dessen Pfützen noch sich die Glut des Himmels spiegelte, dann fragte der eine den andern, nach Minuten ergriffenen Schweigens: „Wie schön könnte die Welt doch sein!...“619
Überwältigung und der Ausweg Kants
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14.2 Entscheidung zur Verzauberung als everyday sublime und sense of place An diesem Punkt stellt sich die Frage, inwieweit wir uns für ein ökologisches Selbst, für eine Spiritualität des In-der-Welt-Seins entscheiden können. Zunächst einmal: Nichts im materialistischen Weltbild, an das wir uns gewöhnt haben, macht einen solchen Schritt auch nach den ihm immanenten Kriterien irrational oder unvernünftig (siehe Kap. 10, 12, 13). Die Ansicht, eine wissenschaftliche Weltsicht schlösse eine solche Entscheidung als rationale Entscheidung aus, basiert auf einem falschen Verständnis von Wissenschaft. Im Gegenteil führt eine strikte Anwendung wissenschaftlichen Denkens auf Fragen nach dem Selbst, nach Wahrnehmung und nach Eingebundenheit zur Einsicht, dass man bezüglich vieler der drängenden Probleme, die unsere Zeit ausmachen, Opfer der eigenen symbolischen Ordnungen geworden ist. Die Geschichten, die wir über uns und die Welt erzählen, sind so stark, dass sie unseren Blick auf uns und die Welt so strukturieren, dass wir nur Evidenz für sie finden. Damit bleibt die Konstruktion der symbolischen Ordnung weitgehend unsichtbar. Und trotzdem ist sie nur eine symbolische Ordnung. Rückverzauberung ist dann ein Schritt in eine neue symbolische Ordnung, die uns höflich zu einem Umgang mit „Natur“ (uns eingeschlossen) führt, die viel unnötiges Leid verhindern kann.
Anwendungsfall: David Haskell, The Forest Unseen (2012) Der Biologe David Haskell reflektiert in seinem Buch The Forest Unseen seine Erfahrungen, die er bei einem Experiment gemacht hat: Fußläufig von seinem Wohnort hatte er in einem Wald einen Quadratmeter Waldboden ausgeguckt, zu dem er im folgenden Jahr fast täglich zurückkehrte, um zu beobachten, was er dort sah, hörte, roch. Es ist eine naturwissenschaftliche und poetische Reflexion über das Wunder des Alltäglichen, welches wir für gewöhnlich übersehen, weil wir nicht hinschauen. Die Beschreibungen dieses Buchs sind eine Schule des Wahrnehmens, die deutlich macht, was ein sense of place und das everyday sublime für eine Kraft haben können. Er beobachtet Flechten, Moose, Insekten, Tierspuren, Frühlingsblumen, Herbstlaub usw. Der Quadratmeter Waldboden wird zu einem eigenen Universum, in dem man im Vorbeiziehen der Jahreszeiten langsam die Komplexität und Verbundenheit ungeahnter Ökosysteme zu verstehen beginnt. Man lernt auch etwas über die Grenzen des Verstehens und das Gefühl der Dankbarkeit, an diesen Prozessen teilhaben zu dürfen. Es gibt hier keinen
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Unterschied mehr zwischen Groß und Klein, bedeutend und unbedeutend. Das Wunder der „Natur“ offenbart sich nicht nur im Yosemite Valley oder im Himalaya, es wartet vor der eigenen Wohnungstür, wenn man nur bereit ist, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei verfällt Haskell niemals in eine Romantisierung der „Natur“, die er gegen „die Zivilisation“ ausspielt: To love nature and to hate humanity is illogical. Humanity is part of the whole. To truly love the world is also to love human ingenuity and playfulness. Nature does not need to be cleansed of human artifacts to be beautiful or coherent. Yes, we should be less greedy, untidy, wasteful, and shortsighted. But let us not turn responsibility into self-hatred. Our biggest failing is, after all, lack of compassion for the world. Including ourselves.620 Auch Technik, richtig eingesetzt, ist für ihn nicht Quelle von Entfremdung, sondern Mittel zu einem tieferen Verständnis: „We live in the empiricist’s nightmare: there is a reality far beyond our perception. Our senses have failed us for millennia. Only when we mastered glass and were able to produce clear, polished lenses were we able to gaze through a microscope and finally realize the enormity of our former ignorance.“621 Verzauberung entsteht, wenn sich naturwissenschaftliches Verständnis mit einem poetischen Blick trifft. Nach seinem Jahr hat er zwei Ratschläge, wie man sich diesen Erfahrungen gegenüber am besten öffnet: „The first is to leave behind expectations. Hoping for excitement, beauty, violence, enlightenment, or sacrament gets in the way of clear observation and will fog the mind with restlessness. Hope only for an enthusiastic openness of the senses.“622 Der zweite Rat borgt von der Praxis der Achtsamkeitsmeditation: „Our attention wanders, relentlessly. Bring it gently back. Over and over, seek out the sensory details: the particularities of sound, the feel and smell of the place, the visual complexities.“623 Was dabei entstehen kann, drückt Haskell am besten selbst aus: The fading dawn colors revive momentarily, and the sky shines with lilac and daffodil, layering colors in clouds like quilts stacked on a bed. More birds chime into the morning air: a nuthatch’s nasal onk joins the crow’s croak and a black-throated green warbler’s murmur from the branches above the mandala [square meter of land]. As the colors finally fade under the fierce gaze of their mother, the sun, a wood thrush caps the dawn chorus with his astounding song. The song seems to pierce through from another world, carrying with it clarity and ease, purifying me for a few moments with its grace. Then the song is gone, the veil closes, and I am left with embers of memory.624
Entscheidung zur Verzauberung als everyday sublime und sense of place
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14.2.1 Inspiration
Wie könnte eine solche Entscheidung für Sinn und Zugehörigkeit aussehen? Kann man sich von anderen Kulturen inspirieren lassen, wie wir dies anhand der Shanshui-Malerei gezeigt haben, ohne zugleich in eine problematische Form des „Orientalismus“ zu verfallen? Aufbauend auf die schon zuvor in Kap. 11 genannten Argumente weisen Lomas et al. (2017) darauf hin, dass gerade die Position, Konzepte anderer Kulturen aus der Debatte auszugrenzen und diese damit für unvergleichbar zu halten, eine Form von Orientalismus sei. Ein Konzept wie Achtsamkeit ist trotz seiner buddhistischen Wurzeln im Westen erfolgreich geworden, aber eben auf eine westliche Art. Eine weitergehende Beschäftigung mit dem westlichen Denken zunächst unvertrauten Konzepten kann ähnlich bereichernd sein. Wir haben es hier wiederum mit Grenzerfahrungen zu tun, deren Alternative gedankliche Mauern sind, die durch eine anscheinende Unüberwindbarkeit kultureller Grenzen begründet werden. Sprache formt die Art und Weise, wie wir die Welt erfahren und verstehen. Das ist einer der Gründe dafür, warum Lehnwörter existieren: Sie erlauben es, Dinge zu benennen, für die die eigene Sprache keinen Begriff hat und deren Benennung aber gleichwohl eine Bereicherung darstellt. Diese durch Lehnwörter geschlossenen Lücken verweisen gleichzeitig auf die übersehenen und unterbewerteten Phänomene einer Kultur. Welche Formen des Erlebens der Wirklichkeit gehen potenziell verloren, weil man in einer bestimmten Sprache und Kultur denkt und wahrnimmt? Hier müsste man für jede Sprache separat eine Analyse machen. Lomas (2019) hat die bisher einzige quantitative Analyse von nichtenglischen Begriffen durchgeführt, die keine Entsprechung in der englischen Sprache haben und die in den jeweiligen Sprachen etwas über das Verhältnis des Menschen mit der Natur aussagen. Ein Bezug zur englischen Sprache ist nicht ideal, aber aufgrund der relativen Nähe sind die Ergebnisse auch für die deutsche Sprache recht aufschlussreich. Seine Analyse ergab 216 Wörter, die er dann hinsichtlich ihrer Bedeutung analysiert und in drei Kategorien zusammengefasst hat: Wörter, die Bezug zu Sakralität, Bindung, und Anerkennung haben. Als passendste Überkategorie ergab sich ökologische Verbundenheit. Die Kategorie Sakralität erfasst die Idee, dass „Natur“ in irgendeiner Form numinos oder nicht gewöhnlich ist. Damit können, müssen aber keine religiösen Vorstellungen einhergehen. Dabei finden sich polytheistische (es gibt mehrere Götter in der Natur), animistische (die Natur ist „beseelt“) und pantheistische
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Vorstellungen einer „göttlichen Natur“ (aber ohne einen personalen Gott, Spinoza ist der wahrscheinlich bestbekannte Vertreter eines Pantheismus). Die Kategorie Bindung erfasst eher Ideen, die das Verhältnis des einzelnen Menschen zu „Natur“ betreffen. Dabei fanden sich Vorstellungen der Verflochtenheit, des Verwurzeltseins und der Sehnsucht. Der erste Begriff betont, dass der Mensch Teil eines größeren Ganzen ist, ein Mitglied einer ökologischen Familie. Der zweite verweist auf einen bestimmten Ort, an dem man sich auskennt und an den man gehört, den sense of place. Lomas (2019) verdeutlicht dies zum einen an dem Māori-Begriff Turangawaewae, der in etwa „Ort, an dem man stehen kann“ bedeutet. Und zum anderen an dem spanischen Wort Querencia, welches bedeutet: „deep sense of inner well-being that comes from knowing a particular place on the Earth; its daily and seasonal patterns, its fruits and scents, its soils and bird-songs. A place where, whenever you return to it, your soul releases an inner sigh of recognition and realisation.“625 Sehnsucht bezieht sich auf gemischte Gefühle, die auf einen verlorenen oder erwünschten Ort oder eine verlorene oder erwünschte Beziehung zu „Natur“ verweisen. Anerkennung bezieht sich auf die Wertschätzung, die „Natur“ entgegengebracht wird. Hierbei finden sich Begriffe, die den Genuss der Natur ausdrücken. Ein Beispiel ist Shinrin Yoku, die japanische Vorstellung des Waldbadens, die die psychischen und somatischen Vorzüge der Zeit im Wald hervorhebt. Ein anderes ist das norwegische Konzept des Friluftsliv, einer Philosophie des Lebens im Freien in Harmonie mit der Natur. Ein weiteres Thema ist Sensitivität: die Fähigkeit, aufmerksam zu sein und die Details der Natur wahrzunehmen. So unterscheidet man im japanischen 72 Mikrojahreszeiten (Kō), deren Wandel man nur mit der richtigen Aufmerksamkeit wahrnehmen kann. Die dritte Unterkategorie umfasst die ästhetische Qualität der Naturerfahrung. Wir hatten in Kap. 4 gezeigt, dass sich im Moment des Erhabenen ein Spezialfall gemischter Gefühle ereignet. Lomas (2016) untersucht drei Begriffe aus dem japanischen Zen, die gemischte Gefühle bezeichnen und bezüglich der Ideen von sense of place und everyday sublime wichtige Hinweise für eine Wahrnehmungsverschiebung geben, die Sinnerfahrungen im Alltag einfacher machen. Die Schilderung soll wiederum durch die Schaffung von Distanz Zugang zur eigenen Wahrnehmung vereinfachen. Der Begriff Mono No Aware hat eine ähnliche Bedeutung wie Sehnsucht. Er setzt sich zusammen aus Aware, „Feingefühl“ oder „Traurigkeit“, und Mono, „Dinge“. Er bezieht sich auf die Fähigkeit, von der Welt bewegt zu werden. Als positive Eigenschaft mag dies zunächst im Gegensatz zur buddhistischen Idee der Überwindung von Anhaftung, Tanha, erscheinen, in seiner konkreten BedeuEntscheidung zur Verzauberung als everyday sublime und sense of place
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tung illustriert er aber genau dies: Es geht um einen Ausdruck für ein Gewahrsein der Impermanenz des Lebens, womit zugleich die Idee der Impermanenz und Illusionshaftigkeit des Selbst und von Dukkha, Leid, aufgrund einer Weigerung, diese Illusionshaftigkeit und Impermanenz zu akzeptieren, einhergehen. Die Akzeptanz von Impermanenz wird auf der ästhetischen Ebene reflektiert, so dass man sie nicht nur akzeptieren, sondern sogar wertschätzen kann, wenngleich vielleicht mit einer verbleibenden Traurigkeit. Dies zeigt sich gut an einem Haiku des Dichters Issa: The dewdrop world Is a dewdrop world And yet ... and yet.626
In diesem „Und doch ... und doch“ kommt bei aller Einsicht in die Impermanenz und die Richtigkeit ihrer Akzeptanz die verbleibende Sehnsucht zum Ausdruck, dass die Dinge doch so bleiben sollen, wie sie sind. Traurigkeit wird aber kombiniert mit Dankbarkeit für die Erfahrung der Schönheit des Lebens, und die Vergänglichkeit selbst wird als Ermöglicherin dieser Schönheit gesehen. Mit dem Begriff Mono No Aware geht der Begriff Wabi-sabi einher,627 der ebenfalls ein gemischtes Gefühl bezeichnet. In diesem Begriff kommt eine Anerkennung all dessen zum Ausdruck, was normalerweise als imperfekt gesehen wird. Wabi hatte ursprünglich die Bedeutung von „einsam und verloren in der Natur“. Die Bedeutung wandelte sich dann in Richtung „unverfeinerte Einfachheit“, „Frische“ und „Stille“. Sabi bedeutet „Schönheit oder Stille, die mit dem Alter entsteht“.628 Prusinski (2013) schreibt, Wabi-sabi brächte eine „crude or often faded beauty that correlates with a dark, desolate sublimity“629 zum Ausdruck. Wabi bezieht sich dabei auf Wertschätzung von Impermanenz, es ist eine Einstellung den Dingen gegenüber: Are we to look at cherry blossoms only in full bloom, the moon only when it is cloudless? To long for the moon while looking on the rain, to lower the blinds and be unaware of the passing of the spring – these are even more deeply moving. Branches about to blossom or gardens strewn with faded flowers are worthier of our admiration.630
Beispielsweise ist die als Kintsugi bezeichnete Praxis, zerbrochene Keramik mit Gold zu reparieren, so dass die Bruchstelle sichtbar bleibt und dem Objekt eine neue Qualität verleiht, Ausdruck dieser Ästhetik.
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Abb. 21: Wabi-sabi: verrottende Blätter.
Schönheit und Erhabenheit kommen hier zusammen: die Traurigkeit über die Impermanenz allen Daseins kann überwunden werden, indem man die Welt und seine eigene Rolle in ihr aus der Perspektive von Wabi-sabi sieht. Damit entsteht eine Transformation, eine Neubewertung der Kriterien von schön und hässlich, gut und schlecht, perfekt und imperfekt. Verwitterndes Holz, zerfallendes Laub, blättrige Farbe an einer Tür: Alles kann eine Schönheit entwickeln und zum Ausdruck des Erhabenen werden, wenn es mit der richtigen Aufmerksamkeit betrachtet wird. Koren (1994) brachte dieser Idee eine größere Aufmerksamkeit im Westen: Beauty can be coaxed out of ugliness. Wabi-sabi is ambivalent about separating beauty from non-beauty or ugliness. The beauty of wabi-sabi is in one respect, the condition of coming to terms with what you consider ugly. Wabi-sabi suggests that beauty is a dynamic event that occurs between you and something else. Beauty can spontaneously occur at any moment given the proper circumstances, context, or point of view. Beauty is thus an altered state of consciousness, an extraordinary moment of poetry and grace.631
Hierzu muss sich aber die sinnliche Wahrnehmung für das öffnen, was immer schon da ist. Dabei gibt es für den Einzelnen nichts zu verlieren, vielmehr öffnet sich ihm eine Welt, die immer schon da war, die aber nun zum ersten Mal auch Entscheidung zur Verzauberung als everyday sublime und sense of place
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wahrgenommen, gelebt wird, siehe Abb. 21 für die komplexe Schönheit verrottender Blätter. Für Koren (1994) hat die Betrachtung der Welt aus der Perspektive von Wabisabi weitergehende Konsequenzen, sie befreit von Konventionen des Denkens hinsichtlich wichtig und unwichtig und erlaubt somit ein Leben in Autonomie und Verantwortung sich selbst und allem anderen gegenüber: Get rid of all that is unnecessary. Wabi-sabi means treading lightly on the planet and knowing how to appreciate whatever is encountered, no matter how trifling, whenever it is encountered. [...] In other words, wabi-sabi tells us to stop our preoccupation with success – wealth, status, power, and luxury – and enjoy the unencumbered life. Obviously, leading the simple wabi-sabi life requires some effort and will and also some tough decisions. Wabi-sabi acknowledges that just as it is important to know when to make choices, it is also important to know when not to make choices: to let things be. Even at the most austere level of material existence, we still live in a world of things. Wabi-sabi is exactly about the delicate balance between the pleasure we get from things and the pleasure we get from freedom of things.632
Yūgen ist das dritte gemischte Gefühl, welches die Wahrnehmung vervollständigt.633 Es bezeichnet eine unaussprechliche, geheimnisvolle Qualität des Daseins, die daran erinnert, dass jenseits der Worte, Konzepte und Konventionen etwas verbleibt, das für die Fülle der eigenen Existenz gleichwohl wichtig ist. Suzuki (1959) beschreibt es wie folgt: „It is hidden behind the clouds, but not entirely out of sight, for we feel its presence, it’s secret message being transmitted through the darkness however impenetrable to the intellect.“634 Das Wissen um die Wirklichkeit dieser Fülle besitzt aber eine affektive Qualität, die zutiefst bewegt „It is like an autumn evening under her colorless expanse of silent sky. Somehow yes if for some reason that we should be able to recall, tears welled uncontrollably.“635 Ein Gewahrsein der Begrenztheit einer bestimmen Form der Welterklärung und damit einhergehend einer bestimmten Form des Agierens in der Welt kann ebenfalls nur bereichern, weil dieses Gewahrsein die Wahrnehmung für das öffnet, was jenseits von Sprache und Konvention immer schon da ist. Man mag den Eindruck bekommen, dass insbesondere die Verweise auf das Erhabene fehlgeleitet sind, weil sich in der Debatte zur Universalität bzw. Kulturabhängigkeit der Erfahrung des Erhabenen die Auffassung findet, sie sei der japanischen Kultur fremd: „Yuriko Saito maintains that Japanese aestetic theorists do not make use of the category of the sublime. [...] Saito’s claim has been taken to be evidence that the capacity for the sublime is not a basic human one.“636 374 |
Diese Schlussfolgerung mag nahliegen, wenn man mit dem Erhabenen das große Naturspektakel meint, welches bei Burke herangezogen wird und auf das sich ein guter Teil der neuen Beschäftigung mit dem Erhabenen fokussiert.637 Wir hatten aber gesehen, dass diese Sicht unnötig verengt ist und dass das Erhabene durchaus auch im Kleinen liegt. Hiervon ausgehend erscheint es plausibel, dass man an der falschen Stelle gesucht hat. Gerade das Gefühl Yūgen eignet sich, dies aufzuzeigen. Lomas et al. (2018) schreiben: Thus, yūgen reflects the notion that the mystery of existence may be ineffable and elusive, and beyond rational understanding, but nevertheless can be sensed in some inchoate, intuitive way. [...] However, what is unusual and potent about yūgen is the apparently ‚ordinary‘ nature of the phenomena that can evoke it [...]. Western conceptions of peak experiences tend to imply that these can only be experienced on some literal or metaphorical (e.g. developmental) peak. With yūgen though, there is the profound experience of the ordinary being revealed as extraordinary, as is lifting a veil on the sacred.638
Hier wird deutlich, was durch die Beschäftigung mit Konzepten wie XYūgen gelernt werden kann: Der westliche Blick auf das Erhabene ist ein kultureller, daraus folgt aber nicht, dass die Erfahrung nicht universell sein kann. Die Tatsache, dass sie sich in anderen Kulturen an anderen Phänomenen manifestiert, inspiriert und erlaubt eine Anpassung der eigenen Perspektive auf dieses Phänomen: Das everyday sublime ist möglich, aber wie bei dem Konzept der Achtsamkeit werden sich Vorstellungen darüber auf eine spezifisch westliche Art bilden. Lomas’ Studien drängen zwei Schlussfolgerungen auf. Zum einen wird deutlich, dass unsere als normal erachtete Naturerfahrung in Wirklichkeit sprachlich und kulturell gefärbt ist. Die Welt ist nicht so, wie wir sie sehen, wir konstruieren sie innerhalb bestimmter Grenzen. Und die unterschiedlichen Konstruktionen sind weitgehend nicht mehr oder weniger richtig, sondern einfach nur unterschiedlich. Da diese Konstruktionen aber zu bestimmten Wahrnehmungen, Empfindungen und Verhaltensweisen führen, können diese für das individuelle Wohlergehen und die ökologische Nachhaltigkeit unterschiedliche Folgen haben. Da es Konstruktionen sind, können wir sie aber auch ändern, um damit beides, Wohlergehen und Nachhaltigkeit, zu steigern. Nicht alle Begriffe lassen sich widerspruchslos integrieren, aber es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass ein klares Bekenntnis zu Wissenschaft auf der einen Seite und z.B. ein Gefühl des Aufgehobenseins in und des Einsseins mit Natur im Widerspruch miteinander sind. Und zum anderen zeigen die obigen Beispiele, wie bereichernd Entscheidung zur Verzauberung als everyday sublime und sense of place
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es sein kann, wenn man z.B. die Begriffe Shinrin yoku und Yūgen in den eigenen Sprachschatz aufnimmt und in Zukunft in Wäldern badet und sich dem Erhabenen im Gewöhnlichen öffnet und dort nicht nur spaziert. Der Verweis auf einen sense of place mag, nachdem der ähnliche Begriff „Heimat“ spätestens im 20. Jahrhundert seine Unschuld verloren hat (wenn er denn je unschuldig war), nachdem Millionen Menschen auch durch die Exzesse eines zutiefst inhumanen Heimatbegriffs in eben diesem Jahrhundert vertrieben wurden oder fliehen mussten, und angesichts der Realität von Flucht und Vertreibung im 21. Jahrhundert, zynisch oder bestenfalls naiv wirken. Thomä, Kaufmann und Schmid (2015) zeichnen die autobiografischen Spuren im theoretischen Werk wichtiger Intellektueller des 20. Jahrhunderts nach, und dort trifft man bei Personen wie Arendt oder Adorno immer wieder auf den Moment der Flucht und Vertreibung als Leerstelle, um die ihr Schaffen sich (auch) dreht. Oft sind dies, ungeachtet der intellektuellen Brillanz ihres Denkens, letztlich Geschichten eines tragischen Scheiterns, genau weil der Grund zu fehlen scheint, auf dem sie stehen und von dem aus durch Kenntnis Wissen und Verantwortung entstehen kann. Vertreibung und Flucht stellen die Idee des sense of place nicht in Frage, sondern zeigen, wie wichtig es im politischen Handeln ist, dass Menschen ihn entwickeln können. Sense of place hat dabei nichts zu tun mit einem herbeifantasierten Heimatbegriff, und er bindet auch nicht an den Ort der Geburt. Er lädt vielmehr ein, sich auf den Ort, an dem man sich – warum auch immer – gerade befindet, einzulassen. Einen anderen Ort gibt es in diesem Moment nicht. Ein solche Öffnung bedarf einer gewissen Ernsthaftigkeit, kein leichtes Unterfangen in einer ironischen und uneigentlichen Gesellschaft, in der das austauschbare und spielerische von Positionen einen eigenen Wert hat. Das Heroische besteht darin, diesen Schritt gleichwohl zu tun. 14.2.2 Ist das everyday sublime noch das Erhabene?
Der Umstand, dass sich im Erhabenen ein Element des Unaussprechbaren zeigt, wird gegen die Möglichkeit einer kohärenten Theorie des Erhabenen in Stellung gebracht (siehe auch Kap. 5): If we focus on the metaphysical status of the sublime object, our epistemology becomes problematic, but if we address instead the epistemological transcendence of a certain experience, we still seem forced to make some metaphysical claim about the object of that experience.639
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Der Umstand, dass das Objekt, an dem sich die Erfahrung des Erhabenen kristallisiert, sowohl vertraut als auch transzendent ist, erscheint laut Forsey in einen unauflöslichen Widerspruch zu führen. Aber wie wir gesehen haben, ist diese Doppelgesichtigkeit nicht nur der Regelfall jeder Erfahrung, sondern öffnet sogar das Konzept in Richtung eines everyday sublime. Es ist nur der Umstand, dass wir uns im Alltag an Erfahrungen gewöhnen und ihnen keine besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen, dass sie ihre potentiell verstörende Kraft verlieren. Das Erhabene hängt von der Einstellung ab, mit der man den Dingen begegnet. Die epistemologische Unzugänglichkeit ist keine Eigenschaft besonderer, „mysteriöser“ Objekte; jedes Objekt ist auf einer bestimmten Ebene epistemisch unzugänglich, und es sind nur die Gewohnheiten des Alltagsdenkens, die uns etwas anderes vermuten lassen. Wenn man dem Erhabenen aus diesem Grund die Theoriefähigkeit abspricht, so muss man es jeder anderen Erfahrung auch. Das bedeutet aber auch, dass man sich dieser Erfahrung aus den Perspektiven der emotionalen Erfahrungen und der Erfahrungen des Neuen nähern sollte: „When the object is perceived as familiar, it is not usually part of a stirring and moving experience, nor is it typically accompanied by an intense feeling of satisfaction.“640 Das hat auch etwas mit der Funktionsweise des Dopaminsystems zu tun, welche wir in Kap. 1 beschrieben haben. Das positive Neue führt zu Dopaminausschüttung, die aber mit der Wiederholung unweigerlich zurückgeht. Das ehemals Neue wird zur Normalität und daher weniger aufregend. Phänomenologisch gesprochen verschwindet es im Hintergrund. Bedeutet dies nicht, dass die Idee eines everyday sublime schon physiologisch unplausibel ist? Vielleicht kommt daher auch die verbreitete Meinung, das Erhabene sei notwendig an große, überwältigende Ereignisse geknüpft. Clewis (2018, S. 344) schreibt: „The ‚sublime,‘ I suggest, is paradigmatically predicated of objects or events perceived to be vast, grand, colossal, and/or powerful. Due to its size or might, such an object poses a risk or potential threat to the perceiver.“ Diese Aussage liegt nah, wenn man die Beispiele Burkes oder Kants betrachtet. Physiologisch plausibel rekonstruieren lässt sich dies wie folgt: Es kommt dann zu einer Aktivierung der Avoid-Systeme (wie z.B. der Amygdala) und aufgrund der Sicherung ebenfalls zu einer Aktivierung der Approach-Systeme (wie z.B. dem Dopaminsystem). Die Aufforderung, die wir schon verschiedentlich kennengelernt haben, den Augenblick nicht im Hintergrund verschwinden zu lassen, sondern ihn mit voller Aufmerksamkeit immer wieder neu zu erleben, kann aus dieser Sicht als eine Trainingsanleitung verstanden werden, den Tendenzen zur Habitualisierung entgegenzutreten. In dem Moment, in dem man gelernt hat, den Augenblick als einzigartig, den Tautropfen als die Verständnisfähigkeit übersteigend immer Entscheidung zur Verzauberung als everyday sublime und sense of place
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wieder neu wahrzunehmen, entkommt man der Flachheit des Alltags durch eine bewusste Aktivierung der Approach-Systeme. Bewusstsein, Interesse und Faszination (aber auch die negativen Gefühle wie Angst oder Ekel) sind aus Sicht der Predictive-Coding-Theorien (siehe Kap. 4) betrachtet gebunden an das Neue, an die Überraschung. In unserer kapitalistischen Kultur machen wir (wohl aus Mangel an Verständnis) uns diesen Gehirnmechanismus zu nutzen, indem wir immer neu konsumieren und dabei immer extremere Erfahrungen suchen. Diese Anpassung an die Funktionsweise unserer Belohnungssysteme ist angesichts der Umweltkrise zum Teil des Problems geworden. So etwas wie Achtsamkeit zeigt, dass es dazu eine Alternative gibt, die aber erlernt werden muss: die Fähigkeit, den Alltag immer wieder neu zu sehen. Aber kann man dieses everyday sublime noch sinnvoll als erhaben bezeichnen? Wo bleibt Burkes terror? Das everyday sublime fordert eine Offenheit im Alltag ein, ein Gewahrsein, dass man mit den Theorien, Erklärungen, Erzählungen des Alltags nur auf einer pragmatischen Ebene des Funktionierens operiert und operieren kann (siehe Kap. 8), dass die Phänomene aber darüber hinaus ihr „Geheimnis“ behalten. Hierin steckt ein Moment der Verunsicherung, der aber für Wachheit, Kreativität und Ehrfurcht wichtig ist. Für manche mag dies zu wenig sein, um die Erfahrung des everyday sublime als erhaben bezeichnen zu wollen. Man kann darin aber auch eine reife Form des Erhabenen sehen. Mit den klassischen Vorstellungen insbesondere des Dynamisch-Erhabenen geht immer eine gewisse Gewalttätigkeit einher: Da steht das nackte Überleben auf dem Spiel (wenn auch aus sicherer Distanz). Im schlimmsten Fall endet die Sache in Tod oder Trauma. Nach den exemplarischen Ausführungen zum Buddhismus (Kap. 11) erscheint diese Form des Erhabenen als Ausdruck einer fehlenden Kultur der Offenheit und Rezeptivität. Man benötigt die tiefe Krise, um wachgerüttelt zu werden und sich der Scheinsicherheit seiner behäbigen Alltagsweltsicht bewusst zu werden. Damit sagt die Gewalttätigkeit dieses Konzepts des Erhabenen viel aus über eine Kultur der Verdrängung und Nichthinterfragung. Das everyday sublime ist dann eine Erfahrung des Erhabenen, bei der man sich zugleich dem Zauber von „Natur“ öffnet und der Bedingtheit und Vorläufigkeit der eigenen Weltsicht gewahr ist. Jedes Phänomen, das für einen kurzen Moment als eines der Zehntausend Dinge aus dem Hintergrund hervortritt, trägt diese Ambivalenz in sich. Das everyday sublime macht diese erfahrbar und ist daher eine „kultivierte“ Form des Erhabenen.
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Und nun?
14.2.3 Und wenn das alles falsch ist?
Aber was, wenn der Glaube an eine durch die eigene Entscheidung sinnvolle Welt falsch ist? Wenn da nichts ist außer einer ungerichteten Evolution ohne Sinn und Ziel? Diese Frage geht wieder von einer objektiven Ontologie aus, davon, dass Theorien ein veridikales Abbild einer Wirklichkeit sind oder zumindest sein können. Aber dem ist ja nicht so, wie wir in Kap. 8 gesehen haben, und wir sollten unseren eigenen Theorien nicht auf den Leim gehen. Die Position, die hier entwickelt wird, ist weder ein radikaler Konstruktivismus, der behauptet, jede Wirklichkeit sei konstruiert, ohne Gegenwehr von dem „da draußen“, noch ein Aufruf zur Leugnung von bewährten Vorstellungen wie der Evolutionstheorie usw. Es geht vielmehr darum, diese Theorien auch in ihren Grenzen ernst zu nehmen und sie in ein Weltbild einzubetten, das auf allgemeinen Prinzipien der Vernunft basiert ist. Dazu benötigt man ein Weltbild, welches gewissermaßen „durchlässig“ ist zwischen unmittelbarer Wahrnehmung und sprachlicher Konvention, welches beiden Bereichen der Existenz, der pragmatischen, regel- und konsensbasierten und der unmittelbaren, experientiellen, ihren Raum lässt, so dass sie atmen und sich gegenseitig durchdringen können. Und das dort ansetzt, wo die Erfahrungen sich vollziehen, in einem konkreten Körper an einem konkreten Ort zu einer bestimmten Zeit. Vielleicht ist es das, was Rosa (2016, 2018) mit Resonanz meint. Und es gibt noch einen zweiten Punkt. Die materialistische Mainstreamepis temologie und ontologie ist zwar materialistisch, aber ohne Bezug zu einem konkreten Ort. Es wird implizit oder explizit ein Universalismus des Erkenntnisbegriffs unterstellt, als ob die sinnlichen, affektiven und kognitiven Fähigkeiten nicht von den Kräften der Evolution hinsichtlich einer bestimmten Umwelt geformt worden wären. Wir treffen hier also auf die Annahme, man könne sich kraft des theoretischen Denkens aus den Kontexten des eigenen Herkommens herausbegeben an einen Ort, an dem ein view from nowhere641 nicht nur als Möglichkeit, sondern als Gewissheit existiert. Diese Annahme samt den dazugehörigen scharfen Körper-Geist-Dichotomien, wie wir sie beispielsweise bei Descartes finden, ist eine Illusion und führt notwendig zur Unmöglichkeit, so etwas wie eine vernünftige, stimmige Verbindung zwischen Geist, Körper und Welt herzustellen. Das bleibt nicht nur ein theoretisches Problem, sondern wirkt sich auf das Empfinden des In-der-Welt- und In-einem-Körper-Seins aus: Man ist nicht Körper in Welt, man „hat“ einen Körper und steht einer Welt gegenüber. Diese Position führt aber notwendig in einen Skeptizismus, bei dem wir nicht mal mehr
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sicher sein können, dass eine Außenwelt überhaupt existiert: Das „Andere“ entsteht im Denken schon als der eigene Körper in der Welt. Hier hilft der Blick in andere Kulturen und ihre Epistemologien, Ontologien und damit einhergehend sprachlichen Erzeugungen von Wirklichkeit. Die Unterschiede machen eine andere Sichtweise viel plausibler: Will man nicht die unplausible Annahme vertreten, dass alle Kulturen außer der eigenen sich geirrt hätten, muss man sich eingestehen, dass Epistemologie und Ontologie immer relativ zu der Welt sind, in der sie entstanden sind. Dieses Wissen ist wichtig für die Verortung der eigenen Überzeugungen. Gleichzeitig kann ein Blick auf andere Weltbilder Anregungen für die Weiterentwicklung des eigenen geben (siehe Kap. 12). Preston (2003) nennt die Verwobenheit von Welt und Weltbild grounding of knowledge. Diese Position vermeidet nicht nur viele der Paradoxien, Sackgassen und Unentscheidbarkeiten des traditionellen Denkens (welches sich nur normal anfühlt, weil wir uns daran gewöhnt haben), sondern ist selbst im Gesamtgebäude des Wissens viel konsistenter begründbar: Implicitly recognized by all naturalized epistemologists is the basic but significant Darwinian insight that the place of humanity is firmly in the natural order. When human agents attempt to construct knowledge, they are acting as part of the physical and biological world, and obeying all the relevant natural laws. With epistemology naturalized, knowing is no different in kind from other natural activities such as breathing, talking, or digesting. A science that investigates how we know should accordingly proceed not much differently from a science that investigates how we digest.642
Preston entwickelt dabei eine perspektivöffnende Lesart von Kants Transzendenzphilosophie (siehe Kap. 6). Kant besteht darauf, dass Welt und Geist erst zusammen so etwas wie Wissen ermöglichen: Es ist die Struktur der Welt, die sozusagen durch den Filter der Struktur des Geistes gehen muss. Nur dies können wir erkennen. Der Filter der Struktur des Geistes besteht aus a priori gegebene Kategorien der Wahrnehmung. Aus einer evolutionären Perspektive sind diese rekonstruierbar als in einem Prozess der Adaption selektierte, artspezifische Wahrnehmungsstrukturen. Der evolutionäre Wert von Wahrnehmung und Wissen besteht darin, dass ein Organismus erfolgreich in einer komplexen Umwelt agieren kann. Darauf ist hören, sehen, riechen, schmecken, spüren ausgelegt. Wahrnehmung bindet Bewusstsein und Umwelt zusammen, das eine ist nicht ohne das andere denkbar und ist dabei immer hinsichtlich der Nützlichkeit für den Organismus gefiltert. 380 |
Und nun?
Diese „Erdung“ und „Verkörpertheit“ von Wissen verbindet einen Menschen fundamental mit einem Ort. Eine Epistemologie der „Erdung“ heißt anzuerkennen, dass substanziell unterschiedliche Orte zu substanziell unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen führen können und das dies legitim ist, ohne dass man hiermit einen universalistischen Anspruch auf Werte aufgeben muss. Die experientielle Komponente wird nun klarer: Sie hat einen Ortsbezug, der sich durch die vergangenen Erfahrungen eines Menschen in seiner Welt, an seinem Ort in ihm verkörpert hat. Diese Aspekte des Wissens lassen sich aber nicht adäquat mitteilen, Kommunikation wird damit immer auch zu einem vertrauensbasierten Akt der Zeugnisgabe: Es mag sein, dass mir der Hintergrund fehlt, den experientiellen Gehalt der Aussage eines Anderen vollständig zu verstehen, aber ich vertraue ihm. Dieser Akt des Vertrauens ist bei erhabenen, substanziell transformativen Erfahrungen existenziell; nur so entsteht spirituelle Entwicklung. Wir sind hier zurück bei der Frage, welchen Formen des Wissens wir Vertrauen schenken wollen. Nach dem Gesagten sollte klar sein, dass wir keine Gründe haben, den Erkenntnisbegriff klein zu machen, ohne dabei aber Unsinn zu akzeptieren. Der westliche Fokus auf entkörpertes, „reines“, theoretisches Wissen führt auch zu entkörperlichten Praxen und „entorteten“ Orten der Wissensgewinnung: Bibliotheken, Büros, Labore, die alle dem Ziel dienen, möglichst wenig sensorische „Ablenkung“ zu bieten. In solchen Räumen wird die Illusion gestärkt, dass der Geist allein an der Wissensgewinnung beteiligt ist. Es soll hier nicht gegen kontrollierte Experimente argumentiert werden, sie sind wichtig. Es ist aber aus der Perspektive einer ortsgebundenen Epistemologie einfach ein spezifisches Wissen, das hier gewonnen werden kann. Bate (2000) benennt diesen Zusammenhang und bringt ihn hinsichtlich sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung in den größeren Kontext von Erleben, Anpassung und Umwelt: Because they work indoors in their air-conditioned libraries, the modern analysts of ideology – like Frankensteins enclosed in their laboratories – have forgotten about the weather. […] Perhaps, however, to insist that the weather, considered as a synecdoche for the environment, is the prime influence which causes the differentiation of human communities is to be both premodern and postmodern. […] Move people too different environment and they will behave according to the conditions of that environment […].643
Inwieweit das so gewonnene Wissen Relevanz und Legitimität für lebensweltliche Fragen beanspruchen kann, ist aus dieser Sicht völlig unklar, wenn man es Entscheidung zur Verzauberung als everyday sublime und sense of place
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nicht in weitere Formen von Wissen einbettet. Es muss um eine Balance gehen zwischen Erfahrung und Reflexion dieser Erfahrung, nur hieraus entsteht Wissen, das Relevanz besitzt. Das soll das Wissen, welches in den Laboren und Büros dieser Welt geschaffen wird, nicht abwerten, im Gegenteil ist es als Baustein von zentraler Wichtigkeit. Aber zur lebensweltlichen Frage nach dem „wozu?“ muss dieser integriert werden in ein größeres Gebäude.
14.3 Fazit Das hier angedeutete Weltbild hat eine normative Basis und eine therapeutische Funktion: Es soll dazu dienen, verantwortlich mit uns und unserem Planeten umzugehen und dabei gleichzeitig unser Wohlergehen zu unterstützen. Jeder Löwenzahn, jeder Käfer, jede Wolke hat das Potenzial, die Fassungskraft zu übersteigen, den Tag zu verzaubern und uns als Teil von etwas zu erfahren, das größer ist als das „kleine Selbst“. Und hier kommen das Ästhetische und das Ethische ganz natürlich zusammen: Aus dem Banalen des Alltags wird das Erhabene des Alltags, wenn wir uns ihm zuwenden. Es verliert seinen Schrecken, indem es als Teil eines Prozesses kontinuierlichen Austausches und Wandels in der Zeit gesehen wird, dem man vertraut, und nicht als unveränderliches, doppelt abgetrenntes Selbst – Mensch getrennt von Welt und Geist getrennt von Körper. Damit verwandelt es sich in ein Schönes zweiter Ordnung. Voraussetzung hierfür ist, dass man sich Wahrnehmung unvoreingenommen nähert und sich Phänomenen mit der richtigen Aufmerksamkeit widmet. Der Schrecken des Burke’schen Erhabenen, das Zerstörerische des Gewitters in den Bergen sind dann ein Weckruf. Es geht darum, aufzuwachen aus einer narrativen Illusion des Abgetrenntseins und der Unveränderlichkeit. Snyders Versuch einer Überwindung von Dichotomien, die immer ein Inneres und ein Äußeres schaffen, die dialektisch zueinander damit zugleich Immanenz und Transzendenz implizieren, erlaubt einen anderen Zugriff auf das Erhabene. Es ist innerhalb einer solchen Ontologie nicht mehr ein Fingerzeig auf „das Andere“, sondern nur noch eine bestimmte Erfahrung des Menschseins, des Lernens. Sinn ist mit anderen Worten Ergebnis einer Entscheidung für ein spirituelles Leben als unbedingte Verpflichtung gegenüber der Wahrheit und geduldiger Praxis (siehe Kap. 10). Sinn entsteht aus einem vertieften Verständnis des Menschseins, von dem die Heldenreise spricht. Er resultiert aus Haltungen, die man entwickelt. Und dies hat potenziell wichtige Konsequenzen für den Umgang mit der Umweltkrise. Zunächst nochmal zurück zum Naturbegriff: Die Corona-Pandemie 382 |
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kann eine Erinnerung daran sein, dass wir der Natur nicht gegenüberstehen, sondern dass wir Natur sind. Die Umwelt ist nicht außen, sondern wir sind vollständig mit ihr verwoben und von ihr durchdrungen. Wenn wir nicht mit dieser Umwelt leben, die Leben gibt, dann wird sie Leben nehmen. Berger (2020) kommt zu dem Schluss: Will the pain of this pandemic point a new way forward? It hasn’t before, as every war attests. This time may be no different. But the pandemic has slipped a piece of knowledge into the body public that may not be easy to repress. It’s an insight scientists and poets have voiced for centuries.644
Er macht diese Verwobenheit anhand der Debatte zur Frage deutlich, ob ein Virus „lebt“. Die eine Position lautet, dass ein Virus nicht lebt, weil es andere Lebensformen benötigt, um sich zu reproduzieren. Aber das gilt ja auch für andere Lebensformen inklusive Menschen: Wir essen andere Pflanzen, ggf. Tiere und atmen Sauerstoff, andernfalls sterben wir. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass die großen Transformationen, die sich durch menschliches Handeln vollziehen und die die Umweltkrise hervorrufen, Teil von Natur sind. Eine normative Position kommt erst ins Spiel, wenn in unserem Bewusstsein Handlungsfolgen als problematisch erachtet werden, die ebenfalls Teil von Natur ist. Die moderne Lebensform und die grundlegenden Narrative führen dazu, dass der Zustand der Unverbundenheit mit Natur nach wie vor der Rückfallmodus der Wahrnehmung ist. Das ist aber eine Form der Illusion, die zu Fehlwahrnehmungen und zu Fehlern im Handeln führt. Bergers Schlussfolgerung ist: „Now we’re suffering environmental consequences like climate change and the loss of food security and viral outbreaks because we’ve forgotten how to integrate our endeavors with nature.“645 Dabei zerstören wir die Natur nicht. Wir sind Natur, die sich selbst transformiert. Das Problem ist dabei, dass dies unseren Platz in der Biosphäre verändert, gefährdet oder gar zerstört, weil sich die Prozesse der Selbstregulierung verändern. Unsere gesellschaftlichen und politischen Systeme sind selbst Teil dieses Selbstregulierungsprozesses, und auch hier drohen dramatische und gewalttätige Veränderungen. Wir sind aber auch Natur, die sich ihrer selbst bewusst geworden ist, und damit könnten wir eingreifen. Aber das vorherrschende Gefühl ist Furcht bis hin zu genereller, ungerichteter Angst. Die Umweltkrise weist alle Elemente des Erhabenen auf, nur dass für viele kein bliss erkennbar ist. Die Angst kann unterschiedliche Strategien des Umgangs erzeugen: Leugnung, Depression, Aggression. Wie wir bei der Analyse des Erhabenen gesehen haben, sind sie kein guter Ratgeber Fazit
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bei der Entwicklung von langfristigen Lösungen und der Persönlichkeitsentwicklung. Furcht dient evolutionär einer schnellen Reaktion auf Gefahren, der Sicherung des Überlebens, wenn die Schlange auf dem Weg liegt. Als Hintergrundwahrnehmung lähmt sie; man duckt sich weg und baut Mauern. Dabei ist seit dem Mythos von Ikarus und in der Neuzeit spätestens seit Mary Shelleys Roman Frankenstein auch eine Furcht vor den eigenen Fähigkeiten im westlichen Denken hinzugekommen, eine Furcht vor der Macht, Prozesse zu verändern, denen man nicht gewachsen ist. Das Erhabene richtet sich hier nach innen; es ist ein Schrecken bezüglich der befürchteten eigenen Natur. Die Leugnung des Klimawandels ist dann ein Versuch, das Problem abzuwenden, indem man den Kopf in den Sand steckt. Bruno Latour (2017) nennt dies die Out-of-this-World-Strategie, bei der man die materiellen Beschränkungen einfach leugnet und abgelöst und entfremdet von der Wirklichkeit existiert. Diese Strategie muss dabei die ganze Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit, Fakt und Fake auflösen, damit man von allen Beschränkungen befreit im Ungefähren rühren kann. Hier wird die Unmündigkeit, der Mangel an Selbstkenntnis und Tugendhaftigkeit, die Unfähigkeit zu einem angemessenen Leben nicht nur akzeptiert, sondern aktiv angestrebt. Und gleichzeitig verbleibt man in der Angst vor dem gefangen, das an all den selbstgewählten Grenzen lauert. Aber auch der Versuch, rein technische oder institutionelle Lösungen von Krisen zu finden, ist rekonstruierbar als ein Zurückschrecken vor einer vermuteten Grenze innerhalb der eigenen Natur, die irgendwo zwischen den Klischees von Homo faber (der technische Mensch) und Homo avarus (der gierige Mensch) liegt. Die Hoffnung, dass Homo faber die Lösung der Probleme finden wird, erspart eine Auseinandersetzung mit Homo avarus. Dies kann aber zu Verhaltensweisen führen, die der Problemlösung nicht angemessen sind und die auf einem Mangel an Selbstkenntnis und Tugendhaftigkeit basieren: The foundation of virtue is the desire to preserve our being and the knowledge of what is good for our self-preservation. Fear and despair ‚show a defect of knowledge and a lack of power in the Mind‘, and self-destructive feelings indicate ignorance of oneself and ‚very great weakness of mind‘. In this situation, we have poor knowledge of ourselves and what is good for us, and we are unable to think rationally.646
Hier beginnt sich der Kreis zu schließen: Eine tiefe Kenntnis des Selbst erfordert eine Infragestellung von Überzeugungen und Auseinandersetzung mit den eigenen Monstern, ein In-Kontakt-Treten mit „Natur“ und ein Denken und Handeln in größtmöglicher Autonomie. Ob eine solche Heldenreise buddhistisch oder 384 |
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anderweitig strukturiert wird, erscheint zweitrangig. Aus einer solchen Position handelt man frei von Furcht und Angst, aber man erreicht sie erst, wenn man sich auf die Reise nach innen gemacht hat. Dass man auch hier seinen Ängsten begegnet und dass diese Begegnung positiv ist, ist eine der Lehren aus der Auseinandersetzung mit dem Erhabenen. An dieser Stelle kann auch der Anspruch dieses Buchs zur Bewältigung der Umweltkrise verdeutlicht werden. Im Wesentlichen stehen drei Lösungsstrategien zur Verfügung, die miteinander verbunden sind. • Die Idee der technologischen Lösung setzt darauf, dass wir institutionell und individuell im Wesentlichen alles beim Alten lassen können. Wir bewältigen die Umweltkrise durch die Entwicklung nachhaltiger Produktions-, Vertriebsund Konsumtechnologien und sind ggf. sogar in der Lage, das Weltklima technologisch, z.B. durch die Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre, positiv zu beeinflussen. Homo faber löst das Problem, und Homo avarus kann weiter tun und lassen, was er will. Doch leider gibt es keine Garantie, dass es funktionieren wird. • Die Idee der institutionellen Lösung basiert darauf, dass wir durch eine Veränderung z.B. staatlicher Regulierungen Verhaltensänderungen herbeiführen, die vielleicht auch technologischen Wandel initiieren, die aber primär darauf angelegt sind, die individuellen Verhaltensmuster so zu verändern, dass sie verträglich mit Nachhaltigkeit werden. Die Schaffung handelbarer Emissionsrechte etc. fallen in diese Kategorie. Damit wollen wir das Problem lösen, indem wir Zwang gegenüber uns selbst ausüben: Homo faber entwickelt Sozialtechnologien, um Homo avarus in Schach zu halten. Es ist ein Zustand partieller Unmündigkeit. Auch dies wäre vor dem Ziel der Abwendung der Umweltkrise eine gute Lösung des Problems, aber auch hier gibt es keine Garantie, dass es funktioniert. Insbesondere in einer globalisierten Welt mit stark begrenzten Fähigkeiten nationalstaatlicher Regulierung und einer unterentwickelten Fähigkeit der Ausübung staatlichen Zwangs gegenüber international agierenden Akteuren, der hierzu nötig ist, bleibt es unklar, ob sich so das Problem der Organisation des Kollektivhandelns lösen lässt. Und auch unabhängig davon ist es unklar, ob Menschen, die auf Homo avarus gestimmt sind, an der Wahlurne solche Politiken überhaupt unterstützen würden bzw. ob der Politiker als Homo avarus ein Interesse daran hat. Im Angesicht der Größe des Problems ist jeder Schritt in die richtige Richtung wichtig, Technologie und Institutionen inklusive. Wir werden die Umweltkrise nur bewältigen können, wenn wir institutionelle Lösungen z.B. zur InternaliFazit
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sierung Externer Effekte so weit und so rasch es geht implementieren, und wir müssen auch auf die Kreativität der Naturwissenschaftlerinnen und Ingenieure zur Entwicklung technologischer Lösungsansätze bauen sowie auf die Anreize der Finanzmärkte, diese Entwicklungen zu finanzieren. Die Frage ist aber, ob dies genügt. • Daher basiert die Idee der transformativen Lösung, die wir hier versucht haben, plausibel zu machen, darauf, die Vermutung Lords (2020) ernst zu nehmen, einen Mangel an Selbstkenntnis und Tugendhaftigkeit im Zentrum solcher Krisen zu verorten. Wie wir gezeigt haben, ist diese Vorstellung vereinbar nicht nur mit vielen Philosophien und Lehren in unterschiedlichen Kulturen sowie Zeiten, sondern wird auch durch wissenschaftliche Forschung gestützt: Menschen verfügen über ein Entwicklungspotenzial, welches symbolisch durch die Heldenreise beschrieben wird. Mit zunehmender Selbstkenntnis schwindet die Wichtigkeit des „kleinen Selbst“, und Dinge wie Verbundenheit und Verantwortung nehmen an Relevanz zu. Man entwickelt sozusagen Homo faber und Homo avaris weiter zu Homo sapiens, dem weisen Mensch, der seinen Namen verdient. Hiermit macht man nicht nur die Unterstützung institutioneller Lösungen wahrscheinlicher, sondern transformiert das totalitäre Element dieser Ansätze (der Mensch übt Zwang gegenüber sich selbst aus, damit er eine Zukunft hat) in eine Situation der Freiheit im Sinne von Freiwilligkeit aus „Selbst“-Kenntnis. Aufgrund des Problems des Kollektivhandelns wird man nicht ohne institutionelle Lösungen auskommen, aber sie haben nicht mehr den Charakter eines Zwangssystems. Bruno Latour (2017) spricht sich ebenfalls für ein neues Klimadenken aus, welches auf Erkenntnissen und Werten von Interdependenz und Zusammengehörigkeit nicht nur der Menschen, sondern der gesamten „Natur“ basiert. Dem ist zuzustimmen, und wenn wir diese Werte schon hätten, würde auch unser Handeln ein anderes sein. Aber zugleich stellt sich die Frage, wie dieses neue Denken und Empfinden entstehen und verinnerlicht werden soll. Hierbei geht es nicht um Umerziehung zu einem neuen Menschen. Alle Versuche, den Menschen an eine theoretische Idee anzupassen, endeten in Tragödien. Es geht vielmehr um Selbstermächtigung durch die Vermittlung von Ideen eines anderen Lebens. Gelänge dies, so wohnte der Umweltkrise auch eine Chance zu einem besseren Selbstverständnis und damit Leben inne. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass es einer Verbindung des Kognitiven mit dem Affektiven, des Sprachlichen mit dem Körperlichen bedarf, damit Transformation möglich ist, und dass dies immer nur konkret, im eigenen Leben, am eigenen Ort 386 |
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stattfinden kann. Am Ende geht es um Unsicherheit und Vertrauen: Man begibt sich auf die Heldenreise, weil man darauf vertraut, dass die Transformationen das Leben reicher machen werden. Was hier bereitsteht, ist eine Art säkulare Pascal’sche Wette: Wenn wir die Wahl haben zwischen einem Weltbild, welches uns individuell in Sinnkrisen und kollektiv noch tiefer in die ökologischen Krisen führt, und einem Weltbild, bei dem wir Sinn, Wohlergehen und Nachhaltigkeit zusammendenken und empfinden können, dann sollten wir uns für letzteres entscheiden. Hier kommen das Erhabene und die Heldenreise letztmalig in diesem Buch zusammen. Es ist aber keine Heldenreise im Singular, es ist eine im Plural. Wir dürfen uns gemeinsam auf den Weg machen.
Fazit
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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
IPCC, 2018. IPBES, 2019. USGCRP, 2017; siehe auch IPCC, 2019. Podesta, 2019. Carmichael, 2019. Oades et al., 2020. Taylor, 2007, S. 303. Wilson, 2008. Fukuyama, 1992, S. 18. Reckwitz, 2017, insbesondere S. 285 ff. Reckwitz, 2017, insbesondere S. 273 ff. Siehe Reckwitz, 2017, insbesondere S. 350 ff. Brickman, Coates und Janoff-Bulman, 1978. Davidson, 2012. Goleman und Davidson, 2017. Frey, 2008; Oswald, 2013. Hidaka, 2012. Pickett und Wilkinson, 2015. Yeginsu, 2018. American Psychological Association, 2020. Mental Health America, 2020. Ehrenberg, 2004, S. 262. Reckwitz, 2017, S. 342 ff. Lieberman, 2013. Gable und Haidt, 2005. Sapolsky, 2017. Tremblay und Schultz, 1999; Schultz, 2007. Eisenegger, Haushofer und Fehr, 2011. Sapolsky, 2017. Bruner, 1994, S. 53. Bruner, 1994, S. 43; Bauer und McAdams, 2006, S. 85. Bruner, 1994, S. 53; Bauer und McAdams, 2006, S. 84–85. Dennett, 1991, S. 114. Beller, 2006. Butler, 2002, S. 302. Shakespeare, 1882, Akt II, Szene VII. McAdams, 2006 und 2008. Nin, 1971. Foster Wallace, zitiert nach McCaffrey, 1993. Murdoch, 2013, S. 91. Foster Wallace, 1996, S. 694.
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Galen, 2016. Varela, Rosch und Thompson, 1993, S. 238. Atran, 2015. Habermas, 1978, S. 142. MacIntyre, 1981. Debreu, 1959. MacIntyre, 1981, S. 13. Galtung, 1971. Tesser, 1988. Bayertz, 2006, S. 34. Bayertz, 2006, S. 37. Bloomfield, 2014. Rosa, 2016, S. 298. Rosa, 2016, S. 59. Baecker, 2015. Münkler, 2007. Hirschman, 1977, S. 134. Keynes, 1936, S. 374. Rotte, zitiert nach Metz und Seeßlen 2014. Sen, 1983. Neiman, 2010, S. 92. Neiman, 2010, S. 92. Thomä, 2020, S. 175 ff. Bailen, Sampas und Worden, 2009. Turner, 1974. Kinsella, 2013, S. 1. Franco, Blau und Zimbardo, 2011, S. 99. Franco und Efthimiou, 2018. Franco, Efthimiou und Zimbardo, 2016, S. 338. Kohen, 2013. Allison und Goethals, 2014, S. 170, 2015. Merleau-Ponty, 1948, zitiert nach Smyth, 2010, S. 178. Franco und Zimbardo, 2016, S. 496–497. Zimbardo, 2011. Zimmer, 1973. MacIntyre, 1981. Nhat Hanh, 2014. Campbell, 1988. Dik, Shimizu und O’Connor, 2016. Franco, Efthimiou und Zimbardo, 2016, S. 344.
82 Franco, Efthimiou und Zimbardo, 2016, S. 342. 83 Radin, Kerény und Jung, 1954, S. 7. 84 Hynes, 1993, S. 33. 85 Huxley, 1949, S. 13. 86 Lévi-Strauss, 1955. 87 Babcock-Abrahams, 1975, S. 186. 88 Klapp, 1954. 89 Kerouac, 1958. 90 Welsford, 1935, zitiert nach Bala, 2010, S. 56. 91 MacIntyre, 1981. 92 Babcock-Abrahams, 1975, S. 164. 93 Thomä, 2020, S. 186. 94 Thomä, 2020, S. 188. 95 Schiller, 1984 [1793]. 96 Leisch-Kiesel, 1996, S. 11. 97 Adorno, 1970, S. 343. 98 Kant, 2008 [1790], S. 900. 99 Smith, 1795, zitiert nach Prinz, 2013. 100 Ritter, 1963, S. 18. 101 Weiskel, 1976, S. 23 ff. 102 McAdams, 2001, 2006; Bruner, 2004. 103 Keltner und Haidt, 2003. 104 Shiota et al., 2007; Tam, 2013. 105 Conner und Silvia, 2015; van Elk et al., 2016. 106 Piff et al., 2015; Schnall, Roper und Fessler, 2010; Weinstein, Przybylski und Ryan, 2009; Zhang et al., 2014. 107 Kamitsis und Francis, 2013; Tam, 2013. 108 Howell et al., 2011; Rudd, Vohs und Aaker, 2012; Zhang, Howell und Iyer, 2014. 109 Piff et al., 2015; van Elk et al., 2016; Zhang et al., 2014. 110 Bockelman, Reinerman-Jones und Gallagher, 2013; Campos et al., 2013; Piff et al., 2015; Reinerman-Jones et al., 2013; van Elk et al., 2016. 111 Bratman, Hamilton und Daily, 2012; Shiota et al., 2007. 112 Neiman, 2010, S. 92. 113 Damasio, 2010, 2018. 114 Ekman, 1999. 115 Harré, 1986. 116 LeDoux, 1996. 117 Larsen et al., 2003, S. 222. 118 Lomas, 2017.
119 Lomas, 2017, S. 20. 120 Woolf, 2003 [1934], S. 213. 121 Gessen, 2020. 122 Fredrickson und Branigan, 2005. 123 George und Zhou, 2002; Friedman et al., 2007; Hutton und Shyam, 2010. 124 Cacioppo und Berntson, 1994; Cacioppo et al., 2000, Carrera und Oceja, 2007. 125 Prinz, 2010. 126 Aaker et al., 2008. 127 Cialdini et al., 1995. 128 Hui, Fok und Bond, 2009. 129 Henderson und Wakslak, 2010. 130 Rogers, 1961. 131 Gong et al., 2012. 132 Higgins, 1987. 133 Bandura, 1982. 134 Blascovich und Tomaka, 1996. 135 Tomaka et al., 1993. 136 Tomaka und Palacios-Esquivel, 1997. 137 Cacioppo et al., 2000. 138 Mikulincer et al., 2011. 139 Grant und Berry, 2011. 140 Friston, 2005; Friston und Kiebel, 2009; Clark, 2016. 141 Feldman Barrett, 2017. 142 Schultz, 2007. 143 Slater und Sanchez-Vivez, 2016. 144 Clark, 2013, S. 181. 145 Clark, 2016. 146 Sapolsky, 2017. 147 Shapshay, 2021, S. 4. 148 Elkins, 2011, S. 75. 149 Aagaard-Mogensen, 2017. 150 Joye und Bolderdijk, 2015; Shiota et al., 2007; Piff et al., 2015. 151 Pelowski et al., 2019, S. 19. 152 Fingerhut und Prinz, 2018. 153 Keltner und Haidt, 2003. 154 Konečni, 2011. 155 Menninghaus et al., 2015. 156 Hur et al., 2018; Ishizu und Zeki, 2014. 157 Pelowski et al., 2019, S. 20. 158 Kahneman, 2013. 159 Forsey, 2007. 160 Siehe aber z.B. Aagaard-Mogensen, 2017. Fazit
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206 Weiskel, 1976, S. 22. 161 Nicolson, 1963, S. 1 ff. 207 Eliot 1997 [1922]. 162 Taylor, 2007, S. 334. 208 Levenson, 1986, S. 192. 163 Taylor, 2007. 209 Mcnelly Kearns, 1987, S. 228. 164 Von Goethe, 2016 [1774]. 165 Herder, zitiert nach Blumenberg, 2020 210 Eliot, 1997 [1922]. 211 Longinus, zitiert nach Weiskel, 1976, S. 10. [1979], S. 51. 212 Weiskel, 1976, S. 4. 166 Blumenberg, 2020 [1979], S. 66. 213 Weber, 1972 [1921], S. 140. 167 Blumenberg, 2020 [1979], S. 74. 214 MacIntyre, 1981, S. 132. 168 Blumenberg, 2020 [1979], S. 78. 215 Rolin, 2003, S. 219. 169 Blumenberg, 2020 [1979], S. 83. 216 Rolin, 2003, S. 211. 170 Taylor, 2007, S. 344. 217 Herzog, 2007. 171 Thoreau, 1854, S. 101 ff. 218 Herzog, 2007. 172 Taylor, 2007, S. 345 f. 219 Jünger, 2013 [1920], S. 113. 173 Schmidt, 2011. 220 James, zitiert nach Kolak, 2006, S. 275. 174 Nhat Hanh, 1998, S. 97. 221 James, 1904, S. 846. 175 MacIntyre, 1981, S. 259. 222 Orwell, 1940. 176 Snyder, 2000, S. 200. 223 Burke, 2005 [1790], S. 244 f. 177 Taylor, 2007, S. 345. 224 Burke, 2005 [1757], S. 126. Es ist bemer178 Taylor, 2007, S. 348. kenswert, dass Burke hier Tiere mit in den 179 White, 2009, S. 1. Kreis der zu respektierenden Lebensformen 180 Longinus, 1991, S. 4. aufnimmt. 181 White, 2009, S. 19. 225 Grunberg, 2020. 182 White, 2009, S. 2. 226 Burke, 2005 [1790], S. 455. 183 Weiskel, 1976, S. 4. 227 Siehe hierzu Berlin, 2005. 184 Burke, 1980 [1757], S. 57. 228 Thomä, 2016, S. 395 f. 185 Ryan, 2001, S. 266. 229 Thomä, 2016. 186 Wordsworth, 1980 [1805]. 230 Atran, 2017. 187 Von Goethe, 1996, S. 98. 231 Siehe z.B. Chen und Chen, 2011. 188 Taylor, 2007. 232 Xu et al., 2009; Azevedo et al., 2013; Forgia189 Braman, 2000, S. 232 f. rini, Gallucci und Maravita, 2011; Todd et al., 190 Kant, 2008 [1790]. 2016; Cikara et al., 2014. 191 Kant, 2008 [1790], S. 859. 233 Choi und Bowles, 2007. 192 Kant, 2008 [1790], S. 900. 234 De Dreu und Nauta, 2009; De Dreu, Baas 193 Kant, 2008 [1790], S. 912. und Boot, 2015. 194 Kant, 2008 [1790], S. 913. 235 Siehe auch Atran, 2017. 195 White, 2009, S. 72. 236 Paul, 1804, S. 124 f. 196 Kant, 2008 [1790], S. 913. 237 Freud, 1992 [1927], S. 256. 197 Slingerland, 2014. 238 Critchley, 2002, S. 101. 198 Kant, 2008 [1790], S. 913. 239 Paine, 2018 [1794–1807]. 199 Kant, 2008 [1790], S. 914. 240 Babcock-Abrahams, 1975, S. 148. 200 Schopenhauer, 2021 [1819], § 39. 241 Freud, 1992 [1927]. 201 Shapshay, 2012, S. 500. 242 Johnson, 2012, S. 120. 202 Herold, 2013, S. 1. 243 MacMahon, 1998, S. 2. 203 Herold, 2013. 244 Anachkova, 2017, S. 79. 204 Améry, 1979, S. 87. 245 Danto, 2002. 205 Pikhala, 2019, S. 2.
390 |
246 Danto, 2002. 247 Herold, 2013. 248 Lyotard, 1984, S. 78. 249 Anachkova, 2017, S. 72–73. 250 Cage, 1961. 251 Herwitz, 1988, S. 799. 252 Cage, zitiert nach Tsioulcas, 2012. 253 Cage, 1991. 254 Herwitz, 1988, S. 801. 255 Herwitz, 1988, S. 801. 256 Lacan, 1992, S. 52. 257 Lacan, 1977 [1957], S. 157. 258 Shaw, 2006. 259 Lacan, 1992, S. 54. 260 Pynchon, 1965, S. 21. 261 Pynchon, 1965, S. 21 f. 262 Pynchon, 1965, S. 165. 263 Sapolsky, 2017. 264 Shaw, 2006. 265 Shaw, 2006. 266 Heubel, 2011. 267 Billeter, 2015, S. 61. 268 Albert, 1968. 269 Wittgenstein, 1969, S. 35. 270 Hrachovec, 2011, S. 32. 271 Wittgenstein, 1998 [1921], Satz 6.54. 272 Wittgenstein, 1998 [1921], Satz 6.45. 273 Goppelsröder, 2010, S. 106. 274 Kripke, 1982, S. 60. 275 Wittgenstein, 1953, § 198. 276 Frege, 1903, S. 253. 277 Priest, 2014. 278 Priest, 2014. 279 Russell, zitiert nach Pears und McGuiness, 1961, S. xxi. 280 Kassor, 2013, S. 406. 281 Priest, 2018. 282 Emerson, 2012 [1907], S. 84. 283 Emerson, 2012 [1907], S. 93. 284 Emerson, 2012 [1907], S. 111. 285 Freud, 1930, S. 456. 286 Thomä, 2007, S. 127 f.; siehe auch Conway, 1991. 287 Coombs, 2013, S. 322. 288 Rorty, 1989, S. 43. 289 Gursky, 1998, S. ix.
290 Ohlin, 2002, S. 24. 291 Doidge, 2008. 292 Weber, 1994, S. 9. 293 Nye, 1994. 294 Campbell, 2008 [1949]; Allison und Goethals, 2017; Franco und Efthimiou, 2018. 295 Campbell, 1972, S. 219. 296 Le Grice, 2013. 297 Campbell, 2004, S. 133. 298 Suzuki, 2006. 299 Hunt, 2007, S. 209. 300 Jäger, 2008, S. 158 ff. 301 Nhat Hanh, 1998, S. 86 ff. 302 Jäger, 2008, S. 162. 303 Van der Kolk, 2014. 304 Goleman und Davidson, 2017, S. 52. 305 Van der Kolk, 2014. 306 Yehuda et al., 2016. 307 Van der Kolk, 2014, S. 79. 308 Van der Kolk, 2014, S. 38. 309 Tobler et al., 2005; Fiorillo et al., 2003. 310 Van der Kolk, 2014, S. 96. 311 Van der Kolk, 2014, S. 99. 312 Van der Kolk, 2014. 313 Popova, 2016. 314 Dweck, 2017, S. 15. 315 Taylor, 2007. 316 Münkler, 2007. 317 Hölderlin, 1995, S. 491. 318 Thunberg, 2019, 03:47–04:03. 319 Nicholson, 2011, S. 183 ff. 320 Campbell, 2004, S. 96; Nicholson, 2011, S. 187. 321 Campbell, 2004, S. 111. 322 Campbell, 2004, S. 109 f. 323 Nicholson, 2011, S. 189. 324 Murdoch, 2013, S. 27. 325 Campbell, 2011, S. 383. 326 Campbell, 2011, S. 381. 327 Campbell, 2011, S. 380. 328 Pinkola Estés, 2004, S. lxi. 329 Rossi, 2013, S. xiv. 330 Rossi, 2013, S. xiv. 331 Campbell, 2011, S. 384. 332 Murdoch, 2013, S. 38. 333 Murdoch, 2013, S. 27 ff. Fazit
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334 Murdoch, 2013, S. 29 ff. 335 Pinkola Estés, 2004, S. xxv. 336 Murdoch, 2013, S. 32. 337 Murdoch, 2013, S. 395. 338 Murdoch, 2013, S. 36. 339 Campbell, 1972, S. 129. 340 Haidt, 2006; James, 1902; Newberg und d’Aquili, 2000; Underhill, 1913; Yaden, McCall und Ellens, 2015. 341 Brown, Ryan und Creswell, 2007; Hölzel et al., 2011; Vago und Silbersweig, 2012. 342 Vago und Zeidan, 2016. 343 Hölzel et al., 2011, S. 547. 344 Csikszentmihalyi, 1991. 345 Yaden et al., 2017. 346 Rudd, Vohs und Aaker, 2012. 347 Piff et al., 2015, S. 884. 348 Hood, 2002; James, 1902; Newberg und d’Aquili, 2000; Stace, 1960. 349 Yaden et al., 2017, S. 6. 350 Yaden et al., 2017, S. 7. 351 Pargament et al., 2004. 352 Roepke, 2015; Tedeschi und Calhoun, 1996. 353 Ingram, 1990; Lemogne et al., 2010; Lyubomirsky und Nolen-Hoeksema, 1995; Pyszczynski und Greenberg, 1987; Watkins und Teasdale, 2001. 354 Epel et al., 2009; Mellings und Alden, 2000; Woody et al., 1997. 355 Fredrickson, 2001. 356 Lewis, 2000. 357 Rozin et al., 1995. 358 Yaden et al., 2017, S. 8. 359 Newberg et al., 2001; Newberg und Iversen, 2003; Farrer und Frith, 2002. 360 Baumeister und Tice, 1990; Cacioppo et al., 2006. 361 Baumeister und Leary, 1995; Gable et al., 2004; Seppala, Rossomando und Doty, 2013. 362 Kok et al., 2013; Kok und Fredrickson, 2010; Porges, 2007; Thayer et al., 2012. 363 Leary, Tipsord und Tate, 2008. 364 Yaden et al., 2017, S. 10. 365 Yaden et al., 2017, S. 12. 366 Turner, 1966; van Gennep, 1909. 367 Allison et al., 2019, S. 11.
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368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411 412 413
Metzinger, 2013, S. 8. Metzinger, 2013, S. 30. Nhat Hanh, 1998, S. 89. Nhat Hanh, 1998, S. 105. Slingerland, 2014. Feldman Barrett, 2017. Pezzulo, 2013. Sapolsky, 2017. Duhigg, 2012; Eyal 2014. Wise, 2006. Aristoteles, zitiert nach Clayton, 2021. Bate, 2000, S. 78. Said, 1995. Wong, 2020. Sidertis, 2007. Sidertis, 2007. Nhat Hanh, 1998, S. 132. Sidertis, 2007, Kap. 2.2. Zimmer, 1973, S. 418. Goldstein, 2016. Zimmer, 1973, S. 419. Zimmer, 1973, S. 419. Goldstein, 2016. Goldstein, 2016. Bodhi, zitiert nach Wright, 2018. Cooper und James, 2005, S. 43. Burton, 2004. Burton, 2004; Sidertis, 2007. Zimmer, 1973, S. 427. Zimmer, 1973, S. 428. Zimmer, 1973, S. 430. Zimmer, 1973, S. 430. Batchelor, 2015, S. 61. Batchelor, 2015. Zimmer, 1973, S. 483 ff. Zimmer, 1973, S. 476. Harris, 2014. Harris, 2014. Harris, 2014. Goodman, 2009. Parfit, 1984. Paul, 2014. King, 1988. King, 1988. Feldman Barrett, 2017. Goldstein, 2016.
414 Flanagan, 2013. 415 Bruner, 1987, S. 15. 416 Nhat Hanh, 1998, S. 108. 417 Grof, 1972; Josipovic, 2014. 418 Yaden et al., 2017. 419 James, 1902. 420 Pérez-Remón, 1980. 421 De Castro, 2015. 422 Raichle et al., 2001. 423 Goleman und Davidson, 2017; LeDoux, 2015; Feldman Barrett, 2017. 424 Boden und Thompson, 2015. 425 Ulrich et al., 2014. 426 Lebedev et al., 2015; Palhano-Fontes et al., 2015. 427 Palhano-Fontes et al., 2015; Tagliazucchi et al., 2016. 428 Goleman und Davidson, 2017, S. 157. 429 Posner und Rothbart, 2009; Tang et al., 2009. 430 Berkovich-Ohana et al., 2013; siehe auch Brewer et al., 2011, sowie Travis und Pearson, 2000. 431 Hinterberger et al., 2014. 432 Buckner et al., 2008; Fox et al., 2014. 433 Sallatha Sutta, 2021. 434 Farb, 2007; Chambers, Gullone und Allen, 2009. 435 Otogawa, 2016, S. 60 ff. 436 Wadlinger und Isaacowitz, 2011; Reva et al., 2014. 437 Pavlov et al., 2015. 438 Brewer et al., 2011, S. 1. 439 Hawkes et al., 2014. 440 Xue et al., 2014. 441 Neff, 2011; Salzberg, 2011. 442 Hagelin et al., 1999. 443 Lutz et al., 2008. 444 Ricard, 2009. 445 Batchelor, 2015; Harris, 2014. 446 Goldstein 2003, S. 116 f. 447 Seel 1996, S. 59 f. 448 Batchelor, 2015, S. 61. 449 Thomä, 2007, S. 206. 450 Rousseau, zitiert nach Thomä, 2007, S. 207 f. 451 Nhat Hanh, 1998, S. 201 f. 452 Goldstein, 2003.
Zimmer, 1973, S. 431. Davidson, 2012. Birnbaum, 1979, S. 14. Hasan und Fumerton, 2017. Polyani, 1966. James, 1981 [1890], S. 221. Russell, 1912, S. 78. Hasan und Fumerton, 2017. Jones, 2016. Katz, 1978. Siehe Jones, 2016, für eine umfassende Diskussion. 464 Röllicke, 2001, S. 12. 465 Röllicke, 2001, S. 11. 466 Fredrickson und Anderson, 1999; Stokols, 1990. 467 Bethelmy und Corraliza, 2019, S. 2. 468 Silberman, 1993. 469 Bethelmy und Corraliza, 2019. 470 Shiota et al., 2007, S. 10. 471 Smith et al., 2020. 472 Vining und Merrich, 2012. 473 Snyder, 2000, S. 171. 474 Taylor et al., 1999. 475 Sternberg, in Cepelewicz, 2017. 476 Sternberg, in Cepelewicz, 2017. 477 Williams, 2017. 478 Taylor, 2021, S. 1. 479 Heubel, 2011. 480 Adorno, 1996, S. 155. 481 Adorno, 1996, S. 154. 482 Adorno, 1996, S. 154. 483 Ekman, 2007, S. 15 ff. 484 Taylor, 2007. 485 Ekman, 2007, S. 49 f. 486 Byron, 1812, Canto 3, Stanza 72. 487 Muir, 1992, S. 459. 488 Newman, 1984, S. 553. 489 Cronon, 1995. 490 Wordsworth, 1980. 491 Andrews, 1989, S. vii. 492 Bate, 2000, S. 136. 493 Mann, 2006. 494 Bate, 2000, S. 267. 495 Bate, 2000, S. 280. 496 Cronon, 1995.
453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463
Fazit
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497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516 517 518 519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534 535 536 537 538 539 540 541 542
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Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Abb. 2:
Abb. 3:
Abb. 4:
Abb. 5: Abb. 6a:
Abb. 6b:
Abb. 7: Abb. 8a:
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Abbildungsverzeichnis
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Abb. 8b: Zerstörung Dresdens. Hahn, W. (1945). Deutsche Fotothek. Deutsche Fotothek, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB). Abb. 8c: Atompilz. Foto: Courtesy of National Nuclear Security Administration / Nevada Field Office. Abb. 9: Charles Chaplin, Der große Diktator (1940). Quelle: Charlie Chaplin, „The Great Dictator“, 1940 United Artists File Reference # 32557_328THA, PictureLux / The Hollywood Archive / Alamy Stock Photo. Abb. 10: Barnett Newman, Vir Heroicus Sublimis (1950–1951), 242,3 cm × 541,7 cm. New York: Museum of Modern Art. ProLitteris, Zurich. Quelle: Peter Barritt / Alamy Stock Photo. Abb. 11: Robert Rauschenberg, Erased de Kooning Drawing (1953). San Francisco Museum of Modern Art. © Robert Rauschenberg Foundation RRF Registration# 53.D001. Abb. 12: Sebastião Salgado, Gold Mine, Brasil (1986). Tate Gallery London. © Sebastiao Salgado/*nbpictures.com. Abb. 13: Skidmore, Owings and Merrill, Burj Khalifa (2010). Quelle: Wikipedia. Https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=37469604 (letzter Zugriff am 02.06.2021). Abb. 14: Andreas Gursky, Rhein II (1999), 185 cm × 364 cm. © Andreas Gursky/Courtesy Sprüth Magers / 2021, ProLitteris, Zurich. Abb. 15: Ansel Adams, Clearing Winter Storm, Yosemite National Park (1940). Courtesy of The Ansel Adams Publishing Rights Trust © 2018. Abb. 16: Jackson Pollock, Number 1, (1949). Quelle: Wikimedia. Https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lavender-mist.jpg (letzter Zugriff am 02.06.2021). Abb. 17: Perera, A. & Coppens, M. O. (2019). Re-designing materials for biomedical applications: From biomimicry to nature-inspired chemical engineering. Philosophical transactions. Series A, Mathematical, physical, and engineering sciences, Figure 4. DOI: 377.10.1098/ rsta.2018.0268. Abb. 18a: Taylor, R., Newell, B., Spehar, B. & Clifffiord, C. (2005). Fractals: a resonance between art and nature. In: Emmer, M. (Hrsg.), Mathematics and Culture II, Heidelberg: Springer, 53-63, Abb. 1. Abb. 18b: Taylor, R., Newell, B., Spehar, B. & Clifford, C. (2005). Fractals: a resonance between art and nature. In: Emmer, M. (Hrsg.), Mathematics and Culture II, Heidelberg: Springer, 53-63, Abb. 5. 430 |
Abbildungsverzeichnis
Abb. 19: Albert Bierstadt, Among the Sierra Nevada Mountains (1868). Quelle: Wikipedia. Https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22007259 (letzter Zugriff am 02.06.2021). Abb. 20: Hsia Kuai (Xia Gui) (1195–1224), Ausschnitt und Detail aus Pure and Remote View of Streams and Mountains. © National Palace Museum, Taipei. Abb. 21: Wabi-sabi: verrottendes Blatt. © Martin Kolmar.
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Filmverzeichnis Bertolucci, B. (Regie) (2003). The Dreamers [Film]. Recorded Picture Company. Malick, T. (Regie) (2019). A Hidden Life [Film]. Elizabeth Bay Productions. Von Trier, L. (Regie) (2011). Melancholia [Film]. Magnolia Pictures. Worden, C. (Regie) (2008). One Fast Move or I’m Gone: Kerouac’s Big Sur [Dokumentarfilm]. Kerouac Films.
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Filmverzeichnis
Personen- und Sachverzeichnis A Achtfacher Pfad 72, 240, 258, 261, 274 Achtsamkeit 170, 228, 229, 241, 274 Achtsamkeitsmeditation 369 Vipassana 216 Adams, Anselm 287 Adorno, Theodor W. 50, 51, 62, 63, 83, 159, 171, 291, 299, 338, 339, 376 affektive Tönung 101, 107, 171, 244 Agency 215, 216 Algorithmus 186, 345 Alpha-Band-Network 273 Altruismus 61, 73, 273, 321, 365 altruistisch 43, 282 Amygdala 94, 96, 212, 213 Anatta 215, 250, 251, 252, 257, 258, 262, 268 Anhedonie 209 Animismus 337, 338, 339, 351, 353 Neuer Animismus 351 Anthropomorphismus 346 Approach-Reaktion 95 Approach-Systeme 94, 213, 219, 377 Asana 216 Ästhetik 81, 82, 121, 159, 165, 171, 206, 372 ästhetisch 87, 156, 169, 309, 333 Aura 363 Avantgarde 169, 175, 176 Avoid-Reaktion 95 Avoid-Systeme 94, 213, 214, 219, 220, 377 Axiomatik 186 B Bedingtes Entstehen 117, 190, 251, 252, 253, 257, 325 Bedürfnishierarchie 20 Beschleunigungsthese 38 Bierstadt, Albert 166, 296 Bodhisattva 75, 151, 250, 261, 274, 283 Boyle, Thomas Coraghessan 306 Brahman 262 Brute Emergence 344 Buddha 151, 227, 248, 259, 260, 280
Burke, Edmund 81, 82, 83, 86, 87, 102, 106, 107, 108, 115, 118, 122, 126, 127, 131, 133, 135, 139, 159, 160, 161, 170, 171, 183, 190, 201, 209, 210, 275, 278, 287, 299, 300, 305, 311, 375, 382 Burtynsky, Edward 138, 139 C Cage, John 174 Campbell, Joseph 27, 61, 205, 206, 216, 223, 224, 226, 227, 353 Catuskoti 189 Ch’an 314, 317 Chaplin, Charles 165 Charisma 146 charismatischer Lehrer 147 climate anxiety 137 eco anxiety 137 Coping-Mechanismus 211 Core-Network 268 D Daoismus 132, 241, 315, 317, 324 Dao 173, 314, 315, 316, 317, 319, 325, 327, 329 daoistisch 173, 216, 318, 322, 323, 325, 326, 327, 330 De 132, 241 Deep-Ecology 301, 350 Default-Network 82, 109, 268, 269, 270, 273 de Maistre, Joseph 161 De Maria, Walter 139 Deontologie 237 Der Große Zweifel 208 Dharma 258 Ding, das 48, 127, 177, 178, 183, 278, 323, 371 Dogmatismus 183 dogmatisch 241, 245, 284 Dopamin 43, 96 Dopaminsystem 377 Dukkha 179, 239, 251, 253, 254, 255, 256, 257, 259, 260, 262, 265, 267, 274, 277, 279, 372
Personen- und Sachverzeichnis
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Dzogchen 274 E Easterlin-Paradox 40 Eco, Umberto 168 Ehrfurcht 23, 51, 90, 92, 93, 105, 106, 135, 158, 164, 198, 228, 229, 231, 269, 287, 289, 303, 305, 312, 350, 353, 364 Awe 91, 229, 287, 320 Eliot, Thomas Stearns 141, 366 Emotion 91, 94, 95, 123, 137, 229, 231, 243, 257, 271, 272, 287, 316 Entelechie 70, 73, 74 Entzauberung 50, 51, 329 Entzauberungsthese 201 Epistemologie 26, 55, 65, 183, 236, 237, 239, 279, 352, 364, 380, 381 epistemisch 64, 91, 160, 161, 178, 181, 184, 185, 186, 189, 220, 234, 236, 239, 240, 254, 265, 278, 279, 312, 340 Ereignis 83, 86, 90, 230, 256, 305, 363 Erhabene, das 19, 27, 62, 81, 82, 83, 85, 89, 90, 100, 102, 111, 117, 121, 126, 145, 169, 210, 250, 274, 282, 296, 305, 309, 313, 315, 363, 374, 376 Charismatisch-Erhabene 145, 148, 152, 165, 183 Dynamisch-Erhabene 126, 129, 130, 131, 133, 250 Epistemisch-Erhabene 178, 181, 184, 186 Kapitalistisch-Erhabene 200, 201 Mathematisch-Erhabene 127, 250 Natürlich-Erhabene 138 Politisch-Erhabene 162, 182 Progressiv-Erhabene 171, 172, 176 Romantisch-Erhabene 123, 134, 139, 281, 286, 296, 332, 367 Technologisch-Erhabene 87, 138, 201, 206 Erste-Person-Perspektive 177, 263 Erwartungsfehler 43, 100, 101, 104, 109, 148, 165 Ethik 55, 66, 82, 235, 237, 341, 347, 358, 359 Begründung 357 Ethik der Disponibilität 331, 332 Habitualisierungsethik 244
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Personen- und Sachverzeichnis
Moral 365 negative Ethik 184 Regelethik 65, 66, 71 Tierethik 337 Tugendethik 52, 53, 57, 58, 69, 70, 73, 74, 75, 132, 240, 241, 244, 256, 273, 360 Umweltethik 20, 115, 241, 304 Eudaimonie 22, 53, 69, 70, 71, 72, 74, 273, 287 eudaimon 70, 241 Everyday Sublime 31, 173, 198, 303, 304, 305, 368, 371, 377 Existenzialismus 315, 321 existenziell 28, 46, 90, 93, 135, 136, 148, 151, 170, 171, 177, 178, 180, 184, 185, 186, 190, 196, 208, 209, 210, 214, 232, 233, 239, 276, 278, 310, 315, 320, 321, 350, 381, 387 Experte 30, 37, 50, 62, 68, 147, 161, 222, 236 Externe Effekte 16 F Fähre 259, 260, 277 yāna 259 first-degree entailment 188 Flow 42, 82, 92, 106, 228, 269, 287, 317 Französische Revolution 35, 113, 122, 159, 161, 300, 332 Freiheit 21, 24, 27, 28, 32, 44, 46, 65, 71, 72, 82, 87, 90, 93, 118, 126, 130, 131, 132, 133, 135, 148, 158, 164, 167, 172, 187, 190, 191, 193, 194, 196, 219, 233, 248, 256, 257, 265, 275, 276, 277, 304, 306, 310, 318, 320, 321, 331, 365, 367, 386 negative Freiheit 187 positive Freiheit 187 Friedrich, Caspar David 123, 156, 198 Fülle 28, 48, 73, 93, 121, 172, 179, 190, 217, 241, 325, 330, 374 G Gefühl 23, 31, 46, 74, 82, 83, 86, 90, 92, 94, 117, 135, 166, 172, 212, 215, 228, 229, 230, 231, 232, 234, 238, 250, 259, 268, 269, 274, 287, 289, 308, 310, 312, 317, 321, 349, 351, 356, 368, 372, 374, 383 Yūgen 374
gelingendes Leben 17, 18, 31, 38, 50, 58, 59, 63, 359 gemischte Gefühle 94, 95, 96, 98, 371 Gender 225, 226 generatives Modell 100 Gipfelerlebnis 228, 230 Peak Experience 228, 230 Great Society 159, 160, 161, 300 Green New Deal 16, 17 Grenze 27, 62, 68, 76, 77, 78, 81, 82, 83, 85, 87, 90, 93, 111, 117, 118, 119, 121, 122, 136, 149, 154, 163, 168, 170, 172, 175, 178, 185, 192, 200, 213, 219, 227, 259, 260, 273, 277, 282, 286, 294, 295, 302, 309, 314, 321, 332, 344, 384 frontier 118, 193, 298, 300, 302, 310 Grenzerfahrung, gewöhnliche 84 Grenzerfahrung, radikale 84 Grenzüberschreitung 28, 71, 124, 182, 214, 332 Grounding of Knowledge 380 Gruppenidentität 165 Gursky, Andreas 138, 196, 197, 198 gutes Leben 20, 21, 22, 26, 27, 28, 32, 142, 242, 245, 323, 325, 349 H Han Shan 325 Happiness Setpoint 40 Hard Problem of Consciousness 311, 343 Haskell, David 368 Haufen-Paradox von Sorites 264 hedonische Tretmühle 43, 244 Hedonismus 22, 54, 64 hedonistisch 196 Held 27, 61, 62, 66, 67, 68, 69, 71, 72, 73, 74, 75, 77, 78, 81, 88, 132, 200, 221, 222 Beschützer einer Ordnung 61, 68, 221 Bewahrer einer Ordnung 88 Überwinder einer Ordnung 61, 72, 78, 87, 148, 221, 235 Heldenreise 27, 29, 61, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 81, 90, 95, 132, 149, 205, 206, 207, 216, 221, 223, 224, 355, 382, 384, 386, 387 Heldin und Held 223, 224, 225, 226 Hinton, David 315, 319 Homo avarus 384, 385
Homo faber 384, 385, 386 Homunculus 265, 311, 320 Horkheimer, Max 50, 51, 62, 63, 338 Hsia Kuai 327 Hsieh Ling-Yün 324 Humanismus 115, 315 Humanität humanity 91, 299, 342, 369, 380 Humor 165, 166, 168, 277 I immanenter Rahmen 47, 49, 53 Immanenz 47, 82, 171, 181, 182, 184, 187, 189, 260, 291, 293, 331, 382 immanent 90, 148, 312 Impermanenz 117, 251, 253, 255, 257, 258, 356, 372, 373 Anicca 251 Individualismus 192 Induktionsproblem 185 induktiv 186 Ineffabilität 23 Integrität 181, 237, 239 Interbeing 227 Interozeption 215 interozeptiv 212 J Jameson, Fredric 191, 195, 196 James, William 158, 205, 230, 232, 283 K Kampf-Flucht-Modus 212 Kant, Immanuel 86, 104, 106, 113, 118, 126, 127, 129, 130, 131, 132, 139, 149, 159, 170, 172, 179, 182, 210, 229, 287, 311, 338, 357, 358, 366, 380 Kapitalismus 42, 46, 48, 54, 63, 119, 177, 179, 182, 191, 193, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 303 kleines Selbst 30, 70, 73, 150, 151, 154, 163, 205, 207, 210, 214, 221, 351, 364, 365, 382, 386 knowledge by acquaintance 283, 284 knowledge by description 283 Kōan 174, 175, 208, 314 Personen- und Sachverzeichnis
| 435
Kommensurabilität 54, 55, 78, 196 Kommodifizierung 197, 199, 234, 284, 299 Konservatismus 35, 133, 159, 160, 161, 176 Kreativität 21, 83, 95, 97, 98, 99, 214, 217, 378 Krieg 130, 133, 141, 154, 157, 158, 210, 233, 284, 330 Kripke, Saul 186 kulturelle Alterung 136, 244 L Lacan, Jaques 48, 118, 176, 177, 178, 179, 181, 182, 183, 278 Law-and-Order-Staat 35 Lebensqualität 39 Lebensstandard 39 Leerheit 30, 172, 190, 251, 258, 261, 276, 315 Liminalität 136, 146, 182, 201, 259 liminal 82, 135, 192 Liminalitätsdruck 87, 136, 149, 150, 200 Li Po 329 Longinus 81, 121, 122, 145, 170 Lügnerparadox 189 Lyotard, Jean François 106, 133, 169, 171, 172, 175, 176, 191, 196 M Mahayana-Buddhismus 72, 250, 261 Malaise der Moderne 23, 24, 32 Malick, Terrence 130 Mandelbrot-Menge 128 Maōri 146 Mana 339, 340 Mari 339, 340 Mauri 339 Materialismus 344, 366 materialistisch 23, 122, 226, 379 Meer 112, 113, 114, 118, 123 Menschenbild 21, 35, 36, 47, 58, 74, 115, 162 Meritokratie 54 Metapher 38, 178, 184, 220, 258, 259, 339 Metaphysik 171, 279, 323, 343 Metonymie 178 Metzinger, Thomas 237, 238, 239, 240, 241, 289 Mindfulness 232, 272, 274 Mismatch 242, 244 Moderne 22, 32, 46, 50, 52, 63, 87, 93, 122, 134,
436 |
Personen- und Sachverzeichnis
135, 136, 141, 142, 143, 158, 169, 171, 196, 197, 291, 302, 351 modern 52, 142, 197, 297, 301, 307, 324, 381 Monismus 66, 345 Monomythos 206, 223, 226, 295, 353 Mono no Aware 371, 372 Monster 70, 150, 151, 165, 191, 206, 227, 248 Moralentwicklung 21 Muir, John 296, 312, 313, 332, 333, 353, 354, 355 Münchhausen-Trilemma 183, 186 Mystik 48, 317 mystisch 73, 82, 148, 189, 228, 230, 231, 240, 286, 330, 331 Mythos 50, 51, 75, 179, 201, 293, 352, 353, 384 mythisch 136, 300 N Næss, Arne 350, 358, 364, 365, 366 Naiver Realismus 98, 219, 312, 356 Narrativ 26, 45, 82, 205, 318, 353 Narrative Psychologie 44 Natur 24, 31, 50, 63, 86, 92, 105, 112, 115, 122, 123, 126, 135, 138, 139, 141, 142, 147, 172, 177, 179, 191, 198, 206, 225, 227, 229, 240, 241, 242, 244, 282, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 293, 295, 296, 299, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 308, 310, 311, 312, 313, 315, 317, 322, 323, 325, 326, 331, 332, 333, 334, 337, 339, 341, 351, 353, 354, 356, 357, 363, 364, 366, 368, 369, 372, 383, 384, 386 Nature Writing 332, 333, 334 negative Repräsentation 172 Nemerov, Howard 308 Neural-Correlates-of-Consciousness-Ansatz 271 Newman, Barnett 169, 170, 171, 173, 193, 194, 197, 198, 296, 300 New Riddle of Induction 185 Nhat Hanh, Thich 209, 239, 240, 266, 276, 357 nichtsprachliche Erfahrungen 236 Nichtwidersprüchlichkeitsprinzip 188, 190 Nirvana 257, 258, 260, 261, 283 nominale ultimative Wirklichkeit 189 Nonkonformismus 194 Nova-Effekt 50, 233
O Objektivismus 49, 150, 182, 219, 312, 343, 351, 379 Ontologie 157, 236, 239, 279, 326, 379, 380, 382 ontologisch 116, 154, 187, 234, 239, 248, 312, 364 Other-Minds-Problem 345 Oxytocin 164, 231 P Paradox der Mengenlehre 187 parasympathisches Nervensystem 216 Parietallappen 231, 270 Pathologie 179, 230 Perennialismus 286, 289 Phronesis 65, 66, 69, 70, 71, 241 Physikalismus 343, 345 Pittoreske 296 Plattformkapitalismus 37 plurivalente Logik 190 Po Chü-I 316 Po-Chü-I 315 Pollock, Jackson 289 Positive Psychologie 42, 57, 58 postheroisch 61, 62, 63, 64, 66, 69, 74, 200, 247 Postmoderne 46, 171, 172, 363, 381 postsäkular 51, 52 präfrontaler Cortex 212, 268, 270, 273 Pragmatismus 64, 184, 343, 352 Pranayama 216 Predictive-Coding-Theorien 98, 100, 166, 378 Prinzip des ausgeschlossenen Dritten 188 Progressivismus 176, 192 Pynchon, Thomas 180 R Rauschenberg, Robert 173, 174, 196 reale ultimative Wirklichkeit 189 Realismus 244, 257, 265, 267, 320 Redlichkeit 157, 238, 239 Relativismus 22, 52, 67, 73, 75, 150, 183, 236, 240, 286 relativistisch 239 Resilienz 40, 95, 208 Resonanz 58, 59, 60, 323, 379 Rewilding 305, 306, 318
Renaturierung 305, 318 Riddle of Induction 185 Rites du Passage 69 Rolin, Olivier 153 Rule-Following Paradox 185 Russell, Bertrand 187 S Salgado, Sebastião 138, 179 Satori 93, 102, 175, 208, 239, 353 Schiffbruch 112 Schiller, Friedrich 82 Schöne, das 102, 106, 123, 126, 159, 355, 382 Schönheit 51, 91, 112, 121, 197, 224, 330, 356, 372, 373 Schopenhauer, Arthur 113, 133, 357 Selbstbild 217 Selbsttranszendenz 23, 42, 119, 214, 228, 229, 231, 268 Selbstwirksamkeit 42, 99, 215 Sense of Place 31, 197, 301, 302, 303, 305, 350, 368, 371, 376 Sense of Wonder 86, 363, 364 Shanshui 31, 117, 318, 323, 330, 332 Signifikant 176, 340 Singularisierung 42 Singularität 38 Sinn 18, 20, 21, 22, 23, 27, 28, 38, 42, 47, 48, 49, 50, 74, 81, 88, 90, 119, 162, 164, 202, 228, 230, 234, 240, 281, 318, 330, 331, 337, 339, 349, 352, 363, 370, 379, 382 Smithson, Robert 139 Snyder, Gary 117, 289, 305, 332, 366, 382 Spektakel 111, 118, 133, 154, 157, 298, 299, 303, 311, 363 Spiritualität 28, 29, 30, 48, 91, 157, 172, 237, 238, 239, 240, 242, 244, 245, 254, 258, 279, 281, 282, 285, 286, 289, 318, 325, 368 spirituell 70, 71, 82, 90, 143, 147, 151, 164, 189, 191, 205, 207, 216, 232, 233, 236, 237, 241, 242, 248, 283, 286, 314, 332, 353, 381, 382 Sprachspiel 175, 254, 258, 315 Staunen 106 Strawson, Galen 343, 344 subjektive Lebenszufriedenheit 40 Personen- und Sachverzeichnis
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Subjektivismus 22, 52, 54, 55, 67, 73, 75, 150, 194, 196, 240 subjektivistisch 57, 239 Sublime 91, 123, 141, 166, 287, 297, 354 Sublimation 178 sublimiert 63, 118 Sublimierung 121, 176, 177, 183 Sunyata 258, 261 symbolische Ordnung 46, 63, 116, 177, 181, 182, 238, 310, 368 sympathisches Nervensystem 216, 272 T Tanha 254, 255, 256, 257, 268, 272, 276 Taylor, Charles 114, 118, 148, 165, 233, 239, 278, 312, 321, 352 Technokratie 37, 41, 62, 65, 68, 147, 148, 152, 222, 247 Telos 240 Terror and Bliss 82, 83, 86, 90, 131, 149, 200, 210, 218, 234, 317 Testosteron 43 Theravada 274 Thoreau, Henry David 112, 115, 275, 310, 312, 320, 363 Transmutation 207 Transzendenz 21, 22, 50, 115, 125, 142, 148, 162, 171, 178, 181, 182, 183, 189, 214, 234, 260, 292, 310, 327, 331, 382 Trauma 99, 107, 136, 208, 211, 212, 213, 215, 216, 243 traumatisch 208, 210, 212, 216, 231, 243 Trickster 75, 77, 78, 100, 167, 261 Tu Fu 330 Tugendethik 53, 57, 58, 65, 69, 74, 131, 194, 240, 247, 249, 314, 349, 365 Turner, Viktor 78, 82, 146, 147, 182 Turner, William 123 Tzu-Jan 314, 317, 323, 324, 325 U Umweltexternalitäten 16 Umweltkrise 15, 16, 17, 19, 25, 31, 37, 56, 131, 136, 160, 284, 317, 332, 339, 352, 366, 378, 382, 383, 385, 386 Unbestechlichkeit 237, 241, 245
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Personen- und Sachverzeichnis
Uneigentlichkeit 45, 46, 148, 163, 199, 279, 376 unendlicher Regress 183 Utilitarismus 54, 66, 131, 235, 342 V Vagusnerv 231 Vajrayana 272 Van der Kolk, Bessel 211, 213, 215 Vier Edle Wahrheiten 251, 253 Virtue Epistemology 237 Von Goethe, Johann Wolfgang 124 Von Trier, Lars 116 W Wabi-Sabi 372, 373, 374 Wahrheit 87, 91, 156, 187, 190, 238, 245, 253, 254, 257, 258, 260, 285, 288, 297, 347, 353, 382, 384 Wang Wei 316 Weber, Max 48, 50, 51, 132, 146, 147, 201 Weiskel, Thomas 89, 106, 108, 134, 135, 138 wellbeing literacy 18 Weltbilder 11, 16, 17, 18, 20, 24, 25, 36, 353, 380 Wildheit 28, 62, 63, 69, 81, 87, 111, 149, 158, 167, 282, 295, 304, 305, 308, 310, 311, 326, 338 Wildnis 31, 111, 112, 115, 191, 286, 287, 288, 289, 293, 294, 296, 298, 300, 302, 303, 307, 318, 333, 334, 353, 355, 363 Wittgenstein, Ludwig 175, 184, 185, 240 Wohlleben, Peter 347 Wordsworth, William 110, 124, 287, 298, 299, 300, 323, 332 Wu-Wei 241, 317 Z Zen 77, 93, 102, 174, 175, 188, 208, 239, 290, 314, 353, 371 Zirkelschluss 183