Grenzbereiche der Supervision - Verwaltung in Bewegung 9783666403699, 9783647403694, 9783525403693


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Grenzbereiche der Supervision - Verwaltung in Bewegung
 9783666403699, 9783647403694, 9783525403693

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Interdisziplinäre Beratungsforschung

Herausgegeben von Stefan Busse, Rolf Haubl, Heidi Möller, Christiane Schiersmann Band 10: E  lise Bittenbinder, Silvia Schriefers, Jenny Baron (Hg.) Grenzbereiche der Supervision – Verwaltung in Bewegung

Elise Bittenbinder, Silvia Schriefers, Jenny Baron (Hg.)

Grenzbereiche der Supervision – Verwaltung in Bewegung

Vandenhoeck & Ruprecht

Gefördert durch die Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv).

Mit 6 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h ­ ttp://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40369-4 © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Barbara Lochbihler Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Jörg Fellermann † Prolog – »Wider die Abstumpfung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Detlef Bröker Zwischen Schutzauftrag und Ausweisungspflicht: das BAMF . . . 16 Elise Bittenbinder Traumatisierte Menschen – und wie sie in Deutschland Schutz finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Prof. Dr. Tobias Trappe Zur Ethik der Asylverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Elise Bittenbinder, Jenny Baron und Silvia Schriefers Eine gewagte Kooperation: BAMF und BAfF . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Silvia Schriefers und Jenny Baron Wege der Veränderung: Trainings und Coachings . . . . . . . . . . . . . 78 Prof. Dr. Brigitte Geißler-Piltz Mehr Supervision wagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Edmund Görtler Prädikat: besonders wertvoll – die Ergebnisse der Evaluation . . . 130 Jenny Baron und Silvia Schriefers Verwaltung in Bewegung: Diskussion und Ausblick . . . . . . . . . . . 138 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Kooperationspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Grußwort

Täglich hören wir Meldungen über die Schicksale von Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Manchmal geht es um Hunderte, meist sogar um Tausende von Personen. Im politischen Alltag nehmen wir nur selten das Schicksal der einzelnen Menschen wahr. Das wird mir immer dann bewusst, wenn ich Flüchtlinge in Asylunterkünften besuche und mit ihnen über ihre persönliche Geschichte spreche. Meist deuten sie nur an, welche schrecklichen Angriffe sie ertragen mussten. Nur selten sprechen sie über Folter, sexualisierte Gewalt und andere schwere Misshandlungen. In diesen Momenten frage ich mich, wie schwierig es sein muss, über das Asylbegehren eines Menschen zu entscheiden. Nur die wenigsten traumatisierten Schutzsuchenden können offen darüber reden, was man ihnen angetan hat. Sie wollen verdrängen und vergessen. Doch zugleich hängt ihr Schicksal davon ab, ob sie so schlüssig und genau wie möglich das Erlittene berichten können. Auch die Angst, als Armutsflüchtlinge eingeschätzt und deshalb nicht anerkannt zu werden, sitzt tief. Viele stehen zudem unter dem Eindruck der lebensgefährlichen Reise, zu der sie aufgrund der von Abschottung geprägten Flüchtlingspolitik der EU gezwungen sind. Erfahrungen zeigen, dass gerade in Verhörsituationen die schlimmen Erfahrungen wieder aufleben können. Der Beamte wird mit dem Folterer assoziiert, der Geständnisse erzwang und Linderung versprach, wenn man sich gehorsam zeigte. Dies alles muss ein Entscheider und eine Entscheiderin berücksichtigen, wenn es gilt, die Bedrohung und die Glaubwürdigkeit eines Asylsuchenden einzuschätzen. Da braucht es viel mehr als das Wissen um die Menschenrechtslage und die politische Kultur im Herkunftsland. Hier ist ein hohes Maß an Empathie gefragt. Und die Fähigkeit zur emotionalen Distanz. Beamt/-innen dürfen sich weder allein von Berichten über Grausamkeiten noch von ungewöhnlich harten Reaktionen der Befragten leiten lassen. Und das vor dem Hintergrund, dass ein Urteil über Leben oder Tod entscheiden kann. Dabei stehen die Entscheider/-innen unter besonderem Druck. Denn im Gegensatz etwa zu Psycholog/-innen oder Ärzt/-innen sind Beamt/-innen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht neutral. Angesichts der steigenden Anzahl von Asylanträgen ist die

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Barbara Lochbihler

Behörde mit einer Herausforderung konfrontiert, die kaum zu erfüllen ist. Zum einen soll sie in gerechten Verfahren über die Zukunft von Menschenleben urteilen, zum anderen untersteht sie dem öffentlichen Druck, die Aufnahme von Schutzsuchenden in Grenzen zu halten. Die Leidtragenden dieser Anforderung sind – neben den Schutzsuchenden selbst – die Entscheider/-innen. Sie müssen im Verfahren einen Widerspruch austarieren, der einem falschen Verständnis von Asylpolitik geschuldet ist. Diktatoren, Warlords und Kriegsverbrecher orientieren sich weder an Quoten noch an Stammtischparolen. Wie viele Menschen flüchten müssen und deshalb hier ihr Recht auf Asyl beanspruchen, kann folglich – nimmt man dieses Recht ernst – nicht von einer Behörde gesteuert werden. Auch die Mitarbeitenden des BAMF müssen gewissermaßen ein Elend verwalten, das an anderer Stelle hervorgerufen wird. Es ist das große Verdienst von Organisationen wie der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF), immer wieder auf den einzelnen Menschen aufmerksam zu machen. Als unabhängiger Verband vertritt sie ausschließlich die Interessen der Opfer. Zugleich verfügen die Expert/-innen, die in den in der BAfF organisierten Einrichtungen tätig sind, über große Erfahrung im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen. Niemand könnte den Entscheider/-innen besser vermitteln, mit welchen seelischen Schwierigkeiten die Schutzsuchenden zu kämpfen haben. Auch sie können natürlich den beschriebenen Widerspruch nicht aufheben. Aber das Coaching durch die Mitarbeitenden der BAfF kann Druck aus den Verhören nehmen und damit dafür sorgen, dass eine für beide Seiten unerträgliche Situation etwas erträglicher wird. Allein deshalb ist die gemeinsame Initiative von BAMF und BAfF ein guter Schritt auf dem langen Weg hin zu einer humanitären Flüchtlingspolitik. Vielen Dank für dieses Projekt! Barbara Lochbihler Außen- und menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen Fraktion/ Freie Europäische Allianz im Europäischen Parlament; von 2011 bis 2014 Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Europäischen Parlaments, von 1999 bis 2009 Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.

Jörg Fellermann † Geschäftsführer der DGSv

Prolog – »Wider die Abstumpfung« Das gemeinsame Pilotprojekt des BAMF, der BAfF und der DGSv endete im März 2014. Anlässlich der Abschlussveranstaltung mit dem Titel »Supervision und Training und Coaching für Entscheider/-innen im Asylprozess« hielt Jörg Fellermann – im Juli 2014 viel zu früh verstorbener Geschäftsführer der DGSv – die folgende Rede. Man kann sie auch als eine Art Vermächtnis lesen. »Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass ich heute hier bin. Ich möchte dazu sprechen, was Supervision im Verwaltungshandeln sein und bedeuten kann. Das vorweg: Ich hätte gern, dass Supervision in Verwaltungen selbstverständlich ist.

Supervision? Könnte das etwas für uns sein? Was möchte ich mit diesem Beitrag erreichen? Ich möchte Sie mit ein paar Grundideen zur Supervision konfrontieren. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich da nicht schon bei dem einen oder der anderen Eulen nach Athen trage, bei denen, die Supervisor/-innen sind und bei denen, die an Supervisionen teilgenommen haben oder sich für sie einsetzen. Wenn das so ist, mögen Sie mir das verzeihen. Wenn Sie heute an dieser Veranstaltung teilnehmen, dann tun sie das, weil sie Vorüberlegungen treffen, ob sie den Einsatz von Supervision veranlassen wollen und überlegen: Könnte das etwas sein für den Bereich, in dem ich tätig bin, für den ich Verantwortung trage? Sie sind vielleicht sogar interessiert, ihr Wissen zu Supervision und Beratung zu vertiefen. Nun, was bildet den allgemeinen Hintergrund für diesen Beitrag? Es ist der, wie man so sagt, übliche Verdächtige aus der modernen Berufswelt: Die sich gerade rasant verändernde, sich verdichtende und an Geschwindigkeit zunehmende Arbeit. Vor diesem Hintergrund stellt sich heraus, dass Beschäftigte in Organisationen darum ringen, einen Raum zu haben, um reflektieren zu können, um mitzukommen und auch mitzumachen. Denn die heutige Organisation, auch und gerade die heutige Verwaltung, funktioniert so, dass immer mehr Verantwortung

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Jörg Fellermann

auch für die Gestaltung der Organisation bei den einzelnen Mitarbeitenden liegt. Keiner kann sich mehr davor drücken, sich an der Organisationsentwicklung zu beteiligen. Auch dass Führungsarbeit komplexer wird, wird jeder bestätigen, der sie leistet – und das sind viel mehr, als man glaubt. Dabei gilt es, unterschiedlichste Fäden zusammenzuhalten, unterschiedliche Professionen und Berufe miteinander zu verbinden, politischem Druck auszuweichen oder ihn aufzunehmen, je nachdem. Und es gilt vor allem, eine hohe Qualität der Arbeit zu sichern. Das mag reichen, um deutlich zu machen: Führungsarbeit ist kein Kinderspiel. Arbeitsbelastung und Arbeitsdichte nehmen also zu, das wissen Sie, darüber haben die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und Forschungsinstitutionen intensiv geforscht, und in den letzten Monaten und Jahren wurde dazu viel veröffentlicht. Die Deutsche Gesellschaft für Supervision hat zum Beispiel eine Studie1 in Auftrag gegeben, in der die Expertise von Supervisor/-innen genutzt und allgemein erfragt wurde: Wie geht’s eigentlich den Beschäftigten in den Organisationen? Es wurde bestätigt, dass Arbeitsbelastung und Arbeitsdichte zunehmen. Herausgekommen ist aber auch, dass die Identifikation von Beschäftigten mit ihrer Organisation in Unruhe gerät. Und ich glaube, das ist eine wichtige Erkenntnis gerade für Organisationen, die es mit einem hohen Gut zu tun haben, wie das hier in diesem Haus (Anm.: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) der Fall ist. Sie verwalten ja hier weniger, Sie ringen vielmehr darum, eines der wertvollsten Rechte dieses Landes zu gestalten. Und dafür muss man sich als Mitarbeiter/-in mit dem Haus, mit seiner Organisation, identifizieren können. Genau das scheint heute nicht mehr ganz einfach zu sein. Das belegt die Studie.

Unterstützungsexpert/-innen für die Verwaltung Supervisionen in Verwaltungen gibt es natürlich schon. Ich will mal einige Beispiele aufzählen und fange mit der Nachbarin hier in der Stadt an, der Bundesagentur für Arbeit. Die Bundesagentur für Arbeit unterstützt ihre verschiedenen Beratungsfachkräfte seit vielen Jahren nicht nur durch Supervision, sondern zunächst durch Fallberatung, die dann später Praxisberatung hieß, heute gelegentlich Coaching genannt wird.

1 Die Studie als Buch: Haubl, R., Voß, G. G. (Hrsg.) (2011). Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision. Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Jedenfalls ist es ein relativ komplexes Unterstützungsangebot, das die Bundesagentur für Arbeit ihren Beratungsfachkräften heute anbietet. Ein weiteres Beispiel ist die Deutsche Post. Sie unterhält, wie viele Großunternehmen auch, Sozialberater/-innen, die das machen, was früher die betriebliche Sozialarbeit gemacht hat. Und soviel ich weiß, sind diese Tätigkeiten auch noch nicht outgesourced. Die bei der Post tätigen Sozialberater/-innen erhalten zu ihrer Unterstützung Supervision. Es gibt außerdem eine auffällige Bewegung in den Kultusministerien der Länder. Lehrer/-innen werden während ihrer Ausbildung vor allem in den Praxisphasen, also in der zweiten Ausbildungsphase, durch Beratungsangebote auf ihre spätere Berufspraxis vorbereitet. Weil das Lehrer/-in-Sein sich stark verändert hat. Lehrer/-in-Sein ist heute eine Tätigkeit, bei der Aufgaben übernommen werden müssen, die mit Unterricht nicht unbedingt etwas zu tun haben, sondern mit Bildung und Erziehung und Sich-Kümmern um einen Lebensweg von jungen Menschen. In Nordrhein-Westfalen, dem Land mit den meisten lehrerausbildenden Studiengängen zum Beispiel ist es so, dass die Lehramtsstudierenden im sogenannten Referendariat mit Supervision in Berührung kommen. Es hat sich als hilfreich herausgestellt, dass die ersten Schritte in die Praxis durch Supervision unterstützt werden.

Beziehungsarbeit mit Bürger/-innen Auch die Polizei, zumindest die in NRW, erfährt im Studium Supervision. Polizist-Sein muss man ja heute studieren. Man studiert an der Verwaltungsfachhochschule des Landes NRW, im Studiengang Polizeivollzugsdienst BA. Jeder Polizist, der Ihnen in NRW begegnet und mindestens einen Stern auf der Schulter trägt, und das ist sicher in anderen Bundesländern dasselbe, hat ein solches Studium absolviert. Darin gibt es seit kurzem ein Modul, das Berufsrollenreflexion heißt, ein schreckliches Wort, hinter dem Gutes, Nützliches steckt. Wie kam es dazu? Die Verwaltungsfachhochschule hat eine Evaluation ihrer Studiengänge vorgenommen. Sie hat ihre Studierenden befragt, und die Studierenden antworteten: »Hm, alles wunderbar, viele interessante Module, wir können bloß nicht so richtig erkennen, was eigentlich der rote Faden in dem Studium ist.« Und dann hat ein Supervisionskollege, der an dieser Hochschule als Lehrender tätig ist, zu seiner eigenen Überraschung vom Rektor der Hochschule den Auftrag bekommen: »Entwickeln Sie doch mal eine Idee für ein Modul, das, sozusagen kontinuierlich über das gesamte Studium verteilt, die Studierenden immer wieder zusammenführt, um zu

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Jörg Fellermann

reflektieren, was sie da eigentlich für eine Rolle, für eine Funktion erlernen.« Der Hintergrund ist klar: Auch die Polizei weiß, dass das, was sie tut, letzten Endes Beziehungsarbeit mit Bürger/-innen ist. Die jungen Polizist/-innen müssen für strittige und riskante Situationen ausgebildet sein. Und wenn man sieht, wie stolz diese jungen Leute sind, wenn sie das erste Mal in die Uniform steigen und in die damit verbundenen Rollen und Funktionen – dann ist es wunderbar, wenn man sie in dieser neuen Rolle durch Supervision stärken kann. Das finde ich eine richtig gute Idee, deswegen erzähle ich das besonders gern. Noch ein Beispiel: Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, der Dachverband der Berufsgenossenschaften, ein Bereich der mir gänzlich unbekannt war, bis die DGUV auf uns zukam und sagte: »Wir haben einige hundert sogenannte Reha-Manager/-innen, also diejenigen, die mit den Schwerstverunfallten und deren Familien quasi wie Sozialarbeiter/-innen zu tun haben. Diese Reha-Manager/-innen brauchen eine Unterstützung, weil sie die Schicksale dieser verunfallten Menschen begleiten müssen.« Wir haben zusammen überlegt, wie die Unterstützung aussehen kann. Die Kooperation ging dann nicht ganz so weit und tief wie hier mit Ihnen, aber für mich war das ein weiteres Beispiel dafür, dass es auch in Verwaltungen, die man zunächst nicht auf dem Schirm hat, Bedarf an Supervision gibt. Dort arbeiten Mitarbeitende sozusagen an der Außenhaut der Organisation, im unmittelbaren Kontakt zu Klient/-innen, und bekommen alles direkt und ungeschützt ab, wenn ich das so sagen darf. Vielleicht müssen sie deshalb in besonderer Weise gestärkt werden. Bei meinem nächsten Beispiel, dem Erzbistum München, werden Sie zurecht annehmen, dass ein Bistum, weil es im weiteren Sinne ja sozusagen aus dem Bildungs- und Sozialbereich kommt, der Supervision vielleicht etwas enger verbunden ist als andere Verwaltungen. Mag sein. Dem zuständigen Referatsleiter ist es jedenfalls gelungen, dass seit kurzem jeder Angehörige des Erzbistums München – sei er Gärtner oder Pfarrer oder sei sie Sekretärin – Supervision in Anspruch nehmen kann. Er hat das Angebot sozusagen ausweiten können vom ursprünglichen Pastoral- und Bildungsbereich, wo es entstanden ist, auf alle Berufsgruppen des Bistums. Letztes Beispiel: Die Stadt Nürnberg unterhält eine Personalberatung, und in dieser Personalberatung ist Supervision verankert. Das geht soweit, dass sie die Supervision innerhalb des eigenen Hauses durch drei eigene Fachkräfte ausführen lässt. Das ist ein Sonderfall der sogenannten organisationsinternen Supervision. Sie können sich denken, warum das ein Sonderfall ist: Diese hauptamtlichen Supervisor/-innen haben im eigenen Haus eine besonders heikle Stellung, die besonders geschützt

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werden muss, weil sie ihren Supervisand/-innen, also ihren Klient/-innen, ja sozusagen als Kolleg/-innen begegnen. Da ist die Frage der Verschwiegenheit, des Vertrauens, der Abgrenzung von besonderer Bedeutung. Die Stadt Nürnberg ist erfreulicherweise mit ihrer Haltung gegenüber der Supervision nicht allein, es gibt noch andere Kommunen und Städte, die ähnlich denken und handeln, Duisburg zum Beispiel. Was hinter all dem steht und steckt, ist, glaube ich, dass Verwaltungen mehr denn je spüren: Wir erbringen unsere Leistungen in Beziehungen. Verwaltung ist eben nicht Verwaltung. Verwaltung ist nicht Anträge ausfüllen und bearbeiten und abhaken. Sondern Verwaltung ist Beziehung zu Menschen, die etwas wollen, etwas sollen. Da müssen Entscheidungen getroffen werden, da muss geredet, da muss gestritten werden, und dafür muss man in einer zunehmend komplexer werdenden Situation gerüstet sein.

Eine organisierte innerbetriebliche Auszeit Jetzt will ich Ihnen auch noch einmal kurz sagen, was Supervision eigentlich ist. Die amtliche Version lautet: Supervision ist ein wissenschaftlich fundiertes praxisorientiertes Konzept für personen- und organisationsbezogene Beratungstätigkeiten in der Arbeitswelt. Punkt. Meine persönliche Formel klingt etwa so: Supervision ist eine organisierte, innerbetriebliche Auszeit. In ihr kann man nachdenken, planen, überprüfen, verbessern und – das ist mir persönlich sehr wichtig – Kollegialität entwickeln. Kollegialität ist ein Wert, der unter Druck steht, und Organisationen sind gut beraten, Räume zu schaffen, in denen Kollegialität sich entfalten kann. Das alles eben nicht allein, im eigenen Saft, wenn ich das so ausdrücken darf, sondern mit einem externen Berater oder einer externen Beraterin oder: Möglichmacher/-in. Die Amerikaner sagen »Facilitator«, kein besonders schönes Wort, zumindest nicht für meine Ohren, Möglichmacher klingt auch nicht viel besser, aber Sie wissen, was gemeint ist. Wie funktioniert Supervision also grundsätzlich? Die Teilnehmenden sind neugierig und denkfreudig. Sie bestimmen Thema und Tempo selbst, sie bleiben die Expert/-innen in ihrer Branche. Also nicht die Supervisor/-innen sind die Besserwisser, sondern die Teilnehmenden bleiben die Expert/-innen. Und die Supervisor/-innen nutzen im Wesentlichen ihre Unvoreingenommenheit zum herausfordernden Mitdenken, zum Fragen und zum Verständlichmachen. Aus Kund/-innensicht: Man zieht also einen Dritten hinzu, der etwas sieht, was man selbst vermutlich

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nicht mehr sieht. Fundamental wichtig ist das Gespräch. Konkret: Eine einzelne Kollegin und ein Supervisor sprechen vielleicht zum Thema »Was ist meine berufliche Rolle?«, eine Gruppe von Kolleg/-innen und der Supervisor sprechen vielleicht zum Thema »Wie kann man komplexe Fälle besser verstehen und besser lösen?«. Ein Arbeitsteam und ein Supervisor sprechen zum Thema »Wie kann man Kooperation und Kommunikation des Teams verbessern?«. Wer ist der Supervisor oder die Supervisorin überhaupt? Die formale Antwort ist ganz einfach. Ein Berater oder eine Beraterin mit einem Hochschulabschluss, mit einer längeren Berufserfahrung und immer mit einer speziellen zweijährigen, standardisierten Weiterbildung; heute zum Teil auch mit einem entsprechenden Studium, sofern sie Mitglieder der DGSv oder anderer vergleichbarer Verbände sind. Und natürlich immer mit einer Verpflichtung auf ein Qualitätsverständnis, auf einen Kodex, auf ethische Leitlinien. Das kann ich jetzt allerdings nur für unseren Verband und Nachbarverbände sagen, nicht für jeden, der den Titel Supervisor führt. Wer ist der Supervisor oder die Supervisorin noch? Bildhaft gesprochen ein Ratgeber oder eine Ratgeberin. Ratgeber/-innen gibt es ja nicht erst seit gestern, sondern seit vielen Jahrtausenden. Ein Ratgeber wie ein Hofnarr zum Beispiel. Er darf etwas sagen, was eigentlich nicht erlaubt ist. Ein Ratgeber wie ein Experte. Er bringt etwas herein, was nur er weiß. Ein Ratgeber wie ein guter Freund, der beisteht. Oder auch eine Ratgeberin wie eine Hebamme, die in etwas hineinhorcht, was von außen nicht zu sehen ist2. Und wie lässt sich Supervision organisieren? Man beschreibt Anlässe, man bestimmt Ziele, man legt Erfolgskriterien fest, man richtet eine koordinierende Stelle ein, man bildet einen Berater/-innenpool, man stellt die Evaluation sicher; das alles sind Dinge, die hier in diesem Hause passiert sind, in gewisser Weise vorbildlich.

2 Der Autor dieser Typologiegedanken (Supervisor als Narr, Einflüsterer, Experte, Freund, Hebamme etc.) ist Timo Heimerdinger. Vgl. Heimerdinger, T. (2013). Helfer, Narren, Strippenzieher. Formen und Figuren der Beratung – eine lange Geschichte kurz erzählt. In M. Bentele, J. Fellermann (Hrsg.), Perspektivenzuwachs. Drei Texte zu Supervision und Beratung. Aus Kulturwissenschaft, Schriftstellerei und Regionalentwicklung (S. 9–32). Kassel: University Press.

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Nutzen und Grenzen von Supervision Zum Abschluss ganz kurz noch einige Beispiele, wie die Supervision speziell im Verwaltungshandeln nutzen kann. –– Zunächst: Man weiß, dass Schulungen, Fort- und Weiterbildungen meist nur eine begrenzte Zeit lang halten. Weiterbildung durch Supervision zu rahmen, damit das Gelernte sich einschleifen und eingeübt werden kann, das wäre mir besonders wichtig. Also: Supervision sichert die Verbindung zwischen Theorie und Praxis. Sie ersetzt aber keine Schulung, das sei ganz klar gesagt. –– Die Polizei liefert ein gutes Beispiel dafür, wie Supervision Nachwuchskräften den Einstieg erleichtern kann, vielleicht besonders solchen, die in eine Führungsposition einsteigen möchten. Man stellt ihnen für eine begrenzte Zeit eine Begleiterin oder einen Begleiter an die Seite, der diese neue Rolle gemeinsam mit der Nachwuchskraft reflektierend vorbereitet. –– Komplizierte Projekte durch Supervision zu stabilisieren, kann sehr wichtig sein. –– Teamentwicklung zu ermöglichen, natürlich auch das. Die meisten Supervisionsprozesse, soweit ich das beurteilen kann, dienen diesem Zweck: Teams arbeitsfähig zu halten oder zu machen. –– Und schließlich: Belastungen mit einem schwierigen Klientel abzufedern, das ist die wichtige Sache, um die es hier in unserem konkreten Kooperationsprojekt geht. Die Supervision hat natürlich Grenzen, ganz klar, etwa was die Arbeit an und mit Führung betrifft. Führung muss man lernen, vielleicht gibt es auch so etwas wie Talent für Führungsarbeit. Supervision kann jedenfalls Führung nicht beibringen oder übernehmen, sie kann aber sehr wohl Führungstrainings begleiten. Und ein wichtiger Punkt der Grenzziehung noch: Wer Hilfe im Leben benötigt – nicht speziell an der Arbeitsstelle –, der findet sie in der Sozialberatung oder in der Psychotherapie. Nicht in der Supervision. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.«

Detlef Bröker Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Referatsleiter M 25: Operative Steuerung Asyl und Integration

Zwischen Schutzauftrag und Ausweisungspflicht: das BAMF Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Asylsuchende Personen in Deutschland aufzunehmen und vor Verfolgung zu schützen ist eine historisch gewachsene Verantwortung und nicht zuletzt eine Verpflichtung aus den internationalen Verträgen wie der Genfer Flüchtlingskonvention. Für die Prüfung und Entscheidung der Anträge auf Asyl ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden BAMF oder Bundesamt) zuständig. Die konkrete Aufgabe nehmen die »Sachbearbeiter/-innen Asyl«, die sogenannten Entscheider/-innen, wahr. Das Bundesamt ist aber nicht nur zuständig für die Durchführung von Asylverfahren und den Flüchtlingsschutz, sondern auch Motor der bundesgeförderten Integrationsarbeit, zu der insbesondere die Organisation bundesweit angebotener Integrationskurse gehört. Jeder Integrationskurs besteht aus einem Sprachkurs und einem Orientierungskurs. Im Sprachkurs werden in 600 Stunden Deutschunterricht wichtige Themen aus dem alltäglichen Leben behandelt. Im anschließenden Orientierungskurs wird in sechzig Stunden über die deutsche Rechtsordnung, Geschichte und Kultur gesprochen. Das Bundesamt bietet auch Kurse »Deutsch für den Beruf« für Menschen mit Migrationshintergrund im sogenannten ESF-BAMF-Programm an. Schließlich ist das BAMF für die Organisation der Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer/-innen (MBE) zuständig und finanziert Integrationsprojekte vor Ort, wie beispielsweise »Stärkung der Elternkompetenz« in Landau, »Kulturelle Vielfalt und Teilhabe« in Köln oder »Klettern in der Moschee« in Nürnberg. Zu den BAMF-Aufgaben gehört auch die Migrationsforschung. In Anlehnung an die Kernaufgaben des Bundesamts arbeitet die Forscher/-innengruppe wie folgt: Sie betrachtet das Migrationsgeschehen nach und von Deutschland, unter anderem im jährlich erscheinenden Migrationsbericht; sie analysiert die Auswirkungen von Migrationsprozessen, wie beispielsweise im Forschungsbericht »Die Integration von zugewanderten Ehegattinnen und Ehegatten in Deutschland«; und sie

Zwischen Schutzauftrag und Ausweisungspflicht: das BAMF17

gewinnt Erkenntnisse für die Migrationssteuerung. Ein Beispiel hierfür ist das Working Paper »Wirksamkeit von Wiedereinreisesperren und Rückübernahmeabkommen«. Das Bundesamt ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Dem Präsidenten des Bundesamts unterstehen 5 Abteilungen, von denen eine Abteilung für die Grundlagen der Asylverfahren und Sicherheitsfragen, eine andere für den operativen Teil der Asylverfahren zuständig ist. In dieser Abteilung sind derzeit 5 Referate in Nürnberg und bundesweit 24 Außenstellen mit insgesamt über 1000 Mitarbeitenden zusammengefasst. Die Außenstellen, je nach Aufgabenzuschnitt und Arbeitsaufkommen mit rund 30 bis über 100 Mitarbeitenden, befinden sich in der Regel in unmittelbarer Nähe zu den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder für Asylbewerber/-innen mit über 500 Unterbringungsplätzen. Mit den dezentralen Außenstellen ist auch sichergestellt, dass in jedem Bundesland mindestens eine Außenstelle in direktem Kontakt mit allen gesellschaftlichen Akteur/-innen des Flüchtlingsschutzes und der Integrationsarbeit steht. Daneben gibt es 3 dezentrale Fachreferate in Dortmund, Potsdam und Würzburg, die fachlich die Zentrale mit Sitz in Nürnberg unterstützen. Insgesamt beschäftigt das Bundesamt heute bundesweit über 2300 Mitarbeitende.

Ein gerechtes Asylverfahren: die zentrale Aufgabe des Bundesamts Asylsuchende, denen die Grenzbehörde die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gestattet oder die ohne Aufenthaltstitel im Inland angetroffen werden, werden in die nächstgelegene Aufnahmeeinrichtung des jeweiligen Bundeslands weitergeleitet. Mithilfe eines bundesweiten Verteilungssystems werden sie nach einem festgelegten Schlüssel auf die einzelnen Bundesländer verteilt, und es wird die für ihre Unterbringung zuständige Aufnahmeeinrichtung ermittelt. Asylsuchende erhalten vom Bundesamt eine Aufenthaltsgestattung, die ein vorläufiges Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland gewährt. Dann wird das eigentliche Asylverfahren durchgeführt. Nach der Verteilung werden die Unterlagen der zuständigen Außenstelle des BAMF zugeleitet, damit dort der Asylantrag bearbeitet werden kann. Mitarbeitende des BAMF – die sogenannten Entscheider/-innen – ziehen eine Dolmetscherin bzw. einen Dolmetscher hinzu und hören die Asylsuchenden zu ihrer Identität, ihrem Reiseweg sowie ihren Verfolgungsgründen persönlich an. Auf Wunsch von asylsuchenden Frauen

18  Detlef Bröker kann eine speziell geschulte Entscheiderin die Anhörung durchführen, wenn frauenspezifische Gründe als Fluchtursache geltend gemacht werden. Die Anhörung wird in einer Niederschrift protokolliert, rückübersetzt und in Kopie ausgehändigt. Aufgrund der Anhörung und gegebenenfalls weiterer Ermittlungen wird über den Asylantrag entschieden. Die Entscheidung, ob Flüchtlinge eine Anerkennung und damit eine befristete Aufenthaltserlaubnis, subsidiären Schutz erhalten oder ob ein Abschiebungsverbot vorliegt oder sie ausreisepflichtig sind, erfolgt in schriftlicher Form versehen mit einer Rechtsbehelfsbelehrung. Menschen, die Verfolgung erlitten, die aus Kriegsgebieten flohen oder aus anderen Gründen ihre Heimat verließen, haben in Europa grundsätzlich das Recht auf ein Asylverfahren. Das Land, in dem sie das Verfahren durchführen, können sie jedoch nicht frei wählen. Es gilt die Regel, dass jenes Land für einen Asylbewerber zuständig ist, in dem dieser zuerst europäischen Boden betritt. Diese Zuständigkeit wird im sogenannten Dublin-Verfahren geprüft. Die erste Aufgabe der Entscheider/-innen besteht also darin, im Dublin-Verfahren herauszufinden, ob ein anderer europäischer Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Damit soll sichergestellt werden, dass jeder Asylantrag, der in der EU, Norwegen, Island, der Schweiz und Liechtenstein gestellt wird, inhaltlich geprüft wird, aber nur durch einen Staat. Erst wenn feststeht, dass Deutschland für das Verfahren zuständig ist, kann die Prüfung, ob die Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung nach den in Europa geltenden Regeln vorliegen, stattfinden. Während das BAMF das Asylverfahren durchführt, sind die Bundesländer für die Unterbringung und soziale Betreuung Asylsuchender zuständig. Das Anerkennungsverfahren für Asylsuchende ist im Wesentlichen im Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) geregelt.

Immer mehr Asylbewerber/-innen: eine immense Herausforderung Seit dem Jahr 2008 – dem Jahr mit den geringsten Zugängen von Asylsuchenden seit den 1990er Jahren – in dem rund 29 000 Asylerst- und Folgeanträge gestellt wurden, ist die Zahl der Anträge kontinuierlich angestiegen. Vor dem Hintergrund der Konflikte unter anderem in Syrien, Somalia, Eritrea, Teilen der Russischen Föderation und den Staaten des Westbalkans gab es im Jahr 2013 schon 127 000 Asylanträge. Mit nun rund 200 000 Anträgen im Jahr 2014 ist ein neuer Höhepunkt erreicht.

Zwischen Schutzauftrag und Ausweisungspflicht: das BAMF19

Die jährliche Steigerung der Anzahl der zu entscheidenden Asylanträge über die letzten fünf Jahre stellt eine große Herausforderung für alle Mitarbeitenden des Bundesamts dar. Denn qualitativ hochwertige Asylverfahren in angemessener Zeit sind für alle Beteiligten, insbesondere natürlich für die Schutzsuchenden, von eminenter Bedeutung. Schutzsuchende sollten möglichst bald nach der Antragstellung und Prüfung des Antrags erfahren, ob sie mit einem positiven Abschluss des Asylverfahrens rechnen können, ob sie damit eine Bleibeperspektive besitzen und ihnen entsprechende Integrationsmaßnahmen zustehen. Dazu gehören unter anderem die Teilnahme an einem Integrationskurs, wie bereits erläutert, und die Möglichkeit, im Ausland erworbene Berufsabschlüsse anerkennen zu lassen. Aber auch Antragstellende, bei denen sich nach der Prüfung ihres Antrags ergibt, dass kein Schutzanspruch besteht und sie wieder ausreisen müssen, sollten dies umgehend erfahren. Das Bundesamt unternimmt große Anstrengungen, um mit der steigenden Zahl der Asylanträge Schritt zu halten. So wurden Mitarbeitende aus allen Arbeitsbereichen des Amts, insbesondere aus dem Integrationsbereich, die bereits früher über Asylanträge entschieden haben, erneut geschult und wieder in diesem Bereich eingesetzt. Im Rahmen der haushaltsrechtlichen Möglichkeiten sind neue Sachbearbeiter/-innen eingestellt worden, auch gab es zeitweise Unterstützung durch Mitarbeitende anderer Bundes- und Landesbehörden. Im Bereich des mittleren Dienstes, für Tätigkeiten in den Asylverfahrenssekretariaten (Antragsannahme etc.), war und ist es möglich, rund 200 auf zwei Jahre befristete Arbeitsverträge abzuschließen. Auch wenn die genannten Personalverstärkungen mit einem erhöhten Schulungs- und Einarbeitungsaufwand verbunden waren und sind, konnte die Zahl der Entscheidungen Jahr für Jahr gesteigert, 2014 gegenüber 2013 sogar verdoppelt werden. Dennoch ist der weitere starke Anstieg in angemessener Zeit nicht zu bewältigen. Betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer der für alle im Jahr 2012 entschiedenen Erst- und Folgeanträge noch 5,5 Monate, erhöhte sich diese auf 6,9 Monate. Aktuell priorisierte Verfahren, wie die Verfahren syrischer Antragstellender, können in durchschnittlich 4,8 Monaten, Verfahren serbischer und mazedonischer Antragstellenden in 3,5 bzw. 4,2 Monaten abgeschlossen werden. Mit dem Bundeshaushalt 2014 ist es gelungen, den BAMF-Personalbestand um 300 neue Mitarbeitende zu erhöhen, 350 weitere Neueinstellungen können 2015 vorgenommen werden.

20  Detlef Bröker

Die Entscheider/-innen im BAMF Die derzeit rund 350 Sachbearbeiter/-innen Asyl, die sogenannten Entscheider/-innen, haben eine zentrale Aufgabe: die Asylverfahren fair und effizient durchzuführen.

Das wissen und können die Entscheider/-innen Maßgeblich für die Prüfung und Entscheidung des jeweiligen Asylantrags ist das individuelle Schicksal. Für diese anspruchsvolle Aufgabe müssen Entscheider/-innen über umfassende und aktuelle Kenntnisse des Asyl- und Ausländerrechts sowie über umfangreiches Herkunftsländerwissen verfügen. –– Entscheider/-innen müssen sich mit mehreren Herkunftsländern sehr gut auskennen und ihr Wissen darüber ständig aktualisieren. Einige der sehr vielfältigen Quellen sind Berichte des Auswärtigen Amts, des Hohen Flüchtlingskommissars (UNHCR), von Amnesty International und der Kirchen. –– Selbstverständlich sollten sie auch die aktuell wesentliche Spruchpraxis der Verwaltungsgerichte kennen. Doch nicht nur die deutsche Spruchpraxis ist von Interesse, auch die Rechtsprechung der obersten europäischen Gerichte muss den professionellen Entscheider/-innen bekannt sein. –– Sie müssen alle rechtlichen Voraussetzungen kennen, um zu wissen, welches Vorbringen der Antragstellenden rechtlich von Bedeutung ist. –– Hinzu kommen Dienstanweisungen, in denen der Umgang mit bestimmten Fallkonstellationen, zum Beispiel unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen oder kranken Personen, ausführlich geregelt ist. –– Außerdem wird von den Entscheider/-innen erwartet, dass sie sich gut mit dem System der elektronischen Aktenführung auskennen und sowohl im Internet als auch in der hauseigenen Datenbank Milo recherchieren können, um relevante Dokumente zu finden. –– Interkulturelle Kompetenz ist unbedingt erforderlich. Denn wer sich bei den Gepflogenheiten in der Körpersprache oder den Verhaltensweisen im Umgang mit Antragstellenden nicht auskennt, kann leicht falsche Schlüsse ziehen. –– Der souveräne Umgang mit den Dolmetschenden in angemessener professioneller Distanz, hohe Aufmerksamkeit für eine angemessene Übersetzung und ein Blick auf die Verständigung mit den Antragstellenden kennzeichnen die erfahrenen Entscheider/-innen.

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Insgesamt sind ein großes Erfahrungswissen, das Beherrschen von Befragungstechniken und interkulturelles Einfühlungsvermögen unverzichtbar. So arbeiten sie Die zentrale Aufgabe der Entscheider/-innen: Sie hören die Asylsuchenden genau und intensiv an und entscheiden anschließend über Asylanträge. Bei der Bearbeitung von Asylanträgen setzt das Bundesamt zur Prüfung von Anträgen vulnerabler Gruppen (geschlechtsspezifisch Verfolgte, unbegleitete Minderjährige, Folteropfer und Traumatisierte, Opfer des Menschenhandels) sogenannte Sonderbeauftragte ein. Diese sind zusätzlich geschult und verfügen über spezielles Wissen im Umgang mit besonders schutzbedürftigen Personen. Von den rund 200 Sonderbeauftragten sind derzeit 45 für den Umgang mit geschlechtsspezifisch Verfolgten, 90 für den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, 40 für die Anhörung von Folteropfern und traumatisierte Asylbewerber/-innen sowie 25 für Fragestellungen der Opfer des Menschenhandels ausgebildet. Sonderbeauftragte gibt es in allen Außenstellen, ihre Anzahl variiert je nach Größe der Außenstelle. Sie führen selbst Anhörungen durch und entscheiden diese Fälle auch.

Die Anhörung: voller Konflikte und Krisen Steht nach der Prüfung im Dublin-Verfahren fest, dass Deutschland für die Entscheidung über den Asylantrag zuständig ist, erfolgt die Prüfung des Asylantrags durch das Bundesamt. Im Rahmen der persönlichen Anhörung müssen Antragstellende selbst alle Tatsachen vortragen, die ihre Furcht vor politischer Verfolgung begründen. Sie müssen auch alle sonstigen Tatsachen und Umstände angeben, die einer Rückkehr entgegenstehen. Zu den erforderlichen Angaben gehören auch solche über Wohnsitze, Reisewege, Aufenthalte in anderen Staaten und frühere Asylanträge in Deutschland oder anderen Staaten. Die Anhörung ist nicht öffentlich, es können aber der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellenden sowie Vertreter/-innen des Bundes, eines Landes, des UNHCR oder Sonderbevollmächtigte für Flüchtlingsfragen beim Europarat teilnehmen. Über die Anhörung wird eine Niederschrift angefertigt, die die wesentlichen Angaben der Asylsuchenden enthält. Alle Antragstellenden erhalten eine Kopie. Mit der Anhörung sind besondere Herausforderungen an die Entscheider/-innen verbunden:

22  Detlef Bröker –– Entscheider/-innen sind die Ersten, die Asylbewerber/-innen zu ihren Fluchtgründen anhören. Es liegen ihnen deshalb häufig keine Vorinformationen über die Fallkonstellation vor. Sie können sich daher nicht in den Fall einarbeiten und auf die Anhörung vorbereiten. –– Da außer in Fällen mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen häufig keine Vorinformationen über die Antragstellenden vorliegen (wie beispielsweise eine Traumatisierung aufgrund von Folter oder eine Vergewaltigung) können entsprechend geschulte Sonderbeauftragte nicht immer direkt eingeplant und eingesetzt werden. –– Stellt sich diese besondere Fallkonstellation erst während der Anhörung heraus, kann die Anhörung abgebrochen und je nach Einzelfall entweder sofort oder in einer erneut terminierten Anhörung durch eine Sonderbeauftragte bzw. einen Sonderbeauftragten fortgesetzt werden. –– Schnell müssen sich die Entscheider/-innen auf die Antragstellenden einstellen und auf das Vorbringen sachgerecht eingehen. Sie müssen das Gespräch zielorientiert führen und dabei alle wesentlichen Fragen stellen, auf die es rechtlich ankommt. –– Sie müssen mögliche Traumatisierungen der Antragstellenden, die diese eventuell an einer detaillierten Schilderung des Verfolgungsschicksals hindern, erkennen. –– Auch wenn eine Anhörung mehrere Stunden dauert, müssen sie erkennen, wenn Widersprüche im Verlauf der Anhörung auftreten. Bestehen Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben, müssen sie den Antragstellenden Gelegenheit geben, diese Widersprüche aufzuklären. –– Sie müssen mit den Reaktionen der Antragstellenden sensibel umgehen. Wenn diese zusammenbrechen oder weinen, müssen sie Gesprächsstrategien für einen angemessenen Umgang mit solchen Situationen kennen. Sie müssen Eskalationen verhindern und Antragstellende aus dieser Situation wieder herausführen. –– Gleichzeitig müssen Entscheider/-innen selbstständig mit Situationen fertig werden, in denen sie schlimme Schicksale geschildert bekommen. –– Außerdem müssen sie das ganze Geschehen in der Anhörung gründlich und aussagekräftig ins Protokoll diktieren, damit dies eine ordentliche Entscheidungsgrundlage bildet und für die Gerichte im Fall der Ablehnung nachvollziehbar darlegt, wie sich die Anhörung tatsächlich abgespielt hat. –– Die Entscheider/-innen hören zwischen zwei und fünf Asylsuchende pro Tag – aufgrund der hohen Zugangszahlen – an mehreren Tagen hintereinander an.

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Die Entscheidung: für oder gegen einen Schutzanspruch Die Entscheidung über den Asylantrag erfolgt schriftlich. Die Entscheidung wird begründet und den Beteiligten mit einer Rechtsbehelfsbelehrung sowie einer Übersetzung des Tenors der Entscheidung zugestellt. –– Für die Entscheidung selbst müssen die Entscheider/-innen sich erneut mit dem Fall beschäftigen und sämtliche Aspekte des Vortrags würdigen. Auch wenn sie dabei durch verschiedene Instrumente unterstützt werden – so stehen zum Beispiel für verallgemeinerungsfähige Sachverhalte Herkunftsländer-Leitsätze und Textbausteine bereit –, müssen sie entscheiden, ob der Vortrag der Antragstellenden glaubhaft war und den vorgetragenen Sachverhalt unter die bereits genannten Rechtsvorschriften subsumieren. Das heißt, es ist zu prüfen, ob sich aus dem Vorgetragenen ein Schutzanspruch ergibt. –– Grundsätzlich sollen sich die Entscheider/-innen an den Leitsätzen zu den jeweiligen Herkunftsländern orientieren. Dies soll verhindern, dass unterschiedliche Bewertungen der jeweiligen Lage in den Herkunftsländern vorgenommen werden und die Asylchancen davon abhängen, von welchem Entscheider oder welcher Entscheiderin das Verfahren bearbeitet wird. In gut begründeten Fällen können sich Entscheider/-innen aber über solche Länderleitsätze der Zentrale hinwegsetzen. –– Gegebenenfalls sind vor der Entscheidung weitere Ermittlungen zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich. Dazu besteht die Zugriffsmöglichkeit auf das Informationszentrum Asyl und Migration des Bundesamts (IZAM) und dessen Datenbanksystem. –– Darüberhinausgehende Recherchemöglichkeiten ergeben sich zum Beispiel über individuelle Anfragen an das Auswärtige Amt, Sprachund Textanalysen, physikalisch-technische Urkundenuntersuchungen sowie die Einholung medizinischer oder psychologischer Gutachten. –– Auch steht das Bundesamt in regelmäßigem Kontakt und Informationsaustausch mit sachkundigen Organisationen auf dem Gebiet des Asyl- und Flüchtlingsschutzes – besonders mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) sowie der International Organisation for Migration (IOM). Auswahl und Qualifikation von Entscheider/-innen Die derzeit im Bundesamt tätigen Entscheider/-innen sind Beamt/-innen des gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienstes mit einem Fachhochschulabschluss (Verwaltungswirt/-in) beziehungsweise Angestellte mit vergleichbarem Abschluss. Neu einzustellende Bewerber/-in-

24  Detlef Bröker nen müssen über ein abgeschlossenes Bachelor- oder Diplomstudium (FH) der Fachrichtungen öffentliche Verwaltung, Public-Management, Verwaltungswissenschaften, Staatswissenschaften oder einem an einer Hochschule erworbenen gleichwertigen Bachelor oder vergleichbaren Abschluss verfügen. Einstellungsvoraussetzungen sind: –– Interesse an den Aufgaben des BAMF – Asyl, Integration, Migration –– Interesse an gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen und migrationspolitischen Fragestellungen –– eine selbstständige Arbeitsweise, Organisationsgeschick und Eigeninitiative –– die Fähigkeit zu konzeptionellem und strukturiertem Arbeiten auch unter Termindruck –– ein freundliches, selbstsicheres Auftreten, Kontaktfreudigkeit und Verhandlungsgeschick –– Kommunikationsfähigkeit, Kooperations- und Teamfähigkeit –– ein hohes Verantwortungsbewusstsein –– Konfliktfähigkeit und Durchsetzungsvermögen Um die Qualifikation der Entscheider/-innen zu unterstützen und zu verbessern, sind regelmäßige Schulungen im Bundesamt obligatorisch. Für neue Entscheider/-innen ist ein umfangreiches Einarbeitungs- und Schulungsprogramm erarbeitet worden. Die Entscheider/-innen werden am Anfang durch geschulte Kolleg/-innen mindestens drei Monate lang eingearbeitet, daneben stehen Aus- und Fortbildungsangebote zur Verfügung, unter anderem zu länderspezifischen Themen und Seminare zur Glaubwürdigkeitsprüfung. Ein Unterstützungsprojekt zur Sicherung von Qualitätsstandards Die tägliche Konfrontation mit menschlichen Schicksalen, aber auch die vielen falschen Geschichten, die vorgetragen werden, führen mit der Zeit zu einer hohen psychischen Belastung. Auch besteht die Gefahr einer Abstumpfung. Um die Mitarbeitenden im Asylbereich bei der Stressprävention und Lösung von Krisensituationen zu unterstützen und damit die Qualitätsstandards des Verfahrens für jeden einzelnen Asylbewerber und für jede einzelne Asylbewerberin zu gewährleisten, hat das Bundesamt 2010 das Pilotprojekt »Supervision sowie Training und Coaching für Entscheider im Asylbereich« gestartet. Die Supervision stellt dabei eine psychologische Maßnahme zur Gesundheitsvorsorge dar. Sie bietet einen innerbetrieblichen Raum des

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Nachdenkens, Aufarbeitens, Verstehens und Entlastens für Mitarbeitende, die über einen längeren Zeitraum mit einer hohen Arbeitsbelastung konfrontiert sind. Ziel ist, die persönliche Stabilität der Entscheider/-innen zu stärken. Die spezifischen Trainings- und Coachingseminare zielen auf die Vermittlung von Theorie und Praxis im Umgang mit Konflikten und Krisensituationen in Anhörungen ab. Sie bezwecken insbesondere ein individuelles Stressmanagement. Dadurch soll trotz des bereits genannten Anstiegs der Zugangszahlen das qualitativ hohe Niveau in den Anhörungen erhalten werden. Diese zwei Instrumente tragen zur Sicherung von Qualitätsstandards bei, von denen im weiteren Sinne alle Asylbewerber profitieren. An den Supervisionen haben seit 2011 60 Entscheider/-innen in 12 verschiedenen Supervisionsgruppen teilgenommen. Die 15 Trainingsmaßnahmen haben 130 Mitarbeitende aus dem Asylbereich absolviert. Die interne Sicht und Motivation Fragt man Entscheider/-innen, warum sie diesen Beruf ergriffen haben, erhält man sehr häufig die Antwort, es sei eine vielseitige, herausfordernde und verantwortungsvolle Tätigkeit. Viele Entscheider/-innen haben sich ganz bewusst für diesen Beruf entschieden, da sie zum Beispiel davon fasziniert waren, vielen Menschen aus anderen Kulturen zu begegnen, und davon, dass sie Entscheidungen treffen können, die für das Schicksal von Menschen Bedeutung haben. Andere verstehen sich nicht als Richter/-innen über das Schicksal von Menschen, sondern über Fakten. Sie sehen es so, dass sie einen Sachverhalt erfassen, prüfen, ob er richtig ist und ob er am Ende unter eine Schutzvorschrift fällt oder nicht. Lernen, EU-konform zu entscheiden Um die Arbeitsbelastung der Entscheider/-innen und die damit verbundenen Herausforderungen richtig einordnen zu können, ist auch noch ein kurzer Blick auf den europäischen Kontext der Flüchtlingspolitik notwendig. Die Herstellung des »Gemeinsamen Europäischen Asylsystems« ist ein zentrales politisches Ziel der Europäischen Union im Rahmen des Stockholmer Programms für die Jahre 2010 bis 2014. Die erste Harmonisierungsphase des Asyl- und Flüchtlingsrechts in der Europäischen Union war im Wesentlichen im Jahr 2005 abgeschlossen. Im Juni 2013 haben das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union auf Vorschlag der Europäischen Kommission nach langjährigen Verhandlungen Neufassungen der Rechtsakte erlassen – und

26  Detlef Bröker zwar zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für die Prüfung von Asylanträgen (Dublin-Verordnung), zur Feststellung der Identität (EURODAC-Verordnung), zum Asylverfahren als solchem und zu den Aufnahmebedingungen sowie bereits Ende 2011 zu den Voraussetzungen der Flüchtlingsanerkennung. Die Herstellung des »Gemeinsamen Europäischen Asylsystems« ist damit auf rechtlicher Ebene vorerst erreicht und muss nun in allen Staaten umgesetzt werden. Die rechtlichen Rahmenbedingungen durch diese europäische Harmonisierung wurden also in den letzten Jahren immer komplexer. Um richtige Entscheidungen, nämlich solche, die mit den neuesten EU-Regeln konform gehen, treffen zu können, bedeutet dies für die Entscheider/-innen: Sie befinden sich in einem andauernden Lernprozess. Der Druck wächst Eine weitere Herausforderung ist die schiere Menge der gestellten Anträge. Wie bereits beschrieben sind qualitativ hochwertige Asylverfahren in angemessener Zeit für alle Beteiligten wichtig. Angesichts der derzeitigen täglichen Zugänge von über hundert Antragstellenden in einigen Außenstellen und einer Anhörungskapazität zwischen zwei und fünf Asylsuchenden je Entscheider/-in pro Tag, steigt die Zahl der noch anzuhörenden Personen von Tag zu Tag an. Dies kann bei den Entscheider/-innen dazu führen, dass sie sich ständig mehrfach unter Druck gesetzt sehen. Einerseits müssen sie die Erwartungshaltung der Vorgesetzten erfüllen, andererseits ist trotz aller Bemühungen kein »Land« in Sicht. Kranken- und sonstige Fehlzeiten gehen angesichts dieser Situation immer zu Lasten der Kolleg/-innen, die bereits terminierte Anhörungen übernehmen müssen.

Involvierung versus Distanzierung In jedem Fall ist der Beruf der Entscheider/-innen mit großen Herausforderungen verbunden und eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit. Sich jeden Tag mit den Schicksalsgeschichten von Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, seien sie wahr oder erfunden, auseinandersetzen zu müssen, erfordert viel Einfühlungsvermögen und Selbstdisziplin. Da es wohl nur wenige Menschen gibt, die emotionslos auf das Leid und die Not von anderen reagieren, stehen Entscheider/-innen immer im Spannungsfeld zwischen Involvierung und Distanzierung. Ein Auszug aus einem Porträt über zwei Entscheiderinnen, das im Jahr 2014 im »Spiegel« Nr. 15 veröffentlicht wurde, macht das deutlich: »Hinter

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meinem Ja oder Nein steht immer ein Weil, das mich vor willkürlichen Entscheidungen schützt.« Natürlich hat auch Frau T. Bewerber/-innen, die ihr sympathischer sind als andere. Soll auch keiner denken, dass eine Familie sie kaltlässt, die zu Hause alles aufgegeben hat, damit ihre Kinder eine Schulbildung bekommen, eine Chance, in Deutschland. Und wie könnte sie sich in der Anhörung in Menschen hineinversetzen ohne Mitgefühl für diese Menschen? Aber wenn sie entscheidet, nie sofort, immer erst Tage später, mit dem nüchternen Protokoll vor sich, muss sie das alles ausschalten. »Emotionen sind nicht falsch in meinem Beruf, aber sie gehören in die Anhörung, nicht später in die Entscheidung. Wer diesen Spagat nicht schafft, wird weder glücklich noch normale Ergebnisse erreichen.«

Elise Bittenbinder Vorsitzende der BAfF, Klinische Leitung bei XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte

Traumatisierte Menschen – und wie sie in Deutschland Schutz finden Viele Flüchtlinge, die in Deutschland Schutz suchen, sind Opfer von staatlicher oder politischer Gewalt bzw. anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen. Sie sind betroffen von menschengemachten Katastrophen, die wir als traumatische Ereignisse definieren. Traumatisierte Menschen zeigen uns etwas, das jedem von uns passieren kann. Wir sehen Zerstörung und Verlust von Sicherheit und Glück. Traumatisierung bedeutet Entfremdung vom dem, wie man sich selbst, die Familie, Freunde und die Welt erlebt.

Die Zersplitterung von Menschen, Gedächtnis und Welten Trauma bedeutet in vielen Fällen den kompletten psychischen Zusammenbruch. Er kommt der Todeserfahrung eines Menschen gleich. Dieser Zusammenbruch kann in einem einzigen schrecklichen Moment geschehen oder in einem langen Prozess. Oft ist es schwierig oder unmöglich, im Nachhinein einen exakten Moment zu benennen, in dem alles zusammengebrochen ist. Es ist danach schwierig, sich selbst als die gleiche Person vorzustellen, die man vorher war; eine Welt vorzustellen, die zerfallen ist, von der man aber immer noch ein Teil ist. Diejenigen, die mit traumatisierten Menschen zusammenarbeiten, mit Opfern sogenannter »man made disasters«, kennen die unaussprechlichen Schrecken und den Terror, die Angst und die Zerstörung, die Teil der psychischen Natur von Menschen werden können. Ein Trauma ist die Erfahrung tiefer und endloser Angst. Angst, die normalerweise etwas sehr Nützliches ist, weil sie uns hilft, uns zu schützen, wird in diesem Fall selbst eine Bedrohung. Sie ist eine existenzielle Bedrohung, die zu jeder Zeit auftauchen und unberechenbar werden kann. Sie bezieht sich nicht mehr auf etwas, das außerhalb der Person liegt. Sie wird zu etwas in ihr. Das Gedächtnis von Menschen und Gesellschaften, in denen massive

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Traumata auftreten, ist vom Trauma geprägt. Es ist ein zersplittertes Gedächtnis mit Lücken oder Amnesien und Verzerrungen oder auch Fantasien einer Erinnerung. Ein Trauma ist eine Erfahrung des Leidens, die geteilt werden kann, die eventuell auch ins Leben integriert, aber nicht geheilt werden kann. Wenn jemand vergewaltigt oder fast getötet wurde, wenn seine oder ihre Kinder getötet wurden, dann reden wir von schrecklichen Erlebnissen, die nie wieder aus dem Bewusstsein der Betroffenen verschwinden werden. Einige dieser Erlebnisse sind so grausam, so voller Verlust und Zerstörung, dass die Erinnerungen an sie nicht ausgelöscht werden können und wahrscheinlich auch nicht sollten. Traumatisierte Personen können vielleicht lernen, sich von ihren Erfahrungen nicht mehr verfolgen zu lassen, vielleicht können sie lernen, ein »normales Leben« zu führen. Aber all dies muss nicht bedeuten, dass damit ihr Leiden verschwindet. Es geht bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse nicht darum, ein Problem als Ganzes zu lösen. Von Bedeutung ist vielmehr, ob Menschen, die dies erfahren haben, ihrem Verlust allein gegenüberstehen müssen oder ob sie dieses Leid mit anderen teilen können.

Verschiedene Definitionen und Sichten von Trauma Das Wort »Trauma« stammt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet »Wunde«. Der analoge Gebrauch des Worts in der Psychologie und der Psychiatrie begann jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts. Die Analogie wurde Teil des Erklärungsversuchs für bestimmte psychische Störungen, die das Ergebnis eines durch äußere Ereignisse verursachten psychischen Zusammenbruchs waren. Diese Ereignisse überforderten die Kapazität der Psyche, adäquat auf sie zu reagieren. Obgleich es inzwischen viel professionelles und auch öffentliches Interesse am Thema Trauma gibt, kann man sich nach wie vor nicht auf »die« international gültige Definition von Trauma berufen. Es gibt also auch nicht »den« Weg, um zu beurteilen, wie sich traumatische Lebensereignisse auf das Erinnerungsvermögen oder als Störung im persönlichen oder sozialen Verhalten auswirken, oder wie betroffenen Menschen geholfen werden kann, traumatische Lebenserfahrungen zu überwinden oder mit ihnen leben zu lernen. Gleichwohl gibt es inzwischen sehr viel Wissen zum Thema Trauma und erprobte Wege – kennenswerte »handwerkliche« Mittel – im Umgang damit. In Deutschland ging man in der psychiatrischen Krankheitslehre bis in die 1980er Jahre davon aus, dass Stressfaktoren zwar psychische

30  Elise Bittenbinder Störungen erzeugen, dass diese jedoch mit dem Aufhören der Stresssituation enden oder sich doch so verringern, dass nicht mehr von einer »Krankheit« gesprochen werden kann. »Von einer Tiefenwirkung und Weiterwirkung der stattgehabten Verfolgungsmaßnahmen – von Ächtung, Diskriminierung, Diffamierung, Erniedrigung, Verfemung, Vertreibung … – war höchst selten die Rede« (Niederland, 1980). In Deutschland lieferten die Studien an Überlebenden der NS-Verfolgung (Venzlaff, 1958; Matussek, 1961; von Baeyer, Häfner u. Kisker, 1964) die ersten wissenschaftlich fundierten Ergebnisse, dass unter bestimmten Umständen erlebnis- und verfolgungsbedingt ein psychisch tiefgreifender Persönlichkeitswandel stattfinden kann. Beschrieben wurden chronische, äußerst hartnäckige, therapeutisch wenig beeinflussbare Beschwerden, Leistungsmängel und Veränderungen der sozialen Persönlichkeit, die hirnpathologisch nicht erklärbar waren, sich jedoch biografisch aus den furchtbaren, leiblich-seelisch-sozialen Schicksalen der Verfolgung erklären ließen.

Die psychopathologische Sicht Aus psychopathologischer Sicht sind die psychischen Reaktionen auf extreme Belastungen inzwischen wissenschaftlich soweit abgesichert, dass sie 1980 als neue Kategorie in das international anerkannte Diagnostische und Statistische Manual der Krankheiten (DSM III-R) und in das Internationale Klassifikationssystem der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-9) Eingang fanden. Es scheint geklärt, dass es häufig auftretende Symptome gibt, die sich in der Konzeption der posttraumatischen Belastungsstörung (Abkürzung PTBS; ICD-10: F43.1; englisch: posttraumatic stress disorder, Abkürzung: PTSD) gut beschreiben lassen. Strittig ist jedoch, ob bzw. mit welcher Reichweite dieses Konzept in der Lage ist, alle traumatischen Situationen und deren Relevanz adäquat zu erfassen (Becker, 2002; Hollifield, 2002; Bracken, Giller u. Summerfield, 1995; Miller, Kulkarni u. Kushner, 2006). Immerhin ordnet die nunmehr fünfte Revision des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association (APA) – erschienen im Mai 2013 und nach wie vor weltweit eine der wichtigsten Publikationen im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie – die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) inzwischen einer eigenständigen Störungsgruppe zu: den »trauma- und stressorbezogenen Störungen«. Traumafolgestörungen werden also durch ihren Bezug zu traumatischen Ereignissen bzw. spezifischen Stresso-

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ren als Auslöser von anderen Angststörungen, denen die PTBS bislang zugeordnet war, abgegrenzt (Kapfhammer, 2014). Damit wird der Besonderheit Rechnung getragen, dass traumatische Erfahrungen die menschliche Psyche eben nicht allein über das Furchtund Angstsystem beeinflussen, sondern entscheidend auch die Regulation von Scham, Schuld, Ärger oder auch Aggression beeinträchtigen können. Hier fließt auch die Erkenntnis ein, dass das Erleben eines Traumas psychisches Leid auslösen kann, das nicht ausschließlich mit der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung zu fassen ist. Die PTBS ist eine häufige Traumafolgestörung; sehr oft drücken sich die Erfahrungen traumatisierter Personen aber auch in Form anderer psychopathologisch relevanter Folgezustände aus, insbesondere in Angststörungen, in depressiven, somatoformen oder in Abhängigkeitserkrankungen (Foa, Stein u. McFarlane, 2006; Norris et al., 2002).

Die klinische Sicht und der wissenschaftliche Diskurs Sowohl in der klinischen Praxis als auch im wissenschaftlichen Diskurs wurden und werden diese pathologischen Kategorisierungen kritisch reflektiert. Zum einen wird den Besonderheiten der Verletzungen durch lange andauernde, von Menschenhand ausgeübte Gewalt, ihr Einfluss auf das Selbstkonzept, die Weltsicht und die Beziehungen der betroffenen Personen, auch im DSM-V kein Raum gegeben. Dem viel diskutierten Konzept der »komplexen posttraumatischen Belastungsstörung« bzw. der Störung nach Extremtraumatisierung (DESNOS) wurde kein eigenständiger diagnostischer Status eingeräumt (Kampfhammer, 2014)1. Darüber hinaus werden die aktuellen klinischen Traumakonzepte von vielen Autor/-innen (unter anderen Becker, 2002; Hollifield, 2002; Bracken et al., 1995; Miller et al., 2006) nicht nur für die Entkontextualisierung der traumatischen Erlebnisse selbst kritisiert, sondern auch für das Ausblenden der sozialen und der interpersonalen Dimension von Gewalterfahrungen. Menschen, die in Krisengebieten arbeiten oder mit Geflüchteten, die Schutz vor Krieg und Menschenrechtsverletzungen suchen, sind täglich nicht nur mit dem Leid dieser Menschen konfrontiert, sondern auch mit den Ursachen und der Unausweichlichkeit, mit der diese Ursachen zu tiefen Erschütterungen in Individuen und Gemeinschaften führen. Deshalb stellen sie den Namen, der diesem Leid in sozialpolitischen Prozessen 1 In die ICD-11, deren Erscheinen für Mai 2015 vorgesehen ist, wird die komplexe Belastungsstörung vermutlich aufgenommen werden (Kampfhammer, 2014).

32  Elise Bittenbinder gegeben wird, infrage. Sie kritisieren außerdem die Behandlungsformen, mit denen Leid, das durch unmenschliche Systeme erzeugt wird, nun mit individualisierenden Ansätzen »geheilt« werden soll.

Auschwitz, Somalia, Syrien Für die Diagnostik und Behandlung einer PTBS ist es aus klinischer Sicht meist nicht von Bedeutung, ob ein Mensch in Auschwitz, Somalia oder Syrien lebt oder gelebt hat, ob das Trauma Folge von Folter, einer plötzlichen lebensbedrohlichen Erkrankung, eines Verkehrsunfalls oder eines Auslandseinsatzes von Soldaten in Afghanistan ist. Sowohl die Art des Traumas als auch das soziale oder politische Problem ist unwichtig. Es wird in ein psychopathologisches Problem umgewandelt. Da bei der PTBS eine individuelle »Störung« im Vordergrund steht, ist wohl verständlich, dass sich einige Opfer oder Überlebende von Menschenrechtsverletzungen gegen eine Pathologisierung wehren. Sie wollen sich nicht als »psychisch krank« oder »verrückt« bezeichnet sehen. Sie wollen, dass ihre Leiden anerkannt und die ihnen zugefügten Menschenrechtsverletzungen dokumentiert werden oder ihnen Gerechtigkeit widerfährt. In gewisser Weise ist die Lösung eines Traumas daher eng mit der Art und Weise verbunden, wie die Gesellschaft mit der Frage nach Wahrheit und Gerechtigkeit umgeht. Die Frage lautet hier, ob ein Trauma als eine »normale Reaktion auf eine anomale Situation« anerkannt werden kann – als Situation, die extremes psychisches Leid verursacht, deren »Abnormalität« aber ein wesentlicher Bestandteil der äußeren Umwelt ist. Man könnte also sagen, es zeigen sich mindestens zwei grundlegende Traumakonzepte und darauf aufbauende Hilfs- oder Behandlungsangebote: –– Die Betrachtung des Traumas als geschlossenes medizinisch-psychologisches Konzept, wie etwa bei der posttraumatischen Belastungsstörung. Hier wird ein Katalog der Symptome (a) aufdrängendes Wiedererinnern, Flashbacks, Intrusionen; b) Vermeiden; c) Erinnerungsstörungen; d) Hypervigilanz, anhaltende erhöhte Erregung/ Reizbarkeit und/oder emotionale Abstumpfung/Isolation; für eine spezifische mentale Krankheit in einem spezifischen zeitlichen Rahmen festgelegt. Die soziale Umgebung (etwa Verfolgung oder Genozid) als Ursache einer Krankheit oder Symptomentwicklung ist nicht relevant für dieses Konzept. Langanhaltende chronische Verlaufsprozesse oder Symptome, die erst viele Jahre nach der eigentlichen traumatischen Situation auftreten können (»late-onset«), können schlecht

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abgegrenzt oder erklärt werden. Ebenso wenig erfasst wird über eine solche individuelle Diagnose, dass Traumata Familienstrukturen und sinnstiftende Gemeinschaften zerstören können. –– Die Betrachtung des Traumas als sozialer und politischer Prozess. Studien aus Kriegs- und Krisengebieten zeigen, dass Traumatisierungen Familien und sinnstiftende Gemeinschaften zerstören sowie als soziale Prozesse ganze Gesellschaften beeinflussen können. Sie zeigen auch auf, dass Traumata im spezifischen sozialen, kulturellen und politischen Zusammenhang verstanden werden müssen. Aufgenommen und verstärkt wird diese Sicht durch die Arbeit mit Überlebenden oder Opfern von Folter oder Menschenrechtsverletzungen, die als Geflüchtete oder Schutzsuchende nach Europa oder Deutschland gekommen sind. Traumatisierung wird als individueller und gemeinschaftlicher Prozess definiert, der auch die Lebenssituation im Exil und unter den erschwerenden Bedingungen eines unsicheren Aufenthalts einbezieht. Die gesellschaftliche und die psychologische Dimension sind voneinander abhängig. Bei Hilfsangeboten und in der Behandlung müssen im Prozess sowohl die Fähigkeiten des Individuums als auch die gesellschaftlichen Strukturen angemessen berücksichtigt werden. Das impliziert eine Perspektive, die anerkennt, dass Prozesse der Traumatisierung nicht mit dem Ende von Kriegen, der Entlassung aus der Haft und dem gelungenen Versuch, einer Kriegs- und Krisenregion zu entkommen, beendet sind; dass ein Trauma mit der Befreiung nicht verschwindet, sondern nur in eine neue Sequenz übergeht.

Sequenzen von Trauma bei Flüchtlingen Die Untersuchungen des deutsch-niederländischen Arztes und Psychoanalytikers Hans Keilson haben in diesem Zusammenhang das Modell der »sequenziellen Traumatisierung« (Keilson, 1979) geprägt. In diesem Modell bilden »die sich aus der Verfolgung ergebenden Folgen […] einen integralen Bestandteil des gesamten Verfolgungsgeschehens« (S. 55). In einer Langzeitstudie mit von durch die nationalsozialistische Verfolgung traumatisierten jüdischen Waisenkindern zeigt Keilson auf, dass die extreme Belastungssituation der Überlebenden stets aus einer Folge massiver, sich gegenseitig verstärkender traumatischer Sequenzen entsteht; und wie wichtig die Phasen nach der initialen Traumatisierung für die Entwicklung und die Verarbeitung psychischer Symptome ist: –– 1. Sequenz: die Besetzung der Niederlande und der Beginn des Terrors. So arbeitet er in seinen Studien als erste Sequenz traumatischer

34  Elise Bittenbinder Erfahrungen den Beginn der Verfolgung der jüdischen Minderheit heraus: die Angriffe auf die psychische und soziale Integrität von Individuen und Familien, der bröckelnde Rechtsschutz, immer häufigere Razzien, die Verpflichtung zum Tragen des gelben Sterns und schließlich »die panische Auflösung der eigenen vertrauten Umgebung« (Keilson, 1979, S. 56). –– 2. Sequenz: Die Phase der direkten Verfolgung. Die zweite traumatische Sequenz bestand in der direkten Verfolgung, der Deportation, dem Untertauchen in Verstecken und schließlich dem Aufenthalt in Konzentrationslagern. Das Erleben der Kinder war hier bereits sehr viel deutlicher von traumatogenen Momenten geprägt: neben der »direkten Lebensbedrohung, der Rechtlosigkeit ihrer Situation, dem Ausgeliefertsein an eine feindliche Umgebung, die im stressorischen Sinne zu verstehenden Dauerbelastungen wie Entbehrung, Hunger, Krankheit; ferner eindeutig die psychologischen Erlebnisqualitäten der ›generellen Bedrohlichkeit‹, wie Zermürbung, Infragestellung und Vernichtung mitmenschlicher Verhaltensweisen […] durch die Konfrontation mit der brutalen Macht, dem Grauen und dem Tod« (Keilson, 1979, S. 57). –– 3. Sequenz: Die Nachkriegsperiode. In der dritten traumatischen Sequenz stand für die Waisenkinder in Keilsons Studien vor allem die Waisen- und Vormundschaftsproblematik, also die unabwendbare »Konfrontation mit der Modalität des Todes der Eltern« (Keilson, 1979, S. 58), und vor allem auch die Anforderung, sich nach dem Erlebten »aus dem Zustand der Passivität, der Duldung, des Mit-sichgeschehen-Lassens« (S. 70) nun wieder aktiv und entschlossen in das »neue« gesellschaftliche Leben einzugliedern. Die retrospektiv als Erwachsene befragten Waisen beschrieben diese Nachkriegszeit als die eingreifendste und schmerzlichste Erfahrung ihres Lebens. Keilson konnte außerdem zeigen, dass langfristig die psychische Gesundheit der Waisen nicht allein vom Schweregrad der ersten beiden traumatischen Sequenzen beeinflusst wurde. Denn den Kindern, die nach dem Krieg unter vergleichsweise guten Bedingungen lebten, ging es schließlich deutlich besser als denjenigen Kindern, die eine schwierige Nachkriegsperiode hatten – selbst wenn diese eine vergleichsweise weniger schreckliche Verfolgungsgeschichte erlebt hatten. Zumindest im deutschsprachigen Kontext ist Keilsons Ansatz damit zu einem der wertvollsten existierenden Ansätze zum Thema Trauma geworden, der weder den soziokulturellen Aspekt ausklammert noch die psychodynamischen Prozesse und intrapsychischen Abläufe einschränkt und auch diverse ethnische bzw. kulturelle Entwicklungen zulässt.

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Individuelles Leid und gesellschaftlicher Prozess werden im Bezug zueinander definiert. Setzt man dies in die Realität von Geflüchteten um, wird sehr verständlich, dass das Trauma nicht nur im Heimatland stattfindet, sondern auf der Flucht nur in eine neue Sequenz übergeht und letztendlich auch eine gelungene Rückkehr eine weitere traumatische Sequenz sein kann. Traumata sind somit als Phasen zu verstehen, deren Beginn wir eruieren können, die dann Teil des Lebens und jederzeit (wieder) virulent werden können, wenn persönliche Lebenskrisen, die soziale Umwelt oder politische Prozesse erneut zerstörerisch wirken. So ist einer der Vorteile dieses Ansatzes, dass er in unterschiedlichen soziokulturellen und politischen Gegebenheiten genutzt werden kann. Der wichtige sequenzielle Wechsel in diesem Zusammenhang – und das gilt für alle Teile der Welt – ist der Wechsel von aktiven Kriegs- und Verfolgungshandlungen und der Zeit danach. Hierbei muss auch »danach« in sehr unterschiedliche Sequenzen eingeteilt werden. Zum Beispiel die aktuelle Situation von Geflüchteten aus Syrien, die vielleicht über Libyen fliehen, dort zwischen die Fronten geraten und mit Waffengewalt gezwungenermaßen mit dem Boot nach Lampedusa gelangen, in Italien keinerlei Lebensperspektiven entwickeln können, schließlich in Deutschland Sicherheit suchen und hier keine Chance auf Anerkennung ihres Asylbegehrens haben, weil die Dublin-III-Konvention dies nicht erlaubt. Durch die »Sondergesetze« für Flüchtlinge sind die Betroffenen hier außerdem ganz besonderen Handlungsbehinderungen ausgesetzt: Perspektivlosigkeit, Ausgrenzung und Ohnmachtsgefühle beeinflussen den Verlauf der Symptomatik ganz entscheidend (vgl. Rössel-Cunovic, 1999; Carlsson, Mortensen u. Kastrup, 2007; Becker, 2002). Es ist also schwierig, das »danach« festzustellen – gleichzeitig wird deutlich, wie zentral die Idee der sequenziellen Traumatisierung ist.

Zu differenzieren: traumatische Situationen, Trauma und Symptome von Traumata Zusammenfassend können wir sagen: Im Kontext der von Menschenhand geschaffenen Katastrophen macht es Sinn, zwischen traumatischen Situationen, Trauma und den Symptomen von Traumata zu unterscheiden. Auch wenn bestimmte Krisen- und Kriegssituationen Traumata auslösen, heißt es nicht, dass jeder, der solche Situationen erlebt hat, traumatisiert ist. Für das Auftreten eines Traumas ist eine traumatische Situation notwendig, aber es muss daraus keine traumatische Störung entstehen. Und auch wenn jemand Traumata erlebt hat, ist die Frage nach Symptomen noch eine weitere, da diese enorm variieren können.

36  Elise Bittenbinder Ein Auftreten der Symptome fällt nicht unbedingt mit dem Auftreten des Traumas zusammen. Die »Wunde«, die geheilt werden muss, nennen wir »Trauma«. Als »traumatische Situation« beschreiben wir sowohl das persönliche traumatische Erleben als auch die Zerstörung von zwischenmenschlichen Beziehungen, des gesellschaftlichen Gefüges und der dafür grundlegenden Gesetze.

Ethische Fragen zwischen Menschenrechten und professioneller Neutralität Unsere Verpflichtung ist es, die Menschenrechte – die Menschlichkeit gegenüber Schwachen, Armen, Kranken usw. – in unserem Gesellschaftssystem durch geeignete Strukturen und Regeln einzulösen. Das ist eine große Vision, die eines weiten geistigen Raums bedarf, in dem in gegenseitiger Annahme und Toleranz alle ihren Platz finden. Eine Gesellschaft, die sich in einem ständig erneuernden Prozess zu mehr menschlicher Kultur entwickelt. Der Umgang mit Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, weil sie Schutz suchen, ist ein entscheidender Maßstab für die Humanität unserer Gesellschaft. Der richtige Hinweis, dass unbegrenzte Hilfe nicht sinnvoll ist, darf nicht zum Vorwand dafür werden, die Hilfe zu verweigern, die möglich ist, und im Namen des Rechts elementare Rechte einzuschränken oder zu missachten. Eine staatliche Asylpolitik, die den Menschenrechten verpflichtet ist, muss Strukturen, Systeme und Verwaltungsapparate so sinnvoll und zweckdienlich ausrichten, dass neben dem notwendigen Schutz der Gemeinschaft auch die größtmögliche »Menschlichkeit« garantiert wird. Dies kann nur im Dialog mit allen beteiligten Gruppen geschehen. Das schulden wir uns gegenseitig an Menschlichkeit bzw. dazu sind wir uns gegenseitig verpflichtet. Hilfe für die Betroffenen ist in diesem Kontext unauflöslich verbunden mit dem Schutz der Überlebenden vor einer Wiederholung der Gewalterfahrung. Erfolg ist schwer zu erringen, wenn das generelle Vertrauen in den Menschen als prinzipiell freundlichen und helfenden Anderen so tiefgreifend erschüttert ist wie nach menschengemachten Katastrophen. Eine erfolgsorientierte Hilfe und Unterstützung muss sowohl die Menschenrechtssituation im Herkunftsland des Überlebenden berücksichtigen als auch den Schutz vor weiterer Verletzung im Aufnahme-

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land. Ziel ist die möglichst umfassende Partizipation und Teilhabe an einer neuen Gemeinschaft. Die Entwicklung neuer Lebensperspektiven ist für die Integration von extremen traumatischen Ereignissen zentral.

40 % der Flüchtlinge sind traumatisiert Studien weisen darauf hin, dass etwa 40 % der Flüchtlinge, die in Europa Schutz suchen, traumatisiert sind (unter anderen Gäbel, Ruf, Schauer, Odenwald u. Neuner, 2006). Viele von diesen Menschen benötigen professionelle Hilfe. Für professionelle Helfer, die mit traumatisierten Menschen konfrontiert sind, stellt der Grad der Identifizierung mit dem Schicksal der Betroffenen eine besondere Herausforderung dar. Es kann zu einer zu weitgehenden Identifizierung mit fehlender Distanz kommen. Oder zu einer zu großen Distanz, weil das Leid nicht mehr ertragen wird. In beiden Fällen wird die Arbeit zur Bürde oder unprofessionell. Um extreme Situationen adäquat beurteilen oder helfend eingreifen zu können, muss Empathie entwickelt werden. Das bedeutet, sich emotional einzulassen auf extrem belastende Geschichten aus der Vergangenheit und der Gegenwart der Betroffenen. Die Tatsache, dass Kliniker bei einer Betreuung oder Behandlung mit Empathie und Einfühlungsvermögen vorgehen, bedeutet nicht, dass sie die Angaben nicht kritisch hinterfragen oder objektiv beurteilen. Gleichwohl sind professionelle Helfer/-innen im Psychosozialen oder Gesundheitswesen in besonderer Weise auch den Menschenrechten und somit ethisch verpflichtet, das Vertrauen der Klient/-innen oder Patient/-innen zu schützen.

Das Dilemma der Glaubhaftigkeitsbeurteilung Der Versuch, zu beschreiben, was wir denken und tun, wenn wir eine Entscheidung treffen oder uns als Expert/-innen an der Wahrheitsfindung beteiligen, ist eine Gratwanderung. Unwillkürlich mitentschieden wird, ob wir die Geschichte(n) unseres Gegenübers glauben – also auch unserer eigenen Wahrnehmung und Bewertung der Person und Situation. Der Unterschied zwischen Entscheidungsträger/-innen und professionellen Helfer/-innen im Sozial- oder Gesundheitswesen ist nicht nur, dass die einen eine Entscheidung treffen müssen und die anderen gegebenenfalls zu einer Entscheidungsfindung beitragen können, sondern auch eine grundsätzlich andere Rollenzuteilung und die daraus resultierende Haltung, Aufgabe und Sichtweise.

38  Elise Bittenbinder Zum Beispiel ist die Ausbildung von Psychotherapeut/-innen so gestaltet, dass sie ihre eigenen Gefühle und Motivationen bei allen Erwägungen mitreflektieren können müssen, das heißt, sich (unter anderem durch Intervision oder durch externe Supervision) und ihr Handeln regelmäßig überprüfen und infrage stellen müssen. Die eigenen Gefühle, Werthaltungen, Sichtweisen bzw. die Gefühle oder Reaktionen, die andere Menschen (durch Übertragung) in uns auslösen, werden als zentrale Informationen reflektiert. Wenn wir als Berater/-innen oder in der Behandlung von Opfern von Gewalt versuchen, »die Wahrheit« zu erfassen, tun wir dies, indem wir uns eine Geschichte erzählen lassen, und wir stellen Fragen, um die Geschichte, die Situation und die damit verbundenen Probleme zu verstehen. Natürlich ist es dabei entscheidend, zu klären, wie der Realitätsbezug aussieht, und einzuschätzen, ob ein realer Erlebnisbezug gegeben ist. Als Berater/-in oder Psychotherapeut/-in müssen wir ja gleichzeitig abwägen, ob der Erzähler der Geschichte gegebenenfalls psychische Beeinträchtigungen hat und die Realität nicht (mehr) richtig einschätzen kann oder ob es Motive gibt, um »Geschichten« zu erzählen. Diese Wahrheit, die wir nachzuvollziehen versuchen, beinhaltet zuallererst die emotionalen und intellektuellen Erinnerungen an lebensgeschichtliche Ereignisse. Diese Erinnerungen sind eventuell geprägt durch extremtraumatische Erlebnisse (und die damit verbundenen Besonderheiten) in einem anderen kulturellen Kontext. In vielen Fällen haben die Erfahrungen tiefe seelische Narben hinterlassen, welche das Sprechen erschweren oder unmöglich machen. Lassen wir uns auf diese Art der Wahrheitsfindung ein, ergibt sich häufig folgende Situation: Wenn wir nur die richtigen Fragen stellen würden, genügend Wissen über die Lebensrealität oder die politische Situation im Land XY hätten oder die Menschen genauer und über einen längeren Zeitpunkt beobachten könnten, dann würden wir beschreiben können, »was wirklich geschehen ist«.

Nie genügend Informationen Häufig verfügen wir aber nicht einmal über genügend Informationen oder die Zeit, die wir für notwendig erachten, um uns an der »Wahrheitsfindung« beteiligen zu können. Denn im Zusammenhang von Schutzgewährung und Aufenthalt für Opfer von Folter oder Menschenrechtsverletzungen geht es auch um die Sicherheit oder die Zukunft eines Menschen oder einer Familie.

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Nun wissen wir, dass die Entscheidungen doch getroffen werden müssen, und zwar in einem Verwaltungsverfahren von Entscheider/-innen, die zum einen nur einen sehr begrenzten Zeitrahmen haben und zum anderen nur einen verhältnismäßig kleinen Teil der Wahrheit kennen müssen oder können. Natürlich ist dieses Verfahren auch nicht geeignet oder darauf ausgelegt, das nötige Fachwissen zur Einschätzung traumaspezifischer Beeinträchtigungen durch Angststörungen oder im Erinnerungsvermögen zu berücksichtigen.

Die Unmöglichkeit, Gefühle zu vermeiden Es ist sehr schwierig, in rationalen Worten zu beschreiben, warum ich jemandem glaube oder nicht glaube. Man hört und liest häufig, dass Entscheidungsträger/-innen sich bei diesen Fragen von ihren »Berufs- oder Lebenserfahrungen oder Gefühlen« leiten lassen. Wohlwissend, dass dies selbstverständlich keine gute Grundlage für die legale Rechtfertigung einer Entscheidung bietet, werden Entscheidungen »sachgemäß« und rechtlich abgesichert vorgetragen. Es wird also vermieden, die eigenen »Gefühle oder Lebenserfahrungen« als mögliche Motivation für eine Entscheidung zu betrachten und anzuerkennen. Somit kann man sie auch nicht hinterfragen. Tatsächlich müssen Entscheider/-innen vermeiden, ein Asylbegehren abzulehnen, weil sie ihm oder ihr »nicht glauben«, selbst wenn dies so sein sollte. Sie werden versuchen, rationale Gründe zu erläutern oder »harte Fakten« darzulegen. Es kann zum Beispiel hingewiesen werden auf Lücken in der Darlegung, darauf, dass das Verhalten bei der Beschreibung der Vergewaltigung nicht dem Sachverhalt entsprach, auf fehlenden Detailreichtum oder fehlende Anschaulichkeit, auf Widersprüchlichkeiten oder mangelnde Plausibilität, einen Mangel an spezifischem Wissen und Daten, auf die fehlende Übereinstimmung mit Informationen aus Lageberichten, sonstigen Quellen oder Instanzen, fehlende Dokumente, auf ein Nichtnachkommen der Beweispflicht usw. Die Rationalisierung könnte dann ungefähr so aussehen: Selbst wenn XY die Wahrheit über ihre Folterungen erzählt, so kann sie doch auch in einer anderen Stadt in ihrer Heimat in Sicherheit leben oder kann auch in der Heimat eine Behandlung erhalten usw. So muss ich nicht näher erläutern, warum ich ihr nicht glaube. Dies unterschätzt den Input, den Glaubhaftigkeit auf die Entscheidungskriterien tatsächlich hat, und verschleiert die reale Entscheidungsfindung, ist mit anderen Worten unkorrekt oder zumindest oberflächlich.

40  Elise Bittenbinder Die Kehrseite dieser Vermeidungsstrategie ist die der falschen »Sicherheit« (in Bezug auf Entscheidungen), die dazu führen kann, dass man mit Präzision nicht nur sagen kann, was genau geschehen ist, sondern auch, warum. Zum Beispiel wird nicht nur festgestellt, ob eine junge Frau entführt oder vergewaltigt worden ist, sondern auch, ob diese Ausschreitungen im Einzelfall das Resultat von politischer oder ethnischer Unterdrückung war, wenn so etwas – laut anderer Quellen – in dieser Zeit in dieser Region nicht vorkommt. Eine solche Sicherheit, mit der Motive von Dritten identifiziert werden, verleugnet die Tatsache, dass einerseits menschliche Aktionen das Produkt von vielschichtigen ineinander übergreifenden Ideen, Gefühlen und Kognitionen sind, und gleichzeitig, dass Unterdrückung, Krieg oder Gewalt den Zusammenbruch von (menschlichen) Regeln bedeuten. Die Glaubhaftigkeit einer Person ist sowohl für die Helfer/-innen und Behandler/-innen als auch für die Entscheider/-innen von zentraler Bedeutung. Wir sollten aber nicht so tun, als ob wir mehr wüssten, als wir wissen können. Die einzigen Aussagen, die wir haben, sind häufig die der Menschen, die Schutz und Hilfe suchen und einen Antrag auf Asyl stellen, bzw. deren fragmentierte Erinnerungen. Aber wir müssen festhalten, dass das Risiko und die Verantwortung für fehlerhafte Glaubhaftigkeitsfeststellung nicht nur dem hilfesuchenden Flüchtling bzw. dem oder der Asylantragstellenden zugeschoben werden können. Wenn wir »die Wahrheit« zu erfassen suchen, müssen wir die irritierenden Unwegsamkeiten von individuellen, gruppenspezifischen, ethnischen und systemischen Unterschieden genau so einbeziehen wie unsere eigenen Überzeugungen, Lebens- und Charaktereigenschaften. Jeder Mensch bringt seine eigene Lebensgeschichte, Lebenserfahrungen, Charaktereigenarten und Überzeugungen mit in Entscheidungen ein. Eine kritische Selbstreflexion ist für diese Arbeit unabdingbar, wenn wir wollen, dass unsere Entscheidungen die besten sind, die wir treffen können. Wenn wir uns an der Evaluation von Realitätshintergründen beteiligen, dann müssen wir die Geschichten und Aussagen der Antragsstellenden bewerten, aber wir müssen auch nach innen reflektieren. Das heißt, wir müssen unsere eigenen Werte, Vorurteile, Orientierungen und Perspektiven mit in Betracht ziehen. Wir müssen uns fragen, warum wir bestimmte Widersprüche relevant finden, warum wir denken, dass ein Mensch eher verwirrt als nicht offen ist, ob jemand seine Geschichte befremdlich, vielleicht typisch für ihre oder seine Kultur erzählt, ob das Vermeiden von Augenkontakt kulturell bedingt, durch Schüchternheit oder anders motiviert sein kann. Aus der psychologischen und noch vielmehr der psychotherapeutischen Arbeit wissen wir, dass man nicht davon ausgehen kann, dass

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es irgendwo da draußen eine objektive Realität gibt, die wir entdecken können. Sondern dass wir unsere eigene Fähigkeit, zwischen »wahr« und »unwahr«, zwischen Tatsachen und Fiktion zu unterscheiden, nicht überschätzen sollten, da die Erinnerung an Fakten immer auch Konstruktion ist, die von vielen Faktoren getragen wird. Um in diesem Dilemma die möglichst besten Entscheidungen treffen zu können, sollten wir unsere Grenzen deutlich sehen. Die einzigen Aussagen, die wir haben, sind häufig die der Menschen, die aus guten Gründen geflüchtet sind, die in vielen Fällen extremem Stress und traumatisierenden Lebensereignissen ausgesetzt waren. Sie sind entsprechend verstört oder orientierungslos und hoffen auf eine neue Lebensperspektive in Deutschland. Eine irritierende und chaotische Gemenge- und Motivationslage. Hier die »Wahrheit« zu finden, ist nicht leicht. Die Entscheider/-innen müssen es. Berater/-innen und Behandler/-innen bzw. Psychotherapeut/-innen können mit ihrem Fachwissen einen Beitrag leisten.

Ist Trauma ansteckend? In den Projekttrainings und -coachings sollten die Einzelentscheider/-innen bzw. die Krisen, mit denen Einzelentscheider/-innen konfrontiert sind, im Mittelpunkt stehen. Ein zentrales Element – nämlich, dass Krisen immer auch traumatische Krisen sein können oder dass Krisensituationen bei Flüchtlingen von Traumatisierung herrühren können – sollte nach Möglichkeit ausgeklammert werden. Da stellt sich die Frage: Können die typischen Probleme, die Flüchtlinge mitbringen, und der Stress, der Einfluss auf Krisensituationen im Arbeitsfeld der Einzelentscheider/-innen hat, ausgeklammert werden? Das Bundesamt vertrat die Position, dass es die Aufgabe der Entscheider/-innen ist, die Erzählungen der Flüchtlinge zu hinterfragen und sich eine eigene Überzeugung vom Wahrheitsgehalt zu verschaffen. Es sei »nicht ihre Aufgabe, ein Trauma zu erkennen, da sie dafür nicht ausgebildet sind«. Vor diesem Hintergrund seien Ausführungen über ein erhöhtes Risiko der Übertragung von Gehörtem auf den Empfänger bzw. die Übertragung der damit verbundenen Gefühle – eben auch extremer Stress – auf denjenigen, der Verfolgungs- oder Fluchtgeschichten anhören muss, »in einer Entscheiderfortbildung fehl am Platz«. Wichtig seien »richtige, auf der Grundlage der geltenden Gesetze getroffene Entscheidungen«. Das klingt sehr sachlich, neutral und richtig, stellt aber die Frage nach der »emotionalen Involviertheit« bei Entscheidungen und ob diese im

42  Elise Bittenbinder Gegensatz zu einer sachlichen Entscheidung stehen müssen; ob man gefühlsmäßige Beteiligung »ausschalten« kann oder ob es gegebenenfalls besser ist, um diese Gefühle zu wissen – es also Teil des Trainings sein müsste, zu lernen, mit ihnen umzugehen. Jede Beziehung geht mit gegenseitiger Beeinflussung einher, bei der eigene Erwartungen auf das Gegenüber übertragen werden. Der Austausch von Erinnerungen, Wertungen, Gedanken, Gefühlen oder Fantasien löst dabei unterschiedliche Empfindungen aus und führt zu Wohlwollen, Einvernehmen oder auch Abwehr und Schutzmaßnahmen. Die Anhörungssituation ist – zumal vonseiten der Flüchtlinge – sehr gespannt, da ihr weiterer Lebensweg von dieser Entscheidung abhängt; sie ist hochambivalent und bewegt sich voraussichtlich zwischen Angst und Hoffnung, ist also emotionsgeladen. Gehen wir nun davon aus, dass für viele Flüchtlinge extreme Unrechtserfahrungen oder Misshandlungen im Heimatland der Fluchtgrund war (vielleicht sogar verstärkt durch extrem anstrengende Fluchtwege), so ist schnell zu sehen, dass es fast unmöglich ist, eine Gesprächssituation, in der es um diese Erfahrungen gehen soll, so zu gestalten, dass Gefühle keine Rolle spielen: »Das Bedürfnis, Schlimmes von sich fernzuhalten, um davon nicht ›angesteckt‹ zu werden, ist verständlich. Denn vieles spricht inzwischen dafür, dass die meisten Menschen gar nicht anders können, als das Leiden anderer auch mitzufühlen« (Reddemann, 2011, S. 7).

»Kann ich durch meine Nachfragen eine Retraumatisierung bewirken?« Eine Frage, die bei den Trainings häufig gestellt wurde. Offensichtlich herrscht – auch im aufenthaltsrechtlichen Zusammenhang – eine große Verunsicherung, zum Teil begünstigt durch unzureichende Schulungen oder den inflationären Gebrauch des Begriffs Retraumatisierung, der einmal mehr Grund dazu gibt, dass man lieber nicht nachfragt. Gemeint ist etwas Richtiges – nämlich, dass beim Sprechen über die traumatischen Erfahrungen etwas reaktualisiert oder wieder in Erinnerung, in den Vordergrund treten oder gebracht werden kann – was gegebenenfalls die »Wunde« wieder berührt oder zum schmerzen bringt und im Extremfall erneut zu einem psychischen Zusammenbruch führen kann. Aber schon der Begriff ist zumindest von seinem Gebrauch her infrage zu stellen. Er wird ganz allgemein bei einer Verschlechterung

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der Symptomatik oder des psychischen Zustands nach traumatischen Erfahrungen angewandt. In der neueren Literatur (unter anderen Maercker u. Rosner, 2006; Maercker, 2009) werden die Begriffe Retraumatisierung und Reaktualisierung von Traumata nur sehr unscharf voneinander abgegrenzt, erweisen sich bislang also als wenig hilfreich für die klinische Praxis. Wenn wir vom Keilson’schen Modell ausgehen oder uns ins Gedächtnis rufen, dass ein Trauma kein per se definiertes Ende hat, dann stellt sich die Frage: Welcher Teil, welche Sequenz wurde hier (re-)aktiviert? Oder geschieht hier etwas Neues, bei dem frühere Erfahrungen eine zentrale oder auslösende Rolle spielen?

Grenzverletzungen In diesem Zusammenhang ist dann tatsächlich die Rolle des Gegenübers oder des »Infragestellenden« interessant. Wenn Menschen als Opfer von Krieg, Verfolgung, Misshandlungen und Gewalt extreme Grenzverletzungen durch andere Menschen erlebt haben, sind sie besonders vulnerabel für weitere Verletzungen dieser Art – und haben häufig gleichzeitig auch die nötigen Mechanismen verloren, mit denen sie sich selbst adäquat schützen können. Es bedarf also großer Sensibilität, um weitere »Grenzverletzungen« zu vermeiden. Es macht zum Beispiel einen großen Unterschied, ob ich mich als Antragsteller in einer Zwangssituation oder in einer Aussagesituation fühle oder befinde. Da es per Definition durch das BAMF die Aufgabe der Entscheider/-innen ist, die Erzählungen der Flüchtlinge zu hinterfragen und sich eine eigene Überzeugung vom Wahrheitsgehalt zu verschaffen, sind der Gesprächsgestaltung hier Grenzen gesetzt. Vonseiten der Flüchtlinge ist dies eine Zwangssituation. Sie wissen, dass ihre Aussage über ihr Schicksal entscheidet, dass sie zum Beispiel reden sollten, obgleich sie nicht reden können. Hier den größtmöglichen Schutz zu garantieren, ist nicht einfach. Hat man das richtige Handwerkszeug parat und macht man sich die Möglichkeiten, die in einer guten Gesprächsführung liegen, bewusst, sind natürlich die Chancen größer, dass man bei Auftreten von psychischen Krisensituationen konstruktiver damit umgehen kann. Die Angst oder Sorge, man könnte durch unvorsichtiges Nachfragen jemanden retraumatisieren, ist eine gute Ratgeberin für die Suche nach konstruktiven Lösungen. Aber nicht für die Vermeidung von zentralen Fragen oder den »Rückzug« auf rigide Prozeduren, das Erfragen von Formalitäten oder des Fluchtwegs. Es müssen ein Raum und eine

44  Elise Bittenbinder Atmosphäre geschaffen werden, die von einer Haltung geprägt ist, die verstehen will und nicht Abgrenzung signalisiert. Auch für die Situation der Anhörung gilt: Was immer ich tue – es ist eine psychosoziale Intervention. In dem Sinne, dass Offenheit und Gesprächsbereitschaft die anderen einlädt, persönliche und politische Erlebnisse zu erzählen, während eine kontrollierende oder abwehrende Haltung eher das Gegenteil bewirkt oder eine Darlegung der Sachverhalte unmöglich macht. Literatur Becker, D. (2002). Flüchtlinge und Trauma. Interview mit David Becker. Zugriff am 01. 10. 2014 unter http://userpage.fu-berlin.de/wolfseif/verwaltet-entrechtet-abgestempelt/texte/becker_trauma.pdf Bracken, P. J., Giller, J. E., Summerfield, D. (1995). Psychological responses to war and atrocity: The limitations of current concepts. Social Science & Medicine, 40 (8), 1073–1082. Carlsson, J. M., Mortensen, E. L., Kastrup, M. (2007). Predictors of mental health and quality of life in male tortured refugees. Nordic Journal of Psychiatry, 60, 51–57. Foa, E. B., Stein, D. J., McFarlane, A. C. (2006). Symptomatology and psychopathology of mental health problems after disaster. Journal of Clinical Psychiatry, 67 (Suppl. 2), 15–25. Gäbel, U., Ruf, M., Schauer, M., Odenwald, M., Neuner, F. (2006). Prävalenz der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) und Möglichkeiten der Ermittlung in der Asylverfahrenspraxis. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 35 (1), 12–20. Hollifield, M. (2002). Measuring Trauma and Health Status in Refugees: A Critical Review. JAMA: The Journal of the American Medical Association, 288 (5), 611–621. Kapfhammer, H. P. (2014). Trauma- und stressorbezogene Störungen. Der Nervenarzt, 85 (5), 553–563. Keilson, H. (1979). Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Stuttgart: Enke. Maercker, A. (2009). Posttraumatische Belastungsstörungen (S. 105–124). Berlin u. Heidelberg: Springer. Maercker, A., Rosner, R. (2006). Was wissen wir über die Posttraumatische Belastungsstörung, und wohin gehen zukünftige Entwicklungen? Zur Psychologie der Traumafolgestörungen. In A. Maercker, R. Rosner (Hrsg.), Psychotherapie der posttraumatischen Belastungsstörungen: Krankheitsmodelle und Therapiepraxis – störungsspezifisch und schulenübergreifend (S. 3–18). Stuttgart: Thieme. Matussek, P. (1961). Die Konzentrationslagerhaft als Belastungssituation. Nervenarzt, 32, 538–542.

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Prof. Dr. Tobias Trappe Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW

Zur Ethik der Asylverwaltung Für Miro und seine »Familie« …

Durch ihre Einordnung in die praktische Philosophie besitzt die Ethik von ihren Wurzeln her eine ausgesprochen politische Dimension. Die darin angelegte Ausdifferenzierung einer eigenständigen (Rechts- und) politischen Philosophie und Ethik hat jedoch in der Bundesrepublik (im Unterschied zum europäischen wie außereuropäischen Ausland) keine eigene Tradition einer »public service ethics« hervorgebracht. Tatsächlich ist eine ethische Normierung der öffentlichen Verwaltung sowohl aus rechtsstaatlichen wie demokratietheoretischen Gründen nicht unproblematisch (zuletzt Heimann, 2014): Strenge Gesetzmäßigkeit und demokratische Legitimation des Verwaltungshandelns scheinen anderen – »moralischen«, »wertorientierten«, »humanitären«, … – Einflüssen auf das Verwaltungshandeln ausgesprochen enge Grenzen zu setzen. Überdies funktionieren moderne Organisationen generell nach einer Logik, die alternative Steuerungsinstrumente wie Moral nicht nur überflüssig macht, sondern mehr oder weniger gezielt ausschließt (Ortmann, 2010).

Idee einer Ethik der Asylverwaltung Angesichts dieser bislang noch nicht befriedigend geklärten Problematik (siehe dazu auch Prümm, 2013, 2014) wird für die folgenden Überlegungen nur ein bescheidenes Verständnis von Verwaltungsethik als rechtsstaatlich akzeptabel vorausgesetzt: als Aufklärung des in der Verwaltung tätigen Menschen, insofern er ein Amt verwaltet, darin Recht anwendet, Herrschaft ausübt und Mitglied einer (bürokratischen) Organisation ist (dazu genauer Trappe, 2013a; siehe auch Trappe, 2014). Vor diesem Hintergrund will auch die (hier nur punktuell skizzierte) Ethik der Asylverwaltung dem dort tätigen Mitarbeiter helfen, sich klar zu werden, was es heißt, wenn er im Namen unserer staatlichen Gemeinschaft eine Antwort auf die fundamentale Frage geben soll: Darf ich bleiben? Im Rahmen einer solchen Ethik der Asylverwaltung geht es

Zur Ethik der Asylverwaltung47

also weniger um eine Ethik des Asyls, der Flucht, der Migration ganz allgemein (wenngleich all das natürlich nicht wirklich voneinander zu trennen ist) (Cassee u. Goppel, 2012); auch geht es nicht in erster Linie um die berechtigten Interessen der Menschen, die bei uns Schutz und Zuflucht suchen. Die hier ins Auge gefasste Ethik stellt stattdessen die Verwaltung und vor allem den Verwaltungsmann und die Verwaltungsfrau in den Mittelpunkt des Interesses (siehe dazu auch Trappe, 2013b).

Aufklärung dient dem Schutz der Selbstachtung Insofern ist die Ethik selbst schon ein Stück praktizierte Moral. Denn sie erfüllt so die erste aller Pflichten des Menschen gegen sich selbst: Sie erfüllt die Pflicht zur Selbsterkenntnis (Kant, 1785/2004) des in sich zutiefst widersprüchlichen, vielfältig bedingten und sich selbst verborgenen Menschen. Solche Klarheit über sich selbst dient in erster Linie dem Schutz unserer Selbstachtung. Selbstachtung heißt: sich richtig wichtig nehmen (Eckert, 2012). Es gibt eine gegenläufige und gefährliche Tendenz des Menschen (auch in der Verwaltung), von sich selbst klein zu denken: als bedeutungsloses »Rädchen«, als austauschbares »Einsatzmittel«, als bloße »Funktion« innerhalb einer Ablauforganisation.

Aufklärung geschieht im Interesse von Verantwortung Die verwaltungsethische Aufklärungsarbeit hat aber noch eine zweite Funktion, einen zweiten Richtungssinn. Denn sie geschieht (hier wie auch sonst) im Interesse an der »Fähigkeit zur Verantwortung« (von Richthofen, 2006). Solche Verantwortung gehört zum Amt der Verwaltung im Sinne einer rechenschaftspflichtigen Sorge für ein anvertrautes Gut. Von daher geht die hier vorgestellte Ethik der Asylverwaltung über eine reine Aufklärung hinaus und fragt nach denjenigen Bedingungen, die gewährleistet sein müssen, damit verantwortliches Handeln in der Verwaltung möglich ist.

Ohne Klarheit keine Verantwortung Das verwaltungsethische »Erkenne dich selbst« ist aus mehreren Gründen für den einzelnen Mitarbeiter der Verwaltung schon ganz generell bedeutsam: –– Der Grad solcher Klarheit bezüglich des eigenen Entscheidens und Handelns steht augenscheinlich und erstens in einem direkten Ver-

48  Tobias Trappe hältnis zu deren Gewicht. Wo unter Umständen in elementare Rechte eingegriffen und Weichen im Leben eines Menschen in gravierender Weise gestellt werden, erscheint ein Wissen um sich selbst, das eigene Tun und seine Auswirkungen, ferner um gerechtfertigte eigene Ansprüche wie auch der Betroffenen ein Erfordernis verantwortlichen Handelns überhaupt. –– Wo solches Tun den Charakter staatlicher Herrschaft des Menschen über den Menschen annimmt, ist die verlangte Klarheit gleichzeitig und zweitens ein Gebot demokratischer Rechenschaftspflicht gegenüber dem Volk als Legitimationsursprung allen amtlichen Handelns. Unklarheit über die eigene Rolle im Kontext hoheitlicher Gewalt und über die Wirkungen des eigenen Handelns oder sogar im Extremfall: Gedankenlosigkeit (Arendt, 2006) sind unvereinbar mit der dem öffentlichen Amt innewohnenden Ethik überhaupt. Im besonderen Fall der Gewährung oder Verweigerung von Schutz und Asyl ist solche Klarheit über sich selbst und das eigene Tun darüber hinaus noch aus zwei weiteren Gründen wichtig: –– Zum einen (und drittens) spielt das subjektive Moment und damit die Person des »Entscheiders« im Rahmen gerade des Asylverfahrens eine vergleichsweise bedeutende Rolle (für das Verwaltungshandeln allgemein schon Morstein Marx, 1963). Komplexität, Unbestimmtheit und Veränderungen rechtlicher Vorgaben auf unterschiedlichen Ebenen (Gesetze, Verordnungen, Erlasse …), divergierende Gesetzesauslegungen, letztlich nur fragmentarische Informationen zur politischen Lage in den Herkunftsländern, nicht immer kalkulierbares Eingreifen von Vorgesetzten (auch unterhalb der Schwelle formeller Vorgaben etwa durch »double bind« oder das sog. »winking«), schließlich die jeweils eigene, immer auch von kontingenten Faktoren abhängige Wahrnehmung der Asylbewerber/-innen und ihres »Vortrags« machen die Antragsbearbeitung zu einem komplexen Prozess. In diesem beeinflussen die Person des Entscheiders, ihre Einstellungen, Haltungen, Prägungen, ihr (Dienst-)Alter, ihre berufliche Sozialisation etc. den Verfahrensausgang erheblich. Ein dafür besonders signifikanter Grund liegt in der überragenden Rolle der Glaubwürdigkeitsprüfung, angesichts deren die Einordnung rechtlicher Fakten hinter der Frage nach Glaubhaftigkeit und Wahrheit einer Aussage zurücktreten kann. Klarheit über sich selbst, über das eigene Entscheiden und Handeln, seine Bedingtheiten und seine Folgen ist in diesem Bewertungsprozess eine Bedingung für die Bestimmtheit bei der Bearbeitung von Asylanträgen. –– Zum anderen (und viertens) sind Asylbewerber/-innen (wie überhaupt einreisewillige Menschen) zwar Adressat/-innen staatlicher

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Entscheidungen, nicht aber zugleich auch deren Autor/-innen. Wem Asyl vorenthalten, Schutz verweigert, Einreise oder Aufenthalt verwehrt wird, der hat im Rahmen politischer Teilhabe gerade nicht an jenen Gesetzen mitgewirkt, aufgrund deren er abgewiesen, inhaftiert oder gegebenenfalls abgeschoben wird. Für Rechtsanwender/-innen, die an den Grenzen unserer staatlichen Gemeinschaft das ihm übertragene Amt verwalten sollen, heißt das: Ihnen obliegt eine stellvertretende Verantwortung für diejenigen, die demokratisch ohne jede Stimme sind. Die Stärke des Rechts droht gerade im Fall staatlicher Souveränität umzuschlagen in ein bloßes Recht der Stärkeren.

Klarheit als Bedingung der Würde der Verwaltungsmitarbeitenden Die geforderte Klarheit der Verwaltungsmitarbeitenden ist jedoch nicht nur eine Pflicht, die aus (1) ihrer Verantwortung generell, (2) ihrem Amt, ferner aus (3) der besonderen Rolle der Entscheider/-innen im Asylverfahren sowie aus (4) dem demokratischen Defizit des Verwaltungshandelns bei der Öffnung bzw. Schließung staatlicher Grenzen resultiert. Indem die Ethik der Verwaltung dem Menschen ein klares Bewusstsein seiner Verantwortung geben will, dient sie seinem berechtigten Interesse an einem gelingenden (»heilen«, »guten«) Leben insgesamt. Ethik ist frei vom gesellschaftlichen Unschuldswahn, muss also zum Beispiel den Ernst beruflicher Belastungen und der dadurch bedingten Leiden nicht zu einer Sache ausschließlich von »Stress« oder »Burn-out« oder Ähnlichem banalisieren. Sie weiß stattdessen, dass der Mensch mit seinen Entscheidungen fehlgehen, dass er schuldig sein, ja sogar mit seinem Leben überhaupt scheitern kann. Vor diesem Hintergrund stellen die besondere existenzielle Verletzlichkeit schutzsuchender Menschen ebenso wie deren fehlende demokratische Mitwirkungsrechte nicht nur eine (unter Umständen: Lebens-)Gefahr für die »Objekte« des Asylverfahrens (also für die Flüchtlinge) dar. In der realen Möglichkeit, dass die Asylentscheidung einem Menschen nicht gerecht wird, dass hier nicht nur gegen Regeln (Gesetze, Verordnungen, Erlasse) »verstoßen«, sondern ein Mensch ins Unheil »gestoßen« wird, birgt immer auch eine ebenso reale Gefahr für die an solchen Entscheidungen beteiligten Akteur/innen: für ihre personale Integrität. Es gibt ja nicht nur die Schuld der vorsätzlichen Tat. Der Mensch, der weiß, dass er in irgendeiner Weise »Bedingung, Grund, Ursache« einer Schädigung ist, dass er »das Seinige beigetragen hat«, ist doch in schwer fassbarer Weise auch dann »Schuld daran«, wenn ihm solche Schuld nicht individuell als persönliche Ver-

50  Tobias Trappe fehlung zugerechnet (»imputiert«) werden kann (Hegel, 1821/1970). Teil eines Entscheidungsprozesses zu sein, durch den die Tore des nationalen »Bunkers« (Singer, 1994) einem hilfe- und schutzsuchenden Menschen gegenüber geöffnet, vor allem aber verschlossen werden (müssen), kann den daran beteiligten Menschen das diffuse Gefühl der Instrumentalisierung und Entfremdung geben. Klarheit über sich selbst, über die Bedingungen und Folgen des eigenen Tuns, ist gerade für den, der im Kontext des Asylverfahrens staatliche Herrschaft und unter Umständen handanlegenden Zwang ausüben muss, ein Mittel, um ein Stück Herrschaft über sich selbst (zurück-)zugewinnen und seine eigene Würde zu sichern. Beide – »Subjekte« und »Objekte« des Verfahrens – bilden vielleicht keine staatliche, wohl aber eine moralische (Schicksals-)Gemeinschaft.

Wert und Würde des Asyls und der Asylentscheidung Zur geforderten und durch die Ethik geförderten Klarheit über das eigene Amt gehört in allererster Linie die Klarheit über dessen besondere Würde. Quer zu diversen gesellschaftlichen Diskussionen kann die Ethik des Asyls und der Asylverwaltung festhalten, dass der Schutz des Menschen vor Gewalt und Verfolgung eine zutiefst kostbare Geste ist. Kostbar nicht nur für den, der solche Hilfe erfahren, sondern auch für den, der sie geben darf. Das Denken in (menschen- und grund-)rechtlichen Ansprüchen von Flüchtlingen verdeckt bisweilen das Bewusstsein, dass das Schützen und Beschützen eines Menschen auch für die »Aufnahmegesellschaft« einen Wert in sich hat. In der Aufnahme eines hilfe- und schutzsuchenden Menschen drückt sich die faszinierende Fähigkeit des Menschen aus, partikuläre und affektive (familiäre, soziale, politische) Bindungen und Verbindlichkeiten zu transzendieren. In allerletzter Konsequenz dürfte es sich hier wohl um den Ausdruck einer universalen Liebe handeln, die im Bewusstsein der uns alle verbindenden Natalität wie Sterblichkeit die unendlich vielen Grenzen zwischen uns Menschen zu etwas im Grunde bloß Vorläufigem und Zufälligem relativieren kann. Die moralische Kernintuition des Asyls ist die aus Not geborene, an Angst reiche, aber auch von Hoffnung überströmende Idee einer umfassenden Menschheitsfamilie oder zumindest des Kosmopolitismus (Derrida, 1997).

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Sinnverlust von »Krieg«, »Flucht«, »Vertreibung« Diese Würde des Asyls immer wieder herauszustellen, die Bedeutung von Schutz und Zuflucht auch für uns selbst und unsere eigene Selbstachtung transparent zu machen, ist eine Pflicht, die nicht nur »nach außen« gegenüber unserer politischen Gemeinschaft wichtig ist (im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit generell, aber auch gegenüber Entscheidungsträger/-innen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft). Das klare Bewusstsein für Gewicht und Güte, Wert und Würde des Asyls und der Asylentscheidung ist auch etwas, das »nach innen hin«, also mit Blick auf die Mitarbeitenden und Führungskräfte der Verwaltung, im Alltag dieser schwierigen Arbeit nicht untergehen darf. Denn mit jedem Jahr, in dem wir in Frieden leben und leben dürfen, wächst auch in der Verwaltung von Asyl und Flucht eine Generation heran, die um die Wirklichkeit des Kriegs weder direkt noch indirekt (durch familiäre Schicksale und Verstrickungen) als eigene Erfahrung weiß. Die Kenntnis von Krieg und Gewalt wird zusehends zu einem rein »propositionalen Wissen«: Man weiß irgendwie, dass es so etwas gibt; dass Menschen getötet, dass sie vergewaltigt, gequält, verfolgt, gedemütigt, ausgebeutet werden. Etwas ganz anderes aber ist das, was man das »knowing how it is« nennt: das Wissen, wie sich etwas anfühlt, der qualitative Erlebnisgehalt einer »Sache« – also zum Beispiel von Krieg, Flucht, Vertreibung. All das wird zusehends zu etwas, das es »früher« einmal gegebenen haben mag, sich heute aber wenn überhaupt »woanders abspielt«. Wovon Menschen erzählen, wenn sie »davongekommen« sind, und wie Menschen – stammelnd und verstummend – erzählen, die überlebt haben, dafür gibt es innerhalb unserer Gesellschaft und daher auch innerhalb der Verwaltung nicht nur einen schwindenden Erlebens- und Erleidenshintergrund; durch das Versanden der gerade aus solchen Erfahrungen schöpfenden Religionen verlieren sich überdies auch solche Traditionszusammenhänge, durch die das Leiden und die Gewalt, das Schlagen und Erschlagenwerden, das Töten und Sterben »anschlussfähig«, mitteilbar und in schwer fassbarer Weise vielleicht auch »sinn-haft« werden. Der Mensch, der – aus welcher Angst und aus welcher Not auch immer – seine Heimat verlässt, wird stattdessen zum Interessenten, Kandidat, womöglich zum »Kunden« für das »Produkt« »Asyl«. Als Asyl-»Bewerber« erscheint er überdies als Konkurrent in der Verteilung angeblich und wirklich knapper Güter.

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Sinnverlust von »Rettung«, »Befreiung«, »Erlösung« Eine merkwürdig erschöpfte Gesellschaft (Han, 2010), die in ihrer universalisierten Kultur- und Unterhaltungsindustrie so etwas wie »Bauretter« und ähnliche Phänomene inszeniert, bringt sich überdies um die existenzielle Tiefendimensionen von Rettung, Befreiung und vielleicht auch: von Erlösung. Sie begegnet einer »Würde des Asyls« und damit auch der Würde und dem Ernst der Asylentscheidung pragmatisch, achselzuckend, verständnislos, vor allem aber: latent gereizt.

Flüchtlinge als Arbeitsmarktressourcen? Der vielleicht gut gemeinte Versuch, in den Flüchtlingen eine noch ungenutzte Ressource für unseren Arbeitsmarkt zu entdecken, ist ein gegenwärtig besonders deutlicher Ausdruck für diese Verständnislosigkeit gegenüber dem Sinn, dem Wert, der Würde des Asyls und der Asylentscheidung: Wenn seit einiger Zeit die besonderen Fähigkeiten und Kompetenzen von Asylbewerbern, von volljährigen, aber auch von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen hervorgehoben; wenn ihre Qualifikationen und ihr Engagement, wenn ihre Leistungsfähigkeit und ihre Leistungswilligkeit in den Vordergrund gerückt; wenn aus ihren Fluchtgeschichten mit einem Male Fähigkeiten wie Flexibilität, Mobilität und Belastbarkeit herausgelesen werden, dann verdrängt eine solche öffentliche und politische Wahrnehmung von Asyl und Flucht das klare Bewusstsein, dass die Arbeit an den Grenzen unseres Staates zunächst einmal eine ganz andere Bedeutung und eine ganz andere Bedeutsamkeit hat; eine Bedeutung und Bedeutsamkeit, die auch dann nichts an Wert verliert, wenn der Flüchtling durch die Schrecken seiner Erfahrungen kraftlos, krank oder einfach nur »kaputt« ist.

Professionelle Empathievermeidung? In dieser Entwicklung, bei der Selbstschutz und Angstabwehr wohl keine unbedeutende Rolle spielen, liegt für den Mitarbeiter der Asylverwaltung aber auch eine Gefahr: Mit den Geschichten, in die man sich nicht verstricken, und den Schicksalen, die man nicht an sich herankommen lassen will, rücken Wert und Würde der eigenen Aufgabe in eigenartige Ferne: Die eigene Tätigkeit wird entdramatisiert, man tritt ihr mit Distanz und Sachlichkeit entgegen, in Routine, bisweilen wohl auch mit Müdigkeit (Probst, 2012, 2013). So verständlich und in Grenzen sinnvoll, heilsam,

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»protektiv« das sein mag: Es gibt eine »Professionalität«, die sich mit ihrer strikten »Empathievermeidung« (Merck, 2012) auch die Bedeutsamkeit, den besonderen Wert und das besondere Gewicht der eigenen Arbeit nicht mehr wahrzunehmen traut.

Das Menschenrecht auf Traurigkeit Die Arbeit in der Verwaltung von Asyl und Flucht ist wirklich und wahrhaft schwer. Sie ist schwer, weil die dort tätigen Menschen über das fundamentalste Gut entscheiden, das ein Staat überhaupt zu vergeben hat: die Zugehörigkeit. Es ist einfach etwas anderes, ob die Fahrerlaubnis oder das Bleiberecht entzogen wird. Für diese Arbeit muss daher geworben, für diese Arbeit muss wahrhaft eine »Elite« gewonnen, auf diese Arbeit muss sorgsam vorbereitet und während dieser Arbeit muss alle erdenkliche Begleitung und Hilfe – etwa durch Trainings, Coachings, Superversion – angeboten werden. Und es muss eine schamverhindernde Akzeptanzkultur geschaffen werden, die die Annahme solcher Angebote als etwas wirklich Wohltuendes und Heilsames erlebbar machen kann. All das muss geschehen, damit der Mensch, der dort tätig ist, sein Tun aushalten kann, ohne in Apathie verfallen zu müssen: Es gibt ein »Menschenrecht auf Traurigkeit«. Die Menschen, die in unserem Auftrag und mit unserem demokratischen Votum diese besondere Arbeit machen und machen sollen, müssen die Chance und die Kraft behalten, menschlich auf die Last und die Belastungen ihrer Aufgabe reagieren zu können.

Missachtung des besonderen Werts der Asylentscheidung Weil solche Arbeit angesichts ihrer durch Schuld bedrohten Aufgabe an vielen Stellen beinahe »über-menschlich« ist, darf sie daher nicht »unmenschlich« werden. Die politisch gewollte »Willkommenskultur« setzt voraus, dass diejenigen, die diese Kultur in den Behörden leben und weitergeben sollen, sich auch ihrerseits dort »gut aufgehoben« fühlen. –– Personalknappheit durch krankheitsbedingte Ausfälle oder Stellen, die nicht oder nur schwer wieder besetzt werden können; –– Zeitnot bei gleichzeitig steigenden Fallzahlen, immer komplexeren Gesetzes-, Erlass- und Urteilslagen und immer häufigeren gerichtlichen Auseinandersetzungen; –– ineffiziente Arbeitsorganisationen, zunehmende technische Anforderungen und andere »administrative Stressoren«;

54  Tobias Trappe all das sind hochproblematische Missachtungen jener Voraussetzungen, die für eine verantwortliche Entscheidung notwendig sind. Eine Gesellschaft, die staatlichen Institutionen und darin einzelnen Menschen ein solches Amt verleiht und anvertraut, aber eben auch zumutet, eine solche Gesellschaft wird ihrerseits an eben diesen Menschen schuldig, wenn sie bei ihrer Auswahl, vor allem aber bei ihrer Begleitung nicht eine besondere Fürsorgepflicht wahrnimmt. Die Vorstellung, dass die Mitarbeiter der Asylverwaltung einer Logik des sich immer schneller drehenden Hamsterrads ausgesetzt sind, in der sie nicht mehr wissen, wo ihnen Kopf, Herz und Verstand stehen, ist unerträglich für eine Gesellschaft, die die Fähigkeit zur Scham noch nicht verloren hat. Die Würde des Asyls verlangt in besonderer Weise auch Achtung, Schutz und Gewährleistung der Würde jener, die diese Entscheidung in unserem Namen fällen sollen. Alles andere wäre Heuchelei, doppelte Moral.

Böse Behörden, gute Flüchtlingshilfe? Eine notwendige Entmoralisierung Kultur des (gemeinsamen) Gesprächs Angesichts eines staatlich verankerten Asyl- und Flüchtlingsrechts gibt es zunächst einmal eine fundamentale Gemeinsamkeit zwischen den entsprechenden staatlichen Behörden und den verschiedenen Organisationen der Flüchtlingshilfe. Nur im ausbalancierten, sich gegenseitig wohl auch kontrollierenden Zusammenspiel beider »Parteien« verwirklicht sich staatliche Gewährung bzw. Verweigerung von Schutz und Zuflucht. Eben das macht eine Kultur des gemeinsamen Gesprächs so überaus wichtig, wie sie etwa seit jetzt einem Vierteljahrhundert durch die jährlich stattfindende Tagung der Behörden und Flüchtlingsstellen in NRW gepflegt wird (veranstaltet durch die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e. V., die Kommunale Ausländerbehörde Düsseldorf sowie die Zentrale Ausländerbehörde Dortmund). In die gleiche Richtung geht der regelmäßige Dialog, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) seit zwanzig Jahren miteinander führen. Was solche Gespräche bewirken können, zeigen die Informationsveranstaltungen und Schulungen von Anhörenden des BAMF durch Behandlungszentren für Flüchtlinge und Folteropfer in Düsseldorf, München und Frankfurt am Main. Aber auch solches Sprechen, erst recht der moral talk, will jenseits der

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Diskussion des Alltagsgeschäfts gelernt und geübt sein. Jeder, der auch nur annäherungsweise einen Blick auf die Wirklichkeit von Flucht und Asyl geworfen hat, weiß, dass sich die Arbeit in diesem (»Schlacht-«)Feld irgendwo zwischen Schreien und Schweigen bewegt. Aber er oder sie spürt auch, wie sehr die hier tätigen Menschen auch ihrerseits zu einer eigenartigen Sprachlosigkeit »verurteilt« zu sein scheinen, die vielleicht nicht nur etwas mit ihrer Pflicht zur Verschwiegenheit zu tun hat. Um ein solches Gespräch zu ermöglichen, hat eine Verwaltungsethik des Asyls darum ein vitales Interesse daran, allzu einfache Zuschreibungen (»gute Flüchtlingshilfe« hier, »böse Behörden« dort) zu problematisieren, »Ingroup-« und »Outgroup«-Dichotomien entgegenzuwirken und damit das Verhältnis beider Seiten zu entspannen.

Flüchtlinge sind keine besseren Menschen, sondern Menschen in Not Deswegen gehört zur Ethik des Asyls die einfache, aber keineswegs unbedeutende Einsicht, dass zwar der Dienst an Opfern im Allgemeinen wie an Flüchtlingen im Speziellen fraglos »gut« ist, nicht aber diese selbst. Opfer, insbesondere im Fall von Traumatisierung, genießen in unserer Gesellschaft inzwischen trotz (oder gerade wegen?) ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung so etwas wie eine »moralische Autorität« (Reemtsma, 1999/2003). Dieser Status »moralischer Zeugen« (Margalit, 2000) hat für die wirkliche Wirklichkeit von Unrecht auch einen sicher guten Sinn. Aber Flüchtlinge sind darum doch keine »besseren Menschen«, sondern Menschen, die – aus welchen Gründen und auf welchen Wegen auch immer – schlicht in Not sind und bei uns Hilfe, Schutz, Zuflucht suchen. Auch hier gibt es alle Facetten menschlicher Größe: den Mut, die Tapferkeit, die Geduld, die Hilfsbereitschaft, die Selbstlosigkeit und das Engagement. Aber es gibt eben auch das ganze Portfolio menschlicher Schwäche und Schwächen: Es gibt die Undankbarkeit, es gibt das Gehabe und das Getue, es gibt die Lüge, die Trickserei und den Missbrauch.

Moralische Fallstricke der Flüchtlingsarbeit Auch die Arbeit für und der Dienst an Flüchtlingen ist nicht einfach und ungebrochen »gut«. Denn in solcher Arbeit und in ihrer »Moralisierung« liegen mehrere Gefahren (für die soziale Arbeit allgemein siehe Fuchs, 2004; Scherr, 2010).

56  Tobias Trappe –– Da ist zum einen die narzisstische Versuchung: Denn in der Aufopferung für andere lassen sich eigene Abhängigkeiten, Ohnmachtsgefühle und Depressionen beim Gegenüber »deponieren«. Die Lust an der eigenen Macht und Überlegenheit lässt sich leicht und gut unter dem Mantel eines humanitären Engagements verbergen. –– Überdies kann eine moralische Aufwertung der Flüchtlingshilfe deren Mitarbeiter in die Krankheit treiben. Eine moralisch aufgeladene Empathie (Wilson u. Lindy, 1994) führt schnell zu Verstrickung, Überidentifikation, Grenzverlust, gestörtem psychophysischen Gleichgewicht, Verdrängung, Rückzug etc. (Ottomeyer, 2008, 2011; Pross, 2009, 2012). –– Drittens droht das Phänomen des »moral self-licensing« (Merritt, Efron u. Monin, 2010). Eine moralisierende Selbstdarstellung und -stilisierung führt regelmäßig zu negativen Effekten beim tatsächlichen Verhalten. Moral, die für das eigene Tun in besonderem Maße in Anspruch genommen wird, wird schnell zu einem Freibrief (»Lizenz«) für unmoralisches Handeln (»Pharisäertum«). –– Und schließlich ist das so eingängige Lob der Helfer, ihre Idealisierung und Stilisierung als »Retter« noch aus einem vierten Grund problematisch: Man verleiht ihnen vielleicht einen Menschenrechtspreis, kann sie darum aber umso leichter allein lassen. Moralisierung der Flüchtlingshilfe wird zu einer Form der Abwehr: Man möchte mit den eigenen angstbesetzten Abgründen, mit der eigenen Verantwortung und mit den möglichen Konsequenzen des eigenen Verhaltens möglichst wenig zu tun haben. Man ist froh, dass es Leute gibt, die diese aufreibende Arbeit machen, delegiert die sogenannten humanitären Aufgaben an andere und entlastet sich so selbst.

Einige klärende Fragen, Begriffe, Überlegungen Darf ich bleiben? Im Asylverfahren sucht und findet unsere staatliche Gemeinschaft eine Antwort auf die Frage: Darf ich bleiben? Die Ethik der Asylverwaltung kann – vielleicht auch als eine besondere Form der »Supervision« – im um Klärung ringenden, suchend-hinhörenden Gespräch mit den Mitarbeitenden in der Asylverwaltung diese Frage einfach einmal ausschwingen lassen in ihre ganze Bodenlosigkeit. Denn diese Frage reicht tief hinab in das nächtliche Dunkel unserer eigenen kindlichen Schrecken und Erschrecken: unserer eigenen Verlassenheiten, Einsamkeiten, Fremdheiten. Darf ich bleiben? Es ist dies aber auch eine Frage, die

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unweigerlich an die evolutionäre Vergangenheit von uns Menschentieren rührt: Wir Mängelwesen waren ja nie Jäger, sondern immer Gejagte, lebens- und überlebensfähig daher nur in Gemeinschaft, in Bindungen und Beziehungen, durch Kooperation und Kommunikation. Darf ich bleiben? In dieser Frage steckt immer noch die panische Angst der Beute vor dem Raubtier.

Warum wurdest du verschont? Die ethische Aufklärung über diese Frage und ihre Abgründe scheint auch deswegen nicht überflüssig, weil es im Asylverfahren zu einigen schillernden Verstrickungen zwischen den aufeinandertreffenden »Akteur/-innen« kommen kann, denen man sich zumindest nicht einfach ausliefern sollte. Allein schon die kaum beachtete Tatsache, dass beide Seiten – Bewerber/-innen und Beamt/-innen – ein fundamental gemeinsames Anliegen, eine gemeinsame »Motivation« »teilen«, ist bedenkenswert. Denn auf irritierende Weise entspricht der Flieh-Kraft der Flüchtlinge die eigentliche Anziehungskraft der Verwaltung, ihre »Gravitation«: die Aussicht auf Sicherheit. Schließlich ist kein Motiv für den Schritt in die Verwaltung so stark wie die Suche und das Bedürfnis nach Sicherheit. Die permanente Begegnung mit den »Unheimlichkeiten«, den Irrationalitäten und Brutalitäten unserer Welt, all das bedeutet mithin eine permanente Infragestellung der eigenen »gesicherten« Position. Insofern stellt der Mensch, der sich – aus welchen Gründen auch immer – zu uns flüchtet, doch auch immer noch eine zweite Frage: Mit welchem Recht sitzt du auf der anderen Seite des Schreibtisches? Mit welchem Recht bist du von all dem verschont, was mir getan und angetan worden ist, was ich erfahren, erduldet, erlitten habe? Warum gehörst du zu den Siegern, ich aber zu den Verlierern? Es gibt vielleicht so etwas wie die »Prüfung«, wie das ohnmächtige »Gericht« der »Opfer« über uns, also über die, die beim furchtbaren Würfelspiel des Lebens schlicht Glück hatten. Und zwar: unverdientes Glück. Ist die Annahme wirklich so absurd, dass die Menschen, die über die Grenzen unseres Staates wachen, dunkel ahnen, dass sie in diesem alltäglichen »Verfahren« immer wieder neu stellvertretend für uns alle angeklagt werden, zumindest stumm angeklagt? Dass es Momente gibt, wo sich diese zumeist nur diffuse Ahnung steigert zu einer an sich selbst und unserer Welt zweifelnden und verzweifelnden Gewissheit? Gehört zur Arbeit im Asylverfahren, gehört zur Sicherung der Ein- und Ausgänge unserer Gemeinschaft nicht unweigerlich auch die große, drohende Frage nach der Gerechtigkeit der in dieser Welt verteilten Lebens- und Über-

58  Tobias Trappe lebenschancen? Eine Frage, der die Mitarbeitenden in der Verwaltung von Asyl und Flucht nicht ausweichen können, die aber letzten Endes an uns alle und auf uns alle gerichtet ist.

Misstrauen, Enthüllung, Naivität Unser Staat lässt sich auf diese Frage(n) der Asyl»bewerber/-innen« nicht ein, sondern beantwortet sie mit einer Gegenfrage nach dem Recht und der Berechtigung, mit der ein »Anspruch auf Asyl« erhoben wird. Wo Anträge, Aussagen, Atteste, Alter oder mögliche Abschiebungshindernisse, Bescheide, Voraussetzungen und Vorschriften überprüft werden, da verwandelt sich unter der Hand der Flüchtling in einen Prüfling, also in jemanden, an den bestimmte Standards, Maßstäbe und Kriterien angelegt werden sollen. In der Anlage dieses Verfahrens liegt also schon jenes Misstrauen, das so viele Mitarbeitende in der Asylverwaltung selbst (oder gerade) dann »habitualisieren«, wenn sie ursprünglich mit viel Wohlwollen in ihre Arbeit gestartet sind. Prüfungen sind eine Form der Zwangskommunikation – für beide Seiten. Der behördliche Zwang, zu prüfen, zu testen, zu kontrollieren, nachzuforschen steht indessen vor einem erkenntnistheoretischen Dilemma. Denn nur die Falsifikation, also der überführte Bewerber, der Nachweis der Falschaussage verspricht Eindeutigkeit, Sicherheit, Objektivität. Es gibt daher bei Prüfungen generell eine Versuchung: die Enthüllung. Denn sie erscheint als der eigentliche Ausweis von Erfahrung, Urteilskraft, Kompetenz. Umgekehrt leidet das institutionell lancierte Misstrauen an einer inneren (»bohrenden«) Haltlosigkeit: Das Vertrauen, das man einer Aussage und einer Person schenkt, könnte sich letztlich doch als »blind« herausstellen. Und vielleicht noch schlimmer: Der »gutgläubige« Entscheider oder die »gutgläubige« Entscheiderin muss befürchten, dass man ihr »Praxisferne« und vor allem: »Naivität« unterstellt. Das alles aber – das Misstrauen, der Argwohn, der Verdacht – können den Blick auf die Situation verstellen und menschliche Beziehungen vergiften. Im schlimmsten Fall macht es diejenigen, denen ich begegne, vor allem aber mich selbst krank.

Einige Bedingungen von Verantwortung Eine Ethik der Asylverwaltung ist (auch) ein Stück Aufklärung über die Würde, den Wert, aber auch das Gewicht des Asyls und damit der

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Asylentscheidung. Was sind Bedingungen, die der darin liegenden Verantwortung gerecht werden?

Die »Kette der Verantwortlichkeiten« Mitarbeitende der Asylverwaltung entscheiden auf der Grundlage asylund flüchtlingsrechtlicher Vorgaben. Zu ihnen gehört unter anderem die Drittstaatenregelung, nach der Migrant/-innen, die über sichere Drittstaaten einreisen, hier in Deutschland keinen Anspruch auf Asyl haben. Die Rechtsanwender/-innen, die eine Entscheidung auf dieser Grundlage fällen, müssen sich daher zur Wahrung ihrer eigenen Verantwortung darauf verlassen können, dass die normative Vergewisserung über sichere Herkunftsstaaten tatsächlich sorgfältig und ihrerseits verantwortlich geschieht. Wer die bisweilen vielleicht über-menschliche Aufgabe hat, über das Begehren eines Menschen nach Asyl zu entscheiden, oder wer im Rahmen von Abschiebemaßnahmen das »Nein« unseres Staates »praktiziert«, der hat gegenüber den jeweils beteiligten, aber auch vorgelagerten Stellen einen gerechtfertigten Anspruch, dass gerade auch in seinem Interesse alle anderen »Instanzen« ihre Verantwortung wahrnehmen. Müsste er daran begründete Zweifel haben, müsste er also zum Beispiel den berechtigten Eindruck gewinnen, dass etwa durch politisches Kalkül bei der Einschätzung sicherer Herkunftsstaaten bestimmte Erkenntnisse nicht adäquat gewürdigt worden sind, kann dies nicht nur für die Antragsstellenden erhebliche (negative) Auswirkungen haben. Auch die Entscheider/-innen würden durch solche Defizite in eine existenzielle Verantwortungs- und Gewissensnot geraten, die auch dann noch quälend ist, wenn sie diese als solche gar nicht spüren. Gerade die besondere Bindung des Verwaltungsmanns und der Verwaltungsfrau an ihren Dienstherren, an die sie konkret vertretenden Personen sowie an die von ihnen organisierten Verfahren, gerade diese besondere Bindung nimmt die (direkt wie mittelbar) beteiligten Personen in eine besondere Pflicht. Die Mitarbeitenden der Asylverwaltung sind diejenigen, die in einem ganz konkreten Einzelfall einem ganz konkreten Menschen gegenüber rechtsstaatlich gebändigte, gewalten- wie arbeitsteilig parzellierte und segmentierte Herrschaft ausüben. Als solche sind sie existenziell darauf angewiesen, dass alle anderen Akteur/-innen »vor«, »neben« und »über« ihnen ihre jeweilige Primärverantwortung – zum Beispiel Sorgfalts-, Überwachungs-, Organisationspflichten, … – wahrgenommen haben. Es gibt generell in arbeitsteiligen Systemen keine (oder kaum noch eine) Möglichkeit der pauschalen Inanspruchnahme eines einzelnen Beteiligten für das Gelingen des Ganzen – das würde überdies den Sinn der Arbeitsteilung unterlaufen, Effektivi-

60  Tobias Trappe tätsverluste nach sich ziehen und die einzelnen Handelnden überfordern. Verantwortlichkeit setzt (nicht erst seit heute) eigene Nichtverantwortlichkeit voraus (Spaemann, 1977) und damit eine Pflicht zum Vertrauen. Angesichts der herausgearbeiteten Bedeutung und Bedeutsamkeit des Asyls und der Asylentscheidung schlägt diese Pflicht zum Vertrauen in die Verantwortlichkeit staatlicher Institutionen um in eine Verpflichtung eben dieser Institutionen, ihre Arbeit sach- und fachgerecht auszuführen. Neben der »Legitimationskette« staatlicher Herrschaft gibt es also auch so etwas wie eine Kette der Verantwortlichkeit der beteiligten Stellen füreinander. Man verharmlost diese wechselseitigen Verpflichtungen, wenn man sie zu einer Sache von »Kollegialität« oder »Loyalität« macht. Der Polizeiärztliche Dienst, der keine qualifizierte Einschätzung der Reisefähigkeit oder des »Krankheitswerts« einer Traumatisierung vornimmt, »zwingt« die nachgelagerten, zur Entscheidung befugten Stellen in einen existenziellen Konflikt, bei dem es um schadensvermeidende Interventionen, gefahrverhütendes Innehalten, Remonstration geht. Das ist zwar nie auszuschließen – und gehört zum Ernst des Berufsbeamtentums (Lindner, 2006) –, muss aber doch so weit wie möglich ausgeschlossen werden.

Verantwortung im Angesicht des »Anderen« Die ethische Frage nach den Bedingungen von Verantwortung im Asylverfahren wirft noch auf ein zweites Phänomen Licht. In der Sozialpsychologie ist es unter Stichworten wie »pluralistische Ignoranz« und »Diffusion von Verantwortung« geläufig, und in der Organisationstheorie wird es als »Problem der vielen Hände« (Thompson, 1980, 1987) diskutiert. Die Asylentscheidung fällt im Rahmen eines in sich abgeschlossenen Verfahrens, das in eine zeitlich und sachlogisch zusammenhängende Folge von Funktionen aufgespalten ist (Eule, 2013). Das ist effizient und ressourcenschonend, impliziert aber die Gefahr, dass Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten merkwürdig »abstrakt« bleiben, »neutralisiert« oder »verschoben« werden können – das Abdrängen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) in das Asylverfahren ist ein solches besonders augenfälliges Phänomen. Das aber steht in einem problematischen Widerspruch zu jener Aufgabe, die im Rahmen solcher Abläufe »erledigt« wird: Hier sollen Menschen einerseits existenzielle Entscheidungen treffen, andererseits wird ihnen durch solche segmentierten Prozesse und Strukturen vorgegaukelt, dass ihr individueller Beitrag gerade »nicht ins Gewicht« fällt, ihr Tun und damit sie selbst also letztendlich bedeutungslos sind – was der Würde des Asyls wie der Asylentscheidung, letztlich des Menschen überhaupt einfach nicht gerecht

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wird: So wenig ein Mensch »illegal« ist, so wenig ist er »egal« – auch nicht der Mensch in der Asylverwaltung. Von daher ergibt sich ethisch die Forderung, das Asylverfahren so zu organisieren, dass die eingangs geforderte Klarheit über das eigene Tun und seine Auswirkungen nicht durch den Verfahrensablauf verschleiert wird. Wenn wir unserem Staat das Recht und die Pflicht zuschreiben, Menschen an seinen Grenzen abzuweisen und damit aus seinem Verantwortungsbereich auszuschließen, dann müssen wir denen, die dieses Recht ausüben und diese Pflicht wahrnehmen, ermöglichen, wirklich zu sehen und zu verstehen, was sie da tun und tun sollen. Lévinas (1996) hat solches Sehen und Verstehen im Begriff des Antlitzes zu fassen versucht. Die Begegnung mit dem Angesicht eines Anderen oder einer Anderen schafft Verantwortlichkeit, die zwar nicht unwiderstehlich, wohl aber unwidersprechlich ist (Jonas, 1979). Will der Rechtsstaat der Staat sein, der nicht nur »ohne Ansehen der Person« urteilen (und verurteilen), der seine fundamentalen Entscheidungen vielmehr auch in deren »Angesicht« vertreten kann, dann sollte das Asylverfahren so strukturiert werden, dass eine solche persönliche Begegnung als »Kontrollmechanismus« (checks and balances) staatlichen Handelns systematisch eingebaut ist.

Kontrollmechanismen und die utopische (?) Idee der Vergebung Zu diesen Kontrollmechanismen gehört unter Umständen auch die gerichtliche Überprüfung negativer Entscheidungen. Die Ethik der Asylverwaltung hat auch hier ein Interesse daran, dass die an diesem Verfahren beteiligten staatlichen Stellen Klarheit über sich selbst, ihr Entscheiden und Handeln bekommen bzw. behalten. Stellt sich im Rahmen justizieller Kontrolle eine Entscheidung als fehlerhaft heraus (zum Beispiel als unberechtigte Ablehnung), muss gewährleistet sein, dass die zuständigen Stellen nicht nur davon »Kenntnis« erhalten. Nicht unproblematisch ist daher zum Beispiel die Praxis, dass die Vertretung der beklagten Ablehnung vor dem Verwaltungsgericht in der Regel ohne den Entscheider oder die Entscheiderin geschieht. Wichtig ist darüber hinaus auch die interne Nachbereitung der Urteilsbegründung. Denn es besteht eine Versuchung, die Korrektur der eigenen Entscheidung einfach der Milde des Gerichts, neuen Lageberichten zum Herkunftskontext oder einem veränderten Vorbringen des Bewerbers oder der Bewerberin zuzuschreiben und damit für sich selbst zu neutralisieren (Scheffer, 2003). Darüber hinaus scheint es zumindest eine Überlegung wert zu sein, jenseits gerichtlicher Verfahren auch über moralische Formen der Streit-

62  Tobias Trappe schlichtung überhaupt einmal nachzudenken. Die Tatsache, dass die (nicht einfach hingeworfene oder zähneknirschende) Bitte um Entschuldigung kaum noch im Horizont menschlicher Beziehungsgestaltung steht, ist vielleicht nicht in jeder Hinsicht eine befreiend-heilsame Ernüchterung (Arendt, 1978; siehe dazu Heuer, 2006). Dass solche Bitte zumindest im Art. 13 Abs. 2 des Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis eigens genannt wird, ist demgegenüber immerhin bedenkens- und beachtenswert. Die Vorstellung mag utopisch sein: Wo um Vergebung gebeten wird, kann sie auch gewährt werden. Wechselseitig. Literatur Arendt, H. (2006). Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper. Arendt, H. (1978). Vom Leben des Geistes. Bd. I: Das Denken. München: Piper. Cassee, A., Goppel, A. (Hrsg.) (2012). Migration und Ethik. Münster: mentis. Derrida, J. (1997). Cosmopolites de tous les pays, encore un effort! Paris: Editions Galilée. Eckert, J. (2012). Die Kunst sich richtig wichtig zu nehmen. München: Kösel. Eule, T. (2013). Arbeitsteilung und verschwindende Verantwortlichkeit in der Fallsachbearbeitung. In T. Trappe (Hrsg.), Ausgewählte Probleme der Verwaltungsethik (I). Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft. Fuchs, P. (2004). Die Moral des Systems Sozialer Arbeit – systematisch. In R. Merten, A. Scherr (Hrsg.), Inklusion und Exklusion in der sozialen Arbeit. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Han, B. C. (2010). Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz. Hegel, G. W. F. (1821/1970). Grundlinien der Philosophie des Rechts. In E. Moldenhauer, M. Michel (Hrsg.) Werke in zwanzig Bänden. Band 7. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heimann, H. M. (2014). Verwaltungsethik – ein Kategorienfehler? In D. LückSchneider, E. Kraatz (Hrsg.), Kompetenzen für zeitgemäßes Public Management. Herausforderungen für Forschung und Lehre aus interdisziplinärer Sicht. Berlin: edition sigma. Heuer, W. (2006). Hannah Arendt über das Böse im 20. Jahrhundert. In D. Horster (Hrsg.), Das Böse neu denken. Weilerswist: Velbrück. Jonas, H. (1979). Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, I (1785/2004). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Herausgegeben von J. Timmermann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lévinas, E. (1996). Ethik und Unendliches (3. Aufl.). Wien: Passagen. Lindner, J. F. (2006). Grundrechtssicherung durch das Berufsbeamtentum. ZBR – Zeitschrift für Beamtenrecht, 54, 1–13. Margalit, A. (2000). Ethik der Erinnerung. Frankfurt a. M.: Fischer.

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Elise Bittenbinder, Jenny Baron und Silvia Schriefers Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer

Eine gewagte Kooperation: BAMF und BAfF

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) sowie ihre Mitgliedseinrichtungen stehen bereits seit vielen Jahren in regelmäßigem Dialog. Die verschiedenen Institutionen bewegen sich im gemeinsamen Feld der Arbeit mit Opfern von Folter, Gewalt oder zum Beispiel geschlechtsspezifischer Verfolgung. Ihr jeweiliger gesellschaftlicher und politischer Auftrag und ihr Handlungsspektrum unterscheiden sich jedoch sehr: –– Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e. V.). Die BAfF ist der Dachverband der Zentren, Einrichtungen und Initiativen, die sich die soziale, psychologische und medizinische Versorgung und Behandlung von Flüchtlingen und Überlebenden organisierter Gewalt zur Aufgabe gemacht haben. Derzeit zählt die BAfF 31 Mitglieder. In beinahe allen Bundesländern Deutschlands befinden sich Mitgliedszentren. Die BAfF fördert den fachlichen Austausch von Erfahrung und Wissen unter den Zentren, vertritt gemeinsame Anliegen im Sinne einer Verbesserung der Lebenssituation der Überlebenden von politisch motivierter Gewalt und entwickelt Qualitätsstandards für eine angemessene Behandlung traumatisierter Flüchtlinge. Darüber hinaus fördert sie die Wahrnehmung der Folgen von organisierter Gewalt und des Lebens im Exil in der Öffentlichkeit und den entsprechenden Fachkreisen. –– Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Das BAMF ist als Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern zuständig für die Durchführung von Asylverfahren, für den Flüchtlingsschutz, für internationale Aufgaben, für die Integrationsförderung und für die Förderung der freiwilligen Rückkehr. Mit dem Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes wird die Kernaufgabe des Bundesamts, die Durchführung von Asylverfahren durch die Aufgaben Integration und Migration ergänzt. Daneben wurden auch einige bereits bestehende Aufgaben wie die der Führung des Ausländerzentralregisters und im Bereich der Rückkehrförderung

66  Elise Bittenbinder, Jenny Baron und Silvia Schriefers beim Bundesamt gebündelt. Heute sind im Bundesamt mit seinen 22 Außenstellen und vier externen Standorten circa 2000 Mitarbeiter beschäftigt, davon circa 1000 in der Nürnberger Zentrale. –– Die Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. (DGSv). Die DGSv ist seit 1989 führender Berufs- und Fachverband für arbeitsweltbezogene Beratung in Deutschland. Supervision, Coaching, Organisationsberatung, Team- und Personalentwicklung sind die Kernleistungen der 3700 Mitglieder der DGSv. Die DGSv verfügt über langjährige Erfahrung und Wissen in Bezug auf die Entwicklung von Standards in der Arbeit von Supervisor/-innen sowie Erfahrung in der Entwicklung von Konzepten (zum Beispiel für die Deutsche Bahn AG, Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin). Seine Aufgaben versteht der Verband darin, die Konzeptentwicklung von Supervision und Beratung zu fördern, Qualität in Ausbildung und Praxis sicherzustellen, die Position von Supervision auf dem Beratungsmarkt zu stärken und die Interessen von Supervisor/-innen zu vertreten. –– Die Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (PSZs). Die PSZs verstehen sich als Einrichtungen bzw. Initiativen, die im Bereich der spezialisierten gesundheitlichen und psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen und Folteropfern arbeiten. Sie gewähren Hilfe ohne Ansehen von Aufenthaltsstatus, ihrer Nationalität, politischen, ethnischen, religiösen oder sonstigen Zugehörigkeiten. Die verschiedenen Zentren arbeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten, dennoch ähneln sich viele ihrer Angebote in dem Sinne, dass sie ein breites Leistungsspektrum anbieten, welches sich an den Bedürfnissen und der Lebenssituation der Flüchtlinge orientiert. Dies umfasst in der Regel: • Beratung, sozialarbeiterische Begleitung, Hilfen zur sozialen Integration und Rehabilitation; • psychologische Beratung, Krisenintervention, Psychotherapie; • Vermittlung einer medizinisch angemessenen Versorgung; • Gruppen- und Projektarbeit, Multiplikatorenarbeit und Vernetzung; • Information und Fortbildungen für die Fachöffentlichkeit; • Öffentlichkeitsarbeit und Lobbyarbeit; • Dokumentation, Evaluation, Forschung, Publikation. Ein grundsätzlicher Konsens herrscht dabei durchaus über die Bedeutung des Grundrechts, das kranken Flüchtlingen – insbesondere schwer traumatisierten – einen besonderen Schutz und einen Anspruch auf angemessene Betreuung und Behandlung zuweist. Konfliktpunkte bestanden und bestehen allerdings nach wie vor in Bezug auf die Beurteilung der dafür notwendigen Verfahrensabläufe und Einzelentscheidungen:

Eine gewagte Kooperation: BAMF und BAfF67

–– Wie müssen Verfahren gestaltet sein, damit die besondere Schutzbedürftigkeit bzw. Traumatisierung überhaupt erkannt wird? –– Wann muss man Gutachten in Auftrag geben, um Hinweisen nachzugehen, die auf eine Traumatisierung schließen lassen? –– Wie ist grundsätzlich mit Stellungnahmen und Gutachten zum gesundheitlichen Zustand der Asylsuchenden im Asylverfahren umzugehen? Hier gab es zwischen der BAfF und dem BAMF regelmäßige Auseinandersetzungen: aus fachlicher Sicht betreffend der Vermittlung von psychotraumatologischem Wissen, aber auch aus menschenrechtlicher Perspektive in Bezug auf Zielsetzungen, Haltungen und Veränderungsbedarfe.

Zwanzig Jahre »Freundschaft«: zum Dialog zwischen BAMF und BAfF Die Treffen der beiden Institutionen waren zunächst noch stark von gegenseitiger Abgrenzung und einem gewissen Misstrauen bestimmt. Im Jahr 2001 jedoch zeichnete sich auf einem gemeinsamen Expertenhearing zu den Themen Traumatisierung, Diagnostik, Behandlung und Handlungsbedarf – bei Wahrung der unterschiedlichen Standpunkte und Vorgehensweisen – eine schrittweise Verbesserung der Kommunikation ab. Es folgten Auseinandersetzungen darüber, wie sich Widerspruchsverfahren auf Menschen auswirken, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden; darüber, ob und in welcher Form traumatische Störungen im Falle einer erzwungenen Abschiebung reaktiviert werden können, und nicht zuletzt auch über den Umgang mit gutachterlichen Stellungnahmen oder Gutachten im Asylverfahren. Vor allem dieses Thema mündete in heftige Kontroversen. Bei der BAfF stieß auf Unverständnis, dass das BAMF Menschen, die Folter oder Menschenrechtsverletzungen erlebt hatten, in die Beweispflicht nahm und sie aufforderte, entsprechende Stellungnahmen bzw. Gutachten auf eigene Kosten verfassen zu lassen – damit anschließend deren Qualität zum Teil grundsätzlich infrage gestellt wird. Ein Problem, das auch heute noch besteht und eigentlich regelmäßige Rücksprachen mit den Behandelnden oder Gutachter/-innen erfordert. Es wurde deutlich, dass gemeinsame Standards der Qualitätssicherung von Asylverfahren und -entscheidungen nur schwer zu schaffen waren, weil die Debatte um die Parameter »Traumatisierung und Schutzbedürftigkeit« von großen Auffassungs-

68  Elise Bittenbinder, Jenny Baron und Silvia Schriefers unterschieden geprägt war. Bis ins Jahr 2008 kam die Kommunikation zwischen dem BAMF und der BAfF damit zum Erliegen.

Kooperation dringend geboten Wieder aufgenommen wurde der Dialog im Zusammenhang mit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. 09. 2007, das unter anderem feststellte, dass bei ernsthafter Gefahr einer Gesundheitsverschlechterung eine Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung besteht. Das Urteil führte innerhalb des BAMF zu Verfahrensänderungen. Unter anderem sollten nach Absprachen mit dem BAMF bei Bedarf vermehrt gutachterliche Stellungnahmen oder Gutachten in Auftrag gegeben und Zusatzinformationen bei Verfassern von Gutachten oder den Behandelnden eingeholt werden. Die Kooperation mit den Zentren der BAfF sah man nun als unbedingt notwendig an, und klinische Gesundheitszeugnisse zur Qualitätssicherung schienen ausdrücklich gewünscht. Letzteres ist in der Praxis leider nie aktiv durchgesetzt worden. Als zentrale Befürchtung aufseiten des BAMF stand dabei im Raum, dass nun alle Flüchtlinge eine posttraumatische Belastung geltend machen würden. Eine entsprechende Erhebung konnte dies allerdings nicht bestätigen. Laut Aussagen des BAMF wurde 2008 von 301 Flüchtlingen, bei denen eine posttraumatische Belastung vorgetragen wurde, die Hälfte positiv beschieden. Daraufhin wurde 2009 in den Mitgliedszentren der BAfF eine Evaluation »der Verfahrensweisen und der Effektivität der Maßnahmen des Bundesamts bezüglich des sachgerechten Umgangs mit dem Sachvortrag einer psychischen Erkrankung, insbesondere PTBS [posttraumatische Belastungsstörung], im Asylverfahren« durchgeführt. Die Ergebnisse zeigten einen deutlichen Handlungsbedarf auf – in Richtung der Etablierung verbindlicher, kohärenter und plausibler Empfehlungen für den Umgang mit vulnerablen Gruppen im Aufnahme- und Asylverfahren. Eine Intensivierung der Kooperation beider Institutionen schien dringend geboten. Die BAfF als Menschenrechtsorganisation nimmt von ihrem Grundverständnis her einen eindeutigen Standpunkt zum Thema »Krankheit« bzw. »Gesundheit von Überlebenden von Menschenrechtsverletzungen« ein. Folter ist ein politisches Instrument, ein Akt von extremer psychischer oder physischer Gewalt. Sie zu verhindern oder zumindest ihre Folgen zu lindern ist ihr Auftrag. Gesundung oder Rehabilitation erfordern einen sicheren Ort und Schutz sowie eine neue Lebensperspektive. Dabei versteht die BAfF unter Rehabilitation mehr als primäre Prävention, das heißt Diagnostik und Behandlung. Es geht um die Orientierung

Eine gewagte Kooperation: BAMF und BAfF69

am Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die vom »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens« spricht (WHO, 1978) und damit die Zielsetzung der gesellschaftlichen Teilhabe fordert. In diesem Zusammenhang bedarf es der fortgesetzten Auseinandersetzung aller mit dem Thema Rückführung: Bei Opfern von Folter, Gewalt und schwerwiegender Verfolgung ist grundsätzlich davon auszugehen, dass eine gewaltsame Rückführung an den Ort der erlittenen Qualen zu einer erheblichen seelischen und gesundheitlichen Beeinträchtigung führt. In existenziellen Unsicherheitssituationen können die Beschwerden wieder aktualisiert werden. Rehabilitationserfolge sind dann gefährdet (vgl. Rössel-Cunovic, 1999; Carlsson, Mortensen u. Kastrup, 2007; Becker, 2002). Zu Recht betont das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), es könne nicht gefordert werden, dass der verfolgte Flüchtling in das betreffende Land zurückkehrt: »Auch wenn in dem betreffenden Land eine Änderung des Regimes stattgefunden hat, so bedeutet dies nicht immer auch eine völlige Änderung in der Haltung der Bevölkerung, noch bedeutet es, in Anbetracht der Erlebnisse in der Vergangenheit, dass sich der psychische Zustand des Flüchtlings völlig verändert hat« (UNHCR, 1979, S. 32).

Was ist eine seelische Störung? Die unterschiedliche Einschätzung des Stellenwerts von seelischer Störung hat in der Auseinandersetzung zwischen BAMF und BAfF immer eine Rolle gespielt und wird sicherlich auch in Zukunft von Bedeutung sein. Auch wenn inzwischen wissenschaftlich, politisch und in der Verwaltung unbestritten ist, dass Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen lebenslange gesundheitliche Störungen hervorrufen können und dass diese Störungen nicht nur dokumentiert und diagnostiziert, sondern auch behandelt werden müssen, gilt es dennoch, die unterschiedlichen Sichtweisen aller Beteiligten im Auge zu behalten. Die von der Politik und der Gesetzgebung geforderte Objektivierung der vorgetragenen Beschwerden ist nicht immer leicht. Zum Teil werden große Unterschiede in der Beurteilung offenbar. Betroffene und Anwält/ -innen, Gutachter/-innen, Behandelnde, zivilgesellschaftliche Akteur/ -innen, genauso wie die Mitarbeitenden des BAMF handeln vor dem Hintergrund ihrer Zielsetzungen, Aufträge und Haltungen. Die Unterschiede bedürfen deshalb der konsequenten Reflexion und des gegenseitigen Austauschs. Das Menschenrecht auf Früherkennung, Behandlung und Schutz wird dadurch genauso wenig relativiert wie die Pflicht aller Beteiligten, alle Gesetze und Konventionen oder professio-

70  Elise Bittenbinder, Jenny Baron und Silvia Schriefers nelle Standards (unter anderem das Istanbul-Protokoll, die Europäische Menschenrechtskonvention, das Recht auf Rehabilitation nach EU-Richtlinien und den UN-Konventionen, insbesondere der Convention against Torture CAT/C/GC/3 oder die Erklärung des Menschenrechtsausschusses der Generalversammlung vom 18. 3. 2013) strikt einzuhalten und sich nicht instrumentalisieren zu lassen. Fehleinschätzungen kommen vor, es muss allerdings mit aller Kraft verhindert werden, dass behandlungsnotwendige Störungen übersehen bzw. als nicht existent oder als »falsch negative Befunde« beurteilt werden. Tief im Dilemma Flüchtlinge, die in der Bundesrepublik Asyl suchen, können ihre Erfahrungen in der Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst zunächst nur andeuten. Sie befinden sich in dem Dilemma, ihre traumatischen Erlebnisse vergessen und jede Erinnerung daran vermeiden zu wollen. Gleichzeitig ist es im Asylverfahren notwendig, dass sie ihre Erfahrungen und die Hintergründe des Asylbegehrens in einem Sachvortrag substanziiert, stimmig, schlüssig und detailreich schildern. Dies sind Anforderungen, denen sie in der Anhörung häufig unzureichend gewachsen sind. Eine Reaktion darauf kann Schweigen, Ausweichen oder der psychische Zusammenbruch sein. Auch für die Entscheider/-innen ist der tägliche Umgang mit Asylprozessen mit besonderen Belastungen verbunden, da sie unter einem hohen Produktivitätsdruck stehen. Nachdem die Asylantragszahlen über viele Jahre kontinuierlich gesunken sind (mit dem Tiefstand von 28 018 Asylanträgen im Jahr 2008), steigen sie seit dem Jahr 2010 stetig an – auf zuletzt 127 023 Asylanträge im Jahr 2013 (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2014). Aber vor allem auch fachlich stellen sich die Entscheider/-innen bei der Durchführung von Asylverfahren verschiedene, sehr hohe Anforderungen. Sie müssen zur Analyse der Situation von Asylsuchenden über ein hohes Maß an Fachwissen verfügen, benötigen als Entscheidungsgrundlage umfassende länderspezifische Informationen einschließlich individueller und gruppenspezifischer Rahmenbedingungen. Gleichzeitig haben sie einen Arbeitsauftrag mit großer moralischer Verantwortung: Sie treffen im Einzelfall überlebenswichtige Entscheidungen. Hier sind die Entscheider/-innen mit zum Teil hochambivalenten Aufträgen konfrontiert. Zum einen mit ihrem juristischen Auftrag, Asylsuchende anzuhören und detailliert zu den Gründen ihres Asylgesuchs zu befragen. Dabei müssen sie einen konkreten Fragenkatalog bearbeiten, welcher der Wahrheitsfindung im Zusammenhang mit dem Asylbegehren dient. Zum

Eine gewagte Kooperation: BAMF und BAfF71

anderen sind sie mit den psychischen Folgebelastungen der Opfer von Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen konfrontiert und müssen mit dem jeweiligen Einzelfall umgehen: »Eine der größten Schwierigkeiten ist laut der Sachbearbeiter die permanente Auseinandersetzung mit menschlichen Grausamkeiten und schweren Schicksalen, von denen sie sich jedoch nicht zu sehr erschüttern lassen dürfen um entscheidungsfähig zu bleiben« – so das Resümee der Soziologin Dr. Johanna Probst in ihrer Studie zu Entscheidungsprozessen innerhalb der deutschen und der französischen Asylverwaltung (Probst, 2012, S. 44). Ein gewisses Mitgefühl gegenüber der Situation der Antragstellenden und ihren Berichten ist oftmals kaum vermeidbar. Genauso können negative Emotionen gegenüber den Antragstellenden auftreten, die zuweilen als Lügner/-innen oder Betrüger/-innen wahrgenommen werden. Die Entscheider/-innen im Asylverfahren sind also mit eigenen Emotionen und Reaktionen konfrontiert, mit denen sie reflektiert umgehen müssen, um zu einer objektiven Entscheidungsfindung über den Asylantrag zu kommen. Nichterzählbares Das Beispiel der Anhörung einer jungen Frau aus der Türkei gibt einen ersten Eindruck in die Komplexität der Anforderungen, die das Asylverfahren sowohl an die betroffenen Flüchtlinge als auch an die Anhörenden stellt: Frau T. (23 Jahre) aus der Türkei Die Anhörung fand einen Monat nach ihrer Einreise in die BRD statt. Anwesend waren ein Sachbearbeiter und ein Sprachmittler. Auf Rückfrage versicherte Frau T., dass es kein Problem für sie darstelle, wenn zwei Männer anwesend wären: Frau T.: »Ich bin bei allen Festnahmen immer geschlagen und gefoltert worden. Im Jahre 2005 hat man mich einfach so mitgenommen. Man hat mir die Augen verbunden.« Sachbearbeiter: »Gab es irgendwelche konkreten Vorwürfe für diese Festnahmen? […]« Frau T.: »Ich bin bei diesen Verhören auch immer belästigt worden.« Keine Nachfrage Frau T.: »Ich hatte meinen Eltern erzählt, was passiert war, jedoch nicht alles. Ich bin ja bei den Festnahmen auch beschimpft worden. Ich habe ihnen deshalb nicht alles erzählt, weil möglicherweise, wenn das herauskommt, die Nachbarn auf mich herabsehen würden.« Keine Nachfrage

72  Elise Bittenbinder, Jenny Baron und Silvia Schriefers Im Anhörungsprotokoll wurden keine weiteren Notizen zum Gesprächsverlauf vermerkt, etwa dazu, wann die Erzählung stockend wurde oder Ähnliches.

Wie mag es der Asylantragstellerin wirklich ergangen sein? In der Anhörungssituation sind zwei männliche Personen anwesend. Wie Berichte unter anderem von Amnesty International belegen, war Folter in der Türkei weit verbreitet und wurde systematisch angewendet. Frauen in Polizeihaft waren einer besonders großen Gefahr der sexuellen Gewalt ausgesetzt (Amnesty International, 2003). In den Aussagen von Frau T. sind Erfahrungen sexualisierter Gewalt angedeutet: »Ich bin bei diesen Verhören auch immer belästigt worden.« Eine detaillierte und substanziierte Schilderung ihrer konkreten Erlebnisse im Rahmen der Festnahmen blieben jedoch aus. Die Antragstellerin deutet Vorgänge an, die nicht erzählbar sind: »Die Nachbarn würden auf mich herabsehen.« Möglicherweise kommen in dieser Situation psychologische Aspekte wie Scham oder Schuld, vielleicht aber auch Ängste vor gesellschaftlicher Ausgrenzung bzw. Ächtung der eigenen Person wie auch der Familie für ihre lückenhafte Erzählung zum Tragen. Wie hätte man als sensibilisierter Entscheider mit einer solchen Situation umgehen können? Wie mag es dem Entscheider in dieser Anhörungssituation ergangen sein? Fühlte er sich unwohl, als Mann eine Frau nach weiteren Details zu diesem besonderen Thema zu fragen? Wollte er sie davor schützen, alles Erlebte in seinem ganzen Umfang und Ausmaß erneut berichten und damit teilweise auch wieder erleben zu müssen? Wurden die Andeutungen der Asylantragstellerin in den wichtigen Aspekten wahrgenommen? Es bedarf länderspezifischen Wissens dazu, ob Frauen bei Festnahmen durch Staatsbeamte häufig Opfer von Folter und anderen Formen von (sexualisierter) Gewalt werden. Es sind aber auch Kenntnisse über Traumatisierung und die (psychischen) Folgen hilfreich, um als Entscheider/-in Handlungssicherheit darüber zu haben, wie die Anhörung zu gestalten ist, wenn Hinweise auf derartige Erfahrungen gegeben werden. Beispielsweise sind erneute Nachfragen wichtig, dahingehend, ob eine Antragstellerin die Anhörung besser mit weiblichem Personal (Entscheiderin und Dolmetscherin) fortführen möchte. Die Erfahrungen sexualisierter Gewalt durch Staatsbeamte und die Hinweise auf staatliche Verfolgung stellen asylrelevante Fluchtgründe dar, denen für die Entscheidungsfindung weiter nachgegangen werden muss.

Eine gewagte Kooperation: BAMF und BAfF73

Angst, Scham und Vermeidung in der Anhörungssituation Zugleich ist von zentraler Bedeutung, dass Menschen, die Opfer von Folter, Vergewaltigung oder anderen Gewalttaten geworden sind, in der Folge häufig eine Traumafolgestörung entwickeln. Sie erschwert es den Betroffenen, ihren Verfolgungshintergrund oder Fluchtweg in der Anhörung hinreichend schlüssig, detailliert und wahrheitsgetreu darzulegen. Die Rekonstruktion dieser Ereignisse birgt immer das Risiko einer psychischen Krise bzw. eines Zusammenbruchs. Angst, Scham und Vermeidung als Hauptsymptome zum Beispiel der posttraumatischen Belastungsstörung machen solche Aussagen teilweise unmöglich. Zumindest erschweren sie es, über genau diejenigen Erfahrungen zu berichten, die für das Asylverfahren von Bedeutung sind. Das Verschweigen von Traumata aus Angst vor Wiedererleben und traumabedingte Einschränkungen wie Vermeidung, Amnesien, Angst und Misstrauen können dazu führen, dass die Antragstellenden sehr verschlossen sind und tendenziell eher vermeiden, über ihr Schicksal zu sprechen. Dies kann von den Entscheider/-innen missverstanden und dahingehend interpretiert werden, dass hier kein Problem besteht; also dass auch kein Asylgrund vorliegt. Eine Befragung zu den Asyl- und Fluchtgründen kann bei Flüchtlingen, die Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen erfahren haben, zu einer Reaktualisierung der traumatischen Erfahrung führen. Die Anhörung wird für den Flüchtling dann zum Verhör, der Sachbearbeiter oder die Sachbearbeiterin zum Folterer aus der Vergangenheit. Es sind unbewusste psychische Prozesse, durch die die Antragstellenden die Anhörung nicht mehr von einem Verhör durch den Folterer unterscheiden können. Die Folge sind nicht nur häufig fragmentierte, lücken- und sprunghafte Erzählungen der Antragstellenden. Es kann auch zu einem Verlust der Kontrolle über sich selbst sowie über die Anhörungssituation kommen. So kommt es zu problematischen Situationen, wenn beispielsweise ein Flüchtling dissoziiert (bei den dissoziativen Störungen kommt es zum Verlust der normalen Integration von Erinnerungen, Identität, Empfindungen und Bewegungskontrolle; Dilling, Mambour, Schmidt, 2010), in der Anhörung zusammenbricht, aggressiv oder provozierend gegenüber dem Entscheider oder der Entscheiderin wird, es Schwierigkeiten mit Dolmetschenden gibt oder Antragsstellende nicht mehr in der Lage sind, den Verfolgungshintergrund oder Fluchtweg hinreichend schlüssig und wahrheitsgetreu darzulegen. Die Entscheider/-innen sind dann oft unsicher, wann eine Anhörung unterbrochen oder zu einem anderen Zeitpunkt fortgesetzt werden muss bzw. wann sie gegebenenfalls sogar

74  Elise Bittenbinder, Jenny Baron und Silvia Schriefers »durchgezogen« werden sollte, um keine zweite belastende Anhörungssituation zu schaffen.

Adäquates Verhalten in Krisen Nach den Ergebnissen einer hausinternen Befragung von Mitarbeitenden des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurde am häufigsten die Antwort gegeben, dass sie generell Probleme damit haben, eine posttraumatische Belastungsstörung zu erkennen. Dabei gab es zum einen Mitarbeitende, die bezüglich dieser Aufgabe »frustriert« und »überfordert« seien, »etwas in 2,5 Stunden Anhörung zu erspüren, was Psychiater nicht einmal in zehn Sitzungen beweiskräftig aufarbeiten können«. Ebenso äußerten sich viele Mitarbeitende, dass sie »eher vorsichtig seien und Angst hätten, durch die Befragung eine Retraumatisierung auszulösen«. Es bestehe eine große Unsicherheit, wie man sich in einem solchen Fall richtig verhalten könne, zum Beispiel inwieweit auf eine detaillierte Schilderung des Geschehens bestanden werden muss bzw. welche Anzeichen gegeben sein müssen, damit die Anhörung abgebrochen werden kann. Es zeigte sich, »dass sich rund zwei Drittel der Befragten nicht oder eher nicht richtig ausreichend geschult fühlen, um in Krisensituationen adäquat reagieren zu können«. Viele fühlen sich durch die Anhörung traumatisierter Personen in besonderem Maße belastet. Auch wurde der Bedarf nach Wissensvermittlung geäußert, unter anderem zum Umgang mit Attesten und Gutachten sowie das Bedürfnis nach einer Sensibilisierung und Schulung für das Thema »posttraumatische Belastungsstörung«. Wiederkehrende Fragen zum Umgang mit psychisch belasteten Flüchtlingen in der Anhörung »Wie weit kann und muss ich als Einzelentscheider/-in in der Befragung zum Verfolgungsschicksal gehen?« »Wie kann ich mit psychologisch belastenden Erlebnissen umgehen?« »Was mache ich, wenn ein Antragsteller oder eine Antragstellerin immer wieder in der Anhörung weint?« »Wie gehe ich damit um, wenn ein Antragsteller oder eine Antragstellerin Suizid androht?« »Was mache ich, wenn ein Antragsteller oder eine Antragstellerin laut wird und sich drohend vor mir aufbaut?« »In welchen Situationen kann oder muss ich die Anhörung abbrechen?« »Wie kann ich trotz wiederholter negativer Erfahrungen mit Antragstellenden ergebnisoffen und sensibel in die nächste Anhörung gehen?«

Eine gewagte Kooperation: BAMF und BAfF75

Das besondere an der Arbeit bzw. der Situation der Einzelentscheider/-innen ist das Gebot des genauen »Hinhörens« bei oft sehr tragischen Lebensschicksalen sowie die Notwendigkeit, in der Folge Entscheidungen treffen zu müssen, die für das weitere Schicksal des jeweiligen Asylbewerbers und der Asylbewerberin von größter Bedeutung sind. Das bedeutet für die Einzelentscheider/-innen gleichzeitig: viel Trauer, Gewalt und Trauma übermittelt zu bekommen. Es ist Empathievermögen erforderlich, um sich auf diese Lebensgeschichten einzulassen. Und es erfordert eine gewisse Distanziertheit, um Bewertungen und Entscheidungen treffen zu können. Eine normale menschliche Reaktion auf diese Spannungssituationen und -felder ist: Abwehr. Die Entscheider/ -innen brauchen deshalb Hilfe, Reflexionsräume und -werkzeuge, um mit den Belastungen umgehen und den Stress bewältigen zu können, und immer wieder ergebnisoffen, sensibel und wohlwollend in die nächste Anhörung zu gehen: »Gerade engagierte Menschen […], die ja nicht nur den Job nach der Uhrzeit machen, sondern auch den Wunsch haben, gute Entscheidungen zu treffen, richtige Entscheidungen zu treffen, also genau zu gucken ›Wen habe ich vor mir, wenn ein Flüchtling vor mir sitzt?‹, bei denen kann das leicht unter belastenden Bedingungen auch zu Erschöpfung führen. Das war ein Schwerpunkt unserer Seminare. Erst einmal […] zu sensibilisieren dafür, wo bin ich eigentlich belastet. […] Viele Professionelle nehmen gar nicht mehr wahr, dass sie belastet sind. Diese Wissensvermittlung, Psychoedukation sagen wir dazu, ist wichtig. Also dass die Teilnehmenden Wissen darüber entwickeln, wo sind denn eigentlich all die Quellen der Belastung, und dann aber auch in einem erfahrungs- und emotionalen Lernen versuchen, zu finden, wo trifft das auf mich zu, wo muss ich auf mich aufpassen […] Denn nur dann, wenn ich wirklich merke, da gerate ich in eine Müdigkeit, da gerate ich mit der Zeit in eine Unbeweglichkeit, nur genau dann kann ich auch etwas verändern. Es braucht Wissen darüber, dass eine solche Arbeit eine sehr im Beziehungsbereich verankerte Arbeit ist, indem ich mich als ganzen Menschen zur Verfügung stelle und aber damit auch immer mich zur Verfügung stelle, etwas aufzunehmen. Es braucht Wissen über die eigene Verantwortung, die ich habe, diese Belastung auch am Ende des Tages wieder loszuwerden und zu lernen, wie kann ich das am besten machen.« (Dozentin, die Entscheider/ -innen des Bundesamts mit Training und Coaching begleitet hat)

Wunsch nach Supervision Mit Abstand am häufigsten wurde im Rahmen der Befragung der Wunsch nach Supervision laut, also nach einem fachlich angeleiteten Austausch

76  Elise Bittenbinder, Jenny Baron und Silvia Schriefers über belastende Situationen unter den Kolleg/-innen. Ebenso wurde der Wunsch nach Schulungen formuliert. Insgesamt zeigte sich hier deutlich, wie extrem beansprucht und teilweise überfordert und frustriert die Mitarbeitenden sind. Der hohe Druck, der in der Anhörungssituation aufseiten der Flüchtlinge wie auch der Entscheider/-innen lastet, wirkt sich dabei erschwerend auf die gesetzlich geforderte Sachaufklärung und Einzelfallprüfung aus. Der deutlich artikulierte Bedarf nach Entlastungs- und Reflexionsräumen fand im BAMF schließlich auch Eingang in die politische Debatte um Strukturverbesserungen innerhalb der Asylpolitik, -verwaltung und -rechtsprechung: Im Jahr 2010 mündete diese in einer Ausschreibung des BAMF zur Entwicklung von Trainings- und Supervisionsmaßnahmen für Mitarbeitende, die mit Asylentscheidungen befasst sind: Die Ausschreibung Aufforderung des BAMF zur Einreichung von Anträgen auf Gewährung einer Zuwendung aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds (EFF): Strukturverbesserungen in der Asylpolitik/Asylverwaltung/Asylrechtsprechung »Vorrangiges Förderziel des Programmjahres 2010 in diesem Handlungsfeld ist sicherzustellen, dass die mit Asylentscheidungen befassten Mitarbeiter der besonderen Verantwortung und den persönlichen Belastungen, die sich im täglichen Umgang mit Schutzsuchenden und ihren Fluchtschicksalen ergeben, fortlaufend im erforderlichen Maße gerecht werden. Durch supervisorische Hilfestellungen seitens externer Experten sollen die Bediensteten bei der Reflexion und Verbesserung ihrer verantwortungsvollen Entscheidungstätigkeit unterstützt und begleitet werden. Die für sachgerechte Asylanhörungen und -entscheidungen notwendige persönliche (auch psychische) Stabilität und Belastbarkeit der Entscheidungsträger soll dadurch gestärkt werden. Ebenso ist auf Dauer sicherzustellen, dass die Bediensteten den Schicksalen von Flüchtlingen auch mit der nötigen Sensibilität begegnen. Dies setzt insbesondere Verständnis und Einfühlsamkeit gegenüber politisch Verfolgten oder von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung Betroffenen voraus. Auch diese Befähigung soll durch entsprechende fachliche Betreuung sowie Schulungs- und Trainingsprogramme und ggf. weitere innovative Maßnahmen gestärkt werden. In diesen beiden Themenbereichen werden daher Supervisions- und Trainingsmaßnahmen gefördert, gerichtet an Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes, die im Bereich Asylverfahren eingesetzt sind und über Asylanträge entscheiden.«

Im Auftrag des Bundesamts hat die BAfF schließlich ein Projekt konzipiert, in dem in Kooperation mit Expert/-innen aus den Psychosozialen Zentren sowie externen Supervisor/-innen der Deutschen Gesell-

Eine gewagte Kooperation: BAMF und BAfF77

schaft für Supervision e. V. (DGSv) Konzepte für Training, Coaching und Supervision mit Entscheidungsträger/-innen im Asylverfahren entwickelt, durchgeführt und evaluiert wurden. Das Projekt hatte eine Laufzeit von insgesamt drei Jahren und wurde getragen durch Mittel des Europäischen Flüchtlingsfonds (EFF). Die Kofinanzierung erfolgte durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Literatur Amnesty International (2003). Folter in Polizeihaft. Zugriff am 29. 10. 2014 unter http://www.amnesty.de/umleitung/2003/deu05/026?lang=de%26mimetype%3dtext%2fhtml Becker, D. (2002). Flüchtlinge und Trauma. Interview mit David Becker. Zugriff am 01. 10. 2014 unter http://userpage.fu-berlin.de/wolfseif/verwaltet-entrechtet-abgestempelt/texte/becker_trauma.pdf Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2014). Aktuelle Zahlen zu Asyl. Zugriff am 10. 11. 2014 unter http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/ Downloads/Infothek/Statistik/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl. pdf?__blob=publicationFile Carlsson, J. M., Mortensen, E. L., Kastrup, M. (2007). Predictors of mental health and quality of life in male tortured refugees. Nordic Journal of Psychiatry, 60, 51–57. Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. H. (2010). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien (7., überarb. Aufl.). Bern: Huber. Probst, J. (2012). Asylanträge bearbeiten – Vergleichende Studie des Entscheidungsprozesses in der Deutschen und der Französischen Verwaltung. Unveröffentlichte deutsche Zusammenfassung von: Probst, J. (2012). Instruire la demande d’asile. Étude comparative du processus décisionnel au sein des administrations allemande et française. Dissertation Université de Strasbourg/Philipps-Universität Marburg. Zugriff am 29. 10. 2014 unter http:// archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2012/0949/pdf/djp.pdf Rössel-Cunovic, M. (1999). Kurz-Therapien für Flüchtlinge mit befristeter Duldung? Probleme und ausländerrechtliche Restriktionen der psychotherapeutischen Grundversorgung traumatisierter Flüchtlinge: Erfahrungen mit bosnischen Flüchtlingen. Zeitschrift für Politische Psychologie, 7 (1 u. 2), 143–150. UNHCR, United Nations High Commissioner for Refugees (1979). Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge. Zugriff am 29. 10. 2014 unter http://www. refworld.org/docid/4023d8df4.html WHO, World Health Organisation (1978). Declaration of Alma-Ata. Zugriff am 29. 10. 2014 unter http://www.euro.who.int/de/publications/policy-documents/declaration-of-alma-ata,-1978

Silvia Schriefers und Jenny Baron Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer

Wege der Veränderung: Trainings und Coachings Die Konzeption der Fortbildungsinhalte bewegte sich von Beginn an im Spannungsfeld der unterschiedlichen Interessen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF). Das BAMF wie auch die BAfF haben jeweils einen eigenen, konkreten Schutzauftrag, aus dem sich unterschiedliche Zielsetzungen ergeben. Dem BAMF war es wichtig, seine Mitarbeitenden mit den Trainings und Coachings und Supervisionen in Bezug auf die Anforderungen ihres Arbeitsauftrags zu unterstützen: Sie sollten fachlich in Richtung einer effektiven und situationsangemessenen Arbeit qualifiziert und zugleich persönlich entlastet werden. Nicht in erster Linie das Wissen über die Situation Geflüchteter, vielmehr die Stabilität und Belastbarkeit der Entscheider/-innen sollte verbessert werden – mit dem Ziel, dass sie trotz der besonderen Arbeitsherausforderungen sachgerechte Entscheidungen treffen. Anliegen der BAfF als Menschenrechtsorganisation war es, dass Flüchtlinge im Asylverfahren durch die Fortbildung der Anhörenden einen sensibleren, bedarfsgerechten, fairen und unvoreingenommenen Umgang erfahren: Ihre Nöte und Leidenszustände sollten mit dem erforderlichen Feingefühl aufgenommen, ihre Fluchtgründe mit der nötigen Offenheit exploriert und auf Angst- und Krisenzustände sollte angemessen reagiert werden. Dabei ist die BAfF bzw. sind die Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer zwar parteiisch für die Anliegen der Flüchtlinge. Zugleich haben sie jedoch die nötige umfassende Expertise, die für diesen besonderen Kontext notwendig ist und die sie weitergeben möchte.

Eine Situation, zwei Perspektiven Die jeweiligen Positionen sind beiden Kooperationspartnern dabei inhärent: Sie können nicht verlassen werden und müssen gewahrt bleiben. Es

Wege der Veränderung: Trainings und Coachings79

ging somit bei der gemeinsamen Konzeption der Fortbildungsinhalte immer auch um die Entwicklung eines kooperativen Dialogs. Ein Dialog, der es erlaubt, Nachfragen zu stellen, Zweifel zu äußern und gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. In diesem Sinne sollte die Anhörungssituation in den Trainings und Coachings aus zwei Perspektiven bearbeitet werden: So widmete sich der erste Schulungstag maßgeblich der Perspektive der Entscheider/-innen (»Ich in der Rolle als Anhörer/-in«) und der folgende vor allem der Perspektive der Flüchtlinge (»Krisen und Krisenmanagement in der Arbeit mit Flüchtlingen«). Beide Perspektiven spiegeln zwei Seiten einer Medaille und können nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Die besonderen Anforderungen an die Entscheider/-innen können nicht ganzheitlich bearbeitet werden, wenn man nicht um die besondere Situation der Geflüchteten, die als »Antragsstellende« Teil der Situation »Anhörung« sind, weiß. Die Geflüchteten wiederum profitieren von einer verbesserten Anhörungspraxis, wenn Entscheider/-innen in ihrer Arbeit unterstützt werden: Stereotypisierungen von Flüchtlingsgruppen, voreilige Schlüsse sowie automatisierte Abwehrreaktionen, die unter Druck womöglich mit höherer Wahrscheinlichkeit Eingang in die Anhörungssituation finden, können reduziert werden. So entsteht eine für die Anliegen und Verfasstheit der Flüchtlinge offenere und sensiblere Gesprächssituation.

Zum Einstieg: Überraschende Parallelen Der Einstieg in die Schulungstage bot den Trainer/-innen ein erstaunliches Bild. Damit sich die Teilnehmenden miteinander vertraut machen können, starteten die Schulungen jeweils mit einer Kennenlernübung. Die Entscheider/-innen erhielten den Auftrag, sich – nach Dienstjahren sortiert – nebeneinander aufzustellen, sich kurz vorzustellen und zu schildern, was sie motiviert hat bzw. noch immer motiviert, als Entscheider/-in im Bundesamt zu arbeiten. Auf diese Weise kamen die Teilnehmenden in einem unbedrohlichen, aber dennoch persönlichen Rahmen miteinander ins Gespräch, und alle Beteiligten konnten sich ein Bild über die Zusammensetzung ihrer Schulungsgruppe machen. Die Diskussionen zwischen den Teilnehmenden brachten Perspektiven auf den Job des Entscheiders ans Licht, mit denen so zunächst niemand gerechnet hätte. So zeugten die Erzählungen der meisten Entscheider/-innen von einem hohen Interesse am Austausch mit anderen Kulturen, an der Begegnung mit Menschen aus so unterschiedlichen Ländern und an

80  Silvia Schriefers und Jenny Baron der Auseinandersetzung mit der politischen Situation in den jeweiligen Herkunftsländern. Dabei empfanden viele Teilnehmende ihre Arbeit und ihren Arbeitsauftrag als besondere persönliche Herausforderung, die zugleich in einem sicheren Setting stattfindet: Sie bewegten sich in einem inhaltlich abwechslungsreichen Feld, das ihnen zudem einen sicheren Job bot, in dem sie mit regelmäßigen Arbeitszeiten, einer hohen Besoldung und guten Aufstiegsmöglichkeiten viel Verantwortung und relativ hohe Entscheidungsfreiheit erhielten. Die Runde zeigte sich den Dozent/-innen insofern als überraschendes Moment, als dass sich in den Antworten der Entscheider/-innen zum Teil Berufsmotivationen fanden, die den eigenen sehr ähnelten und die – abgesehen vom sicheren Setting – sicherlich auch von den Mitarbeitenden der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer so geäußert worden wären.

Die Erwartung: besserer Umgang mit Stress Um die Entscheider/-innen mit ihren Bedürfnissen und spezifischen Belastungen da abzuholen, wo sie gerade stehen, wurden sie zu Beginn der Fortbildungen zunächst zu ihren Erwartungen an die Trainings und Coachings befragt. Vielen Teilnehmenden war hier vor allem wichtig, einen besseren Umgang mit persönlicher Belastung durch die Arbeit zu erlernen und dadurch angemessener auf Stress reagieren bzw. diesem bereits im Vorfeld besser entgegensteuern zu können: »Ich fand es von der Seite interessant, dass hier der Entscheider mehr im Mittelpunkt steht. Also, wie es ihm in bestimmten Situationen geht. Wir haben ja sonst Schulungen, wo man den rechtlichen Rahmen noch mal bearbeitet oder wo bestimmte Anhörungssituationen mit bestimmten Gruppen, Minderjährige oder so, thematisiert werden. Aber hier, das fand ich sehr reizvoll, dass es hier darum ging, wie der Entscheider in bestimmten Situationen handelt, was er vielleicht da für Probleme hat, oder so. Also, dass die Perspektive eben anders gelegt war als bei Schulungen, die sonst manchmal angeboten werden. Das fand ich für mich reizvoll, und deshalb habe ich mich für das Training und Coaching entschieden.«

Als belastende Faktoren nannten die Entscheider/-innen dabei zum einen solche, die mit den Inhalten ihrer Tätigkeit verwoben sind – etwa Schwierigkeiten mit Gewalterfahrungen, verbunden mit der Schilderung von Foltererfahrungen, Kriegs- und Tötungserlebnissen im Heimatland. Aber auch strukturell-organisatorische Faktoren wie der Druck, über möglichst viele Asylanträge in möglichst kurzer Zeit möglichst sachgerecht und zweifelsfrei entscheiden zu müssen, beschrieben sie

Wege der Veränderung: Trainings und Coachings81

als belastende Anforderungen. Außerdem wünschten sich einige Entscheider/-innen Unterstützung in der Handhabung von psychologischen Stellungnahmen und Gutachten.

Ermittelnmüssen als Berufskrankheit? Besondere Brisanz erlangte in allen Schulungsgruppen bereits an dieser Stelle der Umgang mit »Lügengeschichten«: So wurde der Wunsch geäußert, eine bessere Balance finden zu können zwischen der Notwendigkeit, sich in die Antragsstellerin oder den Antragsteller hineinzuversetzen und dem allgegenwärtigen Verdacht, sie oder er lüge sowieso. Auch in Anhörungssituationen, in denen sich ein Verdacht auf Lügen abzeichnet, wolle man sich eigentlich zunächst neutral verhalten können. Einige der Entscheider/-innen schien dieser Themenkomplex sehr weitreichend zu beschäftigen: Sie deuteten an, bei sich bereits Einstellungs- und Wesensveränderungen in Richtung eines tiefer verankerten Misstrauens, einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber der Vertrauenswürdigkeit anderer Menschen wahrzunehmen. Dass sie sich auch im privaten Umfeld immer wieder dabei beobachteten, wie sie versuchten, »Lügengeschichten« aufzudecken, weise für sie darauf hin, dass es ihnen immer schlechter gelänge, ihre berufliche und ihre private Identität mitsamt den unterschiedlichen Rollenerwartungen voneinander zu trennen.

Bitte kein Jammerseminar Die Entscheider/-innen erhofften sich von den Trainings vor allem konkrete Empfehlungen zum Umgang mit Stress und schwierigen Situationen, zum Beispiel bei der Anhörung, aber auch mit dem (Effizienz-) Druck, der strukturell auf ihnen lastet. Es bestand ein großes Bedürfnis nach Austausch mit den Kolleg/-innen. Dabei aber war es den Teilnehmenden besonders wichtig, dass nicht nur über bestehende Schwierigkeiten und Belastungen geredet würde, sondern vielmehr auch die Möglichkeit geboten werden sollte, konkrete Strategien zu erlernen: Sie wollten kein weiteres »Jammerseminar« besuchen, sondern konstruktiv arbeiten und so viel wie möglich mitnehmen. Auch für die bislang oft eher antagonistische Beziehung, die sie als Entscheider/-innen mit den Psychosozialen Zentren und der BAfF als Unterstützer/-innen Geflüchteter pflegten, erhofften sich viele Teilnehmenden eine produktivere, kooperativere Entwicklung.

82  Silvia Schriefers und Jenny Baron Eine Teilnehmerin teilte in diesem Zusammenhang sogleich ihre Sorge mit, sie könnte in ihrer Rolle als Anhörerin als die »Böse« abgestempelt werden, während die BAfF bzw. die Psychosozialen Zentren aufseiten der »Guten« stünden. Dies stieß auf allgemeine Zustimmung und verdeutlichte die unterschiedlichen Positionen und beruflichen Rollen, die es gegenseitig wahrzunehmen und zu respektieren gilt. Die Entscheider/-innen äußerten außerdem recht schnell, dass es ihnen nichts bringen würde, nur mit Pauschalisierungen, wie »Ihr müsst das Gute im Menschen sehen« belehrt zu werden. Es sei wichtig, dass man auch die Rahmenbedingungen ihrer Arbeit und damit zusammenhängend ihren jeweiligen – oft eingeschränkten – Handlungsspielraum als Anhörer/-in im Kontext der Institution des Bundesamts wahrnehme. In den meisten Schulungen zeichnete sich recht schnell ab, dass die Erwartungen und Bedürfnisse der Teilnehmenden vor allem konkreter praktischer Schulungselemente bedürfen. Die Entscheider/-innen beteiligten sich lebhaft, und die Diskussion zeigte mit Nachdruck den hohen Bedarf der Entscheider/-innen nach einem Austausch mit Kolleg/-innen.

Flexible Handhabung der Trainingsmodule Die Trainer/-innen hatten sich auf die Veranstaltung mit viel theoretischem Material zu Stress und Stressbewältigung vorbereitet – in der Sorge, gegenseitige Vorurteile, Berührungsängste oder ein allgemeines Unwohlsein mit Übungen zur Selbstreflexion könnten es schwierig machen, zur persönlichen Seite der Teilnehmenden vorzudringen. Es zeigte sich aber im Gegenteil, dass sich bei den Entscheider/-innen jahrelanger Druck angestaut hatte, der darauf drängte, geäußert und bearbeitet zu werden. Zudem waren die meisten Entscheider/-innen hochmotiviert, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Deshalb kürzten die Dozent/-innen die Theorieblöcke in vielen der Trainings und Coachings, um dem moderierten Erfahrungsaustausch, der Reflexion und dem gemeinsamen Erarbeiten von Handlungsstrategien Platz zu machen. So konnte intensiver in Kleingruppen gearbeitet, so konnten Erfahrungen, Denkweisen und Handlungsmöglichkeiten gemeinsam überdacht und zusammengetragen werden. Die Evaluationsergebnisse zeigen, dass die Teilnehmenden genau diese Schulungselemente sehr geschätzt haben. Auch die Trainer/-innen nahmen die auf diese Weise ausgelösten Prozesse als sehr fruchtbar wahr: »Den Beteiligten wurde gerade in der Gruppenarbeit deutlich, ›Oh, das ist ja ganz schwierig, was ich mache, das habe ich schon gar nicht mehr gemerkt‹.

Wege der Veränderung: Trainings und Coachings83 Sie fragen sich ›Gehört das zu meinem Alltag?‹, ›Packe ich das jeden Tag weg?‹,   Puh, mir geht’s ja gar nicht so gut, wie ich immer dachte, was mache ich mir eigentlich vor?‹. Diese Fragen tauchten gerade in der Sensibilisierungsphase auf, das werden viele erlebt haben. Andere erzählen von ihrem Vorgesetzten, der immerzu in ihre Entscheidungen reingrätscht, das heißt, sie mit anderen Entscheidungen überrollt. Vielleicht gibt es Widerstand an dieser Stelle, aber auch Überlegungen, wie man damit umgehen sollte.«

Empfehlung: Reflecting-Teams etablieren Es ist auf Dozent/-innen-Seite ein (Zweier-)Team nötig, das sich ständig vergewissern sollte, wo man steht. Denn der Ablauf der Trainings und Coachings ist nicht planbar und sollte ad hoc den Bedürfnissen der Teilnehmenden angepasst werden können. Außerdem besteht immer die Gefahr, dass die Dozent/-innen zu einer »Zielscheibe« werden für aufgestauten Ärger, Frust und Aggressionen. (Nur) in einem Team kann man das abfangen, sich abwechseln, ergänzen, kurzzeitig in den Hintergrund treten, Luft holen. Die bisherigen Bewältigungsstrategien der Entscheider/-innen (»Die lügen doch alle«, »Mir kann keiner was vormachen«) werden durch die Trainings und Coachings infrage gestellt, vorherrschende Denkmuster, damit verbundene Emotionen und Verhaltensweisen herausgefordert. Dies kann für die Teilnehmenden unangenehm sein, ist aber zugleich notwendig, weil es ja genau darum geht: die Prüfung der Qualität eigener Arbeit und gegebenenfalls ihre Verbesserung. Dieser Prozess muss die Entscheider/-innen verunsichern, was in der Folge Widerstand und Abwehr auslösen kann, beispielsweise in Form von Kränkungen, Unsicherheiten, Wut oder Ärger.

Tag 1: »Ich in der Rolle als Anhörer/-in« – Umgang mit Belastungen und Stress Den Trainer/-innen war es ein besonderes Anliegen, die jeweils subjektiv erfahrenen Stressoren und Herausforderungen der Entscheider/-innen herauszuarbeiten. So konnten sie gleich zu Beginn sehr praxisnahe Schwerpunkte setzen und konkrete Beispielsituationen als Arbeitsmaterial erarbeiten. Um den Einstieg in die Thematik zu erleichtern, erhielten die Entscheider/-innen daher anstelle eines theoretischen Inputs zu Stress und Stressmanagement zunächst den Auftrag, sich in Kleingruppen über belastende Situationen ihrer Arbeit auszutauschen – mit Fokus darauf, wie diese Situationen auf sie gewirkt haben. Zentrale

84  Silvia Schriefers und Jenny Baron Fragen dabei lauteten: Wie gestresst oder belastet bin ich aktuell? Welches sind mögliche oder häufige Stressreaktionen und Auslöser in der Anhörungssituation? Über welche Ressourcen verfüge ich als Entscheider/-in, damit umzugehen? Danach kehrten die Teilnehmenden ins Plenum zurück und begannen, diese Situationen auszuführen. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, wie groß das Stresspotenzial dieser speziellen Tätigkeit ist: Es wurde unverblümt ausgesprochen und zwischen den Teilnehmenden lebhaft diskutiert. Dabei zeigte sich schnell und nachdrücklich, dass sich die Entscheider/-innen oft von ihren Aktenbergen erschlagen fühlten, sich der Beschleunigung ihrer Tätigkeit, dem Zeitdruck, der auf ihnen lastet, nicht immer gut gewachsen zu fühlen. Sie waren rasch bereit, sehr persönlich auch von schwierigen Situationen zu erzählen.

Voller Terminkalender: Anspannung, Herzrasen, Bluthochdruck So berichtete ein Entscheider, er bekäme bereits Bauchschmerzen, wenn er morgens zu Arbeitsbeginn seinen vollen Kalender samt allen anstehenden Anhörungen sähe. Er spüre diese Anspannung dann sehr stark körperlich, ihm rase das Herz, und der Blutdruck steige in die Höhe. Bei der bloßen Erzählung wurde er bereits sehr rot im Gesicht, verfiel in Hektik und stand ganz offensichtlich unter Stress. Die anderen Teilnehmenden griffen dies auf, versuchten ihn zu beruhigen (»Reg’ dich doch nicht so auf. Das kann doch nicht gut für dich sein«) und ihm Strategien an die Hand zu geben, mit denen sie selbst schwierige Anhörungssituationen in den Griff bekommen. Gemeinsam mit den Trainer/-innen entwickelte die Schulungsgruppe schließlich »hilfreiche Sätze«, das heißt positive und einprägsame Formulierungen (»Tief durchatmen«; »Du machst das, was du schaffst.«), die er in angespannten Situationen nutzen kann, um alternativen Gedanken Raum zu geben: –– Ursprünglicher Gedanke: »Dieser Aktenberg wird täglich größer.« –– Alternativer Gedanke: »Eins nach dem anderen.« Eine andere Entscheiderin begann daraufhin zu erzählen, dass auch sie schon früh morgens gestresst in den Tag starte. Sie sei auf eine Stelle versetzt worden, in der sie eigentlich gar nicht arbeiten wolle. Jetzt käme sie durch ihren langen Anfahrtsweg morgens schon abgekämpft im Büro an und abends durch den aufreibenden Berufsverkehr total erschöpft wieder nach Hause. Für diese Teilnehmerin konnte die Schulungsgruppe gemeinsam einen bemerkenswerten Perspektivenwechsel erarbeiten. Das

Wege der Veränderung: Trainings und Coachings85

Problem, häufiger den Arbeitsplatz wechseln zu müssen, schien auch Mitarbeitenden anderer Außenstellen vertraut zu sein: Der Wandel des Bundesamts als Organisation bedingt offenbar auch, dass Außenstellen geschlossen oder aber neu eröffnet bzw. umstrukturiert werden – für Mitarbeitende eine persönliche Herausforderung, der man aber auch kreativ begegnen kann. So empfand eine andere Entscheiderin, die ebenfalls jeden Tag sehr lange zur Arbeit unterwegs war, ihren Anfahrtsweg im Gegenteil als gut und wichtig: »Für mich ist das wertvolle Transferzeit. Ich kann mich im Auto aus dem Arbeitstag ausklinken, mich auf meine Freizeit, auf meine Familie vorbereiten. Ich höre dann meine Musik und komme runter von dem ganzen Stress.«

Zwischen Masse und Klasse Trotz des Wandels, der sich zum Beispiel in Form dieser Umstrukturierungen der Behörde vielerorts bereits abzeichnete, tauschten sich alle Schulungsgruppen auch immer wieder über die Folgen aus, die sie als Mitarbeitende aufgrund des Mangels an Personal zu spüren bekämen. Da Positionen in den Außenstellen zum Teil längere Zeit unbesetzt blieben bzw. auf hohe Krankenstände nicht immer zeitnah reagiert werden könne, sei das hohe Arbeitspensum oft auf zu wenige Mitarbeitende verteilt, und sie selbst bewegten sich dadurch immer wieder in einem Widerspruch zwischen qualitativen und quantitativen Anforderungen – zwischen »Masse« und »Klasse«, wie es einer der Teilnehmer auf den Punkt brachte. Entlastend wirkte hier vor allem die gemeinsame Erkenntnis, dass nicht sie selbst als Einzelne verantwortlich sind, diese Widersprüche durch noch effizientere Arbeit aufzulösen, sondern dass derlei Engpässe vor allem auch struktureller Lösungen bedürfen.

»Alles Lügner/-innen« Als idealtypische Stresssituation haben fast alle Schulungsgruppen auch die Konfrontation mit »Lügen« der Antragstellenden bearbeitet – eine Lage, in der die meisten Entscheider/-innen bereits Wege finden mussten, wie sie emotionale Reaktionen ihrerseits in geordnete Bahnen bringen können. So berichtete einer der Entscheider, er würde sich von vermeintlichen Lügen, zum Beispiel den Reiseweg von Antragstellenden betreffend, gar nicht mehr aus der Ruhe bringen lassen. Natürlich wisse auch er selbst sehr genau, dass viele Flüchtlinge im Grunde keine Chance haben, in Deutschland als solche anerkannt zu werden; dass viele Menschen

86  Silvia Schriefers und Jenny Baron nicht direkt aus dem Herkunftsland nach Deutschland gekommen sein können und ihr Asylbegehren nach der Dublin-Verordnung also theoretisch in einem der Länder an den EU-Außengrenzen stellen müssten. Aber er rege sich in solchen Situation nicht mehr auf, sondern hole sich in Erinnerung, »dass jeder seine Gründe hat, herzukommen. Dass sie aus einer Notsituation kommen und auch teilweise lügen ›müssen‹. Das ist nicht persönlich gegen mich gerichtet«. Ein anderer Entscheider pflichtete dem bei und fügte hinzu: »Du musst den Reiseweg ja auch nicht als Erstes abfragen, wenn du für die Gründe offen bleiben willst, die in der Geschichte des Antragstellers vielleicht asylrelevant werden könnten. Klar arbeiten wir mit unserem Fragenkatalog in einem eng begrenzten System – aber innerhalb dieses Systems gibt es ja Spielräume: Wir müssen die Fragen nicht in einer bestimmten Reihenfolge abfragen, wir können ja abwägen, ob wir zunächst einmal der Geschichte nachgehen, die der Antragsteller uns von sich aus erzählt.« Grundsätzlich konnte zwischen zwei verschiedenen Belastungsarten unterschieden werden: a) eher strukturellen und b) eher interaktionell bedingten Stressoren. Strukturelle Stressoren: »Meine Arbeit erschlägt mich« Eine Quelle von Stress und Belastung resultierte aus den strukturellen bzw. institutionellen Rahmenbedingungen der Arbeit: »Meine Arbeit erschlägt mich« –– Aktenberge: Arbeitsstau –– Der tägliche Spagat zwischen der Anhörung als kommunikativem und der Entscheidung als formalem Akt. –– Personalmangel, fehlende Stellen in Außenstellen bleiben unbesetzt: Zu viel Arbeit lastet auf zu wenigen Mitarbeitenden. –– Nicht genügend Ressourcen zur Sachstanderhebung, nicht funktionierende Hilfsmittel (PC-Programm, Diktiergerät etc.), unzulängliche Ausstattung mit EDV-Systemen.

Schwache Anerkennungskultur und begrenzte Entwicklungs­ möglichkeiten –– Keine Anerkennung der eigenen Leistung und der zum Teil jahrelangen Erfahrung, geringe erlebte Wertschätzung durch Vorgesetzte. –– Kaum Fortbildungen. Hierarchische Organisations­ prinzipien –– Weisungsgebundenheit. –– Probleme mit Führungsstrategien und dem Verhalten von Vorgesetzten. –– Wahrnehmung autoritärer Führungsstile.

Wege der Veränderung: Trainings und Coachings87

»Ich hetze meiner Arbeit nur noch hinterher« –– Arbeitsdruck und Beschleunigung der Arbeit: hohe Arbeitsintensität. –– Häufiger Arbeitsplatzwechsel durch behördliche Umstrukturierungen, zum Beispiel durch die Schließung von Außenstellen.

–– Veränderungsvorschläge werden nicht von der Zentrale zur Kenntnis genommen und genutzt. –– Druck des Bundesministeriums des Innern. –– Widersprüche zwischen der Außendarstellung der Behörde und der realen Arbeitssituation der Entscheider/-innen.

»Masse statt Klasse« –– Widerspruch zwischen qualitativen und quantitativen Anforderungen. –– Häufige Umstrukturierungen, die neue Regeln mit sich bringen, aber den Verwaltungsaufwand eher erhöhen, zum Beispiel häufig wechselnde Priorisierungen und »Sonderaktionen« bzw. »Schnellverfahren« für die Bearbeitung bestimmter Herkunftsländer oder Bevölkerungsgruppen. Dies betrifft immer wieder zum Beispiel Länder, die als vermeintlich »sichere« Herkunftsländer angesehen werden, wie aktuell Serbien und Mazedonien.

»Kein Land in Sicht« –– Das Veränderungspotenzial der Behörde wird als gering erlebt: Das überfordert, lässt resignieren, führt zu Frust und kalter Wut.

Inhaltliche und interaktionelle Stressoren: »Alles Lügner/-innen« Die zweite Quelle von Belastung resultierte aus den Besonderheiten der Anhörungssituation bzw. der besonderen Situation von Flüchtlingen als Gegenüber der Entscheider/-innen: »Ich kann es nicht mehr hören …« –– Lügen und immer gleiche Geschichten. –– Geschauspielerte Stresssymptomatiken, die erst wütend machen, im Nachhinein jedoch oft ein schlechtes Gewissen erzeugen.

Krisen und andere Turbulenzen –– »Durchdrehende« Antragsstellende. –– Schwierige Anhörungssituation mit unruhigen, lauten oder verängstigten Kindern.

88  Silvia Schriefers und Jenny Baron »Ich weiß nicht« als wiederkeh­ rende Antwort –– Wortkargheit, Konzentrationsund Erinnerungsschwierigkeiten bei Antragsstellenden. –– Angst vor Fehlentscheidungen und Entscheidungsdruck bei unklarer Sachlage. Aggression –– Aggressionen aufseiten Geflüchteter und eigene Aggressionen. –– Latentes Bedrohungsgefühl durch die Antragstellenden.

–– Unvorhergesehene Ereignisse und Krisen der Antragstellenden, zum Beispiel Suiziddrohungen. –– Emotionale Reaktion der Antragstellenden bei Konfrontation mit Widersprüchen in der Aussage. –– Kommunikationsschwierigkeiten, Missverständnisse und schlechte Dolmetschende. –– Schwierigkeiten in der Kooperation mit anderen Institutionen, Rechtsanwält/-innen und Psycholog/-innen.

Insgesamt stellten die Teilnehmenden fest, dass es für sie nur wenig institutionell eingeplante Möglichkeiten gibt, belastende Situationen in der Anhörung zu reflektieren, mit Kolleg/-innen zu besprechen und sich auszutauschen. Sie würden oft schon einen Mitarbeitendenraum oder ganz schlichte Settings des Austauschs wie zum Beispiel Teamsitzungen hilfreich finden, um zwischen den Anhörungen Luft zu holen und neue Perspektiven ausloten zu können. Aufgrund des hohen Zeitdrucks bei den Anhörungen – teilweise sind die Entscheider/-innen mit bis zu fünf Anhörungen täglich konfrontiert – können krisenhafte Situationen allerdings meist nicht direkt evaluiert werden. Zuletzt haben das viele Entscheider/-innen im Zusammenhang mit den vielen Anhörungen von Flüchtlingen aus dem Iran zu spüren bekommen: Hier berichteten die Antragstellenden meist über massive Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen und waren psychisch häufig schwer belastet. Trotzdem konnten nachfolgende Anhörungen nicht für eine kurze Auswertung verschoben werden, sodass sie oft viele konfliktbeladene Gespräche hintereinander führen, ohne schwierige Emotionen aktiv bearbeiten zu können. Die Arbeitsplatzbedingungen seien insgesamt noch wenig darauf ausgerichtet, die Atmosphäre, in der eine solch anspruchsvolle Arbeitsaufgabe erfüllt werden muss, angenehmer zu gestalten.

Aha-Erlebnisse in der Gruppe: Normalisierung des Leidens Als umso produktiver empfanden die Teilnehmenden es nun, feststellen zu können, dass nicht sie allein belastet und gestresst sind. Damit wurde

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der Gefahr entgegengewirkt, dass Belastungsquellen personalisiert werden. Nicht sie selbst sind es, die nicht stabil oder nicht kompetent genug sind – vielmehr teilen sie die Belastungen mit anderen, die in ähnlichem Kontext wirken. Eine der Trainerinnen brachte diesen Prozess wie folgt auf den Punkt: »Also man kann sagen, ein vorgetragenes Problem findet in jeder Gruppe mindestens eine Person, die ein ähnliches Problem hat und deshalb die andere Person gut verstehen kann. Wenn man sich in seiner Arbeit belastet fühlt oder über den Chef ärgert, kann man davon ausgehen, dass man sich von einigen Gruppenmitgliedern verstanden fühlt. Die Gruppe und ihre Dynamik ist ein sehr gutes Vehikel, um etwas voranzubringen.«

Das heißt: Weil die Entscheider/-innen gemeinsam darüber reden konnten, dass viele Schwierigkeiten aus den Bedingungen ihrer Arbeit resultierten, wurde Zuschreibungen der Pathologisierung – durch die eigene Person, die unzufrieden mit der eigenen Leistung ist, oder aber auch von außen – entgegengewirkt. In den Trainingsgruppen fanden also Entlastungsprozesse über eine »Normalisierung« bzw. »Universalisierung des Leidens« statt, um es mit den Worten des berühmten Psychotherapeuten und Belletristen Irving D. Yalom auszudrücken. Ähnlich wie Yalom es in seinem bekanntesten Roman »Und Nietzsche weinte« im Dialog des Philosophen Friedrich Nietzsche mit dem Wiener Arzt Dr. Josef Breuer darstellt, kommt es dabei in der Gruppe immer wieder zu einer Wandlung der Rollen – der um Hilfe Fragenden und der Unterstützung Bietenden. So wie die beiden im Laufe ihrer Begegnung ihre Arzt-Patient-Rollen tauschen, beginnen Gruppenmitglieder, die eigentlich in die Berater/-innen-Rolle geschlüpft sind, sich auch selbst zu fragen: »Lebe und arbeite ich eigentlich so, wie ich es immer wollte?«, »Würde ich Dinge anders machen, wenn ich die Chance hätte?«. Auf diese Weise riefen die Gruppendiskussionen bei den Einzelnen beeindruckende »Aha-Erlebnisse« hervor: Der Austausch unterschiedlicher Bewertungen zum Beispiel des Anfahrtswegs zur Arbeit (aufreibend oder aber als Transferzeit zwischen Arbeit und Freizeit) oder die Diskussion über die unterschiedlichen Perspektiven auf die Anhörungssituation (durch die Augen der Flüchtlinge oder aber eng angelehnt an einen formalisierten Fragenkatalog) führten zu einer Loslösung der Entscheider/-innen aus dem unmittelbar Erlebten – mitsamt seiner zum Teil eingefahrenen Denkweisen und Gefühlen. Es wurde dadurch der Raum geschaffen, eine andere, »vollständigere« Perspektive einzunehmen, die Situation neu zu bewerten und neue Handlungsmöglichkeiten für sich zu finden.

90  Silvia Schriefers und Jenny Baron Empfehlung: Gruppenarbeit als Königsweg Gruppenarbeit ist der Königsweg im Umgang mit typischen Belastungen und Krisensituationen am Arbeitsplatz. Nur in der Gruppe ist es möglich, die Erfahrung zu machen, dass es übergreifende Stressauslöser gibt, unter denen auch andere Kolleg/-innen leiden. Der Austausch und die Diskussion mit vielen anderen »Expert/-innen des Arbeitsplatzes« ermöglicht es, konkrete und arbeitsnahe alternative Umgangsweisen zu entwickeln, Solidarität und ein Miteinander zu erleben bzw. sich dieses zu suchen – als Grundlage für eine veränderte Arbeitsplatzsituation.

Ressourcen (wieder-)entdecken: »Die Welt zu Gast an ihrem Schreibtisch« Dennoch trat die Anspannung, stellenweise auch die Bitterkeit – vor allem auch der älteren Teilnehmenden – immer wieder deutlich hervor. Sie wurde spürbar als Diskrepanz zwischen den Selbstansprüchen der Entscheider/-innen und den erlebten Ansprüchen ihres Arbeitgebers. Um sie nicht in diesem schwierigen Balanceakt zu belassen, versuchten die Trainer/-innen zunächst, den Blick der Teilnehmenden wieder zu öffnen für ihr ursprüngliches Interesse und ihre ganz persönlichen Gründe, die sie vor zum Teil langer Zeit dazu bewegt haben, in genau diesem Bereich zu arbeiten. Es ging also darum, einen Schritt zurückzugehen und sich den eigenen Arbeitsplatz noch einmal aus einer anderen Perspektive anzusehen: Die Trainer/-innen riefen ihre Schulungsgruppen dazu auf, eine Werbekampagne für den Entscheider/-innen-Beruf zu gestalten. Die Teilnehmenden lösten diese Aufgabe äußerst originell und entwarfen sehr kreative (»Die Welt zu Gast an ihrem Schreibtisch«), lebensnahe (»Gut bezahlt, sicherer Job«) und humorvolle (»Die nehmen jeden, mich haben sie auch genommen«) Kampagnentitel. Die Übung hatte enorme stimmungsaufhellende Effekte. Empfehlung: Ressourcen aktivieren In konflikthaften oder sehr belastenden Situationen kann es sinnvoll sein, zunächst einen Schritt zurückzutreten und die beteiligten Akteur/-innen in ihren Ressourcen zu stärken. Im Anschluss gelingt es oft besser, aus einer anderen, neuen Perspektive auf die Situation zu blicken. An dieser Stelle könnten gegebenenfalls auch noch weitere ressourcenaktivierende Übungen durchgeführt werden. So könnte beispielsweise in Zweiergruppen eine Reflexion zu Fragen wie diesen angestoßen werden:

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Wenn ich nicht Einzelentscheider/-in geworden wäre, dann wäre ich heute … Was ich schon immer tun wollte und nie geschafft habe … Woher kommt meine Energie? Wohin geht sie? Spielraum gewinnen: Stressbewältigungstraining Gestärkt durch diese ressourcenorientierte Übung gingen die Entscheider/-innen in der zweiten Tageshälfte des Trainingsmoduls direkt ins aktive Stressbewältigungstraining. Nach einem kurzen theoretischen Input zum Konzept »Stress« (Wie entsteht Stress? Wie äußert er sich: körperlich, emotional, kognitiv, verhaltensbezogen? Was sind Folgen von Stress?) erarbeiteten die Teilnehmenden in einer Kleingruppenübung, welche der verschiedenen Reaktionstypen sie selbst von sich kennen und wie hilfreich sie diese Bewältigungsstrategien für ihren Arbeitskontext empfinden: »Bin ich eher sozialorientiert und suche nach Unterstützung oder bitte um Hilfe?« »Bin ich eher problemorientiert und versuche das Problem zu lösen bzw. die Bedingungen zu verändern?« »Habe ich eher emotionsorientierte Strategien und versuche, meine Stressreaktion zu regulieren zum Beispiel durch Entspannung und ›in Ruhe darüber nachdenken‹?« »Benutze ich eher bewertungsorientierte Strategien und versuche die Situation umzudenken, also eine Belastung zum Beispiel als Herausforderung zu sehen?« »Bin ich eher vermeidend und versuche die Belastungen aus meinem Erleben rauszuhalten, nach dem Motto ›Es wird sich schon regeln‹, ›Ich habe letztlich nicht zu entscheiden, es gibt Regeln‹?« »Reagiere ich eher verärgert, misstrauisch oder frustriert, wenn die Belastungen zunehmen?«

Als schließlich die verschiedenen Strategien in der Großgruppe zusammengetragen wurden, sammelten alle Teilnehmenden sehr lebendig weitere Lösungsmöglichkeiten. Jede Idee wurde interessiert aufgegriffen und mit den jeweils eigenen Erfahrungen verglichen. So erhielten alle Entscheider/-innen Einblick in ein beträchtliches Spektrum an Bewältigungsmöglichkeiten. Einer der Entscheider hatte zum Beispiel bereits einen Weg gefunden, entlastende Gespräche mit Kolleg/-innen zu »institutionalisieren«: Ohne dass es dafür einen offiziellen Rahmen gibt, hätte sein Team es geschafft, sich – fast im Sinne einer »Intervisionsrunde« – mindestens einmal in der Woche zum Kaffee zu treffen und in Ruhe zu besprechen, wo jeder und jedem gerade der Schuh drückt.

92  Silvia Schriefers und Jenny Baron Bei vielen anderen Teilnehmenden wurde sehr deutlich, wie viel Kraft sie aus Freundschaften und familiären Ressourcen, aus Hobbies und sportlicher Aktivität ziehen konnten, um beruflichen Belastungen zu trotzen. Wiederum andere Teilnehmende meisterten Schwierigkeiten über Distanzierungstechniken: Sie riefen sich in Erinnerung, dass es ihnen am besten damit geht, wenn sie problemorientiert arbeiten – sich Grenzen setzten, sich sortierten und Strukturen dafür schafften, dass Sachverhalte rational geklärt werden. Damit sie »verstehen statt mit-leiden« können. Auch verschiedene Formen von »Abschottungs«-Ritualen (Tür zu, Akten wegräumen, …) empfanden die Entscheider/-innen hier als sehr entlastend. In den Moment zurückfinden: die STOP-Methode Einigen Teilnehmenden waren Entspannungstechniken bereits vertraut. Daran knüpften die Trainer/-innen an und gaben ihren Schulungsgruppen zusätzlich eine Achtsamkeitsübung mit auf den Weg. Mithilfe der STOPMethode beschrieben sie, wie man sich auch in Stresssituationen Momente des Innehaltens schaffen, aus eingefahrenem Verhalten aussteigen und wieder im konkreten Moment ankommen kann. STOP als Akronym steht für Stop, Take a breath, Observe, Proceed – auf Deutsch: Stopp, Durchatmen, Beobachten, Weitermachen. Ziel ist es, sich bewusst zu werden: –– »Wie atme ich gerade?« –– »Was tue ich gerade?« –– »Welche Gedanken gehen mir durch den Kopf?« –– »Wie fühlt sich mein Körper an?« –– »Welche Gefühle empfinde ich im Moment?« Achtsamkeitsübungen wie diese können in stressigen Momenten etwas Kontrolle über die Situation zurückgeben. Sie ermöglichen es, automatisierte Bewertungen zu bremsen bzw. frühzeitig wahrzunehmen, wenn sich katastrophisierende Gedanken oder Ängste anbahnen. So kann zum Beispiel auch verhindert werden, dass wir im Stress unangemessen oder unfair auf andere reagieren, weil wir vielleicht nicht mehr mitbekommen, was er oder sie eigentlich mitteilen wollte. Einer der Entscheider empfand im Nachhinein genau dieses Schärfen des Bewusstseins für das Hier und Jetzt als besonders hilfreich für seinen Alltag: »Also diese bewusste Auseinandersetzung damit, was einen im Arbeitsalltag belastet, was einen vielleicht unter Stress setzt und wie man damit umgehen sollte. Also solche Sachen nimmt man schon mit. Sich damit an der einen oder anderen Stelle vielleicht bewusster damit auseinanderzusetzen.«

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Kommunikationsmuster verändern In der Diskussion konkreter belastender Situationen in der Anhörung wurde allerdings auch deutlich, dass in schwierigen Konstellationen sowohl typische Themen als auch die ambivalente Interaktion zwischen den Akteur/-innen – Flüchtlingen, Dolmetschenden oder auch Rechtsanwält/-innen – zu komplex sind, als dass sie allein mit Stressbewältigungsstrategien bearbeitet werden könnten. Der Fokus wurde daher erweitert von dem, was die Situation mit den Anhörenden selbst macht, auf die Dynamik der Gesprächssituation »Anhörung« als Ganzes. Auch methodisch wurden die Trainings daher über die Stressbewältigungstrainings hinaus ergänzt durch Input und Übung zu Gesprächsführung und Kommunikation. Zum Einstieg wurden die Entscheider/-innen gebeten, eine belastende Situation in der Anhörung im Rollenspiel nachzustellen. Als Beispielsituation bearbeitete hier eine Entscheiderin die schwierige Anhörungsdynamik, die sich durch einen bestimmten Typ von Rechtsanwält/-innen, die Flüchtlinge in der Anhörung begleiten, entwickeln kann. Einige Rechtsanwält/-innen träten immer wieder sehr dominant bis aggressiv auf und würden das gesamte Gespräch nicht nur beherrschen, sondern auch destruktiv beeinflussen. Im Rollenspiel erkannte die Entscheiderin, dass diese Art des Auftretens sie emotional sehr aufwühle und sie stark verunsichert darauf reagiere. So entschuldige sie sich immer wieder, rede leise, mache sich klein und verliere ihre eigene Struktur. In der Auswertung erhielt sie von den anderen Teilnehmenden Hilfestellungen und Empfehlungen, wie sie alternativ mit ihrem Gegenüber umgehen könne: lauter sprechen, klar und strukturiert auftreten, sich aufrichten und »größer machen«. Daran anknüpfend bat die Trainerin sie, sich auf einen Stuhl zu stellen, um sich auch physisch größer zu machen, die Anwält/-innen aus einer anderen Perspektive zu betrachten und mithilfe der zuvor erhaltenen Tipps eine andere Kommunikationsform auszuprobieren. Angemerkt sei hier, dass es bei diesem Rollenspiel nicht darum ging, Macht auszuüben und nun selbst die dominante Rolle zu erhalten. Vielmehr sollten Kommunikationstechniken geübt werden, die einem helfen, aus der Verunsicherung herauszutreten, die die eigene Arbeit behindert. Also eine Position zu verlassen, die es nicht mehr möglich macht, sich auf den Flüchtling mit seinem oder ihrem Asylbegehren zu konzentrieren und diese zu ermutigen, ihre Fluchtgründe umfassend darzustellen, sondern die sich stattdessen auf den Kampf mit dem Rechtsanwalt oder der Rechtsanwältin konzentriert und in der Folge möglicherweise mit unbeabsichtigten negativen Konsequenzen für die Asylantragstellenden verbunden ist.

94  Silvia Schriefers und Jenny Baron Kommunikationstypen nach Virginia Satir Das Rollenspiel und die Wirkung der veränderten Kommunikation waren für die Einzelentscheider/-innen sehr eindrücklich und praxisnah. Auf dieser Grundlage stellten die Trainer/-innen ihrer Schulungsgruppe verschiedene Kommunikationsmuster vor, die man unter Druck häufig automatisiert einnimmt – obwohl sie für den Umgang mit dem aktuellen Gegenüber vielleicht nicht unbedingt funktional sind. Dabei bezogen sie sich auf die von Virginia Satir formulierten Kommunikationsstile: die Ankläger/-innen, die Versöhnlichen, die Rationalisierer/-innen und die Ablenker/-innen: Die Ankläger/-innen (»Du machst nie was richtig«): Typische Worte: nicht zustimmend, fordernd, diktatorisch, überlegen, beschuldigend, ablehnend, unterbrechend, »Du machst nie was richtig!« Körper und Haltung: aufrecht – »Ich bin der Boss hier!« Selbsterleben: Im Vordergrund steht der Wunsch, sich und seine Meinung anerkannt zu bekommen. Je mehr Ärger, desto mehr Verlangen. Ständiges Warten darauf, angegriffen zu werden und zu unterliegen: »Ich werde nicht gehört und muss mich deshalb durchsetzen.« In der Kindheit gelernt: »Sei kein Feigling!« Die Versöhnlichen (»Schon in Ordnung – entscheide du einfach«): Typische Worte: zustimmend: »Was immer du willst, ist schon in Ordnung, entscheide du.« »Ich möchte nur, dass du zufrieden bist.« Stimme: leise, weinerlich, vorsichtig, gedrückt. Auftreten: eher vorsichtig und leise bis zaghaft, rücksichtsvoll, sich selbst zurücknehmend. Gefühlslage: »Ich bin nicht wichtig, ich brauche Unterstützung.« In der Kindheit gelernt: »Es ist egoistisch, wenn man für sich selbst sorgt!«

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Die Rationalisier/-innen (»Ich bin cool und gefasst«): Typische Worte: intellektualisierend, rationalisierend, vernünftig, begründend, rechtfertigend, es geht um die Unterscheidung von richtig und falsch. Stimme: monoton: »Ich bin cool und gefasst.« Körpersprache: unbewegt, gespannt. Selbsterleben: Angst vor Erregung und Gefühlen, damit verbunden große Angst vor Verlust von Kontrolle und Ausgeliefertsein. In der Kindheit gelernt: »Du bist schon so erwachsen und verantwortungsbewusst.« Die Ablenker/-innen (»Interessiert Euch für mich!«): Typische Worte: irrelevant, Clownereien, ausweichend, häufiger Themenwechsel, Vermeidung von Konkretem, irritierend, Worten keinen Sinn geben. Körpersprache: eckig, in verschiedene Richtungen weisend, fahrig oder abwesend. Selbsterleben: Sehnsucht nach Kontakten und gleichzeitig große Angst davor, Erleben von Einsamkeit und Sinnlosigkeit. »Keiner interessiert sich wirklich für mich.« In der Kindheit gelernt: »Sei nicht so ernst, das Leben ist doch schön, mach dir keine Sorgen!« Viele Entscheider/-innen waren verblüfft darüber, wie ähnlich sie sich den vorgestellten Typen in den eigenen Prägungen und Verhaltensweisen fühlten. Oder aber sie fanden typische Reaktionen wieder, mit denen sie sich zum Beispiel bei Kolleg/-innen und Vorgesetzten, aber auch bei Flüchtlingen und deren Unterstützer/-innen überfordert fühlten. In einem weiteren Rollenspiel wurden dann in einer typischen Stresssituation – ein aggressiver Antragsteller oder eine aggressive Antragsstellerin als Gegenüber – die verschiedenen Kommunikationstypen simuliert: Einer der Entscheider beschrieb, dass aggressiv auftretende Flüchtlinge ihn immer sehr wütend machten und er normalerweise versuche, mit aller Härte gegen diese Personen vorzugehen. Auch für ihn nicht in jedem Fall mit zufriedenstellendem Ergebnis. Im Rollenspiel schlüpfte

96  Silvia Schriefers und Jenny Baron er dann selbst in die Rolle des aggressiven Flüchtlings. Auf der Entscheiderseite wurde ihm zunächst seine eigene, harte Reaktion, in einem zweiten Durchgang aber – besetzt durch eine der Dozent/-innen – eine besänftigend-versöhnliche Kommunikation als Gegenstrategie gegenübergestellt. Der Entscheider – in der Rolle des aggressiven Flüchtlings – konnte auf diese Weise sehr schnell beruhigt werden. Die durch die alternative Lösung veränderte Situation erlebte er dabei nicht nur intellektuell, er spürte auch die emotionale Wirkung der versöhnlich-besänftigenden Gesprächsform: »Ich fühle mich, als würde ich gegen einen Wattebausch rennen. Ich habe dem nichts mehr entgegenzusetzen. Die Luft ist raus.« Er erkannte die Grenzen seiner bisherigen Strategie und entwickelte Alternativen, die zu einer Entlastung aller an dieser Situation Beteiligten führte. Empfehlung: Kommunikationsstrategien üben Es bedarf seitens der Einzelentscheider/-innen Wissen und Übung zu Techniken und Formen der Gesprächsführung. Nur so ist gewährleistet, dass es zu einer wirklichen Einzelfallprüfung hinsichtlich der dargestellten Flucht- bzw. Asylgründe kommt, das heißt, dass Flüchtlinge ermutigt werden und den Raum erhalten, ihre Geschichte zu erzählen. Generell bietet es sich an, typische schwierige Gesprächskonstellationen in Kleingruppen mit jeweils unterschiedlichen Rollen- und Kommunikationsstrategien sowie im Anschluss mit entsprechenden Gegenstrategien durchspielen zu lassen. Die Teilnehmenden sollten wechselnd in verschiedene Kommunikationstypen schlüpfen und sich im Nachgang darüber austauschen, welche Rolle ihnen am unangenehmsten, welche vielleicht eher leicht einzunehmen war, wie sie die Wirkung auf ihr Gegenüber einschätzen und wie die anderen in ihren Rollen wirkten. Auf diese Weise können gemeinsam eingefahrene Rollenzuordnungen hinterfragt und verzerrte oder generalisierte Wahrnehmungen in der Gruppe erweitert werden.

Tag 2: »Try walking in my shoes …« – Krisenmanagement in der Arbeit mit Flüchtlingen Am ersten Schulungstag ging es vor allem darum, gemeinsam einen anderen Umgang mit Stressoren und Belastungen zu erlernen, die für die Entscheider/-innen selbst mit ihrer Arbeit für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und speziell mit der spannungsgeladenen

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Situation der Asylanhörung verbunden sind. Um die Anhörungssituation vollständiger wahrnehmen und verstehen und sich dann auch entsprechend verhalten zu können, ist es aber zugleich wichtig, Wissen sowie ein Gespür für die Situation des Gegenübers zu erhalten. Eine Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung des Bundesamts formuliert dies hier exemplarisch als eine Haltung, die sie neuen Entscheider/-innen mit auf den Weg gibt: »Wir, unsere Generation, wir haben nichts von dem mitbekommen. Wir hatten weder Krieg, noch hatten wir jemals Hunger, wir hatten immer ein Dach über dem Kopf, wir hatten immer eine Schulausbildung, wir konnten immer frei wählen. Wir haben also keinen von den Gründen – und wenn es die wirtschaftliche Not ist – je am eigenen Leibe erlebt. So dass ich grundsätzlich denke, es gebührt den Leuten erst mal der Respekt. Egal, ob das nun unter politische Verfolgung zu subsumieren ist oder nicht. Aber, es verlässt niemand in der Regel ohne guten Grund sein Heimatland.« (Gahn, 1999, S. 124)

Am zweiten Trainingstag sollte sich die Fortbildung nun entsprechend stärker darauf konzentrieren, neue Sichtweisen auf Flüchtlinge als Gegenüber des Entscheiders oder der Entscheiderin zu finden, »Krisen« bzw. »mögliche Krisenzustände bei Flüchtlingen« anders wahrzunehmen und Maßnahmen der »Psychologischen Ersten Hilfe« einzuüben. Zunächst schafften die Trainer/-innen hier einen auch für die Entscheider/-innen lebensnahen Zugang zu Krisensituationen, wie sie prinzipiell jedem von ihnen im Laufe ihres Lebens begegnen können: Sie veranschaulichten in einem kurzen theoretischen Input, wie die menschliche Psyche auf potenziell krisenhafte Veränderungen der Lebensumstände – zum Beispiel in kritischen Entwicklungsphasen wie der Pubertät, einer Schwangerschaft, einer Heirat oder aber einer Trennungssituation – reagieren kann. Dabei stellten sie die typischen Verlaufsformen einer Krise dar – vom Schock über die Verdrängung und die Reaktion bis hin zur Phase der Bewältigung und Integration des Ereignisses – und trugen gemeinsam mit den Teilnehmenden sowohl positive Auswirkungen (»Krisen als Chance zur Veränderung«) als auch einschneidende negative Folgen von Lebenskrisen zusammen.

Traumatische Krisen: normale Reaktion auf abnormale Ereignisse Diese Form krisenhafter Veränderung kontrastierten die Trainer/-innen im Anschluss mit Krisensituationen, die Menschen durch plötzliche, unvorhersehbare Schicksalsschläge widerfahren können: durch

98  Silvia Schriefers und Jenny Baron Todesfälle, Krankheit oder äußere Katastrophen – Naturkatastrophen oder aber in extremster Form durch von Menschen verursachte Gewalt, durch Kriege, Folter oder Vergewaltigung. Sie erklärten, weshalb Erlebnisse wie diese als Auslöser für traumatische Krisen wirken und weshalb sie unsere Psyche in anderer, weitreichenderer Form verletzen und verletzlich machen können. Betont wurde an dieser Stelle, dass diese Form der Krise aus einem unvorhergesehenen Ereignis resultiert, das einen »gesunden« Menschen trifft: In der Intensität der Bedrohung übersteigt das Ereignis allerdings die Bewältigungsmöglichkeiten der Person – und würde dies bei fast jeder anderen Person ebenso tun. Eine psychische Krise – die sich zum Beispiel in Traumafolgestörungen äußern kann – muss also als »normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis« verstanden werden. Dieser Teil zielte weniger darauf ab, fachlich-diagnostisches Wissen zu vermitteln, als vielmehr den Entscheider/-innen einen Eindruck davon zu vermitteln, mit welch massiven Belastungen sie aufseiten der Antragstellenden in der Anhörungssituation konfrontiert sind. Das Wissen um Krisenzustände und deren mögliche Erscheinungsformen – die unter anderem auch aggressives oder unangemessenes Verhalten, ebenso wie Wahn- oder Verfolgungsideen und Zustände der Verwirrtheit umfassen können – sollte ihnen ermöglichen, einen emphatischen Blick auf die Situation und die Verfasstheit ihres Gegenübers einzunehmen, sich kognitiv aber zugleich zu distanzieren, um in einen professionellen Umgang mit schwierigen Zuständen oder Situationen zu gelangen.

Die Anhörung als krisenhafte Situation Wie Bewältigungsstrategien aussehen können, die einen solchen Umgang ermöglichen, wurde schließlich beispielhaft an einer typischen Krisensituation – einem angespannt-aggressiven Flüchtling als Gegenüber – erarbeitet: Aus der Praxis: Umgang mit akuten Erregungszuständen (nach Stix, 2011) Der akute Erregungszustand ist an folgenden Merkmalen erkennbar: –– Motorische Unruhe (Umherlaufen, Treten, Um-sich-Schlagen) –– Verbale Aggression (Rededrang, Tobsucht, Schreien) –– Wahrnehmungsstörung (Verwirrtheit, Euphorie) –– Angst –– Anspannung –– Starre Haltung –– Vegetative Begleitsymptome (Zittern, Schwitzen, Erbrechen)

Wege der Veränderung: Trainings und Coachings99 Zu den möglichen Maßnahmen im Umgang mit Menschen im akuten Erregungszustand gehören unter anderem: 1. Abstand halten – physisch und psychisch 2. Wenn möglich andere Professionelle beiziehen 3. Keine Gewalt akzeptieren 4. Selbst niemals Gewalt anwenden – weder physisch noch psychisch 5. Besonnen, ruhig und respektvoll auftreten, Personen nicht abwerten 6. Zuhören und ernst nehmen, geduldig Kontakt aufnehmen 7. Notwendige Maßnahmen ruhig und sachlich erklären 8. Klare Anweisungen geben, Alternativen anbieten 9. »Deeskalation« durch Gesprächstechniken

Das Beispiel löste bei den Teilnehmenden kontroverse Diskussionen aus: Die Entscheider/-innen empfanden diese Strategien zum Umgang mit Krisensituationen nicht etwa als hilfreich für ihre tägliche Praxis. Sie verspürten im Gegenteil, dass man sie hier nun anregen wolle, »noch mehr zu machen«. Angesichts ihrer ohnehin überlastenden Arbeitssituation rief dies starke Reaktionen der Überforderung und der Abwehr hervor. In diesem Zusammenhang war es wichtig, die (Anforderungs-)Situation und die Kapazitäten der Entscheider/-innen ernst zu nehmen, aufzugreifen und gemeinsam zu einer Reflexion darüber zu kommen, welche Maßnahmen in der konkreten Situation notwendig, aber auch annehmbar – das heißt unter den konkreten Bedingungen durchführbar – sind. Dabei zeigte sich, dass in vielen Außenstellen des Bundesamts keinerlei Notfallpläne existierten. Viele Entscheider/-innen hätten kein Telefon im Zimmer und damit keine Möglichkeit, Unterstützung anzufordern, sei es in Form von Kolleg/-innen, des Wachschutzes oder auch eines Krankenwagens. Ein Entscheider berichtete hier zum Beispiel von einer Situation mit einem Flüchtling, der in der Anhörung eine psychische Krise hatte und mitten in der Befragung plötzlich voller Angst unter den Schreibtisch flüchtete. Der Entscheider war sehr verunsichert darüber, was er in dieser Situation tun konnte (und durfte) und was er besser unterlassen sollte. Er lief daraufhin aus dem Zimmer, um einen Kollegen zur Hilfe zu holen. Der Dolmetscher blieb währenddessen mit dem verängstigten Flüchtling allein. Dieses Vorgehen ist nicht grundsätzlich zu kritisieren, das Handeln des Entscheiders stellte für diese Situation sicher die bestmögliche Lösung dar. Was jedoch zu problematisieren ist und zum Gegenstand des nachfolgenden Austausches wurde, war, dass es generell keine Konzepte bzw. Empfehlungen für den Umgang mit derartigen Vorfällen gibt. Hier fehlte aufseiten der Entscheider/-innen Wissen und Übung zum Verhalten in Notfallsituationen:

100  Silvia Schriefers und Jenny Baron »Was tue ich, wenn ein Flüchtling in einen Krisenzustand gerät?« »Mit welchen Maßnahmen kann ich die Situation wieder ›beruhigen‹?« »Welche Gesprächstechniken sind geeignet?« »Wann muss ich unbedingt Hilfe holen?« »Wie ist diese Hilfesuche organisiert?« »Wer ist verfügbar?« »Welches sind relevante Notrufnummern, die sofort verfügbar sein müssen?« »Wo ist das nächste Telefon?« »Wie verfahre ich mit weiteren anwesenden Personen: dem Dolmetscher bzw. der Dolmetscherin, dem Rechtsanwalt bzw. der Rechtsanwältin?«

Diese Fragestellungen wurden gemeinsam mit den Einzelentscheider/ -innen bearbeitet, und es wurden teilweise entsprechende Notfallpläne entwickelt. Empfehlung: Notfallpläne machen Es bedarf konkreter Krisen-Notfallpläne in jeder Einrichtung bzw. in jedem Büro. Idealerweise bekommen alle Mitarbeitenden außerdem den Raum und die Zeit, ein Verhaltensrepertoire einzuüben, das sie in der Ausführung dieser Pläne im Notfall unterstützt.

»Echte« und »vorgetäuschte« Krisen Auch im Zusammenhang mit Suizidandrohungen verzweifelter oder aber vermeintlich »verzweifelter« Flüchtlinge zeichneten sich für die Entscheider/-innen markante Konfliktlinien ab. Einerseits würden ihnen Suizidandrohungen im Falle einer Ablehnung des Asylbegehrens offenbar recht häufig vorgetragen – das ließe sie misstrauisch werden und den Betroffenen zunächst einmal nur eingeschränkt Glauben schenken: »Das sagt doch jeder«, oder, »Wenn jemand schon wieder sagt, er will sich umbringen, dann mach’ ich einfach das Fenster auf und sag’ ›spring doch‹«. Andererseits sind die Entscheider/-innen einem hohen Druck ausgesetzt, Situationen wie diese einzuschätzen, einen verantwortungsvollen Umgang mit den Betroffenen zu finden und ein mögliches Unglück abzuwenden. Im Ernstfall sind sie in der Pflicht, entsprechende Maßnahmen zu treffen. Hier gab es bei einigen Entscheider/-innen auch aufrichtige Besorgnis und den Wunsch, zwischen ernsthaften Androhungen und vermeintlich harmlosen Sprüchen unterscheiden zu können. Ebenso bestand Informationsbedarf dazu, wie mit suizidgefährdeten Flüchtlingen umzugehen ist und wohin diese Personen vermittelt werden können: »Ich höre das jede Woche mehrmals, dass jemand sagt ›Wenn ich abgeschoben werde, dann bringe ich mich um‹. Wie kann ich damit

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sorgsam umgehen?« Viele Entscheider/-innen wussten hier von tatsächlichen Suizidversuchen zu berichten, die sich bei ihnen selbst oder einem Kollegen, einer Kollegin ereigneten. Hier schlossen sich auch Fragen dazu an, inwiefern die Anhörungssituation bei belasteten Flüchtlingen retraumatisierend wirken bzw. was in einem solchen Fall passieren kann. Empfehlung: Maßnahmen der psychologischen Notfallhilfe einleiten Jede Krisensituation und insbesondere jede Suizidandrohung ist ernst zu nehmen, und es sind entsprechende Maßnahmen der »psychologischen Notfallhilfe« einzuleiten. Dem betroffenen Flüchtling muss die entsprechende Hilfe zuteilwerden, aber auch die Einzelentscheider/-innen müssen über Strategien und Maßnahmen verfügen, um sich selbst im Bedarfsfall zu schützen. Einzelentscheider/-innen haben nicht die Expertise und auch nicht die Verantwortung, ein Trauma bzw. eine Traumafolgestörung zu erkennen. Sie müssen aber achtsam sein und über Wissen verfügen, um entsprechende Hinweise aufzunehmen und diesen nachzugehen. Bei Bedarf sind Nachfragen an die behandelnden Ärzt/-innen und Psychotherapeut/-innen zu stellen bzw. ist ein entsprechendes Gutachten in Auftrag zu geben. Um das erarbeitete Wissen und die jeweils schon vorhandenen Erfahrungen und Strategien der Entscheider/-innen praktisch anzuwenden bzw. einzuüben, folgte ein Rollenspiel. Diese Übung nahm einen sehr intensiven Verlauf: Zunächst spielten die Teilnehmenden eine Anhörung mit einer Antragstellerin nach, deren Asylgründe zunächst sehr undeutlich blieben. Sie »blockierte« bei vielen Fragen und legte durch ihre Antworten und ihr Verhalten nahe, dass es für sie eigentlich keinen »richtigen« Asylgrund gibt. Dem Rollenspiel schloss sich eine Reflexionsrunde derjenigen Teilnehmenden an, die die Interaktion von außen beobachtet hatten. Sie äußerten ihre Gedanken zum Geschehen und tauschten sich darüber aus, welche Art von Fragen für die Anhörenden jetzt im weiteren Verlauf hilfreich sein könnten. Mit diesen Hinweisen im Gepäck setzten die Teilnehmenden die Szene fort – sie nahm nun allerdings einen ganz anderen Verlauf. Die Ursachen, die zur Flucht geführt hatten, traten jetzt ganz deutlich hervor, und die »Blockade« verschwand bis zu einem bestimmten Punkt der Anhörung. In einer weiteren Reflexionsrunde diskutierten die Teilnehmenden, wann es in dieser Anhörungssituation jetzt noch zu einer Krise kommen könnte und welche Reaktionen dann bei dem Kollegen bzw. der Kollegin und der Antragstellerin eintreten könnten.

102  Silvia Schriefers und Jenny Baron Insgesamt brachten in den Schulungen vor allem solche Übungen, die auch einen Rollentausch beinhalteten, viel in Bewegung. Die Erfahrung, einmal »auf der anderen Seite« zu sitzen, erwies sich für viele Teilnehmende – so sie sich auf sie einließen – als besonders aufschlussreich: Entscheiderin: »Es ist einfach wichtig, wenn man einmal als Entscheider in die Rolle des Gegenübers schlüpft. Diese Situation macht man sich eigentlich nicht deutlich. Das ist ganz schwierig, und das sollte jeder Entscheider einmal machen, einmal in die Rolle des Asylbewerbers schlüpfen. Das bedeutet, dass ich jetzt einer Amtsperson gegenübersitze und ihr Rede und Antwort stehen muss. Das ist schon als Deutscher schwierig; wenn ich jetzt noch aus einem anderen Kulturkreis komme und mich überhaupt nicht mit der Kultur des Befragers auskenne, das stelle ich mir noch schwieriger vor. Wir haben das in einer Sitzung gemacht, und ich bin in die Rolle des Asylbewerbers geschlüpft. Ich habe mich in dieser Rolle nicht wohlgefühlt, das muss ich ganz ehrlich sagen, das war schwierig. Dann stellen Sie sich wirklich einen Asylbewerber aus einem anderen Kulturkreis vor, wie der vor Ihnen sitzt. Das war eine wichtige Erfahrung, die ich gemacht habe. Man sieht den Asylbewerber dann doch mit etwas anderen Augen. Nicht mehr so streng. Streng ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, aber ich finde jetzt nicht gleich auf die Schnelle einen anderen, passenderen Ausdruck dafür. Aber man sieht eine Anhörung mit anderen Augen.« Frage: »Die Frage, die sich da natürlich anschließt, ist, macht das die alltägliche Arbeit eventuell schwerer?« Entscheiderin: »Schwerer nicht. Man sieht es ein bisschen aus einem anderen Blickwinkel. Man sieht den Asylbewerber nicht mehr nur aus einer Richtung. Man schaut auch mal von der anderen Seite darauf und kann bestimmte Äußerungen oder bestimmte Verhaltensweisen des Asylbewerbers besser einschätzen. Das ist für die Arbeit doch wichtig, weil man einen Menschen vor sich sitzen hat. Man muss mit diesem Menschen für eine gewisse Zeit kommunizieren, zusammenarbeiten, und muss dann auch später eine Entscheidung über das Schicksal dieses Menschen treffen. Wenn man sich einmal in die Rolle des Anderen hineinversetzt, fällt das dann vielleicht nicht mehr ganz so schwer.«

Rollenspielen wie diesen schlossen sich in einigen Fällen längere, sehr spannende Diskussionen über die Eindrücke und Gefühle an, die der Spagat zwischen der Bewertung dessen, was Antragstellende selbst vortragen, und dem Kontextwissen, über das die Entscheider/-innen zu entsprechenden Fallkonstellationen verfügen, in ihnen auslöst.

Spannungsfelder auflösen: das »Auftragskarussel« Der Versuch, auch die widersprüchlichsten Aufträge zu erfüllen, schien bei einigen der Entscheider/-innen immer wieder das Gefühl auszu-

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lösen, in einer Sackgasse zu stecken. Deshalb galt es in den Schulungsgruppen auch, einen Blick darauf zu werfen, welche »möglichen« und »unmöglichen« Aufträge sich ihnen eigentlich stellen – also zu untersuchen, inwiefern die Kontextbedingungen ihrer Arbeit zu stress- und spannungsgeladenen Zuständen führten, die ihre Handlungsspielräume in der Anhörung einschränkten. Um dieses Geflecht an unterschiedlichen und womöglich unklaren oder auch widersprüchlichen Aufträgen zu erhellen, wurde mit den Teilnehmenden ein Auftragskarussel (von Schlippe und Schweitzer, 1995) in Szene gesetzt: Eine Entscheiderin beschrieb dafür alle wichtigen Personen innerhalb ihres Arbeitsumfelds und formulierte die aus ihrer Sicht mit diesen Personen verbundenen Aufträge an sie. Die Personen und ihre Aufträge wurden auf Karten visualisiert und in die »richtigen« Positionen um die Entscheiderin gruppiert. Mit Unterstützung der Trainer/-innen teilte die Entscheiderin diese Aufträge dann in solche ein, die sie gut annehmen kann und die in ihr keinen Stress auslösen, und in solche, die sie gern zurückweisen möchte, da sie eigentlich nicht in ihrer Verantwortung sind. Auf diese Weise gelang es, Bereiche im institutionellen Kontext herauszuarbeiten, die Stress verursachen, die aber eigentlich leicht veränderbar wären. Ein wichtiger Punkt war hier die Zusammenarbeit mit Dolmetschenden: Diese werden den Entscheider/-innen formalisiert zugewiesen, sie sind fachlich manchmal nicht kompetent, passen nicht immer zu dem, was die besonderen Bedürfnisse der Antragsstellenden erfordern, oder es ist aus anderen Gründen schwierig, in der gegebenen Konstellation mit ihnen zu kooperieren. Hier zeigte sich, wie sehr die Arbeitsqualität und die Zufriedenheit der Entscheider/-innen unter anderem auch von der Verwaltungsstelle beeinflusst wird, die für die Organisation der Dolmetschereinsätze zuständig ist. Empfehlung: Zur Not Dolmetschende wechseln Entsteht der Verdacht, dass der Dolmetscher oder die Dolmetscherin für die Anhörungssituation ungeeignet ist, dann ist die Anhörung abzubrechen bzw. den Dolmetscher oder die Dolmetscherin zu wechseln. Das Auftragskarussel brachte außerdem zum Vorschein, dass es zum Teil Aufträge gibt, die in Anbetracht der vorhandenen Zeit nicht schaffbar sind, ohne dass die Qualität der Arbeit leidet. Auch der übergeordnete institutionelle Druck spielte hier eine große Rolle: Die Entscheider/-innen sind mit einer ausgeprägten Hierarchie konfrontiert, über die teilweise intransparente Regelungen und Entscheidungsgrundlagen transportiert werden. Die Kooperationsstrukturen zwischen den verschiedenen Abteilungen und Hierarchieebenen sind

104  Silvia Schriefers und Jenny Baron indes eher schwach, und es gibt wenig Feedback in Bezug auf die Erfüllung der verschiedenen Anforderungen. Der (innen-)politische Druck, »echte« Flüchtlinge mit politischen Migrationsmotiven von »wirtschaftlich motivierten« Flüchtlingen zu trennen und außerdem möglichst schnell viele »Fallzahlen« bearbeiten zu müssen, wird offenbar vom Innenministerium an die Behörde des Bundesamts und damit an die Entscheider/-innen nach unten weitergegeben. So scheint es zu einem Kreislauf gegenseitigen Misstrauens zu kommen, in dem es zentral um die Frage der Glaubhaftigkeitsprüfung und um die Abarbeitung von Akten geht. Die Frage der ernsten Bedrohung für den einzelnen Flüchtling muss dabei zwangsläufig in den Hintergrund rücken. Das Auftragskarussell sollte hier helfen, den Blick der Entscheider/-innen wieder zu öffnen und das Problem ihrer Tätigkeit weniger als eins des »Sortierens und Auslesens« zu sehen, sondern auch als ein »Problem globaler Gerechtigkeit« (Probst, 2012).

Spannungen und Widersprüche aushalten Zu beachten ist an dieser Stelle, dass Prozesse, wie sie durch das »Auftragskarussel« angestoßen werden können, unmittelbar – das heißt im Kontext der Reflexion – meist als sehr entlastend empfunden werden. Ist im Kontext der realen Arbeitssituation aber keine entsprechende Veränderung der spannungsauslösenden Bedingungen möglich, sind die Widersprüche den Einzelnen zwar bewusst, aber nach wie vor nicht aufzulösen. Dann kann diese Form der Sensibilisierung für die jeweilige Person unter Umständen zunächst als zusätzliche Belastung wirken. Empfehlung: Auftragskarussel inszenieren Die Inszenierung des »Auftragskarussels« sollte immer im Wissen durchgeführt werden, dass ein bewussteres Nachdenken über widersprüchliche Aufträge nicht zwangsläufig zu einer Erleichterung führen muss. Für die Einzelnen fühlt es sich kurzfristig in der Regel spannungsärmer an, den Widersprüchen der Organisationsstruktur aus dem Weg zu gehen, sich mit und in ihr zu arrangieren. Die Organisation als Ganzes hingegen beraubt sich auf lange Sicht ihres Entwicklungspotenzials, wenn sie Bruchstellen wie diese nicht ernst nimmt und für Veränderungsprozesse fruchtbar macht: Kommunikation darf keine Einbahnstraße sein!

Wege der Veränderung: Trainings und Coachings105

Die Fortbildung im Überblick Das Fortbildungskonzept: die persönliche Auseinandersetzung mit der Anhörungspraxis Das Schulungskonzept sollte in erster Linie die Entscheider/-innen selbst als konkrete Akteur/-innen in die Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen Anhörungspraxis bringen: Sie sollten lösungsorientiert dabei begleitet werden, neue Verhaltensweisen im Umgang mit den Antragsstellenden zu trainieren, ihre eigenen Ressourcen besser kennenzulernen und sich über schwierige Situationen auszutauschen. Methodisch entschied man sich daher, Theorie und Praxis in Trainings- und Coachingmaßnahmen miteinander zu verschränken und in allen Bereichen auch Selbsterfahrungselemente und Methoden der Gruppenarbeit zu integrieren. –– Training: Trainingsmaßnahmen dienen der Erweiterung professioneller Kompetenzen unter fachlicher Anleitung, das heißt, es geht um das Erlernen eines für eine bestimmte Situation »idealen« Ablaufmusters. Schwerpunkt ist dabei weniger die Person des Entscheiders bzw. der Entscheiderin mit den jeweils individuellen Bedürfnissen als vielmehr das professionelle Selbstverständnis sowie Lernprozesse auf der Verhaltensebene. Das Training der Entscheider/-innen dient der Vermittlung von Sachwissen zum angemessenen Umgang mit besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen in Krisen- und Belastungssituationen sowie der Interaktion in einem interkulturellen Kontext im Rahmen des Asylprozesses. –– Coaching: Coaching beinhaltet die lösungs- und zielorientierte Begleitung der Entscheider/-innen im Asylprozess zur Förderung der Selbstreflexion sowie der selbstgesteuerten Verbesserung der Wahrnehmung, des Erlebens und des Verhaltens. Die Entscheider/-innen werden bei der Realisierung eines konkreten Anliegens oder der Lösung eines Problems begleitet mit dem Ziel, die Lern- und Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung ihrer Ressourcen und der spezifischen institutionellen Bedingungen zu verbessern. Coaching nimmt dabei in besonderem Maße Bezug auf den institutionellen Kontext und hat eher beratenden Charakter. Coaching ist somit ein Beratungsprozess, in dem der Entscheider bzw. die Entscheiderin dabei begleitet wird, eine eigenständige Lösung seines Anliegens herbeizuführen bzw. neue Perspektiven in einer als verfahren erlebten Situation zu entwickeln. –– Selbsterfahrung: Selbsterfahrung beinhaltet die Wahrnehmung und Reflexion des eigenen Erlebens und Verhaltens insbesondere in

106  Silvia Schriefers und Jenny Baron herausfordernden Krisensituationen. Selbsterfahrung bezeichnet des Weiteren den Prozess, in dem die Entscheider/-innen in einem geschützten Raum über eigene schwierige Gefühle und tabuisierte Fantasien in einer Entscheidungssituation nachdenken und über die in ihm durch die Erzählung des Flüchtlings ausgelösten Impulse, Gedanken und Emotionen reflektieren kann. Selbsterfahrung dient somit dazu, eigene Verhaltensmuster und -reaktionen bewusst zu machen und eventuell zu verändern.

Das Setting: vielfältiger und lebendiger Austausch Die Trainings und Coachings wurden an jeweils zwei aufeinanderfolgenden Schulungstagen in Berlin, Köln, Düsseldorf, München und Frankfurt am Main durchgeführt. Die Dozent/-innen-Teams setzten sich an allen Standorten aus jeweils zwei Expert/-innen zusammen, die über fundiertes Fachwissen in der Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen verfügen, die mit Schwierigkeiten in der Praxis des Asylverfahrens sowie in der Arbeit im interkulturellen Bereich vertraut und in der Durchführung von Weiterbildungs- und Supervisionsprozessen erfahren sind. Damit Selbsterfahrungselemente effektiv genutzt und Kommunikationstechniken auch praktisch eingeübt werden können, wurde die Anzahl der Schulungsteilnehmenden in den Trainings auf maximal zwölf Entscheider/-innen begrenzt. In der Zusammenstellung der Schulungsgruppen war es ein besonderes Anliegen, dass die Trainingskonstellation allen Entscheider/-innen Vertraulichkeit gewährt: Jedem Entscheider und jeder Entscheiderin sollte es möglich sein, Problemfelder und Belastungsfaktoren in ihren Außenstellen bzw. auch Konfliktlinien in ihren Teams offen anzusprechen. Deshalb wurden an allen Schulungsstandorten Mitarbeitende derselben Hierarchieebene aber aus jeweils unterschiedlichen Außenstellen des Bundesamts aus dem gesamten Bundesgebiet durchmischt. Um den Erfahrungsaustausch innerhalb der Schulungsgruppen möglichst vielfältig und lebendig gestalten zu können und unterschiedliche Berufserfahrungen, aber auch unterschiedliche Charaktere und Bewältigungsstrategien in die Diskussion zu bringen, wurde außerdem verstärkt auf eine Heterogenität der Gruppen im Sinne einer ausgewogenen Geschlechterverteilung und einer großen Altersstreuung geachtet. Die Dienstälteren konnten so (wieder-)entdecken, dass sie über sehr viel (Erfahrungs-)Wissen verfügen, das sich für die jungen Mitarbeitenden als sehr hilfreich erwiesen hat. Umgekehrt konnten die jüngeren Ent-

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scheider/-innen durch ihre Motivation, ihre Neugier und ihre Unvoreingenommenheit neue Blickwinkel für die dienstälteren Entscheider/-innen eröffnen. Die Arbeitserfahrung in den Gruppen variierte letztlich zwischen Berufsanfänger/-innen mit lediglich vier Monaten Berufserfahrung und Mitarbeitenden, die bereits seit über vierzig Jahren als Entscheider/-innen für das Bundesamt tätig sind.

Die Trainings- und Beratungsmodule: zwei Tage, zwei Schwerpunkte Tag 1: Selbst und Prozessmanagement – »Ich in der Rolle als Anhörer/-in« 9:00 9:30

Vorstellung der Teilnehmenden und Einführung Modul 1

10:45 11:00

Theorie: Stress und Stressmanagement –– Definition und Erscheinungsformen von Stress –– Stressreaktionen –– Stressbewältigung –– Burn-out und Prophylaxe Pause

Modul 2

Praktische Selbsterfahrungen und moderierter Erfahrungsaustausch –– Welche Stresssituationen kenne ich aus der Arbeit? –– Typische Belastungsfaktoren? –– Wie gehe ich normalerweise mit Stress um? –– Wie kann ich jahrelang ergebnisoffen, sensibel, wohlwollend in Anhörungen gehen? –– Was kann ich machen, um gesund zu bleiben? Übung: Burn-out-Prophylaxe

12:30 13:30

Pause Modul 3

Übungen: Gesprächsführung und Kommunikation Rollenspiel »Stress in der Rolle als Anhörer/-in« –– aus Sicht des Flüchtlings, des Anhörers bzw. der Anhörerin, des Dolmetschers bzw. der Dolmetscherin –– Kommunikationsmuster nach Satir

108  Silvia Schriefers und Jenny Baron Besprechung des Rollenspiels: Rückmeldungen der Rollenspieler/-innen, Rückmeldungen der Beobachter/-innen 15:00

Modul 4

Übungen: Arbeit in Kleingruppen –– Mögliche Stresssituationen aus der Arbeitspraxis –– Ressourcen zur Lösung der Situation und gelungene Lösung bzw. Veränderung des Konflikts Abschlussbesprechung

16:30

Tag 2: Krisen und Krisenmanagement in der Arbeit mit Flüchtlingen – »Try walking in my shoes …« 9:00

Modul 1

Praktische Selbsterfahrungen Welche kritischen Situationen kenne ich aus meiner Arbeit? Wie haben diese kritischen Situationen auf mich gewirkt?

10:00

Modul 2

Theorie: Krisen und Krisenmanagement Definition und Erscheinungsformen von Krisen: Psychische, soziale, traumatische, kulturelle Krisen –– Situative Auslöser; akute versus vergangene Krisen –– Interkulturelle Unterschiede und gender­ spezifische Aspekte bei Krisen –– Theoretische und praktische Ansätze zur Bewältigung von Krisen

12:30

Pause

13:30

Modul 3

Übungen: »Krisen in Anhörungssituationen« Aufwärm- oder Einführungsübungen Rollenspiel »Krisen in Anhörungssituationen« –– aus Sicht des Flüchtlings, des Anhörers bzw. der Anhörerin, des Dolmetschers bzw. der Dolmetscherin, Institution Besprechung des Rollenspiels: Rückmeldungen der Rollenspieler/-innen, Rückmeldungen der Beobachter/-innen

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Pause 15:00

Modul 4

Theorie und moderierter Erfahrungs­ austausch –– Theorie: (psychologische) Notfallsituationen und Umgang damit –– Typische Notfallsituationen –– Notfallpläne Methode: Arbeit in Kleingruppen: Ressourcen zur Bewältigung (»Was hat geholfen?«) und gelungene Lösung (»Wie konnte die Situation bewältigt werden?«)

16:00

Modul 5

Spannungsfelder in der täglichen Arbeit – das Auftragskarussell –– In welchen Kontext ist meine Arbeit eingebettet? –– Wie läuft die Anhörung bei uns ab? Welche Erfahrungen habe ich gemacht? –– Welche sind typische Stressfaktoren? –– Schnittstelle zwischen Person und Organisation? –– Welche institutionellen Regeln gibt es bei uns? Abschlussbesprechung

Literatur Gahn, C. (1999). Adäquate Anhörung im Asylverfahren für Flüchtlingsfrauen? Zur Qualifizierung der »Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung« beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Oldenburg: BIS-Verlag. Probst, J. (2012). Asylanträge bearbeiten – Vergleichende Studie des Entscheidungsprozesses in der Deutschen und der Französischen Verwaltung. Unveröffentlichte deutsche Zusammenfassung von: Probst, J. (2012). Instruire la demande d’asile. Étude comparative du processus décisionnel au sein des administrations allemande et française. Dissertation Université de Strasbourg/Philipps-Universität Marburg. Zugriff am 29. 10. 2014 unter http://archiv.ub.unimarburg.de/diss/z2012/0949/pdf/djp.pdf Stix, W. (2011). Erste Hilfe in der Psychotherapie. Zugriff am 27. 10. 2014 unter www.stix-help.at Schlippe, A. von, Schweitzer J. (1995). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Prof. Dr. Brigitte Geißler-Piltz Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSv)

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Die Kooperation: BAMF, BAfF und DGSv als Projektpartner Die Kooperation mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) beginnt im Jahr 2012 und hat für die Deutsche Gesellschaft für Supervision (DGSv) eine gute zeitliche wie inhaltliche Passung. Sie trifft den Kern eines veränderten Selbstverständnisses, denn die DGSv sieht sich immer mehr als Akteurin der Zivilgesellschaft, die einen nachhaltigen Beitrag zur Gestaltung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten will. Das Ziel dieses »Wegs in die Gesellschaft« ist es, die Expertise der DGSv für die Gestaltung gesellschaftlicher Herausforderungen zur Verfügung zu stellen, mit dieser Expertise als gesellschaftliche Akteurin wahrgenommen zu werden sowie der Profession, ihren Angehörigen und ihrer Vertretungsorganisation eine höhere Reputation zu verschaffen.

Die DGSv nimmt Kontakt auf Die Kontaktaufnahme der DGSv mit der BAfF beginnt mit einem Schreiben von Elise Bittenbinder an den Geschäftsführer der DGSv, Jörg Fellermann. Schließlich erklärt Jörg Fellermann in einem »Letter of Intent« das Interesse der DGSv an dem mit Mitteln des Europäischen Flüchtlingsfonds (EFF) geförderten Projekt und bietet an, an der Erstellung eines Konzepts für »Supervisions- und Trainingsmaßnahmen« verantwortlich mitzuwirken. Die DGSv, so führt Jörg Fellermann ins Feld, bringt für eine Kooperation im Handlungsfeld des BAMF zentrale Kompetenzen mit – wie auch das Anliegen, eine Mitverantwortung für gesellschaftliche Themen wahrzunehmen. Als potenzielle Partnerin führt die DGSv ihre Vorzüge auf: Sie ist verbunden mit zahlreichen Projekten und Partnerorganisationen, mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem

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Ministerium für Schule und Weiterbildung in NRW, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, mit den Universitäten Köln, Kassel, Heidelberg, Frankfurt am Main, Chemnitz sowie mit mehreren Hochschulen und anderen Organisationen. Sie kann Erfahrungen mit Konzeptentwicklungen (zum Beispiel für die Deutsche Bahn AG, die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin) vorweisen, zahlreiche Mitglieder der DGSv verfügen über profunde Erfahrungen zu Fragen von Traumatisierung, Migration und Flüchtlingsarbeit wie zu Fragen der Entwicklung von Organisationen der öffentlichen Verwaltung. Das attraktive Unterstützungsangebot wird von der BAfF nicht überhört, zumal die DGSv im Kooperationsgefüge der in ihren Zielsetzungen und Strukturen so unterschiedlichen Organisationen wie dem BAMF und der BAfF Unabhängigkeit gewährleisten kann. Vor dem Hintergrund der jeweiligen Positionen und Rollen entlastet das den Leistungsempfänger – das BAMF – wie auch die BAfF als Projektträger. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, um an die Arbeit zu gehen: Zusammen mit der DGSv entwickelt die BAfF ein Konzept für ein Trainings- und ein Schulungsangebot. Es soll helfen, die Qualität der Arbeit von Entscheidungsträger/-innen im Asylprozess bzw. von Beamt/-innen im öffentlichen Dienst zu sichern bzw. zu entwickeln.

Wo ist Supervisionsbedarf? In einem ersten Projektschritt nimmt die Konzeptgruppe gemeinsam mit dem Grundsatz- und Fortbildungsreferat sowie Mitarbeitenden von Außenstellen des BAMF eine Analyse und Auswertung der bereits existierenden Fortbildungsmodelle von Mitgliedszentren der BAfF vor. Die Auswertung der bestehenden Fortbildungsmodelle zeigt: Eine Sensibilisierung durch gezielte Schulungen ist möglich, um beispielsweise Hinweise auf traumabedingte Erkrankungen zu erkennen und die besonderen Probleme dieser Personengruppe im Asylverfahren adäquat zu berücksichtigen. Über die vorgenommenen Schulungen der Außenstellen des BAMF stellt sich ein weiterer Bedarf heraus. Es zeigt sich, dass durch Schulungen Vermitteltes praktisch unterfüttert werden muss, um im Arbeitsalltag die gewünschten Erfolge zu bringen: Das angeeignete Wissen muss durch eigene Erfahrungen spürbar werden – so können die Entscheider/-innen passende Handlungsstrategien für häufig auftretende Probleme entwickeln, Krisensituationen adäquat begegnen sowie den Umgang mit eigenem Stress und eigenen Belastungen in der Rolle als Anhörer/-in verbessern. Auf Basis der Schulungsmodell-Auswertung erstellt Jörg Fellermann

112  Brigitte Geißler-Piltz ein inhaltlich sehr anspruchsvolles Konzept und sichert der DGSv so eine aktive Rolle in diesem auf zwei Jahre angelegten Projekt. Im offiziellen Sprachgebrauch liest sich die Entscheidung folgendermaßen: Um Entscheider/-innen bei der Erfüllung ihres anspruchsvollen Arbeitsauftrags zu stärken, hat das Bundesamt in Zusammenarbeit mit der BAfF und der DGSv ein vom Europäischen Flüchtlingsfond (EFF) gefördertes Projekt zum Thema Belastungsvorsorge und Qualitätssicherung für Entscheider/-innen im Bundesamt ins Leben gerufen.

Was ist und kann eigentlich Supervision? Für Supervision braucht es hoch qualifizierte Berater/-innen. Denn im Mittelpunkt dieses Beratungsformats steht Komplexes: die Reflexion beruflicher Situationen und beruflichen Handelns im organisatorischen Kontext. Die Supervision analysiert Probleme rund um Arbeitsplätze und -bereiche, setzt sich mit individuell schwierig erlebten Situationen und deren gesundheitlich belastenden Konstellationen auseinander. Nicht selten geht es darum, Überforderungssituationen frühzeitig zu erkennen – und ihnen entgegenzuwirken. Als prozessorientierte, dialogische Beratungsform bedient sich die Supervision unterschiedlicher Verfahren, unter anderem der Analyse von Organisations- und Arbeitsabläufen, der Kommunikations- und Interaktionsgestaltung und des (spielerischen) Wechsels von Perspektiven und Rollen. Dabei richtet sich der Blick auf Potenziale, die sich im beruflichen Leben der Supervisand/-innen verbergen. Supervisorisch gewonnene Erkenntnisse münden dann in Veränderungsvorschläge, die der Klärung, Förderung und Erweiterung professioneller Handlungskompetenz dienen. Eine so verstandene Supervision bietet Mitarbeitenden in Organisationen und Unternehmen einen besonderen innerbetrieblichen Raum des Nachdenkens, des Verstehens und der Entlastung. Sie unterstützt die Fähigkeit, komplexe berufliche Anforderungen zu balancieren, in Paradoxien zu denken und in kritischen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Supervision erfordert eine besondere Sensibilität gegenüber den Ratsuchenden in ihrer persönlichen Arbeitssituation wie auch die klare Bereitschaft, auf der Grundlage ethischer Richtlinien Verantwortung zu übernehmen. Für die Praxis der Supervisionsprozesse bedeutet das: Die Supervisor/-innen nehmen in der Themenbearbeitung eine offene und explorierende Haltung ein, suchen das Wissen und die Kompetenzen der Teilnehmenden, ermutigen diese, eigene Erkenntnisse ernst zu nehmen und auf deren Basis Veränderungen anzustoßen.

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Zentrale konkrete Bestandteile des Kooperationsprojekts mit dem BAMF und der BAfF sind Supervisionen für Entscheider/-innen. Die durch ausgewählte Supervisor/-innen angeleitete Reflexion soll eine Entlastung der Entscheider/-innen von den Folgen besonders schwieriger Anhörungs- und Arbeitssituationen ermöglichen, die Wissens- und Erfahrungspotenziale der Entscheider/-innen fördern und kollegial nutzbar machen; einen präventiven Beitrag zur Gesunderhaltung der Entscheider/-innen leisten; und dadurch die Entwicklung und Sicherung der Qualität der Anhörungsverfahren nachhaltig unterstützen.

Wie findet man die passenden Supervisor/-innen? Der nächste Schritt in der Umsetzung konzeptioneller Vorstellungen bedeutet, qualifizierte Supervisor/-innen zu rekrutieren. In Kooperation mit der BAfF erstellt die DGSv eine Stellenausschreibung mit genauem Anforderungsprofil für die Durchführung der Supervision von »Einzelentscheider/-innen Asyl«. Die offizielle Ausschreibung geht an alle 4 000 Mitglieder der DGSv. Es qualifizieren sich schließlich zwölf Supervisor/-innen über Fachwissen und Erfahrungen zu den Themen –– Asyl (Schwerpunkt) und Migration, –– Beratung professioneller Tätigkeiten mit besonders belastender Klient/-innen- bzw. Kund/-innendynamik, –– Beratung großer Verwaltungsorganisationen. Sie verpflichten sich im Kontrakt mit dem BAMF, an vorbereitenden Seminaren teilzunehmen. So absolvieren alle ausgewählten Supervisor/-innen eine Einführungsveranstaltung, organisiert und durchgeführt von Vertreter/-innen der BAfF und des BAMF, lernen vor Ort einen Arbeitsplatz der Entscheider/-innen Asyl kennen, werden vertraut gemacht mit den speziellen Vorstellungen und Aufgaben des Bundesamts und der Entscheider/-innen sowie mit dem Ablauf von Asylverfahren. Vertreter/-innen der BAfF vertiefen die Vorbereitung mit dem Blick auf die besondere Situation der traumatisierten Asylantragstellenden in der Anhörungssituation, mit Erkenntnissen und Erfahrungen von Trauma, Flucht und Grenzerfahrungen im Asylverfahren. Zum fachlichen Austausch und zur Sicherung der Qualität ihrer Arbeit nehmen die ausgewählten Supervisor/-innen außerdem an zwei Gesamtkonferenzen aller beteiligten Projektpartner teil (BAfF, Dozent/-innen der Trainings, DGSv, Supervisor/-innen, BAMF). Dabei werden die Projektmaßnahmen und -schritte detailliert vorgestellt,

114  Brigitte Geißler-Piltz Erfahrungen ausgetauscht und Veränderungsmöglichkeiten durch Supervision und Coaching unter Expert/-innen diskutiert. Letztlich zieht man ein Zwischenresümee und diskutiert Ziele und zukünftige Veränderungen. Die dabei erarbeiteten Ergebnisse fließen in die weitere konkrete Arbeit ein.

Der Kontrakt: klar formulierte Bedingungen Supervisionen beruhen in der Regel auf einem Kontrakt, der zwischen den beteiligten Parteien ausgehandelt wird. Dabei geht es um Klärung von Themen und Inhalten, Festlegung von Zielen und Vereinbarung des Settings. In diesem Fall hatte das verantwortliche Management des BAMF im Einverständnis mit den Projektpartnern einen Akquiseauftrag an die »AS Supervision« (einer Tochtergesellschaft der DGSv) mit klar formulierten Kontraktbedingungen vergeben. Diese wie das Honorar waren bereits der Ausschreibung zu entnehmen, die Bewerber/-innen kannten also die Rahmenbedingungen. So verpflichten sich die Supervisor/-innen unter anderem, an der Einführungsveranstaltung wie an der Gesamtkonferenz teilzunehmen, für geeignete verkehrsgünstig gelegene Arbeitsräume zu sorgen, einen mit den teilnehmenden Entscheider/-innen abgestimmten themenbezogenen Schlussbericht zu erstellen und letztlich an der Evaluation des Projekts mitzuwirken. Ein wichtiges Moment insbesondere für eine erfolgreiche Arbeit in Gruppensupervisionen ist die Vereinbarung zur Verschwiegenheit. Die Supervisor/-innen und die Teilnehmenden der Supervisionsgruppen verpflichten sich schriftlich untereinander und gegenüber dem BAMF zu Stillschweigen über alle personenbezogenen Informationen, die im Rahmen der Supervisionssitzungen bekannt werden.

Das Setting: Gruppensupervision Gruppensupervision findet zumeist in Organisationen statt, die ein hohes Interesse an der Arbeitszufriedenheit ihrer Mitarbeitenden wie auch an der fachlichen Weiterqualifizierung und Professionalisierung beruflicher Tätigkeiten haben. Ihre Teilnehmenden rekrutieren sich, anders als in Teamsupervisionen, in der Regel aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen. So treffen in den Gruppensupervisionen der »Entscheider/-innen Asyl« Kolleg/-innen aufeinander, die aus unterschiedlichen regionalen Abteilungen kommen. Als Mitglieder gehören sie der gleichen Organisation

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an, in der sie unabhängig voneinander, aber mit gleichen institutionellen und gesetzlichen Rahmenvorgaben arbeiten. Die für eine Gruppensupervision vorgesehenen Gruppenmitglieder lernen sich also erst in der ersten Supervisionssitzung kennen. Da allgemein bekannt ist, dass die Teilnahme an einer Gruppe mit »fremden« Kolleg/-innen Unlust und Gefühle von Unsicherheit erzeugt, wird das BAMF mit einer gezielten Öffentlichkeitskampagne tätig, appelliert an die Motivation und Lernbereitschaft der Entscheider/-innen im Asylverfahren und weist auf die Notwendigkeit hin, Entscheidungsprozesse zu reflektieren. Es melden sich schließlich genügend Kolleg/-innen für die Supervisionen. Sie sind die mutige Vorhut der Einzelentscheider/-innen in den Außenstellen. Trotz vieler Befürchtungen und Unsicherheiten lassen sie sich auf eine unbekannte Situation ein. Der Mut dieser Pionier/-innen wird durch eine andere Kraft beflügelt: ihre Bedürftigkeit. Als Einzelentscheider/-innen fühlen sie sich mit ihren Entscheidungen oft überfordert und alleingelassen.

Die Erfahrung: Supervision ist nötig Die folgende Darstellung setzt sich aus allen zugänglichen Berichten und schriftlich fixierten wie mündlich erfragten Projekterfahrungen zusammen. Versucht wurde, aus der Fülle der Dokumente (Transkriptionen der moderierten Podiumsveranstaltung, Berichte von Konzeptgruppenund Lenkungsausschusssitzungen, verschiedene Evaluationsberichte, Gespräche mit Supervisor/-innen und vor allen den Beteiligten am Projekt) wesentliche Momente und Themen der Supervisionen herauszufiltern und wenn nötig zu anonymisieren. Bei diesem Vorgehen waren Anleihen aus der Forschungsmethode der Inhaltsanalyse (Mayring, 2003) hilfreich. Informierten und politisch interessierten Leser/-innen wird auffallen, dass der Fokus dieses Berichts auf den formulierten arbeitsalltäglichen Belastungen der Entscheider/-innen liegt. Es fehlt weitgehend die Darstellung der Gegenseite. Die hoch brisante psychosoziale Lebenswelt der Asylsuchenden in Deutschland wird in anderen Kapiteln dieses Buchs berücksichtigt und besprochen. Der Auftrag der Supervisor/-innen lautete eindeutig, die Arbeitswelt der Asylentscheider/-innen zu erfassen und zu analysieren.

116  Brigitte Geißler-Piltz

Fremdeinschätzung: die bösen Verwalter Aus den meisten Berichten geht hervor, dass die abwertende gesellschaftliche Wahrnehmung der Asylentscheider/-innen als besonders kränkend empfunden wird. Der Spiegel macht diese Negativität im Bericht von Jürgen Dahlkamp (2014, S. 41) deutlich: »Entscheidung – das klingt nach Härte, schneidender Kälte, nach einem Beruf, den man lieber nicht macht, weil mehr als 70 % der Bewerber keine Zukunft in Deutschland haben werden. Entscheider, das klingt nach herz- bis erbarmungslos, weil es in diesem Beruf um Recht, nicht um Gnade geht – und das Recht eben auch gnadenlos sein kann […] Es ist ein Beruf, von dem man sich keine Vorstellung macht oder, im Gegenteil zu viele Vorstellungen.« Solche und ähnlich negative Zuschreibungen belasten die Berufsgruppe. Ältere Kolleg/-innen erkennen darin auch eine veränderte gesellschaftliche Haltung gegenüber den Entscheider/-innen. Diese hat mit einer Berichterstattung zu tun, die nicht nur die Zunahme von Flüchtlingsströmen beklagt, sondern auch ausführlich beschreibt, was immer mehr Menschen zwingt, ihre Heimat zu verlassen und Asyl zu suchen: die massive politische Gewalt in den Herkunftsländern. Mit dieser Notlage, in der diese Menschen sich in Deutschland befinden, sind die Entscheider/-innen Asyl jeden Tag konfrontiert: mit dramatischen Fluchtversuchen und zerstörten Familien, mit durch Hungererfahrungen verstörten Menschen, politischer Verfolgung, Folter und Vergewaltigungen in Kriegsgebieten. Die Öffentlichkeit, durch Hungerstreiks, Akteur/-innen der Flüchtlingsbewegung und politische Auseinandersetzung über die Missstände der Asylpolitik aufmerksam gemacht, sucht nach Schuldigen und kann der Tätigkeit der Entscheider/-innen Asyl nur mit großer Skepsis begegnen. Es gibt selten Verständnis dafür, dass sie traumatisierten, gefolterten und verfolgten Menschen kein Asyl gewähren können. Das Gefühl, dass man ihre Arbeit nicht von politischen Richtlinien des Asylrechts trennen kann, sie deshalb nicht versteht oder gar wertschätzt, belastet die Gruppe der Entscheider/-innen. Einige Entscheider/-innen, die schon über Jahrzehnte mit dem BAMF verbunden sind, erleben eine neue Dimension der Flüchtlingsbewegungen, die alle Kolleg/-innen doppelt belastend zu spüren bekommen. Einmal in der drastischen Zunahme der Fallzahlen, also in der verkürzten Zeit, die ihnen für eine Entscheidung zur Verfügung steht. Zum anderen sehen sie sich sowohl im privaten wie im öffentlichen Bereich kränkenden verbalen Angriffen ausgesetzt. Ihre Arbeit wird abgewertet und respektlos betrachtet.

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Das führt in der Supervision zu einem Austausch von Erfahrungen mit der beruflichen Rolle. Anders als mit den Bezugspersonen des täglichen Lebens wissen die Kolleg/-innen genau, wie es sich anfühlt, als »Schicksalsentscheider/-in« angesehen zu werden. Kolleg/-innen kennen aus eigener Erfahrung ambivalente Gefühle bei Entscheidungen, die aufgrund der vorliegenden Richtlinien formal korrekt waren, sich jedoch nicht richtig anfühlten. Deshalb können sie gemeinsam überlegen, wie sie ohne Verleugnung zu ihrer Tätigkeit stehen und eine Haltung (neu) erkunden können, die den Blick auf die eigenen Fähigkeiten und Ressourcen richtet. Dieser Austausch wird gerade von den »Einzelkämpfer/-innen« in den Außenstellen als wichtig angenommen. Im geschützten Raum der Gruppensupervision machen die Teilnehmenden die bestärkende Erfahrung, dass sie oft beschämende oder beängstigende Situationen miteinander teilen. Auf solch einer Grundlage kann ein Gefühl von Kollegialität wachsen – wie auch das Vertrauen in das Wertvolle der Gruppensupervision.

Selbsteinschätzung: die guten Beschützer Zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung der beruflichen Rolle klafft eine riesige Lücke. Die Berichte belegen, dass die Asylentscheider/-innen ihre Berufsrolle wie auch ihre Tätigkeit im Bundesamt positiv einschätzen. Sie betonen, dass ihnen ihre interessante und abwechslungsreiche Tätigkeit Freude bereitet. Das vorherrschende Kriterium für die Wahl des Berufs wie seine positive Bewertung ist, Menschen aus vielen unterschiedlichen Kulturen zu begegnen, von anderen Kulturen zu erfahren und von ihnen zu lernen. Die meisten haben sich bewusst für diese Tätigkeit entschieden, die sie im Auftrag einer Verwaltungsorganisation, auf der Grundlage von gesetzlichen Vorschriften und Richtlinien ausführen, um ein gesellschaftspolitisch hochgehaltenes Gut, die Zugehörigkeit zur Bundesrepublik Deutschland, zu schützen. Verlangt wird für diese Tätigkeit neben einer Verwaltungsausbildung Flexibilität und Anpassung an psychisch und sozial schwierige Situationen: Sie müssen sich, manchmal sehr schnell, Wissen über die Kultur und die aktuelle Geschichte unterschiedlicher Herkunftsländer aneignen. Sie müssen fähig sein, sich Antragstellenden, die aus kulturell und möglicherweise sozial sehr unterschiedlichen Herkünften stammen, professionell zuzuwenden. Das bedeutet, sie anzuhören, sie auch unter schwierigen Bedingungen sachlich nach den Beweggründen des Asylbegehrens zu befragen und einen Fragenkatalog zu bearbeiten, der die »Wahrheitsfindung« unterstützen soll. In besonderen Fällen, die

118  Brigitte Geißler-Piltz aber fast zur Normalität der Entscheidungsverfahren gehören, sind sie mit vulnerablen Personengruppen konfrontiert, auf die sie ihre Ausbildung nicht oder nur ungenügend vorbereitet hat. Sie sind mit Fällen von Menschenrechtsverletzungen konfrontiert, die sie zu überfordern drohen. Da treffen sie auf Frauen, Männer und Familien, die als Opfer von Verfolgung, Krieg, Folter, Vergewaltigungen und anderen Gräueltaten traumatisiert und/oder anders psychisch oder psychosomatisch verletzt sind. Diese Störungen machen sich in den Anhörungen recht unterschiedlich bemerkbar, sie führen unter anderem zu Zusammenbrüchen, Krisen, Aggressionen und Gewalt, vor allem, wenn deutlich wird, dass der Antrag erfolglos sein wird. Anhörungen können deshalb auch bei den Entscheider/-innen Ohnmachtsgefühle auslösen, eben weil sie nicht helfen können, sondern nach vorgegebenen Richtlinien beurteilen müssen. Diesen inneren Widerspruch professionell zu bewältigen, ist eine große Herausforderung und macht den Beruf zu einem »unmöglichen«, auf den sie einerseits selbstbewusst blicken können, der ihnen andererseits auch alles abfordert. Um sich zu schützen, haben einige Entscheider/-innen gelernt, sich nicht mehr tief berühren zu lassen. Andere lassen sich immer wieder von Schicksalen erschüttern. Dann ringen sie um Distanz, damit die emotionale Seite nicht die Oberhand gewinnt. Denn schließlich haben sie die Aufgabe, das Erleben in Sachverhalte zu übertragen und diese zu prüfen. Ihre Entscheidungen beruhen auf sehr umfangreichen und komplexen Richtlinien, die von der Bundesregierung regelmäßig erlassen bzw. überarbeitet werden. Das, was sie letztlich sachlich detailliert begründen, bewegt sich im vorgegebenen Rahmen und ist in einem von subjektiven Eindrücken bereinigten Protokoll nachzulesen.

Ein Balanceakt: empathisch und sachlich zugleich sein In diesem Zusammenhang entwickelt sich eine zentrale Fragestellung der Gruppensupervisionen: Wie gehen die anderen, die Kolleg/-innen mit diesen Situationen und dem Nähe-Distanz-Problem um? Deutlich wird, dass der vorgegebene Rahmen ein gutes Verhältnis zwischen Zuhören, Verstehen, mitfühlender Nähe und professioneller Distanz erschwert. Wie kann es gelingen, den Balanceakt zu schaffen: empathisch zu sein, ohne die Aufgabe der sachlichen Entscheidung aus dem Blick zu verlieren? Aus den Berichten geht eine Art kollektiver Angst vor dem Ausbrennen an diesem Widerspruch hervor. Und es gibt da schon einige Kolleg/-innen, die in der Distanz, also auf der juristisch sicheren, fach-

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lichen Seite verharren und mit der Zeit kalt und zynisch geworden sind. Erklärtes Ziel der Supervisionen ist es, den Symptomen des Burn-outs rechtzeitig entgegenzuwirken. So arbeiten die Supervisor/-innen psychoedukativ, instruktiv oder sie erarbeiten mit den Teilnehmenden spielerisch Ressourcen und alternative Handlungsstrategien. Eine wichtige Ressource ist dabei das Reflektieren des eigenen Tuns, zum Beispiel Stress frühzeitig zu erkennen und zu lernen, dass Stress von einzelnen Gruppenmitgliedern unterschiedlich erlebt wird. Dabei stellt sich die Frage nach den Entlastungsmöglichkeiten. Familie, Freunde, kulturelle, sportliche Aktivitäten etc. zählen zu den privaten Entlastungsmöglichkeiten. Im beruflichen Leben wird der Austausch unter Kolleg/-innen als eine wirksame Stressvorsorge angesehen. Die Entscheider/-innen können am eigenen Leib erfahren, wie sich durch das Sprechen über einen problematischen Fall die Belastung reduzieren lässt: »Dann hört der Druck auf, dann muss man das nicht mehr mit nach Hause nehmen.« In supervisorischen Rollenspielen wird außerdem die berufliche Rolle des Entscheiders und der Entscheiderin seziert, wobei sich widersprechende Anteile deutlich und viele Identitäten erkennbar werden. So führen Entscheider/-innen einerseits die Arbeit von Ermittler/-innen aus, die dranbleiben, Fakten nicht einfach zur Kenntnis nehmen, sondern zweifeln, abwägen und Schlüsse ziehen, juristisch argumentieren. Andererseits müssen Entscheider/-innen sich auch psychologisch einfühlen können, situativ psychische Krisen und Traumatisierungen erkennen können. Darüber hinaus agieren sie als Sozialarbeiter/-innen, die sich intensiv mit dem sozialen Umfeld beschäftigen. In diesem Kontext sind Übungen erhellend, die die berufliche Rollenvielfalt sichtbar und erlebbar machen. Sie tun den Entscheider/-innen gut, weil sie die Vielseitigkeit ihres Tuns und ihres Könnens verdeutlichen – und Erklärungen für eine oft empfundene emotionale Zerrissenheit liefern.

Der Arbeitsplatz: sicher, stabil, aber auch kalt und starr Der Arbeitsplatz in einer Bundesbehörde gilt als ein guter; er ist stabil und sicher. Die hierarchische Ordnung gibt klare Regelungen vor: die Delegation von Verantwortlichkeiten nach Kompetenz, die Definition von Rollen und Aufgaben, die Effektivität von Entscheidungsprozessen, eine geregelte Arbeitsorganisation mit klaren Rahmenbedingungen und einer stabilen finanziellen Situation. Eigentlich ein idealer Arbeitsplatz mit Arbeitsstrukturen, die für Entscheider/-innen von hohem Wert sind.

120  Brigitte Geißler-Piltz Aber eine solche Organisation strahlt auch Kälte aus. Sie ist schwer zu lenken, reagiert auf gesellschaftliche Veränderungen verzögert und auf veränderte ökonomische Rahmenbedingungen schwerfällig. So bleibt es nicht aus, dass etwa einer Personalverknappung, obgleich seit langem vorhersehbar, nicht entgegengesteuert wurde. Aktuell führt das aufgrund steigender Fallzahlen unmittelbar zur Arbeitsverdichtung mit mehr Druck und Stress im Arbeitsablauf. Ethische Fragen und Bedenken bleiben deshalb nicht aus. Sie beziehen sich vor allem auf den Umgang mit »schwierigen Fällen«, mit traumatisierten Menschen, die, auch weil nicht genügend Zeit für eine sorgfältige Hintergrundrecherche bleibt, belastende Gefühle bei den Entscheider/-innen zurücklassen. Denn mangelnde Recherchesorgfalt kann ein möglicher Grund für ungerechtfertigte Abschiebungen sein. Durch alle Berichte zieht sich das Bedauern über Veränderungen in der Arbeitsorganisation im BAMF. Im Blick sind die Entgrenzungen der Arbeit, und manche Mitarbeitende zweifeln ob ihrer Zugehörigkeit. Da gibt es die Anforderung, für den bundesweiten Einsatz verfügbar zu sein, wenn es um Aushilfe und Unterstützung in anderen Bereichen geht. Im Erleben sind diese Einsätze oft nicht durchdacht, also überflüssig und willkürlich, sie gehen auf Kosten der Mitarbeitenden, ihrer freien Zeit und Energien. Auch die strukturelle Einengung des BAMF ist in allen Berichten spürbar. Es werden hohe Ansprüche an die Mitarbeitenden in der Bundesbehörde gestellt. Darüber gibt es Einigkeit, wie auch darüber, dass ein verantwortungvermeidendes Leitungsverhalten im BAMF um sich greift. Vorgesetzte entziehen sich ihrer Rolle als Rückhaltgebende bei kritischen Entscheidungen und komplexen Fällen, die viel Zeit beanspruchen. Besondere Aufmerksamkeit wird in den Supervisionen auf die Entscheidungen gelegt, die dann vom Vorgesetzten ohne weitere Mitteilung abgelehnt werden. Dieser hierarchisch legitimierte »Übergriff« wird als kränkend erlebt. Weil es keine Aussprache oder eine Widerspruchsmöglichkeit gibt, macht er ohnmächtig und demotiviert. In diesen Zusammenhang scheint sich die Frage nach dem Umgang mit Kränkungen, Ohnmachtsgefühlen wie auch Gefühlen der Macht bzw. der Machtausübung in einer Anhörung einzuschleichen. Ein sehr heikles Thema, an das sich eine Entscheiderin in einem Rollentausch herantraut. Sie berichtet: »Wir haben das in einer Sitzung gemacht, und ich bin in die Rolle des Asylbewerbers geschlüpft. Ich habe mich in dieser Rolle nicht wohlgefühlt, das muss ich ganz ehrlich sagen, das war schwierig. Denn stellen Sie sich wirklich einen Asylbewerber aus einem anderen Kulturkreis vor, wie der vor Ihnen,

Mehr Supervision wagen121 der Amtsperson, sitzt. Das war eine wichtige Erfahrung, die ich gemacht habe. Man sieht den Asylbewerber, man sieht eine Anhörung mit anderen Augen. Es ist einfach wichtig, wenn man einmal als Entscheider in die Rolle des Gegenübers schlüpft. Diese Situation macht man sich eigentlich nicht deutlich. Das ist ganz schwierig, und das sollte jeder Entscheider einmal machen, in die Rolle des Asylbewerbers schlüpfen.«

Der Rollentausch macht die deutliche Machtasymmetrie zwischen Antragssteller/-in und Entscheider/-in erlebbar. Was löst das Gefühl, Macht zu haben, aus? Das ist eine dringende Frage, die in der Supervision angesprochen und mit persönlichen Erlebnissen gefüllt werden kann. In der Reflexion wird auch deutlich, dass den in der Anhörung mit Macht ausgestatteten Personen auch das gegenteilige Gefühl vertraut ist. Sie fühlen sich in ihrer streng hierarchisch gegliederten Organisation oftmals ohnmächtig, vor allem, wenn eine gut begründete Entscheidung von den Vorgesetzten nicht übernommen wird.

Die Situation der Anhörung: oft komplex, heikel, dramatisch Die Situation der Anhörung ist nie einfach, der Gegenstand der Anhörung hochbelastend; allein schon dadurch, dass die Beteiligten sich nur mithilfe einer Person verständigen können, deren Kompetenz im »Übertragen von gesprochenen Worten und Zusammenhängen von einer Ausgangssprache in eine Zielsprache« besteht. Es handelt sich hierbei um einen in vieler Hinsicht hochkomplexen Prozess, der wegen seiner vielen Unsicherheiten in der Translationswissenschaft Gegenstand von Untersuchungen ist. Da es keine »objektive« und kontrollierbare Übersetzung geben kann, entzieht sich eine Anhörung mit Sprachmittler/-innen der Reflexion und Kontrolle. Selbst wenn sie oft nicht erwünscht sind: Dolmetschende gehören zum Alltag der Entscheidungspraxis. Und das ist einer der Gründe, warum Entscheider/-innen den ihnen zugeteilten Dolmetschenden in Anhörungen mit gemischten Gefühlen begegnen. Übertragungen in eine fremde Sprache, die sie selbst auch nicht nur ansatzweise verstehen, lösen Unsicherheit aus, in bestimmten Situationen eher Misstrauen. Ohne Zweifel können Dolmetschende eine sehr mächtige Position einnehmen, sie beherrschen sowohl die Ausgangsals auch die Zielsprache, die sie mit den Antragstellenden auch kulturell verbinden. Die Entscheider/-innen wie auch die Antragstellenden sind abhängig von einer nonverbal nachvollziehbaren Übersetzung. Diese kann auf beiden Seiten als Entlastung erlebt werden, weil eine sensible Sprachvermittlung für die Antragstellenden oft die einzige Chance ist,

122  Brigitte Geißler-Piltz sich in ihrer Erstsprache elaborierter auszudrücken. Für die Entscheider/-innen sind sie das Mittel, um den Ausführungen im Anhörungsprozess folgen bzw. ihn steuern zu können. In den Berichten werden Dolmetschende für ihre Kompetenz geschätzt, aber sonst eher als Belastung angesehen. Es herrscht eine gewisse Skepsis ihnen gegenüber vor. Diese wird verstärkt, wenn die Dolmetschenden das Gefühl vermitteln, nicht »richtig« zu übersetzen, weil in dem komplexen Gefüge der mittelbaren Verständigung nonverbale Kommunikationsinhalte mit den verbalen nicht übereinzustimmen scheinen, sich das Gefühl ausbreitet, dass die Übersetzenden ihre Rollengrenzen überschreiten. Als pure Schikane werden zugeteilte Dolmetschende erlebt, mit denen man schon schlechte Erfahrungen gemacht hat. Als besonders schwierig werden Glaubwürdigkeitsprüfungen eingeschätzt. Es stellt sich die Frage nach der angemessenen Entscheidung und der Schwere der Verantwortung, weil der vorgegebene Zeitraum als zu eng erlebt wird. Das verantwortungsvolle Abwägen zwischen subjektiven Eindrücken und Empfindungen und sachlichen Begründungen macht die Paradoxien des Entscheidungsprozesses aus. Aber auch andere Anhörungen führen zu schwierigen Krisensituationen, die sich hochdramatisch gestalten und Stress bei allen Beteiligten auslösen. Supervision sucht hier nach einem anderen Umgang mit bzw. nach vorbeugenden Strategien gegen die verschärften Arbeitsbelastungen. Ein protektiver Faktor ist eine professionelle Haltung in den Anhörungen. Dazu gehören in der Gruppe erarbeitete und in Rollenspielen erprobte Vorstellungen, wie man mit krisenhaften Anhörungssituationen am besten umgehen kann. Wie lässt sich aggressivem oder provozierendem Verhalten der Antragstellenden entgegentreten? Manche kennen innere Warnsymptome, die auf eine zu erwartende Störung hinweisen. Wie ernst darf man solche inneren, nicht objektivierbaren Signale nehmen? Darf man eine Anhörung vorsorglich abbrechen, oder muss man weitermachen? Diese und andere Fragen werden in der Gruppe aufgeworfen. Die Entscheider/-innen lernen in Rollenspielen eigene Reaktionen zu erkennen und ernst zu nehmen. Nur so können sie sich für die Verfasstheit ihres Gegenübers öffnen. Und nur so können sie lernen, sich zu schützen. Zum Schutz gehört es auch, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und dann von der Wirksamkeit oder ausgebliebenen Wirksamkeit zu berichten. Ziel der gemeinsamen Arbeit ist, unterschiedliche Belastungssituationen zu sortieren und zu lernen, mit diesen anders, »gesünder«, stressfreier umzugehen. In vielen Situationen ist es machbar, die gewonnenen Erkenntnisse auszuprobieren und sich gegebenenfalls auf die Veränderungen einzulassen bzw. sie einzuüben. Das beflügelt den Lernprozess und stärkt die Motivation, neue Reaktionsweisen im

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Anhörungsprozess zu beobachten, zu reflektieren und zu fragen: Habe ich mich verändert? Was verändert sich dadurch im Anhörungsprozess?

Die Wirkung: Supervision tut gut Bei den Teilnehmenden liegt die Zufriedenheit nach Beendigung der Supervisionsgruppen bei 93 %, und 96,2 % reagieren mithilfe der Supervision gelassener auf die Anforderungen des Arbeitsalltags. Dies sind ungewöhnliche Zahlen, die Anlass geben, den Gründen auf der Basis der transkribierten Podiumsdiskussion nachzuspüren. (Die wörtlichen Redebeiträge wurden der besseren Lesbarkeit wegen sprachlich bearbeitet.) So einfach es klingt: Es ist zunächst einmal das Setting der Gruppensupervision, das seinen Charme ausstrahlt. Versetzen wir uns in die Arbeitswelt der Teilnehmenden. Sie sind als Einzelkämpfer/-innen in Einzelentscheidungen tätig, es gibt keine oder nur wenige Kolleg/-innen und noch weniger Gelegenheiten, sich mit ihnen vertrauensvoll auszutauschen. Sie tragen die Last der Verantwortung für ihre Entscheidungen allein. Da bieten die Gruppensupervisionen, in gutem Ambiente weit weg vom Alltag des Behördendaseins, eine wunderbare Gelegenheit, um mit Kolleg/-innen über »gemeinsame« Erfahrungen zu sprechen. Der Bedarf ist auf jeden Fall groß: »Es fehlt einfach die Zeit für mehr Kommunikation mit den Kollegen. Diese Zeit ist aufgrund des hohen Arbeitsdrucks, der hohen Arbeitsbelastung einfach nicht mehr gegeben. Ich habe vor meiner Tätigkeit als Entscheider viele Jahre in der Zentrale gearbeitet. Es war nie ein Problem, sich mit Kollegen fachlich auszutauschen. Aber man hat als Entscheider zum Teil nicht einmal die Möglichkeit, eine Tasse Kaffee zu trinken. Man braucht die Kommunikation mit den Kollegen, das war bei jeder Supervisionssitzung ein großes Thema.«

Vertrauensbildende Maßnahmen Das innere Ankommen in einer Gruppe, das gegenseitige Akzeptieren und Angenommensein fällt den Teilnehmenden (wie auch den Supervisor/-innen) nicht selbstverständlich zu. Es muss erarbeitet werden. So nehmen sich alle Supervisor/-innen die nötige Zeit, um Erwartungen und Befürchtungen der Teilnehmenden abzuklären: Und sie beginnen mit vertrauensaufbauenden Übungen damit, Vorurteile gegen »Psychoveranstaltungen« ebenso zu überwinden wie die Angst, auch in der Supervision Einzelkämpfer/-in zu bleiben. Dabei gibt es einige Hürden zu überwin-

124  Brigitte Geißler-Piltz den. Die Teilnehmenden hatten keine Erfahrung mit Supervision, wussten aus den Vorinformationen aber, dass es darum geht, wie die Entscheider/-innen bestimmte Situationen erleben, was sie da für Probleme haben. Weiter kann angenommen werden, dass eine professionelle Eigenart dieser Berufsgruppe für ein gesundes Misstrauen gegenüber psychosozialer Beratung verantwortlich ist. Die Gruppensupervision wird hier schließlich »Ermittler/-innen« angeboten, die grundsätzlich skeptischkritisch sind – auch und gerade gegenüber Supervisionsangeboten. Zumal diese noch betonen, »nicht Psychotherapie« zu sein. Entscheider/-innen glauben nun mal nicht alles, was ihnen erzählt wird. Aber ganz offensichtlich gelingt es dank der guten, offenen Arbeitsatmosphäre und dem Wunsch nach Austausch und Unterstützung, diese professionelle Skepsis zu überwinden: »Ich war erst einmal sehr positiv überrascht. Ich bin mit dem Fahrrad gekommen und außer Puste in der Nürnberger Südstadt angekommen. Es war ein sehr angenehmes helles und grünes Gebäude, auch die Räumlichkeiten waren sehr gut. Ich bin dort angekommen, es war am Eingang alles ausgeschildert. Orientierungsschwierigkeiten gab es keine, ich musste mich nicht durchfragen, wo es zur Supervision geht. Es war ein mittelgroßer, heller Raum. Die Stühle standen in einer Art Halbkreis. Wir waren fünf Teilnehmer. Ja, das war einfach erst einmal ein positives Ankommen.«

Die gute Atmosphäre sorgt auch dafür, dass die Teilnehmenden, die alle aus unterschiedlichen Außenstellen kommen und sich eher zufällig kennen, aufeinander zugehen können. Aber leicht fällt es nicht. Nicht zuletzt ist von Bedeutung, wie die Supervisor/-innen mit den Teilnehmenden Kontakt aufnehmen und eine Beziehung aufbauen, welche Haltung sie als Personen und Professionelle ausstrahlen. Mit der Frage im Evaluationsfragebogen nach der »Motivation der Supervisoren« wurde dieser Aspekt abgefragt – und erhielt ebenfalls ein deutlich positives Feedback (73 %). Die Motivation des Supervisors bzw. der Supervisorin war dann auch ein Thema der Abschlussveranstaltung, was genau haben die Teilnehmenden mit diesem Begriff verbunden? Eindeutig ist damit gemeint, dass der Trainer bzw. die Trainerin oder der Supervisor bzw. die Supervisorin »unvoreingenommen oder ohne Vorurteile an die ganze Sache rangeht […]. Es klang im Laufe des Tags immer schon mal an, dass unsere Tätigkeit ja oft mit Vorurteilen behaftet ist. Und da gab es unterschiedliche Erfahrungen […]. Also man merkt schon, ob jemand unvoreingenommen rangeht, ob jemand bereit ist, sich auf die Gruppe einzustellen«. Dem fügt ein Supervisor hinzu: »[…] mir war es auch sehr wichtig, den

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Supervisanden mit großer Wertschätzung zu begegnen, weil ich wirklich großen Respekt vor dieser Arbeit bekommen habe.« Ein andere Stimme: »Wenn ein Supervisor kein Interesse an den Problemen und Erwartungen der Teilnehmer hat, dann kann man die ganze Veranstaltung vergessen. Das merken die Teilnehmer auch sofort.« Auch für die Supervisor/-innen war der Start nicht leicht: »Aber es hat immer funktioniert, und es war wirklich das Erstaunliche daran, dass eigentlich jede Sitzung so gut war. Obwohl wir eine Gruppe unterschiedlichster Personen waren, Neulinge im Asylverfahren, alte Hasen, die das Entscheidergeschäft schon seit Jahrzehnten kennen und ausüben. Unsere Gruppe hat wirklich gut miteinander arbeiten können. Ich denke, auch die alten Hasen haben von uns Neulingen lernen können.« »Überzeugend wirkt auch, wie Supervision funktioniert, eben ganz anders als die gewohnten Schulungen. Der Supervisor hört interessiert zu, hat Interesse an den einzelnen Personen und wie es ihnen in bestimmten Situationen geht. Was auch wirklich wichtig war, es wurde keiner zu irgendetwas gezwungen.«

Auch für die Supervisor/-innen waren diese Gruppensupervisionen, die über einen Zeitraum von sechs Stunden vorgesehen waren, eine neue Erfahrung. Im Laufe des Gruppenprozesses wuchs die Erkenntnis, dass der Zeitrahmen für die Gruppe der Entscheider/-innen klug gewählt war. Ein Supervisor dazu: »Ich war auch am Anfang skeptisch, ob sechs Stunden ausgefüllt werden können. Wir haben alle als Supervisoren gelernt, dass in zwei Stunden sehr viel bearbeitet werden kann. Ich denke aber, dass diese lange Auszeit in der Behörde nötig ist, um Veränderungen auf den Weg zu bringen.«

Die Supervisor/-innen, die sich als Pioniere auf fremdes Terrain begaben, haben in der Arbeit mit den Entscheider/-innen selbst viel gelernt. Um dahin zu kommen, mussten sie sorgsam die Spezifität der Gruppenmitglieder und deren Kompetenzen erkennen, wertschätzen und wirken lassen: »Ich bin sehr behutsam vorgegangen, um erst mal zu sehen: Ist die Gruppe homogen? Kann man mit der Gruppe dann auch wirklich tiefer gehen, tiefer arbeiten? Wir haben zum Beispiel erst in der siebten Sitzung Biografiearbeit gemacht […]. Und es gab verschiedene Knotenpunkte und Schlüsselerlebnisse, die alle in der Gruppe zusammengeführt haben. Also wo dann auch schon ein bisschen deutlicher wurde, warum sich jemand für den Beruf des Entscheiders entschieden hat.«

126  Brigitte Geißler-Piltz

Das gute Gefühl der Zugehörigkeit Nachdem die Entscheider/-innen ihre Bedenken und Ängste überwunden haben, beschenken sie sich selbst mit einer Art Wertschätzungsoase im beruflichen Sturm. Als Einzelkämpfer/-innen freuen sie sich auf den Austausch mit Kolleg/-innen und lernen den Blick von kompetenten Anderen auf ihre Arbeit zu schätzen. Einige im geschützten Raum der Gruppensupervision vorgetragene Rückmeldungen der Kolleg/-innen sind innovativ, eröffnen neue Denk- oder alternative Handlungsweisen und setzen neue Prioritäten. Andere setzen sich kritisch-respektvoll mit den eingebrachten Fällen auseinander, schlagen Veränderungen und Korrekturen vor oder bieten Unterstützung an. Das Verbindende an diesen Rückmeldungen ist der Blick auf die Qualität der Arbeit und die Entlastung vom Arbeitsdruck: »Es wurden auch immer einige Fallbeispiele von mir besprochen, dazu haben die Kollegen dann ihre Meinung gesagt. Das war sehr lehrreich für mich. Dabei habe ich wirklich viel für meine Arbeit und für mich mitnehmen können.« »Wir haben zu Beginn jeder Sitzung eine Fragerunde gemacht: Was gibt es Neues? Wo brennt es? Was ist besonders auffallend gewesen im vergangenen Monat in den Außenstellen, bei den einzelnen Kollegen? Und dann konnte man feststellen, dass es trotz der Unterschiede, die auch zum Teil organisatorisch bedingt sind, doch überall die gleichen Probleme waren. Man braucht die Kommunikation mit den Kollegen.«

Von einer jungen Entscheiderin wird ein lebendiger interaktiver Gruppenprozess beschrieben und bestaunt. Sie kann das Zusammentreffen mit anderen Kolleg/-innen als Geschenk erkennen und wertschätzen. Es entsteht in der Gruppe aufgrund der geteilten beruflichen Erfahrung ein Gruppengefühl, das in der Fachliteratur auch als Wir-Gefühl oder Kohäsion beschrieben wird. Die darin zur Wirkung kommenden Kräfte sind »Zugehörigkeit« und ein Gefühl von Sicherheit, das auch gegen eine abwertende Außenwelt schützt. Nach Irving D. Yalom, einem bekannten amerikanischen Gruppentherapeuten, ist die Kohäsion nicht nur eine mächtige (therapeutische) Kraft, sondern eine notwendige Vorbedingung, damit positive Wirkfaktoren aktiv werden – und negative Faktoren wie Misstrauen, Konflikte und schwierige Situationen in der Gruppe aufgefangen werden können. Er spricht von Faktoren wie der »Universalität des Leidens« und der Entdeckung, dass die Probleme anderer unseren eigenen ähnlich sind; dass wir nicht einzigartig in unserem Elend stecken (1996). In der Evaluation stimmten dann auch 85 % der Befragten der Aussage »konnte schwierige Erlebnisse besprechen« uneingeschränkt zu,

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weitere 15 % eingeschränkt: »Ich habe mir davon auch erhofft, dass ich ziemlich viel aus diesen Kollegen ›rausziehen‹, von den Erfahrungen der Kollegen profitieren kann.« In den Gruppensupervisionen berichteten Entscheider/-innen von Fällen, wie für sie schwierige Situationen analysiert, besprochen oder auch erlebbar gemacht wurden. »Bei jeder Sitzung, einmal im Monat, habe ich auch die Gelegenheit genutzt und die Kollegen zu verschiedenen Problemen befragt, die ich selbst hatte. Auch zu verschiedenen Problemen während der Anhörungen. Kann ich das so machen oder so machen. Und ganz besonders gut fand ich, dass wir Fallbeispiele in der Supervision durchgesprochen haben.«

So ist in einer Sitzung eine Kollegin in die Rolle eines Asylbewerbers geschlüpft. Und hat damit eine wichtige Erfahrung gemacht: nachzuspüren, wie es sich anfühlt, wenn ein Asylbeantragender um eine existenzielle Entscheidung über sein weiteres Leben fürchtet, wie es sich anfühlt, in einer fremden Behördenatmosphäre von sehr persönlichen Belangen zu sprechen. Das Erlebnis des Rollenwechsels machte diese Entscheiderin sehr nachdenklich, ermutigte sie aber auch, dass die Übernahme einer anderen Perspektive sich positiv auf ihre Tätigkeit auswirken wird. Betont wird oft, dass Supervision »was gebracht hat«. »Man kann besser damit umgehen, wenn wieder Stresssituationen auftreten. Man kann bessere Wege finden, die einen nicht so belasten. Und ich denke, das ist auch ganz wichtig vor dem Hintergrund, dass man ja in verschiedenen Statistiken immer wieder liest, dass psychische Erkrankungen oder Burn-out-Statistiken immer mehr ansteigen. Da ist das ein Schritt, dem entgegenzuwirken.« In der Evaluation stimmen 88,9 % der Befragten darin überein, im Umgang mit den Belastungen des Arbeitsalltags gestärkt zu sein, »das bedeutet, gelassener gegenüber Anforderungen des Berufs« und »offener gegenüber Problemfällen«. Um dies von sich behaupten zu können, haben Entscheider/-innen viel über sich selbst und ihre Interaktion mit anderen lernen müssen. Ein Lernen, das oft auch schmerzhaft ist, weil die meisten Menschen mit einigen ihrer persönlichen Eigenarten keine Bekanntschaft machen möchten. In den Trainings und den Supervisionen wurden oft die »alten« Reaktionsweisen der Entscheider/-innen analysiert. Anschließend erprobten sie in Übungen andere Verhaltensweisen, die es ermöglichen, situationsadäquater mit den entstehenden Belastungen umzugehen und ergebnisoffen und sensibel in die nächste Anhörung zu gehen.

128  Brigitte Geißler-Piltz »Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, für jeden Teilnehmer oder jede Teilnehmerin unterstützende Maßnahmen zu entwickeln, in den einzelnen Sitzungen kontinuierlich die eigene Arbeit und den Umgang mit den Asylbewerbern zu reflektieren. Wie sollten geeignete Handlungsstrategien aus den auftretenden Problemen und Schwierigkeiten, wie vorbeugende Strategien gegen die verschärften Arbeitsbelastungen aussehen?«

Ein protektiver Faktor ist eine professionelle Haltung in den Anhörungen. Dazu gehören gemeinsam in der Gruppe erarbeitete und in Rollenspielen erprobte Vorstellungen, wie man mit krisenhaften Anhörungssituationen am besten umgehen kann. Wie kann man provozierendem Verhalten der Antragstellenden entgegenwirken? Hilft es, solch ein deplatziertes Verhalten etwa als Abwehr von Ohnmacht zu verstehen? Wenn sich keine gute Lösung findet, sollte man dann eine Anhörung abbrechen?

Erfolgreiche Arbeit in einer ungewöhnlichen Organisation mit einem unmöglichen Beruf Das gemeinsam vom BAMF, der BAfF und der DGSv verantwortete Projekt »Qualitätsentwicklung und Belastungsvorsorge – vertiefte Qualifizierung und Supervision für Entscheider/-innen im Asylprozess« kann als gelungen bewertet werden: Alle Beteiligten konstatieren eine positive Wirkung von Supervision, weit über zwei Drittel der Teilnehmenden sagen, dass sie seit ihrer Teilnahme am Projekt ihre Arbeit wieder wertschätzen können. Bemerkenswert bleiben Pioniergeist und Mut der BAfF, ein solches Kooperationsprojekt zu denken, zu planen und durchzuführen. Die Entscheider/-innen und ihre Organisation BAMF haben sich jeweils auf ihre Weise mutig auf dieses Projekt eingelassen. Die Entscheider/-innen zeigten Mut, weil sie sich einem Beratungsprozess öffneten, der die eigene Persönlichkeit fokussiert. Die Organisation BAMF hat sich mutig auf ein gewagtes Kooperationsprojekt mit ungewissem Ausgang eingelassen. Dafür, dass die Kooperation gelang und die Ziele erreicht wurden, ist aber nicht zuletzt auch den Supervisor/-innen der DGSv zu danken. Zum Schluss spricht – stellvertretend – ein Supervisor den Teilnehmenden seine Anerkennung für die intensiven Auseinandersetzungen in den Gruppensupervisionen aus: »Ich war immer wieder beeindruckt von diesen intensiven Auseinandersetzungen der Entscheider mit ihrer Thematik und auch mit diesem sehr positi-

Mehr Supervision wagen129 ven Charakter, den diese Berufsgruppe hat; dieses Wollen, immer die richtige Entscheidung zu treffen, immer individuell richtig zu entscheiden. Dies ist wirklich die allerallergrößte Aufgabe, wenn man davon ausgeht, dass es eigentlich keine lösbare Aufgabe ist. Ich muss feststellen, dass diese nicht lösbare Aufgabe unheimlich gut bewältigt wird.«

Literatur Dahlkamp, J. (2014). Im Vorzimmer. Der Spiegel, 15/2014. Zugriff am 29. 09. 2014 unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126427241.html Mayring, P. (2003). Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. Weinheim: Beltz. Yalom, I. D. (1996). Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. München: Pfeiffer.

Edmund Görtler Leiter des MODUS-Instituts für Wirtschafts- und Sozialforschung

Prädikat: besonders wertvoll – die Ergebnisse der Evaluation

Meist setzt sich die Evaluation als Ziel, ein Projekt als Ganzes oder in einzelnen Etappen zu beurteilen, wobei die langfristige Wirkung berücksichtigt werden sollte. Die Evaluation dieses Projekts sprengte den Rahmen der reinen Ergebnis- bzw. Prozessevaluation. Sie bewertete zwar auch den Erfolg von Strukturen, Veränderungen und die Vermittlung von Fertigkeiten und Prozessen. Darüber hinaus beleuchtete sie aber auch die indirekten, subtilen Effekte des Zusammenspiels der beiden Kooperationspartner/-innen, des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e. V. (BAfF). Im Wesentlichen wollte das Projekt herausfinden, wie sich mittels Training und Coaching sowie Supervision Ressourcen zur Entlastung gewinnen und nachhaltig etablieren lassen. Im Detail sollten unter anderem beurteilt werden: die Gewinnung neuer Möglichkeiten im Umgang mit konflikthaften Situationen, strukturelle Verbesserungen, die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Implementierung der Ressourcengewinnung, erfolgreiche individuelle Strategien der Belastungsvorsorge sowie alle intendierten und nichtintendierten direkten und indirekten Effekte des Projekts. Zielgruppen waren unmittelbar die Entscheider/-innen im Asylverfahren (Umgang mit Stress und Belastungen, Ressourcengewinnung etc.) sowie mittelbar die Asylbewerber/-innen (durch Qualitätssicherung sachgerechter Anhörungen etc.). Die intendierten Verbesserungen für die Entscheider/-innen lagen unter anderem in der erfolgreichen Vermittlung von Reflexionsstrategien der eigenen Arbeit. Auch die Kenntnis von Traumata und der Sichtweise der Asylbewerber/-innen sollte erworben werden, um einen Perspektivenwechsel zu ermöglichen. Das Erlernen von Strategien zur Krisen- und Stressbewältigung war ebenso wichtig wie der Austausch mit anderen Entscheider/-innen, die Begleitung bei Problemen sowie der Aufbau und die langfristige Nutzung eigener Ressourcen, um die Anstrengungen der täglichen Arbeit langfristig besser bewältigen zu können.

Prädikat: besonders wertvoll – die Ergebnisse der Evaluation 131

Umfassende Einschätzungen Neben den üblichen Bewertungskriterien (Zielerreichung, Beurteilung des Projektverlaufs etc.) sah das Projekt vor, eine Evaluation von Trainings- und Coachingmaßnahmen sowie Supervisionsgruppen durchzuführen. Dabei wurden Befragungen von Teilnehmenden zu unterschiedlichen Messzeitpunkten einbezogen. Für jede Gruppe wurden eigene schriftliche, standardisierte Fragebögen entwickelt, die den Teilnehmenden der Trainings- und Coachingmaßnahmen bei allen Trainings und den Teilnehmenden an Supervisionsgruppen zu Beginn und Ende der Sitzungen vorgelegt wurden. Um die Nachhaltigkeit der Maßnahmen zu überprüfen, wurde den Teilnehmenden nach vier bis sechs Monaten ein ebenfalls standardisierter Evaluationsfragebogen zugeschickt. In den Fragebögen wurden die Inhalte, Methoden, praktischen Übungen etc. bewertet, die Bedeutung für die eigene Arbeit eingeschätzt, Erwartungen und deren Erfüllung dargelegt, die Auswirkungen auf den Arbeitsalltag bzw. die eigene Persönlichkeit erkannt sowie Verbesserungen für die Zukunft und Wünsche mitgeteilt. Somit konnte man die Wirkung der Trainings und Coachings sowie der Supervisionsgruppen umfassend einschätzen. Spezifisches Augenmerk wurde bei der Analyse auf Veränderungen und erfolgreiche Strategien zur Stress- und Krisenbewältigung gelegt. Die Rücklaufquoten betrugen bei den Datenerhebungen zu Beginn und Ende der Trainings und Coachings sowie der Supervisionsgruppen jeweils mehr als 95 %, die Rücklaufquote bei den Fragebögen nach vier bis sechs Monaten lag bei 72 %. Flankiert wurden die Befragungen von der evaluatorischen Begleitung zweier Gesamtkonferenzen, von mehreren Teilnahmen an Lenkungsausschusssitzungen, der Evaluation begleitender Veranstaltungen, Materialien und Unterlagen (zum Beispiel der zeitlichen Organisation, der Konzeptgruppe, Supervisor/-innen-Pool) sowie von Expert/-innenbefragungen mit den Projektpartner/-innen. Gerade die Befragung der Projektpartner/-innen erwies sich als sehr ergiebig, konnten so doch viele Bewertungen der Teilnehmenden von Trainings und Coachings sowie der Supervisionsgruppen in den Rahmen des Gesamtprojekts gestellt werden. Der Leitfaden für die Expert/-innenbefragungen enthielt Fragen zu Erwartungen und Zielen der jeweiligen Akteur/-innen, Einschätzungen der Organisation, des Projektverlaufs, zur Vernetzung und Finanzierung, zur Gesamtbeurteilung des Projekts sowie der Bewertungsgrundlage, zur Nachhaltigkeit, zur Zielerreichung, zu guten und ungünstigen Beispielen, zu Interesse an einer Weiterführung sowie zu Verbesserungsmöglichkeiten.

132  Edmund Görtler

Wertvolle Anregungen für die Praxis Zu Beginn der Seminare waren den Teilnehmenden besonders der Erfahrungsaustausch, der Informationsgehalt sowie die Praxisrelevanz für den Arbeitsalltag wichtig. Die Erwartungen an das Seminar lagen insbesondere in der Krisen- und Stressbewältigung. Die Teilnehmenden wollten nach eigenen Aussagen neben dem »Erfahrungsaustausch über Problemstellungen im Arbeitsalltag« auch »Stressbewältigungsstrategien erlernen, eigene Ressourcen erkennen können« oder »den Umgang mit Folteropfern analysieren«. Diese Erwartungen wurden weitestgehend erfüllt. Unmittelbar nach Beendigung des Seminars waren die Teilnehmenden überwiegend sehr zufrieden. Der Erfahrungsaustausch mit Kolleg/-innen, die Arbeitsatmosphäre sowie die Möglichkeit, eigene Problemstellungen einzubringen, wurden besonders positiv hervorgehoben. Die Übungen bzw. Rollenspiele sprachen jedoch nicht alle Teilnehmenden gleich an. Die Einschätzung der Veränderungen der eigenen Person bzw. der eigenen Arbeit fiel erwartungsgemäß überwiegend neutral aus. Allerdings zeigten sich erste positive Wirkungen auf den Zugang zu den eigenen Ressourcen zur Erholung sowie auf den souveräneren Umgang mit Problemfällen. Dieses positive Bild vermittelten auch die Einschätzungen nach vier bis sechs Monaten. Auch hier wurde vom größten Anteil der Teilnehmenden der Erwerb sinnvollen Wissens sowie der vermittelte Inhalt als umfassend eingeschätzt. Bedeutsam für die Beurteilung der Projektnachhaltigkeit ist die Meinung der Teilnehmenden, dass das Seminar sie zur kritischen Auseinandersetzung mit der Praxis angeregt hat und sie Sicherheit in der Anwendung der Inhalte erworben haben. Viele konnten wertvolle Anregungen für die Praxis mitnehmen.

Trainings und Coachings als Garanten für höhere Arbeitszufriedenheit Einen Kern der Bewertung der Trainings und Coachings stellten die Selbsteinschätzungen der Seminarteilnehmenden dar – und zwar hinsichtlich verschiedener Attribute, wie zum Beispiel Arbeitszufriedenheit, Ressourcenzugang und Umgang mit Problemfällen (siehe Abbildung 1). Die Ergebnisse zeigen, dass eine etwas größere Unzufriedenheit am Ende der Seminare zu verzeichnen war. Dies kann dadurch zustande kommen, dass durch die intensive Betrachtung der eigenen Arbeit oder der Reflexion des eigenen Umgangs mit Ressourcen die Arbeit als belastend

Prädikat: besonders wertvoll – die Ergebnisse der Evaluation 133

empfunden wird. Wie die Betrachtung der Einschätzung zum Zeitpunkt nach vier bis sechs Monaten zeigte, ist diese Unzufriedenheit allerdings nur vorübergehend. Nach vier bis sechs Monaten hat die Zufriedenheit mit der Arbeit gegenüber dem Ausgangsniveau deutlich zugenommen. Das heißt, die erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse während der Seminare wirkten sich in der Anwendung in der täglichen Praxis positiv auf die Arbeitszufriedenheit aus. Deutliche Verbesserungen sowohl unmittelbar nach Beendigung der Seminare als auch nach vier bis sechs Monaten zeigten sich vor allem beim Umgang mit Problemfällen, der deutlich souveräner eingestuft wurde; außerdem bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen, die durch die Teilnahme an den Seminaren als viel qualifizierter eingeschätzt wurden. Der Umgang mit den Bewerber/-innen wurde am Ende der Seminare als distanzierter bewertet. Diese Einschätzung verstärkte sich mit zunehmendem Abstand vom Ende der Seminare. Die Einschätzung, dass der Umgang mit Bewerber/-innen distanzierter beurteilt wird, ist allerdings nicht per se als negativ zu bewerten. Die Alternative – ein mitfühlender Umgang – kann ebenfalls problematisch sein. Entscheidend ist, dass es den Entscheider/-innen gelingt, durch ihre Haltung den Bewerber/-innen gegenüber zu gerechten und fundierten Einschätzungen zu gelangen.

Abbildung 1: Selbsteinschätzungen der Seminarteilnehmenden. Quelle: MODUS 2014.

Die Beurteilung der Seminare nach vier bis sechs Monaten ist insgesamt sehr positiv ausgefallen. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit

134  Edmund Görtler der Arbeit zeigte sich, dass das vermittelte Wissen bei den Teilnehmenden auch langfristige Wirkung zeigt, sowohl was den Umgang mit den eigenen Ressourcen als auch den Umgang mit Problemfällen oder der Arbeitsweise betrifft. Positiv zu nennen ist der hohe Anteil derjenigen, die die Seminare weiterempfehlen würden, sowie derjenigen, die auch nach einem halben Jahr noch zufrieden sind mit dem, was sie in den Seminaren gelernt haben.

Supervision als Garant für mehr Gelassenheit und Resilienz Zu Beginn der Supervisionsgruppen waren den Teilnehmenden besonders die Praxisrelevanz bzw. die Relevanz der Supervision für den Arbeitsalltag, die Motivation des Supervisors bzw. der Supervisorin, der Erfahrungsaustausch mit der Gruppe sowie die Einarbeitung eigener Problemlösungskompetenzen wichtig. Stressbewältigung und Konfliktmanagement standen ebenfalls im Vordergrund. Diese Erwartungen konnten auch in den Supervisionsgruppen zumeist erfüllt werden. So wurden in den Supervisionsgruppen schwierige Erlebnisse besprochen; die überwiegende Mehrheit konstatierte eine größere Gelassenheit gegenüber den Anforderungen des Berufs. Bedeutsam für die Teilnehmenden waren auch der Zugang zu persönlichen Ressourcen, die Offenheit gegenüber Problemfällen und die stärkere Belastbarkeit für den Arbeitsalltag. Am Ende der Supervisionsgruppen stand eine rundum positive Beurteilung der Teilnehmenden. Insgesamt waren nach Beendigung der zehn Sitzungen 94 % der Teilnehmenden zufrieden. Besonders gut bewertet wurden die Motivation der Supervisor/-innen, der Erfahrungsaustausch mit der Gruppe sowie die Selbstreflexion und Reflexion der eigenen Tätigkeit. Die Teilnehmenden schätzten die Supervision als sehr wichtig für die tägliche Arbeit ein. Besonders positiv wurde gesehen, dass eigene schwierige Erlebnisse besprochen werden konnten sowie die Problemschilderungen von anderen, aus denen wertvolle Hinweise für eigene Lösungsstrategien abgeleitet werden konnten.

Viel Potenzial für eine langfristige Kooperation Um detaillierte Erkenntnisse über das Projekt zu erhalten, wurden die Projektbeteiligten mittels Expert/-innenbefragungen in die Evaluation

Prädikat: besonders wertvoll – die Ergebnisse der Evaluation 135

einbezogen. Das generelle Ziel, eine spürbare langfristige Entlastung für die Entscheider/-innen zu erreichen und vermehrt individuelle Ressourcen zur Stressbewältigung zur Verfügung zu stellen, wurde von den Expert/-innen als positiv umgesetzt angesehen. Von den Teilzielen konnten das Aufeinanderzugehen (Projektpartner/-innen und Entscheider/-innen) und das Überwinden von Gräben erreicht werden. Außerdem kann die Verstetigung der Supervision als Erfolg gewertet werden; und auch dass das Konzept praktikabel und umsetzbar ist, gehört zur Zielerreichung. Zudem sprach das Konzept nicht nur diejenigen Entscheider/-innen an, die auf eine langjährige Entscheider/-innenkarriere zurückblicken, sondern auch diejenigen, die neu dabei sind. Die positive Darstellung der Entscheider/-innen in Gesprächen unterstreicht, dass das Ziel der Akzeptanz unter den Entscheider/-innen erreicht wurde. Generell ist die Zusammenarbeit der Projektpartner/-innen als sehr gut zu bewerten. Hilfreich für die erfolgreiche Durchführung des Projekts waren die Sitzungen des Lenkungsausschusses, in denen notwendige organisatorische Anpassungen rechtzeitig geklärt und besprochen werden konnten, was zu einem gemeinsamen, zielgerichteten Vorgehen führte. Von allen Seiten wurde die Arbeit in den Lenkungsausschusssitzungen sowie das Interesse an der Zusammenarbeit und am Gelingen des Projekts als sehr hoch eingeschätzt. Gleiches gilt für die Vernetzung zwischen den Organisationen und Trainer/-innen sowie Supervisor/-innen. Auch hier wurden Strukturen geschaffen, die das Potenzial für eine langfristige Kooperation ermöglichen. Besonders hervorgehoben wurde die Rolle der DGSv, die als sehr produktiv und hochengagiert dargestellt wurde. Bei den Supervisor/-innen, die als neutrale Personen (ohne BAMF- oder BAfF-Zugehörigkeit) agierten, konnte ein unabhängiger Prozess stattfinden; hier war der Austausch der einzelnen Personen untereinander bzw. mit den Projektpartner/-innen eher gering. Die Dozent/-innen der Trainings und Coachings (die sich aus Organisationen zur Unterstützung von Asylbewerber/innen rekrutierten) entwickelten in Konzeptgruppen (von der BAfF organisiert) einheitliche Schulungsinstrumente, die jedoch nach Bedarf angepasst werden konnten. Durch diese Konstellation befanden sich die Dozent/-innen in einem zum Teil deutlich erkennbaren Spannungsfeld der unterschiedlichen Sichtweisen. Zum einen erkannten sie den Stress der Entscheider/-innen und versuchten, ihnen Instrumente zur Entlastung zu vermitteln. Gleichzeitig sollten und wollten sie jedoch auch die Seite der Asylbewerber/-innen in die Trainings und Coachings einbringen. Aus diesem Spannungsfeld ergab sich jedoch auch eine Chance auf gegenseitiges Erkennen von Mustern und Funktionen, die oftmals als für die Entscheider/-innen gewinnbringend angesehen wurden.

136  Edmund Görtler

Erfreulich nachhaltig Die Nachhaltigkeit des Projekts zeigt sich in erster Linie daran, dass sowohl die Supervision als auch die Trainings und Coachings vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für mindestens drei weitere Jahre fortgeführt werden sollen. Für den langfristigen Erfolg ist es sinnvoll, dass das bisherige Schulungskonzept beibehalten wird. Zum Teil wurde der Erfolg damit begründet, dass die Entscheider/-innen Einblick in die »andere Seite« erhielten, sodass die Entscheidungen unter Berücksichtigung verschiedener Sichtweisen und damit »sachlich-objektiver« und »professioneller« erfolgen konnten. Als Themen sollten weiterhin Stressbewältigung und der Umgang mit traumatischen Krisen bei Flüchtlingen integriert werden. Das Konzept der Supervision sollte aufgrund des großen Erfolgs so beibehalten werden. Zur Nachhaltigkeit gehört auch, inwieweit die Instrumente von den Entscheider/-innen über die Projektteilnahme hinaus weiter genutzt werden. Für manche wäre allerdings eine Vertiefung oder nochmalige Teilnahme sinnvoll und wichtig, um die Instrumente langfristig zu implementieren. Und um die Gefahr zu minimieren, dass bei höherem Druck oder im Arbeitsalltag die Ressourcen überlagert oder in den Hintergrund gedrängt werden. Bei der Umsetzung der Zielvorgaben wurde klar erkennbar, dass es der Implementierung von kontinuierlichen Maßnahmen des Qualitätsmanagements, der Qualitätssicherung und Belastungsvorsorge für die Entscheider/-innen durch unter anderem Schulungen, Trainings, Coachings und Supervision bedarf. Darüber hinaus ist es notwendig, dass die Entscheider/-innen befähigt werden, eigene Ressourcen wahrzunehmen, Wege der Entlastung zu erkennen und umzusetzen. Das mutige und sinnvolle Projekt kann als großer Erfolg eingeschätzt werden. Positiv ist auch zu sehen, dass das Projekt weitergeführt wird. Weitere positive Aspekte des Projekts sind: das positive persönliche Feedback der Teilnehmenden von Supervision und Training und Coaching, das Verständnis füreinander, der Abbau von Vorurteilen, die Verbesserung des Organisationsprofils, die sehr positiven Evaluationsergebnisse, das Interesse der Entscheider/-innen und Projektpartner/-innen an Weiterführung, die Implementation des Ressourcenzugangs der Entscheider/-innen, die Minderung des Drucks auf Entscheider/-innen sowie das Interesse an einer Teilnahme von unterschiedlichen Gruppen von Entscheider/-innen (Durchmischung nach Alter, Geschlecht, Dauer der Entscheidertätigkeit etc.). Abbildung 2 gibt eine Übersicht über die Evaluation.

Prädikat: besonders wertvoll – die Ergebnisse der Evaluation 137 Evaluation Projektpartner

BAMF DGSv

BAfF Supervisor/-innen

Trainer/-innen und Coaches

Sehr gute Zusammenarbeit, hohe Problemlösungskompetenz, erfolgreiche Organisation

Seminare und Supervisionen Arbeitszufriedenheit R Beruflicher Druck T Enscheidungsprozess E Umgang mit Bewerber/-innen R Umgang mit Problemfällen E Ressourcenzugriff E Arbeitsweise E Wertschätzung E Gelassenheit E

Positive Wirkungen R

Vernetzung Nachhaltigkeit

R R R

Verminderung des Spannungs­ felds, Abbau von Vorurteilen Weiterführung von Trainings und Coachings sowie Supervision

Sehr erfolgreich, große Nachhaltigkeit, Zugriff auf eigene Ressourcen erfolgreich, positive Sicht auf die Arbeit, Sichtweise der Asylbewerber/-innen ermöglicht

Abbildung 2: Übersicht Evaluation. Quelle: MODUS 2014.

Ein Erfolg mit Nachwirkungen Als Fazit lässt sich festhalten, dass die angestrebten Ziele erreicht wurden und der Zugang zu den persönlichen Ressourcen nachhaltig implementiert wurde. Nach den vier klassischen Evaluationsstufen resultiert eine sehr hohe Zufriedenheit, die Fähigkeiten (Ressourcengewinnung, Belastungsvorsorge etc.) wurden verbessert, und positive Verhaltensänderungen mit Blick auf Asylbewerber/-innen ergeben sich durch eingeübte Perspektivenwechsel. Die ersten nachhaltigen Ergebnisse haben sich darüber hinaus bereits nach einem halben Jahr gezeigt, wenn Stressvorbeugung und Krisenmanagement erfolgreich in die tägliche Arbeit implementiert wurden. Es ist also möglich und es gelang, zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen auf den Bereich der Entscheidungen im Asylprozess nicht nur einmalig operativ, sondern auch inhaltlich und nachhaltig zu vereinen. Das kann als einer der größten Gewinne dieses Projekts angesehen werden. Literatur DeGEval – Gesellschaft für Evaluation e. V. (Hrsg.) (2008). Standards für Evaluation (4. Aufl.). Mainz: o. V. Kirkpatrick, D., Kirkpatrick, J. (2006). Evaluating Training Programs: The Four Levels (3rd ed.). New York: Mcgraw-Hill. Yarbrough, D. B., Hopson, R. K., Shulha, L. M. (2010). The Program Evaluation Standards. A Guide for Evaluators and Evaluation Users (3rd ed.). Thousand Oaks, CA: SAGE Publications. Widmer, T. (2009). Evaluation: Ein systematisches Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Jenny Baron und Silvia Schriefers Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer

Verwaltung in Bewegung: Diskussion und Ausblick »Verwaltung ist Beziehung zu Menschen, die etwas wollen« – so hat es Jörg Fellermann in seinem Rückblick auf unser gemeinsames Projekt formuliert. Und das Verwaltungshandeln innerhalb der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stellt seine Akteur/-innen vor komplexe Entwicklungsaufgaben. Denn die tiefgreifenden Ökonomisierungs- und Rationalisierungsprozesse verschonen auch die Entscheider/-innen im Asylverfahren nicht: Mit dem Einzug marktwirtschaftlich orientierter Steuerungsmodelle wird die Qualität ihrer Arbeit mehr und mehr in den Kategorien der Effektivität und Effizienz gefasst, jeder Einzelne und jede Einzelne wird in ihrer Tätigkeit für die Behörde auch und vor allem leistungs- und wirtschaftlichkeitsorientiert gemessen. Und das vor dem Hintergrund der Eskalation bewaffneter Konflikte, des Handels mit Menschen, des Kampfs um Rohstoffe und Land in immer mehr Teilen der Welt: Die Flüchtlingszahlen in Europa werden weiterhin steigen. Damit wächst auch die Verantwortung der Europäischen Union – insbesondere auch ihres wirtschaftsstärksten Mitglieds Deutschland. Die Pflicht zur Wahrung der Menschenrechte – hier und in den Krisenregionen dieser Welt – wird weiterhin und zunehmend gefragt sein. Die Strukturen und Prozesse der Asylverwaltung stehen somit unter hohem Veränderungsdruck. Die Arbeitsbelastung für die Einzelnen steigt nicht nur quantitativ. Strukturelle Veränderungen und vor allem auch sich verändernde und zugleich hochumstrittene gesellschaftliche Perspektiven auf das Menschenrecht auf Asyl stellen Mitarbeitende des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor widersprüchliche Anforderungen. Sie verlangen von jedem einzelnen Entscheider und jeder einzelnen Entscheiderin immer wieder eine Aktualisierung ihrer je persönlichen Position zum Gegenstand ihrer Arbeit – zu Menschen, die in der Bundesrepublik Asyl suchen. Veränderungen machen soziale Systeme, wie es auch Institutionen der Verwaltung sind, zunächst zwangsläufig fragiler. Sie verunsichern. Das gilt ganz besonders für Strukturen, in denen Sicherheit ein hohes Gut ist.

Verwaltung in Bewegung: Diskussion und Ausblick 139

Und das ist es ganz besonders in der Asylverwaltung: Flüchtlinge suchen Sicherheit vor der unmenschlichen Behandlung, die ihnen in ihren Herkunftsländern widerfahren ist. Entscheider/-innen im Asylverfahren hat unter anderem genau die Sicherheit, die ihnen eine Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung verspricht, für ihren Job motiviert. Was macht es mit Akteur/-innen in der Verwaltung, wenn sie konfrontiert sind mit dem Abschied von bislang sicheren Routinen; mit der gesellschaftlichen Forderung nach maximaler Leistungsfähigkeit und der Auflösung traditioneller Organisationsformen in der Verwaltung? Wie können sie Verunsicherung und Überforderung durch institutionelle Veränderungen, zum Beispiel durch die Verknappung von Ressourcen, begegnen? Veränderungen können Angst erzeugen – Angst vor zunehmender Komplexität, Angst vor Erschöpfung, aber auch Angst, sich verändernde Anforderungen nicht gut genug zu erfüllen, Entscheidungen zu treffen, die für mich und andere negative Konsequenzen haben können. Zugleich bieten Veränderungen aber die Chance, schwierige Dynamiken neu zu denken und Verstrickungen zu entwirren. So stand in diesem Projekt das Interesse, Lösungen für steigende Krankheitsausfälle und die zunehmende Belastung von Mitarbeitenden einer Bundesbehörde zu finden, dem Anliegen gegenüber, Veränderungen im Umgang mit Geflüchteten im Asylverfahren voranzutreiben. Das gemeinsame Ziel lautete: öffentliche Verwaltung in Bewegung zu bringen.

»Wie könnt ihr so etwas tun?« Die Entscheidung der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF), sich gemeinsam mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) – das bislang mit den Psychosozialen Zentren in eher antagonistischer Beziehung stand – in ein Projekt zu begeben, in dem Entscheider/-innen des Bundesamts supervidiert, gecoacht und geschult werden sollten, war eine Entscheidung mit Sprengkraft. Sie rief auf beiden Seiten heftige Reaktionen hervor. Die Suche nach Dozent/-innen für die Trainings und Coachings innerhalb der Mitgliedszentren der BAfF war mit Kontroversen und Auseinandersetzungen verbunden. Es gab eine deutliche Abwehrhaltung aus den Zentren: Man wollte die parteiische Rolle für die Flüchtlinge nicht verlassen. Man hatte keine Lust, »zum Wohlbefinden, zur Psychohygiene« von Beamt/-innen beizutragen, mit denen man nicht selten in Konflikt steht, weil sie zum Beispiel verheerende Entscheidungen über das Schicksal der eigenen Klient/-innen treffen.

140  Jenny Baron und Silvia Schriefers Auch im Hause des BAMF ging es hoch her. Die Ankündigung der Fortbildungsmaßnahme wurde innerhalb und zwischen den Abteilungen heiß diskutiert, der Betriebsrat schaltete sich ein und prüfte, ob Gelder des Etats für Fortbildungen von diesem Veranstalter – der BAfF – sinnvoll verwendet sind. Es bedurfte eines neutralen Partners, einer unabhängigen Fachgesellschaft – in diesem Falle der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSv) – als Vermittlerin und »Überzeugungstäterin«. Die DGSv hat die Unterstützung der Entscheider/-innen durch Training, Coaching und Supervision salonfähig gemacht. So konnte objektiv klargestellt werden, dass Supervision ein normaler Bestandteil der Mitarbeiterförderung in jeder Form von Unternehmen, auch der Verwaltungen, ist – keine Besonderheit, die nur in Krisensituationen zu Hilfe geholt werden muss. Veränderungsprozesse sind nicht nur vor dem Hintergrund von Schwachstellen oder Defiziten zu fördern, sie sind kein »Nachhilfe«-Programm, sondern ein selbstverständlicher Motor institutionellen Fortschritts und individueller Weiterentwicklung. Auch unter den Entscheider/-innen selbst wurde heftig diskutiert. Die Rückkehr der ersten Teilnehmenden aus den Trainings und Coachings sowie der Supervision wurde von den Kolleg/-innen neugierig erwartet: »Die ganze Abteilung hat mich vor der Fortbildung gewarnt. Ich kann sie nur weiterempfehlen. Das sollte eine Pflichtveranstaltung sein.« Ein anderer Teilnehmer: »Das hätte man vor dreißig Jahren benötigt.« Die positive Resonanz auf die Fortbildungsmaßnahmen und auch die Ergebnisse der externen Evaluation sprechen eine deutliche Sprache. Veranstalter/-innen und Teilnehmer/-innen wünschen sich eine Fortführung der Fortbildungsprogramme, fanden sie gut und wichtig. Was aber genau war denn eigentlich so erfolgreich? Welche (Aus-) Wirkungen hat das Projekt gehabt? Hat die BAfF als Menschenrechtsorganisation dazu beigetragen, dass die Entscheider/-innen Asyl, deren Aufgabe es ist, über die Asylanträge von Flüchtlingen zu entscheiden, ihre Arbeit jetzt stress- und sorgenfreier ausführen können? Und nun trotz widersprüchlicher Anforderungen und deren gesellschaftspolitischer Verstrickungen besser schlafen können? Haben wir dazu beigetragen, dem Beruf des Entscheiders zu einer neuen Wertschätzung und Anerkennung zu verhelfen? Wollen wir das? Was heißt das, wenn die Entscheider/-innen ihre Arbeitsaufgaben gut erfüllen? Heißt es, dass sie die Quoten erfüllen, also nun innerhalb kürzester Zeit möglichst viele Asylsuchende anhören und über ihre weitere Existenz entscheiden können? Oder heißt es, dass die Qualität der Entscheidungen jetzt eine andere ist?

Verwaltung in Bewegung: Diskussion und Ausblick 141

Was aus Sicht der BAfF erreicht wurde Menschen, die derart verantwortungsvolle Entscheidungen treffen (müssen) wie die Entscheider/-innen Asyl, brauchen Unterstützung. Innerhalb der gegebenen Bedingungen ist es wichtig, dass die BAfF, die die Anliegen von Geflüchteten unterstützt, sich der damit verbundenen Auseinandersetzung nicht in Abwehr entzieht, sondern in den Dialog tritt und versucht, Einfluss zu nehmen und Veränderungen anzustoßen. Abstrakter betrachtet bedeutet das: Als zivilgesellschaftliche Interessengruppe muss die BAfF Verwaltung in ihrer doppelten Verfasstheit wahrnehmen und ansprechen. In ihrer Bestimmung zur Verwirklichung des Gemeinwohls – im Sinne der Staatsverwirklichung, also als Inbegriff von Öffentlichkeit. Und zugleich als ihr Gegenbegriff, der eine außer ihr stehende öffentliche Sphäre, eine Kontrollinstanz, ein zivilgesellschaftliches Regulativ der Verwaltung nötig macht, das staatlicher Willkür vorbeugt. Für die Verwaltung des Rechts auf Asyl heißt das, dass dem Asylrecht als ursprüngliche Idee und Aufgabe ethisch-moralische Prinzipien zugrunde liegen, die dem allgemeinen Menschenrechtsgedanken entspringen. Als Bearbeiter/-in von Anträgen auf dieses Recht auf Asyl hantiere ich jedoch häufig mit einander gegenüberstehenden Werten und Auswahlkriterien, muss Solidarität und humanitäre Werte abwägen gegen Selektionsprozesse und innenpolitische Vorgaben der Abwehr und der Migrationssteuerung. Ich handele also immer entlang der artifiziellen Trennung von politischen von vermeintlich wirtschaftlichen Migrationsmotiven. Nimmt man die Entscheider/-innen als Akteur/-innen der öffentlichen Verwaltung mit ihren konkreten Anliegen und Nöten im Vermittlungskontext zwischen Staat und Öffentlichkeit nicht ernst, dann schwindet die Chance, dass sie mit Offenheit und Sensibilität auf Fremdes, auf Verunsicherndes, auf Forderungen zum Beispiel der Menschenrechtsbewegung reagieren. Um Räume des Nachdenkens und der Auseinandersetzung zu öffnen, muss der Sprung gewagt und der klassische Antagonismus »gute Helfer/-innen« versus »böse Entscheider/-innen« infrage gestellt werden. Das haben Training, Coaching und Supervision erreicht: die Loslösung des eindimensionalen und personalisierenden Denkens hin zu einer gemeinsamen Arbeit daran, wie die Anhörungssituation erlebt wird und wie sie vielleicht besser bewältigt werden kann. Für Entscheider/-innen boten die angebotenen Maßnahmen einen geschützten Raum des Nachdenkens und der Reflexion über die eigene Tätigkeit – außerhalb des weisungsgebundenen Kontextes.

142  Jenny Baron und Silvia Schriefers

Belastungen und Engpässe Die Belastungen der Entscheider/-innen sowohl in Bezug auf ihren spezifischen Aufgabenbereich als auch als Angestellte innerhalb dieser Bundesbehörde sind vielfältig. So gibt es Konflikte auf struktureller Ebene, die sich entschärfen ließen, wenn Einzelentscheider/-innen mehr Kapazität für qualitätssichernde (Nach-)Fragen zum Beispiel bei den Geflüchteten, bei Behandler/-innen oder Rechtsanwält/-innen hätten. Auch zeigte sich, dass neben der knappen Zeit der fehlende Raum für Kontakt und Austausch mit Kolleg/-innen – zum Beispiel organisiert im Rahmen von Teamsitzungen oder auch inoffiziell in Teeküchen, Mitarbeiterräumen etc. – eine wichtige strukturelle Quelle von Belastung darstellt. Soll die psychische Stabilität und damit verbunden auch die Qualität der Asylentscheidungen gewahrt bleiben, dann müssen – so lehren es uns die Projekterfahrungen – für personale Engpässe und knappe Ressourcen Lösungen nicht auf ausführender, sondern auf übergeordneter Ebene gefunden werden. Besonders deutlich zeigte sich dies, als auch unser Projekt für kurze Zeit eine Zwangspause einlegen musste: Das Bundesamt setzte vor dem Hintergrund steigender Flüchtlingszahlen die Fortbildungen – in Krisenzeiten notwendiger denn je – aus. Währenddessen wurden Personalknappheit und Krankenstände mit Beamten/-innen aus völlig anderen Arbeitsbereichen kompensiert. Einer solchen Entwicklung, in der Ressourcen zu Lasten der Einführung von Qualitäts- und Personalentwicklungsmaßnahmen verteilt werden, muss entschieden entgegengewirkt werden. Sie zeigt zudem deutlich, dass Fortbildungs- und Supervisionsmaßnahmen als Begleitung konzeptioneller Weiterentwicklungen und struktureller Veränderungsprozesse gedacht werden müssen.

Handlungsräume oder mangelnde Belastbarkeit? Neben den eher strukturell bedingten Belastungen gibt es für die Entscheider/-innen auch Belastungen, die aus der konkreten Anhörungssituation und der existenziellen Bedeutung der Anhörung für die Geflüchteten resultieren, beispielsweise wahrgenommene Aggressionen oder Bedrohungen, der Umgang mit »Lügengeschichten« oder Besonderheiten der Kommunikation mit Menschen, die unter hohem Druck und Stress stehen. Beide Quellen der Belastung stehen in engem Zusammenhang und können sich wechselseitig negativ beeinflussen. Wenn eine Entscheiderin die Anhörung des kranken Kollegen mit übernehmen muss

Verwaltung in Bewegung: Diskussion und Ausblick 143

und der Personalausfall nicht kompensiert werden kann, entsteht für die Entscheiderin zusätzlicher Arbeitsdruck, der die Handlungsräume innerhalb der nächsten Anhörungssituation einengt; und der sicherlich Auswirkungen auf das (Nach-)Frageverhalten der Entscheiderin hat. Doch trotz des eng strukturierten Kontextes und teilweise ungünstiger Arbeitsbedingungen haben die Entscheider/-innen Handlungsspielräume, sich so oder auch anders zu verhalten. Auch dies haben die Schulungen gezeigt. Es gab große Unterschiede darin, wie die einzelnen Entscheider/-innen den strukturellen Rahmen auslegen und nutzen. So verlaufen Veränderungen in der Verwaltung immer auch entlang bestimmter Hierarchien. Während für das Supervisionsvorhaben diskutiert wurde, dass Reflexionsräume am effektivsten sind, wenn keine Vermischung der hierarchischen Rollen gegeben ist, wurde für die Fortbildungen und Coachings auf eine Kontrollinstanz, auf die Anwesenheit einer beobachtenden hierarchisch übergeordneten Person bestanden. Das durchaus verständliche Anliegen, Inhalt und Qualität der Fortbildungen zu beobachten, war bei der Art von Lernen und Reflektieren, die auch für persönliche Problemstellungen offen sein sollte, eher kontraproduktiv. Es hat in den Trainings und Coachings ganz sicher Einfluss genommen auf die Möglichkeiten der Entscheider/-innen, sich mit bestimmten Konflikten offen auseinanderzusetzen. Beim zweiten Durchlauf des Schulungsprogramms wurde dann größtenteils auch auf diese Kontrollinstanz verzichtet. Dieser Aspekt macht deutlich, dass Institutionen (und auch Organisationen) strukturell immer auch um Macht und Ohnmacht – und um Kontrolle – organisiert sind, die den Einzelnen in seinen Handlungs- und auch Reflexionsmöglichkeiten begrenzen, dass zum Beispiel Supervision jedoch gerade von der Offenheit lebt, die sich dann entfalten kann, wenn sie sich in gewisser Weise »der Zensur entzieht«.

Raus aus dem Unmittelbarkeitsdenken So zeigte sich in den Trainings und Coachings, dass es auch innerhalb eines weisungsgebundenen Kontextes möglich ist, Menschen dabei zu unterstützen, aus einem »Unmittelbarkeitsdenken« herauszutreten. Also aus einem Denken, in welchem die individuell vorhandenen Belastungen und Konflikte verhandelt werden, ohne sie in Beziehung zur ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit zu setzen. »Objektive Beschränkungen«, hier zum Beispiel durch die Personalpolitik der Institution, werden dabei in »subjektive Beschränktheiten«, umgedeutet (Holzkamp, 1983),

144  Jenny Baron und Silvia Schriefers wenn zum Beispiel Entscheider/-innen Stressreaktionen wie Herzrasen, Anspannung oder Bluthochdruck auf eine geringe Belastbarkeit ihrerseits zurückführen oder mit Empfehlungen konfrontiert werden, die nahelegen, sie müssten lediglich lernen, besser zu entspannen. Gesellschaftlich vermittelte Probleme werden von den Betroffenen selbst übernommen bzw. ihnen »in die Schuhe geschoben«. Arbeitsdruck sowie fehlende Austausch- und Reflexionsmöglichkeiten begünstigen solche Muster. Mit den Fortbildungsmaßnahmen konnten Räume dafür geschaffen werden, sich selbst sowie das Gegenüber in seiner jeweiligen Situation zu sehen; und wieder wahrzunehmen, dass er oder sie Gründe hat, verzweifelt, am Ende seiner oder ihrer Geduld zu sein, wütend und aggressiv zu werden oder den Entscheider bzw. die Entscheiderin anzulügen. Auch war es möglich, wieder wahrzunehmen, dass diese Gründe nichts mit meiner Person als Entscheider/-in zu tun haben, sondern in Zusammenhang stehen mit der jeweiligen Verfolgungsgeschichte, mit vorhandenen Ängsten und Zwängen oder den Vorgaben des Asylrechts. Gleiches gilt auch für die Wahrnehmung der Gründe, die mich selbst in meiner Rolle als Entscheider/-in auf bestimmte Art und Weise handeln lassen: Wie verhalte ich mich zu meiner »Ermittler/-inrolle«, der per definitionem eine hinterfragende Haltung eingeschrieben ist und die als eine Form des institutionalisierten Misstrauens gesehen werden kann? Ist der radikale Zweifel als Methode tatsächlich geeignet und Voraussetzung für eine sachgerechte Asylanhörung bzw. -entscheidung? Darf ich (an-)erkennen, dass Entscheidungsfindungsprozesse geprägt sein können von Unsicherheit und Risiken, dass sie anfällig sind für Fehler, auch wenn ich diese zu vermeiden suche? Durch Wissensvermittlung, Erfahrungsaustausch und Perspektivenwechsel im Rahmen von Rollenspielen und Diskussionen wurde das »Denken von Widersprüchen« und damit »mehrseitiges Denken« (Holzkamp, 1983) ermöglicht. So konnte die Unmittelbarkeit überschritten werden in Richtung auf das Denken der gesellschaftlichen Zusammenhänge von erlebten Konflikten.

Entlastung durch Klarheit Die Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontextes ins eigene Handeln verschafft Entlastung durch Klarheit: Klarheit in Bezug auf die Bedingungen der beruflichen Tätigkeit und des Aufgabenbereichs – und damit auch Selbstaufklärung in Bezug auf die eigenen Möglichkeiten und Grenzen des Handelns. Obgleich zum Beispiel alle wissen, dass kein einziger

Verwaltung in Bewegung: Diskussion und Ausblick 145

Flüchtling mit dem Fallschirm auf deutschem Boden gelandet ist und somit bei einem Großteil der Asylanträge die Dublin-Verordnung zum Tragen kommt, wonach das EU-Land für den Asylantrag zuständig ist, über den die Geflüchteten in die EU einreisen, ist gleichzeitig die detaillierte Erfassung des Fluchtwegs entscheidend für das Verfahren. Dies führt dazu, dass eine Vielzahl der Geflüchteten versucht, ihren tatsächlichen Fluchtweg zu verschleiern, oder dass sie keine Angaben darüber machen will. Gerade diese Diskussion machte Haltungen und Selbstreflexion in Bezug auf die eigene Haltung deutlich: Müssen die Entscheider/-innen – wissend um die genannten Tatsachen – den Großteil der Zeit auf die ausführliche Offenlegung des Reisewegs verwenden? Oder können sie alternativ nach asylrelevanten Gründen suchen, um dann den Stellenwert des Reisewegs neu zu bewerten und mit entsprechender Gewichtung in die Asylentscheidung einfließen zu lassen? In der Gegenposition kann ich mich als Entscheider/-in darauf beschränken, Fragenkataloge – und ausführlich den Fluchtweg – abzuarbeiten, was zu einer gewissen Abstumpfung zu führen scheint und mit Hilflosigkeit und Ohnmacht angesichts gegebener Bedingungen und eingeschränkter Handlungsspielräume zu tun hat. Eine Einschränkung meines Ermessensspielraums reduziert sicherlich auch meine eigene Unsicherheit oder öffnet Räume, mich verunsichern zu lassen. Je größer mein Ermessensspielraum ist, desto stärker bin ich auch ganz persönlich verantwortlich, bewege mich eher in moralische Dilemmata. In einer Situation, in der Entscheider/-innen ihre eigene Rolle innerhalb der Institution und damit die Dynamik der Anhörungssituation in ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit und ganzen Komplexität nicht mehr wahrnehmen können, ist es schwer, zu erkennen, dass zum Beispiel Menschen aus dem Land XY nicht allesamt Lügner/-innen und Betrüger/-innen sind; oder dass man als Entscheider/-in von Geflüchteten nicht per se »für dumm verkauft« wird, sondern, dass veränderte Biografien oder Reisewege vielmehr etwas mit gesetzlichen Regelungen und der Funktion der Entscheider/-innen als Ausführende dieser Regelungen zu tun haben. Ausführungen, in denen sie für die Geflüchteten existenzielle Zukunfts- und Lebensentscheidungen treffen müssen. Weil es zu wenige Möglichkeiten gibt, sich aus Personalisierungen immer wieder herauszuziehen, kann eine gewisse Verhärtung der Haltung zwar einen Schutz darstellen. Er erhält die einzelnen Entscheider/-innen einige Zeit lang gesund oder weniger belastet. Er befreit ihn oder sie aber dennoch nicht von einer gewissen moralischen Last. Wird diese Last nicht in ihrer Bedeutung reflektiert, dann bleibt sie als potenzielle Belastung oder als Gefühl von Unwohlsein bestehen, selbst wenn sie im Alltag gut verdrängt werden kann.

146  Jenny Baron und Silvia Schriefers Sich zu öffnen und offen zu bleiben für die Geschichten des Anderen erfordert allerdings schützende Bedingungen. Dazu gehört insbesondere die nötige Zeit für eine ausführliche Einzelfallprüfung im Rahmen des Asylbegehrens. Erforderlich ist auch ein entsprechendes Wissen darüber, wie man mit möglichen Belastungen, die aus der Tätigkeit der Entscheider/-innen Asyl resultieren, umgehen kann, sowie entsprechende Fortbildungen dazu. Es ist eben kein reiner Verwaltungsakt, sich die Fluchtschicksale von Menschen anzuhören – diese Arbeit hat immer auch eine andere Dimension: die Dimension, auf der sich zwei Menschen begegnen und in Beziehung zueinander treten. Ein hohes Arbeitsaufkommen mit unüberschaubaren Aktenbergen, viele Krankheitsausfälle (die den vorhandenen Druck ebenso verschärfen wie die bundespolitische Diskussion über die nötige Steuerung und Grenzziehung im Hinblick auf Geflüchtete), fehlende Wertschätzung und fehlende Reflexions- und Austauschmöglichkeiten sind hierfür eher ungünstig. Derartige Bedingungen grenzen nicht nur die Handlungsspielräume der Entscheider/-innen ein, sondern haben auch langfristige Auswirkungen auf ihr Denken, Fühlen und Handeln. Wer nur noch damit befasst ist, gut zu funktionieren, um Aktenberge irgendwie abzuarbeiten, hat wenig Raum für ein Denken, das die Unmittelbarkeit überschreitet. Es ist fraglich, ob in einem solchen Modus Entscheidungen getroffen werden können, die dem Einzelfall gerecht werden. Ebenso fraglich ist, ob es Entscheider/-innen unter solchen Bedingungen überhaupt gut gehen kann.

Förderliche Bedingungen Die Fortbildungen haben entscheidend dazu beigetragen, den Austausch und die Diskussion unter den Entscheider/-innen anzustoßen und eine Öffnung zu schaffen, um das eigene Denken und Verhalten zu reflektieren. Die Gruppenarbeit hat sich methodisch klar als Erfolgsfaktor bewiesen: Die Teilnehmenden brachten sich gegenseitig als »kollegiale Berater/-innen« in individuelle Lernprozesse ein. Ganz entscheidend trug zu dieser Entwicklung auch die Zusammensetzung der Trainingsgruppen bei: Eine gute Mischung älterer, erfahrener und sehr junger, hochmotivierter Entscheider/-innen brachte ein breites Spektrum an kritischen Anhörungssituationen, aber auch Perspektiven, Bewertungen, Denkweisen, Werte und Erfahrungen sowie bislang ungenutzte Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen in die Diskussion ein. Zentrales Ergebnis der Fortbildungsmaßnahmen war, dass es nicht nur eines Experten bzw. einer Expertin bedarf, der oder die Wissen vermittelt,

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Zusammenhänge aufzeigt und Prozesse der (Selbst-)Reflexion anleitet. Eine starke Lernerfahrung ist, dass die Kollegialität unter den Entscheider/-innen im Sinne der »verallgemeinerten Handlungsfähigkeit« (vgl. Holzkamp, 1983) gefördert und institutionalisiert werden muss.

Unerwartete Ergebnisse Als überraschend erwies sich, dass in den Trainings und Coachings das tägliche Anhören von Erfahrungen und Berichten über Folter, Vergewaltigung und andere Menschenrechtsverletzungen, über den gewaltsamen Tod von Familien, über die teilweise lebensbedrohliche Flucht durch die Sahara oder die Überquerung des Mittelmeers, über das Ausmaß gesellschaftlicher sowie (zwischen-)menschlicher Zerstörung eher ein Randthema war. Bei weitem nicht bei allen Trainings und Coachings war das »Berührtwerden« von diesen Geschichten ein zentrales Thema. In den anderen Trainings und Coachings wurde dieser Aspekt der Tätigkeit als Quelle von Belastung und Erschütterung zwar erwähnt, wurde aber nicht weiter vertieft. Vereinzelt berichteten Entscheider/-innen, dass sie von diesen Geschichten träumten oder dass sie besorgt und betroffen sind, beispielsweise von den zahlreichen Suizidankündigungen jugendlicher Flüchtlinge. Diesen werde zwar auf der einen Seite von Schleppern empfohlen, mit Suizid zu drohen, um leichter Asyl zu erhalten. Andererseits gibt es unter den Jugendlichen, die ihre Heimat und ihre Familie verlassen mussten, tatsächlich eine sehr hohe Vulnerabilität und damit verbunden auch Suizidalität. Die Verantwortung, hier zu filtern und zu entscheiden, rief bei manchen Entscheider/-innen große Unsicherheit und Besorgtheit hervor. Zugleich zeichnete sich aber auch eine stark polarisierende Reaktionstendenz bei solchen Erwähnungen ab. So gab es einerseits eine große Betroffenheit unter manchen Teilnehmenden und sehr empathische Empfehlungen innerhalb der Gruppe. Ebenso gab es jedoch auch eine deutliche Abwehrhaltung mancher Entscheider/-innen. Suizide gäbe es auch bei anderen, sogar bei Kolleg/-innen – davon solle man sich nicht beeindrucken lassen. So wurde den Betroffenen beispielsweise aus der Perspektive berufserfahrener Entscheider/-innen geraten, sich gegen ein solches »Berührtwerden« abzuhärten. Man solle sich dies besser nicht zu genau ansehen, sondern es bereits frühzeitig verhindern. Man sei schließlich kein Sozialarbeiter. Insgesamt wurde die eigene Belastung durch Inhalte der Anhörung und die Erlebnisqualität der Asylgründe in der Mehrheit der Trainings

148  Jenny Baron und Silvia Schriefers jedoch kaum auf direktem Weg thematisiert. In den Supervisionssitzungen zeichnete sich hier ein anderes Bild: Es wurde offensichtlich und spürbar, wie im Einzelfall um Distanz noch gerungen werden muss, sie nicht zwangsläufig bereits »da« ist, sondern sich häufig erst in der Konfrontation mit den Schicksalen aufbaut. Es zeigte sich nachdrücklich, dass das Konzept der Trainings und Coachings als zweitägige Fortbildungsveranstaltung nur begrenzte Reichweite erlangen kann. Um in diesem Bereich in die Tiefe zu gehen, Ängste oder Vorbehalte zu überwinden, bräuchte es Unterstützung im Rahmen eines regelmäßigeren Settings, in dem ein höheres Maß an Vertrauen und Sicherheit aufgebaut werden kann.

Staatlich verordnete Abwehr? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, wie viel emotionale Involvierung für die Tätigkeit der Entscheider/-innen überhaupt nötig ist und wann eine solche für ihre Aufgabe hinderlich wird. Und ist ein Modus der Abwehr nicht auch staatlich gewünscht, geht es nicht auch darum, Zuwanderung zu kontrollieren und in Grenzen zu halten? »Als Mensch würde ich oft gern anders entscheiden. Aber da gibt es die Vorgaben aus Nürnberg […] Und wenn ›die‹ keine andere Politik machen – was kann ich da schon machen?«

So kam in den Schulungen nicht selten eine gewisse Frustration oder auch Aggression zum Ausdruck – darüber, dass man sich in einer langen Kette von Zwängen sah. Politik und Verwaltung sind unmittelbar miteinander verschränkt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unterliegt den Weisungen und Gesetzgebungen der Flüchtlings- und Asylpolitik der BRD bzw. Europas und damit in seinen Zusammenhängen und Widersprüchen einem breiten gesellschaftlichen Kontext. Wenn das Bundesamt als Institution weisungsgebunden agieren muss, wie sollen dann dessen Mitarbeitende »frei« – also auf Grundlage einer differenzierten Reflexion der vorgetragenen dramatischen und manchmal auch verworrenen Schicksale und gewissermaßen allen individuellen und überindividuellen Vorannahmen und Zweifeln zum Trotz – über das Recht auf Asyl entscheiden?

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Diskurs um Menschlichkeit und Großzügigkeit »Flüchtlinge geben uns die Chance, ein höheres Maß an Menschlichkeit zu erreichen« – so formulierte es einer unserer Dozent/-innen im Sommer 2014 im Gespräch mit der »tageszeitung«. Eine staatliche Flüchtlings- und Asylpolitik, die den Menschenrechten verpflichtet ist – im Falle der BRD durch das deutsche Grundgesetz, die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, durch das Völkerrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention – muss entsprechende Strukturen und damit Behörden und Verwaltungen schaffen, die als ausführende Gewalt in ihrem Handeln und Wirken so ausgerichtet sind, dass neben dem notwendigen Schutz der Gemeinschaft und der Abwehr von Bedrohungen auch die größtmögliche »Menschlichkeit« garantiert wird. Das kann nur im Dialog mit allen beteiligten Gruppen Realität werden; das schulden wir uns gegenseitig an Menschlichkeit bzw. dazu sind wir uns gegenseitig verpflichtet – gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Vergangenheit lehrt uns, mit unserem Ermessensspielraum verantwortungsvoll umzugehen – um eben nicht Erfüllungsgehilfen der Politik zu werden. Deshalb wird jedem und jeder Verwaltungsmitarbeitenden – so sehr auch an Recht und Vorschrift gebunden – qua Gesetz in der Ausübung gesetzlicher Vorgaben ein Ermessensspielraum eingeräumt. Diesem als Einzelne/-r gerecht zu werden, ist keine einfache Aufgabe. Wir arbeiten mit Gewaltüberlebenden. Und wir haben in Deutschland eine gewalttätige Vergangenheit, die uns einmal mehr verpflichtet, den Diskurs um Humanität und Großzügigkeit gegenüber Schutzsuchenden und Verfolgten voranzutreiben. An dieser Stelle wird allerdings deutlich, wie widersprüchlich sich eine Öffnung für diese Form des Großzügigkeitsdiskurses für Verwaltungsmitarbeitende darstellen muss, die – anders als zivilgesellschaftliche Akteur/-innen – in ihrer Funktion darüber entscheiden müssen, wie das Gut der Menschlichkeit verteilt wird: Würden sie sich als Entscheider/-innen der Großzügigkeit verschreiben, ohne dass diese sich auch in ihrem Handeln widerspiegelte, dann entstünde eine »kognitive Dissonanz« (Festinger, 1957) – ein sozialpsychologisches Phänomen, das einen unangenehmen Gefühls- bzw. Spannungszustand beschreibt, der entstehen kann, wenn Einstellungen und Verhalten kognitiv nicht miteinander vereinbar sind. Dass es Wege gibt, mit dieser Dissonanz umzugehen, ohne sie einseitig in eine Richtung aufzulösen, dass auch für Mitarbeitende einer Bundesbehörde, die über den Zugang zum Asylrecht entscheiden, eine solche

150  Jenny Baron und Silvia Schriefers Perspektive möglich ist, zeigt eine vergleichende Studie mit Entscheider/-innen in Frankreich und Deutschland, die in ihrer Arbeit begleitet und qualitativ interviewt wurden (Probst, 2012). Die französischen Entscheider/-innen sprechen in Bezug auf ihre Entscheidungsfindung von einer mehr oder minder stark ausgeprägten »Angst, sich zu täuschen«. Im Zweifelsfall wird die Anerkennung der Ablehnung vorgezogen. Derartige Ängste treten in den Interviews mit den Sachbearbeiter/-innen des BAMF in dieser Studie kaum zutage, sie gehen mit der Last der Verantwortung entsprechend dem Berufsethos des Bürokraten bzw. der Bürokratin selbstbewusster und distanzierter um. Einem solchen Berufsethos entgegen erklären französische Sachbearbeiter/-innen häufig mit Stolz, »sich eine gewisse Sensibilität und Offenheit gegenüber besonderen oder zweifelhaften Fällen absichtlich zu bewahren« (Probst, 2012, S. 45). Sie unterstreichen deutlich das Ziel der Schutzgewährung, welches häufig ihren ursprünglichen Berufsmotivationen zugrunde liegt. Der Studie nach nehmen die deutschen Sachbearbeiter/-innen ihre berufliche Aufgabe vor allem als administrativ-juristische Tätigkeit wahr, die sich nur durch ihren Gegenstand von anderen unterscheidet. Daneben wird von einigen auch das Motiv der Verteidigung rechtsstaatlicher Prinzipien und der Bekämpfung von Missbrauch in den Vordergrund gestellt, was weitgehend übergeordneten politischen Strategien des Asylverfahrens als Steuerung von Migrationskontrolle entspricht. Die Unterschiede zwischen den deutschen und französischen Entscheider/-innen Asyl führt die Forscherin insbesondere auf das Dienstalter der Mitarbeitenden zurück. Die französischen Kolleg/-innen schieden weitaus früher aus ihrem Beruf wieder aus, was Phänomenen der Abnutzung und Verhärtung entgegenwirkt.

Raum für Verunsicherung zulassen Die Begegnungen mit den Entscheider/-innen des BAMF haben uns gezeigt, dass zu den Bedingungen, unter denen diesen Entwicklungen entgegengewirkt werden kann, auch Freiräume für Verunsicherung gehören müssen: für den Austausch über vermeintliche Tabuthemen, für die gemeinsame Reflexion von Subjektivität im Kontext eines übergeordneten Objektivitätsanspruchs, den die Entscheider/-innentätigkeit fordert. Wie fruchtbar mit Verunsicherung gearbeitet werden kann, war im Verlauf dieser ungleichen Kooperation auf beiden Seiten sichtbar:

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»Ich bin nicht der Nabel der Welt« Die Annahme, dass die eigene Welt stimmt, wenn Gut und Böse auseinandersortiert sind, oder man sich klar in seiner Rolle als Freund/-in oder Feind/-in auf der Seite des BAMF oder aber der Menschenrechtsbewegung positionieren kann, wurde durch die Schulungen auf beiden Seiten durcheinandergebracht. Im Rollentausch konnte erlebt werden, was passiert, wenn man auf der anderen Seite des Schreibtisches sitzt. Dieser Sprung muss gemacht werden – zumindest von den Trainer/-innen und den Supervisor/-innen – auch wenn es sich auf der »guten« Seite besser anfühlt. Zu Beginn der Schulungen brachten bewusste Polarisierung und gegenseitige Vorbehalte Schwierigkeiten. Es kam zum Vorschein, dass die Entscheider/-innen sich von »uns Menschenrechtlern« in ihrer täglichen Arbeit oft gestört fühlten, »unsere« Gutachten sie überforderten, sie sich durch uns »infrage gestellt« fühlten. Umgekehrt befürchtete zum Beispiel ein Dozent, sich in den Schulungen nun auch mit »Hardlinern« auseinandersetzen zu müssen, die noch nie auch nur einen einzigen Flüchtling »anerkannt« haben. Oder auch es mit sehr »ausgebrannten« Teilnehmenden zu tun zu bekommen, die für die Inhalte der Maßnahme nicht mehr zugänglich sind. Im Verlauf der Schulungen schien sich dieser Antagonismus jedoch in Teilen aufzulösen. Man wagte es, aus der Verteidigungsposition herauszutreten und auf der vermeintlichen Gegenseite auch Chancen für ein Miteinander zu suchen. Nicht immer ist dies gelungen: In einem Fall führte die Konfrontation zum Beispiel auch dazu, dass das Training früher abgebrochen wurde als vorgesehen. Einige der Referent/-innen kamen auch zu dem Entschluss, in Zukunft keine weiteren Schulungen mehr durchführen zu wollen. Das Spannungsfeld war ihnen zu groß – zu kontrovers. Eine Herausforderung, die von beiden Seiten auch als anstrengend empfunden wurde. Sie mündete aber dennoch darin, dass wir als Vertreter/-innen einer Menschenrechtsorganisation sehen konnten, wie schwierig es ist, sich im Rahmen einer Bundesbehörde zu bewegen. Dass wir, die wir uns sonst ohnmächtig gegenüber den Entscheidungen des BAMF fühlen, auch die Ohnmacht der Entscheider/-innen wahrnehmen konnten. Dass Entscheider/-innen gegen Ende der Fortbildungen vermehrt auch danach fragten, an wen sie denn Flüchtlinge, bei denen ihnen Hinweise auf eine Traumatisierung auffallen, vermitteln könnten. Es wäre wünschenswert, wenn aus diesem gegenseitigen Wissen übereinander mehr Kooperation erwachsen würde. Angesichts der zunehmenden humanitären Katastrophen, die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben, werden hier neue Fragen laut: Können

152  Jenny Baron und Silvia Schriefers wir es uns noch leisten, dass die verschiedenen Akteur/-innen, die mit Sicherheit und Schutz befasst sind, nebeneinander oder gegeneinander arbeiten? »Mehr Kooperation« bedeutet nicht, dass es nicht verschiedene Akteur/-innen mit verschiedenen Rollen geben darf. Das humanitäre Drama, das sich derzeit abzeichnet, führt mit Sicherheit dazu, dass wir mit weit mehr Menschen rechnen müssen, die nichts mehr zu verlieren haben als ihr Leben; und die sich gezwungen sehen, alles zu riskieren, also auch die Flucht über das Mittelmeer. Für eine gemeinsame und solidarische Asylpolitik bedarf es vieler innovativer Denker/-innen. Es gibt viele Informationen, die nur Menschenrechts- oder Flüchtlingsorganisationen haben (können); und es gibt solche, die allein Regierungsvertreter/-innen haben. Beide Informationspools zusammenfließen zu lassen, verlangt Vertrauen und Transparenz von beiden Seiten.

Grenzen des Projekts: Was Supervision nicht kann Was mit dem Angebot von Supervision, Training und Coaching nicht verbunden sein kann, ist das Versprechen, für alle bestehenden Konflikte Lösungen zu finden und sämtliche Belastungen aufzufangen. Ebenso wenig können bestehende Widersprüche und Ambivalenzen durch diese Fortbildungsmaßnahmen aufgelöst werden. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Es können lediglich die Spannungsfelder herausgearbeitet, die eigene Rolle und das eigene Handeln innerhalb dieses Kontextes erklärt und verständlich gemacht werden – um in der Folge zu einer verbesserten, bewussteren Praxis zu gelangen. Ein solches Bewusstsein über Widersprüchlichkeiten, in die die eigene Tätigkeit verwoben ist, kann eine Entscheidung nötig machen: das Spannungsverhältnis bewusst auszuhalten und einen Umgang mit ihm zu finden, oder aber sich aus ihm herauszubewegen. Coaching- und Supervisionsprozesse können damit immer auch zur Folge haben, dass Menschen sich einen neuen Arbeitsplatz suchen. Oder aber sich innerhalb der Institution für bessere Arbeitsbedingungen einsetzen. Sie können dazu beitragen, mit Kolleg/-innen ins Gespräch zu kommen, in der Anhörungssituation nach neuen Anhaltspunkten zu suchen, die asylrelevant sein könnten, die Geschichte(n) aufmerksamer aufzunehmen. Die Fortbildungen haben Anstöße in Richtung der professionellen Weiterentwicklung der einzelnen Akteur/-innen gegeben, haben eine andere Kultur der Zusammenarbeit zwischen Bundesbehörde und einer NGO – in Kooperation mit einer Fachgesellschaft – initiiert. Dieser Diskurs kann als wichtiger Schritt in Richtung der Veränderung der

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Organisationskultur einer Behörde gesehen werden. Eine Veränderung, die über die isolierte Wirkung von Stressbewältigungs- oder Zeitmanagementtrainings, wie sie von vielen Instituten qualifiziert angeboten werden, weit hinausgeht, weil sie der Gefahr einer »Dekontextualisierung« von Belastung und Konflikten entgegenwirkt – weil sie Teil eines Umdenkens in der behördlichen Kultur als Ganzer ist.

Über die Quote hinaus denken Aber welche Art von Umdenken braucht unsere Gesellschaft hier? Ohne Frage sind verbesserte Qualität und auch Effizienz von Verwaltungshandeln ein wichtiges Ziel von Umstrukturierungsprozessen. Fraglich bleibt hier aber, inwiefern bearbeitete Fallzahlen, Anerkennungs- und Ablehnungsquoten ein guter Indikator für die Qualität von Asylentscheidungen sein können – vor allem, wenn ihnen derart zentrale bzw. übergeordnete Bedeutung zukommt. Aber wie kann die Behörde gewähren, dass Entscheidungen sowohl fundiert sind als auch ethischen Ansprüchen gerecht werden? Wie kann das BAMF sicherstellen, dass all jene, die mit Flüchtlingen und Folteropfern befasst sind, einen »victim oriented approach« (einen Ansatz, der sich an den Bedürfnissen der Opfer orientiert), wie ihn die Antifolterkonvention (United Nations Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment = CAT; Vereinte Nationen, 1984) fordert, verwirklichen? Ist es denkbar, dass für die Asylverwaltung »ethische Leitlinien« im Sinne eines Verhaltenskodex formuliert werden? Ein solcher Verhaltenskodex könnte Basisregeln der Gesprächsführung beinhalten, ebenso wie Maßnahmen der psychologischen Notfallhilfe und auch die Verpflichtung, Hinweisen, die auf eine besondere Vulnerabilität schließen lassen, nachzugehen und an entsprechende Fachstellen weiterzuvermitteln, wie es auch europäische Richtlinien vorschreiben (Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [Neufassung], ABl 2013 L 180/96) (Europäische Kommission, 2009).

Wie viel Veränderung vertragen wir? Durch die Umstrukturierungsprozesse innerhalb des Bundesamts und die Personalentwicklungsmaßnahmen, in die unser Projekt eingebunden war, wurde hier bereits an einigen Strukturen gerüttelt. Wenn man

154  Jenny Baron und Silvia Schriefers bedenkt, dass Institutionen, wie sie das BAMF als Bundesbehörde ist, in großen Teilen so stark durch Recht und Gesetz determiniert sind, dass weitreichende Veränderungen meist nur durch Gesetze vorangebracht werden können, also per definitionem eher träge Apparate sein müssen, die Veränderungen in der Regel durch einen gewissen »Strukturkonservatismus« trotzen, dann hat sich hier bereits einiges bewegt. Strukturen, die die Freiheitsgrade und damit auch die Verantwortung der Einzelnen begrenzen, sind zunächst recht gut in der Lage, Orientierung und Klarheit zu schaffen. Sie bieten Sicherheit, weil sie eine bestimmte Art von Ängsten abwehren. Eine gewisse Veränderungsträgheit erscheint unter diesem Blickwinkel also durchaus nachvollziehbar und sinnvoll. Zugleich wird durch solch verhältnismäßig starre Strukturen aber häufig anderen Ängsten Vorschub geleistet. Weil ich als Einzelne/-r durch diese Strukturen eben nur noch eingeschränkt in der Lage bin, mich zu verhalten oder Dinge zu verändern, um meine Arbeit zu verbessern. Wenn ich immer nur die Erfahrung mache, nichts verändern zu können, werde ich irgendwann hilflos oder resigniere. Meine Wahrnehmung, in meiner Umgebung nicht mehr wirksam sein zu können, lässt mich an der Sinnhaftigkeit meiner Tätigkeit zweifeln. Meine Motivation, mich für die Arbeit zu engagieren, nimmt ab. Solche Gefühle der Ohnmacht, die durch Stress und durch eine Einschränkung der Handlungsfähigkeit entstehen, können eine Abwärtsspirale in Gang bringen, die im schlimmsten Fall in eine Erschöpfungsdepression, den sogenannten »Burn-out«, mündet. Mitarbeitende, die wir seit Jahrzehnten für ihren Einsatz schätzen, sind dann plötzlich am Ende ihrer Kräfte, erscheinen uns dünnhäutig und reizbar, ziehen sich zurück, leiden unter Konzentrations- und Motivationsschwierigkeiten. Psychische Störungen, angeführt durch die Depression als mittlerweile eine der größten Volkskrankheiten (WHO, 1996), sind inzwischen die häufigste Ursache für Berufsunfähigkeit. Doch trotz ihrer Steigerungsrate bleiben sie ein gesellschaftliches Tabu. Auch in unserem Projekt lag der Fokus für alle Akteur/-innen vor allem auf der Psychopathologie traumatisierter Flüchtlinge. Psychische Krankheit am Arbeitsplatz hingegen wurde in den Fortbildungen allenfalls zwischen den Zeilen – in seinen Auswirkungen auf Krankenstände und Frühberentungen – angedeutet. Damit sind wir in guter Gesellschaft. Wir vermeiden den Blick auf die Kehrseite unserer modernen Gesellschaft – auf die Gefahr, den Menschen zum Humankapital zu machen, ihn bis zur Erschöpfung zu fordern, ihn im Rahmen der Zuwanderungssteuerung nach Kriterien der Nützlichkeit, der Verwertbarkeit auszusondern, zwischen Verwertbarem und Nutzlosem zu selektieren.

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Hier sind Verwaltung und Politik, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft gleichermaßen in der Pflicht, sich zu fragen, was die Ökonomisierung unserer Arbeits- und Sozialräume mit der Psyche des Menschen macht. Wie wollen wir als Gesellschaft aufeinander bezogen sein? Wie wollen wir leben und arbeiten? Wofür ist dabei Platz, und für wen ist Platz? Literatur Europäische Kommission (2009). Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen. Zugriff am 29. 10. 2014 unter http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=O J:L:2013:180:0096:0116:DE:PDF Festinger, L. (1957). A theory of cognitive dissonance. Stanford: Stanford UP. Holzkamp, K. (1983). Grundlegung der Psychologie. Frankfurt a. M.: Campus. Probst, J. (2012). Asylanträge bearbeiten – Vergleichende Studie des Entscheidungsprozesses in der Deutschen und der Französischen Verwaltung. Unveröffentlichte deutsche Zusammenfassung von: Probst, J. (2012). Instruire la demande d’asile. Étude comparative du processus décisionnel au sein des administrations allemande et française. Dissertation Université de Strasbourg/Philipps-Universität Marburg. Zugriff am 11. 11. 2014 unter http:// archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2012/0949/pdf/djp.pdf Vereinte Nationen (1984). United Nations Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment. Zugriff am 29. 10. 2014 unter http://www.ohchr.org/EN/ProfessionalInterest/Pages/CAT. aspx World Health Organisation (1996). The Global Burden of Disease: a comprehensive assessment of mortality and disability from diseases, injuries, and risk factors in 1990 and projected to 2020. Cambridge: Harvard University Press.

Abkürzungsverzeichnis

American Psychiatric Association Asylbewerberleistungsgesetz Asylverfahrensgesetz Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer BAMF Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BRD Bundesrepublik Deutschland CAT Convention against Torture DESNOS Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders DGSv Deutsche Gesellschaft für Supervision DGUV Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung EFF Europäischer Flüchtlingsfonds EU Europäische Union EURODAC Europäische Datenbank zur Speicherung von Fingerabdrücken ICD Internationale statistische Klassifikation der Krank­ heiten und verwandter Gesundheitsprobleme IOM International Organization for Migration IZAM Informationszentrum Asyl und Migration des Bundesamts MBE Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer/-innen NGO Non-governmental Organization NRW Nordrhein Westfalen NS Nationalsozialismus PSZ Psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge und Folteropfer PTBS Posttraumatische Belastungsstörung PTSD Posttraumatic Stress Disorder UMF Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees WHO Weltgesundheitsorganisation

APA AsylbLG AsylVfG BAfF

Die Autorinnen und Autoren

Jenny Baron, geb. 1984, ist Diplompsychologin und seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e. V.). Sie hat im Bereich der psychosozialen Beratung und Behandlung von traumatisierten Flüchtlingsfrauen gearbeitet, forscht zur Versorgung von Flüchtlingen und Folteropfern in Deutschland und leitet das Filmprojekt »(Un-)Sichtbare Grenzen – In Szene gesetzt!« mit jungen Flüchtlingen. Elise Bittenbinder, geb. 1955, ist Paar- und Familientherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ausgebildet in Systemischer Familientherapie, Hypnotherapie, EMDR und Strategischer Therapie in Deutschland und den USA. Von 1981 bis 1986 war sie Generalsekretärin der MIJARC, einer internationalen NGO in Belgien. Seit 1988 ist sie als Psychotherapeutin, Ausbilderin und Supervisorin in Köln, Berlin und im Gazastreifen tätig. Aktuell arbeitet sie als klinische Leiterin sowie Psychotherapeutin bei XENION, einem psychotherapeutischen Behandlungszentrum für traumatisierte Flüchtlinge und Folteropfer in Berlin. Sie ist Mitgründerin und Vorsitzende der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e. V.) und hat den Vorsitz der Steuerungsgruppe im European Network of Rehabilitation Centres for Victims of Torture inne. Detlef Bröker, geb. 1956, ist ausgebildeter Tischler, Diplom-Jurist und derzeit Referatsleiter im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Nach seiner Tätigkeit als Entscheider in den Jahren 1993 bis 2000 war er als Mitarbeiter für die Unabhängige Kommission »Zuwanderung« (Süßmuth-Kommission), danach in das Bundesministerium des Innern und anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration abgeordnet. In den Jahren 2005 bis 2009 folgten Referenten- und Referatsleiteraufgaben in der Integrationsabteilung des Bundesamtes. Anschließend hatte er bis 2012 die Leitung des Leitungsstabes des Präsidenten des Bundesamtes inne. Aktuell ist er für die operative Steuerung im Bereich Asyl zuständig.

158  Die Autorinnen und Autoren Jörg Fellermann, geb. 1955, (M.A. Psychologie/Pädagogik), und im Juli 2014 viel zu früh verstorben, war Supervisor, Berater und Dozent. Von 1995 bis 2014 war er zunächst Mitglied des Vorstands  (bis 1997) und dann Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Supervision e. V. Während dieser Zeit engagierte er sich auch als Gründungsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Beratung e. V. (DGfB), war er Vorstandsmitglied im Nationalen Forum Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung (nfb) und Mitherausgeber der Zeitschrift supervision (Verlagsgruppe Beltz). Brigitte Geißler-Piltz, Prof. Dr., ist Gestalttherapeutin (DVG), Supervisorin (DGSv) und Lehrsupervisorin. Sie war über dreißig Jahre Hochschullehrerin an der Alice Salomon Hochschule (Berlin) mit den Arbeitsschwerpunkten Gesundheit und Beratung tätig. Als Prorektorin und Studiengangsleitung hat sie maßgeblich an der Entwicklung von Bachelor- und Masterstudiengängen (Praxisforschung, Klinische Sozialarbeit) mitgewirkt und die Weiterbildung zum Counsellor wissenschaftlich begleitet. Seit 2012 leitet sie gemeinsam mit Dr. Monika Klinkhammer den DGSv zertifizierten ASH Weiterbildungkurs »Supervision und Coaching in Sozialer Arbeit, Bildung und Gesundheit«. Ihr besonderes (Forschungs-)Interesse gilt heute der Lehr- und Ausbildungssupervision. Seit 2010 ist sie Vorsitzende der DGSv.  Sie arbeitet als Supervisorin und Coach in eigener Praxis. Edmund Görtler, geb. 1965, ist Diplom-Politologe mit den Schwerpunkten Demografie und Methoden der empirischen Sozialforschung. Von 1990 bis 1995 arbeitete er in wissenschaftlichen Projekten in den Bereichen Demografie, Gesundheitsforschung und Arbeitsmarkt an den Universitäten Bamberg und München. Seit 1995 ist er Leiter vom MODUS-Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung in Bamberg. Die beruflichen Schwerpunkte liegen in der demografischen Forschung, der Evaluation von nationalen und internationalen Projekten sowie in der Politikberatung für Kommunen und Landkreise/kreisfreie Städte. Seit 1994 ist er zudem Lehrbeauftragter für empirische Forschungsmethoden an Hochschulen in Bamberg, Würzburg und Nürnberg. Barbara Lochbihler, geb. 1959, studierte Soziale Arbeit und Politische Wissenschaften. Von 1992 bis 1999 war sie Generalsekretärin der Women’s International League for Peace and Freedom in Genf und von 1999 bis 2009 Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International. Seit 2009 sitzt sie als Abgeordnete für die Grünen im Europäischen Parlament. Von Oktober 2011 bis Juni 2014 war sie Vor-

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sitzende des Menschenrechtsausschuss im EP. Seit Juli 2014 ist sie außenund menschenrechtspolitische Sprecherin der Fraktion. Im Menschenrechtsausschuss ist sie seither als Vizepräsidentin tätig, zudem ist sie die Koordinatorin des Auswärtigen Ausschusses für die Fraktion. Silvia Schriefers, geb. 1976, ist Psychologische Psychotherapeutin ausgebildet in Verhaltenstherapie mit Schwerpunkt Schematherapie, Kritische Psychologin und Sozialpädagogin. Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e. V.). Ihre berufspraktischen Tätigkeiten liegen im Bereich Psychotherapie, Psychiatrie, psychosoziale Beratung und Betreuung, Forschung, Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit und Projektarbeit. Als Psychologin und Therapeutin arbeitet sie unter anderem im Bereich der Einzel- und Gruppentherapie mit traumatisierten Flüchtlingen. Tobias Trappe, Prof. Dr., geb. 1966, Studium der Philosophie und katholischen Theologie, ist seit 2010 Professor für Ethik an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW (Duisburg); Herausgeber der Reihe »Ethik der öffentlichen Verwaltung«, Bandherausgeber für das »Historische Wörterbuch der Philosophie« sowie der »Sämtlichen Werke« von Karl Rahner; zentrale Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind: Führungsethik der öffentlichen Verwaltung, Ethik des Gewaltmonopols und des Opferschutzes, Ethik der Asylverwaltung.

Kooperationspartner Projektpartner Bundesamt für M ­ igration und Flüchtlinge (BAMF) Frankenstraße 210, 90461 Nürnberg Tel.: 0911 943–0 E-Mail: [email protected] www.bamf.de Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. (DGSv) Neusser Str. 3, 50670 Köln Tel.: 0221 2004–0 E-Mail: [email protected] www.dgsv.de

Partner in der Konzeption und Durchführung von Trainings und Coachings XENION – Psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte e. V. Paulsenstr. 55–56, 12163 Berlin Tel.: 030 3232933 E-Mail: [email protected] www.xenion.org REFUGIO München  – Beratungsund Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer Rosenheimer Straße 38, 81669 München Tel.: 089 982957–0 E-Mail: [email protected] www.refugio-muenchen.de Catania gemeinnützige GmbH Hilfe für traumatisierte Opfer im Zentrum ÜBERLEBEN Turmstraße 21, 10559 Berlin Tel.: 030 30390670 E-Mail: [email protected] http://www.catania-online.org/

FATRA e. V. (Frankfurter Arbeitskreis Trauma und Exil) Berger Straße 118, 60316 Frankfurt am Main Tel.: 069 499174 E-Mail: [email protected] www.fatra-ev.de Institut für Trauma-Bearbeitung und Weiterbildung Frankfurt Waidmannstraße 25, 60596 Frankfurt am Main Tel.: 069 46990053 E-Mail: [email protected] www.institut-fuer-traumabearbeitung.de Therapiezentrum für Folteropfer/Flücht­­ lingsberatung, Caritasverband für die Stadt Köln e. V. Spiesergasse 12, 50670 Köln Tel.: 0221 160740 E-Mail: [email protected] http://caritas.erzbistum-koeln.de Psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf Benrather Str. 7, 40213 Düsseldorf Tel.: 0211 544173–22 [email protected] www.psz-duesseldorf.de

Kreativredaktion Heiko Schulz Kröger Schulz, Konzept, Redaktion, Text Breibergstraße 13, 50939 Köln Tel.: 0221 2580802 www.kroeger-schulz.de

Das Projekt wurde gefördert durch den Europäischen Flüchtlingsfond (EFF)