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German Pages 424 [432] Year 2019
Berg Grenz-Zeichen Cortázar
Editionen der Iberoamericana Reihe III Monographien und Aufsätze Herausgegeben von Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann Band 26
Walter Bruno Berg
Grenz-Zeichen Cortázar Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main
1991
Als Habilitationsschrift der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Mannheim gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Berg, Walter Bruno: Grenz-Zeichen Cortázar : Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart / Walter B. Berg - Frankfurt (Main): Vervuert, 1991 (Editionen der Iberoamericana : Reihe 3, Monographien und Aufsätze ; Bd. 26) Zugl. : Mannheim, Univ., Habil.-Schri., 1988 ISBN 3-89354-826-2 NE: Editionen der Iberoamericana / 03
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1991 Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany
»Bei jeder Erklärung ist das Erste, daß sie dem zu Erklärenden Gerechtigkeit widerfahren lasse, es nicht herabdrücke, herabdeute, verkleinere oder verstümmle, damit es leichter zu begreifen sey. Hier fragt sich nicht, welche Ansicht muß von der Erscheinung gewonnen werden, damit sie irgend einer Philosophie gemäß sich bequem erklären lasse, sondern umgekehrt, welche Philosophie wird gefordert, um dem Gegenstand gewachsen, auf gleicher Höhe mit ihm zu seyn. Nicht wie muß das Phänomen gewendet, gedreht, vereinseitigt oder verkümmert werden, um aus Grundsätzen, die wir uns einmal vorausgesetzt nicht zu überschreiten, noch allenfalls erklärbar zu seyn, sondern: wohin müssen unsere Gedanken sich erweitern, um mit dem Phänomen in Verhältnis zu stehen.« F.W.J. von Schelling: Sämtliche Werke. 2. Abt. 2 Bd.: Philosophie der Mythologie, Stuttgart 1857, S. 137
Inhalt Vorwort
7
Einleitung
9
1.
Problemstellung
.9
2.
Zum Stand der Cortázar-Forschung
11
2.1. 2.2. 2.3. 2.4.
Autobiographie und Poetologie Inhaltsbezogene Analysen Quellen und Einflüsse Methodenkritische Ansätze
12 13 16 19
3. 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. 3.2. 3.3. 3.3.1 3.3.2.
Methode und Ziel der Untersuchung Zeichentheoretische Grundlegung Zur Geschichte der Zeichentheorie Der semiotische Phänomenalismus bei Ch.S. Peirce Semiotik und Dekonstruktion Theorie des literarischen Zeichens »Grenz-Zeichen Cortázar«: Ziel und Gegenstand der Untersuchung Aufbau und Gliederung Teil 1 Teil II
26 27 27 29 32 33 37 43 43 45
Teil I: Biographische Kontexte 1. Familienmilieu und Schule 2. Argentinische Provinz 3. Buenos Aires 4. Paris Exkurs: Cortázar und das Phantastische 5. Der Weg nach Damaskus 6. Der engagierte Literat 6.1. »¡Cronopios de todos los países, unios!« 6.2. Chronik einer Affäre 6.3. Diskussionen und Diskurse 6.4. Menschenrechte und Bürgerpflichten
53 55 66 76 83 90 92 106 106 118 127 139
Teil II: Modelle literarischer Erfahrung 1. Imagination und Spiel: die Zeichen-Welt der Cronopien 1.0. Einleitung 1.1. Welt und/als Zeichen 1.1.1. Dissoziierung von Bedeutung und Bedeutungskörper (»Instrucciones para llorar«)
151 153 153 154 155
1.1.2. 1.1.3. 1.1.4. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.3. 1.3.1. 1.3.2. 1.4. 1.4.1. 1.4.2. 1.4.3. 1.4.4. 1.5. 1.5.1. 1.5.2. 1.5.3. 1.5.4. 1.5.5.
Bedeutung pragmatisch (»El diario a diario«) Entpragmatisierung sozialer Codes (»Simulacros«) Die Kette der Signifikanten (»Historia«) Die Welt als Sprache Sprachliche Verfremdung sozialer Zeichen (»Instrucciones para subir una escalera«) Grenzüberschreitung durch Neologismen (»Los posatigres«) Mythopoietische Funktion der Sprache (»Cuenta sin moraleja«) Verba sive res (»Fin del mundo del fin«) Die kodifizierte Welt Hamlets Problem (»¿Qué tal, López?«) Der enge Pfad des Tugend-Codes (»La cucharada estrecha«) Zeichen in Bewegung Pragmatische Modifikation der Zeichen (»La foto salió movida«) Umfunktionierung öffentlicher Institutionen (»Correos y Telecomunicaciones«) Konnotationen der Musik (»Instrucciones para cantar«) Destruktion ikonischer Codes (»Instrucciones para entender tres pinturas famosas: 'El amor sagrado y el amor profano' por Tiziano«) Jenseits der Zeichen Zeichen und Bedürfnisstruktur (»Su fe en la ciencia«) Subjekt und Zeichen (»Los exploradores«) Subjekt und System Brosamen des Todes (»El Almuerzo«) Poesie und Transgression (»Pegue la estampilla en el ángulo derecho del sobre«)
2. Die Semiose des Anderen: zur Metaphysik der Suche in Rayuela 2.0. Einleitung 2.1. Makrostrukturelle Elemente der Suche 2.1.1. Problemstellung (Kapitel 1) 2.1.2. Topoi der Suche 2.1.2.1.Ausgangspunkt und Perspektive (»Tablero de dirección«) 2.1.2.2.Liebe 2.1.2.3.Kommunikation 2.1.2.3.1. »El capítulo del tablón« (Kapitel 41) 2.1.2.4.Suche als Erfahrung des Anderen 2.1.2.4.1. Das Andere des Objekts (Kapitel 23: »Concierto de piano Madame Berthe Trépat«) a) Der ästhetische Aspekt b) Der soziale Aspekt
156 157 159 160 160 162 164 165 167 167 169 170 170 171 173 174 177 177 178 179 181 182 185 185 187 187 190 190 191 193 196 199 199 203 203
c) Der psychologische Aspekt 2.1.2.4.2. Das Andere des Subjekts (Kapitel 36: »Emmanuèle la c l o c h a r d e « ) . . . . a) Subjekt und Begehren (»el kibbutz del deseo«) b) kulturelle Grenzerfahrung (»Heraclito el Oscuro«) c) »Rayuela« 2.1.2.4.3. U-Topie des Anderen: der Wahnsinn (Kapitel 56: »los piolines«) a) Der Angriff b) Die Verteidigung c) Differenz und Versöhnung 2.2. (Literatur-) Theorie der Suche (»Morelliana«) 2.2.1. Diesseits und jenseits literarischer Kommunikation 2.2.1.1.Die Sprache: Bordell und »Novum Organum« 2.2.1.2.Der Autor: Subjekt im Prozeß 2.2.1.3.Der Leser: »figura« und »lector-cömplice« a) »Figura« und allgemeine Semiotik b) »Figura« und der Vorrang des Signifikanten c) »Figura« und die Funktion des Lesers 2.2.2. Logozentrismus versus »escritura« 2.2.2.1 .Morelli und das abendländische Denken 2.2.2.2.»Auf den Hund gekommen ...« (Kapitel 125) 2.2.2.3.Morelli und das Prinzip der »écriture« 2.3. Rayuela - Produktivität als Text 2.3.1. »Schreibe« exemplarisch (zwei Textbeispiele) 2.3.1.1.»dibujar las ideas« (Kapitel 66) 2.3.1.2. Galdôs/Cortâzar »entre lineas« (Kapitel 34) a) Die Verschiedenheit des Ähnlichen (paradigmatische Elemente) b) Die Unmöglichkeit des Gleichen (wörtliche Zitate) c) Der produktive Zufall (typographische Effekte) 2.3.2. Die Summe und der Rest (Versuch einer »figuralen« Lektüre des Gesamttextes) I Sequenz II.. . . Sequenz III.. . .Sequenz IV.. . Sequenz V.. . . Sequenz VI.. . Sequenz VII.. .Sequenz VIII.. Sequenz
251 252 255 261 263 268 271 274 276
3. 3.1.
287 287
Grenzerfahrung narrativer Schreibe: 62. Modelo para armar Einleitung
204 205 206 207 209 211 214 217 218 221 221 221 224 226 228 229 230 232 233 234 237 239 240 240 242 246 246 247
3.1.1. Text-Modell(e) 3.1.2. Capitalo 62/(Rayuela) 3.2. 62: Grenzerfahrung des »klassischen« Textes 3.3. Unterwegs zur »Schreibe«: Die Funktion des »coagulo« Erzählen ohne Modell 3.4. 3.4.1. Präsenz der Begierde und Begierde als Präsenz 3.4.1.1.Im »Niemandsland« der Begierde: Juan und Teil 3.4.1.2.Der verdrängte Tod: Juan und Hélène 3.4.1.3.Austins »törichter« Machismus 3.4.2. 62 als Text: Modell produzierter Begierde Exkurs: Der psychologische Status der Konstellation der Person 3.4.2.1.Schrift-Modelle: »paredro«, »ciudad« und »zona« 3.4.2.2.Konstellation und mythologischer Intertext 3.4.2.3.Interaktion am Rande sozialer Verhaltensweisen
288 292 295 298 302 303 305 306 308 309 310 313 317 320
3.5. Mytho-logie und Mytho-skript 3.5.1. Mehrfachkodierung und Dekonstruktion 3.5.2. Dekonstruktive Ironie 3.5.3. Mythopoietische Dekonstruktion 3.6. »El hombre no es sino que busca ser [...]« (Kap. 62/Rayuela)
329 330 334 338 340
4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
347 347 358 377 386
Der Text der Geschichte Achtzig Welten und ein Text Manuels Buch der Geschichte Fantomäs und die Eroberung der Medien Konvergenzen und Konfessionen (»Diario para un cuento«)
Postscriptum
401
Abkürzungen
405
Literaturverzeichnis
405
Titelregister
419
Personenregister
420
5
Vorwort »Dirne, W., ¿cómo así te interesaste en estudiar la obra de Cortázar y no la obra de algún otro escritor latinoamericano?« 1 Mit »Rayuela« habe alles begonnen, gab ich zur Antwort, einem unverständlich-geheimnisvollen Titel... Faszinationen mithin standen am Anfang, Entdeckungen partieller Natur, Fragestellungen und Probleme, Text-Erfahrungen auf der Suche nach Antwort. Die vorliegende Arbeit ist das Resultat solcher Erfahrungen, Ergebnis eines etwa 10jährigen Umgangs mit Cortázars Leben und Werk. »Umgang«, heißt es (Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 23), ist »der gang, der nicht auf dem kürzesten, geradesten weg geschieht«. Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat durch die Gewährung eines 18monatigen Forschungsstipendiums in Perú das Ihre dazu beigetragen, daß ich in Lima die Grenzen des Eurozentrismus erleben, auf den Gehwegen von Buenos Aires die Figuren des Hüpfspiels studieren und in Mendoza die Personalakte eines gewissen Professors Cortázar einsehen durfte. Die Stiftung sowie Antonio Peña Cabrera, der die Einladung seitens der Universität San Marcos betreut hat, sei an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt für ihre Freundschaft und Hilfe. Umgang ist auch »die gesellschaftliche Verbindung von mensch zu mensch, die beim 'umgang' stärker ist als bei der 'bekanntschaft'«: Die Welt zu sehen als eine Welt von Zeichen, dies lernte ich durch meine langjährige Tätigkeit am Lehrstuhl Romanistik in in Mannheim. Ich danke allen voran Rolf Kloepfer, der nicht nur das anfängliche Konzept, sondern auch die späteren Grenzgänge der Arbeit am Rande der Semiotik mit Sympathie und Zustimmung begleitet hat. Im Dezember 1981 besuchte ich Julio Cortázar in Paris. Der kurz zuvor von einer lebensgefährlichen Gelbsucht Genesene stellte sich geduldig den obligaten Fragen zur Biographie, gab dem Gespräch jedoch bald eine Wendung, die es in einen dreistündigen intensiven Dialog über Leben und Werk einmünden ließ. Ein einziges Detail des Gesprächs sei hier erwähnt - Cortázars Achtung und Respektierung der literarischen Kritik als unverzichtbares und notwendigerweise unabhängiges Korrelat zur literarischen Produktion, eine Auffassung, die mich in der Durchführung des damals nur in Umrissen sichtbaren Projekts wesentlich bestärkt hat. Cortázar selbst verwies mich zur biographischen Spurensicherung an das »Centre des Recherches Latinoaméricaines« der Universität Poitiers. Alain Sicard, Direktor 1
Vgl. Rafael Moreno: »Cortázar visio por un alemán«, in: Oiga, N° 96, Lima, 11 Oct. de 1982.
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des Centre, gewährte spontane und freundschaftliche Hilfe bei der Sichtung des umfangreichen »Fonds Cortázar«. Auch ihm sei herzlich gedankt. Wissenschaft ist die Geschichte unserer Dialoge: Die Entstehungsgeschichte der Arbeit ist eng verknüpft mit den Chronotopoi der von Rolf Kloepfer und Charles Grivel seit vielen Jahren durchgeführten literaturtheoretischen Kolloquien. Ohne die hier immer schon gepflegte Praxis wissenschaftlicher »dissémination« ist die Arbeit in der vorliegenden Form nicht denkbar. Den Leitern der Kolloquien sowie den vielen, die mit Diskussion, Geduld und Gedanken an ihnen teilgenommen haben, zum Dank ein Wort des Psalmisten: »die mit threnen seen, werden mit Freuden emdten. sie gehen hin und weinen, und tragen edlen samen, und kommen mit freuden, und bringen ihre garben.« (Ps. 126,6) Wissenschaft als Gespräch, ins Private und Alltägliche hinein verlängert, ist Freundschaft. Ich verdanke sie, allen anderen voraus, meiner langjährigen Kollegin Vittoria Borsö. Daß es gelang, der Versuchung eines trotz allem gelegentlich aufkeimenden Defaitismus gegenüber den Famen erfolgreich die Stirn zu bieten, ist jedoch nicht zuletzt dem Zuspruch jener Viererbande von Cronopien zu verdanken, die alle Phasen der Arbeit mit Geduld und Phantasie begleitet haben: Marischa,
Daniel,
An-
selm, Ivo. Ihnen sei das Resultat unserer Anstrengungen deshalb gewidmet. *
*
*
Umgang zu pflegen mit einer Person - Michel de Montaigne, am Vorabend der europäischen Neuzeit, prägte hierfür den Ausdruck »essai«. Das vielbeschworene Ende der Neuzeit, historisch gewordene Avantgarde und Post-Strukturalismen kennzeichnen die Epoche, in der Cortazárs Werk entstanden ist. Cortázar ist am 12. Februar 1984 in Paris gestorben. Der vorliegende »Versuch« ist seinem Gedenken gewidmet. »Je Tay voué [sc: le dessein d'écrire ce livre] 2 à la commodité particulière de [ses] parents et amis: à ce que [1'] ayant perdu [...] ils y puissent retrouver aucuns traits de [ses] conditions et humeurs, et que par ce moyen ils nourrissent plus entière et plus vifve la connoissance qu'ils ont eu de [lui].« (Montaigne: Essais. »Au lecteur«.)
2
Manuskripte werden zu BÜCHERN, auch im Zeitalter der Computer, nur durch Menschen: Hildegard Willer hat die Hauptlast des Korrekturlesens getragen. Ich danke Ihr an dieser Stelle besonders.
Julio Cortázar, 1983 (Foto: Heinz Willi Wittschier, Fotoarchiv romanischer Autoren, Hamburg)
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Einleitung
1. Problemstellung »Jedermann kennt die eigentümliche Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist das Urteil über gegenwärtige Kunst für das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit. Offenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche Schöpfungen herangehen, Voraussetzungen, die uns viel zu sehr einnehmen, als daß wir sie wissen könnten und die der zeitgenössischen Schöpfung eine Überresonanz zu verleihen vermögen, die ihrem wahren Gehalt, ihrer wahren Bedeutung nicht entspricht.« (Gadamer 1965: 281) Es ist ein allgemeines Problem zeitgenössischer Kunst, auf welches die Bemerkung H.G. Gadamers anspielt: Mit schwindendem Zeitabstand zum Objekt verliert das hermeneutische Bewußtsein an kritischer Transparenz, wird sich selbst undurchschaubar in seiner Bedingtheit und steht deshalb in der Gefahr, ästhetische Fehlurteile zu fällen. Gadamers Hinweis trifft, so scheint es, die Problematik der Rezeption zeitgenössischer Literatur aus Lateinamerika in besonderem Maße. Deren vielberedeter »boom« - Ausstellungsstück für Buchmessen, Spekulationsobjekt expandierender Großverlage, Ferment einer gleichfalls expandierenden, keineswegs nur von ökonomischen Interessen geleiteten allgemeinen Sensibilisierung für die Probleme Lateinamerikas - hat die etablierte Literaturwissenschaft zweifellos überfordert. Es fehlt allenthalben an verläßlichen Kriterien der Wertung. Es fehlt an Kriterien zumal, wie sie für die Kanonbildung der europäischen Literaturgeschichte verbindlich waren - Kriterien nämlich der Geschichte. Verlieren traditionelle Kriterien ihre Geltung, so treten neue an ihre Stelle. Im Falle der neueren lateinamerikanischen Literatur sind es vor allem zwei Kriterien, an denen die Bedeutung der Autoren gemessen zu werden pflegt: formal-ästhetische Innovation sowie gesamtgesellschaftlich-kulturelle Relevanz. Keines der Kriterien hat den Status vordergründig-arbiträrer Werbeslogans. Wohl bedienen sich die Verlage ihrer zu Zwecken der Werbung, doch stammen sie in der Regel von den Autoren selbst, sind integrierender Bestandteil einer unter lateinamerikanischen Autoren verbreiteten Praxis der Selbstdeutung, die ihren Niederschlag findet in Interviews oder poetologisch akzentuierter Essayistik. Innovation und gesellschaftliche Relevanz sind in der Tat die beiden Stichworte,
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die die Rezeption des literarischen Werkes von Julio Cortázar, seit dieser mit dem Erscheinen von Rayuela (1963) über Nacht zu einem der wichtigsten Repräsentanten des »boom« geworden war, begleitet haben: »No me sentí menos impresionado leyendo Rayuela que leyendo el Ulysses de Joyce,« berichtet R. Fernández Retamar. »Y realmente me sentí - perdónenme la palabra un tanto grandilocuente - orgulloso de ver a un americano acometer una novela como no se ha escrito otra en estos momentos, en ninguna parte del mundo.« (Simo 1968: 52) Auch das zweite Kriterium erscheint in dieser Wertung. Cortázar hat für die Erneuerung der novelesken Form eine analoge Bedeutung, wie sie Vallejo und Neruda für die poetische Sprache besitzen, doch - so fährt Fernández Retamar fort - »lo ha hecho desde su estricta condición de americano y de argentino y de porteño. Ha dado una visión crítica, de una intensidad, de una fuerza y de una violencia que nos lo hace válido para nosotros, los americanos« (ebd.: 52f.). Sind dergleichen hyperbolische Wertungen geeignet, die Bedeutung des Werkes von Cortázar wirklich zu treffen, oder sind sie nicht vielmehr Ausdruck jener aus der Perspektive allzu großer Nähe resultierenden »Überresonanz« zeitgenössischer Schöpfungen, auf die die Gadamersche Bemerkung warnend Bezug nimmt? Der Gefahr der Fehldeutung ist indessen nicht bereits entronnen, wer zusammen mit Gadamer die Feststellung trifft, »die Ausschöpfung des wahren Sinnes [...] komm(e) nicht irgendwo zum Abschluß, sondern (sei) in Wahrheit ein unendlicher Prozeß« (Gadamer 1965: 282). Dergleichen Feststellungen sind für den Standpunkt einer philosophischen Hermeneutik zwar selbstverständlich, liefern auf der Ebene angewandter Hermeneutik jedoch keineswegs bereits jene Kriterien 'adäquater' Rezeption, die es erlaubten, der erwähnten Gefahr ästhetischer Fehlurteile effektiv zu entgehen. Indessen - verfügen wir überhaupt über Kriterien, die es gestatten, angeblich 'richtige' von 'falschen' Modellen der Rezeption Cortázars zu unterscheiden? Ist der Gadamersche Standpunkt mithin, soweit er eine Hinterfragung der einzelnen Methoden hinsichtlich der durch sie zur Darstellung gebrachten "Wahrheit' immer schon impliziert, für die Darstellung, die die vorliegende Arbeit intendiert, überhaupt 'frag-los' verbindlich? Liegt in der implizierten Universalität der hermeneutischen Methode nicht ihrerseits schon eine Begrenzung, die den Blick auf die 'wirkliche' Bedeutung des Werkes von Cortázar vielleicht verstellt? Wir versuchen eine Annäherung an eine für die methodologische Grundlegung der Untersuchung entscheidende Antwort auf diese Frage mit Hilfe eines kurzen Überblicks über Fragestellungen und Kriterien der Wertung, wie sie die bisherige Forschung zu Cortázar zu Tage gefördert hat
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2. Zum Stand der Cortázar-Forschung1 Trotz der umfangreichen Bibliographie, die S. de Mundo Lo 1985 vorgelegt hat, die unter der Rubrik »Criticism and Interpretation« immerhin fast 2000 - da unter verschiedenen Kriterien katalogisiert, oft mehrfach angeführte - Titel verzeichnet, läßt sich von einer wissenschaftlichen Cortázar-Kritik frühestens seit dem Ende der 60er Jahre sprechen. Der Schwerpunkt der seither erschienenen Arbeiten entstand in den USA sowie in Lateinamerika. Der europäische Beitrag zur Cortázar-Forschung dagegen gewinnt erst seit der 2. Hälfte der 70er Jahre eine relative Bedeutung. Im Bereich der deutschen Lateinamerikanistik schließlich entstanden außer einigen Marginalien in Zeitschriften und Feuilletons lediglich zwei Dissertationen, die sozialwissenschaftlich angelegten Untersuchungen zum Menschenbild in den Werken von Julio Cortázar (Toma 1973) sowie die umfangreiche Studie Wirklichkeitsauffassung und Wirklichkeitsdarstellung im Erzählwerk Julio Cortázars von W. Imo (1981). Imos Darstellung enthält eine 30seitige ausführliche Beschreibung der bis Ende der 70er Jahre erschienenen Sekundärliteratur. Die Autorin schließt mit der Feststellung, daß der Stand der Cortázar-Forschung gekennzeichnet sei durch eine Vielzahl »widersprüchlicher Deutungen« meist »essayistischen Charakter(s)«, die es dem Leser überlassen, »den Gesamtzusammenhang mit der Forschung herzustellen« (Imo 1981: 40). Das Urteil scheint übertrieben und resultiert aus der Tatsache, daß Imo ihr Material nur chronologisch vorstellt und Werk für Werk gesondert in je einem Abschnitt behandelt. Wer Tendenzen, Strukturen und rekurrente Fragestellungen sucht, findet diese dagegen auch in den bis 1980 erschienen Arbeiten. Ausgehend von der bei Imo gegebenen Übersicht, gestützt auf eigene Beiträge zum Stand der CortázarKritik - vor allem die Jahre nach 1980 betreffend 2 - sowie im steten Blick auf die 1
Die nachfolgende Übersicht erfaßt die wichtigsten bis 1987 erschienenen Buchveröffentlichungen zu Cortázar. Weder Bernard Terramorsis umfangreiche Studie zur phantastischen Erzählung (Bernard Terramorsis: Rites, jeux et passages ou le démon de l'écriture. Étude du phantastique dans les nouvelles de Julio Cortázar. Thèse de littérature comparée. Aix-en-Provence 1986) noch Peter Fröhlichere Analysen des erzählerischen Spätwerks (Peter Fröhlicher: La mirada recíproca. Estudios sobre los últimos cuentos de Julio Cortázar. Habilitationsschrift. Zürich 1988; noch unveröffentlicht) konnten bis zur Fertigstellung des vorliegenden Manuskripts eingesehen werden. Die Titel der beiden Studien sowie der Tenor (s. Bibliographie!) lassen vermuten, daß die Ergebnisse ihrer Studien wichtige Ergänzungen bieten zu Teilaspekten unserer Untersuchung, dies insbesondere die im Horizont der Greismas'schen Semiotik argumentierende Arbeit P. Fröhlichere. - Der umfangreiche Essay der französischen Schriftstellerin Karine Berriot dagegen Uberschneidet sich der Intention nach mit dem vorliegenden Ansatz in zentralen Punkten. Kaum zu Überbrückende Differenzen ergeben sich indessen auf der Ebene der Realisierung. Wir verzichten deshalb auf die Wiederholung unserer an anderer Stelle ausführlich dargelegten kritischen Einwände. (Vgl. Berg 1990b)
2
Gemeint sind die folgenden Arbeiten (in der Reihenfolge ihres Erscheinens): A) Rezensionen: 1. E. González Bermejo: Conversaciones con Cortázar, 1978 (vgl. Berg 1979). 2. J. Alazraki/I. Ivask (Hgg.): The Final Island, 1978 (vgl. Berg 1981). 3. W. Imo: Wirklichkeitsauffassung und Wirklichkeitsdarstellung im Erzählwerk Julio Cortázars, 1981 (vgl. Berg 1982a). 4. S. Boldy: The Novéis of Julio Cortázar, 1980 (vgl. Berg 1983b). 5. A.M. Banenechea: Cuadernos de bitácora de Rayuelo, 1983 (vgl. Berg 1984). 6. K. Berriot: Julio Cortázar l'enchanteur, 1988 (vgl. Berg 1990b). B) Absätze-,
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Präzisierung unseres eigenen methodologischen Ansatzes, sei im folgenden ein Überblick gegeben über die wichtigsten Tendenzen bisheriger Forschung. 2.1. Autobiographie und Poetologie Die meisten Abhandlungen widmen den zahlreichen Äußerungen des Autors zu autobiographischen und poetologischen Fragen breiten Raum. Nicht weniger als drei dieser teilweise über mehrere Tage sich erstreckender Autoren-Gespräche sind bis heute in Buchform erschienen. (Vgl. M 2; M 31; Prego 1985) Die Zahl der darüberhinaus seit drei Jahrzehnten in Zeitungen oder Zeitschriften erschienenen Interviews ergibt eine hohe zwei- (wenn nicht drei-) stellige Ziffer. Eine weitere Gruppe von Texten, denen von der Kritik in vielen Fällen ein den Interview-Äußerungen analoger Status beigemessen wird, bildet Cortázars Essayistik, vornehmlich die in Vuelta al día en ochenta mundos sowie in Ultimo round veröffentlichte, jedoch auch die in Rayuela der Kunstfigur Morelli in den Mund gelegten poetologischen Reflexionen. (Vgl. La casilla de los Morelli [1973] 1981) Es ist für jeden Cortázar-Forscher unumgänglich, sich dieser Texte, Äußerungen oder Fragmente zu bedienen. Alles hängt jedoch davon ab, welches der Status ist, den er ihnen beimißt. Modellbildend für eine sich falscher Prätention enthaltende, vornehmlich Zwecken bio-bibliographischer Basisinformation dienende Verwendung solcher Gespräche ist L. Harss' 1966, auf dem ersten Höhepunkt des »boom«, erschienene Porträt-Sammlung führender lateinamerikanischer Autoren mit dem Titel Los nuestros (M 30). Der Cortázar gewidmete Abschnitt trägt den suggestiven Titel »Julio Cortázar o la cachetada metafísica« und eröffnet, ausgehend von biographischen Details, perspektivischen Zugang zur Persönlichkeit und zum (bis 1965 erschienenen) Gesamtwerk des Autors der Rayuela. Der sensible Wissenschaftsjoumalismus des Buches, in welchem Präsentation und Gesprächsebene zu einer kaum unterscheidbaren Einheit ineinanderfließen, hat viele Leser dazu verleitet, der hier wiedergegebenen (Selbst-) Deutung Cortázars den Stellenwert quasi-endgültiger Aussagen beizumessen. Die bio-bibliographische Methode der Darstellung bei Harss, bei welcher sich die Deutung des Werkes orientiert am Maßstab eines intuitiven Plausibilitätsprinzips im Hinblick auf die Kohärenz der poetologischen Äußerungen des Autors, ist repräsentativ geworden für eine erste Phase der Rezeption des Werkes. Kaum eine der wichti1. »Les ambimes de la mise en scène nanalive. Julio Cortázar: 62. Modelo para armar« (vgl. Berg 1985a). 2. »62: Un modelo inenarrable (Cortázar y la escritura)« (vgl. Berg 1985b). 3. »Juegos, dobles y puentes (Annolaciones al capítulo 41 de Rayuela« (vgl. Berg 1985c). 4. »De convergencias, confesiones y confesores ('Diario para un cuento1)« erweiterte Fassung dieses Vortrags: s.u. Kapitel 11,4.4.! (vgl. Berg 1986a). 5. »Apocalipsis y divertimento: Escritura vanguardista en la primera novelística de J. Cortázar« (vgl. Berg 1990a). C) Interviews: 1. mit Julio Cortázar (1981) (in der vorliegenden Untersuchung zitiert als M 3). 2. mit Mario Vargas Llosa (1983) (erschien 1987 in der Publikation der Akten des Mannheimer Cortázar-Kolloquiums unter dem Titel »El cronopio frente al buitre: Entrevista con Mario Vargas Llosa«) (vgl. Berg 1986c).
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gen Arbeiten der Cortázar-Kritik der 60er und 70er Jahre verzichtet darauf, ihnen ein zentrales Kapitel zu widmen. Manche Kritiker messen ihnen gar einen zentralen Stellenwert bei für die Gesamtdeutung des Werkes. (Vgl. Picon Garfield 1975; Scholz 1977; Imo 1981; de Mora Valcárcel 1982) Selbst methodologisch reflektierte Untersuchungen der 80er Jahre verzichten ungern darauf, die eigenen Thesen mit der poetologischen Autorität des Autors zu untermauern. So unterstellt J. Alazraki seine Analyse der frühen Sammlung Bestiario einerseits zwar dem Todorovschen Prinzip der reinen »Beschreibung« (vgl. Todorov 1970: 158f.), die sich jeder Deutung oder gar »Übersetzung« des phantastischen Signifikanten zu enthalten vorgibt, zeigt sich jedoch andererseits bestrebt, die konstitutiven »Elemente einer Poetik des Neophantastischen«, soweit sie auf der Grundlage textueller Analysen der Erzählungen aus Bestiario gewonnen wurden, zugleich auch an poetologische Äußerungen Cortázars aus drei Jahrzehnten zurückzubinden. Deren Kohärenz, so scheint die Zusammenfassung am Ende anzudeuten (Alazraki 1983: 210ff.), mithin bildet das geheime Signifikat, das die Beschreibung immer schon leitete. Im weitgehenden Verzicht auf literaturhistorische Metadiskurse markiert die biographisch-poetologische Tendenz gewissermaßen den hermeneutischen Nullpunkt der Cortázar-Kritik. Die ambivalente »Wahrheit« dieser Methode tritt nirgends deutlicher zutage als in den Essays des argentinischen Kritikers und Dichters Saúl Yurkievich. Exempel luzider Kunstkritik im besten und umfassendsten Sinne des Wortes, sensible Paraphrasen »al unísono y al dísono« (vgl. Yurkievich 1978a), versuchen sie durch den Einsatz »kongenialer« Stilmittel - vor allem Anagramme und »poetische« Prosa -, die suggestive Wirkung der Texte Cortázars zu vermitteln. Doch die Situation des Gesprächs, das die Essays zum Publikum hin dialogisch zu verlängern suchen - eines Gesprächs, das Kritiker und Autor über Jahre hin in enger Freundschaft verband -, trägt den Stempel des Unwiederholbaren, Unnachahmlichen ... Eine zur »Methode« erhobene In-Differenz, wie sie von Yurkievich der Unterscheidung von Text und Kritik, Objekt- und Metaebene gegenüber souverän praktiziert wird, läuft Gefahr, Kompetenz durch Anmaßung, Empathie durch Vereinnahmung, nicht zuletzt jedoch das »Andere« des Autors durch das »Selbst« des Kritikers zu ersetzen. 2.2. Inhaltsbezogene Analysen Es sind zunächst einmal die in der Darstellung von L. Harss ausführlich zur Sprache gebrachten inhaltlichen Aspekte, die in den folgenden Jahren den Gegenstand neuer Untersuchungen bilden. Im Vordergrund steht vor allem die Vielfalt philosophischer Themen des Werkes: So begibt sich N. Garcia Canclini (1968) mit Cortázar auf die Suche nach einer »poetischen Anthropologie«, präzisiert G. de Sola das Ziel dieser Suche als dasjenige nach dem »neuen Menschen« (de Sola 1968), beschreibt R. Escamilla Molina (1970) des Autors Weg von einer systematischen Infragestellung all-
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täglicher Wirklichkeit hin zur Thematisierung »metaphysischer« Probleme in Rayuela. Was Escamilla Molina (und andere Kritiker) in der vom Autor leichtfertig übernommenen Terminologie als »metaphysische« Suche bezeichnen, wird von J.C. Curutchet zureichender als eine Haltung fundamentaler Kulturkritik interpretiert (Curutchet 1972), als grundsätzliche Gegnerschaft zur rationalistisch-»pragmatisch« geprägten Weltsicht des 20. Jahrhunderts. Die Grenze des an Anregungen reichen Essays von Curutchet liegt in seiner Beschränkung auf einen allzu engen, dominant geistesgeschichtlich begründeten Kulturbegriff, der den Autor trotz allem Bemühen um Aktualität immer wieder zu überzeitlichen, also »metaphysischen« Setzungen verleitet. Zu letzteren gehört die grundsätzliche Skepsis des Autors im Hinblick auf die Möglichkeit einer »politischen« Deutung der Werke Cortázars - ein Urteil, von dem paradoxerweise einer der frühen Texte Cortázars, die im Kontext des portenischen Ästhetizismus entstandenen Dialoge Los reyes ausgenommen bleiben. Die Faszination der Kritik durch inhaltlich-philosophische Aspekte bleibt indessen nicht auf die Anfangsphase der Rezeption des Werkes beschränkt. Provoziert durch einige der spektakulären sexuellen Szenen in Libro de Manuel, deren Funktion als Transgression sprachlich-formaler (!) Konventionen Cortázar selbst verschiedentlich kommentiert hat, nimmt A. Planells das Thema zum Anlaß einer auf das Gesamtwerk bezogenen Studie mit dem Titel Metafísica y erotismo (1979). Die Untersuchung arbeitet mit einer scholastischen Nomenklatur dogmatisch verwendeter Begriffe, die im Ansatz bereits den Gegenstand, von dem sie zu handeln vorgibt, zu verfehlen Gefahr läuft. So geht es trotz des Titels in Wirklichkeit weniger um »Metaphysik« als vielmehr um eine Art existentialistisch inspirierter Kommunikationstheorie. Die simple These des Buches lautet: Cortázars Werk manifestiert die Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz als »Einsamkeit« (1. Kap.). Das rekurrente Thema der »Erotik« (2. Kap.) ist der immer wieder - bis auf wenige Ausnahmen - in seinem Scheitern manifeste Versuch, menschliche »Kommunikation« (3. Kap.) zu verwirklichen. Der dogmatische Begriffsrealismus des Autors, der für die kritisch-formalen Seiten des philosophischen Themas ebenso blind ist, wie er unsensibel bleibt für die spielerisch-humorvollen Dimensionen der erotischen Thematik, offenbart in der Zusammenfassung seine Wahrheit schließlich in Form einer - Statistik: »De los relatos separados, 29 presentan claramente el tema de la soledad: ocho de ellos a través de la incomunicación, 14 a través de imágenes eróticas y siete combinan la incomunicación con lo erótico. Diez cuentos contenían tipos o formas de comunicación: seis de ellos presentaban el fenómeno en forma pura, mientras que los cuatro restantes lo hacían en combinación con lo erótico.« (Planells 1979: 200) Etc., etc., etc.... Dominant inhaltsbezogene Analysen zeichnen sich in der Regel aus durch Unterschätzung der »formalen« und ästhetischen Ebene der Texte. »El fondo brota de la forma«, heißt es dagegen bei O. Paz (Corriente alterna, 1967: 7f.; zitiert bei Alazraki
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1983: 67), »y no a la inversa [...] La forma significa; y más: en el arte sólo las formas poseen significación.« Nicht alle der besprochenen Darstellungen verstoßen in gleicher Weise gegen diesen Grundsatz, für welchen Strukturalismus und Semiotik eine wissenschaftliche Argumentationsbasis geschaffen haben. Schon Garcia Canclini kommt am Ende seiner Studie zu dem Ergebnis, daß die »Metaphysik« Cortázars der Originalität eigentlich entbehrt und die Bewertung seiner Leistung eher ästhetischer Kriterien bedürfe. (Vgl. Imo 1981: 16) G. de Sola ihrerseits begreift die Grundfrage ihrer Untersuchung - die Erörterung des Menschenbildes bei Cortázar - explizit als das Problem der formal-literarischen Gestaltung des Themas. Keiner der beiden Autoren gelangt jedoch über einen dominant rhetorischen Begriff literarischer Form hinaus. Auf der Strecke bleibt die kreative, Sinn nicht nur vermittelnde, sondern neu produzierende Funktion der formalen Gestaltung. Es wäre zu erwarten, daß ein Buch mit dem Titel El arte poética de Julio Cortázar (Scholz 1977) dem erwähnten Aspekt Geltung verschaffte. Auch der umfangreichen Studie von L. Scholz gelingt es indessen nicht, die Prämissen der bislang referierten Inhalts-Forschung substantiell zu überschreiten. »Arte poética« - dies sind die programmatischen Äußerungen Cortázars zu Methode und Ziel seines Schreibens, wie sie sich in seinen zahlreichen Interviews, seinen literaturkritischen und poetologischen Essays, aber auch in den Morelli-Passagen von Rayuela auffinden lassen. Das Verdienst des ungarischen Kritikers besteht darin, sie als erster unter systematischem Aspekt gesammelt und dargestellt zu haben. Der zweite Teil der Studie besteht sodann im Versuch, das in der »Praxis« des Schreibens Erreichte (»sus logros«, S. 124) an der Elle der poetologischen »Theorie« zu messen. Da Scholz über keine eigene ästhetische (Meta-) Theorie verfügt, um den durch die literarische Form in Gang gesetzten Prozeß der Sinn-Bildung zu beschreiben, übernimmt er unkritisch die vagen, in der »arte poética« definierten philosophisch-inhaltlichen Zielsetzungen des Schreibens - »el nuevo hombre« (S. 57ff.); »cómo derrotar [...] el individualismo de la cultura judeo-cristiana« (S. 128) -, während er in den mannigfachen Ansätzen zu einer ästhetischen Produktions-Theorie, wie sie in den analysierten Texten ebenfalls vorfindlich sind, kaum mehr sieht als avantgardistische Formspiele. So gelangt er am Ende - beim ehrgeizigen Versuch, »(de) hacer un balance de la teoría y la práctica del autor para poder entender y explicar mejor sus éxitos y fracasos [!] literarios« (S. 123) - zu einer enttäuschenden Pro- und Contra-Bilanz, bei welcher, wie voraussehbar, Cortázars »neoavantgardistische« (S. 128) Formexperimente auf der Haben-, dagegen die ausbleibende inhaltliche Bestimmung des »nuevo hombre« auf der Soll-Seite erscheinen.
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2.3. Quellen und Einflüsse Eine traditionelle Variante inhaltsbezogener Untersuchungen bildet die Erforschung von Quellen und Einflüssen. Das Panorama interpretatorischer Möglichkeiten, das die Einflußforschung eröffnet, ist theoretisch nahezu unbegrenzt. Es reicht von der Annahme von Einflüssen quasi-kausalistischen Charakters bis hin zur Hypothese einer grundsätzlichen »interkulturellen« Konstitution, durch die der literarische Text gekennzeichnet ist. Einflußforschung ist deshalb nicht auf das Ausfindigmachen und Beschreiben sogenannter »Quellen« beschränkt. Ihr eigentliches Problem besteht vielmehr in der Beantwortung der zentralen Frage nach der innertextuellen Funktion, die die Quelle X in Text A, auf welchen sie dem Augenschein nach einen »Einfluß« ausgeübt hat, tatsächlich wahrnimmt. Die Cortázar-Kritik hat dem Problem der Einflüsse, unter denen sein Werk zu stehen scheint, immer schon große Aufmerksamkeit gewidmet. Zumeist wird die Frage jedoch unspezifisch behandelt, werden »Einflüsse« konstatiert nach rein intuitiven Kriterien: So sieht bereits Garcia Canclini (1968) das Werk Cortázars als Exponent der »existentialistischen« Bewegung, deren Genealogie als einer »Ethik des Authentischen« (vgl. Imo 1981: 15) sich zurückverfolgen läßt über Sartre, Heidegger und Kafka bis hin zu Nietzsche und Marx im 19. Jahrhundert. Garcia Canclinis Bild eines existentialistischen Cortázar wurde richtungsweisend für einen gewichtigen Teil der inhaltsbezogenen Cortázar-Kritik, insbesondere für Arbeiten im Umkreis von Rayuela. Die Reihe dieser Interpretationen wird eingeleitet von K. Genovers Claves de una novelística existencial (1979). Genovers Deutung des Zentralmotivs des Romans als einer niemals zu definitiver Erfüllung gelangenden Suche nach »Eigentlichkeit« wird fortan zum Topos der Äffywe/a-Forschung. B. Brodin wiederholt ihn in ihrer Arbeit zum Personeninventar des Romans (»Horacio Oliveira - buscador existencialista«, 1975: 39-77). R. Brody sieht »authenticity« nicht nur als inhaltlich-referentielles Problem (Brody 1976: 11 f.), sondern auch als sprachlich-formales (»Language and authenticity«, S. 56ff.) und sogar ästhetisches Problem (»For an Authentic Literature«, S. 56ff.) thematisiert. Auch W. Imo unterstellt das RayuelaKapitel ihrer Arbeit ausdrücklich den Prämissen dieses Topos: »In der folgenden Interpretation geht es ebenfalls darum, die Suche des Protagonisten als existentielles Problem darzustellen, das in der Form des Romans die Entsprechung seiner Problematik findet.« (Imo 1981: 145) Ein gemeinsames Kennzeichen der erwähnten Arbeiten besteht darin, die in der Tat häufige Bezugnahme auf zentrale Motive des Existentialismus, wie sie in Cortázars Texten zu finden sind, als mehr oder weniger eindeutig bestimmbares Signifikat zu betrachten. Die Vorliebe der Cortázar-Kritik für Fragen der Einflußforschung zeigt sich somit im Lichte eines simplen hermeneutischen Trugschlusses: Man verlagert die schwer zu beantwortende Frage nach der Bedeutung von Text A (= Cortázar) auf
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die einfachere Frage nach der Bedeutung von X - wobei die Identität von A und X (bzw. ihre zumindest weitgehende Analogie) vorausgesetzt wird. Ähnlich wie die Frage nach dem Existentialismus Cortázars wurde zunächst auch das Problem des surrealistischen Erbes in Cortázars Werk diskutiert. Eine erste ausführliche Erörterung findet die These bereits in M.E. Filers immer noch oft zitierter Monographie: Die »surrealistische Sicht« der Wirklichkeit (Filer 1970: 20ff.) ist eine jener heterogenen »Welten«, deren Repetition und Transformation in Cortázars Werk die Autorin zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht hat. Doch die Behauptung einer surrealistischen Tradition in Cortázars Werk läßt sich nicht mit den gleichen Evidenzkriterien aufrechterhalten wie die Existentialismus-These. So sieht sich E. Picón Garfield schon in der Einleitung ihres Buches ¿Es Julio Cortázar un surrealista? (1975) genötigt, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß Cortázar den historischen Surrealismus offenbar als gescheitert ansieht und für sich selbst die Bezeichnung »Surrealist« explizit abgelehnt hat. (Picon Garfield 1976: 11 f.) Die Autorin macht sich insofern die Beantwortung der im Titel formulierten Frage nicht leicht: Noch in der Zusammenfassung von 6 langen Kapiteln, die die These einer weitgehenden Übereinstimmung von zentralen Motiven der Surrealisten mit Aussagen in Texten von Cortázar im einzelnen zu erhärten suchen - am Beispiel etwa einer »dualen« Realitätserfahrung, der immer wieder thematisierten Transgression der Alltagswelt samt der sie gründenden sprachlich-vernünftigen Prämissen oder auch des revolutionären Strebens nach »absoluter« Erfahrung -, erklärt sie mit Vorsicht, Ziel der Untersuchung sei es lediglich gewesen, »esta actitud surrealista como influencia en la cosmovisión de Julio Cortázar« (ebd.: 248) zu beweisen. Das Bild schließt mit der bekannten Liste A. Bretons aus dem 1. Surrealistischen Manifest, die die Ahnenreihe der Surrealisten zuriickverfolgt bis ins 18. Jahrhundert zu Swift, um ihr sodann als 21. Vers den folgenden hinzuzufügen: »Julio Cortázar es surrealista a pesar de sí mismo« (ebd.: 250). Zur Beantwortung der oben erläuterten Grundfrage - dem Problem, die innertextuelle Funktion behaupteter Einflüsse zu beschreiben -, trägt die blasse Kompromißformel, mit der das Buch endet, allerdings wenig bei. Immerhin überwindet sie den tendenziellen Monokausalismus bisheriger Untersuchungen und weist den Weg, die Frage nach dem Einfluß des Surrealismus weiter zu differenzieren. 3 Dergleichen Differenzierung versucht W. Imo in der oben erwähnten Studie offenbar zu leisten, behandelt das Problem des surrealistischen Einflusses auf Cortázars »Wirklichkeitsauf3
Die eigentliche Auseinandersetzung Cortäzars mit dem Surrealismus fällt nicht in die Zeit der 60er Jahre - jenes Jahrzehnt der Entstehung seines Hauptwerks (Los Premios, 1960; Rayuela, 1963; Todos los fuegos el fuego, 1966; La vuella al dia en ochenta mundos, 1967; 62. Modelo para armar, 1968; Ultimo round, 1969) -, sondern bereits in die 40er Jahre. Erst nach Cortizars Tod jedoch werden die unveröffentlicht gebliebenen Romanmanuskripte dieser Zeit - Divertimento (1986; entstanden 1949) und El Examen (1986; entstanden 1950) - einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Zur Einschätzung dieser Werke als Dokumente einer kreativen Auseinandersetzung Cortizars mit der (damals noch) effektiven Tradition der europäischen Avantgarde in Lateinamerika, vgl. Berg 1990a; zum biographischen Kontext der Romane, s. unten S. 80ff.
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fassung« jedoch unverständlicherweise lediglich auf 10 Seiten des der Analyse der Literaturtheorie Cortázars gewidmeten 3. Teils ihres Buches (vgl. Imo 1981: 252263): Der surrealistische Einfluß, so argumentiert die Autorin, findet seinen Niederschlag vor allem im Begriff des sogenannten »cameleonismo«, mit welchem Cortázar die spezifische Wirklichkeitserfahrung, wie sie durch die Praxis des Schreibens ermöglicht wird, gekennzeichnet hat. (Ebd.: 263ff.; vgl. Imo 1981) Paradoxerweise verstrickt sich die Kritikerin hier noch einmal in das, worin Morelli nach den Worten Etiennes 4 das fatale Mißverständnis des Surrealismus hatte sehen wollen - die Überschätzung der Sprache als Nomenklatur. (Vgl. R 503) Positive Ansätze zur Überschreitung der engen Prämissen, mit denen die Einflußforschung in den bisher besprochenen Untersuchungen arbeitet, finden sich dagegen bei Alazraki. Auch wenn die Studie im Ergebnis kaum zu überzeugen vermag, da der Autor lediglich die innere Kohärenz der immanenten Poetik Cortázars zu beweisen versucht (s.o., S. 13), beschreibt sie hinsichtlich einer Integration der »Einflüsse« in übergeordnete Fragestellungen einen richtigen Weg: Während der 1. Teil des Buches der Erstellung einer aus verschiedensten Quellen gespeisten (Meta-) Theorie des Neophantastischen vorbehalten bleibt, behandelt der 2. Teil unter der Frage nach den »Kontexten des Neophantastischen innerhalb des Werkes von Cortázar« (Alazraki 1983: 83ff.) sowohl den Einfluß des »Existentialismus« (ebd.: 87ff.) als auch den des »Surrealismus« (ebd.: 94ff.). In beiden Fällen, so zeigt Alazraki überzeugend, geht es um alles weniger als um einen Streit mit/um Worte. Es geht vielmehr um das Zentralproblem des Cortázarschen Werkes, der kritischen Hinterfragung stillschweigend akzeptierter Prämissen der abendländischen Kultur. So steht die Beschäftigung Cortázars mit der existentialistischen Philosophie (Kierkegaard!) im Zeichen einer »vindicación de lo irracional como condición para recuperar una libertad amenazada y violada (!) precisamente por la tradición racionalista« (ebd.: 90f.) - eine Position, die Cortázar trotz der Perversion des Irrationalismus durch die faschistische Bewegung mit Hartnäckigkeit vertreten hat -, während die positive Aufnahme des surrealistischen Prinzips einer »liberación total« (ebd.: 94) umgekehrt gerade die Kritik der surrealistischen Ästhetik im engeren Sinne qua »liberación verbal« erfordert: »Lo que le interesa del surrealismo es su cosmovisión, su condición de la alternativa a la razón razonante, su intento de posesión de la realidad sin intervención del homo sapiens.« (Ebd.: 98) Es ist dies ein Resultat, das mit ähnlichen Formulierungen bereits bei Picón Garfield zu finden ist. Alazraki weist ihm jedoch eine systematische Stelle zu im Kontext einer als »metáfora epistemológica« (Alazraki 1983: 63) funktionierenden Poetik des Neophantastischen. Neben Existentialismus und Surrealismus hat vor allem der Einfluß des ZenBuddhismus die Beachtung der Cortázar-Forschung gefunden. W. Imo widmet der 4
»Los surrealistas se colgaron de las palabras en vez de despegarse brutalmente de ellas, como quisiera hacer Morelli desde la palabra misma [...]« (R 503).
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Frage in ihrer Untersuchung ein ausführliches Kapitel. (Imo 1981: 211-228) Es ist einmal mehr der Roman Rayuela, wo auch dieser Einfluß seine deutlichsten Spuren hinterlassen hat. Die Liste der Elemente und Motive, für die buddhistische »Quellen« namhaft zu machen sind, ist beeindruckend: allen voran Cortázars metaphorische Rede vom »Weg«, die beständige Suche des Protagonisten nach einem »Zentrum« (der für dieses synonym gebrauchte Begriff des »mandala« war lange Zeit sogar als Titel des Romans vorgesehen! Vgl. Bamenechea 1983: 23ff.), die Infragestellung der logozentrischen Identitätsprämissen - sowohl im Hinblick auf die (Selbst-) Erfahrung des Subjekts als auch bezogen auf die transzendentale Funktion der Anschauungsform »Raum« und »Zeit« - sowie schließlich die Ambivalenz zwischen Emst und Unernst, wie sie im Zen für die Kommunikation zwischen Meister und Schüler konstitutiv ist. Cortázars Interesse für die Zen-Bewegung ist offenbar durch die Beschäftigung mit dem Surrealismus vermittelt (vgl. Imo 1981: 212), wie diese mithin durch die Suche nach Möglichkeiten der Grenzüberschreitung des Aprioris abendländischer Kultur motiviert. Der Zen ist insofern mehr als »eine literarische 'Quelle'« unter anderen, wie Imo suggeriert. (Imo 1981: 228) Er ist mehr als ein Arsenal von »Gedanken und Bildern«, mehr als eines unter vielen »Zitaten, die (Cortázar) [...] benutzt als sprachliche Anregung im weitesten Sinne« (ebd.). Was Cortázar am Zen interessiert, ist mit dem Begriff des »Materials« nur unzureichend umschrieben. Es ist vielmehr der Charakter dieser Lehre als »Methode«, die ihn fasziniert, einer Lehre, die im Unterschied zu abendländischen Weisheitslehren darauf verzichtet, »Inhalte« zu vermitteln, einer Lehre mithin, in welcher der für die abendländische Kultur konstitutive Gegensatz von Theorie und Praxis tendenziell aufgehoben erscheint, einer Lehre schließlich, welche - am abendländischen Modell gemessen - eigentlich aufhört, »Lehre« zu sein. Das Ziel einer über den derzeitigen Stand der Diskussion hinausführenden Untersuchung der Einflüsse des Zen-Buddhismus auf Rayuela bestünde mithin darin, die spezifische Umsetzung dieser Methoden-Lehre mystischer Erleuchtung in literarische Praxis zu beschreiben. Eine solche Fragestellung könnte sich auf Cortázar selbst berufen, der bereits im Gespräch mit L. Harss den konstitutiven Unernst gerade der zentralen Kapitel des Romans durch den Einfluß dieser Grundhaltung des Zen - »incluso digamos de esa técnica« (!) (M 30: 281) - auf den Stil seines Schreibens zu erklären versucht hat. 2.4. Methodenkritische Ansätze Die Mehrzahl der besprochenen Arbeiten bewegt sich innerhalb eines methodologischen Rahmens, der sich kennzeichnen läßt als der einer unreflektierten Hermeneutik: Poetologische Selbstdefinition des Autors, dominant inhaltsbezogene Fragen oder solche nach Einflüssen und Quellen gelten diesem Ansatz zufolge als fraglose Kriterien der Interpretation. Es ist dies ein Ansatz, der charakteristisch ist - ja unverzichtbar - für eine erste Phase der Rezeption. Die Ergebnisse, zu denen er gelangt, auch
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wenn sie sich in der Folge als revisionsbedürftig erweisen, sind die Basis aller weiterführenden methodologischen Reflexion. Diese gilt es nunmehr näher zu bestimmen. Methodenkritische Ansätze - solche, die das Problem des adäquaten methodologischen Zugangs zu Cortázar explizit thematisieren - finden sich bereits in einigen der frühen Arbeiten aus den 70er Jahren: Wenn in der erwähnten Monographie von M.E. Filer (1970) jede methodologische Metareflexion noch fehlt, so beschäftigt sich A. McAdams 1971 erschienene Studie der Kurzgeschichten bereits erfolgreich mit dem Problem der Erfassung und Beschreibung einer allgemeinen, verschiedenen Erzählungen gemeinsamen Tiefenstruktur. Es gelingt der auf den typologischen Modellen von N. Frye sowie der Erzählforschung V. Propps fußenden Untersuchung, die scheinbar ausufernde Vielfalt der Erzählungen zu äquivalenten Gruppen zu ordnen, doch zeigt sich im Ergebnis zugleich auch eine Gefahr der eingeschlagenen Methode. Es ist diejenige einer allzu starren Typologie, die die kreativen ästhetischen Aspekte der phantastischen Erzählung kaum zu erfassen vermag. Die 1982 erschienene Studie von C. de Mora Valcárcel - Teoría y práctica del cuento en los relatos de Cortázar - führt den typologischen Ansatz in gewisser Weise fort. Sowohl im Hinblick auf die Vielzahl der in der Darstellung erfaßten Texte als auch im Hinblick auf die Differenziertheit des analytischen Instrumentariums, mit dem die Autorin arbeitet, ist die Untersuchung zweifellos ein Höhepunkt bisheriger Cortázar-Forschung. Der erste Teil des Buches enthält eine umfassende Darstellung der »theoretischen« Aspekte der Cortázarschen Kurzgeschichte im vierfachen Kontext (1) der historischen Problematik des Genre, (2) des strukturalistischen Modells der Kurzgeschichte (in der Nachfolge Propps, Sklovskys und Ejchenbaums), (3) des eigenen poetologischen Ansatzes bei Cortázar sowie (4) einer Aufarbeitung der Theorie der phantastischen Erzählung, insbesondere bei J. Bessiére (de Mora 1982: 1-68); der zweite Teil umfaßt mehr als die dreifache Länge des ersten und enthält eine detaillierte, sich vorwiegend auf die Analyseinstrumente der französischen Narratologie (G. Genette, R. Barthes, T. Todorov, A.J. Greimas) stützende Taxonomie der (mit Hilfe dieses Instrumentariums erfaßbaren) erzähltechnischen Verfahren Cortázars. Trotz der Vielfalt »praktischer« Ergebnisse, trotz der Fülle der aufgearbeiteten »Theorien« gelingt der Untersuchung jedoch kaum die Konstituierung eines qualitativ neuen Cortázar-Bildes. Die als »conclusiones« im Anschluß an die jeweiligen Kapitel zusammengefaßten Ergebnisse verbleiben vielmehr auf der Ebene unverbindlicher Allgemeinheiten, wenn sie nicht - wie die folgenden - die Grenze zur Trivialität hin bereits überschreiten: »Varias razones podrían encontrarse para justificar la presencia de la muerte en los relatos de Cortázar: a) Con frecuencia, el autor coloca a sus personajes en una situación límite [...] b) A veces, la muerte es un corte brutal en la vida [...] c) En otros relatos, la muerte no es el final de un proceso sino el cominenzo de un
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camino que conduce al conocimiento de otra realidad [...]« 236f.)
(de Mora 1982:
Die auffallende Diskrepanz zwischen Analyseaufwand und -ergebnis, wie sie für die Untersuchung de Mora Valcárcels kennzeichnend ist, verlangt eine Erklärung. Sie liegt begründet im formalistischen Ansatz der Analyse, die in der virtuosen Handhabung eines umfangreichen Begriffsarsenals strukturalistischer und semiotischer Provenienz die formale Ebene des Textes als eine Taxonomie literarischer Verfahren zwar erfaßt, die kreative Primärebene des Textes indessen verfehlt. J. Alzarakis mehrfach erwähnte Studie zu Bestiario dagegen vertritt mit dem Begriff der »epistemologischen Metapher« (Alazraki 1983: 63), der die originäre Semioseleistung des »neophantastischen« Textes beschreibt, einen Analyseansatz, der die formalistischen Gefahren der Untersuchung de Mora Valcárcels zu vermeiden sucht. Das Ziel der Studie besteht zunächst einmal darin, mittels systematischer Abstraktion eine für alle acht Erzählungen der Sammlung verbindliche »Tiefenstruktur« (ebd.: 202) ausfindig zu machen. Angelpunkt dieser Struktur ist die Austragung eines von Erzählung zu Erzählung variierten Grundkonflikts der jeweiligen Protagonisten zu ihrer Umgebung: »[...] ese conflicto se resuelve con la intervención de un elemento fantástico que funciona como una metáfora que desafía un orden causal y cerrado para introducir un orden de signo contrario.« (Ebd.: 203f.) In den Erzählungen selbst bleibt die Struktur unter einer je unterschiedlichen Oberflächenstruktur allerdings verborgen. Signifikanz erhält sie erst dank der Abstraktionsleistung des Kritikers, der in der formalen Wiederholung ähnlicher Elemente die Manifestation eines »unbewußten Signifikats« (ebd.: 210) erkennt. Die Bedeutung der Tiefenstruktur der Erzählung erschließt sich mithin - wie Alazraki zu Recht unterstreicht - auf der Ebene der »Konnotation« (vgl. ebd.: 209, 210). Konnotative Ebene bzw. Tiefenstruktur sind jedoch identisch mit jener Ebene phantastischer Bedeutung, die durch die Dynamik des neophantastischen Signifikanten angezeigt ist. Statt den Signifikationsprozeß der Texte mit Hilfe der solchermaßen grundgelegten Poetik des Neophantastischen effektiv zu beschreiben, schließt Alazraki dann doch wiederum die eigentliche Erkenntnisleistung der phantastischen Metaphorik 5 mit der oben bereits kommentierten autobiographischen Poetik-Prämisse kurz: Die Tiefenstruktur von Bestiario ist deutbar als die unbewußte Vorwegnähme jener poetologischen Inhalte, die in Rayuelo »en una inequívoca [!] visión del mundo« (ebd.: 211) auf der Ebene bewußter Reflexionen artikuliert werden. Wenn es stimmt, daß die Erkenntnisleistung der phantastischen Metaphorik beschränkt bleibt auf die Manifestation je-
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Allgemein zur Funktion der Metapher als »Erfahnings- und Erkennmismittel« vgl. Borsö-Borgarello 1985; vgl. insbesondere auch die beim Mannheimer Cortázar-Kolloquium vorgelegte, über Alazrakis Ansatz kritisch hinausgehende Studie »Des-ticrro, escritura, des-cubrimiento« (Borsö 1986).
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ner Fundamentalopposition, die Bestiario mit Rayuela verbindet - »Oposición entre un orden cerrado y un orden abierto, [...] entre una falsa libertad y una libertad verdadera, entre una realidad embalsamada por la costumbre y una realidad revitalizada por el hombre y desde el hombre« (ebd.: 210) -, so erweist sich auch der vielversprechende Ansatz Alazrakis am Ende lediglich als eine Modifikation der formalistischen Taxonomie. Methodenkritische Ansätze, wie sie die besprochenen Studien von McAdam, de Mora Valcárcel sowie Alazraki verwenden, markieren einen unbestreitbaren Fortschritt im Rahmen der Cortázar-Forschung, da sie die Ebene unreflektierter Hermeneutik, durch welche die erste Phase der Rezeption gekennzeichnet ist, mit Hilfe nachprüfbarer, methodologisch reflektierter Analysemodelle erfolgreich überschreiten. Zu positiven Ergebnissen gelangen die erwähnten Studien vor allem auch deshalb, weil sie ihre Ansätze am Gegenstand der Kurzgeschichte exemplifizieren. Hier ist die Cortázar-Forschung mitnichten auf sich allein gestellt; hier kann sie - wie es die Untersuchung de Mora Valcárcels beispielhaft praktiziert - auf bereits vorliegende Theorien und Modelle zur Problematik des Genre zurückgreifen. Dies erklärt aber auch die vorwiegend typologische bzw. taxonomische Orientierung der erwähnten Untersuchungen. Es seien nun abschließend drei methodenkritische Arbeiten erwähnt, die sich vorwiegend mit dem Romanwerk Cortázars beschäftigen. (Vgl. Boldy 1980; Imo 1981; Barrenechea 1983) Hier stößt der methodenkritische Ansatz nicht nur an eine Grenze; er gerät vielmehr recht eigentlich in die Krise. Der Grund für diese Krise ist z.b. indiziert in der bekannten Bemerkung Cortázars, »(que) Rayuela es de alguna manera la filosofía de mis cuentos, una indagación sobre lo que determinó a lo largo de muchos años su materia o su impulso« (zitiert bei Alazraki 1983: 211). Der Satz enthält keineswegs die Behauptung - wie Alazraki fälschlicherweise interpretiert -, Rayuela sei gewissermaßen die explizit gewordene Verstehenstheorie für die implizite Bedeutungsstruktur der Erzählungen. Was in Rayuela explizit wird, ist vielmehr jene Tendenz zur 'Autoreferentialität', welche - wenngleich sie die Dynamik vieler frühen Erzählungen immer schon kennzeichnet - in Rayuela erstmals unbestreitbare Dominanz erhält. 'Autoreferentialität' bedeutet, daß die Funktion des Textes nicht länger darauf beschränkt bleibt, Modelle möglicher Welten abzubilden, sondern darüberhinaus vor allem den Prozeß des Abbildens selbst - den Signifikationsprozeß des literarischen Zeichens sowie seine Grenzen - thematisiert. Der Umkreis der mit dieser Thematisierung zusammenhängenden Probleme bezeichnet den eigentlichen Interessenhorizont der vorliegenden Untersuchung. Dies gilt sowohl für die Grundfrage nach der spezifisch ästhetischen Qualität des literarischen Textes, sein Verhältnis zum Kommunikations- bzw. Zeichenmodell, die für den modernen Text zentrale Frage nach der problematischen Relation von Text und ('wissenschaftlichem') Metatext als auch schließlich für das nicht weniger grundlegende Problem einer dominant 'model-
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lierenden' oder aber 'dekonstmierenden' Funktion des literarischen Textes. Fragen dieser Art werden in den erwähnten Arbeiten von Imo, Boldy und Barrenechea nur am Rande behandelt. Die Resultate, zu denen sie gelangen, sind für die vorliegende Untersuchung deshalb nur von begrenzter Relevanz. Gerade in ihrer Begrenztheit können sie jedoch dazu dienen, deren Ziele methodologisch zu präzisieren. So gehört die Beantwortung der Frage nach den spezifischen Formen und Modellen der »Wirklichkeitserfassung und Wirklichkeitsdarstellung« gewiß zu den Desideraten der Cortázar-Forschung. Die Resultate, zu denen die Arbeit W. Irnos jedoch gelangt, enttäuschen in vielfacher Hinsicht: Weder enthält die Arbeit eine adäquate Darstellung - oder gar Auseinandersetzung - mit den im Kontext neomarxistisch bzw. semiotisch fundierter Literaturwissenschaft diskutierten Wirklichkeits- oder Mimesismodellen, noch wird der vielfach schillernde Begriff philosophisch, kulturkritisch oder auch linguistisch in angemessener Weise dargestellt. Abgesehen vom Titel tritt die Rede von Wirklichkeit vielmehr immer nur in Verbindung mit der »description définie«, als »die« - uns allen bekannte, eigentlich nie emsthaft zu hinterfragende »Wirklichkeit« auf. Cortázar geht es allenthalben, so lesen wir, um den (wahren) »Sinn des Lebens« (Imo 1981: 4, 13, 237, 265 u.ö.), um »die reale Wirklichkeit« (ebd.: 66), eine »integrale Erfahrung« (ebd.: 268) von uns selbst, also um »Selbsterkenntnis« (ebd.: 121, 122, 222, 224) mittels Selbstüberwindung« (ebd.: 206, 207). Die Romane stellen eine »Welt ohne tiefere Bedeutung« (ebd.: 26, 146, 206) dar, jedoch als »Zeichen für eine höhere, zweckfreie Ordnung« (ebd.: 254). Alle diese Begriffe werden in ihrer durchaus vordergründigen und umgangssprachlichen Bedeutung gebraucht - geradewegs so, wie sie in den zitierten Texten in der Tat benutzt zu werden scheinen. Die Unbefangenheit, mit der die Verfasserin solche Leerformeln als »die« Bedeutung eines Textes ausgibt, der wie wenige andere den Prozeß unaufhaltsamer Erosion von Zeichensystemen jedweder Art zum Thema hat, versetzt in Erstaunen: Da weder die Spezifik des literarischen Textes als Inter-Text noch die bei Cortázar zentrale Konstitutionsproblematik der Wirklichkeit durch Sprach- und Zeichensysteme reflektiert werden, bleiben auch die im engeren Sinne 'philologisch' interessanten Ergebnisse der Arbeit im Hinblick auf Quellen und Einflüsse ungenutzt, führt die zwar richtige, aber auch triviale Feststellung, daß Cortázar alles, »was irgendwann einmal in irgendeiner Sprache in Worte gefaßt wurde, [...] als Material für sein eigenes Werk (übernimmt)« (ebd.: 276), letztendlich doch nur zur Identifikation des Autors als eines wortreichen Epigonen. 6 Ein methodologisch anspruchsvolleres Konzept liegt in der 1980 erschienen Studie von S. Boldy, The novéis of Julio Cortázar, vor. Das Ziel, das sich der Verfasser gesetzt hat, ist einfach und schwierig zugleich: »to understand the four novéis of Cortázar« (Boldy 1980: 5), so jedoch, daß die zwischen den einzelnen Textebenen bestehenden Spannungen und Widersprüche als Herausforderung an den kreativen »lector 6
Vgl. unsere ausführliche Kritik der Studie von W. Imo (Berg 1982a).
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cómplice« sichtbar bleiben. Der Ansatz der Studie ist insofern hermeneutisch: Es geht um die Herausarbeitung der individuellen Einheit der Romane unter Respektierung des Prinzips ihrer je eigenen »textuality« (ebd.: 7), nicht jedoch um die Erstellung einer allgemeingültigen »Cortazarian grammar« (ebd.). Desungeachtet führt die Untersuchung schließlich doch zum Aufweis einer »mythischen Tiefenstruktur«, die sich in allen vier Romanen nachweisen läßt: »the feeling of a lost presence or force, and the attempt to recover this presence« (ebd.). Der methodologische Rahmen, in dem diese These entwickelt wird, ist weitgespannt und reicht von Cortázars eigenen poetologischen Reflexionen über C.G. Jungs Archetypenlehre, die Kulturkritik Freuds und Marcuses bis hin zu poststrukturalistischen Denkmodellen, die von Foucault und Derrida entlehnt werden. (Vgl. ebd.: 112ff.) Der Gebrauch, den der Verfasser von der Vielzahl dieser Theorien macht, ist jedoch im schlechten Sinne eklektisch und dient einzig der Stützung einer im Grunde simplen These des psychologischen Rationalismus: Die durch gesellschaftliche Repression verlorengegangene ursprüngliche Einheit (»presence«) zwingt zur Abspaltung eines Teil-Ichs, welches - gesellschaftlich tabuisiert (»monster«) - ein dämonisches Eigenleben zu führen beginnt. Das Ich gerät somit in den für abendländisches Denken und Existieren grundlegenden Zustand dualistischer Entfremdung. Das Streben nach ihrer Aufhebung - »Versöhnung« (ebd.: 95) als »lo otro« oder der »neue Mensch« - ist deshalb ein in allen Romanen Cortázars vorfindliches Grundmotiv. Auf die Ebene der Handlung projiziert, manifestiert sich dieses Streben nach Wiedererlangung der verlorenen Einheit als das ebenfalls in allen Romanen wiederkehrende Motiv der Suche, einer Suche, deren Verwirklichung die revolutionäre Infragestellung gesellschaftlich verfugter Normen grundsätzlich impliziert. Die methodologischen Grenzen der Studie liegen auf der Hand: Dominant an inhaltlichen' Elementen interessiert (»mythische Tiefenstruktur«), gilt ihr die Ebene der literarischen 'Form' ineins mit derjenigen kultureller Referenzen - die mit philologischer Akribie herausgearbeitet werden (vgl. die schöne Textanalyse der ersten Seiten des Roman 62. Modelo para armar, ebd.: 115!) - als eine prinzipiell sekundäre Oberfläche (»the raw cultural material of the novels«, ebd.: 8), die es im Hinblick auf den »desired signifié« zu durchforsten gilt. In der wie selbstverständlich vorausgesetzten Trennung von Form und Inhalt, die sich zu Unrecht auf das Saussuresche Begriffspaar »signifiant« und »signifié« beruft, erweist sich die Metaebene des literaturwissenschaftlichen Diskurses indessen erneut dem undurchschaubaren Einflußbereich jenes abendländischen Dualismus ausgesetzt, dessen Überwindung dem Analyseergebnis zufolge doch eigentlich das zentrale Motiv der Cortázarschen Romane darstellt. Kennzeichnend für den ganz und gar 'logozentrischen' Ansatz der Studie ist insofern die terminologische Umdeutung des von Boldy zur Erklärung des Cortázarschen Begriffs des »aplazamiento« (vgl. Boldy 1980: 112f., 148f., 157): »aplazamiento« qua »différance« ist der Zustand vorübergehender Entfremdung, in dem sich
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die Personen als Suchende befinden, solange sie die gesellschaftlich verfügten Repressionsmechanismen verinnerlichen. Die Psychologisierung des Begriffs verkehrt den bei J. Derrida gemeinten Sachverhalt in sein Gegenteil: Primär ist nicht die »differenzielle« Erfahrung der raum-zeitlich strukturierten Opposition der signifiants, deren unhinterfragbare Faktizität signifiés jedweder Art erst ermöglicht; primär ist vielmehr das immer schon vorausgesetzte Faktum einer psychologisch gedeuteten »présence« als Versöhnung (»réalisation of personal truth«, ebd.: 158), eines signifié mithin, der es umgekehrt erst gestattet, »différence« zu erfahren bzw. zu denken. 7 In der letzten der hier zu besprechenden Arbeiten - der begleitenden Studie A.M. Barrenecheas zu der von ihr besorgten Veröffentlichung der Skizzen-Manuskripte zu Rayuela - steht das Problem der »textuality«, das bei Boldy letztlich doch wieder nur im Rahmen der traditionellen philologisch-hermeneutischen Fragestellung behandelt wird, abermals im Zentrum des Interesses. »Text« - das ist angesichts der Fülle von »Prä-Texten« (Barrenechea 1983: 9ff.), die die Manuskripte enthalten, allerdings ein weiter Begriff. Das Ziel, das die Studie sich setzt, besteht folgerichtig darin, das Verhältnis zu beschreiben, in dem die hier veröffentlichten Prä-Texte stehen zum endgültigen Text der Rayuela. Um die Fragestellung zu erläutern, unter der das Verhältnis erörtert wird, bedient sich die Autorin des methodologischen Modells der sogenannten »crítica genética« (ebd.: 13ff.). Diesem zufolge indiziert die Vorsilbe 'Prä-' soviel wie 'Vorläufigkeit', 'Entwurf oder 'Skizze'. Das Verhältnis von Prä-Text und Text erscheint somit von vornherein im Horizont eines genetisch-organischen Prozesses. Unhinterfragt steht am Ende der Text', das 'Werk' in seiner geschlossenen Vollendung. Andererseits jedoch zielt die Methode auch darauf ab, letzterem - dem 'Werk' - im Sichtbarmachen des genetischen Prozesses, in der Aufdeckung der den Text konstituierenden Prä-Texte, den Schein falscher Vollendung zu nehmen, das Werk mithin statt »en términos de perfección«, vielmehr »en términos de diferencia« (ebd.: 16) zu beschreiben. Der sichtbar gemachte genetische Prozeß ist insofern identisch mit demjenigen der »escritura« (ebd.: 20); die genetische Kritik zielt in die gleiche Richtung wie Derridas »deconstructivismo« (ebd.: 15). Gemessen an diesem Ziel ist das Ergebnis auch dieser Studie eher enttäuschend: Barrenechea gelingt es zwar, in einer Folge kleinschrittiger Gegenüberstellungen von Prä-Text und Text die Entstehungsgeschichte des letzteren aus den in den Manuskripten ersichtlichen Entwürfen nachzuzeichnen, doch bleibt das zuvor bestimmte Ziel der Analyse, den Text selbst »en términos de diferencia« zu beschreiben, weitgehend auf der Strecke: Die Gegenüberstellung bleibt bestimmt von einem unhinterfragten hermeneutischen Vorgriff auf die Bedeutung des (endgültigen) Textes, in dessen Horizont die Funktion der Prä-Texte als die Stationen seiner Genese re-konstruiert werden. Auf der Strecke bleibt damit jedoch vor allem das nach wie vor ungelöste Problem, den eigentlichen textuellen Status von Rayuela selbst methodologisch 7
Vgl. unsere Rezension der Studie (Berg 1983b).
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angemessen zu beschreiben: Wenn die Hypothese Gültigkeit besitzt, derzufolge Rayuela das erste Beispiel jener »offenen« Schreibweise darstellt, wie sie oben mit dem Begriff der »Autoreferentialität« (s.o., S. 22) angedeutet wurde, so verlangt eine methodenkritisch reflektierte Beschreibung des Verhältnisses dieses Textes zu den ihm vorausliegenden Prä-Texten gewissermaßen die Umkehrung der Fragestellung der genetischen Kritik: Wenn es stimmt, daß Rayuela - einer Formulierung Morellis zufolge - nur die »arcilla significativa« eines dialogisch offenen Signifikationsprozesses darstellt zwischen Autor und Leser (Vgl. R Kap. 79!), des Charakters von »Endgültigkeit« mithin in einem radikalen Sinne entbehrt, so kann das Ziel der Analyse nicht länger darin bestehen, das Entstanden-Sein des Textes aus der Vielfalt seiner Prä-Texte zu re-konstruieren; vielmehr gilt es, Einblick zu gewinnen in den spezifischen Signifikationsprozeß eines Textes im Sinne der »écriture«, dessen Funktion darin besteht, jedweden Prä- oder Meta-Text zu ¿e-konstruieren.8 Wir verlassen damit die Ebene der Prä-Texte der vorliegenden Untersuchung und gehen über zur Darstellung unseres eigenen methodologischen Ansatzes.
3. Methode und Ziel der Untersuchung Trotz der Vielzahl ungelöster Probleme, die den Stand der Forschung kennzeichnen, sind wir dem Ziel, Kriterien zu bestimmen im Kontext zeitgenössischer Literatur (s.o., S. 12ff.), nähergeriickt. So sind es gerade diejenigen Fragen, die im Rahmen der bisherigen Forschungsansätze unbeantwortet blieben, die den Ausgangspunkt bilden für die vorliegende Untersuchung: l fi Probleme der Referenz: Worin liegt, so fragen wir, die Wirklichkeits-konstituierende, Bedeutung-generierende, Modell-bildende Leistung des Cortazarschen Textes? Existiert eine solche überhaupt? Ist es möglich, dieselbe jenseits der Aporien der bisherigen Forschung, die zwischen inhaltsbezogenen Ansätzen einerseits, die die bedeutungsproduzierende Funktion sui generis der ästhetischen Form außer Acht lassen, und der Suche nach formalistischen, als solchen letztlich bedeutungslosen Strukturen, hin- und herschwankt, als signifikante Struktur zu beschreiben? Was hat es auf sich mit dieser »Signifikanz«? 2a Der Status des literarisch-ästhetischen Textes: Welches ist der spezifische Status des Cortazarschen Textes, dem die Forschung einerseits die kreativen Funktionen einer quasi-surrealen Wiiklichkeitserfahnmg zuspricht, während sie andererseits, im Konstatieren mannigfacher Quellen und Einflüsse, die semantische Originalität des Textes in Frage stellt? Worin besteht die Spezifik des hier praktizierten epistemologischen Modells? Welches ist die ihm korrespondierende »Episteme«? 39 Das Problem der Methode: Es ist dies das eigentliche Problem der Cortäzar-Forschung. Mit seiner Lösung hängt zugleich auch die Beantwortung der beiden erstge-
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V g l . ausführlich zur Kritik der Studie Barrenecheas: Berg 1984.
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nannten Fragen aufs engste zusammen. Welches ist mithin - so fragen wir - der methodologisch adäquate Zugang zum Werk von Cortázar? Gibt es eine hinreichend konsistente Metaebene, auf der sich nicht nur die Praxis des Schreibens selbst, sondern auch die auf der Objektebene des Textes bzw. andernorts formulierte Poetologie angemessen erfassen lassen, so nämlich, daß die Beschreibung nicht nur dem unfreiwilligen Zirkelschluß, dem die bisherigen Arbeiten zur »arte poética« Cortázars meist unterliegen, zu entgehen, sondern darüberhinaus auch die spezifische Funktion der impliziten Poetologie für die textuelle Praxis Cortázars sichtbar zu machen vermag? Eine Globalantwort auf die Vielzahl der aufgeworfenen Fragen liegt im Hinweis auf den zeichentheoretischen Ansatz der vorliegenden Untersuchung. Sein Verhältnis zu den bisher diskutierten und von der Forschung verwendeten Modellen ist kein alternatives, sondern ein integratives: Der semiotische Ansatz erlaubt es, sowohl die Frage nach dem Inhalt als auch diejenige nach dem Status des Cortázarschen Textes adäquater zu beantworten. Insbesondere jedoch ist er eine gemeinsame Verstehensbasis sowohl für die implizite Poetik der Cortázarschen Texte als auch für die diesen beigefügte, in sie integrierte oder unabhängig von ihnen formulierte explizite Poetologie. 3.1. Zeichentheoretische Grundlegung 3.1.1. Zur Geschichte der Zeichentheorie »[...] el lector prescindirá sin remordimientos de lo que sigue [...]«9 Die Zeichentheorie steht der Sache nach bereits an der Wiege der abendländischen Kulturwelt. Eingebunden in die ontotheologischen Entwürfe der antiken Metaphysik, bleibt die transgressive Dynamik, die die Theorie im Laufe ihrer langen Geschichte entfalten wird, zunächst noch verborgen. Der Zeichenbegriff der aristotelischen und stoischen Philosophie ist gewissermaßen 'vorsemiotisch': Die zeichenkonstituierte Leistung der Sprache sowie die Wahrheit verbürgende Spontaneität des Logos werden als Einheit erfahren. Erst die Erschütterung des antiken Begriffsrealismus durch die christliche Offenbarung bereitet den Boden für eine Emanzipation des Zeichens: Wenn das Sein seiner höchsten Bestimmung und Wahrheit zufolge nicht länger vergegenwärtigt gedacht werden kann in der naturaliter gegebenen, als ewig und unveränderlich angesehenen Sphärenbewegung der Gestirne; wenn alles Sein der Natur sich vielmehr einem göttlichen Schöpfungsakt ex nihilo verdankt, so erfährt auch das erkennende Denken sich im Spannungsfeld von Zeit und Ewigkeit, Immanenz und
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Es ist nicht zu erwarten, daß jedem unserer Leser bereits an dieser Stelle die Notwendigkeit einer »zeichcntheoretischen Grundlegung« der Untersuchung voll einleuchtet. Die Ungeduldigen unter ihnen mögen sich deshalb die zitierte Lektüreanweisung Cortázars aus dem »tablero de dirección« des Romans Rayuelo (Näheres hierzu vgl. Teil II, Kap.2.3.2.) zu eigen machen.
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Transzendenz. Der Zeit unterworfen wie die übrige Schöpfung, bedarf Erkenntnis fortan der vermittelnden Leistung der repraesentatio, der verbildlichenden Vergegenwärtigung der Dinge als Gegenstände des Bewußtseins. (Vgl. Augustinus, Conf. XI: 18). Um dem latenten Erkenntnispessimismus, wie er sich in Augustins Beschreibung des durch Zeitlichkeit und Endlichkeit charakterisierten Bewußtseins zu Wort meldet, zu entgehen, bedarf es nunmehr einer umständlichen Argumentation: Die Scholastik präsentiert sie in der Lehre der analogia entis, der neuzeitliche Rationalismus in derjenigen der ideae innatae. Die Infragestellung dieser beiden Prämissen, die Unterminierung mithin der Position der dogmatisch-rationalistischen Metaphysik, ist die Vorbedingung für die allmähliche, im Ergebnis jedoch radikale Neuorientierung des menschlichen Wissens: In der Anerkennung der ihm durch seine endliche Natur gesetzten Grenzen konstituiert es sich im 18. Jahrhundert als 'Wissenschaft', als Suche nach methodisch gesicherter, irrtumsfreier, d.h. 'positiver' Erkenntnis. Teil dieser neu sich konstituierenden Wissenschaft ist die Wissenschaft der Zeichen, die 'Semiotik', »the business whereof is« - wie Locke ebenso nüchtern wie grundlegend formuliert - »to consider the nature of signs the mind makes use of for the understanding of things, or conveying its knowledge to others« (Locke 1963: 175). Die Funktion einer 'logozentrisch' orientierten Kommunikationswissenschaft, die den Tenor bildet der zitierten Definition, reduziert den Gegenstandsbereich der Semiotik zwar auf denjenigen der Sprache. Die Stelle der Semiotik in der Systematik der neuen Wissenschaft verleiht ihr jedoch gleichzeitig eine potentielle Dynamik, die die Bedeutung erklärt, die die Zeichenlehre für den Gesamtbereich der Humanwissenschaften später erhalten wird. Schon bei Locke findet sich eine Überlegung, die eine Ausweitung des eng gefaßten Rahmens, in dem die Semiotik in der Abhandlung selbst erscheint, offenbar ins Auge faßt und vorausweist auf die oft zitierte - ebenfalls Projekt gebliebene - Bemerkung Saussures, die Erweiterung der linguistischen Fragestellung zu einer allgemeinen »Semiologie« betreffend (vgl. Saussure 1985: 33): Wenn es stimmt, so lautet die Überlegung, daß die Sprache tatsächlich das hauptsächliche »Instrument der Erkenntnis« ist, so verdient jener dritte Teil der neuen Wissenschaft - eben die »Semiotik« - unsere besondere Aufmerksamkeit, denn hier geht es gewissermaßen ums Ganze (»la Connaissance Humaine dans toute son étendue«). Das Ergebnis einer solchen Anstrengung - es ist offenbar nicht identisch mit den im 3. Buch vorgelegten eigenen Sprachanalysen Lockes! - brächte eine »Logik« bzw. eine »Kritik« hervor, die alle bisherigen Versuche in den Schatten stellten (»[...] duly considered, they would afford us another sort of logic and critic than what we have been hitherto acquainted with.« [Locke 1755: 176]).
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3.1.2. Der semiotische Phänomenalismus
bei Ch.S. Peirce
Die Entstehung einer semiotischen Theorie im modernen Sinne dagegen ist gebunden an eine im Vergleich zum 18. Jahrhundert grundsätzlich gewandelte geschichtsphilosophische Konstellation. So läßt sich der »semiotische Phänomenalismus« (vgl. Apel 1975: 44), wie ihn der junge Charles S. Peirce in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts konzipiert, einerseits zwar verstehen als Replik auf zentrale Positionen der Transzendentalphilosophie, andererseits steht er jedoch auch im Zeichen einer kritischen Hinterfragung des Kantischen Transzendentalismus seitens der »idealistischen« Philosophie sowie - nicht zuletzt - der Kritik der letzteren seitens der mehr und mehr an Hinfluß gewinnenden Vertreter 'positivistischer' Philosophie. Es ist der Kontext dieser dreifachen Kritik, in dem Peirce die Grundbegriffe der Semiotik entfaltet. Analog zu Kant steht auch für Peirce die Frage nach den schlechthin konstitutiven Bedingungen objektiver Welterfahrung zunächst einmal am Anfang. Sie sind gegeben jedoch nicht als die Leistung transzendentaler »Synthesis« eines Verstand und Anschauung zur Deckung bringenden Erkenntnis-Si/ft/eto, sondern als die »semiotische« Trias von »Representamen«, »Interprétant« und »Object« (vgl. CP 2.227ff.). Die Substitution des traditionellen erkenntnistheoretischen Dualismus durch eine dreistellige Relation ist der Angelpunkt der Theorie der Zeichen, das entscheidende Argument mithin der Kritik der Semiotik an den überkommenen Positionen der traditionellen Philosophie: Gegen Kant gewendet ist nicht nur der Titel selbst der neuen Wissenschaft - »semiotic (ori(i£iamxT|), the quasi necessary, or formal, doctrine of signs« soll die Stelle einnehmen der (transzendentalen) »logic« Kants! (vgl. CP 2.227) -, sondern grundsätzlicher noch die auf der Basis der semiotischen Trias ermöglichte Kritik der eigentlichen Voraussetzung aller »Erkenntnistheorie«, der Annahme nämlich eines jenseits der Welt der »Erscheinungen« qua Gegenständen unserer Erkenntnis vorauszusetzenden »Ding-an-sich« (vgl. Apel 1975: 45ff.). Der Begriff eines »Ding-an-sich«, eines Seienden, welches, wenngleich unerkennbar, allem Erkennbaren dennoch als Substrat zugrundeliegen soll, ist Peirce zufolge nichts als »a meaningless word« (CP 5.310). Schärfer noch: »cognizability (in the widest sense) [i.e.: die Analyse der zeichenhaften Repräsentation der Dinge als Gegenstände unserer Erkenntnis] and being [i.e.: die Aussagen, die wir treffen im Hinblick auf die ontologische Beschaffenheit der Dinge selbst] are not merely metaphysically the same, but are synonymous terms.« (CP 5.257) Peirce' Zurückweisung der Kantischen - letztlich jedoch aus platonischer Tradition stammenden - Unterscheidung von »Noumena« und »Phainomena« (vgl. Apel 1975: 53) scheint auf den ersten Blick an eine bereits von Hegel gegen Kant geltend gemachte Argumentation anzuknüpfen. Es ist jedoch gerade die Position des absoluten Idealismus (bzw. die diesem artverwandte Position eines "blinden' Positivismus), die sich angesichts der semiotischen Kritik am »Ding-an-sich« als unhaltbar erweist: Wenn es stimmt, daß jedes Verhältnis des erkennenden Subjekts zu seiner »Welt« -
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sei es, daß diese abermals nur eine »Welt als Vorstellung« ist (Idealismus!), sei es, daß sie bestimmt ist als unabhängig vom Bewußtsein gegebenes materielles Sein (Positivismus!) - der unhintergehbaren Beziehung auf ein »Drittes« bedarf, ein ebenfalls »innerweltliches« Seiendes - »a Sign, or Representamen« (CP 2.274) -, so kann weder die idealistische noch die positivistische Position Ursprünglichkeit für sich reklamieren. 'Ursprünglich' ist vielmehr lediglich die semiotische Trias selbst: »Ein Zeichen bzw. Representamen ist ein Erstes, das zu einem Zweiten, seinem Objekt, in einer so ursprünglich triadischen Beziehung steht, daß man sagen kann, es bestimmt ein Drittes, seinen Interpretanten, sich zu seinem Objekt in die gleiche Beziehung zu versetzen, in der es selbst sich befindet.« (CP 2.274; Übersetzung W.B.B.) Der entscheidende Gedanke der in den Collected Papers vielfach wiederholten, entsprechend dem Kontext unterschiedlich nuancierten Definition liegt in der dreifachen Zurückweisung einer die semiotische Trias auf zweistellige Relationen reduzierenden Theorie der Erkenntnis: 1® Kritik des idealistischen (bzw. positivistischen) Modells: Dieses reduziert die Trias auf die Dyade »Interprétant - Objekt« (»Subjekt - Objekt«, »Vorstellung - Gegenstand« in traditioneller Terminologie). Es ist dies das Modell, welches intuitionistischen Theorien aller Art zugrunde liegt, sei es, daß sie (»idealistisch«) die SelbstGewißheit des Bewußtseins, sei es, daß sie (»positivistisch«) die Selbst-Gegebenheit des Gegenstandes zum Anfangspunkt der Erkenntnis erklären. In beiden Fällen wird die Tatsache unterschlagen, daß es Gegenstandsbewußtsein nur geben kann als »Zeichen-vermitteltes«; in den Worten von Peirce: »[...] the Interprétant [...] cannot stand in a mere dyadic relation to the Object, but must stand in such a relation to it as the Representamen itself does.« (CP 2.274) 2° Kritik des nominalistischen Modells: Dieses reduziert die Trias auf die Relation »Interprétant - Representamen«. Das nominalistische Modell unterschlägt die Tatsache, daß Vorstellungen sind, was sie sind, nur als Vorstellung »von etwas«. Der Begriff einer »leeren« Vorstellung ist insofern eine contradictio in adjecto. Zwar ist das vorgestellte »Etwas« notwendigerweise ein Zeichen. »Zeichen«-Sein bedeutet gemäß obiger Definition jedoch gerade dies: Bezogensein auf ein »Objekt«, so jedoch, daß diese Beziehung zugleich auch eine Instruktion an einen »Interpretanten« beinhaltet, die gleiche Beziehung (zu einem Objekt) seinerseits zu realisieren. 3® Kritik des »strukturalistischen« (i.e. formalistischen) Modells'. Dieses reduziert die Trias auf die Beziehung »Representamen - Objekt«. Nicht die Materialität des Zeichens allein schon (seine 'Form') ist Garant für seinen Inhalt: Artifizielle Kalküle, überhaupt Formalismen aller Art übersehen die Tatsache, daß erst der Bezug zum Interpretanten das Zeichen zu dem macht, was es ist. Die positive Seite dieser Kritik liegt in der Ausweitung des Begriffs des Zeichens auf Gegenstände des Bewußtseins überhaupt. »We only think in signs« (CP 2.302): Wenn der Grundsatz stimmt, so ist
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damit die Fähigkeit des Menschen angesprochen, jedweden Gegenstand seiner Erfahrung in Zeichen zu verwandeln. Der von Peirce vertretene »Pragmatismus« geht insofern über die Prämissen eines »transzendental-philosophischen«, d.h. auf die kritische Bestimmung der Grenzen des Erkenntnisvermögens bezogenen Denkansatzes entschieden hinaus. Er versteht sich nicht nur als Alternative zur traditionellen Erkenntnistheorie, sondern ist ein Versuch, die seit langem in antagonistische Einzeldisziplinen zerfallene Einheit der philosophischen Weltorientierung zu restituieren. Die semiotische Trias enthält im Rahmen dieses ehrgeizigen Projekts eine durch die »Architektonik« des Systems (vgl. Apel 1975: 241) definierte Schlüsselfunktion. Sie erlaubt es, der bei Kant offen gebliebenen Frage nach einem »theoretische« und »praktische« Vernunft vereinigenden Prinzip eine neue Wendung zu geben, ja sie sogar als grundsätzlich beantwortet zu betrachten (vgl. ebd.: 103). Wenn es stimmt, daß jedweder Aussage über die Wirklichkeit aufgrund des Zeichencharakters der Erkenntnis lediglich der Charakter einer Hypothese zuzusprechen ist (vgl. ebd.: 46ff.), so verlagert sich das Problem der »objektiven« Geltung der Erkenntnis nämlich von der Ebene der Leistung erkennender Einzelsubjekte (Kant!) auf die Ebene der Gesamtheit aller am Prozeß der Forschung beteiligten Subjekte (»indefinite Community«, Apel 1975: 58): Resultat des Prozesses fortgesetzter Konsensbildung, hat Wirklichkeit dann grundsätzlich den Charakter einer (idealiter anzustrebenden) »ultimate opinion« (ebd.: 102) im Hinblick auf ein »esse in futuro« (ebd.: 50; 68). Da das Prinzip vernünftiger Konsensbildung sowie die Möglichkeit einer schließlich und endlich zu erzielenden »ultimate opinion« bei jedem Erkenntnisakt immer schon antizipiert werden müssen, erweist sich die Akzeptanz »theoretischer« Wirklichkeitsaussagen zugleich als Funktion eines (moralisch-) »praktischen« Willens zur Vernunft. Auf der Grundlage dieses »sinnkritischen« (ebd.: 28; 57) Postulats erhält der »Pragmatismus« - und zugleich auch die in diesen integrierte »Semiotik« der Erkenntnis - explizit eschatologisch-religiöse Akzente. Es fehlt nicht an Formulierungen, welche die semiotische Erkenntnislogik von Peirce in die Nähe rücken zum Pan-Logismus Hegels: »Each of us is an insurance company, in short. But, now, suppose that an insurance company, among its risks, should take one exceeding in amount the sum of all the others. Plainly, it would then have no security whatever. [...] What follows? That logic rigidly requires, before all else, that no determinate fact, nothing which can happen to a men's self, should be of more consequence to him than everything else. He who would not sacrifice his own soul to save the whole world, is illogical in all his inferences, collectively. So the social principle is rooted intrinsically in logic.« {CP 5.353; vgl. Apel 1975: 103)
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3.1.3. Semiotik und Dekonstruktion Es ist notwendig, an diese - auch 'logozentrischen' - Konsequenzen bzw. Postulate der Semiotik zu erinnern. Sie werden durch die reduktionistische Peirce-Lektüre Derridas (»La sémiotique ne dépend plus d'une logique«, Derrida 1967: 70) ebenso verdeckt wie sie durch die ausführliche Saussure-Kritik der Grammatologie eine - wie wir meinen - überzogene Akzentuierung erfahren. So sieht sich Derrida gezwungen, in Konsequenz einer berechtigten Kritik an einem zweistelligen, Signifiant und Signifié auf die »Präsenz« linearer Entsprechungen reduzierenden Zeichenbegriff, diesen in toto zurückzuweisen, um ihn sodann durch »dekonstruktivistische« Begriffe wie »différance«, »trace« und vor allem »écriture« zu substituieren. Die die Grammatologie als roten Faden durchziehende Kontrastierung einer Theorie der Zeichen mit einer Praxis der Dekonstruktion erscheint im Kontext der vorliegenden Untersuchung indessen als nicht akzeptabel: Derrida selbst ist es, der die »dekonstruktivistischen« Elemente der Peirceschen Zeichentheorie positiv hervorgehoben hat. Es ist vor allem der »unendliche« Verweisungsprozeß der semiotischen Trias - die Tatsache nämlich, daß jede Aussage X bereits als solche (d.h. als »representamen«) den Verweis enthält auf eine Aussage Y (d.h. ihren »Interpretanten«), die damit Zeichencharakter erhält, um nunmehr ihrerseits auf einen Interpretanten Z zu verweisen, usf. -, den Derrida hierbei im Sinn hat: »Peirce va très loin dans la direction de ce que nous avons appelé plus haut la déconstruction du signifié transcendantal, lequel, à un moment ou à un autre, mettrait un terme rassurant au renvoi de signe à signe. Nous avons identifié le logocentrisme et la métaphysique de la présence comme le désir exigeant, puissant, systématique et irrépressible, d'un tel signifié. Or Peirce considère l'indéfinité du renvoi comme le critère permettant de reconnaître qu'on a bien affaire à un système de signe. Ce qui entame le mouvement de la signification, c'est ce qui en rend l'interruption impossible.« (Derrida 1967: 71f. - Hervorh. im Original) Die Konsequenz dieser Peirce-Lektüre - auch wenn sie, wie wir sahen, die 'immanente' Architektonik der Peirceschen Philosophie unterschlägt - bestünde darin, die schroffe Antinomie Dekonstruktion/Semiotik zu revidieren: Gerade wenn der Kritik des Dekonstruktivismus an einem bestimmten Typus von Zeichen - sprich: einer reduzierten Form der Saussureschen Semiologie, an der sich die Kritik Derridas entzündet - Pertinenz zuzusprechen ist, so verlagert sich die Antinomie in das Feld der Semiotik selbst. Der dekonstruktivistische Ansatz erhält dann die Funktion eines Regulativs, einer kritischen Argumentationsbasis zur Unterscheidung alternativer »Semiotiken«. Derrida selbst hat diese Konsequenz - zumindest terminologisch - nirgends gezogen. 10 Sie zu ziehen ist indessen unverzichtbar, nicht nur im Interesse einer Grenzbe10
Spätere Formulierungen schwächen die schroffe Kritik der Grammatologie
am Zeichenbegriff ab, ohne sie deshalb
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Stimmung der allgemeinen Semiotik, sondern insbesondere im Interesse der Operabilität des Zeichenbegriffs im Hinblick auf die Analyse des literarischen Zeichens. 3.1.4. Theorie des literarischen
Zeichens
Eine Revision der Semiotik in angedeuteter Richtung impliziert notwendigerweise eine Relektüre Saussures. In der Perspektive einer an Peirce geschulten Problematisierung des Zeichens wird sie anzusetzen haben vor allem an der entscheidenden Prämisse der strukturalistisch-formalistischen Saussure-Rezeption, der Prämisse nämlich eines - auf Signifiant und Signifié reduzierten - zweistelligen Zeichenmodells. Neuere Arbeiten zu Saussure lassen die Prämisse als fraglich erscheinen. Wir fassen zusammen: Schon R. Barthes hat seinerzeit mit bemerkenswerter Klarheit auf die Dreistelligkeit des Saussureschen Zeichenbegriffs verwiesen: »Je rappelerai donc que toute sémiologie postule un rapport entre deux termes, un signifiant et un signifié.« Jedoch, so fährt er fort: »il faut prendre garde que contrairement au langage commun qui me dit simplement que le signifiant exprime le signifié, j'ai affaire dans tout système sémiologique non à deux, mais à trois termes différents; car ce que je saisis, ce n'est nullement un terme l'un après l'autre, mais la corrélation qui les unit: il y a donc le signifiant, le signifié et le signe, qui est le total associatif des deux premiers termes.« (Barthes 1957: 219) Die Anwendung des semiologischen Modells R. Barthes bleibt auf den Gegenstandsbereich zeitgenössischer »Mythen« jedoch keineswegs beschränkt. Es beinhaltet vielmehr eine allgemeine Theorie der Konnotation (vgl. Kloepfer 1975: 89), läßt sich mithin auch für die Beschreibung »sekundär modellbildender Systeme« (Lotman 1972: 39) - i.e. literarische Texte allgemein - erfolgreich verwenden. Eine detaillierte Analyse des Saussureschen Zeichenbegriffs findet sich in einer Arbeit von D. und J.F. MacCannell (On the Nature ofthe Literary Sign, im folgenden zitiert als MC 1982). Die Verfasser verweisen zunächst in Übereinstimmung mit R. Barthes auf die Tatsache, daß Saussure im Cours de linguistique générale die konkrete Einheit des linguistischen Zeichens im Sinne gegenseitiger Determination von Signifiant und Signifié unterstreicht (vgl. Saussure 1985: 144). Saussure-Adepten, die die eine - G. Deleuze z.B. den »signifié« - oder die andere Seite - J. Lacan z.B. den »signifiant« - privilegieren, verstoßen mithin gegen die Intentionen des Schweizer Linguisten: »Like a chemical Compound (Saussure's analogy is water), the sign is radically conceived as the total détermination by a relationship; and it is the sign that aufzugeben: »C'est à ce moment qu'il faudrait peut-être abandonner ce concept. Mais ce moment est très difficile à déterminer et il n'est jamais pur. Il faut que toutes les ressources euristiques du concept de signe soient épuisées et qu'elles le soient également dans tous les domaines et tous les contextes.« (Krisleva et al. 1971: 12; zitiert bei Mac Cannell/Mac Canncl 1982: 100)
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makes the signifier and the signified what they are in the situation of their relationship. [...] From both the standpoint of the sign and that of the system of signs the stress is on the idea of mutual determination of elements. Few statements, either scientific or poetic, have so underscored the idea of mutual determination - more than organic - in the production of the third.« (MC 1982: lOlf. - Hervorh. W.B.B.) Es ist jedoch vor allem die eigentümliche Weise, in der Saussure das Verhältnis von Signifiant und Signifié zu fassen versucht, die der Aufmerksamkeit bisher entgangen ist: Nimmt man die Definitionen des Cours - insbesondere auch die sie begleitenden Grafiken - nämlich beim Wort, so zeigt sich, daß weder die Zurückfühning des Signifiant auf ausschließlich materielle noch diejenige des Signifié auf ausschließlich konzeptuelle Qualitäten die Seinsweise des konkreten Sprachzeichens zureichend zu beschreiben vermögen: Einerseits nämlich ist das als Signifiant zu bestimmende Element des Sprachzeichens keineswegs identisch mit dem »son matériel, chose purement physique« (Saussure 1985: 98); denn nur die durch den Laut hinterlassene »empreinte psychique« (ebd.) hat Signifikanz. Saussure nennt sie deshalb »image acoustique« (ebd.). Andererseits ist auch das Gegenüber der »image acoustique« keineswegs ein materieller Gegenstand bzw. ein (mentales) Konzept: Verstanden' ist z.B. das lateinische Sprachzeichen »arbor« dann und nur dann, wenn dem französischen Begriff »arbre« seinerseits die konkrete Vorstellung eines »Baumes« zugeordnet wird. In der schematischen Darstellung des Zeichens bei Saussure erscheint infolgedessen anstelle des »Konzeptes« die konkrete Figur eines Baumes. Es ist in dieser unauflösbaren gegenseitigen Durchdringung von figürlichen und konzeptuellen Elementen, in welcher die Verfasser die Pointe des Saussureschen Zeichenbegriffs erblicken: »Saussure's icon of the sign, itself an ironic conflation of verbal and pictorial, shows the impossibility of defining either image or concept, signifier or signified, external to their relation in the sign. That is, it is not possible outside of their relation to each other in the sign, to define what a signifier or a signified is.« (MC 1982: 114) Die Affinität dieses Zeichenmodells zur semiotischen Trias à la Peirce liegt auf der Hand: Entgegen der »strukturalistischen« Lesart Saussures, die durch die Prämisse einer (statischen) »one::one relation of image to concept« (MC 1982: 118) geprägt ist, steht nunmehr der dynamische Charakter des Zeichens im Vordergrund, das die Identität fester Bedeutungen systematisch verflüssigende Oszillieren zwischen Signifiant und Signifié. Das Oszillieren entspricht dem von Peirce beschriebenen originären Semioseprozeß auf der Ebene der »Drittheit«11, der »Beziehung des Zeichens zum ver11
»The Third [d.h. Interprétant - WM.B ] [...] must have a second triadic relation thereof to its Object, and must be capable of determining a Third to this relation. All this must equally be mie of Third's Thirds and so on endlessley
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stehenden Bewußtsein des Menschen in Gestalt des sogenannten 'Interprétant'« (Apel 1975: 82). Wichtiger als die evidente »Parallele zu Peirce' Interprétant« (MC 1982: 120) erscheint den Verfassern indessen der Modellcharakter des Saussureschen Zeichens für das Verständnis des literarischen (Zeichen-) Textes: »The association of a signifier with a signified is the exemplary literary act, in terms both of reading and writing, and the avoidance of the sign may well be one source of methodological difficulties in literary analysis.« (MC 1982: 104) Saussures Modell des Zeichens beschreibt zunächst die für die Phänomenalität des literarischen Textes fundamentale Einheit von Inhalt und Form. So ist die Unmöglichkeit der Privilegierung der einen auf Kosten der anderen Seite eine unmittelbare Folge der als différentielle Beziehung von figuralen und konzeptuellen Elementen (Signifiant und Signifié) verstandenen Einheit des Zeichens überhaupt.12 Der Prozeßcharakter, die bei jeder »Analyse« aufs neue zu beobachtende Erfahrung eines analytischer Explikation gegenüber irreduziblen Bedeutungswöerjc/iHSies literarischer Texte - die Erfahrung mithin originärer (Bedeutungs-) »Produktivität« (vgl. Kristeva 1969: 208ff.) - hat hier ihren eigentlichen Grund. So gilt es, die Kritik der Grammatologie am (logozentrischen) Zeichenbegriff als dem Ort ursprünglicher »Repression« (der »Schrift« nämlich durch die »Stimme«) gewissermaßen zu verallgemeinern: »What is repressed by the sign may not only be the material signifier - phonic or graphic - its becoming transparent to meaning; the signified, or rather signifieds, may also be repressed, not because the signified has been rendered transparent, but because it is apparent: the appearance as the signified represses alternative differential meanings that are latent in the sign.« (MC 1982: 104) In Abänderung eines berühmten Wortes von Freud läßt sich deshalb als Prämisse literarischer Bedeutungsproduk[...]« (CP 2.274) 12
Die irreduzible Einheit von figuralen und konzeptuellen Elementen, wie sie für die Phänomenalität des literarischen Zeichens konstitutiv ist, betrifft die Ebene seines allgemeinen Modells. Sie schließt natürlich für die konkrete Zeichenpraxis eine Privilegierung der einen oder anderen Seite • im Sinne »relativer Dominanz« - mitnichten aus. Mit Recht hat R. Klocpfer deshalb entgegen einer einseitigen Betonung konzeptueller »Bedeutungs«-Elemente, wie sie in der Tradition der Literaturwissenschaft gang und gäbe ist, im Begriff der »Sympraxis« die für den Zeichengebrauch konstitutive »dominant selbstbezogene, dauerhafte und zeichenvermittelte Bewußtseinsfüllung« (Kloepfer 1985: 152) als Sinn hervorgehoben. »Sinn« entspricht in der Peiiceschen Zeichenkonzeption der Funktion vor allem des »emotionalen« bzw. »energetischen Interpretanten«. Gleichwohl darf die Beschreibungskategorie der Sympraxis nicht verabsolutiert werden. Wenn es stimmt, daß ästhetische Genre denkbar sind, bei denen »sich Bedeutung dem Sinn unterordnet« (ebd.: 142) - und gewiß ist der in Kloepfers Studie analysierte Werbespot hierfür ein schlagendes Beispiel -, so ist doch für den modernen Text gerade die ausgehaltene Differenz von Sinn und Bedeutung - Sympraxis und Mimesis - das phänomenologische Erste des ästhetischen Prozesses. Nur sie bewahrt Rezeption vor dem Rückfall in narzißtischen Selbstgenuß - eine Gefahr, die durch Kloepfers Studie mit Beispielen aus der Werbebranche eindrucksvoll demonstriert wird. Wie der »logische« gehören Peirce zufolge auch der energetische und emotionale Interprétant zur Kategorie der Drittheit, sind, was sie sind, mithin keineswegs als intuitiv gegebene anthropologische Primärtatsachen, sondern nur in der auflöslichen Beziehung zu den beiden anderen Elementen des Zeichens (dem Zeichenkörper als »Representamen« sowie dem Referenzbezug des Zeichens als seinem »Objekt«): Weder die »sinnliche« Materie des Signifiant noch die Konzeptualität des Signifié sind mithin als phänomenologisch Erste des ästhetischen Zeichens, sondern ihre unaufhebbare différentielle Einheit in der »Drittheit« des Interpretanten. - Vgl. auch Anm. 9 in 11,3 (s.u., S.293).
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tion formulieren: »There where a signifier is so shall a 'signified' be.« (MC 1982: 114) Ein weiteres, für die Phänomenologie des literarischen Zeichens nicht weniger bedeutsames Argument findet sich ebenfalls bei Saussure. Es handelt sich um die im 2. Teil des Cours (V. Kapitel) beschriebene, Sprache allgemein strukturierende Opposition syntagmatischer bzw. assoziativer Beziehungen: Ein anschauliches Bild für die ersten z.B. ist die tragende Säule der Front eines Gebäudes. Sie symbolisiert die für die Bedeutung eines Syntagmas entscheidenden syntagmatischen Oppositionen, die zwischen den einzelnen, das Syntagma in praesentia konstituierenden Elemente tatsächlich bestehen. Jedes dieser Elemente evoziert jedoch gleichzeitig eine nichthierarchisierte, mit dem jeweiligen Element durch Merkmale von Ähnlichkeit assoziierte Fülle weiterer Elemente-m absentia. So assoziieren wir, wenn es sich bei der in Frage stehenden Säule im erwähnten architektonischen Syntagma um eine Säule dorischen Typs handelt, zugleich auch die Form der ionischen oder korinthischen Säule. Der Unterschied der assoziativen zu den paradigmatischen Beziehungen liegt zum einen darin, daß die Liste der ersteren prinzipiell offen ist, sich mithin nicht wie die paradigmatischen Beziehungen durch ein System distinktiver Oppositionen erschöpfend beschreiben läßt, zum anderen darin, daß die Elemente der assoziativen Beziehungen Zeichen sind, nicht aber - wie im Paradigma - lediglich Signifiants. Assoziative Beziehungen verdeutlichen mithin den durch die Natur der Sprache selbst bereits latent gegebenen, im literarischen Text dagegen systematisch aktualisierten Bedeutungsüberschuß, den Charakter des literarischen Textes mithin als »Palimpsest« (MC 1982: 12), seine Konstituiertheit durch den prinzipiell unbegrenzten Horizont des Textes der Geschichte. Als zu gleichen Teilen durch syntagmatische und assoziative Beziehungen konstituiert, läßt sich der Signifikationsprozeß der Sprache mithin im Rahmen des (logozentrischen) Modells der Präsenz nicht länger sinnvoll beschreiben. Saussures Modell trägt mithin den Keim einer dekonstruktivistischen Wendung gegen sich selbst in sich: »Having produced language through the operation of the syntagmatic relation so tellingly visualized as a Greek column (of a sacred, social instituion, of a temple perhaps) - Saussure proceeds to give us the catastrophe by which the solidity of structure undoes itself. The mannerist conjunction of differing styles (Doric, Ionic, etc.) is not simply an innocent or neutral association of ideas [...]; it is a profanation, a violence done to the classical, structured moment. [...] In the (twisted) movement between the two axes of Saussure's fictive 'language-state' we can trace not a form structure, but a deconstructing process, that of making the linguistic into the literary, the fixed paradigmatic figure (metaphor) into the open trope.« (MC 1982: 119) Die Geschichte dieser Bewegung, die Geschichte einerseits der Befestigung kultureller Strukturen gegenüber unstrukturierter, amorpher Natur (im Sinne z.B. der
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Peirceschen »fixation of belief«, [CP 5.258ff.] bzw. der Gewinnung von mit allgemeiner Geltung ausgestatteter »habits of action« [vgl. Apel 1975: 69f.]), die Geschichte andererseits der notwendigen Überschreitung geltender kultureller Normen im Namen einer »neonature of pure difference prior to systematic oppositions«: »This passage«, so schließen die Verfasser, »is the mode of being of modern culture« (MC 1982: 119) 3.2. »Grenz-Zeichen Cortázar«: Ziel und Gegenstand der Untersuchung Das Ziel der Untersuchung ist ein monographisches. Intendiert ist eine sowohl biographisch als auch textanalytisch perspektivierte Gesamtdarstellung. Gegliedert in einen 'biographischen' und einen 'analytischen' Teil, scheint die Arbeit mithin die Prämissen des traditionellen Biographismus 13 zu akzeptieren. Die Fragestellung des letzteren jedoch - so ist allem Folgenden vorauszuschicken -, insofern ihm die Ebene biographischer Daten als verbindliches Erklärungsmuster gilt für die Frage nach der Bedeutung des literarischen Werkes, erscheint im Falle Cortázars gewissermaßen ins Gegenteil verkehrt: Nicht das 'Leben' erklärt hier das 'Werk', sondern umgekehrt liegt im literarischen Werk Cortázars der eigentliche Schlüssel auch zum Verständnis dieses (für die soziokulturelle Problematik lateinamerikanischer Literatur der Gegenwart exemplarischen) Schriftsteller-Lefteni. Infrage steht mithin - um eine von Cortázar selbst seit 1973, dem Erscheinungsjahr von Libro de Manuel, gern gebrauchte Formel aufzugreifen - eine spezifische Struktur von »Konvergenz« 14 , in der Leben und Werk zueinander sich befinden. Konvergenz ist indessen nicht 'Koinzidenz'. Ihre Struktur ist keine logisch-mathematische, sondern eine semiotische. Konvergenz läßt sich bestimmen nur als Struktur von Zeichen. Mehr noch: Konvergenz besteht recht eigentlich in der Erfahrung der Grenze des Zeichens. Dennoch: auch Cortázars Leben ist zunächst einmal doch der Prozeß der Aneignung kodifizierter sozialer und kultureller Codes. Weder das Kleinbürgermilieu seiner Kindheit noch seine spätere Tätigkeit als Lehrer und Übersetzer; weder sein europäisches 'Exil' noch sein politisches 'Engagement' stehen außerhalb der Norm. Kaum anders - so scheint es - sein Werk: Der Lesehunger in der Kindheit, der Ästhetizismus seiner Jugend, die Zurückhaltung beim Veröffentlichen eigener Texte, der relativ späte Ruhm und schließlich: der nach wie vor zur Schau getragene 'Individualismus' bei andererseits vehement vertretener politischer 'Solidarität'. 13
Schulbildcnd für diese Form der Schriftstellerbiographie ist - jedenfalls für den Bereich der »Romania« und trotz der vernichtenden Kritik von Marcel Proust - immer noch die »méthode Sainte-Beuve«. Sie erlebt in der nach wie vor verbindlichen Tradition der »Ltiomme et l'oeuvre«- Darstellungen bis heute unzählige Neuauflagen und präsentierte sich auf dem Höhepunkt der •Psychokritik' der 70er Jahre vorübergehend sogar mit methodologisch' gesicherter Dignität. - Ein Überblick über »Vertreter« und »Aspekte«. Grenzen und Möglichkeiten der »biographischen Methode« findet sich bei Strelka 1978: 228-246.
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Vgl. die programmatischen Erklärungen Cortâzars bei seiner Ankunft in Argentinien anläßlich der Präsidentschaftswahlen von 1973 (M 49: 19). - »Konvergenz« ist auch das Stichwort, unter das er den Libro im Jahr darauf bei der Entgegennahme des »Prix Médicis étranger« gestellt wissen will (vgl. M 90).
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Dies alles sind konventionelle Muster: Nicht das Außergewöhnliche, sondern das Fehlen spektakulärer Akzente überrascht bei Cortázar. Worin also besteht das Besondere dieser Biographie? Worin besteht ihre Qualität als Grenz-Zeichen, jene Grunderfahrung, in welcher Leben und Werk miteinander vielfältig "konvergieren'? Der Satz, sofern er den Grund-Satz bildet für die gesamte Untersuchung, bedarf offenbar der Explikation. Läuft er nicht Gefahr, eine methodologische Prämisse, die 'für uns', die Biographen und Leser Cortázars, Geltung besitzt, 'der Sache selbst', um die es geht, vorschnell zu substituieren? Mit den Argumenten des 'semiotischen Phänomenalismus', wie er im vorangegangenen Abschnitt skizziert wurde, ist der Einwand offenbar nur unzureichend widerlegt: Auch wenn es stimmt, daß 'Lebens'-Erfahrung und 'Zeichen'-Erfahrung strenggenommen ein und dasselbe bedeuten, so läßt sich dies doch eigentlich von jedem Schriftstellerleben behaupten. Worin liegt also - bleibt abermals zu fragen - das Spezifische unseres Gegenstandes? Worin liegt das Spezifische jener sowohl biographisch dokumentierbaren als auch literarisch manifesten Grenz-Erfahrung des Zeichens? Die Antwort der Arbeit läßt sich in fünf Punkten zusammenfassen: (1) Eskapismus und Elfenbeinturm Die erste Figur der Konvergenz von Leben und Werk ist diejenige unvermittelter Opposition. Schon in der Kindheit hat die Welt der Bücher, sowohl das sentimentalabenteuerliche Universum der Dumas und Verne, das ihm die Bibliothek der Mutter bereitstellt, als auch die mit 'Realien' angefüllte Bildungs-Welt populärer Sachbücher und Enzyklopädien, für Julio die Funktion eines Refugiums ursprünglicher Freiheit. Es ist die Freiheit realitätsfemer, um soziale Normen unbekümmerter Phantasie, eine Freiheit jedoch, die die Vorbedingung darstellt für die ersten Schritte grenzüberschreitender, schöpferischer Imagination. Als Julio sie im Alter von acht Jahren erprobt, macht er eine exemplarische Erfahrung: Die sozialen Sanktionen, denen er sich konfrontiert sieht, treffen nicht so sehr bestimmte Inhalte, als vielmehr die Tatsache imaginativer Schöpfung als solcher. Als man ihm die Autorenschaft für seine Phantasiegebilde streitig macht, erlebt er das Trauma einer ersten »Offenbarung des Todes«. (Vgl. unten S. 60!) Der nicht-mimetische, die Eigengesetzlichkeit der ästhetischen Erfahrung betonende Grundzug der Literatur Cortázars hat in der ersten Figur der Konvergenz ihren Ursprung. Sie erklärt die Vorliebe des Autors fürs phantastische Genre, seine intensive Beschäftigung mit den englischen und deutschen Romantikern, den zentralen Stellenwert der symbolischen und surrealistischen Tradition für Cortázars eigene Ästhetik. Sie bildet die dominierende Konstante seines Werkes bis Rayuela, ein Roman, der die 'dekadent' provokative Maxime Oscar Wildes »Life imitates art« nicht nur mehrfach wörtlich zitiert, sondern gleichzeitig dem eigenen ästhetischen Modell ironisch integriert.
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Der 'engagierte' Cortázar der 70er Jahre hat die ästhetischen Positionen seines Werkes bis Rayuela bekanntlich mehrfach als 'eskapistisch' denunziert: Der Schriftsteller habe den Elfenbeinturm der l'art pour /'ari-Produktion zu verlassen und sich der Verantwortung vor der Geschichte zu stellen. Wir kommen auf diese Variante des 'Grenz-Zeichens' unter Punkt (5) ausführlich zu sprechen. Hier genügt deshalb die Feststellung, daß Cortázar trotzdem in keiner Phase seines Lebens den ästhetischen Standpunkt seiner Jugend jemals vollständig verleugnet hat, und sei es auch nur - wie er einmal ironisch formulierte -, um dem Schicksal jenes gealterten Ehemannes zu entgehen, welcher, »después de haber tirado todas las corbatas viejas para complacer a [su] amante esposa, el día de las bodas de plata [descubriéra] que [se ha] puesto, horror, la corbata con pintitas obsequiada por aquella novia que después no se casó con [él].« (Final del juego, S. 197) (2) Antiliteratur und Spiel Dem abstrakten Refugium 'Literatur' entspricht - als sein Gegenteil - das nicht weniger abstrakte Refugium 'Leben'. Literatur ist bestimmt als die Grenzerfahrung dessen, was sie nicht ist: Literatur ist ästhetische 'Fiktion'; Leben dagegen hat den Stellenwert unmittelbarer 'Realität'. Die Erfahrung dieser Abstraktionen, die Erfahrung mithin der Fiktionalität der vermeintlichen Grenze, das Oszillieren der Gegensätze die Denunzierung literarischer Fiktion im Namen unmittelbarer Erfahrung; die Denunzierung der letzteren als potenzierte Form der Fiktion - ist die zweite Figur der Konvergenz von Literatur und Leben. In Rayuela erscheint sie als das ästhetische Projekt der Anti-Literatur: Literatur als Vehikel lebensweltlicher Erfahrungen - so lautet das zentrale Argument von Kap. 79 - erfordert deshalb die beständige Selbstaufhebung literarischer Formen. Es ist dies das Programm des die Verfahren der Ironie, der Selbstkritik und Inkongruenz zum Prinzip erhebenden »Anti-Romans«. Doch es handelt sich um keine Aufhebung Hegeischen Typs: Der »Haß« des Schriftstellers Morelli gegen die »Literatur« - so erläutert Kap. 141 - ist selbst wieder Literatur: »La odiaba desde la literatura en vez de repetir el Exeunt de Rimbaud«. Der Verzicht Rimbauds auf literarische Schöpfung ersetzt nur eine Abstraktion durch eine andere. Morelli dagegen hat die Unmöglichkeit erkannt, der Fiktionalität zu entgehen im Namen vermeintlicher Unmittelbarkeit des Lebens. »Leben« - das ist vielmehr eben dies: die Grunderfahrung des Oszillierens, die Unmöglichkeit der Aufhebung einer der beiden Seiten auf Kosten der anderen. Leben ist mithin identisch mit der Grunderfahrung des Zeichens. Die Universalität semiotischer Erfahrung ist gleichbedeutend mit einer Verschiebung der Grenze als solcher. Literatur ist nicht länger die Identitätserfahrung des Rein-Ästhetischen. Sie ist nicht länger die Projizierung der Grenze nach außen: Zeichen inmitten alltäglicher Realität, ist der Elfenbeinturm vielmehr zur offenen Tür geworden für die Differenzerfahrung des Zeichens als solchem. Literatur ist Grenz-
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Zeichen, weil das Zeichen selbst die Erfahrung des »Oszillierens« bedeutet (s.o., S. 34!). Der ernsthafte Unemst des Spiels ist der zentrale Signifikant der zweiten Figur der Konvergenz. Im Spiel wird die 'Selbstrepräsentanz' des Zeichens, das konstitutive Oszillieren zwischen Realität und Fiktion unmittelbare Erfahrung: »Ritos«, »Juegos«, »Pasajes« lauten die Überschriften der 1976 erschienenen gesammelten Erzählungen. Final del juego markiert das Grenzzeichen 'Pubertät', die flüchtige Mimesis der als »actitudes y estatuas« (Ceremonias 1979: 143) kodifizierten Welt der Erwachsenen. Los premios läßt einen durch den Zufall des Lotteriespiels ermittelten Durchschnitt der argentinischen Bourgeoisie miteinander interagieren. Rayuelo, das Hüpfspiel 'zwischen Himmel und Erde', ist die Summe 'metaphysischer' Existenz. Der dritte Roman Cortázars ist ein semiotisches Puzzle. Libro de Manuel schließlich demonstriert die Ambivalenz terroristischer Gewalt als die Farce eines tödlichen Happenings etc. (3) Die Suche nach dem »Anderen« Das Spiel der Signifikanten ist jedoch niemals 'rein'. Zeichen - so wissen wir - haben ihr Wesen in einer unhintergehbaren Beziehung zur 'Realität'. Mag diese auch noch so sehr fiktionalen Charakter besitzen - gerade die konstitutive Fiktionalität der Zeichenwelt, ihre (Peircesche) »Phänomenalität«, wird so zum Stimulans für die Suche nach dem »Anderen«. Es ist dies die dritte Bedeutung des Grenz-Zeichens in Cortázars Werk. Es ist die Erfahrung der Welt der Zeichen als Grenze, eine Erfahrung, die ihre platonische, 'logozentrische' Inspiration keineswegs verleugnet: »La idea de Rayuela« sagt Cortázar, »es una especie de petición de autenticidad total del hombre« (M 31: 64). Dies ist zumindest die »Idee« des Romans, das Projekt 'metaphysischer' Suche, der Suche nach dem »Mandala« der Existenz, dem »Zentrum« und »kibbutz del deseo«. Insofern ist die Einschätzung richtig, dergemäß Rayuela in gewisser Weise die »Summe« der phantastischen Erzählungen ist, »una indagación sobre lo que determinó a lo largo de muchos años su materia o su impulso« (zit. nach Alazraki 1983: 211). Auch der Hinweis auf das »surrealistische« Erbe bei Cortázar (vgl. Picon Garfield 1975; Imo 1981: 260ff.; Alazraki 1982: 94ff.) hat im Hinblick auf die dritte Figur der Konvergenz ihr volles Recht. Die Thematisierung der Suche, das Erfahrbarmachen des »Anderen« im Überschreiten der Grenzen alltäglicher Zeichenwelt bleibt auch im Anschluß an die 'metaphysische' Phase, die Rayuela beschließt, ein Zentralmotiv des Werkes: Durch die (Schreib-) Erfahrung von Rayuela hat das Andere vom »Himmel« gleichsam zur »Erde« zurückgefunden und konkretisiert sich nun in einer wachsenden Zahl 'engagierter' Texte 'politischen' bzw. 'erotischen' Gehalts - Texte allesamt, die auf der Suche sind nach neuen Formen der Konvergenz mit Themen und Motiven, denen der Autor bisher aus Gründen innerer und äußerer Zensur kein Interesse zu schenken bereit war.
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(4) 'Schreibe' Das Pathos der Suche in Rayuela ist die Suche nach dem Anderen. Das Andere ist bestimmt als das Jenseits der Zeichen: Suche gelangt mithin an ihr Ende als Mimesis des Anderen, als die Überschreitung der konstitutiven Differenzen der Signifikanten. Gemessen an diesem Ziel bleibt das Ende der Suche in Kap. 56 freilich ohne Ergebnis: Oliveira lehnt sich in halsbrecherischer Weise aus dem Fenster des ersten Stocks einer Irrenanstalt: unter sich - im freien Fall direkt zu erreichen - den »Himmel« des Hüpfspiels, hinter sich ein ausgeklügeltes System kreuz und quer gespannter Fäden, gefüllter Wasserschüsseln und Kugellager (»rulemanes«), welches Traveler, dem Freund, der ihn psychisch und physisch in höchsten Nöten wähnt, den Zutritt zum Zimmer versperrt. Schon die handlungslogische Inkonsequenz der Szene läuft den Regeln mimetischer Abbildung zuwider: So die - frei erfundene - Behauptung Oliveiras, der Freund plane den »Angriff«. Nicht ohne Recht entgegnet Traveler, ihm erscheine das Ganze als Symptom klinischen Wahnsinns. Doch das absurde Konstrukt 'dekonstruiert' nicht nur die Regeln der Mimesis des Verstandes. Es dient vielmehr der Demontage von Mimesis in einem noch allgemeineren, anthropologischen Sinne: Oliveira geht zu seinem Freund auf Distanz, da er in Traveler den »Doppelgänger« erkennt; die Verteidigungsstellung, in die er sich zurückzieht, dient der Abwehr der durch den Doppelgänger repräsentierten »mimetischen Gewalt« (vgl. Girard 1972: 213ff.). Der erfolgreichen Abwehr mimetischer Gewalt auf der einen entspricht der Nichtvollzug 'endgültiger' Mimesis auf der anderen Seite: Da Traveler sich zurückzieht, verzichtet Oliveira auf den tödlichen Sprung in die Tiefe. So endet der Roman im prekären Bild des Balance suchenden Oliveira, das die beiderseits drohende Gewalt der Mimesis - die mimetische Umarmung seitens des Doppelgängers sowie den blinden Sturz in die imaginäre Mimesis des »Himmels« - vieldeutig 'differiert'. Nicht die Mimesis des »Zentrums«, sondern die Erfahrung ursprünglicher Differenz steht mithin am Ende: Die logozentrisch geleitete Suche nach der Transzendenz des Anderen - der vergebliche Versuch einer endgültigen »Reduktion des Anderen auf das Selbe« (Levinas 1983: 186) - mündet ein in die Erfahrung des Anderen als des Anderen. Die hiermit angedeutete Erfahrung ist die des Grenz-Zeichens in seiner vierten Bedeutung. Die Untersuchung bezeichnet sie in Analogie zu Derridas Begriff der »écriture« als Schreibe: 'Schreibe' ist die Erfahrung der 'Unendlichkeit', der Unabschließbarkeit der kulturellen Semiose. Sie ist die Grunderfahrung jener oben entwikkelten 'differentiellen' Natur des Zeichens, die Erfahrung der Unmöglichkeit der Fixierung dogmatischer - 'transzendentaler', 'metaphysischer' - Bedeutungen. Als solche ist sie keineswegs Metatext oder Poetologie. Sie ist vielmehr Substrat einer SchreibErfahrung: Sie steht nicht am Anfang, sondern ergibt sich als das gewöhnlich unvorhersehbare Resultat eines - zunächst unter anderen Prämissen stehenden - textuellen Prozesses.
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Die Arbeit demonstriert diesen Aspekt der Schreibe anhand einer exemplarischen Analyse von Rayuela (s.u., n,2.!). Die Analyse des Romans 62. Modelo para armar (s.u., n,3.) hebt dagegen vor allem die bereits bei der allgemeinen Diskussion der Natur des literarischen Zeichens erwähnte 'dekonstruktivistische' Funktion der Schreibe hervor. Diese erschöpft sich keineswegs im kritischen Potential von »Antiliteratur« (vgl. 'Grenzzeichen' in zweiter Bedeutung). Schreibe ist nicht nur der negativ indizierte - Prozeß der Transgression kodifizierter Bedeutung, mithin deren 'Dekonstruktion'. Sie hat vielmehr vor allem die Uber das Projekt der Antiliteratur hinausgehende positive Funktion des Sichtbarmachens des für semiotische Systeme aller Art konstitutiven Charakters der Intertextualität. Das Sichtbarmachen der letzteren, die systematische Aufdeckung Sinn-produzierender, Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten erzeugender Intertexte ist allerdings von der Tcritischen' Funktion der Antiliteratur nicht zu trennen. Sie ist das eigentliche Medium dekonstruktivistischer Schreibe als Transgression mythologischer Gewalt, wie sie semiotischen Systemen potentiell jederzeit zu eigen ist. (5) Positionen der Differenz Eine letzte Figur von Konvergenz bleibt indes noch zu erörtern. Es handelt sich um Cortázars - von ihm selbst seit 1973 expressis verbis mit dieser Formulierung verknüpftes - politisches »Engagement«. Die Darstellung der diversen Formen dieses Engagements ist zentraler Gegenstand des biographischen Teils dieser Arbeit. Sie bildet den Prüfstein für die These, dergemäß das 'Leben' Cortázars unter vergleichbaren Prämissen steht wie sein "Werk'. Was bedeutet es mithin, so bleibt zu fragen, den politischen Entscheidungen und Positionen Cortázars - seiner wechselvollen Freundschaft mit Kuba, seiner Rolle im Kontext der internationalen Linken, seinem zwischen Solidarität und kritischer Distanz schwankenden Verhältnis zu Argentinien, seinem Kampf für Menschenrechte und gegen 'Imperialismus' - gleichfalls den Status von Grenz-Zeichen zuzusprechen? Es bedeutet - so ist allem Weiteren vorauszuschicken - keinen höheren Grad von 'Wahrheit', was den Inhalt der eingenommenen Positionen betrifft. Cortázar sieht sie vornehmlich unter der Kategorie der »Verantwortung« stehend, als engagierte Antwort mithin eines freien Geistes in Wahrnehmung seiner spezifischen pragmatischen Bedingtheit. Cortázars Zustimmung zur »Revolution« der Unterdrückten in Lateinamerika - die er für notwendig hält und unvermeidbar - ist die Solidarität des 'Ästheten', die Solidarität eines die Wirklichkeit als 'Zeichen' wahrnehmenden Bewußtseins. Die Prämissen dieser Zustimmung sind die Prämissen des Literaten: Cortázar - so läßt sich seine »Bekehrung« zum Sozialismus anläßlich der Kuba-Reise von 1963 rekonstruieren - erlebt die Revolution der Kubaner als die »physisch« wahrnehmbare (vgl. Karvelis 1986) Realisierung einer revolutionären ästhetischen Erfahrung, die in Rayuela kulminiert (s.u., 1,5.!). Hierin liegt sowohl das Unbedingte seiner Solidarität
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- ihre Unbeirrbarkeit durch 'kontrafaktische' Erfahrungen mit zeitgenössischen Revolutionären, wie sie in der Folgezeit keineswegs ausbleiben - als auch die Utopie seines Engagements, die Manifestation seiner spezifischen Grenze: Schon der erste in der Reihe jener Texte, in der Literatur und Politik 'konvergieren', ist seiner vordergründigen Thematik zum Trotz alles andere als die Mimesis der 'wirklichen' Revolution. Er trägt den vieldeutigen Titel »Reunión« und handelt von einem historischen Treffen Fidel Castros mit einem Stoßtrupp Che Guevaras. Der Text reproduziert die Szene aus der personalen Perspektive des »Che«, dem Identifikationspunkt seitens des Autors, der diesem die Gelegenheit gibt, die Historizität der Szene zu transzendieren im Hinblick auf den utopisch-idealen Gehalt der Revolution, der im Bewußtsein des »Che« in den Klängen eines Mozartschen Finales antizipiert wird. 1969 steht Cortázar die unüberhörbar gewordenen Dissonanzen des realen Sozialismus als einer der Protagonisten der Padilla-Affäre durch, ohne sich dem internationalen Chor der Verächter der Revolution anzuschließen, jedoch auch ohne Abstriche an seiner ebenfalls mit Nachdruck manifestierten Kritik an der offiziellen Haltung des Regimes (s.u., 1.6.2.!). 1973 schließlich setzt er mit Libro de Manuel ein vieldeutiges Zeichen seiner Solidarität mit den vom Militärregime Lanusses aufs grausamste verfolgten argentinischen »montoneros«. Doch die Denunzierung der barbarischen Methoden offizieller Repression geht einher mit einer farcenhaften, dogmatisch-revolutionären Ernstes gänzlich enthobenen Darstellung der Gruppe der »Revolutionäre«, deren »Frivolität« selbst Leser mit den politisch moderaten Positionen eines Vargas Llosa 10 Jahre später noch in Erstaunen versetzt (vgl. Berg 1986c: 13). Der Vorwurf Vargas', Cortázar begegne der Wirklichkeit mit der »Verantwortungslosigkeit« (!) und »Naivität« eines Kindes, reproduziert paradoxerweise genau die Position der dogmatischen Linken, gegen die die Ironie der Farce in erster Linie gerichtet war. Es ist die differentielle Position des Grenzzeichens, welches Cortázar als das eigentliche Ferment der Revolution betrachtet hat. Sie ist die Basis seiner Konzeption des Neuen Menschen, seiner Kritik am »contenidismo« überkommener Kultur. 3.3. Aufbau und Gliederung Wenn es stimmt, daß Schreiben für Cortázar den Weg einer radikalen Erfahrung bedeutet, so gilt dies umso mehr für seine Leser. Die vorliegende Arbeit versucht dergleichen Erfahrungen zu vermitteln. Die Darstellung erfolgt deshalb unter doppelter Perspektive: 3.3.1 Teill Teil I zielt ab auf eine Gesamtdarstellung. Intendiert ist indes nicht die erschöpfende Chronologie biographischer - und werkgeschichtlicher - Fakten. Im Zentrum steht vielmehr die Thematisierung »biographischer Kontexte« im Hinblick auf die Frage
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nach der Entstehung des 'Werkes' auf der einen, den Gründen und Motiven des politischen 'Engagements' auf der anderen Seite. Werk und Leben erscheinen nicht in der Perspektive gegenseitiger Bedingtheit, sondern als die Vielfalt einer 'Struktur'. Ästhetische Erfahrung - dies zeigen bereits die frühesten Daten dieser Biographie reproduziert keineswegs die Muster sozialer Erfahrung. Sie steht zu dieser vielmehr im Verhältnis ausdrücklicher Opposition. Fluchtpunkt utopischer Freiheit, bedeutet Schreiben schon für den achtjährigen Julio die Erfahrung fundamentaler Kreativität. Zur 'Erfahrung' wird sie gerade dadurch, daß das Milieu ihm diese verweigert. So erlebt er die Verständnislosigkeit der Mutter, als diese ihm die Autorenschaft für seine Produkte einmal streitig macht, denn auch prompt als »Trauma«. Die Opposition zum Milieu, in dem er aufwächst, bleibt jedoch partiell. Die Sozialisation des jungen Autors - so die These des ersten Kapitels - steht im Zeichen eines Kompromisses, der Realisation einer paradoxen Identifikation: Einerseits akzeptiert er das Ethos kleinbürgerlicher Verantwortung, macht sich den materiellen Unterhalt der Familie - vor allem der Mutter - durch frühe Berufsarbeit zur Pflicht; andererseits entfremdet er sich zunehmend - intellektuelle Zirkel frequentierend, durch die Mitarbeit an avantgardistischen Zeitschriften, schließlich auch im Verfassen eigener literarischer Texte - dem Milieu, aus dem er stammt. Der Ästhetizismus des jungen Cortázar entspricht dem 'Grenz-Zeichen' in seiner ersten Bedeutung. Die - auch - politische Funktion dieser Grenze wird deutlich, als Cortázar 1946 die peronistisch unterwanderte Universität Mendoza, an der er einige Monate lang Literatur gelehrt hat, verläßt. In Buenos Aires schließlich akzentuiert sich die Grenze als 'Bruch': Die Perspektive bürgerlicher Prosperität geringschätzend, bewirbt sich Cortázar um ein Stipendium und übersiedelt - für immer - nach Europa. »Paris es una enorme metáfora« (R 159), heißt es später in Rayuela. Nicht nur Paris oder Europa, sondern auch Argentinien wird für Cortázar nunmehr zur »Metapher«, zum universal verfügbaren Feld semiotischer Erfahrung. Es ist der Bruch mit Argentinien, der die Erfahrung des 'Grenzzeichens' in seiner zweiten Bedeutung ermöglicht. Herausragendes Dokument dieser neuen Erfahrung sind die 1953 entstandenen Historias de Cronopios y Famas. Der drei Jahre später veröffentlichte Erzählband Final del juego, vollends jedoch Las armas secretas (1958), markieren dagegen abermals den Beginn einer neuen Erfahrung, deren vorläufiger Endpunkt erreicht ist in der Publikation des Hauptwerks Rayuela (1963). Sie, die Erfahrung des 'Grenzzeichens' in dritter Bedeutung - so die Hauptthese des 5. Kapitels -, ist zugleich die Voraussetzung jenes tiefgreifenden politisch-gesellschaftlichen Bewußtseinswandels, den der Autor später mit nichts Geringerem vergleichen wird als der Bekehrung des biblischen Saul. Die literarische Entwicklung Cortázars hat mit Rayuela ihren ersten Höhepunkt erreicht; die Karriere des 'engagierten' Literaten dagegen - die Erfahrung mithin des 'Grenzzeichens' in vierter und fünfter Bedeutung - steht noch an ihrem Beginn. Ka-
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pitel 6 faßt sie unter Verzicht auf strenge Chronologie in vier Einzelabschnitten zusammen: Abschnitt 1 enthält eine resümierende Deutung der wichtigsten Äußerungen, die Cortázar selbst während zweier Jahrzehnte zu Wesen und Ziel seines Engagements gegeben hat: Cortázar stellt die Solidarität mit den Zielen der sozialen Revolution unter die Maxime der ethischen Verantwortung. Diese ist keineswegs identisch mit der dogmatischen Position der revolutionären 'Ideologie'. Das Engagement des Schriftstellers steht zu der letzteren vielmehr im Verhältnis unverzichtbarer Komplementarität. Es ist bezogen auf die Revolutionierung von Sprache und Bewußtsein. Sein Ziel ist - im Gegensatz zur politischen - eine Revolution »von innen nach außen«. Abschnitt 2 ist der Versuch, die differenzierte Position Cortázars auf dem Höhepunkt der Affäre um die Inhaftierung des kubanischen Schriftstellers Padilla zu klären. Cortázar geht den schweren Weg der Vermeidung der von beiden Lagern geschürten »Manichäismen«: Er kritisiert die dogmatische Haltung der kubanischen Funktionäre als Verrat am »Ideal« der Revolution, unterstützt sie jedoch in der Abwehr »patriarchalistischer« Bevormundung seitens der (vornehmlich) europäischen Intellektuellen. Abschnitt 3 resümiert eine dreifache Kontroverse. Zum einen die Attacke J.M. Arguedas', der dem Autor der Rayuela die Kompetenz abspricht, im Rahmen einer »kosmopolitischen« Position z.B. die Kulturwelt der peruanischen Anden zu repräsentieren: Cortázar antwortet im Ton des irritierten Intellektuellen - unsensibel für das Anliegen des Peruaners. Die etwa zur gleichen Zeit ausgetragene Debatte mit 'Gegnern' aus dem Lager der Linken - einer Gruppe Pariser Gauchisten auf der einen, dem Kolumbianer Collazos auf der anderen Seite - zeigt Cortázar dagegen auf der Höhe seiner Argumentation. Es ist der Nachhall der Padilla-Affäre, der die Entschiedenheit erklärt, mit der Cortázar dem Ansinnen dogmatischer Marxisten entgegentritt, das Engagement des Schriftstellers auf inhaltliche Kriterien (»contenidismo«) festlegen zu lassen. Abschnitt 4 schließlich gibt einen Überblick über die letzten Lebensjahre des Autors. Cortázar nimmt Stellung zu den brennendsten Problemen des Subkontinents: zum System der Unmenschlichkeit in Argentinien, zum Krieg um die »Malvinas«, zum amerikanischen Boykott der Revolution in Nicaragua, zum Problem exilierter Schriftsteller aus Lateinamerika, zur Aktualität von Orwells 1984, ein Datum, das der engagierte Sozialist wenige Monate vor seinem Tod nochmals zum Anlaß nimmt, die fatalen Konsequenzen der Padilla-Affäre in Erinnerung zu rufen ... 3.3.2. Teil II Die Perspektive des II. Teils ist diejenige der Analyse. Im Zentrum steht abermals die Frage nach der Konvergenz von Leben und Werk. Intendiert ist die Bestimmung des
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Funktionswertes 'Grenzzeichen' im Hinblick auf konkrete Texte. Entsprechend der Zielsetzung des ersten Teils erfolgt die Gruppierung der Analysen nach einem doppelten Gesichtspunkt: Auf der einen Seite Texte 'fiktionalen' Charakters: Historias de cronopios y famas (vgl. n,l.), Rayuela (vgl. 11,2.), 62. Modelo para armar (vgl. n,3.) - Texte, die alle konkreten Bezüge zur 'Geschichte' ausblenden bzw. - wie im Falle der »metaphysischen Suche« in Rayuela - primären Zielsetzungen unterordnen. Auf der anderen Seite Texte 'engagierten' Charakters: La vuelta al dia en ochenta mundos bzw. Ultimo round (vgl. II, 4.1.), Libro de Manuel (vgl. 11,4.2.), Fantomäs contra los vampiros multinacionales (vgl. 11,4.3.), »Diario para un cuento« (vgl. 11,4.4.) - Texte, die das Problem der Geschichte in je unterschiedlicher Weise dominant fokalisieren. Die Kategorien 'Fiktion' und 'Engagement' - auch wenn sie sich auf gelegentliche Selbststilisierungen seitens des Autors berufen können - bleiben den Texten indes äußerlich: Es ist vielmehr abermals die semiotische Kategorie des 'Grenzzeichens', die es erlaubt, sowohl die spezifischen Unterscheidungsmerkmale der Texte innerhalb der beiden Gruppen als auch die 'fiktionaler' bzw. 'engagierter' Schreibe gemeinsamen Merkmale differenziert zu erfassen: Die erste der Analysen hat sowohl den Charakter der Einführung als auch denjenigen der Fundierung: Historias de cronopios y famas sind das erste Werk Cortazars, in dem die Erfahrung der Welt als Zeichen 'universalen' Charakter erhält. Dies betrifft sowohl die subjektive als auch die objektive Seite dieser Erfahrung. 'Welt' - das ist einerseits die Erfahrung arbiträrer Ordnung, die Erfahrung kodifizierter Systeme. Die Kodifizierung ist erfahrbar auf allen Ebenen menschlicher Existenz: Sie umfaßt in gleicher Weise Denken, Fühlen und Handeln; sie findet Ausdruck in Sprache und sozialem Verhalten; sie charakterisiert Institutionen und Werke der bildenden Kunst. Kodifiziertheit mithin - so zeigt sich - ist die Erfahrungswirklichkeit der Kultur im allgemeinen. Kodifiziertheit indes ist kein Schicksal: 'Arbiträr' wie die Objekte sind auch die Subjekte, die ihr begegnen. »Cronopios y famas« - die Neologismen der Protagonisten bezeichnen zwei Weisen, der Kodifiziertheit zu begegnen: diejenige der Famen, die die Welt akzeptieren, wie sie ist, und damit selber zu Indizien internalisierter Codes zu werden drohen; diejenige der Cronopien, die die Arbitrarität vorgegebener Codes im Spiel entdecken und durch Formen imaginativer 'Poiesis' effektiv transzendieren. Die Erfahrung einer Welt vorgegebener Codes im Horizont ihres arbiträren 'Spiels' ist die Voraussetzung jener »Semiose des Anderen«, die Rayuela als die »Metaphysik der Suche« universal entfaltet. Die Analyse (vgl. 11,2.) besteht aus drei Teilen: Der erste untersucht zunächst alle 'Topoi' der Suche auf der Ebene der makrostrukturellen Gliederung der Handlung: Liebe, Kommunikation sowie die Suche des Anderen (im engeren Sinne) erweisen sich indessen als ebensoviele Manifestationen eines 'Schei-
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terns'. Erst in der »U-Topie« des Anderen - der Erfahrung des Wahnsinns des »Doppelgängers« - gelangt die Suche Oliveiras an ihr paradoxes 'Ziel': Die Textur der »piolines y palanganas«, die Oliveira hinter sich errichtet, um sich des Angriffs des Doppelgängers zu erwehren, wird so zum Tribunal der Enthüllung eines das Projekt 'metaphysischer' Suche insgesamt fundierenden Elementes der Gewalt. Suche als Handlung gelangt in der Erfahrung des Systems der 'Differenzen' mithin an ein vieldeutig 'offen' bleibendes 'Ende'. Der zweite Teil der Analyse beschäftigt sich deshalb mit der die Handlungskapitel kontrapunktisch begleitenden, mit diesen überdies funktional verknüpften expliziten (Literatur-) Theorie der Suche. Der Status der »Morelliana« - so die These dieses Teils - ist indessen unvollständig beschrieben als der einer 'poetologischen' Metatheorie des Romans. Die »Morelliana« ist vielmehr eine Fortsetzung der Suche mit anderen - 'intellektuellen' - Mitteln. In ihr gelangt die philosophisch-anthropologische Thematik der Suche voll zum Austrag. Die Analyse diskutiert sie unter dem Titel »Logozentrismus versus 'escritura'«. »Escritura« indessen ist keine Theorie. Ihr Medium ist vielmehr die das logozentrische Projekt in die prinzipielle Pluralität der Bedeutungen entgrenzende Praxis der »figura«. Der dritte Teil der Analyse bedient sich des Begriffs infolgedessen zur Beschreibung des Gesamttextes. Sie entspricht dem Lektürevorschlag des »tablero de dirección« im Hinblick auf das sogenannte »zweite Buch«. Die »figúrale« Lektüre wird systematisch durchgeführt bei allen acht Sequenzen der Handlung: A resümiert die Sequenzen im Hinblick auf die 'Handlung' (gemäß »tablero de dirección« das »erste Buch«); B resümiert die einer jeden Sequenz entsprechende Folge der »capítulos prescindibles«; AB schließlich beschreibt die eigentliche »Produktivität des Textes« - die sinnproduzierende »Figur« der Synopse von A und B. Die Erfahrung intertextueller Vielfalt der Antwort - dieses vom Standpunkt 'logozentrischer' Suche her enttäuschende Resultat von Rayuela - steht in Cortázars drittem Roman, 62. modelo para armar, dem Gegenstand der 3. Analyse, bereits am Anfang: Ein banaler Satz der Alltagssprache, mit dem ein Gast in einem Pariser Restaurant dem Kellner seine Bestellung kundtut, wird für den am Nebentisch sitzenden argentinischen Dolmetscher Juan, der ihn zufällig vernimmt, zum Ausgangspunkt einer unvorhersehbaren Kette von Sinn-Erlebnissen, die Juan beim Versuch, den Satz zu 'verstehen', anagrammatisch in diesen 'eingeschrieben' findet. Das Sinn-Erlebnis Juans - so die These der Analyse - hat im Hinblick auf die nunmehr einsetzende 'Handlung', die Entfaltung der psychologischen Konstellation der Personen, die Frage ihrer 'Identität', jedoch gleichfalls die Fixierung von Ort und Zeit des Geschehens, 'modellierende' Funktion; es wird zum Ausgangspunkt mithin der »Grenzerfahrung narrativer Schreibe«: Das Konstitutionsproblem der Handlung, die Frage ihrer 'Motivation' als Zeichen-Körper des als Super-Zeichen aufzufassenden Gesamttextes, verweist keineswegs auf das Referenzsystem einer außertextuellen Bedeutung - hier z.B.: 'psychologischer' Konflikte -, sondern auf die Regeln einer strikt innertextuell
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bzw. m/ertextuell funktionierenden Logik: Das durch den Text der Handlung erstellte 'Modell' - ein Prozeß, an dessen Zustandekommen der Leser, der Instruktion des Romantitels Folge leistend, aktiv beteiligt ist - entspricht mithin demjenigen der Dekonstruktion einer als Intertext der Handlung rekurrent zum Vorschein gelangenden Logik des Mythos. Die Kategorie des Grenzzeichens beschreibt Ergebnisse - Resultate der Analysen im Hinblick auf dominante Strukturen. Die Zuordnung der Texte zur zentralen Kategorie der Untersuchung liegt somit auf der Hand: Historias de cronopios y famas repräsentiert vor allem Erfahrungen auf der Ebene des Grenzzeichens zweiter Bedeutung (»Antiliteratur und Spiel«); Rayuela steht vor allem für die »Semiose des Anderen« (Grenzzeichen dritter Bedeutung); 62. modelo para armar dagegen für Erfahrungen auf der Ebene der »Schreibe« (Grenzzeichen vierter Bedeutung). Die Kategorisierung der Texte anhand dominanter Strukturen ist indessen weiter zu differenzieren: Allen drei Texten gemeinsam sind zunächst einmal Erfahrungen auch auf der Ebene des Grenzzeichens erster Bedeutung - Erfahrungen textueller, kultureller, ästhetischer Natur im allgemeinen, denen bei aller Verschiedenheit im einzelnen ein bestimmtes Merkmal gemeinsam ist: ihre generelle Unbekümmertheit um das Problem der 'Geschichte'. Noch in einer zweiten Hinsicht bedarf der Schematismus der Zuordnung der Ergänzung: Keine der Kategorien ist in den Texten 'rein' vertreten. Schon der Begriff 'Grenzzeichen' selbst verweist auf die Erfahrung der Grenze als solcher. Die Erfahrung einer einzelnen dominanten Kategorie ist deshalb immer auch gleichbedeutend mit der Erfahrung der Grenz-verschiebung im Hinblick auf verschiedene Typen von Grenzzeichen. So ist die Grenzverwischung einer dominanten »Suche nach dem Anderen« mit Erfahrungen der »Schreibe« - wie wir sahen - konstitutiv für Rayuela. 62. Modelo para armar dagegen funktionalisiert - gemäß dem zugrundeliegenden »Modell« des 62. Kapitels der Rayuela - fundamentale Erfahrungen auf der Ebene der Schreibe umgekehrt im Hinblick auf eine Reaktualisierung der Suche (vgl. Kapitel 6 der Analyse!). Auch die Historias de cronopios y famas sind alles andere als bloße Manifestationen des semiotischen 'Spiels'. Sie enthalten permanente Grenzüberschreitungen hin zur Erfahrung der Grenzzeichen in dritter (vgl. Kapitel 3 und 5 der entsprechenden Analyse!) bzw. vierter Bedeutung (vgl. analog Kapitel 4!). Gegenstand des 4. Kapitels des zweiten Teils sind jene Formen von »Konvergenz«, wie sie der Selbstdeutung des Autors zufolge Texten spezifisch »engagierten« Charakters zu eigen ist. In diesen ist der »Text der Geschichte« nicht nur - wie in Rayuela - 'Material' metaphysischer Suche; er gewinnt vielmehr als solcher explizit 'thematische' Funktion. Gegenstand der Analysen ist indessen nicht die 'Ideologie' des Engagements, sondern die spezifische Form seiner Realisierung im literarischen Text.
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Die vorgelegten Analysen sind repräsentativ für die Bandbreite jener »Positionen der Differenz«, in denen das Grenzzeichen in fünfter Bedeutung Gestalt und Ausdruck gewinnt. Die erste der vier Analysen gibt einen Überblick über zwei der Werke Cortázars, in denen der 'revolutionäre' Aspekt literarischer Schreibe - die tendenzielle »destruction du livre« angesichts der grenzüberschreitenden Erfahrung des »Textes« (vgl. Derrida 1967: 30f.) - auch in einer neuartigen Konzeption der Form des 'Buches' selbst avantgardistischen Ausdruck findet. La vuelta al día en ochenta mundos und Ultimo round sind »Grenzzeichen« in allen fünf Bedeutungen des Begriffs. Es sind »Almanache« im radikalen Sinne der Literaturtheorie Morellis (vgl. 11,2.2.1.ff.). Sie sprengen die Einheit des Signifiant 'Buch' durch die thematische und stilistische Vielfalt der aufgenommenen Texte, durch die semiotische Autonomisierung visueller Codes (Photographie und Zeichnung) sowie schließlich durch arbiträre Eingriffe in die 'Artikulation' traditioneller Satztechniken. 'Engagiert' sind diese Texte vor allem in Hinblick auf ihre 'Form', auf die virtuell uneingeschränkte Freiheit ästhetischer Erfahrung, die sie ermöglichen. Die Analyse beschreibt die Struktur dieser Erfahrung mit dem von Cortázar selbst übernommenen Begriff der »Interstitien«. Gemeint ist die 'differentielle' Erfahrung semiotischer Ebenen als solcher, die Erfahrung der prinzipiellen Gleichzeitigkeit des Verschiedenen. »Interstitielle« Ästhetik - so die These der Analyse - wird von Cortázar genutzt vor allem zur Kommunikation des (politisch und kulturell) Inkommensurablen. Der Höhepunkt engagierter Schreibe, den die Sammlung enthält, ist deshalb der »Bericht« über einen Besuch der »Howrah Station« in Kalkutta: Angesichts des jeder 'Beschreibung' spottenden grenzenlosen Elends, das sich dem Auge des Besuchers darbietet, wird die Form des Berichts zur Grenzerfahrung nicht nur für das dem Elend "hilflos' gegenüberstehende okzidentale 'Subjekt' des Verfassers; aktualisiert wird vielmehr gleichzeitig auch die ethische Bedingung der Möglichkeit von Schreibe(n) überhaupt. Gegenstand der zweiten Analyse (vgl. 11,4.2.) ist Libro de Manuel, Cortázars vierter Roman. Intendiert als Zeichen konkreter Solidarität, konvergiert das Werk in vielfältiger Weise mit 'Geschichte'. Die Analyse beschränkt sich deshalb nicht auf den Text'. Sie situiert das Werk zunächst im Kontext der argentinischen Zeitgeschichte der 60er und 70er Jahre, beschreibt das Panorama widersprüchlicher Reaktionen, die sein Erscheinen hervorrief, und diskutiert sodann den dreifachen Aspekt, unter dem der Text selbst das Projekt der 'Konvergenz' realisiert: Strukturell verwendet der Roman Verfahren, die seit Rayuela zum Arsenal avantgardistischer Erzähltechnik gehören: Polyperspektive, Depersonalisierung des 'Erzählers' bzw. seine Substitution durch alternative Formen des Erzählens, Überlagerung der 'Geschichte' durch konkurrierende, mit dem Argument des Plot in evaluative Spannung tretende Altemativ-Geschichten. Der historische Aspekt der Konvergenz ist indiziert vor allem durch die 'Geschichte' der mit autobiographischen Zügen versehenen Gestalt des
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Protagonisten Andrés. Seine erst 'in letzter Minute' erfolgte Solidarisierung mit den Protagonisten der Revolution steht symbolisch für die Grenzerfahrung, die diese für die Position des "bürgerlichen' Individualismus überhaupt bedeutet: Solidarisch geworden mit der Revolution, wird der Individualismus des Ästheten im neuen Kontext zum Ferment einer für revolutionäre Veränderung unverzichtbaren »Position der Differenz«. Der textuelle Aspekt der Konvergenz ist indiziert im Titel des Werkes: »Libro de Manuel« ist u.a. der durch Zeitungsausschnitte und 'Dokumente' verschiedenster Provenienz in den fiktionalen Text integrierte Kontext der Zeitgeschichte. Revolution - so die These der Analyse - erscheint dank der auf diese Weise gewissermaßen "konkretisierten' Intertextualität im Horizont des prinzipiell 'offenen Werkes'. Zwei Jahre nach Libro de Manuel erscheint eine Bildergeschichte mit dem Titel Fantomás contra los vampiros multinacionales (vgl. n,4.3.). Das zu den opera minora des Autors zählende Werk erhält im Kontext der Problematik des Engagements nichtsdestoweniger exemplarische Funktion. Es demonstriert eine Praxis, die Cortázar zufolge zum Wichtigsten gehört, was revolutionäres Engagement vom Schriftsteller verlangt: Fantomás bedient sich des Instrumentariums der Massenkultur und macht sie zum Medium einer 'neuen' Botschaft. Nicht die (triviale) Botschaft als solche - die zynische Omnipotenz der Multis; Fantomás' 'Bekehrung' vom bürgerlichen Idol des Einzelkämpfers zum solidarisch handelnden homo politicus -, sondern vor allem die gelungene Umfunktionierung des Mediums, der erfolgreiche Eingriff in das scheinbar autonomen Gesetzen gehorchende System der Massenkommunikation verleihen dem Werk sein spezifisches Gewicht. Instrument zur Stabilisierung der Strukturen inhumaner Herrschaft in Händen der Multis, wird die »historieta« Cortázars zum »Tribunal« in doppelter Funktion: Zum einen denunziert sie den allgegenwärtigen, durch die Kollaboration nationaler Bourgeoisien gedeckten Funktionsmechanismus der Gesellschaften; zum anderen bedient sich der Autor des wohl kalkulierten Massenerfolgs seines Produkts, um im Anhang die Ergebnisse des Internationalen Russell-Tribunals II in Brüssel, an dessen Sitzungen er teilgenommen hatte, zu publizieren. »Diario para un cuento«, mit dem sich die letzte Analyse beschäftigt, ist seiner Intention nach gewiß kein 'engagierter' Text. Dank der besonderen Weise, in dem hier das Verhältnis von Werte und Leben thematisiert wird, gewinnt der Text jedoch nicht nur für das im 4. Kapitel in Frage stehende Strukturproblem engagierter Schreibe, sondern darüberhinaus auch für die Kohärenz der allgemeinen These der Untersuchung exemplarische Bedeutung. Der Text konfrontiert in Form von Tagebucheintragungen mit dem Problem der Geschichte: Der Icherzähler - Julio Cortázar - findet ein mehr als 30 Jahre altes Photo einer Argentinierin namens Anabel. Zugleich erinnert er sich der Details einer längst vergessenen Beziehung: Julio übersetzte die Korrespondenz zwischen Anabel und ihrem Freier, erfreute sich selbst eine Zeitlang ihrer
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Gunst und beendet die Beziehung, als sich herausstellte, daß Anabel die Korrespondenz dazu benutzte, um einer befreundeten Prostituierten die Ausführung einer Mordtat zu ermöglichen. Es ist die Materie einer Erzählung (»cuento«), die der Tagebuchschreiber erinnert. Doch die Erzählung, die er zu schreiben versucht, gewinnt keine Gestalt: 'Ich' - die narrative Vernunft des Erzählers, so zeigt sich, ist nicht länger Herr seiner Geschichte. Der Versuch, die vergangene GESCHICHTE durch den Text einer aktuellen 'Geschichte' zu rekonstruieren, das Ich mithin angesichts seiner GESCHICHTE zu diskulpieren, schlägt fehl. Das Ich sieht sich vielmehr konfrontiert dem unvollendet bleibenden Prozeß eines textuellen Geschehens: Anabel, die Verantwortungslosigkeit des einstigen Übersetzers, das Engagement des nunmehr Rechtfertigung suchenden Erzählers, die sozialen Beriihrungsängste des Bourgeois, die Solidarität des seine Fehler erkennenden Autors - all dies sind Texte, die das Ich auch heute noch konstituieren. Die GESCHICHTE zu erzählen, wird damit zur Erfahrung ursprünglicher 'Dekonstruktion'. Das Ergebnis der Analyse ist für die Argumentation der Untersuchung von zentraler Bedeutung: Einerseits stützt sie - nunmehr im expliziten Rekurs auf einen Text Derridas - die im Kontext vorausgegangener Analysen mehrfach begründete These eines dekonstruktivistischen Ansatzes der narrativen Schreibe Cortazars (vgl. 11,2 und 3!). Andererseits demonstriert sie in exemplarischer Weise die konstitutive Verklammerung der 5. Kategorie des 'Grenzzeichens' mit Formen semiotischer Praxis, wie sie gemäß den Resultaten der Analysen 2 und 3 eher 'literarischen' Texten im engeren Sinne vorbehalten schienen. Es zeigt sich vielmehr jetzt: Auch 'engagierte' Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, wie sie der Text des Diario demonstriert, der »gute Wille« mithin, mit den Mitteln der Vernunft und des moralischen Bewußtseins das eigene Handeln - die Vergangenheit - zu reflektieren, vermag das Subjekt nicht herauszuführen aus der Begrenzung durch die unvordenkliche Einschreibung in die »trace instituée« (Derrida 1967: 68) der »historischen« Existenz. 15 Auch die Erfahrung ursprünglicher Verantwortung vor der GESCHICHTE mithin so läßt sich nunmehr im Blick auf die Resultate der Rayuela-Analyse sowie ein zentrales Motiv der Philosophie E. Levinas' (vgl. Levinas 1982: 196) formulieren - erwächst aus einer für das Selbst un-einholbaren Konfrontation mit dem Anderen.
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Die Erfahrung der »différence« - so macht Derrida den logozentrischen Hypostasierungen der Geschichte als »histoire du sens« (vgl. Derrida 1972a: 67f„ 77f.) gegenüber geltend - steht am »Anfang« jedweder historischen Erfahrung: »Si le mot 'histoire' ne comportait en lui le motif d'une répression finale de la différence, on pourrait dire que seules des différences peuvent être d'entrée de jeu et de part en part historiques'. [...] nous désignerons par différance le mouvement selon lequel la langue, ou tout code, tout système de renvois en général se constitue "historiquement' comme tissu de différences. 'Se constituer', 'se produit', 'se crée', 'mouvement', 'historiquement', etc., devant être entendus au-delà de la langue métaphysique où ils sont pris avec toutes leurs implications.« (Derrida 1972c: 12f.; vgl. auch Derrida 1967a: 43)
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Teil I Biographische Kontexte
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1. Familienmilieu und Schule
Cortázar hat seiner Abneigung, sich in detaillierter Form mit Fragen seiner Biographie oder gar der Genealogie zu beschäftigen, wiederholt Ausdruck verliehen. Das beharrliche Insistieren seiner Gesprächspartner hat über die Jahre hin dennoch eine Reihe von Informationen zutage gefördert, die die Kindheits- und Jugendentwicklung des Autors, wenn nicht als lückenlose Chronologie, so doch im Hinblick auf einige bedeutsame Punkte zu rekonstruieren erlauben. »Nadie es más argentino que Cortázar«, behauptet L. Harss mit provokativem Superlativ (M 30: 256). Argentinier zu sein, das ist für den Autor, der fast die Hälfte seines Lebens freiwillig im Ausland verbrachte, in der Tat ein Prädikat, auf welches er trotz teilweise vehementer Angriffe seiner Landsleute, trotz intensiven Wirkens für die Interessen fremder Länder, trotz seines schließlich erfolgreichen Bemühens um die französische Staatsbürgerschaft - niemals verzichtet hat. »Argentinisch« erhält im Munde Cortázars allerdings eine Färbung, die der offiziellen, ideologischen Bedeutung des Titels genau entgegengesetzt ist. Die Umstände seiner Geburt und - soweit überschaubar - die Geschichte seiner Familie haben insofern »symbolische« {MW: 5) Funktion: Am 26. August 1914 wird Julio Francisco Cortázar in Brüssel geboren im Zeichen mithin der Jungfrau (vgl. M 58: 45) sowie der deutschen Besatzung. Die Familie des Vaters - Julio Cortázar (vgl. M 18: 68) - ist baskischer Abstammung und lebt seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Argentinien. Die Mutter - Maria Scott de Cortázar - dagegen entstammt einer ebenfalls vor zwei Generationen nach Argentinien emigrierten Familie deutscher Juden aus Hamburg. Die Eltern haben 1912 in Buenos Aires geheiratet und leben seit Jahresfrist in Brüssel, wo der Vater eine Stelle in der argentinischen Legation erhalten hat. Die Familie fühlt sich durch den 14 Tage vor Julios Geburt ausgebrochenen Weltkrieg und die alsbald erfolgte Besetzung Belgiens durch deutsche Truppen bedroht und reist im Februar 1915 in die neutrale Schweiz. Nach der Geburt des zweiten Kindes - Ofelia - wechseln die Cortázars abermals ihren Wohnsitz und übersiedeln nach Barcelona. Der Vater erhält ein Angebot zur Leitung eines Konsulats in Buenos Aires und kehrt zurück nach Argentinien. Maria Scott bleibt mit den Kindern bis Ende des Krieges in Spanien. Die politische Konstellation in Argentinien, wo die radikale Partei die Regierung bildete, verhinderte indessen, daß der den Konservativen zuneigende Cortázar das Konsulat tatsächlich erhielt. Maria Scott muß mit den Kindern daraufhin ebenfalls zurückkehren.
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Die Rückkehr nach Argentinien wurde für die Mutter in doppelter Weise zum Problem. Einerseits hatte sich die Familie trotz des Krieges europäischen Lebensformen bereits so weit angepaßt, daß Maria Scott es vorgezogen hätte, in Europa zu bleiben. Andererseits fällt das Ausscheiden des Vaters aus dem diplomatischen Dienst zusammen mit einer Epoche fortschreitender Entfremdung von der Familie: Kaum beginnt diese in Buenos Aires wieder Fuß zu fassen, kehrt Julio Cortázar seiner Frau und den beiden Kindern für immer den Rücken. Maria Scott sieht sich deshalb von heute auf morgen einer von Grund auf veränderten Situation konfrontiert. Dem großbürgerlichen Lebensstil der Diplomatenfamilie, in welcher die Kinder der Obhut von Gouvernanten (vgl. M 11: 5) überlassen bleiben und die Eltern ihre Freizeit in Clubs und Casinos verbringen, ist mit einem Mal der Boden entzogen. Die Familie ist mittellos; die Mutter, inmitten der Verständnis- und mitleidlosen Umwelt des argentinischen Machismus (vgl. M 25: 71), ist gezwungen, nach einem weit unter ihrem Bildungsstand liegenden Broterwerb - sie beherrscht außer Spanisch auch Englisch, Französisch und Deutsch! - Ausschau zu halten. Der Weggang des Vaters und die radikale Veränderung der ökonomischen Basis der Familie haben für den nunmehr 6jährigen Julio Francisco einschneidende Folgen: Umgeben von Frauen - außer der Mutter und der Schwester Ofelia gehören dem Haushalt noch die Großmutter mütterlicherseits sowie eine Tante an - vollzieht sich seine Kindheit von nun an ganz im Schatten eines nicht weniger ökonomisch als ideologisch definierten Kleinbürgertums. Vor kubanischem Publikum zeichnet Cortázar das Milieu mit den grellen Farben des Konvertiten: »Yo había sido muy indiferente a la política y, además, había estado muy equivocado en esa materia. Pertenezco a una clase de muy pequeña burguesía argentina - aparentemente liberal, pero en el fondo, como todos esos liberalismos, muy reaccionaria - con ideas recibidas, una noción de tradición, de nacionalismo, de patriotismo, de anticomunismo... Aún siendo mi familia una familia atea, sin sentimiento religioso, todos defendíamos los valores del cristianismo.« (M 11: 8) Der weite Begriffsumfang des Prädikats »argentinisch«, den sich Cortázar - wie angedeutet - später zu eigen macht, ist nicht Teil dieser kleinbürgerlichen Ideologie. Wenn es stimmt, daß Cortázar schon als Kind ein klares Gefühl für die Enge des Milieus besaß, in dem ihn die Umstände zu leben zwangen (vgl. M l : 19), so liegen die Gründe für diese Freiheit, die ihn später nicht nur dazu befähigte, dem angestammten Milieu negierend den Rücken zu kehren, es vielmehr im Sinne der Verfechtung der »Patria Grande« positiv aufzuheben, vermutlich zum Teil in den Erfahrungen seiner frühen Kindheit begründet. »Argentinisch« nämlich ist für Cortázar ein Symptom des mit seinen kulturellen Konnotationen unübersetzbaren Begriffs des »mestizaje« (»Rassenmischung«):
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»En este aspecto de la biografía, muchos argentinos coincidiríamos bastante porque tú sabes bien que la Argentina, país de inmigración, produce estos cocktails humanos, mezclas de razas, por cierto, afortunadas, pues sigo creyendo que uno de los caminos positivos de la humanidad es el mestizaje. Cuanto más grande se haga la fusión, más podremos eliminar el chauvinismo, los patrioterismos [sie!], los nacionalismos de frontera, absurdos e insensatos.« (M 25: 69) Der im Juli 1918 seinen Fuß zum ersten Mal auf argentinischen Boden setzende vierjährige Julio Francisco ist »Mestize« - als »Argentinier« - in diesem vielfaltigen Sinne. Er spricht ein eher mühsames Spanisch mit starkem französischem Akzent fußend auf dem keineswegs immer engen Kontakt mit Mitgliedern der eigenen Familie. Der kontinuierliche Umgang mit französischsprechenden Kindermädchen und Gouvernanten dagegen hat ihn in sprachlicher Hinsicht offenbar nachhaltig geprägt. So hat das Französische von Anfang an für Julio die Funktion einer - zeitweise dominierenden - Muttersprache. Ein ihn zeitlebens begleitendes Indiz dafür ist das charakteristische französische Rachen-R! (vgl. M 11: 5) »Mestizaje« jedoch vor allem als soziale Erfahrung. Die Rede muß sein von Julios Vater, dem Anfang der 20er Jahre in der Provinz Córdoba untergetauchten Botschaftsbeamten. Wer war Julio Cortázar senior? In unserem Gespräch am 21. Dezember 1981 beschreibt ihn Cortázar aus der Erinnerung als einen »Gentleman aus Buenos Aires« (M 3: 3), eine Charakterisierung, die der Tendenz nach in einer Reihe von anderen Texten wiederauftaucht. Eleganz der äußeren Erscheinung, der leicht zeremonielle, würdevolle Gang - den der Vater mit dem lemwilligen 3- bis 4jährigen Söhnchen bereits einübt (vgl. M l : 12) -, die hagere, asthenische Gestalt sowie ein offenbar unbekümmertes Sich-Hinwegsetzen über die Normen der (klein-) bürgerlichen Familienmoral - die Konstanz, mit der Cortázar auf diese Züge bei verschiedenen Anlässen über Jahrzehnte hin immer wieder zu sprechen kommt, deutet darauf hin, daß es sich um dominante Elemente, nicht so sehr des realen Vaters, als vielmehr einer internalisierten Vater-Repräsentanz handelt, die sich in Julio in den ersten Jahren der Kindheit bildete und dank des physischen Verschwindens des Vaters an Konturen eher gewann. Ob das Bild des Vaters mit den Jahren nicht unscharf geworden sei, fragte J. Soler Serrano. »Utilizas un generoso y amable eufemismo«, gibt Cortázar zur Antwort. »No es una figura borrosa. Es una figura que desaparece totalmente.« (Ai 25: 71) Doch die angefügte Erklärung dessen, was das Verschwinden bedeutet, verfälscht den Sinn der Frage: nicht das Bild des Vaters verschwand, sondern die durch seine physische Präsenz gegebene materielle Basis der Familie. Eine in zwei verschiedenen Versionen überlieferte Anekdote beleuchtet das Gesagte in signifikanter Weise. Mit dem Verschwinden des Vaters, erzählt Cortázar, sei jeglicher Kontakt zu ihm bis zu seinem Tode in den 50er Jahren, von welchem die Familie nur durch ein Schreiben eines Rechtsanwaltes Nachricht erhalten habe, ab-
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gebrochen - bis auf eine einzige Ausnahme: 1949, zu einer Zeit als er begonnen hatte, in verschiedenen Zeitungen der Hauptstadt kleinere Arbeiten zu veröffentlichen, erhielt er einen Brief, in welchem der Vater ihm zu den Veröffentlichungen gratulierte, ihn jedoch gleichzeitig aufforderte, diese - um Verwechslungen mit ihm, dem Vater, zu vermeiden - mit seinem zweiten Vornamen (Francisco) zu signieren. Cortázar antwortet in zwei Sätzen mit einer Geste entschiedener Zurückweisung: »Verehrter Herr, Ich habe ihren Brief erhalten. Da mein Name aber nun einmal Julio Cortázar lautet, werde ich fortfahren, meine Arbeiten mit dieser Unterschrift zu veröffentlichen. Herzlich Ihr Julio Cortázar.« (M 1: 13)1 Handelt es sich - wenn man die symbolische Ebene, auf der wir argumentieren, einbezieht - überhaupt um eine »Zurückweisung«? Zwei Jahre später erzählt Cortázar die gleiche Anekdote, jedoch mit einer scheinbar anderen Pointe: er habe der Aufforderung des Vaters »selbstverständlich« nicht Folge geleistet und den Brief einfach unbeantwortet gelassen. (M 1: 34) Die Ambivalenz der Geste ist signifikant: Auf der einen Seite steht - so die Behauptung Cortázars - die entschiedene Negation des Vaters seitens des jungen Autors (so vor allem die zweite Version der Anekdote). Auf der anderen Seite jedoch - so der Wortlaut der Anekdote in erster Version - ist die Negation signiert mit »Julio Cortázar«, affirmiert mithin - oder sollen wir sagen: »usurpiert«? - eben das, was sie zu verleugnen behauptet. Werfen wir zunächst, bevor wir die Beantwortung der Frage versuchen, einen ersten Blick auf die Gestalt der Mutter: Cortázar hat auf die Frage, was es bedeutet, in einem Haus von Frauen - »vaterlos« also (M 3: 4) - aufzuwachsen, verschiedentlich geantwortet. Er erwähnt einerseits die konstante Atmosphäre von Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, die ihm als Kind zuteil wurde - eine Zuwendung indessen, in der das 'mütterliche' Element nuanciert erscheint durch Elemente sozialer Autorität, die den Prozeß der Sozialisierung des jungen Cortázar entscheidend geprägt haben: »Mi madre cumplió muy bien su papel de madre. Es decir que desde el punto de vista matemal se ocupó de mí con todo cariño y con bastante firmeza [...]. Es una mujer muy buena, pero que al mismo tiempo imponía una disciplina en mi casa a mi hermana y a mí, una disciplina cariñosa pero una disciplina. No podíamos hacer lo que nos daba la gana, no. Había disciplina.« (M 3: 5) 1
C. Beaulieu-Camus zitiert den Text des Briefes nur in der französischen Übersetzung: »Cher Monsieur, j'ai bien reçu votre leure. Mais mon nom étant Julio Cortázar, je continuerai à publier mes travaux sous cette signature. Bien à vous. Julio Cortázar.« (Ebd.) Wir verzichten im folgenden auf die Übersetzung und zitieren die von Beaulieu-Camus mitgeteilten Dokumente (= M 1) im französischen Original.
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Was Cortázar hier als »mütterlich« bezeichnet, repräsentiert ohne Zweifel auch den Standpunkt eines (abwesenden) Vaters, dessen Rolle als Repräsentant sozialer Ordnung die Mutter offenbar wahrnimmt. Die Identifikation mit dieser Rolle fällt umso leichter, als sie einhergeht mit einer Atmosphäre von »Zärtlichkeit« und »mütterlicher« Liebe. Die positiven Seiten dieser Identifikation liegen auf der Hand. Sie sind bedeutsam für viele Züge des 'engagierten' Cortázar: die - von Freunden immer wieder beobachtete, auch in vielen »Selbstporträts« wiederkehrende - Diszipliniertheit seines privaten Lebensstils (vgl. M 22: 8f.; unten S. 76), seine Fähigkeit zur Zärtlichkeit (vgl. M 2: 69), seine Sensibilität für die Leiden hilfloser Geschöpfe (vgl. M 52: 5; 2: 35; 5: 29). Die Intemalisierung der sozialen Norm ist des weiteren angezeigt durch Cortázars Bereitschaft zum persönlichen »Opfer« - sei es im Verzicht auf universitäre Karriere (vgl. S. 66), sei es (später) im mannigfachen Verzicht auf verlegerische Honorare (vgl. S. 362). Erklärung finden damit auch die masochistischen Elemente seiner Persönlichkeit, zu denen er sich einmal bekannt hat (vgl. M 2: 68). Andererseits - der Widerspruch ist flagrant und bedarf der Erklärung - erscheint ihm die Kindheit als eine Zeit des Leidens. C. Beaulieu-Camus gegenüber behauptet er sogar: »l'enfance était vraiment l'enfer.« (M 1: 13) Der Grund des Leidens liegt darin, daß er schon als Achtjähriger das Gefühl hat - mag seine Umgebung ihm ansonsten auch zärtlich und liebevoll entgegentreten -, »einer Autorität unterworfen zu sein, die (er) nicht respektierte, und zwar einer ungerechten und mittelmäßigen Autorität.« (Ebd.) Auf die Gefahr hin, »una enormidad« (M 2: 100) von sich zu geben, erklärt er sein schon zu dieser Zeit gegebenes Bedürfnis, sich dieser »autorité mal fondée« (vgl. M 1: 13) in stiller Revolte bzw. durch Flucht in ein geistiges Reich von Freiheit und Phantasie zu entziehen (vgl. M 1: 14), und zwar aufgrund der Erfahrung intellektueller Überlegenheit vor allem den weiblichen Mitgliedern der Familie gegenüber: »[...] a los ocho años yo era mucho más culto que toda mi familia junta. Porque había leído una tal enormidad de libros ya a los ocho años y tenía una tal acumulación, ingenua claro, pero una tal acumulación de datos históricos literarios, novelas, episodios, y ese mundo mental era un mundo de los hombres. De manera que hay una compensación mental frente a la vida física entre mujeres.« (M 2:
100) Fragt man nach dem Erklärungswert der mitgeteilten Daten für das Problem der Entstehung einer kreativen Künstlerpersönlichkeit, so drängt sich folgende Vermutung auf: Die Lust zu schreiben - sie regt sich seit früher Kindheit: Gedichte schreibt Cortázar in großer Zahl bereits mit acht, sein erstes Romanfragment mit neun Jahren (vgl. M 1: 14f.; 18: 68) - steht offenbar im Zusammenhang mit der Struktur der erwähnten Ambivalenz. Schreiben hat einerseits die Struktur der Kompensation: Schreibend erträgt Julio den psychischen Druck einer als ungenügend, beengend und 'autoritär' erfahrenen Umwelt. Ist diese - die Umwelt, in der ihn der Zufall seines
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Schicksals zu leben zwingt - ihrer objektiven soziologischen Struktur nach als typisch kleinbürgerlich zu beschreiben, so erscheint sie der subjektiven Erfahrungsperspektive des Kindes vor allem als 'weiblich'. Schreiben bietet deshalb die Möglichkeit zur Gewinnung nicht nur einer imaginären, sondern ebenfalls realen Überlegenheit gegenüber einer mit Unlust erfahrenen, die freie imaginative und intellektuelle Entfaltung des Kindes beengenden kleinbürgerlich-weiblichen' Umwelt der Familie. (Zur Hypothese einer möglicherweise unbewußten 'Verlängerung' dieser Sozialisationserfahrung im Hinblick auf Cortázars problematisches Verhältnis zu einem 'Vater'-Land Argentinien, vgl. unten Kapitel 15!) Eine Episode aus dieser Zeit mag das Gesagte beleuchten (die leichten Abweichungen der einzelnen Versionen, wie sie Cortázar bei verschiedenen Anlässen erzählt, sind ohne Belang; die Pointe bleibt gleich!): Im Alter von acht oder neun Jahren verfaßt Cortázar eine Reihe von literarischen Texten, teils in enger Anlehnung an seine Lieblingsautoren (etwa E.A. Poe), teils auch bereits aufgrund eigener Erfindung. Als eines der Elaborate eines Tages seiner Mutter in die Hände fällt, ist Maria Scott von der literarischen Qualität der Texte in einer Weise überrascht, daß sie der Autorenschaft des kleinen Julio keinen Glauben schenkt und die Vermutung äußert, er habe den Text kopiert. Die Parallelität zum erwähnten Brief des Vaters ist evident. Julio ist aufs ärgste in seinem Identitätsgefühl getroffen. Doch im Gegensatz zur abgeklärten Reaktion des 'reifen' 35jährigen erlebt der 8jährige die verständnislose Geste der Mutter nur in stummem Leid als »traumatismo [...], un dolor de niño, un dolor infinito, profundo y terrible [...], algo así como la revelación de la muerte, esos primeros golpes que te marcan para siempre« (M 25: 71; vgl. Prego 1985: 155). Schreiben ist jedoch zweifellos mehr als dies, mehr als eine der zahllosen 'Frustrationen', die Kinder im Laufe ihrer 'Sozialisierung' erfahren. Zudem: Nicht der Achtjährige, sondern der Sechzigjährige erzählt die Anekdote. Er erzählt sie als Schriftsteller, als die Erfahrung des Schriftstellers, der er 1922 erst im Begriff ist zu werden. Die Rede vom »Trauma des Todes«, sieht man in ihr mehr als eine inadäquate Metaphorisierung eines simplen biographischen Datums, verweist dann jedoch auf eine Dimension des Schreibens, die die biographische Funktion der Anekdote bei weitem übersteigt, obwohl sie - auf der anderen Seite - mit dieser unlösbar verbunden bleibt. Es wäre dann nicht nur der eigene Tod, den das Verdikt der Mutter den Jungen erfahren ließe. Schreiben - in der Sicht des Sechzigjährigen - ist vielmehr Todes-Erfahrung überhaupt. Sie hat zur Bedingung ihrer Möglichkeit die Transgression des väterlichen Prinzips. Diese, die für das Schreiben konstitutive »absence du père« (Derrida 1972a: 86), der symbolische - im Verdikt der Mutter jedoch in doppelter Weise real erfahrene - »parricide« (ebd.: 187), die Wiederholung jener von Derrida so genannten ursprünglichen »scène de famille« (ebd.: 193), ist mithin das eigentliche Erfahrungspotential, das beiden Anekdoten gemeinsam ist.
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Ein später Nachklang dieser in paradoxer Weise mit dem 'weiblichen' Prinzip verknüpften Denunzierung einer der kreativen Seiten der literarischen Praxis gegenüber repressiven sozialen Norm findet sich im Begriff des »lector-hembra« (ich übersetze: »Leser-Weibchen«), wie ihn Rayuela verwendet. Cortázar hat die ironische Kritik der sich zu Recht oder Unrecht angesprochen Fühlenden mit Fassung ertragen (vgl. M 2: 117). ***
Kehren wir zurück zur Chronologie: Cortázar hat seine Kindheit und Jugend in Banfield verbracht, einem der zahlreichen, gesichtslosen Vorstadtviertel von Buenos Aires. Das eigentliche Zentrum des Viertels bildet weder eine Kirche noch ein Marktplatz, sondern die Trasse der Schnellbahn, über die jeder beliebige Teil der Hauptstadt nach ungefähr 30minütiger Fahrt erreichbar ist. Die Cortázars beziehen ein kleines Haus fünf Straßenecken weit vom Bahnhof entfernt in der Calle Rodríguez Pena. Als die Familie einzieht, besteht die Straße aus festgestampfter Erde; später wird sie bepflastert. (Vgl. I, n , S. 70) Als wir sie 1983 besuchen, ist sie asphaltiert - bis auf einige Supermärkte und Modeboutiquen, wie es scheint, einer der wenigen Fortschritte, die der Ort, abgesehen von einem unkontrollierten Flächenwachstum, in den letzten 30 Jahren zu verzeichnen hat. Der Vorstadtzug, mit dem wir ankommen, besteht aus alten Waggons, von denen man annehmen möchte, daß sie schon zu Cortázars Zeit benutzt wurden. Sie sind wie früher gefüllt mit Angestellten und Arbeitern, Hausfrauen, Rentnern ... Nichts zeigt deutlicher den sozialen Abstieg der ehemaligen Diplomatenfamilie als die Wahl des Wohnsitzes inmitten eines bescheidenen Kleinbürger- und Arbeitermilieus (vgl. M 5: 30): Das Haus der Cortázars befindet sich »en un suburbio llamado Banfield, nombre que corresponde a uno de los tantos ingenieros ingleses que construyeron el sistema ferroviario argentino. Como lo hicieron los ingleses, ponían los nombres de sus personas importantes, y así la estación que seguía a la mía se llamaba Temperlate, de manera en que había momentos en que uno podía creerse mucho más en Inglaterra que la Argentina.« (M 25: 70) Und doch ist Banfield der Ort, an dem Julio, den seine Mitschüler zunächst noch despektierlich »belgicano« (M 16: 37) nennen, jenen unverwechselbaren »argentinischen« Akzent sprechen lernt - bzw. den »porteño«-Tonfall der Hauptstadt -, den selbst Kritiker seines Werkes seinen Texten nicht abzusprechen vermögen. Hier schließt er Freundschaft mit Kindern von Arbeitern und einfachen Leuten (M 5: 30), lernt ihre Sprache sprechen und ihre Bedürfnisse erfühlen. Vor allem jedoch ist
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Banfield der Schauplatz eines zunächst nur in imaginären Bildern und Phantasien geführten Kampfes gegen eine kleinbürgerliche Umwelt, deren trügerische Geborgenheit der jungen Künstlerpersönlichkeit bereits sehr früh zur Last wird. So beginnt sich die Wohnung in der Calle Rodríguez Pena schon wenige Jahre nach dem Einzug der Familie in jenes von Kobolden, kindlichen Phantasmen und Ängsten »besetzte Haus« zu verwandeln, hinter dem sich ein kleiner Garten befindet (vgl. M 9: 70), dessen Boden die Erwachsenen mit »Gift« (vgl. M 2: 104) vollpumpen ... Während Julio in Banfield zur Schule geht, tritt die Doppelgesichtigkeit seiner Persönlichkeit - seine Neigung zum intellektuellen 'Diskurs' sowie die Fähigkeit zur ästhetischen Intuition, zur phantastischen 'Einbildung' - bereits deutlich zutage. Daß er sich das 'vergessene' Französisch im Alter von 14 Jahren aus purem Interesse für die französische Literatur innerhalb weniger Monate im Selbststudium 'wieder'-aneignete (vgl. M 11: 5), daß er später - ebenfalls mit Hilfe einer 'direkten' Methode, nämlich der Lektüre der Bibel (vgl. M 21: 3; 3: lf.) - Englisch und sogar Deutsch lernte, sind intellektuelle Leistungen, die glaubhaft werden, wenn Maria Scott über seine Erfolge in der Schule berichtet. Den Lehrern gegenüber erschien Julio diesem Zeugnis zufolge geradezu als Prototyp des von (kleinbürgerlichem) Leistungsstreben beseelten Musterschülers: »Fue un escolar brillante, el más brillante: siempre primero, siempre abanderado, siempre premiado. Todavía conservo las revistitas barriales de Banfield donde aparece posando como alumno destacado.« (Ai 18: 68) Dennoch zielt sein Leistungsstreben, das ihm den Beifall der Lehrer eintrug, offenbar in eine gänzlich andere Richtung, als es die Erwartungen seiner Umwelt vorzusehen schienen: »- ¿Tú nunca tuviste deseos de ser científico, descubrir el por qué de las cosas? - Yo tuve deseos de ser marino. Leí Julio Veme como loco y lo que quería era repetir las aventuras de sus personajes, embarcarme, llegar al polo, chocar contra los glaciares ...« (M 5: 29) Dem Musterschülerbild seiner Mutter hält Cortázar ein gänzlich anderes Bild seiner selbst entgegen - das Bild eines hypersensiblen, statt von allgemeiner Anerkennung getragenen, auf Unverständnis für seine Exkurse ins Reich des Phantastischen und Imaginären stoßenden, mithin wesentlich einsamen Kindes: »Fui enfermizo y tímido con una vocación para lo mágico y lo excepcional que me convertían en la víctima natural de mis compañeros de escuela más realistas que yo. Pasé mi infancia en una bruma de duendes, elfos, con un sentido del espacio y del tiempo distinto al de los demás. [...] Julio Verne habló del hombre invisible antes que Wells; a mí me fascinó esa posibilidad, leí El secreto de Wilhelm Storitz y entusiasmado se lo presté a mi mejor amigo y me lo tiró a la cara. 'No. Esto es demasiado fantástico.'« (Ai 5: 29)
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Seine Begabung für phantastische Wahrnehmung und Einbildung prädestiniert Cortázar schon als Kind für Erfahrungen 'reiner' Liebe, wie sie normalerweise der Jugendzeit vorbehalten scheinen. Ein erstes, hieraus resultierendes »Drama« (M 1: 15) spielt sich ab, als Julio 11 Jahre alt ist. Er verliebt sich unsterblich in eine Mitschülerin »mit blonden Zöpfen« (ebd.), erhebt sie insgeheim in den Himmel, wünscht sie in höchsten Nöten, um den Retter zu spielen, verfaßt stille Liebesgedichte und schreibt schließlich - den Wagemut zum Äußersten treibend - ihren Namen vor sich auf die Bank. Einer der Jungen entdeckt das Geschriebene, erzählt es der Angebeteten und diese - »la maldad de esa mujer«, kommentiert Evelyn Picon Garfield (M 2: 104) - denunziert ihn bei der Lehrerin: Letztere ruft ihn zu sich »y como era muy estúpida, me hizo un gran discurso moral diciendo que iba a llamar a mi madre cosa que para mí era como si me anunciara que me iba a matar. Imagina una tragedia espantosa, y me obligó a que fuese a buscar una goma de borrar y jugo de limón y que delante de toda la clase borrase eso. Y siempre me acuerdo que mi amada a todo esto sin mirarme estaba sentada en su banco con los brazos cruzados, con un aire justiciero digno y satisfecho, como una gata que se ha terminado de comer un ratoncito y ya empieza a digerirlo. Bueno, yo sufrí como puede sufrir un niño en ese momento. Mi amor desapareció, no la volví a mirar. Pero me quedó la sensación de pena y de frustración, de traición.« (Ebd.) Es ist das einzige Beispiel jugendlicher Liebe, das der in diesem Punkt ohnehin nicht sehr mitteilsame Cortázar erzählt. Sein anekdotischer Wert liegt außerdem weniger darin, Frequenz und Tiefe der erotischen Beziehungen des kleinen Julio zu belegen, als vielmehr den Bruch, der das emotionelle und intellektuelle Innenleben des »hypersensiblen« (vgl. M 31: 51) Kindes trennt von den durchschnittlichen Erwartungen seiner Umgebung. Es scheint, daß dieser Graben in der Jugend - auch wenn er strukturell fortbesteht kleiner wird. War die Kindheit die Erfahrung eines unüberbrückbaren Grabens, so besteht die Jugend wesentlich darin, Brücken zu bauen und auf ihre Tragfähigkeit hin zu erproben: Das Bild des entschwundenen physischen Vaters, »que yo había conocido de niño y yo hubiera necesitado que estuviera conmigo para guiarme un poco« (M 3: 5), beginnt einem »con nostalgia y con tristeza« (ebd.) erinnerten Erinnerungsbild zu weichen, jener intellektuellen und kulturellen Vater-Repräsentanz nämlich, von der oben die Rede war. Das Neue liegt darin, daß Cortázar nun erstmals Partner findet, mit denen ein kommunikativer Austausch über die intellektuellen und emotionellen Erfahrungen seiner inneren Welt möglich ist. In der Rückschau erscheint ihm dieser Prozeß wesentlich als ein solcher der Befreiung (vgl. M 3: 6). Seine Lektüreerfahrungen haben nun nicht mehr nur die Funktion, sein Innenleben dem Familienmilieu gegenüber abzuschirmen und ihm ein abstraktes und imaginäres, aber einsames Reich der Freiheit zu öffnen. Kulturelle Erfahrungen im weitesten Sinne - Lite-
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ratur und später vor allem die Musik - bilden vielmehr eine kommunikative Brücke, auf der es Cortázar gelingt, die steril gewordene Enge der Familie hin zu gleich orientierten Altersgenossen zu durchbrechen: »Cuando entré en la adolescencia, empecé a leer cosas por mi cuenta, empecé a comprar mis primeros libros, empecé a tener compañeros de estudios que también habían leído y que me pasaron cosas. Empezamos a descubrir las músicas que en mi casa no interesaban, como por ej. el jazz que en ese momento empezaba en la Argentina a ser conocido y que en mi casa no entraba porque mi madre y mi abuela no eran sensibles a eso.« (M 3: 7) Mit der Erfahrung der kommunikativen Funktion der Bildungsgüter geht einher die Erweiterung ihres Horizontes. Ihr Erwerb ist nicht länger auf die Länge und den Zufall der für Julios geistige Entwicklung in der Kindheit so entscheidenden Bibliothek der Mutter beschränkt, die ihn vor allem mit den sentimentalen, phantastischen und 'trivialen' Seiten der Literatur (A. Dumas, Jules Verne) vertraut gemacht hatte (vgl. M 5: 29). Des Französischen - und später des Englischen - mächtig, liest er Autoren, die zu Hause entweder unbekannt sind oder (aus ideologischen Gründen) auf Ablehnung stoßen: Pierre Loti kommt seiner sentimentalen, Anatole France seiner intellektuellen Neigung entgegen (M 1: 16). Mit 14 liest er mit Hingabe Montaigne, entdeckt wenig später die zeitgenössische Literatur und liest gleichzeitig die in billigen Populareditionen leicht zugänglich gemachten französischen und englischen Klassiker des 19. Jahrhunderts, u.a. die französische Linke sowie das Werk Darwins (vgl. M 1: 17). Das Urteil Cortázars über Praxis und Effizienz der damaligen Schulbildung ist vernichtend. Die vom Schüler geforderte Leistung besteht wesentlich im Memorieren2 sogenannter »Fakten«, ohne daß diese jedoch in durchschaubare systematische Zusammenhänge eingeordnet werden (M 1: 18). Wieder macht Cortázar aus der Not eine Tugend. Er eignet sich enzyklopädisches Wissen im buchstäblichen Sinne an: »De vieilles encyclopédies et certains dictionnaires m'attiraient. C'étaient des lectures fascinantes pour moi, parce que, si je trouvais, par exemple, en lisant Montaigne, une référence concernant Aristote, je me précipitais dans mon encyclopédie à la recherche de celui-ci où plusieurs pages me dévoilaient le personnage, son époque, sa vie, ses oeuvres, ses sentiments. Je m'instruisais ainsi continuellement. Chose curieuse, en même temps, je lisais les plus minables des romans larmoyants ou policiers. Je n'avais aucun critère de sélection; j'étais vraiment omnivore.« (Ai 1: 17f.)
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Die Satire dieser Bildungsrealität findet sich im ersten Kapitel des posthum veröffenüichten surrealistischen Romans mit dem suggestiven Titel El Examen als das Modell einer Vor-Lese-Kultur, die die Zöglinge der Universität des »doctor Menta« über sich ergehen zu lassen haben: »[...] al fin y al cabo la Casa no estaba tan mal; so pretexto de difundir la cultura universal el doctor Menta había acomodado a docenas de Lectores, pero los Lectores leían y las chicas escuchaban (sobre todo las chicas, siempre buenas alumnas y tan atentas al programa de trabajos prácticos), y algo quedaría de todo eso, aunque más no fuera Nigel Balchin.« (El examen, 1986: 12)
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Nicht nur Literatur jedoch füllt den Horizont seines Interesses. Er ist von den modernen Massenmedien - vor allem dem Film - fasziniert und entdeckt zusammen mit seinen Freunden eine neue, die engen klassizistischen Begriffe, die ihm seine Tante vermittelt hatte (vgl. M 1: 15), sprengende musikalische Welt: die zeitgenössische Konzertmusik, den Tango und - vor allem - den Jazz. Der in der Entwicklungspsychologie gebräuchliche Begriff der »Kulturpubertät« 3 trifft Cortázars Persönlichkeitsentwicklung in der Jugend mithin im weitesten Sinne: »En cette phase de ma vie«, bekennt er, »les livres étaient, pour moi, beaucoup plus importants que les filles« (M 1: 17). Die Freundschaften, die er schließt, sind über den als gemeinsam erfahrenen Schatz kultureller Bildungsgüter vermittelt - und bleiben auf solche Erfahrungen offenbar weithin beschränkt. Die in der Kindheit so schmerzlich erfahrene Einsamkeit ist in der Jugend also auch nur teilweise aufgehoben: »Mes amitiés étaient très scolaires. Je passais la plupart du temps chez moi, seul, ou marchant dans la ville, seul, un livre sous le bras. Oui, cela, c'était le grand vice. L'asthme de mon enfance n'était pas enrayé. Les crises me terrassaient souvent. Mais enfin rien de sérieux qui puisse m'empêcher de travailler.« {M 1: 16) Dennoch - aufs Ganze gesehen - ist die Bilanz dieser Jugend positiv. Ihr Ergebnis ist eine tatsächliche, effektive Emanzipation vom opprimierenden Familienmilieu der Kindheit. »Je suis devenu indépendant du système de pensée des miens, qui était celui de toute la petite bourgeoisie à laquelle j'appartenais« (M 1: 19), behauptet Cortázar. Emanzipation mithin; das Wort bedarf jedoch der Nuancierung. Im Negativen: Wenn Emanzipation eine Form der Befreiung ist, so wird Cortázar die jetzt erfolgte Befreiung später doch als unvollständig - da individualistisch - bezeichnen. Im Positiven: Befreiung ist für Cortázar keineswegs identisch mit abstrakter Negation. Wenn er einerseits bekennt, von seinem 18. Lebensjahr ab »le mépris le plus profond« gegenüber den kleinbürgerlichen Parolen empfunden zu haben, die am Tisch gewechselt wurden, ohne es zu versäumen, seinen Empfindungen auch Ausdruck zu verleihen »A ce moment j'ai commencé à claquer les portes« (Ai 1: 19) -, so bleibt er andererseits den Seinen - vor allem der Mutter - nicht nur emotionell verbunden, sondern trifft, wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, auf praktisch-ökonomischer Ebene Entscheidungen, die seine Reife zur Übernahme moralischer Verantwortung bezeugen. Daß er auch in diesem Punkte von seiner Umgebung nur unzureichend verstanden wurde, zeigen die Worte Maria Scotts, die Cortázar überliefert: »'Quand tu avais seize ans, dixsept ans, je ne savais quelle attitude prendre envers toi. D'une part, tu étais très tendre, sans défense, et tu devais avoir besoin de moi. 3
Zum Begriff vgl. H. Remplein: Die seelische Entwicklung des Menschen im Kindes- und Jugendaller. Grundlagen, Erkenntnisse und pädagogische Folgerungen der Kindes- und Jugendpsychologie, München/Basel 1969, S. 445f.
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Mais d'autre part, tu étais d'une violence cruelle, d'une indépendance absolue qui écartait toute complicité.'« (Ebd.)
2. Argentinische Provinz Anfang der 30er Jahre fallen einschneidende Entscheidungen im Leben Cortázars: der der Grundschule entwachsene 15jährige verzichtet ohne größeres Lamentieren - so scheint es - auf lange gehegte Jugendträume und schreibt sich im Lehrerbildungsseminar »Mariano Acosta« für die Laufbahn eines Volksschullehrers ein. Vier Jahre später - 1932 - erhält er das Primarschullehrerdiplom und verläßt die Schule nach einer weiteren 3jährigen Ausbildung mit dem - mit gewohnter Bravour abgelegten (vgl. M 19: 39) - Sekundarschullehrerexamen (vgl. M 25: 71). Er steht am Anfang einer 'Karriere', die ihn für ein volles Jahrzehnt in die argentinische Provinz verschlagen wird. Ein Anfang ohne Illusionen - zumindest, was die hinter ihm liegenden Jahre der Ausbildung betrifft. So erscheint ihm das »Mariano Acosta« rückblickend als »una pésima escuela, una de las peores escuelas imaginables« (M 30: 263). Von den über hundert Lehrern, die ihn unterrichten, bleiben ihm lediglich drei in positiver Erinnerung (vgl. M 16: 39; 49: 138; Vuelta al día en ochenta mundos, t.I: 151), unter ihnen allerdings so eindrucksvolle Gestalten wie der Altphilologe Arturo Marasso bzw. der Philosoph Vicente Fattone, denen Cortázar auch später in Dankbarkeit verbunden bleibt (vgl. Berriot 1988: 81ff.). Dennoch verläßt er die Schule, der brillanten Examina zum Trotz, mit dem Gefühl eines Opfers - »flamante víctima de esa educación oficial de mi tiempo, en que se premiaba con la misma frescura el floripondio verbal o los apuntes aprendidos de memoria« {M 16: 38). Über die »parodia de educación lingüística y literaria«, die ihm zuteil wird, heißt es später zusammenfassend: »[...] que se daba a los jóvenes argentinos de mi tiempo con un patriotismo que dejaba por el suelo el de San Martín y el de Bolívar, pues si éstos acabaron con los ejércitos españoles sin cortar por eso las raíces con España, los profesores de castellano y de literatura de nuestras escuelas secundarias conseguían el más horrendo parricidio en el espíritu de sus alumnos, instilando en ellos la muerte por hastío y por bimestres del infante Juan Manuel, del Arcipreste, de Cervantes y de cuanto clásico había tenido el infortunio de caer en la ratonera de los programas escolares y las lecturas obligatorias.« (Vuelta al día..., t.I: 149) Daß sich Cortázar trotz solcher Erfahrungen - mag sein Urteil 1930 auch etwas milder ausgefallen sein als 35 Jahre später - für die Laufbahn des Lehrers entscheidet,
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indiziert den Grad der Intemalisierung sozialer und ethischer Normen, von der oben die Rede war. Ihr Angelpunkt ist zweifellos die Gestalt der Mutter. Der äußere Grund für die Entscheidung liegt in der nach wie vor beängstigenden materiellen Situation der Familie. Julio glaubt sich verpflichtet, einen aktiven Beitrag zu leisten zur finanziellen Unterstützung der Familie und damit zur Entlastung der Mutter, deren schmales Gehalt, das ihre Tätigkeit in der staatlichen Rentenkasse (M 9: 73) abwarf, in den letzten 15 Jahren die einzige Einnahmequelle der Familie darstellte (vgl. M 1: 28; 3: 262). Der Verzicht aufs Universitätsstudium wiegt umso schwerer, als Cortázar mit der Aufnahme einer praktischen Berufsarbeit die Erwartungen eigentlich enttäuscht, die seitens der sozialen Klasse, der er angehört, an ihn gestellt werden, denn »el camino de los jóvenes de la pequeña burguesía (era): completar los estudios universitarios. Yo todo eso lo abandoné para poder ayudar a mi madre.« (Ai 11: 5) Sieht man die Entscheidung vor dem Hintergrund eines Prozesses, der ihn mit den Jahren zu einer immer klarer werdenden Einsicht hat gelangen lassen in das, was er später einmal als literarische »Berufung« bezeichnen wird (M 3: 7), so läßt sich das Psychogramm des 20jährigen Literaten mit einiger Präzision rekonstruieren: Literarische Praxis, Erfahrungen der »Schreibe«, wie sie - wie oben angedeutet - schon dem Achtjährigen in Ansätzen widerfuhren, bleiben weiterhin beschränkt auf die Sphäre des Privaten, ja 'Anonymen': Erst 1938 - auch dann noch pseudonym - erscheint der erste Gedichtband. Im 'öffentlichen' Leben dagegen - so scheint es - unterwirft er sich den Regeln einer sozialen Praxis, die begründet ist in einer Ethik der Verantwortung, die sich modelliert am Bild der Mutter. Handelt es sich bei dieser Ethik, so wollen wir fragen, um die gleiche, die Cortázar später für synonym erklärt mit »politischem Engagement« (vgl. Kapitel 6.1.)? Schöpfen beide - zumindest - aus gleicher Quelle? Sucht mithin auch der 'engagierte' Cortázar der 60er Jahre immer noch - wenn auch mit anderen Mitteln -, was er in den 30er Jahren praktiziert: die 'Identifikation' mit den ethischen Normen der 'Mutter'? Eine Antwort erfordert einen Vorgriff auf das Ergebnis der Untersuchung: Konzeption und Praxis des politischen Engagements der 60er Jahre gehen insofern über die Normen sozialen Handelns der 30er Jahre hinaus, als sie gerade jene Trennung der Welten, die der junge Cortázar als konstitutive erfährt, aufzuheben bestrebt sind. Mit anderen Worten: die befreiende Transgression der Schreibe, die das Kind als »Trauma des Todes«, der Jugendliche als Refugium der Phantasie und der junge Schriftsteller als Fluchtpunkt schöpferischer - aber einsamer - Imagination erfahren, soll nunmehr mit dem sozialen Projekt einer allgemeinen politischen Befreiung »konvergieren«. Doch wir greifen der Darstellung voraus. Bleiben wir zunächst bei den niederschmetternden 'Bildungserfahrungen' am »Mariano Acosta«: Es wäre verfehlt, die Zeit, die Cortázar hier verbringt, auf die bisher im Vordergrund stehende Perspektive
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von Verzicht und intellektueller Frustration zu reduzieren. So sind es gerade die negativen Seiten der Institution, die junge Intellektuelle vom Schlage Cortázars zum Zusammenschluß mit Gleichgesinnten dazu motivieren, auf der Ebene privater Aktivitäten alternative und kompensatorische Erfahrungen zu machen. Im Rahmen einer solchen Gruppe - »einer Art Verteidigungszelle gegen die Mittelmäßigkeit fast aller übrigen Lehrer und Schüler« (M 30: 263) - hat Cortázar erstmals das Erlebnis dauerhafter Freundschaft, so etwa die des (später in Paris lebenden) Malers und Dichters Eduardo Jonquiéres (vgl. Berriot 1988: 82f.) oder des nachmaligen Musikwissenschaftlers Jorge d'Urbano, erfahren (vgl. M 1: 20). Daß die Dynamik der intellektuellen Fluchtbewegung der Gruppe gegebenenfalls in eine reale überzugehen in der Lage war, zeigt eine aus dieser Zeit überlieferte Anekdote - deren Kern Cortázar Jahrzehnte später in einer seiner Kurzgeschichten wiederverwendet (vgl. »Un lugar llamado Kindberg«, in: Octaedro, 1974, S. 95ff.; vgl. Cortázar selbst dazu: M 3: 8) -, derzufolge der 18jährige Julio 1932 einen allerdings gescheiterten Versuch unternahm, sich als blinder Passagier nach Europa einzuschiffen (vgl. M 29: 32). Es verwundert mithin nicht, daß Cortázar später, aus der Perspektive der Rückschau, bestrebt ist, die Realität des Verzichts in ihrer Bedeutung fast herunterzuspielen. So behauptet er 1971 vor kubanischem Publikum, er weine dem verpaßten Universitätsstudium keine Träne mehr nach (vgl. M 11: 5). In der Tat scheint es, daß Cortázar den Schritt ins Berufsleben vollzogen hat nicht im Gefühl verpaßter Gelegenheiten, sondern mit Humor sowie der Bereitschaft, der Realität eines bizarren Systems mit Imagination und persönlicher Initiative zu begegnen: Ausgestattet mit dem Titel eines »profesor en letras« - »no 'de', sino 'en', un título que te facultaba para enseñar en los colegios secundarios, generalmente cualquier cosa: gramática, geografía, lógica, instrucción cívica, historia« (Ai 25: 71) - versetzt ihn der Zufall des Stellenkarussels zunächst für zwei Jahre an eine Primarschule in einer etwa 400 Kilometer von Buenos Aires entfernt gelegenen kleinen Provinzstadt namens Bolívar. Er unterrichtet Schüler der Abschlußklasse. Daß Cortázar seine pädagogische Mission anders definiert als diejenigen seiner Kollegen, die bislang seine Lehrer waren, zeigt sich bereits hier: »[...] tuve un grupo de unos 40 niños de 12 años, era el último grado de la escuela primaria [...] tuve un muy buen contacto. Les hice pasar un buen momento a ellos porque yo no pretendía demasiado que estudiaran las lecciones. Yo quería que se interesaran para la vida, que descubrieran un poco todas esas cosas que en la escuela primaria no les enseñan nunca a los niños, darles un poco la sensación del misterio, de lo fantástico, del juego, de la poesía. [...] Por suerte, nunca vino ningún inspector a mirar a mi clase porque me hubiera echado porque mi clase era una clase que no tenía nada que ver con los reglamentos. Fue una experiencia muy bonita y algunos de esos niños durante muchos años me escribieron, se acordaron mucho de su maestro.« (M3: 10)
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Die zweite und längste Station der Lehrtätigkeit Cortázars ist Chivilcoy, ein Landstädtchen in der Provinz Buenos Aires, 160 Kilometer von der Hauptstadt entfernt und mit (heute) 50.000 Einwohnern etwas größer als Bolívar. Cortázar unterrichtete Geographie, Geschichte und Staatsbürgerkunde auf der Ebene der Sekundarstufe. Alberto M. Perrone hat Chivilcoy 1976 besucht. Sein detaillierter Bericht enthält Erinnerungen ehemaliger Schüler und Kollegen sowie einen Auszug aus der Personalakte. (Vgl. M 21: 2f.) Letztere erlaubt es, die Chronologie in einem Punkte zu präzisieren: Cortázar beginnt seine Tätigkeit in Bolívar erst am 31. Mai 1937, also ungefähr zwei Jahre nach Ablegung seines zweiten Lehrerexamens (vgl. gleiche Information: M 5: 31!). Wenn die Entscheidung auch gefallen war, ins praktische Berufsleben einzutreten, so scheint Julio die kurze Zeit bis zum Freiwerden einer entsprechenden Stelle dennoch genutzt zu haben, um die Einführungskurse ins Literaturstudium an der Universität zu besuchen. Hier begegnet er unter anderem Daniel Devoto, mit dem er in Chivilcoy eng befreundet ist. Pädagogische Phantasie, überlegene Sachkompetenz und ansteckende Menschlichkeit sind die Eigenschaften, unter denen die Befragten sich Cortázars übereinstimmend als eines »profesor brillante« erinnern. Obwohl aufgrund seines jugendlichen Aussehens von seinen Schülern kaum zu unterscheiden - ein auf Visite befindlicher Bischof verwechselt ihn in der Tat mit diesen! - ist sein pädagogisches Wirken alsbald von der Aura des Außergewöhnlichen umgeben. Seine Unterrichtsstunden verlaufen teilweise offenbar im Stil akademischer Vorlesungen: »Tengo muy presente que todo nuestro curso, los días que tenía alguna hora libre, averiguaba dónde Cortázar dictaba clase y asistía cualquiera fuera su materia. Ibamos todos. Como no cabían tantos alumnos juntos, muchos escuchábamos de pie. Ahora me doy cuenta de que ya Cortázar practicaba en su enseñanza algo que se desarrolló posteriormente: la docencia comparada. El no se ataba al programa de sus materias. Hacía lo posible por vincular todo el saber entre sí, sin descuidar despertar el interés de sus alumnos. Así me hizo gustar de la historia como hecho humano y social. Sobre todo, la relación entre la acción del hombre y el escenario físico donde se mueve. En forma complementaria, siempre recomendaba leer novelas que a sus alumnos les resultaban encantadoras. Entre otros, Ben Hur y los libros de Julio Verne.« (M 21:2) Der Bericht ist aufschlußreich als erstes Beispiel für die Weise, in der Cortázar fortan den Begriff des 'Engagements' interpretiert: Sich-engagieren heißt nicht, es beim bloßen Lamentieren, bei der Position intellektueller Kritik - hier: der Misere des argentinischen Erziehungssystems - bewenden zu lassen, heißt vielmehr: konkrete Verantwortung übernehmen im Rahmen einer neuen Praxis. Cortázar steht mit dieser Haltung jedoch weitgehend allein: »Mis colegas se atenían a la directiva del ministerio y enseñaban el programa, sí,
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directamente, sin niguna fantasía [...], de manera que el contacto que yo tenía con ellos era muy superficial. Tenía muy buenas relaciones con profesores y profesoras, pero muy superficiales. Yo tenía mejor contacto con mis alumnos que con mis colegas.« (M 3: 3) Weit davon entfernt, seine Aktivitäten auf den Raum der Schule zu beschränken, hat Cortázar seinen Stundenplan so organisiert, daß er montags bis mittwochs unterrichtet und das Wochenende in Buenos Aires verbringt - »en busca de una energía cultural que seguramente necesitaba« (M 21:2). Trotzdem widmet er den Schülern auch einen Teil seiner Freizeit. Die von ihm unterrichteten Buben und Mädchen letztere indessen nur im Rahmen der äußerst eng ausgelegten Sitten der Provinz! pflegen bei ihm ein- und auszugehen: »Jamais une jeune fille, une de mes élèves, qui discutait avec moi en cours n'aurait pu venir chez moi approfondir le sujet. Cela ne se faisait pas, d'autant plus que je vivais à l'hôtel. Les garçons défilaient dans ma chambre. Nous bavardions sur tout: le programme, leurs problèmes personnels ou toute autre question complètement farfelue. Je leur prêtais des livres. Je les initiais à la littérature. J'ai eu la satisfaction d'en voir quelques-uns se révolter contre le sytème de la province, monter à Buenos Aires où ils se sont affranchis.« (Ai 1: 21f.) Die Kontakte bleiben teilweise über Jahre bestehen: Noch 1946, als er die Lehrtätigkeit aufgegeben und sich in Buenos Aires niedergelassen hat, besucht Cortázar einen Abschlußjahrgang in Chivilcoy, den er Jahre zuvor unterrichtete. (Vgl. M 21:2) Eine im erwähnten Bericht von A.M. Perrone wiedergegebene Bemerkung von F.A. Menta - einem der von Perrone befragten Kollegen Cortázars aus damaliger Zeit - läßt einen Rückschluß zu auf die Begleitumstände, unter denen Cortázar Chivilcoy im Sommer 1944 verläßt. Menta zufolge ist das Bild eines unpolitischen Träumers, das Cortázar später von sich selbst entwirft, zumindest unvollständig. Die Bemerkung Mentas, Cortázar sei politisch den »progressiven Demokraten« (M 21: 3) verbunden gewesen, läßt vermuten, daß er seit der am 4.6.1943 erfolgten Militärrevolution jenen politischen Kräften nahestand, die am 15. Oktober des gleichen Jahres in einem berühmt gewordenen Manifest die volle Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Rechte einforderten, ein Ansinnen, das vom neu ernannten Vizepräsidenten General Farrell tags darauf dann prompt als kommunistischer, antiargentinischer und antinationalistischer Ideologie entstammend stigmatisiert wurde. (Rouquié [t.II] 1978: 37) Der gleiche Farrell erhielt vier Monate später (am 24.2.44) durch einen Staatsstreich diktatorische Gewalt. Die Reden General Farrells im Unterricht zu kommentieren, gehört von nun an zum offiziellen Lehrplan - vor allem für die Vertreter des Faches Staatsbürgerkunde. Menta zufolge scheint Cortázar sich der Vorschrift entzogen zu haben und gerät in Schwierigkeiten. Doch bevor es zum Eklat kommt, erreicht ihn das Angebot eines seiner Freunde - Hugo Parpagnoli -, an der neu gegründeten Pro-
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vinzuniversität Mendoza in der Grenzprovinz Cuyo französische und englische Literatur zu unterrichten. ***
Das Angebot aus Mendoza ist nicht nur Erfüllung eines alten Wunsches - Cortázar kann sich nun ohne Einschränkung mit den Gegenständen befassen, die ihm nach Interesse und Anlage wichtig erscheinen; die verhaßte Staatsbürgerkunde wird endlich ad acta gelegt (vgl. M 25: 71) -; gerade weil Cortázar keinerlei akademische Titel besitzt, kann die Berufung zum Professor für Literatur als Indiz dafür gelten, daß der junge Autor, obwohl er bislang so gut wie nichts veröffentlicht hat, in literarischen Kreisen kein Unbekannter mehr ist. Dieser Ruf ist offenbar während der Jahre in Chivilcoy entstanden. Cortázar hat in Chivilcoy - entgegen mancher seiner Aussagen gegenüber L. Harss - nicht das abgeschlossene Leben eines introvertierten Einzelgängers geführt. Wohl ist davon auszugehen, daß er, soweit ihn seine Lehraufgaben und der rege Kontakt mit den Schülern nicht davon abhielten, jede freie Minute darauf verwandte, planmäßig seine enzyklopädische Bildung zu vervollständigen (vgl. M 30: 263; 5: 31); andererseits verbrachte er die Wochenenden regelmäßig in Buenos Aires, wo er intensiv am kulturellen Leben teilnahm sowie alte und neue Freundschaften pflegte. So unterhält er Beziehungen zum sogenannten »Grupo del 40«, einer Gruppierung junger Intellektueller, in deren Publikationen - vor allem den kurzlebigen Zeitschriften Canto und Huella (1940 bzw. 1941 gegründet) sowie dem in Chivilcoy bis 1955 erscheinenden Literaturblatt Oeste - die Krisenstimmung der Zeit diffusen Ausdruck gewinnt. Die ersten Veröffentlichungen Cortázars spiegeln den geistigen Kontext der Gruppe (vgl. M 12: 13ff.) - ihre Offenheit gegenüber neoromantischen, aber auch surrealistischen Tendenzen; ihren Hang, ein allgemeines Krisenbewußtsein zu ästhetisieren. Presencia (1938), eine in einer Auflage von nur 250 Exemplaren unter dem Pseudonym Julio Denis erschienene Sammlung von Sonetten, fällt noch in Cortázars Zeit in Bolívar. Weitere Gedichte - unter dem gleichen Decknamen - veröffentlicht er später in Oeste. (Vgl. M 21: 3) Ein Aufsatz über Rimbaud, der 1941 in Huella erscheint, zeigt jedoch, daß Cortázar beginnt, sich vom Ästhetizismus der Gruppe zu differenzieren: Das Werk Rimbauds gilt ihm als Paradigma einer in der Poesie angelegten Möglichkeit zur »Verwirklichung des Menschen« (vgl. M 12: 16) - eine Auffassung, deren Filiationen sich bis in Rayuelo weiterverfolgen lassen. Die Verwendung eines Pseudonyms anläßlich der Veröffentlichung seiner ersten Texte ist signifikant: nicht ihrer offensichtlich ästhetizistischen Tendenz wegen erscheinen sie Cortázar später als eine Art »Jugendsünde« (M 11: 5), sondern weil sie wie er J. Soler Serrano gegenüber andeutet - dem mit dem Gebrauch des Namens »Julio Cortázar« implizierten »Narzißmus« (M 25: 72) noch nicht zu genügen vermö-
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gen. Es wird noch runder 10 Jahre bedürfen, bis sich Cortázar den selbst (bzw. durch die bewußte Vaterrepräsentanz) gesetzten Maßstäben literarischer Qualität voll gewachsen fühlt. Auch in dieser Hinsicht bietet Mendoza mithin die Gelegenheit zu einem willkommenen Interim: »Era una universidad muy joven, pagaban unos sueldos de hambre, porque era pobrísima, pero al mismo tiempo nos proponía a los jóvenes argentinos una especie de apostolado: ir a enseñar aquello que nosotros conocíamos mejor que los estudiantes.« (M 25: 71) Eigenschaften wie Improvisation, Phantasie und Spontaneität sind mithin gefordert - Eigenschaften also, die Cortázar bisher vor allem darauf hatte verwenden müssen, um sich dem offiziellen Lehiplan zu entziehen. Die neue Stelle dagegen gewährt eine fast völlige Freiheit vom kurrikularen Korsett. Cortázar ist begeistert: »L'Université, c'était la fête, la distraction, l'expérience nouvelle.« (Ai 1: 23) Neue Erfahrungen jedoch vor allem für seine Hörer. Was der junge Intellektuelle aus Buenos Aires zu bieten hat, ist - gemessen am durchschnittlichen Lehrangebot seiner Kollegen - außerordentlich. Literatur, wie Cortázar sie in den Kursen vermittelt, ist kein abfragbarer Wissensstoff, sondern Basis einer lebendigen Erfahrung. Gemäß der im Rimbaud-Aufsatz von 1941 vertretenen avantgardistischen Devise versucht Cortázar das in den langen Lehrjahren der Provinz in aller Stille erworbene Bücher-Wissen (vgl. M 5: 31) umzumünzen zur Basis einer neuen Erfahrung des Lebens. Gewiß - so wird er später selbstkritisch feststellen (vgl. M 1: 22) - ist er selbst weit davon entfernt zu verstehen, was das ist, »das« Leben. (Vgl. M 30: 263) Doch für die vom »Bovarismus« - dem eintönigen Leben der Provinz - angeödeten Hörer seiner Vorlesungen ist die quasi-Lebenserfahrung des Surrealisten zumindest eine Gelegenheit, die erzwungene »Untätigkeit zu unterbrechen« (M 1: 23): insgesamt etwa 20 Personen, unter ihnen viele Gasthörer - Ärzte, Müßiggänger sowie eine 70jährige Nonne! (Vgl. M 1: 23). Das Programm ist anspruchsvoll. Es gehört zum Besten, was Cortázar zu bieten hat: Während der erste Kurs einen Überblick gibt über die »Poesie von Baudelaire bis Mallarmé«, behandelt der zweite die englische Romantik: »Wordsworth bis Keats, Shelley, Byron, Coleridge und Co....« (M 3: 11) Wie ist der außergewöhnliche Erfolg, der - falls man den vorliegenden Dokumenten Glauben schenken darf - dem Wirken Cortázars als Lehrer beschieden war, zu erklären? Präziser gefragt: Welches ist die Ebene, auf der die Erfolge liegen, die der »profesor brillante«, der wenig später in die erste Reihe der kreativen Schriftsteller des Subkontinents aufsteigt, bei seinen Schülern erzielt? Hat er sie - könnte man fragen - »schreiben« gelehrt? Wir haben die Frage Cortázar selbst vorgelegt und erhielten zur Antwort: »No, y además yo creo que ellos - los que escribieron - hubieran escrito lo mismo aunque yo no hubiera sido su profesor. Yo les ayudé un poco. Me mostraban sus
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textos y los mirábamos juntos, sí. Yo les ayudaba. Pero era gente que tenía vocación personal. Hubieran seguido por supuesto.« (M 3: 11) Cortázar hat an der Auffassung, derzufolge der kreative Akt des Schreibens als ein strikt individuelles Ereignis zu betrachten ist, stets festgehalten. Seine Vorlesungen zur surrealistischen Poesie sind der europäischen Tradition der Literaturgeschichte mehr verpflichtet als der in Lateinamerika gepflegten Praxis sogenannter Dichterwerkstätten (»talleres de poesía«). Seine Auffassung entfernt ihn wiederum gleichweit von der Rechten wie von der dogmatischen Linken: 1965 - zu einer Zeit mithin, als Cortázar anfängt, für viele junge lateinamerikanische Autoren zu einer Vaterfigur zu werden und sich die fremden Manuskripte in seiner Pariser Wohnung zu stapeln beginnen - erwidert er auf die Frage des (damals) jungen Mario Vargas Llosa, was er - Cortázar - einem ratsuchenden jungen Autor zu antworten pflege, mit der Paraphrase einer berühmten Stelle aus Rayuela (vgl. Kap.95!): »A semejanza de los maestros Zen 4 , trataría de romperle una silla en la cabeza. Es posible que el joven sudamericano comprendiera lo que hay detrás del silletazo; si a pesar de todo mi respuesta no le resultase lo bastante clara, le diría que el solo hecho de buscar consejos ajenos en materia literaria prueba su falta de verdadera vocación. Pero tal vez el silletazo resultara mortal y tendríamos un epígono menos, lo que siempre es una ventaja en nuestros países.« (M 14) Dem ironischen Sich-zur-Wehr-Setzen gegenüber Proselytentum aller Art entspricht auf der anderen Seite die gleichfalls unmißverständliche Weigerung, mit der Cortázar sich schon im Ansatz jedem kollektivistischen Anspruch widersetzt, den die Linke an ihn stellt. So ist schon im Einleitungsabschnitt seines Briefes an Roberto Fernández Retamar der Satz zu lesen: »[...] me considero sobre todo como un cronopio que escribe cuentos y novelas sin otro fin que el perseguido ardorosamente por todos los cronopios, es decir su regocijo personal.« (Ultimo round, t.ü: 265) Cortázar ist mithin nicht der Illusion erlegen, nach welcher Poesie lehrbar sei. Die Effizienz seiner Lehre lag offenbar gerade darin, daß ihre Ziele bescheidener waren: »[...] creo que les desperté el deseo de leer y conocer un poco la poesía moderna.« (Ai 3: 11) Ähnlich äußert sich eine seiner ehemaligen Schülerinnen - heute Literaturprofessorin in Mendoza: Die Bedeutung Cortázars als Lehrer, so sagt sie, habe für sie darin bestanden, daß er es verstanden habe, ihr die Literatur nahezubringen »als Quelle äs-
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Dank seiner Freundschaft mit dem Philosophielehrcr Vicente Fattone hatte Cortázar schon als Schüler Einblick in die Lehren des Buddhismus gewonnen, so daß das Zen-Zitat auch an dieser Stelle keinen biographischen Anachronismus darstellt. Vgl. das bei Berriot (1988:82) zitierte Buch Fanones El budismo nihilista, das Cortázar wohl schon als Jugendlicher gelesen haben muß.
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thetischen Genusses und Objekt leidenschaftlicher Forschung« (M 65: 1). Daß es vor allem die letztere war - die akademische Forschung -, die Cortázar sich in Mendoza zur Aufgabe gemacht hat, beweist eine längere, 1945 in der Revista de estudios clásicos der Universität Mendoza veröffentliche Studie mit dem Titel »La urna griega en la poesía de John Keats«. 5 Auch von seiner Tätigkeit als Professor für Literatur führt mithin keine direkte Linie zu Cortázars Schriftstellertum. Es sind eher Nebenlinien, an denen sich die Kontinuität einer Entwicklung aufzeigen läßt: Wie in Chivilcoy wird Cortázar auch in Mendoza wieder zum Mittelpunkt einer Gruppe von Studenten, die seine kulturellen Interessen und politischen Aversionen teilen. Im Hinblick auf erstere ist es vor allem die Jazzmusik, auf die sich - neben der Literatur - die Aktivitäten konzentrieren. Später, als Cortázar Mendoza wieder verlassen hat, gründen Mitglieder der Freundesgruppe - E. Zuleta Alvarez und Lorenzo Mascialina - den ersten Jazz-Club von Mendoza. (Vgl. M 65: 1) Im Hinblick auf seine politische Orientierung ist erwähnenswert, daß Cortázar nun zum ersten Mal aus der bisherigen Haltung politischer Anonymität heraustritt und sich zum offenen Parteigänger der antiperonistischen Opposition erklärt. Er nimmt an Demonstrationen teil und unterstützt eine mehrtägige Protest-Aktion der Studenten, die sich gegen den antielitären, den Interessen der jungen Universität direkt zuwiderlaufenden Slogan der Perón-Regierung richtet: »alpargatas, sí; libros, no« (Ai 21: 3). Die Aktion mündet ein in die Besetzung des Fakultätsgeländes. Die Polizei setzt zum Sturm an und verhaftet mehrere der Demonstranten, unter ihnen Cortázar (vgl. M 9: 73; M 49: 140). Was in Chivilcoy nur den Charakter einer latenten Drohung hatte, ist nunmehr Wirklichkeit geworden: Cortázar befindet sich im offenen Konflikt zur politischen Institution des Staates. Den Konflikt in all seinen Konsequenzen auszutragen, entspricht weder seiner vollen politischen Überzeugung, noch - insbesondere - seinen persönlichen Interessen: Der drohenden Entlassung zuvorkommend, schreibt er den Studenten einen aufmunternden Abschiedsbrief und gibt seine Stelle freiwillig auf. (Vgl. M 65: 2) Die Haltung Cortázars zum Peronismus ist später, in den Jahren des Exils und insbesondere seit der offenen Parteinahme für den Sozialismus und die kubanische Revolution, immer wieder Gegenstand zahlreicher Polemiken geworden. Sie wurde für viele zum Prüfstein für die Ernsthaftigkeit seines Engagements. Es ist nicht ganz einfach, ohne Rekurs auf den »in diesem Feld« üblichen »Manichäismus« (M 31: 132), als dessen Feind sich Cortázar zeit seines Lebens betrachtete, zu einem Urteil zu kommen. Wir wollen es trotzdem versuchen. Wichtig erscheint es auch, die Äuße-
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J. Cortázar: »La uma griega en la poesía de John Keats«, in: Revista de estudios clásicos, t.II, Mendoza 1946 (Universidad Nacional de Cuyo), S. 46-91; die Arbeit ist Arturo Marasso zugeeignet, einem der wenigen positiven Lehrergestalten am »Mariano Acosta« (vgl. S. 66f.!).
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rungen Cortázars selbst, die in einigen Fällen, die Form eines retrospektiven Schuldbekenntnisses streifend, einen eher vordergründig apologetischen Charakter tragen, einer Prüfung zu unterwerfen. Grundlage aller Äußerungen Cortázars ist die Behauptung, er sei im Jahre 1946 zusammen mit der Mehrzahl der argentinischen Intellektuellen - unfähig gewesen, zwischen Perón und Peronismus zu unterscheiden (vgl. M 29: 37): »Yo pertenecí a un grupo - por razones de clase pequeño burguesa - antiperonista que confundió el fenómeno Juan Domingo Perón, Evita Perón y una buena parte de su equipo de malandras con el hecho que no debíamos haber ignorado y que ignoramos de que con Perón se había creado la primera gran convulsión, la primera gran sacudida de masas en el país; había empezado una nueva historia argentina. Esto es hoy clarísimo, pero entonces no supimos verlo.« (Ai 31: 119) Es ist offenbar der Standpunkt des »rückwärtsgewandten Propheten« (L.v. Ranke!), den Cortázar hier einnimmt beim Versuch, die Ereignisse von 1946 zu rekonstruieren. Folgerichtig heißt es 1973, als sich Cortázar auf dem Höhepunkt seiner sozialistischen Mission befindet und von Kuba aus über Mexiko, Peru, Chile und Argentinien die (damals) 'fortschrittlichsten' Länder des Kontinents bereist: »Me alegraré el día en que el término 'peronismo' pueda ser sustituido por otro que exprese mejor, con más verdad, esa larga marcha del pueblo argentino hacia su destino socialista [...].« (M 29: 37) Doch zurück zur Wirklichkeit von 1946: Perón wird am 24. Februar zum Präsidenten gewählt. Argentinien hat zwar unter General Farrell auf alliierten Druck hin Deutschland in letzter Minute den Krieg erklärt; es ist jedoch kein Geheimnis, daß die Streitkräfte und einflußreiche Teile der Bevölkerung nach wie vor mit Sympathisanten des deutschen und italienischen National-Faschismus durchsetzt sind. (Vgl. M 3: 12; M 23: 23) Cortázar gehört nicht zu denen, die die Augen hiervor verschlossen haben. Er hat Hitlers Mein Kampf tatsächlich gelesen, ist über die Entwicklung des Krieges genau informiert (vgl. M 3: 27f.) und nimmt die Perversion des Begriffs »Kultur« durch das Hitler-Regime mit Schaudern zur Kenntnis. (Vgl. M 63: 34) Im Vorbeimarsch peronistischer Massen, in dem mit Lautsprechern tausendfach verstärkten Ruf »Perón, Perón, qué grande sos« (M 31: 119) faschistoide Untertöne herauszuhören, war mithin nicht nur Ausdruck unverbesserlich kleinbürgerlicher Ideosynkrasie; daß Cortázar und seine Freunde dem Lärm der Straße die Anhörung des »ultimo concierto de Alban Berg« (ebd.) vorzogen, war angesichts der Schreckensjahre, die die Welt hinter sich hatte, auch Ausdruck einer authentischen Wahrnehmung des historischen Augenblicks, der nach allen vorangegangenen Perversionen eines revolutionären Neubeginns auch auf dem Gebiet der »Kultur« bedurfte. Dennoch trifft die Selbstdeutung Cortázars offenbar den Kern der Sache: Daß es die argentinische Intelligenz in ihrer
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überwiegenden Mehrheit vorzog, der durch den Peronismus ausgelösten Massenbewegung den Rücken zu kehren, hat dazu beigetragen - nicht nur die Linke, sondern -, das gesamte argentinische Volk für drei Jahrzehnte jenem ausweglosen »Manichäismus« auszuliefern, den Cortázar im Gespräch 1978 mit E. González Bermejo so heftig beklagt. Das Versäumnis Cortázars im Jahre 1946 - so wird man angesichts der Exzesse, zu denen die ungehemmten Manichäismen von rechts (aber auch von links) geführt haben, im Herbst 1988 urteilen müssen - besteht weniger darin, seine Stimme den peronistischen Sprechchören verweigert zu haben als vielmehr darin, den Kampf für die Rechte des Individuums - die die Intelligenz durch die peronistischen Massen mit Recht unzureichend vertreten sah - von der Solidarität mit dem Kampf um sozialen Fortschritt und Veränderung abgetrennt und in eine scheinbar politik-freie, 'private' Sphäre der 'Kultur' transponiert zu haben. Als Cortázar 25 Jahre später (!) einen Text vorlegt, der die Fusion des Intellektuellen und des Sozialen, des Ästhetischen und des Politischen erstmals realisiert, zeigt die weitgehend verständnislose Reaktion der Linken auf Libro de Manuel, daß das Versäumte - jedenfalls was die argentinische Intelligenz betrifft - kaum nachzuholen ist (vgl. M 31: 125f.). Der Libro verhindert weder die Rückkehr des Verbannten (Perón!) noch schlimmer! - die Katastrophe der anschließenden Militärdiktatur.
3. Buenos Aires »Las ciudades son siempre mujeres para mí«, sagt Cortázar. »Mi relación con ellas ha sido siempre la de un hombre con una mujer ... Buenos Aires es de alguna manera la mujer de mi vida. Esa que queda ahí a pesar de todo y ..., digamos, París es la gran amante.« (M 9: 37) Er hat Mendoza verlassen, mittellos, »[sin] un centavo« (M 18: 68), versucht in Chivilcoy vergeblich, seine frühere Tätigkeit wieder aufzunehmen (vgl. M 21: 3), und erscheint schließlich im Hause der Mutter: »Donde come uno, comen dos« (M 18: 68), will sie ihm zur Begrüßung gesagt haben. Doch Julios Wille zur Unabhängigkeit ist unwiderruflich. Er ist entschlossen, weiterhin auf eigenen Füßen zu stehen. »Julio cree«, sagt María Scott, »que la familia - su familia, por supuesto - no debe atravesarse en su camino. Que aunque él se entienda directamente con el mundo entero, su familia no tiene allí nada que hacer.« (M 18: 73) Cortázar sucht seine Unabhängigkeit jedoch in den geordneten Bahnen einer bürgerlichen Existenz: »I have absolutely no regard«, erklärt er M.A. Safir gegenüber, »for people who think that liberty and the 'poetic' life mean living in a dirty room, with dirty plates
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piled up and used napkins lying around because it's 'bourgeois' to wash them or to put them away. When I first came to Paris I had my fill of places like that, and what I learned is that these so-called 'Bohemians', instead of being free are, in reality, slaves, much more so than the man who gets up in the morning and goes to work at the post office. They are proud that they don't work, that they haven't entered the system, but they still have to eat, and so they spend their whole day looking for friends to lend them ten or twenty francs which, of course, they'll never be able to repay, unless they spend another day looking elsewhere for the money.« (M 22: 8f.) So verwundert es nicht, daß er sofort nach seiner Ankunft in Buenos Aires eine Tätigkeit sucht, die einerseits seinen Lebensunterhalt sicherstellt und andererseits seine schriftstellerische Arbeit, die er im Privaten nunmehr mit aller Energie betreibt, nicht allzusehr behindert. Die Stelle eines Abteilungsleiters der »Cámara del Libro«, um die er sich erfolgreich bewirbt, entspricht diesen Bedingungen. Mit einer lediglich vierstündigen Arbeitszeit am Nachmittag läßt sie ihm ausreichend Zeit zum Schreiben. (M 16: 39) Zwar sagt ihm die neue Berufsarbeit keineswegs zu - »Avoir à débattre les questions financières avec les éditeurs, ne me passionnait pas.« (M 1: 24) -, doch behält er die Stelle drei Jahre lang bei (bis 1949). Der literarischen Qualität der zahlreichen, seine Schubladen füllenden Inédita mittlerweile »völlig sicher« (M 30: 264), schreibt sich der 34jährige dann nochmals - im Interesse einer qualifizierteren Berufsarbeit - in der Fakultät ein und legt innerhalb kürzester Zeit ein Dolmetscherexamen ab für Französisch und Englisch. So wird 1949 für die ansonsten ereignisarme, zwischen Büro und Schreibtisch verbrachte, nur durch seltene Kontakte mit einigen wenigen Freunden - keine Schriftsteller, sondern »Café-Bekanntschaften, ehemalige Schulfreunde« (M 8: 31) - unterbrochene Zeit von Buenos Aires zu einer Art Schwellenjahr: Cortázar stürzt sich mit solcher Energie in die Dolmetscherausbildung, daß er vorübergehend erkrankt und an nervösen Störungen leidet. (Vgl. M 1 : 24) Er gibt die Tätigkeit in der »Cámara del Libro« auf und begibt sich auf eine zweimonatige Europareise. In Barcelona, das er 30 Jahre zuvor verlassen hat, sucht er vergeblich nach Spuren der Erinnerung und Kindheit. (Vgl. M 25: 69) Paris, die zweite Station seiner Reise, bedeutet ebenfalls eine Enttäuschung, jedoch in positiver Hinsicht: »J'ai trouvé que mon idée de Paris, mon amour de Paris et de la France, (idée imaginaire et littéraire, si vous voulez) étaient bien en dessous de la réalité. J'ai trouvé cette ville beaucoup plus belle que dans mes rêves; ce qui est rare: en général, on est déçu. Et je suis rentré en Argentine, décidé à faire n'importe quoi pour y revenir.« (M 1: 124f.) Im Anschluß an Paris besucht er Italien (M 1: 24) und fährt dann zurück. Der Inhaber eines einträglichen Übersetzerbüros - »Un noble hongrois qui, à travers des
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aventures multiples avait vécu à Buenos Aires, à Tahiti et un peu partout [...] mais il voulait finir ses jours à Tahiti.« (Ai 1: 25) - macht ihm nach einer 18monatigen Zeit der Einarbeitung eine verlockende Offerte: Cortázar soll das Büro ganz unter seine Regie nehmen und ihm, der sich zurückzieht, sowie seiner Frau eine Rente zahlen. Cortázar willigt ein und verdient mit einem Mal, obwohl die Tätigkeit ihn nach wie vor nur wenige Stunden täglich in Anspruch nimmt, »énoimément d'argent« 6 (M 1 : 26). Doch Cortázar ist von der Identifikation mit dem Leben eines argentinischen »Bourgeois«, das sich ihm als Möglichkeit plötzlich anbietet, weiter entfernt denn je zuvor: »Hubo un momento en que Buenos Aires y yo dejamos de ser amigos.« (M 9: 73) 1951 ist der Augenblick zum Greifen nahe: der Peronismus ist auf dem Höhepunkt seiner Popularität und droht - wie Cortázar es empfindet -, das kulturelle Leben zu ersticken. (Vgl. M 18: 72; M 29: 33) Die nun plötzlich eingetretene Möglichkeit, angesichts dieser Situation die Flucht ins Reich der materiellen Güter anzutreten, sich mithin zum konsumabhängigen »Bourgeois« zu mausern, erfüllt ihn mit »Angst«: »J'avais l'impression de ne pas me connaître assez. Et je me suis dit: 'Si ça continue ainsi, je vais me ranger, je vais m'acheter une voiture, puis une maison, je vais trouver une bourgeoise et j'aurais même une maison de campagne!'« (M 1: 27) Als die französische Regierung wie alljährlich die Ausschreibung für ein mageres Stipendium für Paris eröffnet - 2 bis 3 Stipendien für Hunderte von Bewerbern -, ergreift er den Strohhalm und präsentiert der Jury, zu deren Mitgliedern unter anderen Roger Caillois gehört, eine umfangreiche Arbeit zur Theorie des modernen Romans. (Vgl. M 1: 25f.) Anders als bei einem Romanmanuskript, das einige Jahre zuvor bei einem vom Verleger Losada durchgeführten internationalen Wettbewerb durchfällt, hat Cortázar dieses Mal Erfolg. Er erhält das Stipendium und steht damit an der Schwelle eines neuen und entscheidenden Abschnitts seines Lebens. Ohne Zögern beschließt er, Buenos Aires den Rücken zu kehren und den Luxus der »Frau fürs Leben« gegen eine bescheidene Bude in der »Cité Universitaire« einzutauschen, die die ferne französische »Geliebte« für ihn bereithält. Doch das persönliche Glück, das Cortázar empfindet, ist nicht ungetrübt. Der plötzliche Entschluß, der greifbar gewordenen Prosperität Lebewohl zu sagen, stößt nach den langen Jahren der Entbehrung, die die Familie hinter sich hat, auf Unverständnis und Kopfschütteln: »Ds ont carrément pensé que j'étais fou. Couper court à une chose qui était la solution de tous les problèmes, qui me laisserait une petite fortune au long des an6
Die dank der Übersetzertätigkeit erworbene kurzfristige Prosperität ist die Voraussetzung jener in Deshoras (»Diario para un cuento«) erinnerten, jedoch selbstkritisch »dekonstruierten« Frivolitäten (vgl. unsere Analyse, unten
11,4.4.!).
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nées, ça ne se fait pas. Ça ne se fait pas, c'est mal. Très mal. Cette décision a été une grande révélation. J'ai dû affronter le jugement amical et attendri de mes amis et de ma famille.« (Ai 1: 28) Die reale Basis des Konflikts ist wieder der fraglich gewordene Unterhalt der Familie - insbesondere der Mutter, für den Cortázar seit 15 Jahren Sorge trägt. Doch der Entschluß ist definitiv: Ohne sich der Verantwortung zu entziehen, versucht er »die Probleme« der Mutter zu »regeln«. Doch die Art dieses Arrangements beweist, daß er aufbricht, ohne an Rückkehr zu denken: »J'ai vendu les livres, les disques, les choses que je possédais.« (Ebd.) Werfen wir noch einen Blick auf Cortázars schriftstellerische Tätigkeit in Buenos Aires. »[...] un tipo muy solitario, muy introvertido« (M 9: 73): so bezeichnet sich Cortázar - vor allem für die letzten Jahre in Argentinien. Wir haben die Gründe für diese Haltung - soweit sie biographisch zu dokumentieren sind - oben angedeutet. Der Hang zur Introversion beginnt sich nun jedoch ins Produktive zu wenden. Sei es, daß er die innere Zensur, die ihn zu Beginn der 40er Jahre noch daran hindert, unter eigenem Namen zu veröffentlichen - Cortázar gibt an, im Alter zwischen 22 und 28 Jahren zwei Romanmanuskripte gänzlich vernichtet zu haben (vgl. M 4) -, schwächer geworden ist, sei es, daß er nun wirklich 'anders' zu schreiben in der Lage ist: seit etwa 1947, so behauptet er, ist er sich völlig sicher, »de que casi todas las cosas que mantenía inéditas eran buenas [...]« (M 30: 264). Da er nicht gezwungen ist, von seiner Arbeit als Schriftsteller zu leben, unternimmt er so gut wie keine Anstrengungen, seine zahlreichen Manuskripte, die in der Zeit von 1946 bis 1951 entstehen, zu publizieren. Es sind - neben Zeitungsartikeln in Sur und La Nación und umfangreichen Übersetzungsarbeiten (z.B. André Gide!) - ihrer vor allem vier: zunächst eine 600 Seiten starke Arbeit über John Keats (vgl. M 16: 39f.; M 25: 72), offenbar die Fortsetzung der in Mendoza veröffentlichten Studie; des weiteren ein unveröffentlicht gebliebenes Romanmanuskript mit dem Titel El examen sowie schließlich Los reyes (1949) und Bestiario (1951). 1951 jedoch, als er Buenos Aires verläßt und immerhin drei seiner Bücher im Druck erschienen sind, ist der breiten Öffentlichkeit der Name Cortázar immer noch weitgehend unbekannt. Eine Ausnahme bildet indessen die für Cortázar - jedenfalls auf dem Gebiet der Literatur - wichtigste Gestalt unter seinen Zeitgenossen: Jorge Luis Borges. Borges gehört wie Cortázar zu jener Gruppe bürgerlicher Intellektueller, die zum Regime Peróns in intransigenter Opposition stehen. Aufgrund seiner Haltung hat er seine Stellung als Direktor der Nationalbibliothek verloren. In Chivilcoy bereits hat sich Cortázar mit seinem Werk beschäftigt. Borges ist einer der wenigen lebenden argentinischen Schriftsteller, denen er Bewunderung entgegenbringt. Borges' Genialität besteht für ihn darin, die argentinische Literatur vom fatalen Erbe der spanischen
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Rhetorik befreit und ihr damit nichts Geringeres als eben dies geschenkt zu haben die Qualität einer eigenständigen lateinamerikanischen 'Schreibe'. Borges fortzuschreiben - nicht etwa ihn nachzuahmen, sondern die Strenge seines künstlerischen und ästhetischen Maßstabs auf die eigenen Produkte zu übertragen -, ist fortan ein Anspruch, dem sich Cortázar zeitlebens selbst unterstellt. (Vgl. M 1: 29) Daß der Herausgeber der Anales de Buenos Aires auf ihn aufmerksam wird und als erster eine der Erzählungen Cortázars veröffentlicht (»Casa tomada«), gehört mittlerweile zu den bekanntesten Anekdoten der lateinamerikanischen Literatur. In seiner Version der Anekdote bestreitet Cortázar, daß die Initiative von ihm selbst ausgegangen sei: »- [...] eso no es cierto porque yo nunca llevaba un manuscrito a nadie ... - Y dice además que sigue siendo su mejor cuento. - Sí, a lo mejor tiene razón. No, lo que pasó es que ese cuento yo se lo di a un amigo mío que lo leyó, y la mujer de ese amigo era secretaria de la revista de Borges. Entonces, ella se lo llevó a Borges. Y Borges lo leyó y dijo: Dígale a Julio Cortázar - el nombre conocía - que esto se publica en seguida. Y no solamente publicó eso, sino publicó otra cosa más. Pero después se ha olvidado de eso. Él dice que yo se lo llevé. No tiene ninguna importancia. Pero el hecho es porque yo era totalmente desconocido y que alguién como Borges le gustara el cuento y lo publicara, para mí era como si me hubieran dado el Premio Novel. Una cosa así.« (M 3: 16) Daß Borges nicht nur die fragliche Erzählung, sondern »anderes mehr« veröffentlicht habe, bezieht sich offenbar auf Los reyes, die erste in Buchform erscheinende Publikation Cortázars unter eigenem Namen: Bevor der Ästhet und Musikwissenschaftler Daniel Devoto, Cortázars engster Freund aus damaliger Zeit, zusammen mit dem Maler Oscar Capristo (vgl. M 21: 2) auf eigene Kosten die luxuriöse Liebhaberausgabe besorgt, erscheint der kurze Text ebenfalls in Borges' Anales. Das »tiefe und abgründige Schweigen«, das die Veröffentlichung begleitet, mag seinen Grund auch darin haben, daß es sich, mögen die ästhetischen Qualitäten des (1947 entstandenen) Textes auch unbestreitbar sein und der Autor ihn niemals verleugnet (vgl. M 30: 265), trotzdem noch um eine Art Cortázar-ava«/ la lettre handelt: Die zugrundeliegende 'Idee' - es geht um die 'monströse', einsame, von gesellschaftlicher Anerkennung ausgeschlossene Existenz des Dichters - präsentiert sich in durchgängig mythologischem Gewand. In der Umdeutung der traditionellen Minotaurus-Sage (vgl. M 25: 72f.) - nicht Theseus, sondern das einsame Monster ist der eigentliche 'Held' der Geschichte - kündigt sich zwar bereits eine Freiheit gegenüber dem kulturellen 'Material' an, wie sie die späteren Texte Cortázars auszeichnet; die Sprache selbst jedoch bleibt traditionell, symbolistischen Vorbildern verpflichtet - »una especie de mezcla de Valéry y Saint-John Perse« (M 30: 265). Gleiches läßt sich von zwei weiteren Texten, die in dieser Zeit entstanden sind, keineswegs behaupten: Sowohl der surrealistische Kurzroman Divertimento (1949
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verfaßt; 1986 veröffentlicht) als auch El Examen (entstanden 1950; veröffentlicht ebenfalls 1986) sind Dokumente einer intensiven Beschäftigung Cortázars mit Theorie und Praxis der Ästhetik der europäischen Avantgarde, insbesondere des Surrealismus 7 : Bereits in Divertimento zeichnet sich seitens Cortázar eine Rezeptionshaltung gegenüber dem Surrealismus ab, wie sie 15 Jahre später in Rayuela zur ästhetischen Norm wird. Es ist diejenige diskursiver Verfremdung: Mit den Mitteln diskursiver Ironie entpragmatisiert Cortázar das dem französischen Surrealismus eigentümliche pragmatische Pathos und dekouvriert den surrealistischen Anspruch auf ästhetische Primärerfahrung als eine Form arbiträrer Diskursivität, ohne indessen den Anspruch als solchen prinzipiell preiszugeben. Erfahrung und Diskurs stehen so am Ende des Romans zueinander im Verhältnis ironischer Schwebe, verlagern den Anspruch surrealer Realitätserfahrung mithin auf eine potentiell neue Ebene. Die in Divertimento nur potentiell indizierte Ebene surrealer Realitätserfahrung wird in El Examen manifest als die zeitgenössische Ebene argentinischer Realität in Buenos Aires. El Examen, so glaubt Cortázar später »sin ninguna falsa modestia« urteilen zu können, »tenía unas audacias de escritura como tal vez yo no las he hecho después« (M 8: 31; Hervorh. W.B.B.). Schon die Handlung konnotiert Phantastisches: »la historia de la destrucción de Buenos Aires, la ciudad vista como un cuerpo que se enferma y empieza a podrirse.« (Ebd.) Pilze sprießen aus dem Boden der Buchläden und zwischen den Büchern; Straßen und Gehwege zerfallen in Stücke und sinken in die Tiefe; wilde Hunde jagen die Menschen aus den U-Bahn-Stationen; das Wasser des Rio de la Plata zieht sich zurück; das Delta beginnt auszutrocknen und hinterläßt eine faulende Wüste. »Además, es un libro profético«, erzählt Cortázar weiter: »eso lo sabe Carlos Fuentes, que leyó la novela en manuscrito y es testigo de que en esa novela, que fue escrita en el año 48, yo escribí sin saberlo la muerte y los funerales de Eva Perón, que ocurrieron cinco años después, cuando yo ya estaba en Europa. El episodio es el siguiente: la ciudad de Buenos Aires se está dislocando y la gente tiene miedo y, como pasa siempre en esos casos, nacen supersticiones, magias, hay brujos que profetizan. Entonces en plena Plaza de Mayo [...] se organiza una especie de ceremonia en que la gente hace una larguísima cola en una tienda de campaña. Luego entra y lo único que pasa es que hay una pequeña caja de cristal con unos huesitos, y se va. Son ceremonias de conjuración de la catástrofe que está sucediendo. Eso es absolutamente lo que sucedió cinco años después cuando pusieron el cadáver embalsamado de Eva que se había reducido y todo Buenos Aires defilò. Como profecía era bastante inquietante ...« (M 8: 32)
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Ich halte mich im folgenden an die in diesem Abschnitt zugrundegelegte Perspektive der biographischen Dokumentation. Zum Textbefund aus analytischer Sicht habe ich mich 1989 auf dem Berliner Avantgarde-Kolloquium ausfuhrlich geäußert (vgl. Berg 1990a). Eine Wiederholung des dort Gesagten erübrigt sich hiermit an dieser Stelle.
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Freunde überreden ihn, das Manuskript bei Losada anläßlich der Verleihung eines internationalen Buchpreises einzureichen. Es fällt bereits in der Vorauswahl durch (vgl. M 16: 39) - nicht seines prophetischen Gehaltes wegen, sondern aufgrund seiner stilistischen Kühnheit. Sowohl Los reyes als auch El examen sind offenbar Ausdruck von inneren Erfahrungen, transponiert - zum einen in die Sprache einer viertausendjährigen mythologischen Überlieferung (vgl. M 25: 72) -, zum anderen in die Sprache einer produktivwuchemden, Zukünftiges in Bildern des Vergänglichen antizipierenden Welt der Phantasie. Mit Bestiario dagegen, einem kleinen, nur acht Erzählungen umfassenden Prosabändchen, das einen Monat vor der Abreise nach Frankreich erscheint (vgl. M 1: 25), kehrt Cortázar gewissermaßen in die Gegenwart zurück - seine, mit Erlebnissen der Kindheit und Jugend sowie den Erfahrungen unter dem Peronismus gesättigte Gegenwart: Ein 'Elfenbeinturm' mithin gegen den Peronismus, eine Interpretation, die Cortázar später glaubt, seinen Kritikern konzidieren zu müssen? (Vgl. M 80: 7; vgl. M 51) Vielleicht aber vor allem ein Stück phantastischer Literatur, das den Autor nun zum ersten Mal auf der vollen Höhe seiner Meisterschaft zeigt. Man wird sich deshalb vor einer verkürzenden biographischen, (tages-)politischen oder gar costumbristischen Lektüre der Texte, die durch gelegentliche Interviewbemerkungen Cortázars immer wieder genährt worden ist, hüten müssen. Deuten wir kurz an, worin wir die frühe 'Meisterschaft' Cortázars begründet sehen: Gewiß spiegeln Erzählungen wie »Casa tomada«, »Omnibus« oder »Las puertas del cielo« kollektive Erfahrungen des bürgerlichen Intellektuellen wider, der seine traditionell eingenommenen sozialen und kulturellen Lebensräume durch den unter Perón massiv einsetzenden Zustrom von Angehörigen der Unterschicht in die Hauptstadt - der sogenannten »cabecitas negras« (vgl. M 51) - »besetzt« sieht, sich ihrem »Blick« hilflos ausgeliefert findet oder gar der momentanen Verwandlung von Menschen in »Monster« beizuwohnen glaubt. Ebenso mögen »Carta a una señorita de Paris«, »Circe« oder die Titelgeschichte (»Bestiario«) selbst mit ihrem rationaler Erklärung entzogenen Auftreten animalisch-»bestialischer« Elemente auf eher individuell gemachte Erfahrungen zurückgehen, deren Erlebniskern unverarbeitet blieb und sich obsessionell verfestigt hat. Wenn sich so argumentieren läßt, so trifft bereits auf diese frühen Texte Cortázars in hohem Maße jene Charakterisierung zu, in welcher er später ein zentrales Merkmal der Kurzgeschichte sehen wird: Die Funktion der Texte als »Exorzismus«. (Vgl. Ultimo round, t.I, S. 66; auch: M 29: 34) Der funktionierende Exorzismus hat jedoch immer den Charakter einer potentiellen Transgression bestehender Normen. Er ist Teufelsaustreibung, also Bewältigung des Bösen - ja, aber mit den Mitteln des Bösen selbst: Monster und Bestien aller Art - weiße und schwarze Kaninchen, die auf dem Wege eines physiologisch exakt beschriebenen Erbrechens geboren werden; in Schokolade verpackte, männermordende Küchenschaben oder
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geheimnisvolle menschenverschlingende Tiger - bewegen sich inmitten einer sozialen Erfahrungswelt, deren »orden cerrado« (Bestiario, S. 19) als Widerschein der Seele faßbar wird. Der Zusammenstoß beider - der des Monströsen mit der Ordnung des Alltäglichen - entfunktionalisiert sowohl die blinde Irrationalität der phantastischen Elemente als auch die scheinbare Selbstverständlichkeit der bürgerlichen Welt. So werden die Erzählungen - weit gefehlt, sich auf die bloße Wiederholungsfunktion bereits abgeschlossener kollektiver oder individueller Erfahrungen zu beschränken zum potentiellen Text für neue Erfahrungen, die sich selbst - im Augenblick der Lektüre - konstituieren. So enthalten z.B. der Tod und die wunderbare »Auferstehung« Celinas (in: »Las puertas del cielo«) inmitten der proletarisch exuberanten Atmosphäre des mit »Monstern« gefüllten »Santa Fé Palace« ein (auch) politisches Erfahrungspotential, das mit der Reduzierung auf die »anti-peronistischen« Positionen des Autors im Jahre 1948 keineswegs auszuschöpfen ist.8 Auch im Hinblick auf Bestiario hat die Abreise Cortázars symbolischen Wert: das Bändchen, das einige der »argentinischsten« (der Superlativ sei gestattet!) Erzählungen enthält, die Cortázar geschrieben hat, wird ebenso wie seine Vorgänger von der literarischen Öffentlichkeit mit Schweigen übergangen.
4. Paris »Je n'étais pas marié, j'étais seul, de ce fait je n'avais pas besoin d'argent. Toutes les merveilles de Paris étaient à mes pieds; je me sentais Rastignac.« (M 1: 29f.) So beschreibt Cortázar seine Ankunft. Entschlossen, zu bleiben um jeden Preis, ist er trotzdem gezwungen, alsbald Arbeit zu suchen, denn das Stipendium ist auf acht Monate beschränkt. Die Wunder jedoch, die Cortázar an jeder Straßenecke aufspürt, liegen nicht im ökonomischen. Auch das am Ende zu den Siegern zählende Frankreich erlebt die Probleme der Nachkriegszeit. Nichts ist für den unbekannten Intellektuellen aus Buenos Aires deshalb schwieriger, als auf qualifizierte Weise Geld zu verdienen. Eine Gelegenheit scheint sich dennoch zu bieten: Ein Exportbuchhändler stellt ihn ein als Übersetzer für spanische Korrespondenz. Vor Ort jedoch stellt sich heraus, daß die Arbeit in Wirklichkeit darin besteht, Bücherpakete zu verschnüren. Cortázar bleibt. »La dura costra mental«, wird er später Traveler über Oliveira denken lassen (R 377) - ein ironischer Geistesblitz in Erinnerung an die Schwielen, die sich Oliveira-Cortázar 1952 im Umgang mit den ersten »libros-objetos« (vgl. M 11: 7) holte? 8
Es sind - hieran ist an dieser Stelle zu erinnern - gerade die in Bestiario gesammelten Erzählungen, an denen J. Alazraki die Struktur der »neophantastischen« Erfahrung als einer »nueva postulación de la realidad« (Alazraki 1983: 28ff.) exemplifiziert hat (s. auch unten S. 90f ).
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»Me rompí las manos haciendo paquetes durante un año. Me pagaba m u j mal. Todavía, hoy en día, una de las cosas - mis amigos se ríen mucho - porque uia de las cosas que más me enorgullecen a mí es lo bien que hago los paquetes. Ciando alguien quiere hacer un paquete y poner el cordel... todo eso lo hago con mucha técnica. Me siento más orgulloso de eso que de mis libros. ¡Eso ni hablar! ... « (M 11:6) Wer wird's ihm abnehmen?! Daß Cortázar jedoch auch als Hilfsarbeiter eine gute Figur gemacht hat, wird man festhalten müssen, denn der Chef läßt seinen 1,93 VIeter großen Packer ungern, aber dennoch verständnisvoll und mit ein paar guten Worten ziehen, als dieser einen Vertrag als Simultanübersetzer bei der UNESCO präsentiert, der ihm als Tagesgage den gleichen Betrag garantiert, für den er bisher einen > ollen Monat hatte arbeiten müssen (nämlich 16 Dollar 50!): »Je montrai cette offre à mon patron; après avoir regardé il est devenu m peu pâle parce qu'il m'aimait beaucoup et il m'a dit: 'Je comprends, allez-y, je ne peux pas vous payer ce prix-là.'« (M 1: 30) Doch wir greifen der Chronologie voraus: Nach Ablauf des Stipendiums aneitet Cortázar noch einige Zeit als Packer. Die prekäre wirtschaftliche Situation, in der er sich befindet, dauert an. In den beiden folgenden Jahren gleicht sein Lebensstil demjenigen der Bohemiens, »que refleja la primera mitad de Rayuela« - »[una vida] en pequeñas habitaciones alquiladas, en muy malas condiciones, donde no había agua y el water estaba en la punta del pasillo y había que compartirlo con 20 personas« (M 11:6) Doch sie sind glücklich - er und seine argentinische Freundin Aurora Bernárdez, die ihm aus Buenos Aires gefolgt ist (vgl. M 16: 39). Im Spätherbst 1952 wird Cortázar Opfer eines schweren Vekehrsunfalls. Infolge eines fehlgeschlagen Ausweichmanövers mit seinem Motorroller kommt er zu Fall, bricht sich das linke Bein und wird bewußtlos ins Krankenhaus eingeliefert. Die medizinische Versoigung im »Hôpital Cochin«, in dem er 6 Wochen interniert bleibt, ist miserabel. Die Erfahrung des Krankenlagers ist hart und hinterläßt Spuren (siehe auch La vuelta al dii, t.I, 80f.) in zwei berühmten Texten: »La noche boca arriba« (in: Final del juego) iberträgt die Situation des dem Messer des Operateurs ausgelieferten Verkehrs-Opfers in die mythisch-historische Bildersprache eines präkolumbianischen Opferritus; de- Unfall des Schriftstellers Morelli in Rayuela dagegen hat vor allem entmystifizieende Funktion: Objekt moderner Sanitätstechnologie, verwandelt sich der unter die läder geratene Künstler tendenziell in eine gesichtslose Chiffre. Daß es Cortázar gelingt, die unheilvollen Wochen im Hospital Cochin zu überstehen, verdankt er vor allem der Sorge Aurora Bernárdez'. Das Krankenlager führt beide noch enger zusammen, so daß sie beschließen, im August des folgenden Jihres zu heiraten (vgl. M 16: 40). Die Bohemiens sind offenbar entschlossen zu einei Ehe auf Dauer: Erst 1969 vollzieht Cortázar die Trennung und verbindet sich für enige
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Jahre mit Ugné Karvelis, Cheflektorin im Pariser Verlag Gallimard und eine der wichtigsten Vermittlerinnen lateinamerikanischer Literatur in Europa. Doch Aurora hält Julio die Treue: 13 Jahre nach der Trennung - nach dem tragischen Tode seiner dritten Lebensgefährtin (Carol Dunlop) - steht sie ihm abermals zur Seite (vgl. die eindringliche Schilderung des Endes bei Berriot 1988: 294f.) und übernimmt 1984 die Verwaltung des Erbes ... Bleiben wir jedoch im Jahre 1953: Das Paar bezieht vorübergehend Quartier in einer Wohnung in der Nähe der Place d'Italie, bricht jedoch alsbald auf zu einem einjährigen Aufenthalt nach Rom. Das Motiv für die Reise kommt von außen: Cortázar hat ein Angebot aus Puerto Rico erhalten, das Werk von E.A. Poe zu übersetzen, und sieht eine schmale Basis zur Überbrückung finanzieller Engpässe. Da sich die Puertorikarer zu Zahlungen erst bereitfinden bei Abgabe des Manuskripts (vgl. M 27: 3), ist die Basis in der Tat überaus schmal: das junge Paar erlebt die Ewige Stadt aus der Perspektive von Hinterhöfen. Das Hotel, das es bezieht, ist »una pensión mugrienta pero divertidísima, donde la dueña lavaba los platos sin quitarse su abrigo de pieles, y el agua sucia le chorreaba por las mangas« (M 16: 40). Daß die Italienische Reise - wie die Pariser Bohemien-Jahre - ihre humorvollen Seiten hatte, ist durch eine Reihe berühmter Texte, deren Veröffentlichung indessen noch ein volles Jahrzehnt auf sich warten läßt, literarisch belegt: 1952 (in Paris) entstehen die Historias de cronopios y famas - »el libro más lúdico que yo he hecho« (M 2: 114); die schwierigen Wochen in Italien dagegen inspirieren den Autor zu einem luziden, die Sammlung später, als es im Druck erscheint, eröffnenden Manual de Instrucciones: »La culpa de estos textos la tiene mi mujer, que un día, mientras subíamos con gran fatiga una enorme escalera de un museo, me dijo de pronto: 'Lo que pasa es que ésta es una escalera para bajar.' Me encantó la frase y le dije a Aurora: 'Uno debería escribir algunas instrucciones acerca de cómo subir y bajar por una escalera.'« (M 30: 194) Ausbund literarischen Spieltriebs, nichts als dem Amüsement und dem Zeitvertreib dienend - »como una especie de microbios flotando en el aire, unos globos verdes que poco a poco iban tomando características humanas« (Ai 30: 293) -, entziehen sich die Cronopien literarischer Kategorisierung (vgl. M 78: 13) ebenso wie lebensweltlicher Lokalisierung. Wollen wir wissen, was sie sind und 'vorstellen' - »esos objetos verdes y húmedos« (Cronopios 114) -, so sind wir an Texte verwiesen, Erfahrungen vielleicht - so das unvergessene Konzert Louis Armstrongs in Paris 1952 (vgl. »Louis Enormísimo cronopio«; in: Vuelta al día, t.H: 13ff.) -, Erfahrungen jedoch, die Erfahrungen nur sind, insofern sie umgesetzt - umsetzbar - sind in Texte. Die in den Jahren 1952 bis 1954 entstandenen Geschichten der Cronopien und Famen sind in gewissem Sinne Cortázars originärste literarische Schöpfung, eine Art ABC des langsam Konturer. gewinnenden Werkes, unverzichtbare Prolegomena für jeden, der Cortázar zu
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verstehen versucht, denn »años más tarde los cronopios hicieron su entrada multitudinaria por la vía del libro y llegaron a ser bastante conocidos en los cafés, reuniones internacionales de poetas, revoluciones socialistas y otros lugares de perdición.« (Vuelta al día, ebd.) Was verschafft den Cronopien diese vielfaltige Dignität, so wäre zu fragen, wenn man hinter Cortázars ironischen Hyperbeln einen emsthaften Sinn vermutet? Daß die Cronopien ein erstes literarisches Exempel sind für Cortázars Sinn fürs Komische, für eine stets wache Sensibilität gegenüber den Gefahren tragischer Rhetorik (vgl. M 30: 294), charakterisiert die Cronopien nur unzureichend. Ihre Funktion - will man ihrer im obigen Zitat angedeuteten literarischen, intellektuellen und politischen Bedeutung gerecht werden - liegt vielmehr darin, daß sie in Cortázars Werk zum ersten Mal eine Realitätserfahrung dokumentieren, in welcher 'Realität' sich unter dem dreifachen Aspekt eines durch gesellschaftliche Normen regierten Systems, eines nichtsdestoweniger (ver-)formbaren plastischen Materials sowie als Objekt spielerisch-'poietischer' Lust präsentiert. Die das System beherrschenden arbiträren »Instruktionen« sichtbar zu machen und die ihrer selbstverständlichen Bedeutung enthobenen Materialität der Zeichenwelt dem poietisch-schöpferischen Formwillen preiszugeben hierin liegt die Überlegenheit des revolutionären Humors der (humanen) Cronopien gegenüber dem tierischen Emst der Famen und Esperanzen. 1954 kehrt das Ehepaar Cortázar nach Paris zurück. Julio hat sich Monate zuvor um eine Stelle als Übersetzer der UNESCO beworben - zunächst jedoch ohne Erfolg. Da die Bezahlung der Poe-Übersetzung niedriger ausfällt als erwartet (vgl. M 26: 3), dauert die prekäre wirtschaftliche Situation vorerst an. Als die UNESCO sich seiner schließlich erinnert, gelingt es Cortázar, für Aurora, die sich durch Sartre- und Camus-Übersetzungen einen Namen gemacht hat (vgl. M 7: 2), ebenfalls eine Stelle zu arrangieren. Die materiellen Probleme sind damit gelöst. Emeut steht Cortázar an der Schwelle ökonomischer Prosperität: »C'était formidable, c'était passer de la misère à l'état libre, nous avions vécu comme des clochards. Pour moi, c'était la richesse.« (M 1:31) Doch das Ehepaar gibt einer Freiheit höheren Ranges den Vorzug (vgl. M 30: 259). Kategorisch lehnt es alle Angebote auf Dauerbeschäftigung ab: »II y eut même des chantages très durs. On me laissait entendre que si nous refusons les emplois permanents on nous supprimerait les emplois temporaires. J'ai tenu bon ... et ils ont continué à faire appel à nos services.« (Ebd.) Die Gleichung gilt natürlich ebenso in umgekehrter Richtung: Dank der offensichtlich hervorragenden Arbeit, die er leistet, gelingt es Cortázar, die privilegierte Stellung eines hochbezahlten Gelegenheitsübersetzers über Jahre hin beizubehalten. Die Bezahlung ist so großzügig bemessen, daß sie ausreicht, um bei etwa 4monatiger Arbeit den Lebensunterhalt der restlichen 8 Monate zu decken (vgl. M 11: 6). So
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bleibt, obwohl die Tätigkeit als »Übersetzer und Korrektor« (M 2: 32), für die Cortázar unter Vertrag steht, hart und ermüdend ist, ausreichend Zeit zum Schreiben. Cortázar dolmetscht bei der jährlichen Sitzung der Atomenergie-Kommission in Wien (vgl. M 30: 259) sowie anderen turnusmäßigen Kongressen, die die UNESCO im Ausland veranstaltet. So erlaubt ihm eine 1954 in Montevideo stattfindende Konferenz eine kurze Rückkehr nach Argentinien (vgl. M 1: 31); 1956 führt die Reise zum ersten Mal nach Indien (vgl. M 1: 32). Schließlich obliegt ihm die spanische Übersetzung der UNESCO-Zeitschrift Diogenes - ein Separatvertrag, dessen Honorar er ausschließlich dazu verwendet, die Mutter in Buenos Aires zu unterstützen. (Vgl. M W :
6) Cortázar betrachtet die Übersetzertätigkeit zweifellos als Broterwerb, denn »los primeros diez u once años los derechos de autor para mí no existían« (ebd.). Andererseits steht das Übersetzen, auch wenn es primär utilitaristisch betrieben wird, dem Schreiben sehr nahe: »La traducción me resulta fascinante como trabajo paraliterario o literario en segundo grado. Cuando uno traduce, es decir, cuando no tiene la responsabilidad del contenido del original, su problema no son las ideas del autor porque él ya las puso allí; lo que uno tiene que hacer es trasladarlas y, entonces, los valores formales y los valores rítmicos, que está sintiendo latir en el original, pasan a un primer plano. Su responsabilidad es trasladarlos, con las diferencias que haya, de un idioma al otro. Es un ejercicio extraordinario desde el punto de vista rítmico. Yo le aconsejaría a cualquier escritor joven que tiene dificultades de escritura, si fuese amigo de dar consejos, que deje de escribir un tiempo por su cuenta y que haga traducciones; que traduzca buena literatura, y un día se va a dar cuenta que él puede escribir con una soltura que no tenía antes.« (M 31: 18f.) Der andere Aspekt des Übersetzens steht im Zusammenhang mit Cortázars Leben im Pariser Exil: Die regelmäßige Wahrnehmung dieser Tätigkeit erlaubt ihm die Aufrechterhaltung einer Art von »ciudadela argentina« ( M i l : 7); »[...] en mi empleo hago un poco el guardián del idioma: cuidar de que los documentos salgan bien, sin galicismos, con buena sintaxis« (ebd.; vgl. M 58: 45). Qualitäten, die dem eigenen Schreiben zugute kommen, der unverfälschten Bewahrung der argentinischen Muttersprache. Auch in den ersten Jahren des Pariser Aufenthaltes bleibt Cortázar für die literarische Öffentlichkeit ein Unbekannter. Er hat weder Kontakt zu den literarischen Zirkeln noch zu den großen Verlagen. Der nunmehr Vierzigjährige schreibt jedoch kontinuierlich - nicht nur Cronopio-Geschichten, sondern vor allem »phantastische« Erzählungen: In der Einsamkeit seiner vier Wände, jedoch im stetigen Dialog mit den wenigen Autoritäten, die das enge Raster seiner kritischen Selektion zu passieren vermochten - J.L. Borges und E.A. Poe z.B. (vgl. M 2: 22) - ist Cortázar seit Jahren im Begriff, ein neues Kapitel des Genre zu schreiben. Poe hat ihn gelehrt, was er
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später in einem theoretischen Text als »(el) sentimiento de lo fantástico« beschreibt: »Esta mañana Teodoro W. Adorno hizo una cosa de gato: en mitad de un apasionado discurso, mitad jeremiada y mitad arrastre apoyadísimo contra mis pantalones, se quedó inmóvil y rígido mirando fijamente un punto del aire en el que para mí no había nada que ver hasta la pared donde cuelga la jaula del obispo de Evreux, que jamás ha despertado el interés de Teodoro. Cualquier señora inglesa hubiera dicho que el gato estaba mirando un fantasma matinal, los más auténticos y verificables, y que el paso de la rigidez inicial a un lento movimiento de la cabeza de izquierda a derecha, terminado en la línea de visión de la puerta, demostraba de sobra que el fantasma acababa de marcharse, probablemente incomodado por esa detección implacable.« (La casilla de los Morelli, S. 72) Das Phantastische ist für Cortázar nicht nur die lebensweltliche Erfahrung des Unerklärlichen und Wunderbaren - so sehr er immer wieder darauf insistiert, von solchen Erfahrungen buchstäblich heimgesucht zu werden (vgl. M 2: 15; M 87). Das Phantastische ist keine bloße Restkategorie einer vom Apriori des Rationalen beherrschten Welt. Im Rahmen der phantastischen Erzählung ist das Phantastische vielmehr zuvorderst als Funktion von Texten erfahrbar. Die für den Leser grundlegende Erfahrung einer suspensión ofdisbelief - das Glaubwürdigmachen des 'phantastischen' Faktums - wird durch die Struktur der Erzählung - und nur durch sie - also eigens produziert. Es sind vor allem zwei Elemente, die dies ermöglichen. Zum einen die relative Kürze der Texte, ihre Konzentration auf ein einziges 'Sujet', die spannungsvolle Geschlossenheit der narrativen Form. (Vgl. »Del cuento breve y sus alrededores«; in: Ultimo round, t.I, S. 59ff.) Die phantastische Erzählung bildet insofern einen Gegenpol zum - bei Cortázar - avantgardistisch »offenen Werte« (vgl. z.B. M 2: 62; M 8: 36; M 54: 19; M 76: 413; M 77: 47) des Romans. (Vgl. M 81: 2) Cortázar hat den Unterschied zwischen beiden im Bild des Gegensatzes, in dem Momentaufnahme und Film zueinander stehen, zu fassen gesucht (»Algunos aspectos del cuento«; in: La casilla ..., S. 137). Zum anderen ist das Phantastische das Produkt eines intertextuellen Effekts: Nicht die bloße 'Idee' des Außergewöhnlichen selbst schon gebiert das Phantastische, sondern seine Kollision mit einem affirmativ gesetzten Kon-Text des Alltäglichen. (Vgl. »Del cuento breve ...«, in: Ultimo ..., t.I, S. 79f.) In diesem Punkte sieht Cortázar eine entscheidende Differenz zu Borges: »[...] yo no puedo saber cómo Borges piensa sus cuentos; pero la mecánica del cuento parece partir del fenómeno fantástico en sí. Por ejemplo la idea de un hombre que se cree vivo y en realidad es un sueño soñado por otro, eso es lo que a Borges, pienso yo, se le ocurrió en abstracto, esa idea. Y entonces partiendo de esa idea él escribe el cuento y lo organiza en cuanto a los personajes, el lugar, los episodios. En mi caso es completamente distinto. La idea abstracta del episodio fantástico, yo no la he tenido nunca. Yo tengo una especie de situación general,
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de bloque general, donde los personajes, digamos, la parte realista, está ya en juego; está en juego, y entonces allí hay un episodio fantástico, hay un elemento fantástico que se agrega.« (M 2: 14f.) Der phantastische Text präsentiert keine Welt, in der 'alles möglich' erscheint; er präsentiert die gewöhnliche 'reale' Welt, jedoch unter dem Aspekt ihrer Grenzen. In der Grenzerfahrung - gegebenenfalls auch Transgression dieser Grenzen - liegt mithin die spezifische Lust des phantastischen Textes begründet, seine befreiende Wirkung im Hinblick auf neurotische Zwänge, seine Funktion als »Exorzismus«, die Cortázar ihm zuspricht. (»Del cuento ...«, in: Ultitno round, t.I., S. 66) Die Texte häufen sich in den Schubladen, doch Cortázar scheint an Publikationen kaum interessiert. Schließlich - 1956 - tritt eine Gruppe argentinischer Lehrer, die in Mexiko tätig sind, an ihn heran und bietet sich an, eine Auswahl der Texte in einem kleinen Verlag zu veröffentlichen: Final del juego erscheint bei »Los Presentes«, México D.F. »Se tiraron 300 ejemplares en la primera edición. Después fue bastante leído.« (M 11: 6) In späteren Auflagen erweitert Cortázar das ursprünglich sehr schmale Bändchen um das doppelte auf insgesamt 18 Erzählungen. Final del juego setzt das phantastische Genre von Bestiario fort. Die narrative Technik jedoch ist geglättet, zugleich komplizierter geworden. Phantastik - im Sinne des oben Gesagten - als Funktion textueller Produktion: sie wird vorgeführt aufs Virtuoseste in Texten wie »Continuidad de los parques«, »La puerta condenada«, »Relato con un fondo de agua« oder »Axolotl«. Das reale Ambiente der Handlung ist - wie in Bestiario dominant lateinamerikanisch (Ausnahme: »Axolotl«), »portenisch«, bis hin zum linguistischen Quasi-Protokoll. Cortázars Begabung für strikteste realistische Mimesis (vgl. »Torito«) ist ebenso ausgebildet wie seine Fähigkeit, aus den Produkten einer überquellenden Phantasie ironisch-kritische Effekte zu ziehen (vgl. »Las Ménades«). Texte wie die erwähnten begründen später Cortázars Ruhm als literarische Verkörperung des »porteño« schlechthin, sind gleichzeitig freilich auch Quelle ausgedehnter Polemiken und nie verwundener Ressentiments seitens seiner Landsleute: Die rückhaltlose PsychoAnalyse eines wundgeschlagenen Boxerhirns besitzt für die geschlossene Gesellschaft des argentinischen Bürgertums offenbar ebensoviel Sprengkraft wie ein mit dantesken Bildern ausgemaltes, in vulgärem Chaos untergehendes Symphoniekonzert. Daß der Autor dieser Geschichten, solange er in Buenos Aires lebte, selbst zu den passionierten Stammgästen des »Luna Park« bzw. des »Colon« gehörte, kann die Verwirrung der Geister nur noch erhöhen. So begnügt sich ein gewisser Teil der argentinischen Kritik auch im Hinblick auf Final del juego - wie schon für Bestiario mit der politisierenden Qualifikation »antiperonistisch« (vgl. M 51). Die Thematik der Mehrzahl der Texte ist politisch jedoch weniger verfänglich. Sie ist - einem eingängigen Etikett der Cortázar-Kritik zufolge - dominant »psychologisch« bzw. »metaphysisch«. Diese Etikettierung ist der zuvor erwähnten in gewisser
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Weise komplementär - legt sie doch den Akzent auf den vermeintlich eingefleischten Individualismus des antiperonistischen Autors. Das Etikett trifft Erzählungen wie »No se culpe a nadie«, »La puerta condenada«, »Relato con un fondo de agua«, »Después del almuerzo« und vor allem »Axolotl« in der Tat in einem wesentlichen Punkt, ohne deshalb jedoch im Widerspruch zu stehen zu einer auch anderweitigen sozialen oder politischen - Bedeutung dieser Texte 9 . Cortázar selbst ist weit davon entfernt, Widersprüche der genannten Art zu leugnen. Die ironische Adresse an die Kritik, die der erweiterten Ausgabe der Sammlung von 1976 beigefügt ist, bestreitet der Kritik nicht das Recht, dergleichen Widersprüche zu benennen, wohl aber, aus ihnen dogmatische Wertkriterien abzuleiten: »[...] fatuo sería el escritor que creyera haber dejado definitivamente atrás una etapa de su obra. En cualquier página futura puede estar esperándonos una nueva página pasada, [...] como si después de haber tirado todas las corbatas viejas para complacer a nuestra amante esposa, el día de las bodas de plata descubriéramos que nos hemos puesto, horror, la corbata con pintitas obsequiada por aquella novia que después no se casó con nosotros.« (Final del juego, S. 197) Was für den Cortázar von 1956 den Status einer unbewußt - da 'nur' ästhetisch erfahrenen Notwendigkeit besaß, ist für den 'politischen' Cortázar von 1976 zu einer nun auch mit den Mitteln diskursiver Argumentation abgestützten Überzeugung geworden: daß ästhetisch-literarische Erfahrung nämlich - wenn überhaupt - der Ort ist, an dem die vermeintlichen Widersprüche 'individuell' und 'sozial' (bzw. 'privat' und 'politisch') wenn nicht vermittelt werden, so doch in produktiver Weise zum Austrag gelangen können. Hierin - so zeigt die nach 1956 einsetzende Erfahrung des Autors liegt die eigentlich 'politische' Funktion des Schreibens.
Exkurs: Cortázar und das Phantastische Der in diesem Kapitel mehrfach verwendete Begriff des »Phantastischen« bedarf der Präzisierung. »Casi todos mis cuentos que he escrito pertenecen al género llamado fantástico«, behauptet der Autor, fügt jedoch einschränkend hinzu: »por falta de mejor nombre« (La casilla de los Morelli, S. 134) Die Einschränkung ist nicht ungehört geblieben. So versucht sich die Mehrzahl der Kritiker, die sich in den letzten Jahren mit dem Werk dessen beschäftigt haben, der dem Konsens zufolge neben Borges als unbestrittener Meister der »phantastischen Erzählung« gilt, in der Definition eines neuen Begriffs: Nur unter Mißachtung der schöpferischen Leistungen Cortázars, so heißt es, falle sein Werk unter den traditionellen Begriff »phantastischer Literatur«; es konstituiere vielmehr ein neues Genre: 9
Es ist vor allem die Erzählung »Axolotl«, die unter diesem Aspekt die Aufmerksamkeit der Kritiker auf sich gezogen hat. So identifiziert J. Leenhardt im Text einen nonnbrechenden »discurso del método de la americanidad« (vgl. Leenhardt 1986), während R. Lanc Kauffmann seinerseits ihn liest als »fábula etnográfica« (vgl. Lane KaufTmann 1986).
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»lo neofantástico«. Die weitestgehende Systematisierung des Begriffs liegt vor in der oben in anderem Zusammenhang ausführlich kommentierten Studie J. Alazrakis, En busca del unicornio: Los cuentos de Julio Cortázar. Elementos para una poética de lo neofantástico (Alazraki 1983).10 »Por falta de mejor nombre« verwendet jedoch auch die vorliegende Untersuchung weiterhin den traditionellen Begriff. Dies vor allem aus folgenden Gründen: Der Terminus »neofantástico« suggeriert die Vorstellung eines Arsenals innovatorischer Verfahren im Rahmen eines hinsichtlich seiner Basiselemente unverändert bleibenden Modells. Eben diese Bestimmung charakterisiert die Texte Cortázars jedoch nur in unzureichender Weise. So bleibt die innovatorische Funktion des weitgehenden Verzichts auf die kodifizierten Requisiten phantastischer Literatur keineswegs auf die Produktion systemkonformer 'Leerstellen' beschränkt. Die textuellen Verfahren, die Cortázar verwendet, um das Phantastische erfahrbar zu machen, affizieren die Basisprämissen des »phantastischen« Modells vielmehr in gleicher Weise. Sie sprengen - tendenziell zumindest - die Grenzen jener »dichotomisation fondamentale« (Grivel 1983: 49) - »le sauvage de l'imaginaire [...] mis dans des silos, tassé, reclus, restreint« (ebd.: 50) auf der einen, »un réel sans imaginaire, sans fantastique« (ebd.) auf der anderen Seite -, wie sie für das Phantastische herkömmlichen Stils konstitutiv zu sein scheint. So besteht die spezifische Erfahrung des Phantastischen in »Continuidad (!) de los parques« gerade in der Ent-grenzung jenes »imaginaire parqué« (ebd.: 51), wie es nicht nur sogenannter phantastischer, sondern allgemein - jeder Art von Literatur zu eigen ist, die der Mimesis wirklichen Lebens im Medium von 'Fiktion' verpflichtet ist: Thema des Textes, der für die Erscheinung des Phantastischen spezifische »revenant« mithin (vgl. ebd.: 36f.), ist hier die 'Engfuhrung' zweier Diskurse, die sich, so sehr sie auf der Ebene des 'dargestellten' Bewußtseins des in die Lektüre eines trivialen Liebesromans 'vertieften' Protagonisten auch zur Einheit verfließen, für den Leser im Medium des style indirect libre als ironische Differenz erfahrbar bleiben. Die Entgrenzung des »imaginaire parqué« läßt den Leser nicht länger im »Genuß« (ebd.: 45ff.) der phantastischen 'Fiktion' zur Ruhe kommen. Lektüre wird vielmehr zur Teilhabe - 'Teil-Erfahrung' - am Konstitutionsprozeß einer intertextuell bzw. dialogisch konstituierten Realität. Dergleichen Teilhabe - als Produkt spezieller, von Fall zu Fall je verschiedener textueller Verfahren, deren Systematik zu erörtern hier nicht der Ort ist - verleiht der Mehrzahl der 'phantastischen' Erzählungen Cortázars ihre Spezifik. Zu 'phantastischen' nämlich werden Erzählungen wie »La noche boca arriba«, »Las armas secretas«, »Todos los fuegos el fuego«, »Circe«, »Las Ménades«, »Apocalipsis en Solentiname« eben dadurch, daß die Darstellung der jeweiligen 10
Zur Abgrenzung der Termini »fantástico« und »neofantástico« siehe insbesondere das 1. Kapitel der Studie Alazrakis (S. 15-28); siehe ebd. auch die ausführliche Darstellung der Lage der Forschung. - Neue Aspekte zur Diskussion erbrachte auch das Internationale Cortázar-Kolloquium in Poitiers zum Thema Lo lúdico y lo fantástico en Ia obra de Cortázar (1985); siehe insbesondere die Vorlagen TerTamorsi 1986; Eyzaguirre 1986; Julio Ortega 1986; Heida Puleo 1986; Campra 1986. Vgl. dazu neuerdings Cruz 1988.
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'Realität' einhergeht mit der gleichzeitigen
Aktualisierung einer heterogenen Vielzahl
historischer, mythischer oder politischer Intertexte (vgl. Terramorsi 1986). Hierin, in dieser Teilhabe am Konstitutionsprozeß einer auf der Grundlage der konstitutiven Differenzen des kulturellen Intertextes erfahrbaren Wirklichkeit, liegt, so möchten wir die Formulierung Alazrakis verstehen, der eigentliche Erfahrungswert des Phantastischen als einer »nueva postulación de la realidad« (Alazraki 1983: 28ff.). Dann jedoch, als Fundamentalerfahrung konstitutiver Differenzen - als Erfahrung einer Realität im Horizont ihrer Anagramme (vgl. Campra 1978) - verheil das Phantastische, so scheint es, gerade jene Spezifik, die es der Theorie zufolge wenn nicht als »Genre«, so doch zumindest als Ensemble bestimmter »fonctions«, »facultés« oder »opérations« (Grivel 1983: 12) auszeichnen soll. In der Tat, die Kategorie des Phantastischen ist provisorisch. Sie bedarf - nur soviel kann an dieser Stelle gezeigt werden - der Integrierung in den allgemeinen Kontext der »Schreibe«. Dessen Exposition ist Gegenstand der Untersuchung als ganzer.
5. Der Weg nach Damaskus De mi país se alejó un escritor para quien la realidad, com o la imaginaba Mallarmé, debía culminar en un libro: en París nació un hombre para quien los libros deberán culminar en la realidad.
( U l t i m o round, t.n, S. 272)
Was im Leben eines Feldherrn die Schlachten, das sind im Leben eines Schriftstellers die Bücher. Sie sind nicht identisch mit dem Leben, wohl aber geben sie diesem zumindest in der Retrospektive - Bedeutung: Es ist Cortázar selbst, der in vielfachen Äußerungen immer wieder auf die zentrale Bedeutung der 1959 erschienenen Erzählung »El perseguidor« verwiesen hat, und zwar als Ausdruck einer Wende sowohl im Bereich des literarischen Schaffens als auch im Hinblick auf eine generelle Sicht des Lebens: »[...] me di cuenta muchos años después que si y o no hubiera escrito 'El perseguidor', habría sido incapaz de escribir Rayuela. Rayuela.
'El perseguidor' es la pequeña
En principio están ya contenidos allí los problemas de Rayuela.
El pro-
blema de un hombre que descubre de golpe, Johnny en un caso y Oliveira en el otro, que una fatalidad biológica lo ha hecho nacer y lo ha metido en un mundo que él no acepta, Johnny por sus motivos y Oliveira por motivos más intelectuales, más elaborados, más metafísicos. Pero se parecen mucho en esencia. Johnny y Oliveira son dos individuos que cuestionan, que ponen en crisis, que niegan lo
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que la gran mayoría acepta por una especie de fatalidad histórica y social. Entran en el juego, viven su vida, nacen, viven y mueren. Ellos dos no están de acuerdo y los dos tienen un destino trágico porque están en contra. Se oponen por motivos diferentes. Bueno, era la primera vez en mi trabajo de escritor y en mi vida personal en que eso traduce una nueva visión del mundo. Y luego eso explica por qué yo entré en una dimensión que podríamos llamar política si quieres decir, empecé a interesarme por problemas históricos que hasta ese momento me habían dejado totalmente indiferente.« (M 2: 20) Die Erklärung des 65jährigen Autors gegenüber Evelyn Picon Garfield ist bemerkenswert, und zwar zunächst einmal in 'methodologischer' Hinsicht. Nimmt man sie ernst, schreibt sie folglich nicht - wozu nicht der geringste Anlaß besteht - einem simplen Fall von Selbsttäuschung zugute, so zwingt sie zur Revision einer immer noch gängigen 'biographischen' Sichtweise. Dieser zufolge sind radikale Kursänderungen des literarischen Schaffens in der Regel bedingt durch lebensweltliche Erfahrungen. Im Falle Cortázars ließe sich die Hinwendung zu Fragen der Politik und der konkreten historischen Existenz des Menschen mithin erklären als direkte Folge einer gewandelten, durch die Ereignisse in Kuba hervorgerufenen sozialen und politischen Sensibilität. Cortázar selbst hat dieser Sichtweise mit der Rede vom »Damaskuserlebnis« mehrfach Vorschub geleistet: »Lo he dicho muchas veces, creo que es un hecho bien sabido, que hasta hace exactamente el año 1961 o 1962 cuando hice un primer viaje a Cuba que tuvo un sentido muy profundo para mí, yo me había mostrado sumamente indiferente a los problemas de eso que usted llama 'la redención social', que yo definiría para mí mismo como la preocupación por el destino de mi prójimo en general y de los pueblos latinoamericanos en particular. Mi indiferencia nacía de una juventud pequeño-burguesa muy estetizante, en efecto, y de ahí salía un concepto de literatura también estetizante en donde mis búsquedas eran búsquedas solitarias, como se nota en todos mis primeros libros. A partir del momento cuando encontré mi camino de Damasco, que no era de Damasco sino de La Habana, a partir de ese momento creo que en lo que continué escribiendo se fue preparando el ingreso de lo que, para simplificar, solemos llamar mensaje ... que se define, creo yo, de una manera muy explícita y muy clara en el Libro de Manuel.« (Ai 6: 27) Der Widerspruch zwischen beiden Äußerungen ist manifest: Dem im ersten Fall behaupteten Primat einer Schreib-Erfahning gegenüber der im expliziten Sinne politischen Umorientierung steht im zweiten Zitat die Behauptung entgegen, als eigentliches Motiv für die Wende - sowohl der politischen als auch der literarischen - habe der lebendige Kontakt mit der kubanischen Revolution zu gelten. Da dieser jedoch erst in die Jahre 1961/62 fällt, eine Zeit also, in der »El perseguidor« bereits publiziert war und Rayuela im wesentlichen als fertiges Manuskript vorlag, verlieren beide
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Texte - sowohl die Kurzgeschichte als auch der Roman - jene wesentliche Funktion im Hinblick auf die Genese der Wende selbst, die ihnen die erste Äußerung zuspricht. Es scheint jedoch fraglich, ob sich der Widerspruch in dieser zugespitzten Form aufrechterhalten läßt: Im ersten Zitat erklärt Cortázar ausdrücklich, daß ihm die zentrale Bedeutung, die »El perseguidor« für die Wende gehabt habe, erst »viele Jahre später« bewußt geworden sei. Der Widerspruch löst sich mithin, wenn man davon ausgeht, daß die Schreib-Erfahrung, die die - auch - politische Wende bedingt, als langwieriger, weitgehend unbewußt verlaufender kreativer Prozeß zu betrachten ist, während die politische Wende sensu stricto, kulminierend in der ersten Kuba-Reise von 1962, eher den Charakter einer punktuellen rationalen Einsicht gehabt hat. Fragen wir deshalb zunächst nach der Wende, die »El perseguidor« im Kontext der literarischen Produktion markiert. Der Text ist die vierte von fünf Erzählungen, 1959 von Sudamericana - dem Verleger von Bestiario - unter dem Titel Las armas secretas publiziert. Der Erfolg des Bandes ist augenblicklich, schlägt zurück auf die beiden zuvor veröffentlichten Bände - Bestiario und Final del juego - und begründet zusammen mit diesen Cortázars Ruf als Meister der Kurzgeschichte. Nicht nur »El perseguidor« jedoch, sondern auch die restlichen Erzählungen, die die Sammlung enthält, unterscheiden sich von den bisherigen Texten, die Cortázar veröffentlicht hat, in einem wesentlichen Punkt: Im Mittelpunkt der Handlung steht zwar weiterhin die Erfahrung des Unerklärlichen und 'Phantastischen': die unerklärliche 'Auferstehung' des toten Vico in »Cartas a mamá«; die absurde Identifikation Madame Francinets mit einer fingierten Muttergestalt (»Los buenos servicios«); die bruchlose, jeder rationalen Motivierung spottende, in photographischen Momentaufnahmen dokumentierte Einheit von Liebe und Tod in »Las babas del diablo« und schließlich die unbewußt - »mental« - und dennoch reale, schmerzliche Konsequenzen zeitigende Substitution des Protagonisten der Titelgeschichte (»Las armas secretas«) durch einen Jahre zuvor getöteten Sexualverbrecher. Es gelingt Cortázar jedoch in allen vier Erzählungen, das phantastisch-formale Element - jene »narrative Mechanik«, von der er später behauptet, sie allein sei es gewesen, in der er in den frühen Texten das Ziel seines Schreibens gesehen habe (vgl. M 1 1 : 7 ) - mit einem übergreifenden, in den einzelnen Texten in verschiedenen Manifestationen wiederkehrenden inhaltlichen Motiv zu verknüpfen - der existentiellen Erfahrung des Todes. Der Tod indes erscheint in den erwähnten Erzählungen - so sehr er andererseits auch die Fäden der Handlung verknüpft - immer nur als sozusagen phantastisches Aggregat. Unbezweifelbare Realität zwar, insofern Grenze einer selbstgenügsamen bürgerlichen Welt, behält er dennoch weiterhin die Funktion eines literarischer Beschwörung bedürftigen Phantasmas, jenes Phantasmas mithin, von welchem - nach Aussage ehemaliger Kollegen aus Chivilcoy - sich der damals 25jährige schon wie besessen zeigt (vgl. M 21: 3; M 31: 51). In »El perseguidor« nun scheint der Autor neue Waffen gegen die geheimen Waf-
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fen des Todes zu schmieden: Für den Protagonisten Johnny Carter - der pathetischen Gestalt des 1956 an den Folgen von Rauschgift verstorbenen Saxophonisten Charly Parker nachempfunden - ist der Tod kein vom Bewußtseinsleben abgespaltenes Phantasma: Seine Künstlerexistenz ist vielmehr - unabhängig von der selbstmörderischen Sucht nach der Droge - immer schon 'Sein zum Tode': »Campos llenos de umas, Bruno. Montones de urnas invisibles, enterradas en un campo inmenso. Yo andaba por ahí y de cuando en cuando tropezaba con algo. Tú dirás que lo he soñado, eh. Era así, fíjate: de cuando en cuando tropezaba con una urna, hasta darme cuenta de que todo el campo estaba lleno de urnas, que había miles y miles, y que dentro de cada urna estaban las cenizas de un muerto. Entonces me acuerdo que me agaché y me puse a cavar con las uñas hasta que una de las umas quedó a la vista. Sí, me acuerdo. Me acuerdo que pensé: 'Esta va a estar vacía porque es la que me toca a mí.' Pero no, estaba llena de un polvo gris como sé muy bien que estaban las otras aunque no las había visto. Entonces ... entonces fue cuando empezamos a grabar Amorous, me parece.« (Las armas secretas, S. 172) Das Spiel Johnnys beschwört den halsbrecherischen Grad zwischen Thanatos und Eros. Diese »metaphysische« (ebd.: 142) Seite des Spiels - und damit der Persönlichkeit des Musikers - ist es, die Bruno, seinem Biographen, entgeht. Sie ist ein Stück Praxis, Teil einer Existenzerfahrung, die den rationalistischen Rastern des Kritikers (vgl. M 56: 56) verborgen bleiben muß. Verborgen bleibt sie - als sprachlicher Formulierung fähiger Inhalt zumindest - auch dem Musiker selber. »Y no es culpa tuya«, wendet sich Johnny deshalb mit einer paradoxen Formulierung an Bruno, »no haber podido escribir lo que yo tampoco soy capaz de tocar.« (Ebd.: 196) Das für den Biographen Unfaßbare der künstlerischen Existenz besteht darin, daß ihr im beständigen Spiel mit dem Tod - dem verzweifelten Aufs-Spiel-Setzen der eigenen Existenz - die wirkliche Negation der Negation, die definitive Überwindung des Todes (dieser Welt) in der Affirmation einer anderen Welt versagt bleibt: »Todo esto prueba que Johnny no es nada del otro mundo, pero apenas lo pienso me pregunto si precisamente no hay en Johnny algo del otro mundo (que él es el primero en desconocer). Probablemente se reiría mucho si se lo dijeran. Yo sé bastante bien lo que piensa, lo que vive de estas cosas. Digo: lo que vive de estas cosas, porque Johnny ... Pero no voy a eso, lo que quería explicarme a mí mismo es que la distancia que va de Johnny a nosotros no tiene explicación, no se funda en diferencias explicables. Y me parece que él es el primero en pagar las consecuencias de eso, que lo afecta tanto como a nosotros. Dan ganas de decir en seguida que Johnny es un hombre entre los ángeles, hasta que una elemental honradez obliga a tragarse la frase, a darla bonitamente vuelta, y a reconocer que quizá lo que pasa es que Johnny es un hombre entre los ángeles, una realidad entre las
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irrealidades
que somos todos nosotros.«. (Ebd.: 177 - Hervorh. W.B.B.)
Das Motto der Erzählung ist die erste Hälfte eines Versikels aus der Offenbarung des heiligen Johannes: »Sé fiel hasta la muerte [y te daré la corona de la vida]« (Off. 11,10) Die Streichung des zweiten Teils des Satzes - der eigentlichen Verheißung, die der Rigorosität des ersten Teils erst ihren Sinn gibt - ist signifikant: Eine Art unheiliger Johannes, ist Johnny »getreu bis in den Tod« - ohne die Sicherheit einer Jenseitsverheißung. Es wird nun deutlicher, was Cortázar meint, wenn er sagt, daß er in der vorliegenden Erzählung auf jegliche phantastische »Erfindung« verzichtet und den Blick statt dessen ganz auf die eigene Existenz, den »Nächsten« sowie »die menschliche Gattung« (vgl. M 30: 273) im allgemeinen gerichtet habe: Johnny ist der erste jener langen Reihe von Suchenden, die von nun an die Texte Cortázars bevölkern. Das Ziel ihrer Suche wird in Rayuela als »antropofania« (R 452; Kap.79) des Neuen Menschen bezeichnet, als Streben nach »una santidad no religiosa« (R 561; Kap. 125), als Suche nach Versöhnung jenseits der fatalen Entzweiungen der »dialéctica judeocristiana« (R 616; Kap.147). Hören wir nochmals die Stimme Johnnys: »Sobre todo no acepto a tu Dios [...]. No me vengas con eso, no lo permito. Y si realmente está del otro lado de la puerta, maldito se me importa. No tiene ningún mérito pasar al otro lado porque él te abra la puerta. Desfondarla a patadas, eso sí. Romperla a puñetazos, eyacular contra la puerta, mear un día entero contra la puerta. Aquella vez en Nueva York yo creo que abrí la puerta con mi música, hasta que tuve que parar y entonces el maldito me la cerró en la cara nada más que porque no le he rezado nunca, porque no le voy a rezar nunca, porque no quiero saber nada con ese portero de librea, ese abridor de puertas a cambio de una propina, ese ...« (Las armas secretas, S. 200f.) Leben und Schreiben seien niemals geschieden, hat Cortázar behauptet (vgl. M 79). In der Tat - das weitgehende Fehlen anderslautender Dokumente deutet darauf hin, daß das Leben Cortázars in den Jahren 1957-61 ausgefüllt war von intensiven Schreiberfahrungen: Der Welt weithin ein Unbekannter, schreibt er sich mit seinem ersten Roman (Los premios, erschienen 1960) und vollends Rayuela (erschienen 1963) in den schöpferischen Pausen, die ihm der Vertrag mit der UNESCO einräumt, langsam an jene existentielle Wende heran, in deren Licht die erste Reise nach Kuba (Februar 1963 - M 32) als biographisches Schlüsselerlebnis erscheint. In Kuba stürzt so erklärt Cortázar noch ein Jahrzehnt später pathetisch - der einsame Intellektuelle vom hohen Roß des bürgerlichen Individualismus (vgl. M 5: 36) und landet unversehens in der bislang verdrängten, nun aber mit Enthusiasmus akzeptierten Wirklichkeit der »Massenphänomene« (M 31: 120) einer sozialen Revolution. Die Wandlung ist allzu sprunghaft und plötzlich, als daß sie die Gralshüter eines linken Dogmatismus
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zu überzeugen vermöchte. Für David Viñas ist Cortázars Konversion nichts weiter als der hilflose Ausdruck eines real durchlebten Schismas von »Körper« (der lebendige Kontakt mit dem argentinischen Volk, von welchem der Schriftsteller seit Jahren getrennt lebt) und »Geist« (gemeint ist »Europa«, dessen Weltsicht er teilt [vgl. Viñas 1971]). Hernán Vidal stellt Cortázar in eine Linie mit den Anarcho-Intellektuellen der »Neuen Linken« und erklärt sein politisches Engagement kurzerhand als Manifestation eines für die Neue Linke typischen fundamentalen Irrationalismus (vgl. M 56). Cortázar selbst hat wenig getan, um solche Vorwürfe zu entkräften. Meist greift er zum überlegenen Instrumentarium der Ironie, um sich dergleichen Ressentiments zu erwehren. So erklärt er in seiner Antwort gegenüber D. Viñas, der Unterschied zwischen Cortázar 1951 und Cortázar 1972 bestehe darin, daß jener vor dem Lärm der peronistischen Masse in die Stille und Einsamkeit der »Quartette Béla Bartóks« (M 57: 56) geflohen sei, während dieser fortfahre, Bartók zu genießen, jedoch »ohne daß (ihm) ein Lautsprecher mit politischen Parolen als Attentat aufs Individuum (erschiene)« (ebd.). Es gibt jedoch ein in vielen Äußerungen wiederkehrendes Motiv, das Cortázar in seinem programmatischen Aufsatz in Life zur Grundüberzeugung eines sozialistischen »Humanismus« (vgl. M 58: 46) erklärt. Es ist die These, das Ziel der Revolution müsse darin bestehen, die überkommenen kulturellen Inhalte zu bewahren, um ihnen - in verändertem sozialen Kontext - neue Bedeutungen zuzuweisen (vgl. M 5: 36). Da Cortázar auf der anderen Seite keine Gelegenheit ungenutzt läßt, ungeschminkte Selbstkritik zu üben im Hinblick auf die antiperonistischen Positionen seiner Jugend (vgl. M 9: 73), ist es unmöglich, die These lediglich als Ausdruck eines sublimen Versuchs der Selbsterlösung zu werten. Sie zwingt vielmehr dazu, Wesen und Funktion der literarischen Produktion, sofern sie als konstituierendes Element der Schriftstellerèiograp/w'e in Betracht kommt, differenzierter zu fassen. Das Problem wird dadurch verkompliziert, daß Cortázar in vielen Äußerungen den polemischen Sprachgebrauch seiner Gegner übernimmt und dem Irrationalismusvorwurf somit neue Nahrung gibt, z.B.: »Cuba fue para mí una experiencia catártica. Desde entonces, hace nueve años, estoy dedicado a actividades ideológico-políticas. Después de un libro como Rayuelo, que es un libro individualista, de investigación de conducta, de motivaciones humanas y de finalidad subjetiva, nadie podía imaginarse que yo seguiría un camino distinto y de ahí las protestas, el escándalo, y el libro siguiente: el Libro de Manuel.« (M 5: 36 - Hervorh. W.B.B.) Es besteht andererseits kein Zweifel, daß Cortázar mit jenen »Werten« (ebd.) - die in Life sogar mit »menschlicher Fülle« (»plenitud«) gleichgesetzt werden (vgl. M 58: 46) -, von denen er kategorisch erklärt, sie dürften unter keinen Umständen »en aras de una hipotética consolidación a largo plazo de las estructuras revolucionarias« (ebd.) geopfert werden, insbesondere auch die eigene, unter bürgerlich-'individuali-
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stischen' Vorzeichen stehende literarische Produktion meint. Soll mithin das Verhältnis, in dem letztere zur politisch-revolutionären Wende von 1963 steht, deutlich werden, so gilt es zunächst einmal, die Trivialauffassung von Literatur als unmittelbarem Dokument lebensgeschichtlicher Erfahrungen - oder gar politischer Grundüberzeugungen - zu überschreiten: Aufgrund der wechselhaften Polyvalenz aller Ebenen des literarischen Textes kann das literarische Produkt zugleich Ausdruck bewußter wie unbewußter Erfahrungen sein; es kann semantische Gehalte zugleich affirmieren wie auch negieren; es kann den Anschein ideologischer Kohärenz erwecken und diese zugleich durch den Prozeß des Erzählens destruieren. Cortázar hat offenbar solche - insbesondere vom modernen Text genutzten - Möglichkeiten einer »Semantisierung der Form« (Lotmann) im Auge, wenn er gegenüber allen inhaltlichen Dogmatismen kompromißlos und entschieden die Freiheit der literarischen Form - und damit das Recht auch 'subjektiver' literarischer Schöpfung - verteidigt. Literatur, die diese Möglichkeiten nutzt, präsentiert sich im paradoxen Gewand eines ernsten Spiels. (Vgl. M 31: 48) Sie ist bereits immer schon ein Stück praktizierter Revolution, indem sie darauf abzielt, den falschen Schein einer den Begriff der 'Wirklichkeit' usurpierenden Zeichen-Welt aufzudecken. Unter diesem Aspekt gesehen ist die Veröffentlichung der Cronopio-Geschichten ein Jahr vor dem Erscheinen der Rayuela - nachdem sie fast ein volles Jahrzehnt in Cortázars Schubladen vergessen schienen - nicht nur eine Frage der zweifellos verbesserten editorischen Konjunktur. Eine Art Cortázaravant la lettre, ein vorweggenommenes Resümée der ästhetischen und politischen Funktionen seiner Texte, belegen die 1952 (!) entstandenen Historias de Cronopios y Famas aufs beste die These einer auf lange Hand vorbereiteten Revolution der Schreibe, die in Rayuela kulminiert, um dann auch mit der politischen zu Vindizieren. Daß Los premios - der erste von Cortázars Romanen, der im Druck erscheint ebenfalls in die Reihe der die revolutionäre Wende vorbereitenden Schriften gehört, ist eine These, die einem verbreiteten Konsens zuwiderläuft. Diesem zufolge ist der Roman keineswegs ein Beispiel experimenteller Schreibe, sondern ein gelungenes Exemplar der traditionellen Gattung des 'Gesellschaftsromans'. Die Fabel scheint ersonnen zur Darstellung eines statistischen Mittels der Bevölkerung von Buenos Aires: Der Zufall eines Lotteriegewinns vereinigt ein gutes Dutzend 'Porteños' für die Zeit von 36 Stunden im abgeschlossenen Raum eines Vergnügungsdampfers - die freiberuflich tätige Oberschicht (Don Galo, Paula Lavalle und der Architekt Raúl Costa), Angehörige des etablierten Beamtenstandes (Carlos López und Dr. Resteiii), Kleinbürger (»los Trejos« sowie das junge Paar Lucio und Nora), Vertreter der proletarischen Unterschicht (»los Presutti«) sowie die 'Intellektuellen' Medrano, Claudia Lewbaum und den poetischen Einzelgänger Persio. Kurz nach Auslaufen des Schiffes verwandelt das Bekanntwerden einer mysteriösen Absperrung den konventionellen Rahmen der Vergnügungsfahrt in den schwankenden Boden eines sozialen Experi-
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mentierfeldes: Vertreten durch einige untere Chargen, läßt die ansonsten unsichtbar bleibende Schiffsleitung die Passagiere wissen, daß diesen der Zutritt zum Achterdeck untersagt ist. Das strikte Verbot ist lediglich von vagen Andeutungen hinsichtlich gewisser mit dem Betreten des Hecks verbundener Gefahren begleitet und löst beträchtliche Unruhe unter den Gästen aus. Gerüchte verdichten sich zu Spekulationen und konkretisieren sich schließlich in der Nachricht von einer am Heck ausgebrochenen ansteckenden Krankheit. Angesichts der äußeren Bedrohung bricht die dünne Oberfläche, die die heterogene Ausflugsgesellschaft bisher im gemeinsamen Ziel des Vergnügens geeint hatte, schnell auseinander. Die unterschiedliche Weise, in der die Individuen auf die Gefahr reagieren und Strategien zu ihrer Bewältigung diskutieren, entspricht dem sozialen Schematismus der Schichten, denen sie entstammen: Der 'Friedenspartei' um Don Galo, den Trejos sowie Dr. Resteiii, die zu Besonnenheit, Ruhe und Vertrauen in die Schiffsleitung rät, stehen die 'Intellektuellen' um Medrano, Raul und Lopez entgegen - solidarisch unterstützt durch den Proletarier »el Pelusa« die angesichts der aggressiven Passivität der Besatzung auf aktive Selbsthilfe drängen. Als der Sohn Claudias von hohem Fieber befallen wird und vom Schiffsarzt keinerlei Hilfe zu erhalten ist, entschließen sich Medrano, Raul und »el Pelusa« zur gemeinsamen »Aktion« und stürmen das verbotene Terrain. Schüsse fallen, Medrano wird verwundet und stirbt. Die Aktion kommt zum Stillstand und kehrt zurück zum unfruchtbaren Palaver der widerstreitenden Parteien. Währenddessen hat die Malcolm beigedreht. Wasserflugzeuge landen, um die Passagiere sowie ihren Toten nach Buenos Aires zurückzufliegen. Die 'Friedenspartei' unterschreibt eine von den Autoritäten verfaßte Erklärung, die die Vorfalle mit einer offiziellen Seuchenversion rechtfertigt, und erwirbt damit das Recht auf eine finanzielle Entschädigung seitens der Gesellschaft. Die 'Aktionspartei' weigert sich, das Papier zu unterschreiben, darf trotzdem an Land gehen, vermag aber trotz dieser individuellen Geste des Protests nicht zu verhindern, daß die von der Schiffahrtsgesellschaft verordnete Alltäglichkeit das Mysterium des skandalösen Geschehens endgültig zudeckt. Die spontane, überwiegend positive Aufnahme, die der Roman bei Publikum und Kritikern findet, hat ihren Grund zweifellos in der exakten Porträtierung der die Hauptstadt bevölkernden Figuren. Das durch die Konstellation der Figuren, ihren Jargon und ihr Verhalten repräsentierte soziologische Schichtenmodell hat die Qualitäten einer fotographischen Momentaufnahme Argentiniens zur Zeit des Peronismus. Unabhängig von der Frage des politischen Standortes des Verfassers - es fehlt wiederum nicht an Stimmen, die einen antiperonistischen Akzent im Text signalisieren evoziert der Roman ein breitgefachertes Universum zeitgenössischer Wirklichkeit, in dem sich der Leser mit der Lust des Wiedererkennens hin und her bewegt. In einem wichtigen Aufsatz von 1976 hat David E. Musselwhite auf die evidente Tatsache hingewiesen, daß eine lediglich realistische Lektüre - bzw. deren Kehrseite, die 'ideologiekritische' Perspektive, die den Roman dominant als antiperonistisches
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Dokument betrachtet - den Text in unzulässiger Weise vereinseitigt. 'Evident' ist der Hinweis insofern, als Musselwhite zeigen kann, daß die ideologische und die ideologickritische, die realistisch darstellende und die das Ergebnis der Darstellung reflektierende und interpretierende Ebene gemeinsam im Text repräsentiert sind. Mit anderen Worten: der Text weiß um die ideologischen Grenzen seiner Darstellung. Sie mitzuteilen, gehört mithin ebenfalls zum Projekt dieser 'Darstellung' - ein Begriff, der sich in dieser Verwendung jedoch gleichsam selbst aufhebt: Angesichts der interpretatorischen und ideologiekritischen Reflexion, die das Handeln der Personen begleitet, trägt die Handlung von Anfang an den Akzent der Nichtigkeit. »Los premios entre el todo y la nada« - so der Titel und die These des Aufsatzes -, d.i. die Darstellung einer von der Ideologie des Antiperonismus durchherrschten Welt und ineins damit der demaskierende, kritische Aufweis der ideologischen Bedingtheit der dargestellten Welt, deren Nichtigkeit - so könnte man Musselwhites Gedanken weiterführen - in der resignativen Rückkehr zur falschen Alltäglichkeit, zu der sich am Ende auch die kritische »Aktionspartei« gezwungen sieht, ironisch bestätigt wird. Musselwhites These hat ihr Recht im Aufweis der Doppelstruktur von Darstellung und Reflexion, wie sie in Los premios zum ersten Mal auftritt, um in Rayuela zum Höhepunkt zu gelangen. Sie schießt jedoch über ihr Ziel hinaus, indem sie - befangen im ideologiekritischen Interpretationsmodell - den Text gleichsam überfordert: Wirkung und Wirklichkeit des literarischen Textes sind mit der rationalistischen Dichotomie des ideologischen 'Alles oder Nichts' nicht zu fassen. Literatur ist das prinzipielle 'Dazwischen', die 'sowohl als auch'-Erfahrung falschen und wahren Bewußtseins. Als Schreibe befindet sie sich niemals im Himmel des reinen Gedankens, sondern erfährt sich als Spur raumzeitlicher - mithin geschichtlicher - Bedingtheiten, manifestiert in Zeichen. Anders als der politische Traktat besteht Literatur nicht zunächst in der Mitteilungsfunktion ideologischer Inhalte, sondern im Bewußtmachen der die Inhalte transportierenden Zeichen. Diesem Prozeß präsidiert kein abstraktes, überzeitliches Ich - so wie es der Realismus mit der Fiktion des 'auktorialen' Erzählers glauben macht. Das Subjekt der Schreibe erfährt sich vielmehr als konstituiert durch einen Prozeß der Zeichen- bzw. Sinnbildung, an dem es selber konstitutiv beteiligt ist. Cortázar selbst hat auf diesen Prozeß der Entstehung seines Textes mit einer dem Roman beigefügten »nota« ausdrücklich verwiesen, indem er mit einem Anflug von ironischem Understatement behauptet, der Roman sei das Ergebnis eines nahezu automatischen, in den einzelnen Phasen rational unvorhersehbaren Schreibprozesses, dessen Überraschungseffekt ihm - dem Autor - als einer Art Proto-Leser als erstem zuteil geworden sei. Bestimmt, den allzu traditionalistischen Leser im Kurs einer lediglich auf realistische Verifizierbarkeit abzielenden Lektüre zu irritieren, wird man sich hüten müssen, die Bemerkung als exaktes Protokoll des tatsächlichen Schreibprozesses mißzuverstehen. Dennoch trifft sie diesen in zwei wesentlichen Punkten.
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Der erste bezieht sich auf die berühmten Monologe Persions, die die Erzählung insgesamt neunmal in Kursivschrift unterbrechen. Die gängige Klassifizierung der Monologe als einer Art poetisch-philosophischer Metatext zur Handlung des Romans orientiert sich dominant an inhaltlichen Kriterien. Cortázar dagegen unterstreicht den experimentellen, 'technischen' Charakter der Texte in der Nachfolge Raymond Roussels (vgl. Foucault 1963!). Die Schreibtechnik des den Surrealisten nahestehenden französischen Autors - Cortázar rechnet ihn zu jener kleinen Gruppe von Autoren, denen er sich durch direkte Einflüsse verbunden weiß - räumt dem physikalisch wahrnehmbaren Wort-Körper der Sprache, zumindest was den Schreib-ZVoze^ betrifft, einen prinzipiellen Vorrang ein gegenüber der Sinn-Produktion: »[...] cuando yo escribí esta novelita, la primera novela que publiqué y que se llama Los premios, los monólogos de ese personaje que se llama Persio, éstos fueron escritos al principio [...] partiendo de ese principio de Roussel de escribir una frase y después dejarse hipnotizar un poco por ciertas palabras de la frase y salir de esa frase y escribir la segunda que es una especie de espejo de la primera, y así ir avanzando por un camino de escritura.« (M 3: 22f.) Es muß einer genaueren Analyse vorbehalten bleiben, inwieweit die Monologe Persios der Schreibtechnik Roussels tatsächlich verpflichtet sind. Eine für die Gesamteinschätzung des Romans entscheidende Frage ist jedoch, ob sich Spuren von Roussels Prinzip des »gesteuerten Zufalls« (vgl. H. Grössel, in: Die Zeit, 27.5.77) auch auf der Ebene der Romanhandlung selbst nachweisen lassen. Die Frage läßt sich bejahen im Hinblick auf die Rolle des Erzählers. Die erwähnte Einschätzung des Textes als realistischen Gesellschaftsroman bezieht sich, wie wir sahen, in erster Linie auf die Darstellung des Personeninventars, einer photographisch genauen Spiegelung der zeitgenössischen Bevölkerung von Buenos Aires. Der Realitätserfahrung auf der Ebene der Personen steht jedoch die Erfahrung von Irrealität und Phantastik gegenüber, der sich der Leser konfrontiert sieht im Hinblick auf die rätselhafte und zunehmend als bedrohlich erfahrene Absperrung des Heckschiffes. Das Fehlen einer übergeordneten, allwissenden Erzählerinstanz bewirkt, daß die Erzählung sich gleichsam selbst erzählt. Der Leser befindet sich im Hinblick auf die alles entscheidende Frage nach der hinter der Absperrung sich verbergenden Wirklichkeit auf der gleichen Stufe des Wissens wie die Protagonisten der Handlung. Er erfährt die Absperrung ebenso wie jene - als phantastischen Text, als der Entzifferung bedürftiges Zeichen. Die Bezeichnung »glucidos«, die die Mitglieder der Besatzung erfinden, reißt diese keineswegs aus ihrer Anonymität, sondern ist ein zusätzliches Indiz für die Undurchdringlichkeit ihres wirklichen Wesens. Die »allegorische« Interpretation - wie sie von Cortázar in der »nota« ausdrücklich zurückgewiesen wird -, nach welcher es sich bei diesen Wesen 'in Wirklichkeit' um Verkörperungen der von Perón in die Hauptstadt gerufenen »cabecitas negras« handle, ist ein Wissen, das die Realität der phantastischen Erfahrung realistisch zu
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verdrängen versucht. Die Weigerung des Textes, dem Zeichen-Körper der phantastischen Bedrohung eine bestimmte Bedeutung zuzuordnen, ist deshalb keineswegs ein Indiz für Cortázars politischen Irrationalismus, sondern appelliert beim Leser an jene Art aktiver Beteiligung beim Prozeß der Sinn-Bildung des Textes, die in Rayuela als »Komplizenschaft« (vgl. R, Kap. 79) bezeichnet wird. Realität erfahrbar zu machen als phantastischer, der Dechiffrierung bedürftiger Zeichen-Körper, dies ist das zukunftsweisende Element, das Los premios auf der Ebene der Schreib-Erfahrung - die eine analoge Lese-Erfahrung seitens des Rezipienten provoziert - mit Rayuela verbindet. Inwieweit sich hierin - in paradoxem Widerspruch zum »antiperonistischen« Akzent der Romanhandlung - auch bereits ein erster Schritt in Richtung auf die politische Wende von 1963 findet, ist eine Frage, der wir im folgenden, bei der Erörterung von Rayuela, erneut begegnen. Cortázars Wende zum Politischen geht den Weg des Schreibens. Prüfen wir die Berechtigung dieser These nun am Hauptwerk des Schriftstellers (vgl. M 2: 115), dem in den Jahren 1959-61 entstandenen (vgl. M 1: 33) Roman Rayuela. Cortázar hat die paradoxe Situation, die das Werk in biographischer Hinsicht einnimmt, in zahlreichen Äußerungen immer wieder betont: Rayuela sei aus einer »absolut a-historischen Perspektive« (M 19: 60) heraus geschrieben - bekennt er Saul Sosnowski gegenüber -, ohne jedes Gefühl politischer »Verantwortung« (ebd.); Dokument »metaphysischer« Einstellung, suche der Roman die Lösung aller Rätsel lediglich auf der Ebene des »individuellen Geschicks« (ebd.: 61). Cortázar - hier wie in vielen seiner Interviews - kommt dem dogmatischen, undialektischen Begriffsverständnis seiner Kritiker weitgehend entgegen. Die Synthese von Gesellschaft und Individuum, die jene voraussetzen, hat niemals den Prozeß, mithin »die Furcht des Todes, des absoluten Herrn« (vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 148) im reinen Fürsichsein des Individuums erfahren. Sie ist lediglich - »wie aus der Pistole geschossen« (Hegel gegen Kant!) - die Position der abstrakten Allgemeinheit. Der auf die Spitze getriebene Individualismus Rayuelos dagegen ist zu verstehen als notwendiges Moment einer dialektischen Entwicklung, eines biographischen Prozesses, an dessen vorläufigem Ende (Kuba 1963!) die unverzichtbaren Werte des bürgerlichen Individuums positiv aufgehoben erscheinen im nunmehr praktisch werdenden politischen Engagement, in der bewußten Entscheidung des bürgerlichen Individualisten, die allgemeine Sache der Befreiung der lateinamerikanischen Völker zu der seinen zu machen. In dieser Perspektive wird es verständlich, wieso Cortázar, indem er den »Kontext politischer Indifferenz« (ebd.: 61), den Rayuela umgibt, erläutert, im gleichen Atemzug betont, daß all dies keineswegs »Verzicht« (ebd.) bedeute: »Yo me siento profundamente feliz de haber escrito ese libro. Es el libro que más felicidad me ha dado como autor y además, yo sé que no hubiera escrito Libro de Manuel si no hubiera escrito Rayuela, y esto lo digo dirigido directamente a quienes puedan reprochar ese tipo de literatura en donde la creación de tipo individual
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es más fuerte que la creación de tipo político.« (Ebd.) Die Perspektive der ideologischen Grabenkämpfe, die die Rayuela-YtebaXie der 70er Jahre umgibt und das Buch als Ausgeburt bürgerlichen Individualismus' erscheinen läßt, verfälscht indessen die unmittelbare Wirkung des Textes auf die Lesergeneration der frühen 60er Jahre. Von dieser her gesehen ergibt sich eine Einschätzung, die der tatsächlichen historischen und biographischen Funktion des Textes eher gerecht wird: Der zwischen Unverständnis und schroffer Ablehnung schwankenden Reaktion der offiziellen Kritik (vor allem in Argentinien!) steht die breite und begeisterte Aufnahme gegenüber, die das Buch in Kreisen der Jugend findet. Gewiß - die Irritation der einen und der Enthusiasmus der anderen sind gleichweit entfernt von einer philologisch exakten Würdigung des Textes. Beide Reaktionen - darin liegt ihre historische Berechtigung und macht sie den späteren ideologischen Querelen überlegen - sind jedoch auf das gleich Phänomen bezogen: Auf Ablehnung stößt Rayuela aufgrund seiner avantgardistischen Form; eben diese, der provokative und radikale Bruch mit - wie es den ersten Lesern scheint - allen herkömmlichen Konventionen des episch-romanesken Genres, ist die Grundlage jener Welle der Begeisterung, die den Autor der Rayuela gleichsam über Nacht aus der Grauzone zweit- und drittrangiger Schriftsteller in die Position eines fuhrenden Repräsentanten der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur aufrücken läßt. Cortázar selbst scheint dem Prozeß mit einiger Verwunderung beigewohnt zu haben und gewinnt erst später Klarheit über die Gründe, die ihn in Gang setzten. Weit entfernt, auf die Funktion »metaphysischer Spekulation« - von welcher Cortázar noch gegenüber Life behauptet, sie finde sich nicht nur in seinem Werk, sondern sei identisch mit diesem (vgl. M 58: 50) - beschränkt zu sein, ist Rayuela vielmehr in mehrfacher Hinsicht der zu Ende gegangene Gang des bürgerlichen Individualismus. Zunächst in formaler Hinsicht: Rayuela bedeutet als »Anti-Roman« (Kap. 79) den radikalen Bruch mit jener Form der Selbstdarstellung und Daseinsvergewisserung, die den Roman im Zeitalter des Realismus und Naturalismus in den Rang eines 'National'-Epos des aufstrebenden Bürgertums erhoben hat: »Si el volumen o el tono de la obra pueden llevar a creer que el autor intentó una suma, apresurarse a señalarle que está ante la tentativa contraria, la de una resta implacable«, (R: 595) versichert der Phantasie-Autor Morelli in Rayuela. Nicht die Konstruktion einer folgerichtigen Chronologie von Handlungssequenzen steht nach Aussage aller Dokumente, über die wir im Hinblick auf die Entstehung des Romans verfügen (vgl. »La muñeca rota«, in: Ultimo round, t.I; Cortázar, Ana María Barrenechea, El cuaderno de bitagora) am Anfang, sondern die Gleichzeitigkeit einer großen Anzahl heterogener Texte verschiedenster Provenienz. Der »Almanach«-Charakter (vgl. Kap. 66) des Textes bleibt gemäß der zweiten Version des Lektüre-»Wegweisers« gewahrt, die dazu auffordert, die lineare Lektüre der Handlung durch die Lektüre einer Vielzahl scheinbar zusammenhangloser Texte zu unterbrechen. Die Montage heterogener Textsorten verdrängt
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den Erzähler aus seiner angestammten Rolle als einer quasi-texttranszendenten Instanz, reduziert ihn zur textimmanenten Funktion und provoziert damit notwendigerweise jenen Typus des Leser, den Cortázar in Kapitel 79 als »Komplizen« bzw. - mit Baudelaire - als »frère [...], mon semblable« anspricht. Nicht um die Darstellung einer immer schon daseienden, dank der auctoritas des Autors lediglich re-produzierten Welt mithin geht es, sondern um die - von Autor und Leser nur in gemeinsamer Arbeit am Text zu bewerkstelligende - Hervorbringung eines neuen Universums von Sinn. Der Prozeß der Sinn-Schöpfung kommt am Ende jedoch in keiner fixierten Bedeutung zur Ruhe. Er endet im freien Spiel logisch unvereinbarer Signifikanten. Letztere halten den Ausgang der Handlung semantisch in der Schwebe und verleihen dem Text als Ganzem den Charakter des 'offenen Werkes'. Als (in formaler Hinsicht) offenes Werk ist Rayuela jedoch zugleich auch die Offenlegung jedes denkbaren Inhalts. Was ist damit gemeint? »Rayuela no da nunca respuestas, pero ayuda a hacer preguntas« (Ai 86: 2), sagt Cortázar; und an anderer Stelle: »Yo tuve cuidado de que no hubiera allí respuestas; si algún mérito tiene el libro es que es una apertura total.« (M 54: 20) Die inhaltliche Offenheit, auf die die Bemerkungen anspielen, bleibt dadurch gewahrt, daß der Text immer dann, wenn die Handlung Gefahr läuft, zum Träger fester Bedeutung, geschlossener Wertsysteme oder gar fixierter Weltbilder zu kristallisieren, jene - die Handlung - in Bahnen lenkt, durch die sie die ihr eigene Dominanz als Zeichen-Körper, mithin als Träger neuer Bedeutungen, zurückgewinnt. Der damit angedeutete Wechsel von Erwartung, Enttäuschung und Aufbruch zu neuer Erwartung ist die Grundstruktur einer perennierenden Suche, einer Suche, die aus dem Verfehlen des angestrebten Ziels ein paradoxes Argument dafür glaubt ableiten zu können, die Suche mit neuer Zielsetzung fortzusetzen. Schon auf der Ebene der makrostrukturellen Gliederung des Romans in drei Teile ist die Grundstruktur der Suche präsent: Die korrelative Verklammerung der beiden Handlungsteile - »del lado de allá« und »del lado de acá« - weist darauf hin, daß weder in Paris alleine noch in Buenos Aires die Suche an ihr Ende gelangen wird. Doch auch die strenge Bipolarität der Suche ist lediglich vorläufig. Sie entspricht dem ersten Lektürevorschlag des »Wegweisers« (»tablero de dirección«) (R: 7), der dazu auffordert, das Buch der linearen Kapitelfolge entsprechend zu lesen. Der zweite Lektürevorschlag hebt die bipolare Perspektivierung der beiden ersten Teile dagegen auf zugunsten einer chaotisch erscheinenden Vielfalt von Perspektiven: Der Ort der Suche erscheint 'internationalisiert' in der Poly-Perspektive von »otros lados«. Was für die Handlungsstruktur des Romans im großen gilt, findet sich wieder in allen wichtigen Schlüsselszenen - der Trennung Oliveiras von Maga (Kap. 20), der Begegnung Oliveiras mit der absurden Konzertpianistin Berthe Trépat (Kap. 23), dem vom Intellektuellen-Palaver des »Schlangenclubs« übertönten Todeskampf des Babys Rocamadour (Kap. 28), der Liebesnacht Oliveiras mit der Clocharde Emmanuèle
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(Kap. 36) und schließlich im offenen Ende der »Verteidigungsstellung« (Kap. 56), anläßlich welcher Oliveira, die zur Versöhnung ausgebreiteten Arme des »Doppelgängers« Traveler verschmähend, mit drohend-halsbrecherischen Gebärden im Fensterkreuz der Irrenanstalt schaukelt. Keine der Szenen läßt sich im Rahmen etablierter Bedeutungs- und Wertsysteme abschließend verstehen. Die Funktion der 'metaphysischen' Suche Oliveiras besteht vielmehr darin, alle durch die Handlungsmuster der jeweiligen Szenen vorgegebenen Bedeutungsangebote prinzipiell zu überschreiten: In der Trennung von Maga das 'psychologische' Beziehungsmodell; beim Konzert von Berthe Trépat und beim Tod Rocamadours das 'humanistische', in der Liebesnacht mit Emmanuele das 'ästhetische' und schließlich in der Verteidigungsstellung das 'rationale' Erfahrungsmodell. Der 'Immoralismus' Oliveiras steht keineswegs im Dienste einer »zynischen Vernunft« (vgl. P. Sloterdijk). Er fördert jedoch - gleich demjenigen des 'Kynikers' Heraklit, den Kap. 36 leitmotivisch zitiert - eine Erkenntnis ex negativo: »Yo tengo la convicción profunda, y cada día que pasa la siento más profundamente, de que estamos embarcados en una vía, en un camino equivocado. Es decir que la humanidad se equivocó de camino. Estoy hablando sobre todo de la humanidad occidental porque de la oriental no sé gran cosa. Embarcados en un camino históricamente falso que nos está llevando directamente a la catástrofe deñnitiva, a la aniquilación por cualquier motivo - bélico, polución del aire, contaminación, cansancio, suicidio universal, lo que tú quieras. Entonces, en Rayuelo, sobre todo, hay ese sentimiento continuo de estar en un mundo que no es lo que debería ser [...].« (M 2: 21f.) Doch die Klimax in Kap. 36 enthält noch ein zusätzliches Element: »Tumbado en el banco, Horacio saludó al Oscuro, la cabeza del Oscuro asomando en la pirámide de bosta con dos ojos como estrellas verdes, pattems pretty as can be, el Oscuro tenía razón, un camino al kibbutz, tal vez el único camino al kibbutz, eso no podía ser el mundo, la gente agarraba el calidoscopio por el mal lado, entonces había que darlo vuelta con ayuda de Emmanuele y de Pola y de París y de la Maga y de Rocamadour, tirarse al suelo como Emmanuele y desde ahí empezar a mirar desde la montaña de bosta, mirar el mundo a través del ojo del culo, and you'll see patterns pretty as can be [...].« (R 253; Kap. 56) Der zu Ende gegangene Weg des Individualisten ist nicht nur ein Weg des Scheitems. Zwar scheitert - als Weg - die Welt 'wie sie ist', d.h. samt der sie konstituierenden 'Moral'; es scheitert - ferner - das Individuum, der Suchende, der, der den Weg beschreitet. Doch der Weg selbst - so deuten wir den drängenden, dynamischen Impuls dieser Prosa, die sich türmende Klimax von Bildern, Episoden und Zitaten, mit denen der Text all das, was an Bedeutungs-Möglichkeiten auf der Strecke geblieben ist, kumuliert -, der Weg ragt hinein in die Zukunft, eine Zukunft, in der verwan-
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delte Protagonisten - gewiß nicht das bürgerliche Elend des 'Individualisten' Oliveira - sich einer ebenfalls gewandelten, wenn auch aus dem gleichen Bedeutungs-Material wie die frühere bestehenden Welt konfrontieren. Rayuela ist mithin nicht nur 'der Nachweis eines Fehlschlags'; der Roman ist zugleich auch »die Hoffnung auf einen Sinn« (M 2: 22). Wenn es falsch ist, Rayuela deshalb revolutionären Charakter (im politischen Sinne) zuzuschreiben, so bleibt doch festzuhalten, daß der Text einen Weg beschreitet, der nicht nur die Schwelle der politischen Revolution berührt, sondern umgekehrt von dieser - will man ihrem eigentlichen Ziel, der Verwandlung der Geschichte in Human-Geschichte, gerecht werden - mit Notwendigkeit wird beschritten werden müssen. Rayuela stellt in dieser Beziehung den Modellfall dar einer Aufgabe, »que podemos formular como el deber revolucionario de realizar y criticar el lenguaje como instrumento político. En ese sentido, un personaje dice [sc.: in Libro de Manuel] que los políticos, hasta el más revolucionario, cuando hacen sus discursos hablan como Castelar, y desgraciadamente es cierto en la mayor parte de los casos.« (M 86: 2)
6. Der engagierte Literat
6.1. »¡Cronopios de todos los países, unios!« Julio Cortázar ha sido condenado, o aprobado, por sus opiniones políticas. Fuera de la ética, entiendo que las opiniones de un hombre suelen ser superficiales y efímeras. (J.L. Borges, Clarín 5. April 1984) Die spektakuläre Zäsur von 1963 hat mithin ihre literarische Vorgeschichte: Die Einladung der Kubaner - ihr konkreter Anlaß ist die Teilnahme Cortázars an einer literarischen Jury anläßlich der Verleihung eines von der Casa de las Américas gestifteten Literaturpreises (vgl. M 1: 34f.; M 31: 120; M 32) - gilt dem Autor der Rayuela, nicht so sehr dem Sympathisanten der kubanischen Revolution. Der »biographische« Rahmen - so die Argumentation im vorangegangenen Kapitel der die Wende von 1963 bedingt, ist die Evolution des Werkes seit 1959. Es sind Schreiberfahrungen, wie sie »El perseguidor« und vor allem Rayuela dokumentieren, die Cortázar befähigen, die »Botschaft« der Kubaner zu verstehen und sie - seit 1963 in zunehmendem Maße - in konkrete politische Praxis umzusetzen. Seine volle Bedeutung erhält dieses 'Engagement' deshalb erst in der ausgehaltenen (bisweilen auch polemisch ausge-
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tragenen) Spannung, in der konkrete politische Arbeit und ästhetischer 'Individualismus' zueinander stehen. Beschränken wir uns jedoch zunächst auf die Charakterisierung jener 'Revolution' des politischen Bewußtseins, von der Cortázar behauptet, er verdanke sie vor allem der Freundschaft mit Kuba. Cortázar hat die Maxime seiner politischen Philosophie und Praxis in zahlreichen Äußerungen immer wieder umrissen. Da sich die Äußerungen über die Jahre hin wiederholen und ihrem Tenor nach nur geringfügig voneinander abweichen, erscheint es sinnvoll, sie zusammenfassend darzustellen. Es sind Dokumente eines souveränen politischen Bewußtseins, das in der Erfahrung der Verantwortung - der Unterwerfung mithin unter die Maxime des Gemeinwohls - zugleich in paradoxer Weise die unveräußerliche Freiheit der schöpferischen Individualität affirmiert. Sie, die politische Philosophie Cortázars, nicht die Theoreme einer offiziellen sozialistischen 'Doktrin', ist der Maßstab, an dem das politische Handeln des Autors in den kommenden Jahren zu messen sein wird. Die pathetische Gestalt Jean-Paul Sartres, vor den Toren der Renault-Betriebe erstaunten Arbeitern die Grundsätze eines humanistischen Marxismus predigend, gilt bis heute vielerorts als Modell eines 'engagierten' Literaten. Sartre hat das Dilemma des bürgerlichen Intellektuellen in seinem berühmten Essay Qu'est-ce que la littérature? (1948) exemplarisch reflektiert. Das Dilemma besteht darin, daß der bürgerliche Schriftsteller, auch wenn er die eigene Klassenzugehörigkeit bewußtseinsmäßig negiert, im Willen, diese Negation als literarische 'Botschaft' zu artikulieren, an die Ausdrucksformen der bürgerlichen Kultur gebunden bleibt. Für Sartre stellt sich das Problem des »Engagements« deshalb als Problem von Form und Inhalt einerseits bzw. von (literarischer) Produktion und Rezeption andererseits: Nur als »Prosa« nicht als »Poesie!« - ist Literatur in der Lage, kritisch-fortschrittliche Inhalte zu transportieren; nur als solche, als kritisch-revolutionäre Prosa, erreicht Literatur darüberhinaus jenen Rezipienten, der von der Zirkulation der Güter der bürgerlichen Kultur bislang ausgeschlossen war - den Proletarier. Es ist nützlich, die Position Sartres zu vergegenwärtigen, um deijenigen Cortázars Relief zu geben. So erklärt er 1970 einem schwedischen Journalisten gegenüber, daß »der Begriff des Engagements [...] Anlaß (gebe) zu den schlimmsten Demagogien« und schließt das Gespräch mit der Bemerkung, »das falsche Problem des Engagements (lasse) sich in den sozialistischen Ländern beobachten; (es komme) in der Tendenz zum Ausdruck, die da lautet: 'Man muß zum Volke sprechen.'« (M 80: 9) Im Gegensatz zu Sartre, der das Problem von vornherein auf der Ebene des literarischen Schreibens diskutiert (und zu lösen versucht), zielt die Argumentation Cortázars auf eine existentielle Ebene. Dadurch gelingt es, das heikle Problem einer Festschreibung dessen, was der Begriff einer »engagierten Literatur« beinhaltet, vorerst auszugrenzen bzw. offenzuhalten. Um Mißverständnisse auszuschließen, fordert Cortázar, die abgegriffene Formel des »Engagements« (sp.: »compromiso«) durch die
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Fundamentalkategorie der »Verantwortung« (sp.: »responsabilidad«) zu ersetzen. (Vgl. M 6: 27; M 39: UM 20: 9) Cortázar erläutert den Begriff durch die drei - meist synonym gebrauchten - Attribute »moralisch«, »politisch«, »historisch«: Sich engagieren heißt für den Schriftsteller, der moralischen Verpflichtung innezuwerden, sich am politischen Kampf gegen »Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Schande« (M 39: 1) zu beteiligen, die die historische Situation der Völker der Dritten Welt charakterisiert. Prüfstein dieses Engagements ist die aktive Teilnahme am solidarischen Kampf der Unterdrückten, z.B. durch die Verteidigung politischer Gefangener oder den Einsatz für die Wahrung der Menschenrechte angesichts der Unterdrückungsstrategien diktatorischer Regierungen, des Imperialismus oder Kolonialismus. (Ebd.) Es ist diese Ebene einer »historischen Verantwortung« (ebd.), der Cortázar in Kuba innezuwerden beginnt. Er wird in den folgenden Jahren keine Mühe scheuen, um sich ihrer in der Übernahme konkreter Aufgaben zu stellen. Das Spezifische dieses Engagement-Begriffs ist seine Universalität! Im Vergleich zu Sartres Intellektuellen-Position, die die Situation des bürgerlichen Schriftstellers dilemmatisch - wie es scheint - an der Wurzel faßt, ist die Position Cortázare eher konfliktvermeidend konzipiert: Indem »Damaskus - La Habana« auf die Erfahrung einer allgemeinen moralischen Verpflichtung zur Solidarität mit dem Schicksal der Unterdrückten reduziert wird - eine Verpflichtung, die in dieser Weise für jederman gilt, der über ein moralisches Bewußtsein verfügt -, scheint das eigentliche Problem, die Frage nach dem spezifischen Charakter des Engagements der Literatur, elegant umgangen. In der Tat bleibt das »Damaskus-Erlebnis« des Kuba-Reisenden in einem wesentlichen Sinne 'formal'. Cortázar läßt sich bei aller Sympathie für die Revolution und trotz enger Freundschaft zu führenden Funktionären die Inhalte seines Engagements mitnichten diktieren. Der Begriff der Verantwortung zeigt in dieser Hinsicht eine bürgerliche - ja geradezu 'kantianische' - Komponente: Sich der Verpflichtung zur unbedingten Solidarität zu stellen, bedeutet - ja hat zur Voraussetzung - die Affirmation der Autonomie des moralischen Subjekts. Wenn Cortázar den »Elfenbeinturm« (M 39: 1) des politisch desinteressierten Ästheten endgültig verlassen hat, so nicht etwa, um sich in der Zitadelle des marxistischen Klassenkänpfers einmauern zu lassen. Es bedeutet deshalb keinen Widerspruch zur Position eines »genuinen Sozialismus« (vgl. M 88: 2), wenn Cortázar sich ein Leben lang weigert, einer politischen Partei beizutreten, wenn - der engen Freundschaft zu Kubi zum Trotz - die souveräne Freiheit, mit der er gelegentlich Heterodoxien zum Ausdruck bringt, den Autor der Rayuela für Jahre hin der Insel entfremdet (vgl. 1,6.2.!). Die scheinbare Reduzierung eines Engagements auf eine formal-ethische Ebene hat indessen eine wichtige Konsequenz für die Bestimmung eines spezif.schen Engagements des Schriftstellers. Hier liegt die eigentliche Differenz der Konzjption Cortázars zu derjenigen Sartres. Während Sartre11 die Rolle des engagierten S:hrift11
Natürlich wird die hier betonte Opposition zwischen Cortäzars Konzept der 'Schreibe' und einem Begri f 'enga-
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stellers vor allem im Sinne der marxistischen Geschichtsphilosophie als Ratifizierung einer klassenspezifischen Notwendigkeit begreift und infolgedessen auch inhaltlich festzuschreiben versucht, wendet sich Cortázar vehement gegen jede Art von »contenidismo« (vgl. M 20: 9) und setzt das unveräußerliche Prinzip der »ästhetischen Freiheit« (Ultimo round, t.II, S. 275) an die Spitze eines Merkmalkatalogs »engagierter« Literatur: »Yo insisto siempre en decir que cuando un escritor es moralmente responsable en su conducta política, en su conducta histórica, nadie puede quitarle el derecho a escribir lo que le parezca bien, aunque su creación no tenga un contenido político y sea, por ejemplo, de carácter experimental: una aventura de la palabra o una aventura del pensamiento. En ese caso, el escritor también está haciendo obra revolucionaria y nadie puede dudar de la autenticidad de esa obra puesto que ese escritor, como hombre, prueba todos los días su responsabilidad, en su conducta y en sus actos, con respecto a la historia de su tiempo.« (M 20: 9) Die Kritik der Linken antizipierend, die durch solche Äußerungen natürlich auf den Plan gerufen wird, fügt Cortázar noch einen Satz hinzu: »Me gusta siempre aclarar esto porque usted conoce esa nefasta tendencia que se da en llamar 'contenidismo', según la cual las únicas obras revolucionarias son las que tienen un contenido explícitamente revolucionario.« (Ebd.) Die zitierten Äußerungen stammen aus dem Jahr 1975. Sie sind im Ton verbindlich und konziliant. Cortázars Erklärungen gegenüber Hispamérica ein Jahr später, mit denen er zu gleichen Themen Stellung bezieht, dagegen zeugen von sarkastischer Ungeduld: »[...] te lo digo porque una vez más frente a los ataques sectarios que gente como yo recibimos todos los días de ese tipo de lector, escritor, crítico y, sobre todo, militante, que nos exige un füll time político, yo seguiré siendo part time, en el sentido de que cuando tenga ganas de escribir un cuento fantástico lo voy a escrigierter' Literatur à la Sartre der tatsächlichen Komplexität des Engagement-Begriffs bei Sartre in keiner Weise gerecht. Sie entspricht vielmehr jenem in der Nachfolge Sartres in der öffentlichen Diskussion kodifizierten, wenn auch ir Qu'est-ce que la littérature? initiierten Engagement-Diskurs, gegen den sich Cortázar in der Tat Stellung zu nehren genötigt sieht. Eine weiterführende Kontrastierung zwischen Cortázars und Sartres literarischer Theorie und Praxis - wie sie hier nur angedeutet werden kann - hatte demgegenüber auszugehen von Sartres existentialistisch begründetem Freiheitsbegriff, der sich mit dem von Cortázar vertretenen Begriff der »Verantwortung« in mehr as einem Punkt berührt: »[...] la littérature«, heißt es bereits in Qu'est-ce que la littérature? (1948: 333f.), »[...] e.'t l'oeuvre d'une liberté totale s'adressant à des libellés plénières et [...] ainsi elle manifeste à sa manière, comme libre produit d'une activité créatrice, la totalité de la condition humaine«. Aus dieser existentiellen Grundgegebeiheit heraus erscheint das »Engagement« als notwendige Folge: »[...] il faut prendre position dans notre littératwe, parce que la littérature est par essence prise de position.« (Ebd.: 334; Hervorh. im Text) Diesem Satz zuzustinmen, fällt im Horizont der Conázarschen Ästhetik kaum schwer. Wie wenig Sartres eigenes Schreiben im übriger auf einen politisch verengten Engagementbegriff festlegbar ist, zeigt nachgerade sein wohl wichtigstes literarisches Werk, die autobiographische Schrift Les mots. - Vgl. hierzu W.B. Berg: »La voix des autres: écriture autobiographique dans Les Mots de J.-P.- Sartre«; erscheint 1991 in Recherches et travaux. Université de Grenoble III.
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bir, lo cual no me va a impedir salir luego de mi casa e ir a una reunión política o trabajar por una acción política. Insisto que en ese sentido mi derecho a la creación, tal como yo la entiendo, lo mantendré hasta el final de mis días, y sé muy bien que eso me seguirá valiendo la calificación de 'escritor pequeño-burgués simpatizante de la izquierda' o, a lo sumo, de 'fellow traveler. Me tiene completamente sin cuidado. Prefiero ser eso a ser el señor que escribe todo el día por cuenta del partido h o del partido z.« (M 19: 57) Die Angriffe scheinen Cortázar in seiner Haltung eher zu bestärken. So faßt er seine Position 1977 in einem Gespräch mit Jean Royer in dem Satz zusammen: »Je crois [...] que mon meilleur travail, ma meilleure contribution historique à l'Amérique latine, comme écrivain responsable, c'est de montrer par mes livres qu'un écrivain doit être un homme libre. C'est la manière de l'écrivain de montrer à ses lecteurs qu'eux aussi doivent être des hommes libres. Chacun à sa façon.« (M 43: 110) Schließen wir diese Zusammenfassung mit einem Blick auf zwei Dokumente, welche, im Abstand von mehr als 25 Jahren, das eine den Beginn, das andere das Ende des politischen Wirkens unseres Autors signalisieren. Es handelt sich um den nach der zweiten Kuba-Reise im Mai 1966 an Roberto Fernández Retamar adressierten Offenen Brief »Acerca de la situación del intelectual latinoamericano« (in: Ultimo round, t.II, S. 265ff.) sowie um einen kurzen Text mit dem Titel »Discurso del idiota«, der dem letzten von Cortázar veröffentlichten Buch, Nicaragua tan violentamente dulce (Muschnik Editores, Barcelona 1984) als Einleitung dient. Trotz des zeitlichen Abstandes beider Texte voneinander, ihrer unterschiedlichen Motivation sowie ihrer grundverschiedenen biographischen und (welt-)geschichtlichen Ausgangssituation sind Analogien unverkennbar. Beginnen wir mit dem Text von 1984: Cortázar berichtet, daß ein guter Freund, der chilenische Maler Matta, ihn gelegentlich als »idiota« apostrophiere. Auf die Frage des dergestalt Geschmeichelten antwortet Matta: » T e llamo idiota como lo llamaban al príncipe Mishkin, porque a tí te ocurre como a él, meter el dedo en la llaga con la mayor inocencia, y estás siempre alarmando a la gente porque dices las cosas más impropiadas en cualquier circunstancia, y sólo algunos se dan cuenta de que no eran de ninguna manera inapropiadas. Tú entretanto no entiendes nada de lo que pasa, igual que el príncipe de Dostoievski.'« (Nicaragua, S. 8) Cortázars Liebeserklärung an das Volk von Nicaragua, die Solidaritätsadresse an den tapferen David im Kampf mit dem übermächtigen Goliath aus dem Norden - so der Sinn dieses Vorspanns - ist das Werk eines einzelgängerischen Ästheten. Weitabgewandt, versponnen in metaphysische Probleme, scheint er dem alltäglichen Lauf der Dinge, den Querelen der Tagespolitik gegenüber verständnislos. Hieraus erwächst
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ihm jedoch die Gabe, mit der Sicherheit eines Traumwandlers Wahrheiten von sich zu geben, die der Mehrheit seiner Zeitgenossen verborgen bleiben. Liebenswürdige, sich der literarischen Maske bedienende Selbstironie einerseits, unverhohlenes, im Ethischen begründetes Selbstbewußtsein andererseits verbinden den Text mit dem 25 Jahre zuvor entstandenen. Den Part der Selbstironie übernimmt im Brief an Fernández Retamar eine weitschweifige, verkünstelte Rhetorik, die die zentralen Punkte, die der Verfasser ansprechen will, immer dann, wenn Gefahr besteht, daß sie beim Adressaten auf Widerspruch stoßen, ironisch verklausuliert. Es sind die folgenden: Cortázar definiert die Situation des lateinamerikanischen Intellektuellen allem voraus als ethische. Sein Engagement läßt sich weder aus seiner Situation als Schriftsteller noch viel weniger 'nationalistisch' aus der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk (»Argentinien«) oder einem Erdteil (»Lateinamerika«) ableiten, sondern allein aus der jeden »Menschen guten Willens« (Ultimo round, t.II, S. 266) evidenterweise auszeichnenden Eigenschaft als »moralisches Wesen« (ebd.). - Es ist dies die Eigenschaft, die den Prinzen Mischkin unbeirrt und 'ahnungslos' den Finger auf die Wunde legen läßt... Was er nach der Rückkehr von zwei Kuba-Reisen genauer begriffen habe, läßt Cortázar Fernández Retamar nun wissen, sei ein doppeltes: Zum einen die erwähnte Situation einer ethischen Verantwortung, die dem Schriftsteller aufgetragene Verpflichtung, seinen Beitrag zu leisten für die Verwirklichung einer menschenwürdigen Gesellschaft im Zeichen des »Sozialismus«; zum anderen jedoch die ebenfalls unabweisbare Pflicht, die schriftstellerisch-ästhetische Arbeit im engeren Sinne fortzusetzen, und zwar ohne sie an die durch die Situation politisch-historischer Verantwortung definierte Maxime eigens zuriickzubinden: »A riesgo de decepcionar a los catequistas y a los propugnadores del arte al servicio de las masas, sigo siendo ese cronopio que, como lo decía al comienzo, escribe para su regocijo o su sufrimiento personal, sin la menor concesión, sin obligaciones 'latinoamericanas' o 'socialistas' entendidas como a prioris pragmáticos.« Die ernsten Züge des Prinzen Mischkhin durchzuckt, so scheint es, für einen Augenblick der Schalk eines Cronopiums ... Im gleichen Augenblick jedoch kehrt Cortázar zum Emst des Sozialismus zurück. Mehr noch, er erklärt Fernández Retamar nun ausdrücklich, daß er ebensowenig wie auf das Prinzip der »ästhetischen Freiheit« (ebd.: 275) auf die Problematik der metaphysischen Suche, wie sie Rayuelo beherrscht, Verzicht zu leisten bereit sei. Im Gegenteil: diese - die metaphysische Suche - sei vielleicht eine Brücke »entre el monstruoso error de ser lo que somos como individuos y como pueblos en este siglo, y la entrevisión de un futuro en el que la sociedad humana culminaría por fin en ese arquetipo del que el socialismo da una visión práctica y la poesía una visión espiritual.
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Desde el momento en que tomé conciencia del hecho humano esencial, esa búsqueda representa mi compromiso y mi deber.« (Ebd.: 277) - Prinz Mischkhin, der Metaphysiker, öffnet die Augen und gibt dem Sozialrevolutionär die Hand ... Cortázar hat sich allen Formen parteiamtlicher Bevormundung - sei es, daß sie sich der Argumente eines »sozialistischen Realismus« (vgl. M 29: 36), des »contenidismo« oder des Konzepts der »littérature engagée« ä la Sartre bedienen - zeit seines Lebens entschlossen widersetzt. Mehr noch: dieser Widerstand gilt ihm - wie wir sahen - als die spezifische Weise seines Engagements, als authentischer Beitrag des revolutionären Schriftstellers zu jener Art der Befreiung der Völker, die er - analog zum klassischen Revolutionsmodell einer Befreiung »desde afuera para adentro« (M 48: 11), d.h. der Veränderung gegebener sozio-ökonomischer Strukturen - eine Befreiung »desde adentro para afuera« (ebd.; vgl. M 64: 5; M 87: 85) zu nennen pflegt, d.h. eine Befreiung von innerer Bevormundung durch überkommene Sprach-, Denk- und Ausdrucksschemata. Es ist diese Seite der Befreiung, auf die Cortázar in einem seiner letzten offiziellen Texte, einer anläßlich eines von der Casa de las Américas im September 1981 organisierten Encuentro de intelectuales por la soberanía de los pueblos de nuestra América verfaßten Grußbotschaft, noch einmal zu sprechen kommt: »Estamos hoy seguros«, so fragt er mit Anspielung auf die vielfältigen Formen kultureller Entfremdung, der die Wirklichkeit Lateinamerikas auf der Ebene der Massenmedien, der offiziellen Informationspolitik und Propaganda ausgesetzt ist, »de oponerle en todos los casos un lenguaje político y ético capaz de transmitir ideas nuevas, de transportar una carga mental en la que la imaginación, el desafío, y yo diría incluso y necesariamente la poesía y la belleza, estén presentes como fuerzas positivas e iluminadoras, como detonadores del pensamiento, como puentes de la reflexión a la acción?« (Ai 64: 3) Angesichts der ermüdenden Rhetorik der Funktionäre, deren Beitrag zur Revolution in der monotonen Wiederholung verbrauchter Slogans besteht, gilt es, Intellektuelle und Schriftsteller daran zu erinnern, daß sie sich dazu entschlossen haben, »hacer de la palabra un instrumento de combate« (ebd.: 4). Infolgedessen ist es ihre Aufgabe, Sorge zu tragen, »que esa palabra no se quede atrás frente al avance de la historia, porque sólo así daremos a nuestros pueblos las armas mentales, morales y estéticas sin las cuales ningún armamento físico conduce a una liberación definitiva« (ebd.). Denn - so schließt der Appell - »en este tiempo de mentiras, de engaños y de falsos caminos, bueno es decirlo una vez más: las revoluciones hay que hacerlas en los individuos para que llegado el día las hagan los pueblos« (ebd: 4f.). Die revolutionäre Ethik Cortázars bleibt mithin bis zuletzt - wie die Kantische - in einem wesentlichen Aspekt 'formal'. Dennoch konzidiert er schon im Brief an Fernández Retamar - auch wenn es dabei bleibt, »[que] jamás escribiré expresamente para nadie, minorías o mayorías« (Ultimo round, t.II, S. 278) daß auch sein eigenes
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Schreiben ein »für ...« notwendigerweise impliziere, »una intencionalidad que apunta a esa esperanza de un lector en el que reside ya la semilla del hombre futuro.« (Ebd.) Der schwierigen Aufgabe, die hieraus abzuleiten wäre, eine Art Konvergenzpunkt zu finden zwischen einer dominant ästhetisch ausgerichteten Literatur und einer Art des Schreibens, das dem Imperativ der sozialen Ethik, wie sie sich Cortázar seit 1963 im praktischen Handeln zu eigen macht, Folge leistet, ist er nicht aus dem Wege gegangen. Vorausgesetzt, man respektiert auch auf dieser Ebene das Prinzip der absoluten Freiheit künstlerischer Schöpfung, ist Cortázar sogar bereit, den Begriff des literarischen Engagements zu akzeptieren. So erklärt er 1976: »[...] en estos últimos años he hecho una literatura, esa que se suele llamar comprometida, aunque no me gusta mucho la palabra, pero es una literatura que sin abandonar la belleza, la imaginación, la invención, que para mí son indisolubles de la literatura y necesarias al mismo tiempo, tiene profundamente en cuenta los problemas de la historia contemporánea, nuestra lucha contra el enemigo común: el imperialismo.« (M 41: 24) 1965 erscheint Todos los fuegos el fuego, ein neuer Band mit Erzählungen, der den Rang des Autors der Rayuela als Meister der lateinamerikanischen Kurzgeschichte befestigt. In formaler Hinsicht weisen die Texte auf einige der bewährten Muster der phantastischen Erzählung zurück, wie sie Cortázar seit Final del juego und Las armas secretas virtuos praktiziert: So die schrittweise Metamoiphose scheinbarer Alltäglichkeit - ein Verkehrsstau auf der südfranzösischen »Autoroute du Soleil« - in einen neuen, konventionelle Zeiterfahrungen annullierenden Erfahrungsraum phantastischer Wirklichkeit, der jedoch gleichzeitig - ironischerweise - als zwanghafte "Wiederholung' sozialer Stereotypen erscheint (»La autopista del sur«); so - ähnlich wie in »La noche boca arriba« - die Gleichsetzung von durch Jahrtausende getrennten Kulturweiten, derzufolge eine zwischen einem römischen Prokonsul, seiner Frau sowie einem todgeweihten Gladiator durchgespielte Dreiecksbeziehung und ein alltägliches Beziehungsdrama im Pariser Kleinbürgermilieu ein analoges »Feuer« der Liebe entfachen (»Todos los fuegos el fuego«); so die UnUnterscheidbarkeit - wie in »Continuidad de los parques« - von Realität und Fiktion in dem von Akt zu Akt bedrohlicher werdenden Schauspieler-Engagement des Theaterbesuchers John Howell (»Instrucciones para John Howell«), Eine der insgesamt acht Erzählungen des Bandes sprengt indes den angedeuteten Rahmen. Erzähltechnisch gesehen erscheint »Reunión« an der Seite der übrigen Texte eher als Rückschritt: Ein zunächst nicht näher identifizierbarer Guerillero erzählt im Stile der traditionellen Ich-Erzählung ein für die Fortsetzung des Kampfes bedeutsames Ereignis - die »Vereinigung« seiner Einheit mit dem zeitweise als gefallen gemeldeten Anführer der Guerilla namens Luis. Beiläufig eingestreute Indizien - die Erinnerung des Erzählers an seinen bürgerlichen Beruf als Arzt, seine Gedanken an seinen Sohn, seine Liebe zur klassischen Musik und schließlich sein argentini-
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sches Spanisch, das zu der Art und Weise, wie Luis sich auszudrücken pflegt, offenbar in Opposition steht - lassen die aus dem Vorspann, einem Zitat aus den Tagebüchern des »Che«, abzuleitende Vermutung Gewißheit werden: der Erzähler steht für Che Guevara; das Pseudonym Luis für Fidel Castro. Der Inhalt der Erzählung ist mithin historisch, mehr noch: 'revolutionär'. Er behandelt die Umstände jener nach der Landung der »Granma« für die kubanische Revolution und den schließlichen Sturz des Batista-Regimes entscheidende (Wieder-)Vereinigung der zerstreuten Guerilla-Truppe. Als 'engagierter' Text - der erste, den Cortázar als 'Antwort' auf das DamaskusErlebnis von 1963 verfaßt hat - scheint der vorliegende, gemessen an der oben erörterten Theorie, gleichwohl mißlungen. Treffen auf ihn nicht - allen kritischen Äußerungen Cortázars zum Trotz - genau die Merkmale eines linientreuen »contenidismo« zu? Spiegelt er nicht 'realistisch' - bis hin zur Übernahme der durch die tatsächlich existierenden Tagebücher des »Che« vorgegebene Form der Ich-Erzählung - ein Stück Revolutionsgeschichte? Ist der Autor der Rayuela, der semen Kritikern immer wieder den Satz vorhält, daß Lateinamerika - gleichrangig neben politischen und militärischen Revolutionären - auch der »Che Guevaras der Literatur« (M 49: 152) bedürftig sei, mithin unter die Verfasser revolutionärer Erbauungsbücher gegangen? Es läßt sich zeigen, daß eine solche Argumentation - als Rezeptionshaltung selbst dem Vorurteil des »contenidismo« erliegt und, blind für die die Ebene anekdotischen 'Geschehens' überschreitenden Sinnmöglichkeiten, das spezifische Engagement des Textes übersieht. In einem zwei Jahre später erschienenen theoretischen Text hat Cortázar auf das verbreitete Mißverständnis hingewiesen, der scheinbar "kunstlosen' Erzählstruktur einiger seiner Kurzgeschichten im Vergleich zur experimentellen Schreibweise von Rayuela den Vorrang zu geben bzw. sie - je nach Standpunkt - für ästhetisch minderrangig zu erklären. Das ästhetische Moment dieser Texte - so argumentiert Cortázar liegt hier auf der Ebene der Fabel selbst, nicht - wie vielfach in Rayuela - im 'diskursiven' Beiwerk von die Handlung suspendierenden Reflexionen bzw. dem avantgardistischen Spiel mit der narrativen Form als solcher: »[...] bien o mal escritas, son en su mayoría de la misma estofa que mis novelas, aperturas sobre el extrañamiento, instancias de una descolocación desde la cual lo sólito cesa de ser tranquilizador porque nada es sólito apenas se lo somete a un escrutinio sigiloso y sostenido.« (»Volviendo a Eugenie Grandet«, in: Vuelta al día, t.I, S. 41) Das spezifische »Staunen« - sein Engagement mithin -, als dessen Vehikel der Text, gemessen an diesem Kriterium, bei Autor und Leser in gleicher Weise fungiert, gilt nicht der Vergangenheit der Revolution, sondern ihrer Zukunft: »Reunión« - das ist, bildlich gesprochen, eine vielschichtige Sinn-Pyramide. Eine ihrer Ebenen - keineswegs die unterste oder gar ihre einzige - ist die historische Begegnung Che Gue-
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varas mit Fidel Castro in der Sierra Maestra. Dank des literarischen Textes wird das einmalige historische Ereignis jedoch zum Träger vielfacher Bedeutungen, deren historische Realisierungen dem Ereignis selbst ebensowohl vor- wie auch nachgeordnet erscheinen. Antizipierend und rekapitulierend zugleich entfaltet die »Vereinigung« ein historisches Sinnpotential, in welchem Cortázars spezifische Konzeption der (Revolutions-) Geschichte, sein eigenes Engagiertsein im Hinblick auf die Geschichte der (kubanischen) Revolution bzw. die Revolution der Geschichte im allgemeinen exemplarisch zur Geltung gelangt: Der symbolische Sinnträger, der das Ereignis - die »Vereinigung« - überlagert sowie darüberhinaus die Inbeziehungsetzung von Vergangenheit und Zukunft ermöglicht, ist die Musik. Analog zu Elementen des Che Guevara-Mythos, der diesen, Themen klassischer Musik auf den Lippen und zerlesene Klassikerausgaben in den Jackentaschen, Batistas Soldaten die Stim bieten läßt, summt auch Cortázars Ich-Erzähler, während er in den qualvollen Stunden des Wartens auf Luis an seinen Sohn denkt, seine ehemaligen Freunde sowie die fernen Ziele der Revolution, das Leitthema eines Mozartschen Streichquartetts vor sich hin, und zwar das Halali-Motiv aus dem 1. Satz des sogenannten Jagdquartetts, »esa trasposición de una ceremonia salvaje a un claro goce pensativo« (Todos los Fuegos, S. 74). Die im Eingangsthema angedeutete Sinngeste wird durch die Makro-Struktur der vier Sätze breit entfaltet. So fragt er sich schließlich, »si algún día sabremos pasar del movimiento donde todavía suena el halalí del cazador, a la conquistada plenitud del adagio y de ahí al allegro final que me canturreo con un hilo de voz, si seremos capaces de alcanzar la reconciliación con todo lo que haya quedado vivo frente a nosotros« (ebd.: 75). Nun ist es die Gestalt des Guerilla-Führers selbst, die an dieser Stelle der Reflexion den Sinnimpuls der musikalischen Revolutionsmetapher überleitet in das religiös strukturierte Bildfeld einer umfassenden Geschichtsutopie: »Tendríamos que ser como Luis, no ya seguirlo sino ser como él, dejar atrás inapelablemente el odio y la venganza, mirar al enemigo como lo mira Luis, con una implacable magnanimidad que tantas veces ha suscitado en mi memoria (pero esto, ¿cómo decírselo a nadie?) una imagen de pantocrátor, un juez que empieza por ser el acusado y el testigo y que no juzga, que simplemente separa las tierras de las aguas para que al final, alguna vez, nazca una patria de hombres en un amanecer tembloroso, a orillas de un tiempo más limpio.« (Ebd.: 75f.) Erstes Beispiel eines engagierten Textes bringt »Reunión« ein wesentliches Merkmal des Cortázarschen Engagements bereits klar zur Geltung: Weder ist der engagierte Text der Versuch 'realistischer' Widerspiegelung einer vorgegebenen Realität noch ist er lediglich rhetorisches Sprachrohr einer offiziellen - nicht weniger vorgegebenen - Ideologie. Das ideologische Moment, das Cortázar dem engagierten Text zuerkennt, besteht vielmehr in der spezifischen Weise, in der Cortázar seine
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eigene Konzeption von Verantwortung vor der Geschichte artikuliert. Diese kommt im vorliegenden Fall im Umstand zur Geltung, daß der Text am Ende - nachdem die »Vereinigung« der beiden Guerilleros vollzogen und die Handlung, insofern sie die Wiedergabe eines historischen Ereignisses ist, an ihr 'Ende' gelangt ist - abermals zum ästhetischen Bildfeld der musikalischen Metaphorik zurückkehrt und der Handlung damit eine in die Geschichte vorweisende, mithin unabgeschlossene und utopische Bedeutung verleiht: Mozarts Streichquartett enthält für Che Guevara ein revolutionäres Sinn-Versprechen, als dessen historischer Garant Fidel Castro erscheint: »[...] sobre todo hablamos del futuro, de lo que iba a empezar cuando llegara el día en que tuviéramos que pasar del fusil al despacho con teléfonos, de la sierra a la ciudad, y yo me acordé de los cuernos de caza y estuve a punto de decirle a Luis lo que había pensado aquella noche, nada más que para hacerlo reír. Al final no le dije nada, pero sentía que estábamos entrando en el adagio del cuarteto, en una precaria plenitud de pocas horas que sin embargo era una certidumbre, un signo que no olvidaríamos. Cuántos cuernos de caza esperaban todavía, cuántos de nosotros dejaríamos los huesos como Roque, como Tinti, como el Peruano. Pero bastaba mirar la copa del árbol para sentir que la voluntad ordenaba otra vez su caos, le imponía el dibujo del adagio que alguna vez ingresaría en el allegro final, accedería a una realidad digna de ese nombre.« (Ebd.: 85f.) Während Luis - nun nicht mehr Pantokrator, sondern mit beiden Beinen im Kampf stehender Guerilla-Führer - die Fäden der internationalen Politik zu spinnen versucht, verliert sich der Erzähler immer mehr in einen inneren Phantasie-Monolog, dessen langgezogene Klimax dem Mozartschen Allegro Finale in mehrfacher Weise kookkurriert: »[...] yo veía cómo las hojas y las ramas se plegaban poco a poco a mi deseo, eran mi melodía, la melodía de Luis que seguía hablando ajeno a mi fantaseo, y después vi inscribirse una estrella en el centro del dibujo, y era una estrella pequeña y muy azul, y aunque no sé nada de astronomía y no hubiera podido decir si era una estrella o un planeta, en cambio me sentí seguro de que no era Marte ni Mercurio, brillaba demasiado en el centro del adagio, demasiado en el centro de las palabras de Luis como para que alguien pudiera confundirla con Marte o con Mercurio.« (Ebd.: 86) Als Pablo Neruda 1971 in Stockholm den Nobelpreis entgegennimmt, überreicht ihm eine Gruppe von in Stockholm ansässigen Exilspaniem ein aus rotem Plüsch gefertigtes Cronopium. Wenige Tage später erhält Julio in Paris ein kleines Paket, das ein in authentischem Grün gearbeitetes Exemplar der gleichen Gattung enthält. Dem Püppchen liegt ein Zettel bei, auf dem in Pablos großen Lettern zu lesen steht: »¡CRONOPIOS DE TODOS LOS PAISES, UNÍOS! CONTRA LOS TONTOS,
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LOS DOGMÁTICOS, LOS SINIESTROS, LOS ACURRUCADOS, LOS IMPLACABLES. CRONOPIOS. ¡DE FRENTE, MARCHEN!« (M 27: 3) Die Geste ist gewiß auch Ausdruck momentaner Euphorie: In Chile regiert Allende. Der parlamentarische Sieg der Volksfront scheint die Skeptiker zu widerlegen. »SEAN REALISTAS: PIDAN LO IMPOSIBLE« (Ultimo round, t.I, S. 98), hatten Optimisten 1968 an die Wände der Sorbonne gemalt. Die Geschichte auf der anderen Seite des Globus scheint ihnen Recht zu geben, post-festum ... Gleichzeitig mobilisiert der blutige, militärisch sinnlose Krieg der Amerikaner in Vietnam eine bunte internationale Protestbewegung von bisher unbekanntem Ausmaß. So erscheint die Verleihung des Nobelpreises an den Präsidentschaftskandidaten der Kommunistischen Partei Chiles - zugleich der bedeutendste Lyriker des Kontinents - nur als folgerichtiger Schritt: Die Möglichkeit einer friedlichen Koalition von Geist und Macht, Kultur und sozialem Fortschritt, Imagination und Vernunft - ja auch von KünstlerSein und Proletarier-Existenz - scheint den Himmel Utopias zu verlassen und die Erde einer neuen Wirklichkeit zu berühren. Cortázar ist an der Entstehung der Euphorie seit Jahren beteiligt. »Reunión«, der erste »engagierte« Text Cortázars, insbesondere die unerwartete Klimax seines Schlusses - das Mozartsche Allegro Finale, mit welchem der Erzähler sich aus der eben noch vollzogenen »Vereinigung« mit Luis, dem Pantokrator der Revolution, dank imaginativer Kräfte in Richtung auf eine weiterhin ausstehende utopische Zukunft wieder zurückzieht - verdeutlicht, auf welche Weise der oben erläuterte, lediglich formale Begriff geschichtlicher Verantwortung, inhaltlich zu füllen ist: Der für die Revolution engagierte Künstler - repräsentiert durch den Erzähler bzw. den 'Ästheten' Che Guevara - ist Träger einer eigenen, und zwar inhaltlichen Vision der Revolution; sein Verhältnis zu den eigentlichen politischen Führern - im Text der »Pantokrator« Luis bzw. Fidel Castro - ist dasjenige freundschaftlicher Spannung. Realitätsbezogen, aufgehend im Engagement für die Bewältigung aktueller, gegenwärtiger Aufgaben, bleibt Luis dem phantastischen Allegro Finale gegenüber, das sich im Kopfe seines Freundes abspielt, 'fremd': Revolutionäre Tat sui generis, vollbringt die momentane 'Abwesenheit' des Erzählers jedoch die für die Realisierung der 'eigentlichen' Revolution entscheidende Leistung: Im Antizipieren utopischer Zukunft bezieht sie sich gleichzeitig auf die Vergangenheit. Der Grund der Ermöglichung dieser 'Vereinigung' - wie sie in allen historischen Revolutionen angestrebt ist - ist die ästhetische Figur des Allegro Finale. Cortázars Glaube an diese historische Funktion der Künstler - und d.h. der Cronopien - im Rahmen revolutionärer Prozesse ist unverbrüchlich. So erinnert er sich 1978: »On one of my trips to Cuba 10 years ago I met some 'guerrilleros'. I didn't really meet them because the room was kept so dark I could only see their hands. But they told me that when they were in the jungles of Venezuela, when they were
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trying to recover from their exhaustion, they liked to read from my book, Cronopios y Famas. They didn't read Lenin or Marx: they read these stories, which are mainly fantasies. I was very moved when they told me that. It was the same with Che Guevara: he didn't carry Das Kapital in his pocket. He had a copy of Neruda's Canto General with him.« (M 35: 20)
6.2. Chronik einer Affäre 1968 - wenige Monate, bevor die Querelen des kubanischen Schriftstellerverbandes mit dem Außenseiter Heberto Padilla die Dimensionen einer internationalen Affäre anzunehmen begannen und die ideologische Einheit der linken Intellektuellen in aller Welt in zwei unversöhnliche Lager spaltet - erscheint Cortázars dritter Roman: 62. Modelo para armar - ein 'unpolitisches' Werk par excellence, ausgehend von einer brillanten naturwissenschaftlich-literarischen Spekulation, die dem avantgardistischen Morelli im 62. Kapitel von Rayuela in den Mund gelegt wird, eine esoterisch-ironische Spiegelfechterei mit Wörtern, Anagrammen, kulturellen und sexuellen Stereotypen, in deren Verlauf Personen und Protagonisten von Heisch und Blut zu Exponenten und Bedeutungskörpern geheimnisvoller Figuren zu werden beginnen, die der Konventionalität von Zeit und Raum - und damit aller gewöhnlichen Erfahrbarkeit des 'Humanen' - Hohn sprechen. Unser Versuch, die Position, die Cortázar in den einzelnen Phasen der Padilla-Affäre eingenommen hat, zu erläutern und ihre Widersprüche verständlich zu machen, steht vor einem Problem, das dem Versuch eines Lesers von 62, die eigentliche Motivation des Handelns des Protagonisten Juan zu ergründen, in gewisser Weise analog ist: Hier wie dort präsentiert sich Realität als »coágulo«, als Amalgam verschiedenartiger, durch die Logik des Anagramms aufeinander bezogener Texte. Während hier jedoch - im Roman! - das textuelle Geschehen der Bedeutungsgenerierung die das menschliche Handeln bedingende Figur immer wieder dekonstruiert, manifestiert sich in den Stellungnahmen Cortázars im Verlauf der Affäre - so scheint es - ein klar umrissenes Modell politischen Handelns: verleitet durch die zu 'Entscheidungen' nötigende Pragmatik der politischen Konstellation, scheint sich Cortázar, indem er gegen den Strom der Mehrzahl der europäischen und - im Exil befindlichen - lateinamerikanischen Intellektuellen schwimmt und die Unterschrift unter den zweiten Protestbrief an Castro verweigert, auf die arbiträre Position eines irrationalen Verteidigers eines diktatorischen Regimes zurückzuziehen: »Sólo más tarde, al leer El libro de Manuel [sie!] y obras que le siguieron, comprobamos con tristeza que su autor era realmente el cronopio cuya lectura nos deslumhrara quince años antes: desdichadamente para él y para todos, su conversión fulgurante y tardía a la lucha política había coincidido con el eclipse precoz de su anterior y excepcional gracia literaria.« (M 61: 23)
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Es liegt nahe, Goytisolos Kommentar, in welchem Arroganz und Ressentiment im trivialen Schmuck spanischer Rhetorik als intellektuelle Biedermeier erscheinen und der einstmals bewunderte »Autor der Rayuela« (M 61: 18) zum schreibenden Kammerdiener Fidel Castros degradiert wird - obwohl 1983 (!) erschienen -, lediglich als ein weiteres zeitgenössisches Dokument jener Haltung schulmeisterlicher Arroganz ad acta zu legen, mit der europäische und lateinamerikanische Intellektuelle auf die seitens des kubanischen Schriftstellerverbandes und der Armee gegen den Dichter Padilla entfachte Polemik, seine vierwöchige Inhaftierung und schließliche öffentliche Selbstkritik antworteten. Der Versuch indessen, den Vorwurf zynischer Liebedienerei, den Goytisolo im Rahmen seines manichäischen Denkschemas, das sowohl die marxistischen Eiferer in Kuba als auch ihre Gegner in Europa beherrscht, zu entkräften, läuft Gefahr, Cortázars eigentliches Anliegen - sein (zugegebenermaßen) utopisches Engagement für eine von den Manichäismen beider Seiten gleich weit entfernte Figur politischen Handelns - apologetisch mißzuverstehen. Geben wir deshalb der Chronologie der Fakten zunächst den Vorrang. 1967: Heberto Padilla nimmt polemisch Stellung zu einem vom kubanischen Schriftstellerverband (UNEAC) angeführten öffentlichen Meinungsstreit über den literarischen Wert des von Guillermo Cabrera Infante - der seine Kritik am offiziellen Kurs der kubanischen Revolution in den letzten Monaten immer mehr akzentuiert hat - im gleichen Jahr veröffentlichten Romans Tres tristes tigres. Es geht insbesondere um den Vergleich des Romans mit dem Werk eines hohen kubanischen Kulturfunktionärs - Lisandro Otero -, das von der UNEAC favorisiert wird. Die Intervention zugunsten Cabreras macht Padilla nun seinerseits zur Zielscheibe offizieller Kritik, als deren Sprachrohr die Kulturzeitschrift El Caimán Barbudo fungiert. Padilla antwortet, indem er die Debatte auf eine grundsätzlichere Ebene verlagert und zu Felde zieht »contra las falsas jerarquías establecidas a partir del ángulo de flexión de la espina dorsal del escritor, su edad y los cargos desempeñados en el gobierno«; in Kuba, so schließt er, »se da el caso de que un simple escritor no puede criticar a un novelista vicepresidente sin sufrir los ataques del cuentista-director y los poetas-redactores parapetados detrás de esa genérica, la redacción.«. (M 61: 15) 1968: Das ideologische Scharmützel zwischen Padilla und UNEAC weitet sich zur politischen Affare, als Cabrera Infante im August anläßlich eines Interviews mit der argentinischen Wochenzeitschrift Primera Plana seinen definitiven Bruch mit der kubanischen Revolution verkündet. Padilla distanziert sich mit einem Leserbrief an Primera Plana zwar von der politischen Seite seines Schritts, hält am ästhetischen Urteil über Cabreras Roman jedoch unverändert fest. Zwei Monate später gerät Padilla nun selbst ins Rampenlicht, als eine unabhängige, von der UNEAC berufene Jury, zu deren Mitglieder José Lezama Lima, J.M. Cohen, José Z. Teller und Dias
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Martínez gehören (vgl. M 36), Padilla für sein Buch Fuera del Juego den jährlich ausgeschriebenen nationalen Poesiepreis zuerkennt. Die UNEAC reagiert mit einer für die offizielle Kulturpolitik typischen Geste der Ambivalenz: Padillas Buch wird mit staatlichen Mitteln gedruckt, erscheint jedoch versehen mit einem vom Schriftstellerverband verfaßten Vorwort, in welchem die Person des Dichters und der Inhalt seiner Poesie als »konterrevolutionär« eingestuft und verurteilt werden. Der Fall hat jedoch die Grenzen der reinen Kulturpolitik bereits überschritten: Im Oktober erscheint in der kubanischen Armeezeitschrift Verde Olivo ein Artikel, der Padilla der Zugehörigkeit zu einer Gruppe sog. konterrevolutionärer Schriftsteller bezichtigt, der seitens der offiziellen Kritik Delikte wie »Sensationsgier«. »Pornographie« sowie die Verherrlichung »modischen Ideenguts« zur Last gelegt wird. Ein kurze Zeit später in Le Monde erscheinender Korrespondentenbericht verleiht der Affäre zusätzliche internationale Resonanz. (Vgl. M 61: 15) Der Bericht in Le Monde ruft zum ersten Mal eine Reaktion der Intellektuellen in Europa auf den Plan. Ihre Bitte um Information wird von Haydée Santamaría, der Leiterin der Casa de las Américas, mit einer brüsken dogmatischen Zurückweisung beantwortet, in der allen nicht in Kuba ansässigen Intellektuellen jedes Urteilsvermögen über inneikubanische Vorgänge abgesprochen wird. Das Telegramm endet mit der Versicherung, »[que] la Revolución cubana, y la directora de Casa de las Américas estará siempre como quiso el Che: con los fusiles preparados y tirando cañonazos a la redonda« (M 61: 17). 1969\ Das Erscheinen der französischen Übersetzung von Fuera del Juego, versehen mit dem provokativen Werbespruch »Peut-on être poète à Cuba?«, ist Anlaß für eine erste Intervention Cortázars: In seiner Ausgabe vom 7. bis 13. April veröffentlicht der Nouvel Observateur das Vorwort der UNEAC, eine hierauf bezogene Stellungnahme Cortázars sowie zwei repräsentative Gedichte der Sammlung. Es ist unverzeihlich - wenn auch für die tendenziöse Absicht seines Artikels nicht unverständlich -, daß Goytisolo die Stellungnahme Cortázars gänzlich unterschlägt. Die erste Intervention eines nicht-kubanischen Intellektuellen von Rang enthält nicht nur - noch vor Beginn der eigentlichen Konfrontation - den ersten (und einzigen!) Versuch, zwischen den Lagern, die ihre Stellungen zu beziehen beginnen, zu vermitteln; der Text im Nouvel Observateur enthält zugleich die klarste und ausgewogenste Stellungnahme Cortázars selbst zur Affäre. Sie beginnt mit einer kritischen Bezugnahme auf den suggestiven Werbespruch und beantwortet die rhetorische Frage, ob man Dichter sein könne in Kuba, - im Hinblick sowohl auf »les liens que j'entretiens depuis très longtemps avec les dirigeants el les intellectuels de là-bas« als auch vor allem »la grande amitié que je porte à Heberto Padilla« - mit einem entschiedenen »Oui«. (M 66: 6) Mit dieser Ehrenbezeugung bringt Cortázar sich allerdings in Argumentationszwang - gegenüber beiden Lagern. Hierauf ist die Überschrift seiner Intervention be-
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zogen: »Weder Verräter noch Märtyrer« ist Padilla in den Augen Cortázars vielmehr eine mit beiden Beinen innerhalb des revolutionären Prozesses stehende Gestalt, deren kritische Dichtung - da sie die unvermeidliche Jugendsünde einer jeden Revolution, das von Fidel Castro selbst angeprangerte »Sektierertum« aufs Korn nimmt statt »konterrevolutionär« vielmehr »hyperrevolutionär« genannt zu werden verdiene (vgl. ebd.: 7). Mit Nachdruck unterstreicht Cortázar ferner das Padilla wie jedem revolutionären Intellektuellen zustehende »Recht auf unbehinderte Kritik« sowie freie Entfaltung seiner Individualität und weist die seitens der Funktionäre immer wieder erhobene Forderung nach Darstellung revolutionärer Inhalte (»contenidismo«) mit einem Che Guevara-Zitat über die Trivialität des ästhetischen Konzepts des »sozialistischen Realismus« zurück. So bleibt am Ende kein einziger der von der UNEAC inkriminierten Punkte mehr übrig, und Cortázar vollzieht den Schritt von der einleitenden Freundschaftsbezeugung gegenüber Padilla hin zu einer offenen Identifizierung: »Sans doute Padilla n'est pas cet homme nouveau en qui les révolutions fondent leurs espoirs. A cheval sur deux époques, affublé d'un passé qu'on n'enlève pas comme une chemise, il ne peut éviter d'être heurté ou offensé là où des hommes plus jeunes apportent leur adhésion complète. Comme moi, comme tant d'autres. Padilla est condamné à rester en partie Tiors jeu'.« (Ai 66: 7; Hervorh. W.B.B.) In der Tat, vor diesem Revolutionstribunal - nicht demjenigen des Pantokrators Fidel Castro, sondern des revolutionären Visionärs Che Guevara, wie wir es in »Reunión« kennengelernt haben (vgl. 1,6.1.) - ist Padilla in allen Punkten von der Anklage des Revolutions-»Verrats« freizusprechen. Andererseits - und dies ist die unmittelbare Konsequenz dieser Argumentation - sind auch diejenigen im Unrecht, »qui tendront à conférer Padilla une couronne de martyr« (Ai 66: 8). Seine Probleme sind an Bedeutung nicht denen überlegen, denen sich andere engagierte Schriftsteller im Rahmen des revolutionären Prozesses ebenfalls ausgesetzt sehen: »Les intellectuels cubains sont les premiers à savoir qu'il n'y a plus de tour d'ivoire et faire ce genre de travail leur paraît aussi naturel que de suivre leur propre vocation [...] Bien entendu, il leur arrive qu'ils se fassent accuser d'extravagance, de méconnaissance de la réalité, d'hyperintellectualisme ou de ludisme esthétique, mais cela tire rarement à conséquence.« (Ebd.) Die Kompromißformel, die Cortázars Stellungnahme vorschlägt, wird von keinem der beiden Lager verstanden. Sie nötigt den Intellektuellen zu einer Art von Engagement, wie es in »Reunión« exemplarisch vorgezeichnet war, einem grundsätzlichen Vertrauen in den zukünftigen Gang der revolutionären Entwicklung, das die Bereitschaft impliziert, subjektive Erwartungen zu reduzieren sowie momentane Frustrationen zu ertragen. Von den kubanischen Revolutionären fordert es entsprechend, sektiererische Grabenkämpfe zu beenden, ideologische Rechthabereien zu überwinden
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und die Toleranzschwelle gegenüber Außenseitern herabzusetzen. Daß die Botschaft Cortázars ungehört und unbefolgt geblieben ist, hat indessen seinen Grund noch in einem zusätzlichen Faktor, durch welchen die Affäre in die Gefahr gerät, den Protagonisten teilweise ganz aus den Händen zu geraten und sich zu verselbständigen: Sie wird zu einer Affäre der internationalen Massenmedien. Auch dieses Phänomen läßt sich anläßlich des Nouvel Observateur-Artikels genau beobachten: Schon die dualistische Aufmachung des Artikels in »L'accusation« (= Vorwort der UNEAC) und »La défense« (= Stellungnahme Cortázars) läßt die 'Kompromißformel', den die Extreme vermeidenden 'dritten Weg', der den Inhalt der Stellungnahme Cortázars bildet, nicht mehr erkennen. Die Aufmachung fügt letztere vielmehr dem manichäischen Denkschema, das die Lager hüben w ie drüben beherrscht, nahtlos ein. In einem Interview 1973 in Lima behauptet Cortázar zudem, die Redaktion des Nouvel Observateur habe die ursprüngliche Fassung seiner Stellungnahme um die Passagen gekürzt, die sich kritisch mit Padillas Haltung als Revolutionär auseinandergesetzt hätten: »Pese a creer que fue inútil su arresto, sigo pensando que él cometió una grave equivocación al decirse revolucionario (y creo que lo es) y, al mismo tiempo, seguir exigiendo el tratamiento de favor del intelectual. Esa especie de 'estatuto del intelectual' no encaja en la marcha común de su pueblo.« (Ai 47: 18) Die Nichterwähnung der taktischen Fehler Padillas, auf die Cortázar hier anspielt auf welche sogar Juan Goytisolos Darstellung mehrfach zu sprechen kommt! -, trägt natürlich zur Vereinseitigung der Botschaft nicht unwesentlich bei: Für die europäische Öffentlichkeit - und natürlich auch die offizielle kubanische! - gilt Cortázar aufgrund seiner Stellungnahme im Nouvel Observateur fortan als 'Sprecher' der 'Intellektuellen'. Dies erklärt, daß er zu einem bestimmten Zeitpunkt im weiteren Verlauf der Affäre ein deutliches Signal setzen mußte, um seine eigene Position zu markieren. 1971:
Zweieinhalb Jahre nach diesen Ereignissen (am 20. März!) wird Padilla überraschend auf persönliche Anordnung Fidel Castros verhaftet (vgl. M 68: 1). Noch im Januar des gleichen Jahres war Cortázar in Begleitung Mario Vargas Llosas als Mitglied des Redaktionskommitées der Casa de las Américas Gast der Kubaner (vgl. M 61: 17). Die Nachricht von der Verhaftung wirkt auf den Padilla-Freundeskreis in Paris elektrisierend. Man glaubt sich zu solidarischem Handeln verpflichtet und richtet, da die Verhaftung ohne Angabe näherer Gründe geschieht und lediglich das allgemeine, bereits bekannte Argument der »konterrevolutionären Aktivität« wiederholt wird, ein kurzes, in ernstem Ton verfaßtes, jedoch weiterhin distanzierte Hochachtung vor dem Adressaten sowie engagierte Sorge um die Fortführung der Revolution signalisierendes Schreiben an den Ministerpräsidenten und bittet um Information. Als Redakteure des Briefes fungieren Cortázar und Juan Goytisolo. (Vgl. M 61: 18) Soweit erreichbar
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unterzeichnet die große Mehrheit der lateinamerikanischen und europäischen Schriftsteller - ausnahmslos solche, die sich bis zur Stunde mit der kubanischen Revolution solidarisch erklärt hatten, unter ihnen H.M. Enzensberger, C. Fuentes, O. Paz, J.-P. Sartre, M. Vargas Llosa und G. García Márquez. Daß letzterer aus opportunistischen Gründen »gekniffen« (ebd.) habe, ist eine Behauptung Goytisolos von 1983. Sie steht im Widerspruch zur Veröffentlichung des Briefes in der Ausgabe von Le Monde vom 9.4.1971, in der García Márquez in der Unterzeichnerliste aufgeführt ist. Bestrebt, jede Dramatisierung zu vermeiden, verzögern die Verfasser zunächst die Veröffentlichung des Schreibens, um Fidel Castro Gelegenheit zu geben, die erbetenen Informationen nachzuliefern. Erst als nach mehreren Wochen jede Reaktion aus La Habana ausbleibt und Castro mit Anspielungen auf die Affäre anläßlich einer Rede vor kubanischen Studenten lediglich verlauten läßt, »que les réactions internationales provoquées par l'affaire Padiller [sic!] permettraient à la révolution cubaine d'établir la distinction entre ses vrais amis et les amis qui pour être reconnus comme tels, posent des conditions« (Ai 68: 1), wird der Brief in Le Monde publiziert. Die ernste Warnung des Briefes vor den negativen Folgen, die ein Umsichgreifen »de méthodes répressives contre des intellectuels et écrivains qui ont exercé le droit de critique dans la révolution« (ebd.) für die internationale Anti-Imperialismus-Bewegung nach sich ziehen werde, bleibt ungehört. Doch die Affäre befindet sich immer noch erst in der Exposition. Die Durchführung mit ihrem abrupten Wechsel der Tonarten und Stimmen ist kurz und endet - was Cortázar angeht - mit einem schrillen Schlußakkord, einer Policrítica a la hora de los chacales. Der von Fidel Castro vorausgesagte Effekt tritt ein: Das Orchester bricht auseinander; viele der Musiker suchen ein neues Engagement. Im einzelnen: Am 28.4. - drei Wochen nachdem der sogenannte »erste Brief« in Le Monde veröffentlicht wird - erscheint die Meldung von Padillas Freilassung aus der Haft nach vorangegangener Selbstkritik. (M 68: 2) Den Text der Selbstkritik hat Padilla im Gefängnis verfaßt, mit Datum vom 5. April an die Regierung gesandt und am 27. April einen Tag vor seiner endgültigen Entlassung - vor einem Auditorium von etwa hundert Mitgliedern der UNEAC öffentlich vorgetragen. (Vgl. M 68: 5) Die tags darauf veröffentlichten Auszüge aus dieser Erklärung beschwören nach Ton, Stil und Inkongruenz mit den bisher bekannten Persönlichkeitsmerkmalen des Dichters schlimmste Assoziationen an stalinistische Schauprozesse herauf. Noch bevor den 'europäischen' Intellektuellen Zeit bleibt zum Atemholen oder gar zum Formulieren einer Stellungnahme, bedient sich der »Lidér Máximo« der Abschlußsitzung des Nationalen Kongresses für Bildung und Kultur, um seinerseits einen groben Schlußstrich unter die Affaire zu setzen: »Vous, intellectuels bourgeois; vous, agents de la C.I.A, on ne veut pas de vous à Cuba. Il n'y a pas de place à Cuba pour vous, pas plus qu'il n'y a de place pour U.P.I. et A.P. [...] Cuba n'a pas besoin de ces gauchisants sans vergogne, de ces
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Latino-Américains sans vergogne qui vivent à Paris, à Londres, à Rome, loin de la bataille. [...] Les libéraux bourgeois sont en guerre avec nous. Cela est une bonne nouvelle. Ils vont être démasqués, ils vont être mis tout nus. [...] Seuls les véritables révolutionnaires auront droit désormais aux prix littéraires cubains ou internationaux et pourront siéger dans des jurys.« (Ai 68: 6) Die Angesprochenen und solchermaßen Beschimpften setzen auf den groben Klotz einen gröberen Keil. Der fieberhaft und übereilt (am 4. April) in der Wohnung Vargas Llosas verfaßte sog. »Brief der 61« - »en vez de analizar punto por punto la acumulación de opciones regresivas que en los últimos años habían transformado la Revolución cubana en un sistema represivo y totalitario« (J. Goytisolo! vgl. M 61: 20) konzentriert sich ganz auf das lamentable Schaustück der UNEAC und identifiziert polemisch, ohne wirkliche Kenntnis der Vorgänge, ohne den Protagonisten (Padilla selbst) zu befragen, die Stalinismus-Hypothese mit der Wirklichkeit: »Avec la même véhémence que celle qui fut la nôtre pour défendre, dès le premier jour, la révolution cubaine qui nous paraissait exemplaire dans son respect de l'être humain et dans sa lutte pour sa libération, nous vous exhortons à épargner à Cuba l'obscurantisme dogmatique, la xénophobie culturelle et le système répressif qu'imposa le stalinisme dans les pays socialistes et dont des événements similaires à ceux qui sont en train de se passer à Cuba ont été les manifestations flagrantes.« (Ai 68: 7) Keiner der Verfasser, so berichtet J. Goytisolo, machte sich über den performativen Effekt des Schreibens die geringsten Illusionen. (M 61: 21) Umso mehr befremdet es, daß die Weigerung Cortázars, diese plane Projektion eines akademischen Revolutions-Ideals auf die Wirklichkeit einer Revolution in der Dritten Welt zu unterschreiben, Erstaunen hervorruft. Der »Brief der 61«, der am 22. Mai in Le Monde veröffentlicht wird, besiegelt die Verhärtung der Fronten, den manichäischen Rückzug in dogmatische Stereotypen, den Cortázar von Anfang an befürchtet und dem er mit seiner Stellungnahme im Nouvel Observateur zuvorzukommen suchte (vgl. M 47: 18). Daß die Eskalation nicht nur zu Lasten der 'Europäer' geht, sondern bedingt durch politische Gründe und Konstellationen, in denen die Affäre um Padilla nur die Rolle eines Faktors unter vielen spielt - ebensowohl Ausdruck ist eines taktischen Kalküls der kubanischen Führung, hat Cortázar klar gesehen. Seine Nichtübereinstimmung sowohl mit der allgemeinen politischen Zielsetzung als auch vor allem mit den hieraus abgeleiteten Methoden ihrer Durchsetzung kommt im Nouvel Observateur-Artikel ebenso wie im »ersten Brief« an Fidel Castro, dessen sachlich argumentierende, zu Räson und Mäßigung mahnende Sprache die Handschrift Cortázars deutlich erkennen läßt, überzeugend zum Ausdruck. Mit der Nichtunterzeichnung des »Briefes der 61« setzt sich Cortázar mithin bewußt zwischen zwei Stühle. Er entfernt sich von der bisher unterstützten Linie der 'Europäer', ohne deshalb der Zustimmung
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der Kubaner gewiß sein zu können, denn die Absage des »Lider Máximo« an die »señores intelectuales burgueses« und die »seudoizquierdistas« (M 61: 20) gilt den Unterzeichnern des »ersten Briefes« als Gruppe, also auch Cortázar selbst. Cortázars Haltung, sein unbeirrtes Festhalten an der Möglichkeit eines 'dritten Weges', ist deshalb nur verständlich als Ausdruck eines - wiederum - nicht politisch motivierten, sondern eines moralischen Engagements: Es gilt der allgemeinen, historischen Option des kubanischen Volkes für eine menschenwürdige Zukunft. Wir sind der utopischen Hoffnung auf eine in der Zukunft liegende Realisierung des revolutionären Projekts zum ersten Mal in »Reunión« begegnet. Cortázars Haltung in der Schlußphase der Padilla-Affäre schöpft aus der gleichen Quelle. Die »paternalistische« (M 47: 18) und »pedantische« (M 40: 2) Attitüde des zweiten Briefes dagegen enthält in der berechtigten Kritik an den exekutiven Maßnahmen der kubanischen Führung gegenüber dem vermeintlichen Dissidenten - Cortázar hat dieser Seite des Briefes bei späteren Stellungnahmen immer wieder zugestimmt! - sowie der voreiligen Gleichsetzung der Vorgänge mit stalinistischen Praktiken eine defätistische Absage an die revolutionäre Wirklichkeit Kubas im allgemeinen. Sie entspricht der Haltung jener »Revolutions-Touristen« (H.M. Enzensberger, vgl. M 61: 15), die die Enttäuschung der abstrakten Revolutions-Mee durch deren Realisierung in einer konkreten Gesellschaft - und die damit notwendig ausgelösten Konflikte - nicht ertragen: »Desde sus despachos o estudios, en París, estaban fascinados por la existencia de una Revolución que, por fin, les confería una especie de paraíso a la distancia. Cuando ocurre un episodio que muestra evidentemente que en ese paraíso hay problemas, a esa gente se le cae el mundo, lo cual prueba su estupidez y su ingenuidad. Actuaron así en vez de darse cuenta de que la Revolución Cubana es una revolución hecha en el Tercer Mundo, por un país subdesarrollado que sufrió el peor bloqueo de la historia, y que, como cualquier revolución, padece tropezones. Yo desconfiaría de la Revolución Cubana si fuera perfecta. La perfección me huele a asepsia, me huele a que algo no anda bien. La perfección no es una ley humana. Entonces, a esos altibajos de la Revolución Cubana, en vez de entenderlos como había que entenderlos, les aplicaron su modelo europeo, que les indicaba lo que ellos querían que fuese la Revolución, y eso fue lo que escribieron a Fidel: Señor Fidel Castro, la Revolución Cubana tiene que ser así y no así, tiene que hacer esto y no esto. Fidel Castro no les hizo caso, y tenía toda la razón. Lo malo es que allí caímos todos en la volteada, pero no importa, en definitiva el trigo malo se separa del bueno.« (M 44: 5) Cortázars eigene Einschätzung der Affäre - stellt man seine zahlreichen Äußerungen einander kritisch gegenüber - ist ebenfalls nicht gänzlich frei von Widersprüchen: Mal ergreift er stärker Partei für Kuba; mal scheint sein Standpunkt stärker den Argumenten der 'Europäer' zu folgen. So enthält die berühmte und oft geschmähte Po-
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licrítica a la hora de los chacales vom Juni 1971, ein holperiges Vers-Pamphlet, das von Juan Goytisolo - wie oben bemerkt - zu Unrecht als Signal für Cortázars erlahmende ästhetische Schaffenskraft gewertet wird, in erster Linie einen vehementen Angriff auf die internationalen und nordamerikanischen Massenmedien, die die Affäre und den »Brief der 61« zu einer General-Attacke auf Kuba ausschlachten. Auf dem Höhepunkt der emotionalen Auseinandersetzung geschrieben ist der Text ein letzter - und vergeblicher - Versuch Cortázars, seiner Sichtweise der Dinge Geltung zu verschaffen. Es gelingt ihm dies teilweise hinsichtlich der kubanischen Behörden, die dem Gedicht - obwohl sein Verfasser momentan ebenfalls außerhalb des Standes der Gnade lebt und seine Kritik am Vorgehen gegen Padilla wiederholt - das Imprimatur der Casa de las Américas erteilen. Außerhalb Kubas jedoch stiftet der Text eher Verwirrung, scheint er doch zu beweisen, daß Cortázar die Stalinisten in Kuba am Ende doch unterstützt. Später ist seine Sichtweise der Affäre nuancierter. Bemüht, die Proportionen der Affäre zurechtzurücken - »El caso Padilla es como una mosca volante en esta habitación. Y los llamados amigos de Cuba en ese momento, pero que en definitivo mostraron perfectamente que no lo eran, hicieron de eso una especie de escuadrilla de aviones de bombardeo volando en esta habitación.« (M 42: 5) -, verschweigt er dennoch nicht, daß die Fliege ihm ein immerhin 7jähriges Schweigen einbrachte, »un silencio de amigos, pero [...] un silencio necesario porque yo nunca acepté los procedimientos que se utilizaron en el caso Padilla, pero«, so fügt er augenblicklich, nun wieder der anderen Seite zugewandt, an: »extrapolar e hiperbolizar ese caso para tratar de convertirlo en la prueba irrefutable del fracaso de la revolución, eso yo no lo acepto y no lo tolero [...]« (Ebd.) Die nuancenreichste Einschätzung der Affäre - zugleich ein unwiderleglicher Beweis, daß die exemplarische Bedeutung des Falles präsent bleibt - findet sich in einem der letzten großen Zeitungsartikel (Oktober 1983), in dem Cortázar einen Vorgeschmack gibt von seiner Version des Orwell-Jahres (der Aufsatz erscheint im folgenden Jahr als Leit-Artikel des Nicaragua-Buches). Seine Äußerungen über Kuba und Padilla fassen vieles von dem, was wir darzustellen versuchten, in wenigen Sätzen zusammen: »En Cuba hace rato que las tentativas parciales por imponer el esquema del hombre nuevo han cedido a una visión más abierta que se hace sentir positivamente en todos los planos, desde el intelectual hasta el lúdico y el erótico; nadie sabe en verdad cómo deberá ser el hombre nuevo, pero en cambio los cubanos parecen saber cuál es la cuota de hombre viejo que no se le puede quitar sin mutilarlo irremisiblemente. Una experiencia de veinte años empieza a dar resultados positivos en este campo fundamental; pero, por supuesto, la impenitente crítica antisocialista insiste en denunciar el primer esquema ya superado como si fuera permanente; le basta un caso aislado, un poeta en la prisión, un científico perseguido, para decretar el gulag total.
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El viraje negativo de la imagen exterior de Cuba se dio, es sabido, como consecuencia del llamado 'caso Padilla' a comienzo de los años setenta, que en su momento condensó la visión errónea nacida del esquema ilusorio, y que se tradujo en medidas coercitivas que humillaban en vez de transformar, buscando un valor catártico y hasta ejemplar en cosas tales como la autocrítica pública, sin conseguir otra cosa que un estado de temor permanente, un pregusto de todo lo que en su última instancia desemboca en el terror de 1984. Esto lo saben de sobra los cubanos, y aquellos que hoy lo niegan se cuentan seguramente entre quienes estuvieron más atemorizados y más callados en aquel momento.« (Ai 62: 9; vgl. Nicaragua, S. 12f.)
6.3. Diskussionen und Diskurse la tentativa de abril en Paris tendrá un eco mucho más vasto de lo que muchos imaginan (Ai 36: 3) Das Bild jener Fliege, die das Zimmer durchquert - vom Alarmgeschrei der falschen Freunde Kubas in ein Bombengeschwader verwandelt (vgl. M 42: 2) -, ist insofern beschönigend, als es die Aufmerksamkeit ablenkt von anderen Insekten, die den Autor zur gleichen Zeit mit mehr oder weniger bedeutsamen Attacken bedrängen. Die erste stammt aus dem peruanischen Hochland. Sie bezieht sich auf Cortázars im Zeichen wachsender Leserschaft und steigender politischer Resonanz mehrfach wiederholtes Diktum, sein politisches Bewußtsein als Lateinamerikaner sei mit der physischen Distanz zur heimatlichen Erde im Sinne direkter Proportionalität gestiegen: »Perdónenme los amigos de Fuentes, entre ellos Mario (Vargas Llosa) y este Cortázar que aguijonea con su 'genialidad', con sus solemnes convicciones de que mejor se entiende la esencia de lo nacional desde las altas esferas de lo supranational. Como si yo, criado entre la gente de don Felipe Maywa, metido en el oqllo mismo de los indios durante algunos años de la infancia para luego volver a la esfera 'supraindia' de donde había 'descendido' entre los quechuas, dijera que mejor, mucho más esencialmente interpreto el espíritu, el apetito de don Felipe, que el propio don Felipe.« (Arguedas 1983: 22) Der Satz steht in José María Arguedas' letztem Roman El zorro de arriba y el zorro de abajo. Ein Vorabdruck des ersten Kapitels des erst nach dem Tode des Autors im Dezember 1969 veröffentlichten Fragments erschien 1968 in der Zeitschrift Amaru. Der Text hat die Form eines Tagebuches und enthält eine melancholisch-bittere Bilanz des um nationale und physische Identität ringenden Erzähler-Ichs. Der falsche Glanz, den die Repräsentanten des 'Booms' lateinamerikanischer Literatur in Europa verbreiten - genannt sind Carpentier, Vargas Llosa, Fuentes, García Márquez sowie Cortázar - läßt Arguedas die eigene Zerrissenheit gleichsam doppelt erfahren.
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Die gezielte Ironie der Formulierung, die den Autor der Rayuela gleichwohl mit einer subtilen Unterstellung attackiert, wird wenig später mit gleicher Münze beantwortet. Sie trägt den Stempel des klassischen Kynikers, mit welchem sich CortázarOliveira seit dem 36. Kapitel der Rayuela identifiziert: Herausgefordert durch Interview-Fragen der spanischen Ausgabe von Life, bedient er sich des 'Welt'-Forums des amerikanischen Magazins zunächst, um ausführliche Breitseiten abzugeben gegen Praktiken des nordamerikanischen Nachrichtenmonopols im speziellen sowie die Zweideutigkeit der liberal-bürgerlichen Politik im allgemeinen, und bequemt sich erst im zweiten Teil der reich bebilderten 13seitigen Selbstdarstellung zu einer mehr oder weniger detaillierten Beantwortung konkreter Interview-Fragen. Eine der Fragen betrifft die Rolle einer angeblich lost generation lateinamerikanischer Exilschriftsteller in Europa. Cortázar weist den Titel - soweit er sich auf freiwillig in Europa lebende Autoren bezieht - als irreführende Etikettierung zurück und nimmt sodann ausführlich Bezug auf die Sätze Arguedas' in Amarw. »Prefiriendo visiblemente el resentimiento a la inteligencia, lo que siempre es de deplorar en un cronopio, ni Arguedas ni nadie va a ir demasiado lejos con esos complejos regionales, de la misma manera que ninguno de los 'exiliados' valdría gran cosa si renunciara a su condición de latinoamericano para sumarse más o menos parasitariamente a cualquier literatura europea. A Arguedas le fastidia que yo haya dicho (en la carta abierta a Fernández Retamar) que a veces hay que estar muy lejos para abarcar de veras un paisaje, y que una visión supranacional agudiza con frecuencia la captación de la esencia de lo nacional. Lo siento mucho, don José María, pero entiendo que su compatriota Vargas Llosa no ha mostrado una realidad peruana inferior a la de usted cuando escribió sus dos novelas en Europa. Como siempre, el error está en llevar a lo general un problema cuyas soluciones son únicamente particulares [...] Cuando usted dice que los escritores 'de provincia', como se autocalifica, entienden muy bien a Rimbaud, a Poe y a Quevedo, pero no el Ulises, ¿qué demonios quiere decir? [...] A manera de consuelo usted agrega: 'Todos somos provincianos, provincianos de las naciones y provincianos de lo supranacional.' De acuerdo; pero menuda diferencia entre ser un provinciano como Lezama Lima, que precisamente sabe más de Ulises que la misma Penélope, y los provincianos de obediencia folklórica para quienes las músicas de este mundo empiezan y terminan en las cinco notas de una quena.« 0M 58: 54f.) Cortázars polemische Gleichsetzung jenes aus der Not existentieller Erfahrung geborenen Projekts kultureller Kommunikation - das dem Gesamtwerk des Peruaners poetische Kohärenz verleiht, um in der avantgardistischen Struktur von El zorro de arriba y el zorro de abajo schließlich sein Scheitern als soziale Utopie einzugestehen - mit einer folkloristischen Provinzidylle muß für Arguedas ebenso unannehmbar bleiben wie die eigene, an die Adresse Cortázars gerichtete Unterstellung, das politi-
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sehe Projekt einer »patria grande« sei nichts weiter als Ausdruck eurozentrisch-intellektualistischer Arroganz, den Widerspruch des Argentiniers heraufbeschwört. Es bleibt Arguedas vorbehalten, in diesem Dialog unter Tauben das letzte Wort zu sprechen. Wenige Monate nach seiner Antwort in Amaru - im Dezember 1969 - begeht er jene Tat, die die Niederschrift der Zorros vergebens zu differieren suchte. Cortázar gegenüber jedoch erklärt er: »La única 'prueba' que ofrece [sc.: für die These vom angeblichen »Regionalkomplex der 'Provinzler'«! W.BB.] es no sólo insensata sino algo repudiable. Causa verdadero disgusto tener que expresarse así de un escritor tan importante a quien la gloria le hace comportarse, a veces, a la manera de un jupiter mortificado, no por explicable, menos lejano de su frecuente papel de sapiente y hábil agitador. He aquí la insensata 'prueba' a que me he referido: 'preferiendo visiblemente el resentimiento a la inteligencia,' dice Cortázar, 'ni Arguedas ni nadie va a ir demasiado lejos con esos complejos regionales [...] Admiro con todas mis fuerzas, lo he dicho [er sagte das Gegenteil! WB.B.], a García Márquez; admiro con la intensidad de un 'provinciano' a Vargas Llosa, admiraba realmente a Cortázar. He sentido y siento odios y ternuras; el resentimiento aparece sólo en los desventurados e impotentes. Yo soy un hombre feliz [der Ich-Erzähler der Zorros ist unglücklich und spielt mit dem Gedanken an Selbstmord! W.B.B.] y continuaré siéndolo mientras pueda seguir trabajando, aquí o allá. La 'prueba' de Cortázar resulta, pues, contraria.« (M 59) Ebensowenig wie die »Provinzler« den in Europa lebenden Autoren gegenüber Komplexe empfinden, trifft auf diese - nämlich Cortázar, Vargas Llosa oder García Márquez - die Bezeichnung »Exilschriftsteller« zu: »No es un exiliado«, präzisiert Arguedas mit Worten, die von Cortázar selbst stammen könnten, »quien busca y encuentra - hasta donde es posible hacerlo en nuestro tiempo - el sitio mejor para trabajar« (ebd.). Doch die Antwort erschöpft sich nicht in reinen Dementis. Sie dienen vielmehr dazu, die verletzende Spitze, in der der Abschnitt kulminiert, zu formen: »Empiezo a sospechar, ahora sí, que el único, de alguna manera 'exiliado' es usted, Cortázar, y por eso está tan engreído por la glorificación, tan folkloreador de los que trabajamos 'in situ' y nos gusta llamarnos, a disgusto suyo, provincianos de nuestros pueblos de este mundo, donde como usted dice, ya se inventaron y funcionan muy eficientemente los jets, maravilloso aparato al que dediqué un jaylly quechua, un himno de más de cinco notas como felizmente las tienen nuestras quenas modernas.« (Ebd.) Zur gleichen Zeit, in der diese Antwort formuliert wird, erhält Cortázar die ehrenvolle Einladung zur Wahrnehmung einer Professur an der Columbia University in New York. Im Gegensatz zu so vielen 'engagierten' Schriftstellern - die ihn nach ihrer
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Berufung an nordamerikanische Universitäten vom sicheren Boden der Vereinigten Staaten aus revisionistisch-bürgerlicher Haltung bezichtigen (vgl. M 59) - lehnt Cortázar ab. In einem offenen Brief erklärt er die Gründe für seine Haltung. Sie werfen ein ergänzendes Licht auf die Rolle, in der sich Cortázar im europäischen Exil versteht: »As a Latin American I feel that I should not visit the United States as long as that country continues its imperialist policy in various regions of the world and especially in Central and South America. This does not mean that I reject any dialogue with those people in the United States who are fighting, the same as we, for a true and socialist democracy. I am honored to have my books translated in that country and I am proud to be the friend of many North Americans who share these ideas, to mention only one, it gives me pleasure to cite the name of Gregory Rabassa. But at the same time I understand that the physical presence of a Latin American intellectual in the United States, even if he has every possibility to say what he thinks in a climate as open and as democratic as that of Columbia University, is a grave error under these circumstances. That very physical presence, in fact, takes on a symbolic value in Latin America, a negative one, of course, and in the last instance it represents a new triumph for the reactionary and imperialist forces in their 'brain drain' technique which unfortunately continues in the field o the arts and sciences.« (M 34) Zu den in sich kreisenden Widersprüchen der Arguedas-Antwort dagegen schweigt er. Der schmollende Jupiter scheint zur Vernunft zurückgekehrt. Daß Cortázar allerdings jemals begriffen hat, was Arguedas' unglückliche und mißverständliche Rede vom »Provinz«-Schriftsteller wirklich meinte - was aus den expliziten oder in polemischer Absicht formulierten Äußerungen des Autors in der Tat schwer ersichtlich war, umso deutlicher indes auf der Ebene der globalen Erzählsituation der Zorros -, bleibt auch nach einer längeren Stellungnahme Cortázars, die aus dem Jahre 1982 stammt, eine offene Frage. Sie zeigt weniger einen Fortschritt im Begreifen des Kontrahenten als eine repetierende Rechtfertigung der eigenen Position: »Yo no conocí nunca a Arguedas, pero lo quiero mucho, lo admiro mucho y siempre me pareció un excelente escritor. Y Arguedas una vez publicó un artículo en el Perú [daß es sich um das 1. Kapitel der Zorros handelte, scheint Cortázar auch 12 Jahre nach den Ereignissen noch nicht rezipiert zu haben! W££.] donde nos atacaba cordialmente, amablemente, nos atacaba a los escritores latinoamericanos que estábamos viviendo fuera de nuestros países y escribiendo en Europa. Bueno, se refería a mí, se refería a Vargas Llosa, se refería a García Márquez, se refería a Asturias - la mucha gente que estaba fuera de sus países - y sostuvo la teoría de que la única literatura latinoamericana auténtica se puede hacerla, sólo se puede hacer si uno está en su pueblo, en su ciudad, en su casa, sin salir de su
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país [in dieser Reduktion ist das nachfolgende Urteil allerdings verständlich, wenn auch ohne Bezug zum Text der Zorrosl W.B.B.]. Bueno, yo leí eso y me pareció ingenuo [!], me pareció absurdo y entonces aproveché - no sé - una entrevista, no sé qué [ist das Vergessen des berühmten ¿¡/e-Interviews bei einem ansonsten exzellent funktionierenden Gedächtnis überzeugend?! WB.B.] para contestarle. Diciéndole que me parecía que estaba equivocado, que él tenía mucho razón cuando hablaba de él mismo, de Arguedas porque Arguedas no necesitaba salir de su pueblo para escribir una obra muy importante, pero que no tenía derecho de pensar que todo el mundo tenía que ser Arguedas, sino que podía haber gente que en ese mismo momento estuviera escribiendo una obra profundamente latinoamericana lo mismo en Estocolmo, en Nueva York que en Heidelberg u en París. E incluso le hacía notar que había sido muy ingenuo porque al decir eso, estaba ignorando las obras de gentes como Asturias, Vargas Llosa y García Márquez que finalmente son obras de primera importancia y profundamente latinoamericanas, latinoamercianas como la de Arguedas. El me lo tomó muy mal, le dolió mucho porque era un hombre muy enfermo y ya muy sensible. Creyó que yo lo atacaba con mucha violencia lo cual no era cierto y contestó, contestó tratando de defenderse, bueno, yo ya no contesté más. Y él se suicidio poco tiempo después. Ya estaba muy enfermo. No fue una polémica, fue un cambio de ideas y yo sigo creyendo que lo que dije en ese momento sigue siendo cierto [...] Lo que Arguedas - pobre - no pensó en esa época porque no podía saberlo es que después, va venir el exilio político de los chilenos, de los argentinos, de los uruguayos y que hay mucha gente que está escribiendo fuera de sus países, no porque quieran sino porque no pueden hacer otra cosa [...] O sea que la teoría de Arguedas no me parece justo.« (M 3: 26f.) Wer die schon im Ansatz durch - beiderseitiges - fundamentales Mißverstehen gekennzeichnete Debatte in der Perspektive der in den letzten Jahren in quantitativer und qualitativer Hinsicht veränderten Arguedas-Forschung betrachtet - sie hat eine neue Verstehensbasis vor allem für die ästhetische und utopische Dimension des Kulturmodells des Peruaners geschaffen 12 -, wird sie als eine Debatte der verpaßten Möglichkeiten zu charakterisieren haben. Wie nahe sind sich Arguedas und Cortázar 12
Während M. Lienhard (Cultura andina y forma novelesca. Zorros y danzantes en la última novela de Arguedas. Latinoamericana Editores-Tarea. Lima 1982) den strukturellen Bezug der Zorros deutlich macht zur »karnevalesken«, in der peruanischen Sierra weiterlebenden andinen Volkskultur, gelingt es A. Escobar (Arguedas o la utopía de la lengua. Instituto de Estudios Peruanos. Lima 1984), in den Zorros ein Uber die traditionellen Entwürfe des Indigenismus hinausgehendes utopisches Modell andiner Mestizenkultur nachzuweisen. Den Ergebnissen dieser Analysen steht indessen die Einsicht entgegen, daß die avantgardistische Textstruktur des Romans den Verzicht enthält auf die 'Kommunikabilität' eines integralen mythisch vermittelten Kulturmodells als solchem - an dessen Grenzen Arguedas bereits in Los ríos profundos gestoßen war -, der andine Mythos der »Zorros« vielmehr im Romantext eher im Modus einer »dekonstruktivistischen« Kulturpraxis erscheint. Zu diesem letzteren Aspekt vgl. W.B. Berg: »Mythische Erfahrung und literarische Praxis in Lateinamerika (J.M. Arguedas und M. Vargas Llosas im Vergleich)«, in: Romanistisches Jahrbuch 1989, Bd. 40; W.B. Berg: »Entre zorros y radioteatros: mito y realidad en la novelística de Arguedas y Vargas Llosa«, in: ¡NTI, N° 29-39 (1989), S. 119-132.
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in ihrem gemeinsamen Bestreben, durch eine revolutionäre Praxis des Schreibens dafür zu kämpfen, »para que nuestros pueblos salgan por fin del subdesarrollo que los frustra y los envilece en todos les terrenos«! (Coli., S. 76) Doch wie fern sind sie sich gleichzeitig, wenn sie als engagierte Theoretiker' ihre ungleichen Klingen kreuzen! Cortázar - den Arguedas nicht ganz zu Unrecht für einen durch europäische Denkungsart sowohl am Verstehen als auch am Erleben peruanischer Realität gehinderten Intellektuellen hält - nämlich richtet die zitierten Worte nicht an Arguedas, in dem er wohl nie mehr als einen lateinamerikanischen Jean Giono zu sehen vermochte (den er einmal übersetzt hatte) 13 , sondern an Oscar Collazos in Uruguay. Collazos' gegen Cortázar, Carlos Fuentes und Vargas Llosa gerichtete Attacke erscheint am 29. August '69 in Marcha, einer Wochenzeitung aus Montevideo, die Ende der 60er Jahre zu einem Kristallisationspunkt der lateinamerikanischen Intelligentsia geworden war. Cortázar bezieht in Paris ein Abonnement des Blattes. Collazos' Artikel ist exemplarisch, nicht aufgrund seiner Originalität, sondern weil er einige der wichtigsten Stereotypen der lateinamerikanischen 'Linken', soweit sie gegen Cortázar - und die Repräsentanten des 'Booms' im allgemeinen - gerichtet sind, in synthetischer Form wiederholt. Auch die Antworten Cortázars und Vargas Llosas sind kaum mehr als eine Wiederholung bekannter Standpunkte. Die Ausführlichkeit und - dies zumindest im Hinblick auf den Essay Cortázars - die Ernsthaftigkeit, mit der sie formuliert sind, beleuchten jedoch einen zentralen Aspekt des 'Engagements' Cortázars, der bislang nur am Rande sichtbar wurde: Anders als in der Debatte mit Arguedas, dem Cortázar im Kontext der Beantwortung der Life-Fragen lediglich als frei argumentierendes Individuum entgegentritt - und seinen Kontrahenten als ein solches behandelt -, ist die Antwort an Collazos - trotz aller in der Sache selbst zum Ausdruck gebrachten Differenzen - von einem grundsätzlichen, Sender wie Empfanger im Akzeptieren revolutionärer Grundwerte verbindenden Solidaritäts-Appell gekennzeichnet. Daß dieser Appell gegenüber Arguedas fehlt, ist umso befremdlicher, als Cortázar andererseits, mit der ganzen intellektuellen Redlichkeit, deren er fähig ist, jede rationale Basis, die ihn mit dem 'Genossen' Collazos zu verbinden vermöchte, Schritt für Schritt destniiert. Sehen wir zu, wie die Bejahung dieses revolutionären Credo quia absurdum strukturiert ist. Collazos' Attacke beinhaltet im wesentlichen fünf Punkte: 1. Der grundlegende, schon auf den ersten Seiten des Essays ausgesprochene Vorwurf lautet, in den Werken Cortázars, Vargas Llosas bzw. Fuentes' finde sich eine wiederholt zutage tretende Tendenz zu einer Konzeption von Literatur »como ejercicio autónomo del contexto sociocultural y político« (Coli., S. 7). 2. Die Begründung für diese Tendenz liegt in einem unausgesprochenen kulturellen Minderwertigkeitskomplex der lateinamerikanischen Schriftsteller gegenüber den 13
Vgl. Jean Giono: Nacimiento de la Odisea (¡m Original: »Naissance de l'Odyssée«), Buenos Aires 1982, S. 97124.
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kulturellen Leistungen Europas. Der Komplex manifestiert sich in der scheinbar einleuchtenden Argumentation, die europäische Literatur befinde sich im Zeichen des »Nouveau Roman« in einer Phase offensichtlicher Dekadenz und werde durch die Vertreter des lateinamerikanischen »Booms« überflügelt. »En otras palabras: dejamos de ser en razón de la afirmación de los otros; somos, en razón del dejar de ser de los otros.« (Coll. S. 8) Doch was wir auf diese Weise werden, folgt wiederum nur dem Modell dessen, was die anderen einmal waren - Künstler des »l'art pour l'art«. 3. Pikanterweise beruft sich Collazos' Argumentation auf die Unterscheidung, die Roland Barthes trifft zwischen »langage«, »style« und »écriture«: Cortázars Insistieren auf dem sprachlich-stilistischen Aspekt von Literatur beweise insofern, daß in seinem Werk die historische Dimension, wie sie für die »écriture« sogenannter »großer Literatur« (Coll., S. 15) verbindlich sei, nur eine untergeordnete Rolle spiele. 4. Das Kriterium »großer Literatur«, das Collazos auf dem Umweg über Roland Barthes' Degré zéro de l'écriture definiert, ist mithin identisch mit dem dem »l'art pour l'art«-Prinzip an Alter und Ehrwürdigkeit um vieles überlegenen »Wahrscheinlichkeits«-Postulat (Coll., S. 25): »Las perspectivas de una novelística latinoamericana más coherente y total se hacen mayores en esa correspondencia, en esa confrontación que (intelectualmente) niega Vargas Llosa, increpa Carlos Fuentes o retoriza Julio Cortázar.« (Ebd.) 5. Um die solchermaßen der Realitäts-Flucht (Coll., S. 16) Bezichtigten nicht vollends verdammen zu müssen, erfindet Collazos eine ebenfalls bei allen dreien zu beobachtende uneingestandene Differenz zwischen der Ebene eines reflektierenden »Intellektuellen« (Coll., S. 21), der einem eurozentristischen Literaturkonzept huldigt, und einem, zumindest gelegentlich dem Wahrscheinlichkeitspostulat verpflichtete Literatur schaffenden Künstler. Solche - durch die korrespondierende Theorie indes nicht abgedeckten - Ausnahmen stellen z.B. La ciudad y los perros (Vargas Llosa), La muerte de Artemio Cruz (Carlos Fuentes) sowie Bestiario und Todos los fuegos el fuego (Cortázar) dar. (Vgl. Coll., S. 19f„ 26, 32) Cortázars ausführliche Antwort ihrerseits läßt sich in vier Punkten zusammenfassen. 1. Der Unterstellung Collazos, die Repräsentanten des Booms seien in ihrer literarischen Konzeption insgeheim durch uneingestandene Minderwertigkeitsgefühle gegenüber der europäischen Literatur geleitet, hält Cortázar die unübersehbare Innovationsleistung wie La casa verde (Vargas Llosa), Paradiso (Lezama Lima) und Cien años de soledad (García Márquez) entgegen (Coll., S. 39ff.). Die Kraft zur Innovation schöpfen diese Werke gewissermaßen aus sich selber, keineswegs jedoch aus dem Vergleich mit europäischen Vorbildern. Das gegenteilige Extrem - aus der Tatsache solcher punktueller Innovationen auf eine generelle Überlegenheit der lateinamerikanischen gegenüber der europäischen Literatur zu schließen - sei den erwähnten Autoren jedoch in gleicher Weise fremd. Der Vorwurf eines Inferioritätskomple-
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xes fällt mithin in sich zusammen bzw. auf den zurück, der ihn erfunden hat. (Vgl. Coli., S. 42) 2. Auf Punkt 1 und Punkt 4 der Attacke Collazos - Autonomie-Status versus Wahrscheinlichkeitsprinzip - nimmt vor allem der Abschnitt »¡Realidad, cuántos crímenes se cometen en tu nombre!« Bezug. Cortázars Argumentation hat die Form einer reductio ad absurdum, indem sie die entscheidende, bei Collazos unhinterfragt bleibende Prämisse aufdeckt: »Es evidente que a lo largo de todo el ensayo de Collazos la palabra realidad asume diversos sentidos, más o menos amplios o complejos, pero que de hecho giran en torno del contexto sociocultural, de la 'circunstancia' del escritor en el sentido general orteguiano.« (Coli., S. 49) Auch wenn Collazos zugibt, daß die Bedeutung des Wortes »puede ir de lo específicamente concreto a lo absolutamente mítico« (ebd.), so bleibt doch festzustellen, »[que] de hecho, el acento está firmemente puesto en lo sociocultural, en lo 'concreto'« (Coli., S. 50). Diese dogmatische, (vulgär-) materialistische Konzeption von Realität, führt Cortázar weiter mit aller wünschenswerten Klarheit aus, »ha sido y me temo que seguirá siendo uno de los escollos mayores con que tropieza el socialismo a lo largo de su edificación, y a mí me parece que la mayoría de los barcos teóricos o pragmáticos se van a seguir estrellando en ese escollo mientras no se alcance una conciencia mucho más revolucionaria de la que suelen tener los revolucionarios del mecanismo intelectual y vivencial que desemboca en la creación literaria.« (Coli., S. 51 f.; Hervorh. im Original) Der verengenden, an die Prämissen des »realismo socialista« (Coli., S. 53) gebundenen Realitätsperspektive bei Collazos gegenüber bestimmt Cortázar seinen eigenen Realitätsbegriff - die volle humanistische Tradition des Marxismus aufnehmend kurz und bündig als »el hombre mismo en la medida en que no escribimos para los árboles ni para los monos sino para él« (Coli., S. 64). Dann aber muß gelten: »La auténtica realidad es mucho más que el 'contexto sociohistórico y político', la realidad soy yo y setecientos millones de chinos, un dentista peruano y toda la población latinoamericana, Oscar Collazos y Australia, es decir el hombre y los hombres, cada hombre y todos en la espiral histórica, el homo sapiens y el homo faber y el homo ludens, el erotismo y la responsabilidad social, el trabajo fecundo y el ocio fecundo; y por eso una literatura que merezca su nombre es aquella que incide en el hombre desde todos los ángulos (y no, por pertenecer al tercer mundo, solamente o principalmente en el ángulo sociopolítico), que lo exalta, lo incita, lo cambia, lo sustifica, lo saca de sus casillas, lo hace más realidad, más hombre, como Homero hizo más reales, es decir más hombres, a los griegos, y como Martí y Vallejo y Borges hicieron más reales, es decir más hombres, a los latinoamericanos.« (Coli., S. 65) 3. Collazos' irrtümliche - ja »demagogische« (!) (Coli., S. 72) - Auffassung der literarischen Schöpfung geht einher mit einer gleichzeitigen Blindheit für die eigentliche historische, im Hinblick auf die Zukunft prinzipiell unabgeschlossene Dynamik des revolutionären Prozesses:
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»La revolución es también, en el plano histórico, una especie de apuesta a lo imposible, como lo demostraron de sobra los guerrilleros de la Sierra Maestra.« (Coli., S. 73) Dann aber läßt sich revolutionäre Literatur - Modell dieses ungedeckten Wechsels auf die Zukunft - in struktureller Analogie zur schöpferischen Hypothesenbildung im Bereich der modernen Naturwissenschaft bestimmen. Das scheinbar bedeutungslose und freie Experimentieren des Avantgardisten mit sprachlichen oder stilistischen Elementen ist mithin keineswegs Selbstzweck. Seine Funktion besteht nicht darin, der historischen Realität eskapistisch den Rücken zu kehren. Es ist vielmehr ein Mittel, um eine Realitätserfahrung zu ermöglichen, die die überkommenen Raster der Darstellung prinzipiell sprengt: »La realidad autónoma a que alude Vargas Llosa [...] es ese laboratorio en el que un novelista opera la revolución en su propia esfera, la revolución en la palabra y la forma y la narración misma, que al término de esa experiencia vertiginosa está, desde luego, muy lejos de la 'realidad' de las novelas más estrechamente adheridas al 'contexto', precisamente porque habrá de mostrar una realidad más rica y más revolucionaria aunque lo sea a largo plazo.« (Coli., S. 74) 4. Bleibt schließlich noch die Unterscheidung, die Collazos trifft zwischen einem europäischen Vorurteilen huldigenden Intellektuellen und einem auf lateinamerikanische Wirklichkeit verpflichteten, schöpferischen Künstler (vgl. Punkt 5!): Bezogen auf den konkreten Vorgang der literarischen Schöpfung, sofern sie - wie im Falle von Vargas Llosa - tatsächlich ein revolutionäres Werk hervorbringt, ist die Unterscheidung unhaltbar, ja absurd: »¿Cómo concebir a un novelista de la talla de un Vargas Llosa sin la presuposición y la superposición de un intelectual? Un novelista semejante no se fabrica a base de buenas intenciones y de militancia política, un novelista es un intelectual creador, es decir un hombre cuya obra es el fruto de una larga, obstinada confrontación con el lenguaje que es su realidad profunda, la realidad verbal que su don narrador utilizará para aprehender la realidad total en todos sus múltiples 'contextos'.« (Coli., S. 75) Wenn Künstler und Intellektuelle für den Vorgang des literarischen Schaffensprozesses in eine Art Personalunion miteinander treten, sind sie dann nicht außerhalb dieses Prozesses - etwa im Falle der Wahrnehmung konkreter politischer Aufgaben in der Revolution - voneinander getrennt, unter Umständen auch miteinander im Widerstreit? Cortázar gibt im vorliegenden Text auch auf diese Frage eine negative Antwort, obwohl er die prinzipielle Möglichkeit von Konflikten nicht ausschließt (vgl. Coli., S. 53f.). Akzeptiert man den Grundsatz - so heißt es am Ende des Essay -, daß der revolutionäre Schriftsteller sich selbst und sein Werk im Rahmen einer verantworteten revolutionären Praxis versteht, so wird er seine vornehmste Aufgabe gerade
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darin sehen, die Revolution in der Funktion zu verwirklichen, zu der ihn sin Talent befähigt und bestimmt, denn - Cortázar bezieht sich auf eine Äußerung, lie sieben Monate früher einem mexikanischen Journalisten gegenüber gefallen war ('gl. M 91) - »estamos necesitando más que nunca los Che Guevara del lenguaje, bs revolucionarios de la literatura más que los literatos de la revolución« (Coli., S 76 - Hervorh. im Original). Es ist Vargas Llosa vorbehalten, in seiner Antwort an Collazos vom Apri 1970 ein souveränes Schlußwort zu sprechen: »Lo que resulta bastante paradójico es que, en su alegato contra el 'conplejo europeísta'. Collazos salpique sus artículos de citas de Roland Barthes, aitor que sí le gusta. A mí, por ejemplo, Roland Barthes no me interesa demasiado creo que he aprendido más sobre literatura leyendo a George Steiner o a Edmonc Wilson -, pero pienso que uno de los méritos de este autor europeo tan de modi es haber mostrado en sus ensayos cómo se pueden leer, entender y juzgar cabamente obras experimentales del tipo de Cambio de piel o 62. Modelo para arma. Si nadie puede reprocharle a Collazos que no le gusten los libros que no entiend, en cambio sí me parece grave que no entienda (o aparente no entender) a los altores que le gustan.« (Coli., S. 93) Noch eine dritte Debatte bleibt zu erwähnen; sie findet statt im April Ies Jahres 1970 in Paris, und zwar im Rahmen einer von lateinamerikanischen Intelektuellen organisierten Aktions- und Informationswoche mit dem Titel América Latna no oficial. Ziel der Veranstaltung ist es, der europäischen Öffentlichkeit jeras andere, nicht-offizielle, von den bestellten Botschaftern der Länder systematisch es:amotierte Bild der Wirklichkeit zu präsentieren, das Bild des geschundenen, unterentvickelten, imperialistischem Druck preisgegebenen, von den eigenen Oligarchien 'erratenen Lateinamerika. Einer der Höhepunkte bildet ein Rundgespräch zum Thema»Intellektuelle und die Politik«, an welchem sich neben mehreren Vertretern dir zweiten Garde auch klingende Namen wie Vargas Llosa und Julio Cortázar beteiigen. Die Stellungnahmen der letzteren führen zu einer heftigen verbalen Konfronation mit dem Publikum - Anlaß für Cortázar, sowohl die Stellungnahmen selbst alsauch eine Art Protokoll der Debatte sowie seine eigenen hieraus abgeleiteten Scilußfolgerungen wenig später zu veröffentlichen. (Vgl. Viaje alrededor de una mea; vgl. M 91) Das biographische Interesse des schmalen Bändchens liegt nicht so sehrin den inhaltlichen Erklärungen Cortázars zum Thema des Rundgesprächs, sondirn in der durch die Kontroverse mit dem Publikum allererst provozierten 'Metareflemón'. Ausgelöst wird diese durch die konsternierende Erfahrung eines faktischen Uiverständnisses, auf das die eher konventionellen Erklärungen der beiden Autoren bim Publikum stoßen. Angelpunkt der Kontroverse ist die sowohl von Vargas Llos. als auch von Cortázar dem Intellektuellen zuerkannte Eigenschaft als schaffendem Künstler.
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Wenn auch ohne jedes romantische Sendungsbewußtsein - erklärt Cortázar -, verdiene der Intellektuelle trotzdem die Bezeichnung eines »especialista en productos culturales - libros, películas, cuadros, objetos, música« (Ai 91: 1). Sich selbst rechne er der Spezies »intelectual escritor« zu, »que conozco más de cerca« (ebd.). Die Anerkennung einer differentia specifica des Künstlers ist jedoch im Hinblick auf seine Funktionsbeschreibung im Rahmen des revolutionären Prozesses gleichbedeutend mit der Anerkennung einer spezifischen - durch andere Funktionen z.b. der rein »ideologischen« nicht ersetzbaren - Leistung. Einmal mehr appelliert Cortázar an seine Zuhörer, die fruchtbare, gegebenenfalls auch 'kritische' Spannung, in der sich der schaffende Künstler zu den anderen Funktionsträgern innerhalb des revolutionären Prozesses befinde - zu dessen allgemeiner Zielsetzung er sich andererseits durch die Bejahung einer fundamentalen »Verantwortung« bekenne - als dessen originären Beitrag zur Revolution zu akzeptieren. Es ist dies nichts weiter als die Wiederholung der bekannten Formel, mit der Cortázar seit seinem Schreiben an Fernández Retamar seine Rolle als revolutionärer Schriftsteller definiert. Bei den Zuhörern indessen stößt die Erklärung auf eine Welle - zwischen Entrüstung und Dogmatismus schwankender - Ablehnung. Cortázar berichtet: »Lo primero que se advirtió fue que la gran mayoría de los que se lanzaron a la palestra no había ni siquiera intentado comprender la clarificación previa que Vargas Llosa y yo habíamos tratado de hacer de la labor del intelectual y del sentido de la creación literaria. Dispuestos de antemano a reiterar monótonamente una idea 'funcional' de la literatura, como mera actividad al servicio de una causa, era inevitable que entendieran de través las exposiciones y que sólo vieran en ellas una especie de defensa de no sé qué privilegios del intelectual. No puede extrañar entonces que alguien le preguntara a Vargas Llosa si creía que sus novelas 'esclarecían' la situación en el Perú mejor que la lucha armada, y que me preguntaran a mí si creía que el Che Guevara había sido un intelectual [!]; tampoco puede extrañar que un joven pidiera empecinadamente la palabra para soltar un discurso de vocabulario (y sólo eso) maoísta, del que sólo alcancé a sacar en limpio que la literatura es un producto de la clase dominante y, como tal, merecedora de una inmediata sustitución por algo que nadie alcanzó a percibir claramente. Cito estas intervenciones porque dieron el tono de lo que teóricamente hubiera debido ser un diálogo, un debate; no solamente no lo fue sino que la mayoría de las intervenciones pareció responder mecánicamente a preconceptos, a ideas fijas que ninguna discusión podía modificar, a la repetición de andanadas supuestamente dialécticas pero que en realidad mostraban un dogmatismo, por no decir un sectarismo deprimente. Quizá el punto extremo lo alcanzó una joven, para quien lo único socialmente válido parecía ser la literatura folklórica y sobre todo oral, y que redujo a polvo las bibliotecas de la humanidad sin advertir, por lo visto, que negaba al mismo tiempo todas las fuentes bibliográficas de su vehe-
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mencia. Bastaron 5 minutos para verificar que los malentendidos eran ótales, y que estábamos perdiendo el tiempo [...].« (M 91: 2) Nichts ist geeigneter, Cortázars Rede von der »ethischen« Qualität seiies politischen Engagements zu demonstrieren, als diese Konfrontation mit diesem geradezu absolut gewordenen linken Obskurantismus. Die deprimierende Erfahrung nämlich, statt ihn zu verunsichern, statt seiner grundsätzlichen Solidarität mit dem Sozialismus Abbruch zu tun, beflügelt ihn vielmehr, die eigene Position nochmals kritiich zu reflektieren, um schließlich - trotz allem! - zu positiven Schlußfolgerungen :u gelangen. Es sind ihrer zwei: 1. 'Barometer'-Test für eine allgemeine Publikumserwartung zeigt der geicheiterte Dialog vor allem, in wieweit sich die Konzeption einer revolutionären Function der Literatur bei ihren potentiellen Adressaten (noch nicht) durchgesetzt hat. Dimit dies geschieht, darf der Schriftsteller sich nicht damit begnügen, in Muße ein; bessere Konjunktur abzuwarten, sondern muß fortfahren, den Dialog zu suchen irit denen, die ihn negieren. Andernfalls besteht die Gefahr, daß es denjenigen, »para alienes la literatura es una actividad indiferenciada dentro de la praxis humana, terninen por imponer criterios insuficientes o falsos« (ebd.). Dies bedeutet 2., daß der Schriftsteller gerade auch im Hinblick auf die lerechtigten (bzw. unberechtigten) Erwartungen, die die revolutionäre Öffentlichkeit an seine Aktivität stellt, den »Elfenbeinturm« zu verlassen hat, denn: »Si un escritor, incómodo frente a ese asalto indiscriminado que se hace a su sector profesional en nombre de un compromiso no siempre bien entendido, opta por cerrarse al diálogo (y la tentación puede ser fuerte), entonces vimjs todos, escritores y lectores, a la peor de las catástrofes culturales, es decir históricas, es decir políticas. Después de un primer momento de desánimo, comp'endí que la actitud de nuestros interlocutores era el mejor acicate posible para un escritor que cree en la revolución y que hace lo que puede por ella.« (Ebd.) Die Debatten - mit Collazos ebenso wie die zuletzt referierte - zeigen, caß Cortázar sein politisches Engagement immer mehr im Sinne einer Doppelstratepe versteht: Bestand die Funktion des »Damaskus-Erlebnisses« zunächst nur im Entlehen eines allgemeinen politisch-historischen Bewußtseins, verbunden mit der Einsi:ht, daß nur der »Sozialismus« die Möglichkeit biete zur Verwirklichung der wahren listorischen Bestimmung des Menschen, so erweist sich nun, daß es gilt, die Einlösuig des revolutionären Versprechens nicht nur gegen seine sozusagen Tdassischen' Feinde - die kapitalistische Bourgeoisie und die imperialistischen Mächte - zu verte digen, sondern darüberhinaus auch gegen die Repräsentanten eines historisch etablürten Sozialismus, dann nämlich, wenn dieser eine volle Verwirklichung der sozialisischen Idee im Sinne der totalen Befreiung des Menschen zum Menschen durch dognatische und sektiererische Tendenzen verhindert. Es ist diese konsequent verfolgte revolutionäre
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Doppelstrategie, die die politische Wirksamkeit des Schriftstellers Cortázar in den folgenden Jahren prägt.
6.4. Menschenrechte und Bürgerpflichten Si alguien es argentino y no lo es, es Julio Cortázar, porque ha sabido trascender lo tribal para insertarse en lo cosmológico repartiendo los huevitos del Eros paternal. (Miguel Bamet, Queremos tanto a Julio, S. 61) Solidarität mit 30.000 während der Militärdiktatur seit 1976 verschleppten, gefolterten oder getöteten Argentiniern, Sorge um die prekäre Zukunft der nationalen Befreiung Nicaraguas sowie die Suche nach einer (Re-) Definition der Situation des Exils dies sind die Schwerpunkte der politischen Arbeit Cortázars in der 2. Hälfte der 70er Jahre. Es sind mehrere Bücher, in denen sie, soweit durch Texte dokumentierbar, ihren Niederschlag gefunden hat: Nicaragua tan violentamente dulce enthält in der Hauptsache eine Reihe von Kurzreportagen - spontaner Niederschlag von Erlebnissen, Beobachtungen und Reflexionen im Laufe der verschiedenen Nicaragua-Reisen zwischen 1979 und 1983. Bestimmt zur Veröffentlichung vor allem in der spanisch-sprachigen Presse des Subkontinents - das Oppositionsblatt La República in Lima veröffentlichte z.B. Cortázars Artikel am 3.2., 4.3., 30.3., 5.8. und 30.8.1983 - versuchen die Artikel das vom nordamerikanischen und europäischen Nachrichtenmonopol systematisch verzerrte Bild der sandinistischen Revolution zu korrigieren. Die Autorenrechte auch dieser letzten, von Cortázars eigener Hand besorgten Veröffentlichung »están íntegramente destinados« - dem Willen des Autors entsprechend - »al pueblo sandinista de Nicaragua« {Nicaragua, S. 6). Argentina: años de alambradas culturales ist eine posthum, von Saúl Yurkievich besorgte Sammlung der wichtigsten Stellungnahmen und Äußerungen Cortázars, die innenpolitische Situation Argentiniens, die Tragödie der »desaparecidos«, den argentinisch-britischen Konflikt um die Malvinas-Inseln, allgemeine Fragen des politischen Engagements sowie die speziellen Probleme lateinamerikanischer Autoren im Exil betreffend. Von biographischem Interesse in engerem Sinne ist insbesondere Cortázars Deutung des Exils, betrachtet auch er sich doch seit 1974 - seit einem für Argentinien geltenden partiellen Editionsverbot seiner Werke - als ein vom »kulturellen Exil« (Argentina, S. 17, 85) betroffener Autor. Queremos tanto a Julio schließlich ist in gewisser Weise das Gegenstück zu Cortázars Nicaragua-Buch. In freundlicher Mißachtung der sarkastischen Nebenbedeutung des Originaltitels bei Cortázar - der Fan-Club der Filmschauspielerin Glenda in »Queremos tanto a Glenda« nämlich liebt Glenda buchstäblich zu Tode (!) - intonieren zwanzig namhafte amerikanische Autoren - von Sergio Ramírez bis Juan Rulfo -
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ein vielstimmiges Unisono von Bewunderung, Dank und Erinnerung. Es gilt dem »amigo común y maestro« (Queremos, S. 11), dem Wegweiser eines Neuen Amerika. Es sind vor allem Konstanten, die bei der Lektüre all dieser Texte ins Auge springen: Konstanten revolutionärer Moral, Konstanten humanitärer Gesinnung, Konstanten schließlich - auch dies! - einer produktiven Einbildungskraft, die die Fähigkeit besitzt, im scheinbar egoistischen ästhetischen Genießen politisch-soziale Visionen zu formulieren. Beginnen wir mit dem letzteren: Nicaragua tan violentamente dulce enthält einen Text, der dem 1977 erschienenen Erzählband Alguien que anda por ahí entnommen ist: »Apocalipsis de Solentiname« ist der autobiographische Bericht über einen Aufenthalt in Costa Rica im April 1976 sowie den sich anschließenden Kurzbesuch der berühmten Einsiedelei des revolutionären Dichter-Mönchs Ernesto Cardenal auf den Solentiname-Inseln des NicaraguaSees. 14 Realität und Fiktion, Erlebnis und Phantasie, Dokument und Vision erfahren in »Apokalipsis« eine beklemmende Fusion. Anders als »Reunión«, wo Cortázar mit vergleichbaren Mitteln einer ideologisch-utopischen Zukunftsprojektion Ausdruck verleiht, hat der Text im vorliegenden Falle die Funktion einer durch die historischen Ereignisse tatsächlich verifizierbaren Prophezeiung gewonnen. Diese, die visionäre Antizipation von Geschichte, nicht die anekdotische Rekonstruktion biographischer Details, verleiht ihm seine Kraft. Im Gegenteil: letztere, die biographischen Details, sind stilisiert, 'funktionalisiert' im Hinblick auf die Vision. So resümiert der Erzähler im ersten Abschnitt den biographischen Anlaß des Costa Rica-Besuchs - über dessen 'wahre' Hintergründe Samuel Rovinski in Queremos tanto a Julio ausführlich und enthusiastisch berichtet (vgl. Queremos, S. l l l f f . , 113ff.) - mit einer für Cortázars autobiographische Texte typischen, ironisches Understatement und intellektuelle Distanz signalisierenden Passage: »Hacía uno de esos calores y para peor todo empezaba en seguida, conferencia de prensa con lo de siempre, ¿por qué no vivís en tu patria, qué pasó que Blow-up era tan distinto de tu cuento, te parece que el escritor tiene que estar comprometido? A esta altura de las cosas ya sé que la última entrevista me la harán en las puertas del infierno y seguro que serán las mismas preguntas, y si por caso es chez San Pedro la cosa no va a cambiar, ¿a usted no le parece que allá abajo escribía demasiado hermético para el pueblo?« (Nicaragua, S. 18) Selbst das überraschende Auftauchen Ernesto Cardenals vermag ihn kaum diesem Zustand innerer Emigration zu entreißen: »Siempre me sorprende, siempre me conmueve que alguien como Ernesto venga a verme y a buscarme, vos dirás que hiervo de falsa modestia pero decilo nomás viejo, el chacal aulla pero el ómnibus pasa, siempre seré un aficionado, alguien 14
Vgl. W. B. Berg: »Emeslo Cardenal: Dichtung und/als Revolution«, in: Iberoromania, Nr. 15 (1982), Neue Folge, S. 97-124.
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que desde abajo quiere tanto a algunos que un día resulta que también lo quieren, son cosas que me superan, mejor pasamos a la otra línea.« (Ebd., S. 18f.) Trotzdem läßt er sich einladen und verbringt das Wochenende in Begleitung von Sergio Ramírez in der paradiesischen Traumatmosphäre der Kommune Cardenals. Obwohl von der Reise übermüdet, wird seine Aufmerksamkeit gefesselt von den zahlreichen Exemplaren naiver Bauernmalerei, die er überall ausgestellt findet »algunas firmadas y otras no, pero todas tan hermosas, una vez más la visión primera del mundo, la mirada limpia del que describe su entorno como un canto de alabanza« (ebd., S. 20). Die die Welt so sehen, feiern am nächsten Morgen mit Ernesto die Messe. Der Erzähler ist zugegen: »[...] la misa de Solentiname en la que los campesinos y Ernesto y los amigos de visita comentan juntos un capítulo del evangelio que ese día era el arresto de Jesús en el huerto, un tema que la gente de Solentiname trataba como si hablaran de ellos mismos, de la amenaza de que les cayeran en la noche o en pleno día, esa vida en permanente incertidumbre de las islas y de la tierra firme y de toda Nicaragua y no solamente de toda Nicaragua, sino de casi toda América Latina, vida rodeada de miedo y de muerte, vida de Guatemala y vida de El Salvador, vida de la Argentina y de Bolivia, vida de Chile y de Santo Domingo, vida del Paraguay, vida de Brasil y de Colombia.« (Ebd., S. 20f.) Im Anschluß an die Messe macht der Erzähler noch einen Rundgang durch die Gebäude, fertigt von den ausgestellten Bildern Dias an und begibt sich über San José und La Habana zurück auf die Heimreise nach Paris. Erst hier, eines Abends, als er sich anschickt, seiner Gefährtin Claudine die Dias aus Solentiname zu zeigen, wird der nostalgische voyeur, der in Solentiname die Kamera bediente, zum voyant (vgl. Rayuela, Kap. 116!): Während er selbst, der Erinnerung hingegeben, über die 'richtige' Chronologie der Bilder nachsinnt und Claudine die ersten Dias bereits mit konventionellen Ausrufen des Entzückens kommentiert, sieht sich der Erzähler plötzlich - anstelle der auf die Leinwand geworfenen Traumwelt Solentinames - obsessioneilen Bildern einer Horrorvision konfrontiert: »[el] pequeño mundo frágil de Solentiname rodeado de agua y de esbirros« (ebd., S. 22) verwandelt sich, als er den Transportknopf des Projektors drückt, in das Bild eines von einem Polizeikommando umringten Jungen, den ein Offizier in die Mitte der Stirn getroffen hat, das Bild einer vor dem Eingang einer Salpetergrube zusammengedrängten Menschengruppe, die Blicke auf die Körper ihrer toten Kameraden geheftet, während im Hintergrund Uniformierte kehrt machen und einen Jeep besteigen (vgl. ebd., S. 23), das Bild einer erbarmungslosen Verfolgungsjagd an der Ecke Corrientes und San Martin, das Bild einer nackten jungen Frau auf einem Tisch, der von einer Person, die der Kamera den Rücken zukehrt, ein Kabel zwischen die geöffneten Beine geschoben wird, das Bild einer blauen Krawatte und eines grünen Pullovers, getragen von zwei Männern, die
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im Vordergrund stehen und sich unterhalten, das Bild des erschossenen Dichters Roque Dalton und Bilder »de caras ensangrentadas y pedazos de cuerpos y carreras de mujeres y de niños por una ladera boliviana o guatemalteca [...]« (ebd.)... Bilder, alles dies, der wirklichen, von Somozas Guardia Civil im Herbst 1977 in Solentiname entfesselten Apokalypse! Es sind Horrorvisionen, wie sie in LM im 51. Kapitel 'authentisch' dokumentiert und im Solentiname-Text von 1976 literarisch imaginiert sind, in denen die humanitäre Konstante des politischen Engagements bei Cortázar immer wieder ihren Ausdruck findet. Sie sind das eigentliche Motiv für seine Mitarbeit im Russell-Tribunal II sowie im 1979 von Lelio Basso in Bologna initiierten »Permanenten Tribunal der Völker«, in welchem die Arbeit des Russell-Tribunals seine Fortsetzung gefunden hat. 15 Sie bewegen zur Solidarität mit den protestierenden »Müttern der Plaza de Mayo« (»Nuevo elogio de la locura«, in Argentina, S. 13ff.) sowie der internationalen Assoziation zur Verteidigung politisch verfolgter Künstler (»Conclusión para un informe«, ebd., S. 26ff.). Sie verleihen seinen Worten Pathos, wenn er anläßlich eines diesbezüglichen Kolloquiums die »diabolische Praxis« (»Negación del olvido«, ebd., S. 29ff.) des gewaltsamen »Verschwindenlassens« beschwört bzw. im November 1983 vor der UNO-Kommission für Menschenrechte zum gleichen Thema Stellung bezieht (»Una maquinación diabólica: las desapariciones forcadas«, ebd., S. 137ff.). Daß es - unter den bekannten Formen organisierten Gemeinschaftslebens - allenfalls dem »Sozialismus« gelingen wird, dem Problem der Gewalt gegenzusteuern, ist eine Überzeugung, an der Cortázar seit 1963, unbeirrt durch die wechselvolle Geschichte der »realen« Sozialismen, festhält. Sie erklärt, wieso das Problem des 'Engagements' sich nicht reduzieren läßt auf die simple Frage nach der jeweils adäquaten politischen Option. Sich zu engagieren, gegen das Prinzip der Gewalt und für eine humane Lebenswelt Stellung zu nehmen - betont Cortázar immer wieder -, ist insofern ein gleichsam meta-politisches, nämlich ethisches Problem. Dank der Souveränität seiner ethischen Positionen - die in Formulierungen wie »América Latina será socialista o no será« (Ai 10: 46; M 54: 18) manchmal Hamletsche bzw. Kieikegaardsche Akzente erhält - gewinnt Cortázar jene erstaunliche Freiheit, die es ermöglicht, eine - wenn nötig - rückhaltlose Kritik von Praktiken im Bereich des »realen Sozialismus« mit einer ebenso uneingeschränkten Verteidigung des sozialistischen Ideals miteinander zu vermitteln. Eines der schönsten Beispiele dieser ideologischen Gratwanderung ist Cortázars Beitrag zum Orwell-Jahr, der am 9. Oktober 1983 in El País erschienene Artikel »El destino del hombre era... 1984« (M 62; als vieldeutige Präambel mit einem neutralen Titel versehen - »Apuntes al margen de una relectura de 1984«. - ist er gleichzeitig den Nicaragua-Aufsätzen vorangestellt!):
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Vgl. Un tribunal pour les peuples (sous la direction d'Edmond Jouve, sous l'égide de la Fondation Lelio Basso). Avant-propos par Julio Cortázar. Berger-Levrault, Paris 1983. - Das spanische Original der Einleitung Cortázars findet sich in: Argentina, S. 129-136.
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Cortázar zufolge hat Orwells Roman, obwohl er zweifellos auch die partiell zutreffende Beschreibung eines realen historischen Zustandes ist, vor allem als »alegoría«, als »figura total« eines mit den Mitteln der literarischen Fiktion bis in seine letzten Konsequenzen gesteigerten Schreckens (Nicaragua, S. 9) zu gelten. Die Reaktion des Lesers angesichts der fiktionalen Erfahrung »totalen« Schreckens, die mit der totalen Negation menschlicher Geschichte verbunden ist, hat gleichfalls den Charakter von Totalität. Sie besteht in der Erfahrung totaler Verantwortung im Hinblick auf die Ermöglichung dessen, was der Roman seinerseits negiert: 1984 »nos sitúa frente a nuestra responsabilidad, y esa responsabilidad supone la esperanza; es ésta quien hace entrar en acción a la responsabilidad que lleva a la lucha para impedir que 1984 pueda cumplirse en cualquier otro año del siglo« (ebd.). 1984 ist deshalb auch die Gretchenfrage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der historischen Verwirklichung des sozialistischen Projekts. Drei Monate vor seinem Tode, trotz seiner vielfach bekundeten, auch im vorliegenden Text wiederholten Überzeugung, das Thema habe seine historische Aktualität längst verloren, kommt Cortázar deshalb nochmals ausführlich auf die Affäre Padilla zu sprechen: Gewiß, die Zeiten haben sich geändert; in Kuba selbst ist die Haltung eines human(er)en Realismus an die Stelle des verhängnisvoll-illusorischen Revolutionsideals des »Neuen Menschen« getreten; doch als warnendes Exempel bedürfen die Vorgänge auch heute noch der revolutionär-moralistischen Reflexion. Es sind die Grundüberzeugungen eines aufgeklärten Humanismus ä la Voltaire (vgl. den Artikel »Sens commun« im Dictionnaire philosophiquel), an die Cortázar appelliert, wenn er erinnert, daß die seinerzeit ergriffenen »Zwangsmaßnahmen« seitens der kubanischen Behörden »humillaban en vez de transformar« und die Nötigung Padillas zur öffentlichen Selbstkritik nichts anderes zu erreichen vermochte als einen Zustand »de temor permanente, un pregusto de todo lo que en su última instancia desemboca en el terror de 1984. Esto lo saben de sobra los cubanos«, insistiert Cortázar, »y aquellos que hoy lo niegan se cuentan seguramente entre quienes estuvieron más atemorizados y más callados en aquel momento«. (M 62: 9; vgl. Nicaragua, S. 12f.) Julio gehörte, wie wir sahen (vgl. Kap. 11!), nicht zu ihnen. Wenn es deshalb stimmt, daß 1984 auch in sozialistischen Systemen als historische Möglichkeit in Betracht gezogen werden muß, so findet sich der Autor nichtsdestoweniger dank der positiven Entwicklung, die Kuba seither genommen hat, doch wiederum in seiner Überzeugung bestärkt, daß es nur der Sozialismus sein könne, der dazu befähigt sei im Einklang mit der berühmten Devise Rimbauds, d.h. dank seiner Fähigkeit zu permanenter Selbstkritik und Revolution »den totalen Gulag« (ebd., S. 12) auf Dauer zu verhindern. Big Brother nämlich wartet auf seine Stunde in Nicaragua und El Salvador nicht weniger als in Polen oder Afghanistan (sie!):
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»Frente a esta perspectiva, sólo creo en el socialismo como posibilidad humana; pero ese socialismo debe ser un fénix permanente, dejarse atrás a sí mismo en un proceso de renovación y de invención constantes; y eso sólo puede lograrse a través de su propia crítica, de la que estos apuntes son vagos y mínimos fragmentos.« (Nicaragua, S. 17) Das Prinzip der »totalen« Verantwortung lenkt den Blick auf eine weitere Konstante, die das Spätwerk Cortázars durchzieht: Weder die spektakuläre ArgentinienReise von 1973 anläßlich des Erscheinens von IM noch die wortreich bekundete Solidarität mit dem Anliegen der »Mütter der Plaza de Mayo« sind als 'nationale' Gesten interpretierbar. Nicht als 'Argentinier' solidarisiert er sich mit 30.000 verschwundenen Landsleuten ... ebensowenig wie 1973 die generöse Abtretung der Autorenrechte am Bestseller IM bedeutet, daß der Autor die politischen Gewaltstrategien der inhaftierten Montoneros bedingungslos unterstützt. Auch das ethisch begründete, humanitäre Engagement Cortázars für Argentinien trägt mithin revolutionäre Züge - der Begriff der Revolution in diesem Fall jedoch in seiner schillernden historischen Bedeutungsvielfalt gebraucht: 'Revolutionär' ist Cortázars ethisches Engagement, das den gefolterten und leidenden Argentinier bedingungslos gleichsetzt dem gefolterten Vietnamesen, Nicaraguaner oder Afghanen, vor allem auch gegenüber der unter lateinamerikanischen Partisanenkämpfem immer wieder anzutreffenden Nationalstaats-Mentalität, die das Recht zu solchen Gleichsetzungen davon unabhängig macht, inwieweit derjenige, der sie vollzieht, sich durch unmittelbare Feindberührung ausgezeichnet hat. Cortázar hat unter den Ängsten solcher Berührung weder gelitten noch sie - bis auf ein einziges Mal und dies nicht in Argentinien, sondern erst 1983 in Nicaragua! (vgl. »Vigilia en Bismuna«, in: Nicaragua, S. 70ff.) - jemals ausdrücklich gesucht. Er nimmt sich die Freiheit, seine Fronten selbst zu bestimmen. Wenn von 'Revolution' die Rede ist, so heißt dies - projiziert auf das ideologisch-historische Koordinatensystem Argentiniens - jedoch das Wieder-Sichtbarmachen einer durch die Grabenkämpfe des späten 20. Jahrhunderts verschütteten alten Frontlinie: »revolución«, dies bedeutet - synonym gebraucht mit den Begriffen »emancipación« und »liberación« historisch gesehen den Prozeß der Loslösung der südamerikanischen Kolonien vom europäischen Mutterland. Erst die Vollendung dieses Prozesses konstituiert die Vollendung der südamerikanischen Nationalstaaten zu wirklichen Vater-Ländern. Cortázar steht im Hinblick auf die historisch konkrete Ausformung des Projekts dieser Revolution auf Seiten des Venezolaners Simón Bolívar, des Verfechters eines - Utopie gebliebenen - Projekts einer allgemeinen südamerikanischen Konföderation, nicht jedoch auf Seiten des argentinischen Generals San Martin, des Promotors südamerikanischer Nationalstaaterei, die den aufstrebenden Großmächten England und Frankreich im 19. Jahrhundert ins koloniale Konzept paßte. Nach dem Tode der »Befreier« fand der Gegensatz - ins Innere der jungen Nationalstaaten verlegt - unter anderen Vorzeichen seine Fortsetzung, in Argentinien z.B. in Form jahrzehntelanger
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Bürgerkriege zwischen »Föderalisten« und »Unitariern«, erstere inländische Ressourcen, sprich die ungehobenen materiellen Schätze der argentinischen »Pampa« -, letztere die 'geistigen' - durch planmäßige Immigration erst in nationalen Besitz zu verwandelnden - Schätze des aufgeklärten europäischen Besitzbürgertums propagierend. Prominentester Wortführer der Unitarier war der (1868 sogar zu Präsidentschaftswürden gelangende) Schriftsteller Domingo Faustino Sarmiento, der in seiner kulturessayistischen Streitschrift Facundo den alten Gegensatz auf die griffige Alternative brachte von »Zivilisation« und »Barbarei«. Daß Cortázar - will man den Gegensatz in die Gegenwart hinein fortspinnen - auf Seiten Sarmientos steht, ist offensichtlich. So ist in den luziden Äußerungen des Autors anläßlich des argentinisch-englischen Konflikts um die Malvinas-Inseln von 1982 so etwas wie ein später Nachhall der Stellungnahme Sarmientos zur Blockade von Buenos Aires durch die Franzosen (vgl. Facundo, 3. Teil, Kap. II) zu vernehmen. Sowenig wie Sarmiento akzeptiert Cortázar die Vertretung nationaler Interessen um jeden Preis (vgl. »De derechos y de hechos«, in: Argentina, S. 5ff.). Wie jener besteht er auf der unlösbaren Verbindung zwischen dem formalen Recht auf staatliche Souveränität und der unabdingbaren Verpflichtung, den so gegebenen Frei-Raum durch die Realisierung eines auf Humanität gegründeten Gemeinschaftslebens der Nation inhaltlich zu füllen: Die Diktatur unter Manuel Rosas im 19. Jahrhundert entspricht dieser Forderung ebensowenig wie diejenige unter General Galtieri im 20. In 62. Modelo para armar hat Cortázar die alternative Option der argentinischen Geschichte andeutungsweise personalisiert: Kristallisationen nationaler Ideosynkrasien, bewegen sich der »Wissenschaftler« Polanco und der »Ästhet« Calac - die »pampeanos« - leichtfüßig zwischen Imagination und Anpassung. In späteren Texten verlieren sie ihre ursprünglich liebenswerten Eigenschaften immer mehr, gebärden sich als journalistische Plagegeister und strapazieren - sich politischer Stereotypen mit der gleichen Unbefangenheit wie der zum Aperitif bereitstehenden Whiskyflasche bedienend - die Geduld des Hausherrn (vgl. M 52; Argentina, S. 47ff.; Autonautas, S. 241ff.). Im Gegensatz zu J.L. Borges (»Diré que si lo [sc.: el Facundo] hubiéramos canonizado como nuestro libro ejemplar, otra seria nuestra historia y mejor.« [Sarmiento, Facundo, Edición anotada y comentada por Jorge Luis Borges. Libreria 'El Ateneo' Editorial. Buenos Aires 1974, S. XII]) orientiert sich Cortázar jedoch an einem Kulturmodell, das über das bürgerlich-liberale der französischen und englischen Aufklärung, das Sarmiento auf Argentinien zu übertragen vorschlägt, hinausgeht: Es besteht in dem - durch humanistische Elemente der marxistischen Geschichtsteleologie angereicherten - »Traum« (Argentina, S. 67) Simón Bolívars. Beizutragen, damit der Traum Wirklichkeit werde, dies nämlich haben sich lateinamerikanische Schriftsteller von Rang - »José Martí en Cuba, [...] Domingo Fausto Sarmiento en Argentina, [...] poetas como Pablo Neruda, novelistas como Asturias o García Márquez« (»América
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Latina y sus escritores«, in: Argentina, S. 77), ungeachtet ihrer Unterschiede im einzelnen, immer schon zur Aufgabe gemacht. Sie besteht darin, fährt Cortázar fort, »[...] de buscar nuestra identidad latinoamericana, nuestra verdad profunda como pueblos y como individuos, destruyendo máscaras y mentiras, liquidando prejuicios y tabúes, mostrando o creando los elementos necesarios para que los diferentes pueblos reconozcan cada vez más que participan de una misma y profunda corriente telúrica e histórica que los une en vez de separarlos, que los llama a comprenderse en vez de atrincherarse en fronteras belicosas y en slogans chauvinistas« (ebd.). Die originellsten Äußerungen Cortázars in seinen letzten Lebensjahren, soweit sie politisch-gesellschaftliche Themen berühren, betreffen die Problematik des politischen und kulturellen Exils, ein Schicksal, von dem er sich, wie er seit Mitte der 70er Jahre bei verschiedenen Anlässen wiederholt (vgl. Argentina, S. 17), seit 1974 auch persönlich betroffen weiß, eine Problematik, in der in Wirklichkeit jedoch die schriftstellerische und politische Existenz des Autors seit über drei Jahrzehnten - seit der freiwilligen Abreise aus Buenos Aires im Jahre 1951 - potentiell immer wieder konvergiert. 16 Cortázars Thesen zum Exil sind leidenschaftlich und provokativ formuliert. Sie haben Appellcharakter, wollen zur Umkehr bewegen - paradoxerweise nicht in erster Linie jene, die das Exil verursachen, sondern jene, die es erdulden: Gegen eine ausschließlich negative Sicht des Exils, die die Verbannung lediglich als ein von außen kommendes Unheil, als ein von einem übermächtigen Gegner dem Verbannten zugefügtes Unrecht anzusehen bereit ist, gegen eine Haltung, die das Urteil der Verbannung »traumatisch« (vgl. Argentina, S. 19) an sich selbst vollstreckt - mit der unausbleiblichen Folgeerscheinung des allmählichen Erlahmens aller schöpferischen Aktivitäten -, setzt Cortázar die Revolte, die Aufkündigung des zwischen Henker und Opfer insgeheim bestehenden »Pakts«, auf den schon die berühmten Verbrecherstudien in Vuelta al día en ochenta mundos (t.II, S. 94) hingewiesen hatten. Gegen die defätistische Sicht der Pessimisten und Traumatisierten gilt es mithin - auch auf die Gefahr hin, ein Paradox zu formulieren -, eine »positive« (Argentina, S. 20) Sicht des Exils durchzusetzen, eine Sichtweise indessen, die mehr ist als ein bloß mentaler Akt (sp. »toma de conciencia«), die vielmehr gleichbedeutend ist mit einer »Eroberung von Realität« (»toma de realidad« - ebd.), wie Cortázar mit einem schwer zu übersetzenden Wortspiel formuliert: »No estoy haciendo una broma de mal gusto, porque sé que me muevo en un territorio de heridas abiertas y de irrestañables llantos. Pero sí apelo a una
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Vgl. K. Kohut: »Entrevista con Julio Cortázar«, in: Escribir en París, Frankfurt/Barcelona 1983; vgl. auch Kohuts Beitrag zum Mannheimer Cortázar-Kolloquium: K. Kohut: »El escritor latinoamericano en Francia. Reflexiones de Julio Cortázar en tomo al exilio« (Kohut 1987).
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distanciación expresa, apoyada en esas fuerzas interiores que tantas veces han salvado al hombre del aniquilamiento total, y que se manifiestan entre otras formas a través del sentido del humor, ese humor que a lo largo de la historia de la humanidad ha servido para vehicular ideas y praxis que sin él parecería locura o delirio. Creo que más que nunca es necesario convertir la negatividad del exilio - que confirma así el triunfo del enemigo - en una nueva toma de realidad, una realidad basada en valores y no en disvalores, una realidad que el trabajo específico del escritor puede volver positiva y eficaz, inviniendo por completo el programa del adversario y saliéndole al frente de una manera que éste no podía imaginar.« (Ebd., S. 20f.) Ein unabdingbar erster Schritt zu dieser »toma de realidad« ist jedoch, daß die Betroffenen bereit sind, die positive Seite der mit dem Leben im Exil unausweichlich verbundenen Situation der Entfremdung und Entwurzelung zu erkennen und zu akzeptieren. Diese liegt in der Möglichkeit, Distanz zu nehmen, sich selbst anders, neu und möglicherweise »objektiver« zu betrachten. Wie in früheren Zeiten die berühmte »Reise nach Europa« (ebd., S. 23; vgl. M 56: 46) bietet das Exil insofern eine Chance, durch das durch die Selbstentfremdung erzwungene Mittel der Selbstkritik17 zu einem größeren Maß an Selbsterkenntnis zu gelangen: »Ya no se trata de aprender de Europa, puesto que incluso podemos hacerlo lejos de ella aprovechando la ubicuidad cultural que permiten los mass media y los happy few media; se trata sobre todo de indagamos como individuos pertenecientes a pueblos latinoamericanos, de indagar por qué perdemos las batallas, por qué estamos exiliados, por qué vivimos mal, por qué no sabemos ni gobernar ni echar abajo a los malos gobiernos, por qué tendemos a sobrevalorar nuestras aptitudes como máscara de nuestras ineptitudes. En vez de concentramos en el análisis de la idiosincrasia, la conducta y la técnica de nuestros adversarios, el primer deber del exiliado debería ser el de desnudarse frente a ese terrible espejo que es la soledad de un hotel en el extranjero y allí, sin las fáciles coartadas del localismo y de la falta de términos de comparación, tratar de verse como realmente es." (Argentina, S. 23f.) Die Worte erinnern an das bekannte Argumentationsschema, mit dem Cortázar seit vielen Jahren das Paradox zu erklären versucht, sein spezifisches Selbstbewußtsein als Lateinamerikaner sei seinem Aufenthalt in Europa zu verdanken. So heißt es z.B. in einem Interview, das 1973 in Peru entstand: »[...] creo que Europa me ha dado, en tanto escritor, una óptica que me permite
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Vgl. W.B. Berg: »La literatura argentina actual frente al problema de la autocrítica«; in: K. Kohut/A. Pagni (Hgg.): Literatura argentina hoy. De la dictadura a la democracia, Frankfurt: Vervuert Verlag 1989, S. 231-239; der Aufsatz enthalt auch eine Studie der engagierten' Kurzgeschichte »Segunda vez« (in: Alguien que anda por ahí) von J. Cortázar.
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ver el bosque sin que me lo oculten los árboles, como le ocurre a tanto exaltado nacionalista de mate amargo y escarapela.« (M 53: 27) Fünf Jahre später hat sich die Lage jedoch verändert: Was sich bislang als intellektueller Luxus des Individuums Cortázar mißverstehen ließ, gewinnt nun die Funktion einer Überlebensstrategie: Selbstkritik und Selbsterkenntnis sind eine Möglichkeit, um dem von den Generälen verordneten »entierro prematuro« (Argentina, S. 19) (des Exils) - wie Cortázar in Anspielung an den Titel einer Kurzgeschichte von E.A. Poe formuliert - effektiv zu entrinnen: »En la medida en que seamos capaces de esta dura crítica de todo aquello que haya podido contribuir a llevarnos al exilio, y que sería demasiado fácil e hipócrita achacar exclusivamente al adversario, prepararemos desde ahora las condiciones que nos permitan luchar contra él y retomar a la patria.« (Argentina, S. 24) Der Vorschlag, das delphische »Erkenne-dich-selbst« zur Devise der Verbannten der Gorilla-Regime zu wählen, konnte kaum auf einmütige Zustimmung hoffen, zumal er aus dem Munde eines Autors stammte, dessen notorische Europabegeisterung (»Paris es una amante, o mejor, la amante que las resume a todas.« - M 82: 22 18 ) trotz aller verbalen Bekenntnisse zur Argentinität (»soy el más argentino de los argentinos« - M 2: 50) nationalen Puristen seit Jahrzehnten ein Dom im Auge ist, und dessen seit langem vorliegendes, von den französischen Rechtsregierungen durchweg abschlägig beschiedenes Ersuchen um die französische Staatsbürgerschaft (vgl. M 9: 74 und öfters) in argentinischen Linkskreisen immer wieder neues Material zu tiefschürfenden ideologischen Deutungsversuchen lieferte. Wir müssen für unseren Zusammenhang darauf verzichten, die Berechtigungen einzelner Argumente, die bei alten (vgl. die Antwort Cortázars an David Viflas, in: Hispamérica, Año 1 (1972), Nr. 2, S. 55ff. = M 57) sowohl als bei neuen Kontroversen (vgl. L. Heker: »Exilio y literatura. Polémica con Cortázar«, in: El Ornitorrinco, Buenos Aires, Enero/Febrero de 1980 y Octubre/Noviembre de 1981) ausgetauscht wurden, zu prüfen: Cortázar war sich der provokatorischen Wirkung seiner Äußerungen nur zu sehr bewußt. Einmal mehr vertraut er, statt auf die Kohärenz rationaler Argumentation, auf die Überzeugungskraft des paradoxen Gestus: Sowohl in Nicaragua als auch in Argentina ist die Rekurrenz, mit der der Autor den Irrsinn zum Maßstab ethisch-Vernünftigen' Handelns erklärt, auffällig. (Vgl. Nicaragua, S. 8; Argentina, S. 13ff. und S. 22) Auch dem erhobenen Zeigefinger des okzidentalen Moralisten - eine Rolle, die sich der
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Osvaldo Soriano, der den Satz überliefert, zeichnet die allgemeine Stimmung, mit der die Haltung Cortázars bei seinen Landsleuten rechnen kann, mit folgenden Worten: »En Londres, para atacar a la reina, a sus poderes, hay que subirse sobre un cajón de madera en Hyde Park, porque el discurso sólo es permitido si el agitador no pisa suelo británico. En la Argentina, muchos críticos invirtieron sutilmente el procedimiento: Para hablar sobre el país o para inspirarse literariamente en ¿1, no hay más remedio que pisar su tierra.« (M 82: 18)
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'engagierte' Cortázar gewöhnlich zu eigen macht -, eignet bisweilen ein Stück 'Konvergenz'; die Hand, zu der er gehört, ist die zur Ohrfeige erhobene Hand des Meisters ZEN: »Seguían varios ejemplos de diálogos entre maestros y discípulos, por completo ininteligibles para el oído racional y para toda lógica dualista y binaria, así como de respuestas de los maestros a las preguntas de sus discípulos, consistentes por lo común en descargarles un bastón en la cabeza, echarles un jarro de agua, expulsarlos a empellones de la casa o, en el mejor de los casos, repetirles la pregunta en la cara, Morelli parecía moverse a gusto en ese universo aparentemente demencial, y dar por supuesto que esas conductas magistrales constituían la verdadera lección, el único modo de abrir el ojo espiritual del discípulo y revelarle la verdad.» (R 489, Kap. 95)
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TEIL II MODELLE LITERARISCHER ERFAHRUNG
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1. Imagination und Spiel: die Zeichen-Welt der Cronopien 1.0. Einleitung Der Hinweis auf den poetischen Charakter der Historias de cronopios y famas gehört zu den Selbstverständlichkeiten der Cortázar-Forschung.1 Die Semiotik bietet für dieses in den meisten Fällen intuitiv gefällte Urteil eine wissenschaftliche Argumentationsbasis. Hierzu bedarf die linguistische Definition der poetischen SpracA-Funktion bei Jakobson 2 allerdings der Ergänzung durch ihre Einbettung in einen Ansatz der allgemeinen Semiotik im Sinne der Trans-Linguistik.3 Wenn es richtig ist, die Errichtung eines Galgens in einem Vorgarten der Calle Humboldt (CF 33ff.) 4 , die Verwendung bunter, in Stücke geschnittener Gartenschläuche zum Seilchenspringen (CF 130f.), die Einführung des Rumänischen als allgemeiner Verkehrssprache des argentinischen Staatsrundfunks {CF 139f.) oder den Handel mit »gritos y palabras« (CF 103) poetisch zu nennen, so nicht, weil diesen Geschichten Texte entsprechen, die auf der materiellen Ebene der Sprachverwendung dominant »poetische« Strukturen aufweisen, sondern weil die Welt der Cronopien selbst - nicht nur die Sprache, mit der sie bzw. ihr Autor über ihre Welt zu sprechen pflegen - sich als eine Welt von Zeichen präsentiert. Poetisch ist das Tun und Treiben der Cronopien deshalb, weil sie die Wirklichkeit - allerdings in Analogie zur 'Sprache' - als provisorische, arbiträre Zeichen-Welt erfahren, als eine Welt mithin, deren scheinbare Objektivität nur im Hinblick auf die spezifischen Fähigkeiten der menschlichen Subjektivität zur Schaffung, Bewahrung und Veränderung von Zeichensystemen jedweder Art5 zu bestimmen ist. Das schmale Bändchen der Historias de cronopios y famas6 besteht aus einer Vielzahl kurzer Prosatexte, unterteilt in vier Kapitel. Schon das Inhaltsverzeichnis bzw. 1
Vgl. Coulson 1981 (1976); Filer 1970: 121ff.; Pagés Larraya 1972: 277ff.; Durfn 1972 (1965).
2
Vgl. Jakobson 1972.
3
Die Forderung nach Transzendiemng und Öffnung des linguistischen Instrumentariums in Richtung auf den Gesamtbereich der Kultur - u.a. eine Folge der Bachtin-Rezeption der 70er Jahre - ist mittlerweile Gemeingut der »Literatursemiotik«. Vgl. Kristeva 1969: 143ff.; Kloepfer 1975; Todorov 1981.
4
Wir zitieren die folgende Ausgabe: J. Cortázar Historias de cronopios y famas. Ediciones Minotauro, Buenos Aires, 10. Auflage 1976.
5
Zum Begriff der »Semiosefähigkeit« vgl. Kloepfer 1975: 30.
6
An philologischen Versuchen, das arbiträre Eigenleben der Neologismen, die die Protagonisten der Historias bezeichnen, zu »erklären«, hat es natürlich nicht gefehlt So weist J. Foicat darauf hin, daß »la correcta interpretación de 'cronopio', desde el punto de vista etimológico, [es] 'opio del tiempo', mediante la descomposición de 'cronos', tiempo, y 'opio', en su acepción argentina, aburrimiento, cansancio« (zitiert nach Filer 1970: 133). Daß die »significación de este personaje de ficción« auf die Konnotierung von »Erschlaffung« und »Müdigkeit« hinauslaufen solle, ist nun allerdings eine Deutung, der auch die oberflächlichste Lektüre der Texte widerspricht Näherliegend scheint uns, beim Anagramm »cronos« und »opio« in /cronopio/, der Gedanke an die die gewöhnliche Wahrnehmung der Zeit außer Funktion setzenden »paradis artificiéis« von Baudelaire. - Leichter scheint die Deutung der beiden anderen Titelfiguren: So realisieren die »Famen« ikonisch die ihr Verhallen charakterisierende Hörigkeit gegenüber den Codes des gesellschaftlichen Lebens, während der Titel »esperanza« umgekehrt im ironischen Kontrast steht zur Hoffnungslosigkeit der durch Konformität gegenüber den Codes ausgezeichneten sozialen Physiognomie der »Esperanzen«.
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die Titel der einzelnen Kapitel deuten auf die 'semiotische' Inspiration der Sammlung: »Este libro contiene el surtido siguiente [...]« (CF 7) Das Buch präsentiert die Welt der Cronopien - d.h. die phantastische Welt der Poetik1 Cortäzars - in der Tat als »Sortiment«, als jedermann frei verfügbare, nach Lust, Belieben und Bedürfnis manipulierbare Datenbank von Zeichen. Die List der kreativen Poetik beginnt jedoch bereits bei den Titeln. Der durch den Ausdruck »surtido« sowie die klare thematische Gliederung der Texte hervorgerufenen Erwartung von Ordnung entspricht in den Texten in Wirklichkeit ein verwirrendes Sortiment von Unordnung: Während die Titel nur einen einzigen Aspekt der Zeichenwelt beleuchten - Manual de instrucciones den der Kodifiziertheit, Ocupaciones raras den kreativen Umgang mit den Zeichen, Material plästico den Primat des Zeichenkörpers -, erscheinen in den den einzelnen Kapiteln zugeordneten Texten zugleich auch die anderen Aspekte nach wechselnder Dominanz. So besteht Manual de instrucciones in der Hauptsache gerade aus normbrechenden Anti-Instruktionen, ist insofern ein beständiger Prozeß der Deautomatisierung des Zeichenkörpers als solchem, und erscheint die normbrechende Funktion der Ocupaciones raras nur vor dem Hintergrund der in den Texten mit ebensoviel Gewicht repräsentierten semiotischen Norm. Ahnlich läßt sich auch im Hinblick auf die Protagonisten der Texte argumentieren: Cronopien, »esos objetos verdes y hümedos« (CF 114) - Verkörperung des dem sozialen Code gegenüber sich Geltung verschaffenden individuellen Lustprinzips - erscheinen nicht nur im kurzen letzten Kapitel, das ihren Namen trägt, sondern sind gegenwärtig ebenso im Subjekt des Verfassers des Manual wie in den Mitgliedern der famosen, sich den Ocupaciones raras hingebenden Familie der Calle Humboldt. Ordnung zu schaffen im chaotischen Reich der Erscheinungen bleibt indessen die (prekäre) Aufgabe der Wissenschaft. Versuchen wir deshalb - anhand exemplarischer Texte -, die Welt der Cronopien systematisch zu beschreiben. 1.1. Welt und/als Zeichen Der erste - und allgemeinste - Aspekt der Welt der Cronopien ist ihr Zeichencharakter: Die Welt der Objekte - sowohl solche der sogenannten empirischen Wirklichkeit als auch solche der menschlichen Einbildungskraft und Phantasie - ist in der Sicht der Cronopien gleichsam doppelt konstituiert. Was dem unmittelbaren Anschauen als Identität eines Objektes bzw. als Individualität menschlichen Verhaltens erscheint z.B. die Funktion eines bedruckten Stücks Papier als »Zeitung« oder die Bedeutung einer vergossenen Träne als »Schmerz« -, ist in Wirklichkeit durch ein Bündel sozial wirksamer, als Norm fungierender Gebrauchsregeln vorstrukturiert. Erst das unbewußte8 Akzeptieren der den Dingen bzw. dem Verhalten als Quasi-Natur innewoh7
Kloepfer hebt den kreativen Aspekt der Poetik durch die provokativ etymologische Ubersetzung »Mache« hervor; vgl. Kloepfer 1975: 30.
8
Der Begriff des Unbewußten ist vielfältig und schillernd. So gehört die These vom unbewußten Funktionieren der
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nenden semantisch-pragmatischen Instruktionen9 mithin macht sie zu dem, was sie sind - identischen Objekten bzw. individuellem Verhalten. Umgekehrt bewirkt die poetische Arbeit am Signifiant der sozialen Zeichen - Weinen (CF 14), Singen (CF 15), Angst-Haben (CF 16), Kunstwerke-Betrachten (CF 18) etc. - die Deautomatisierung 10 sozialen Verhaltens, die potentielle Befreiung vom Imperativ der sozialen Norm bzw. auch - im gegebenen Fall - deren kreative Umgestaltung durch das schöpferische Subjekt. Betrachten wir dies an einigen Beispielen. 1.1.1. Dissoziierung
von Bedeutung und Bedeutungskörper llorar«)
(»Instrucciones para
Der Text dissoziiert die automatische Verknüpfung des Tränen-Vergießens mit einem durch die Stereotypen unserer Kultur vorgegebenen spezifischen Signifié - eben diese Verknüpfung ist ja der eigentliche Gegenstand der den Wortkörper »llorar« konventionell begleitenden Regel! -, indem er die »Instruktion« zunächst einmal auf den psycho-physiologischen Vorgang des Weinens selbst - mithin auf seinen Signifiant zu beschränken versucht: »Dejando de lado los motivos, atengámonos a la manera correcta de llorar [...]« (CF 14). Schon die zweite Zeile jedoch straft die vermeintlich mögliche Dissoziierung eines rein physiologischen von einem sozialen Weinen Lügen: Korrektes Weinen ist nämlich eine solche Art von Schluchzen, »que no ingrese en el escándalo, ni que insulte a la sonrisa con su paralela y torpe semejanza« (ebd.). Auch der physiologische Signifiant des Weinens ist mithin bereits durch die soziale Norm strukturiert. Ihre Nichtbeachtung gefährdet die Identität des Zeichens sowohl in pragmatischer (»escándalo«!) »langue« zu den Fundamenten des Saussureschen SprachbegrifTs (vgl. Saussure 1985: 38, 178ff.). Der Begriff des Unbewußten selbst dagegen wird von Saussure nicht weiter problematisiert Das Unbewußte hat seine Entsprechung im Uberindividuellen, »kollektiven« Charakter der übrigen »Institutionen« des gesellschaftlichen Lebens. Der orthodoxe Freudianismus seinerseits bestimmt das Unbewußte durch die Topik spezifischer Inhalte - »Triebrepräsentanzen«, die »nach Überwindung von Widerständen dem Bewußtsein zugänglich werden« (Laplanche/Pontalis 1973: 563). Das Unbewußte wird von Freud also nach wie vor gedacht im Schematismus einer »métaphysique de la présence«. Demgegenüber heißt es bei Deirida: »[...] l'inconscient n'est pas, comme on sait, une présence à soi cachée, virtuelle, potentielle. Il se diffère, cela veut dire sans doute qu'il se tisse de différences et aussi qu'il envoie, qu'il délègue des représentants, des mandataires; mais il n'y a aucune chance pour que le mandant 'existe', moins devienne conscient En ce sens, contrairement aux termes d'un vieux débat, fort de tous les investissements métaphysiques qu'il a toujours engagés, l'inconscient' n'est pas plus une 'chose' qu'autre chose, pas plus une chose qu'une conscience virtuelle ou masquée.« (Deirida 1972c: 21) Als »altérité radicale« (ebd.) ist das Unbewußte vielmehr »un passé qui n'a jamais été présent« - »la trace et l'énigme de l'altérité absolue: autrui« (ebd: 22) mithin im Sinne von E. Lévinas. (Vgl. auch Derrida 1967: 99f.) Desgleichen verbietet es sich, den Begriff eines »Unbewußten der Sprache« im Sinne eines Strukturalismus Lévi-Strausscher Prägung zu denken, wenn uns auch eine Kritik an Lévi-Strauss überspitzt scheint, die in der Verwendung des Ausdrucks 'unbewußt' »nichts anderes« sieht als die Applikation eines (axiomatischen) »Grundsatz(es), der, einmal erkannt und damit präsent gemacht, den Ausgangspunkt für ein System bildet, das dem Kalkül in toto zugänglich ist«, wie H. Lang aus der Sicht der Psychoanalyse J. Lacans heraus formuliert (Lang 1973: 277). 9
Zur Bedeutung des Begriffs im Rahmen der Linguistik, vgl. Weinrich 1976: 113 u.ö.; im Rahmen der Literatursemiotik vgl. Cervenka 1978: 168.
10
Vgl. die ausführliche Erörterung dieses Zentralbegriffs des Russischen Formalismus bei Kloepfer 1975: 46ff. u.ö.
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als auch - der Gefahr der Homonymie mit dem Lächeln wegen - in syntaktischer Hinsicht. Der zweite Abschnitt versucht die Dissoziierung von Zeichenkörper und Bedeutung folglich auf dem genau entgegengesetzten Weg zu vollziehen. Während das Weinen im allgemeinen nämlich als fraglos hingenommene Manifestation eines besonderen, durch das Zeichen der Tränen indizierten Inhalts - etwa eines tiefen persönlichen Schmerzes oder einer individuell empfundenen Notsituation - gilt, geht der Text nun umgekehrt von diesem, durch den Begriff des Weinens vorausgesetzten Inhalt aus und fragt nach der äußeren Manifestation dieses Inhalts durch das korrekte Zeichen des Weinens: »Para llorar, dirija la imaginación hacia usted mismo, y si esto le resulta imposible por haber contraído el hábito de creer en el mundo exterior, piense en un pato cubierto de hormigas o en esos golfos del estrecho de Magallanes en los que no entra nadie, nunca.« (Ebd.) Die metatextuelle Instruktion dieses, durch die soziale Konvention nicht länger vorgegebenen Weinens weist jedoch ins Leere. Es entspricht ihr kein (textuelles) 'Objekt': Gibt es ein »Weinen«, das der reductio ad mortem - bzw. der reductio ad individuum - des sozialen Charakters des Zeichens adäquat 'Ausdruck' zu verleihen vermöchte? Der dritte Abschnitt insistiert infolgedessen auf der - im Sinne der vorausgegangenen Entwicklung nurmehr ironisch zu verstehenden - konventionellen Instruktion des Weinens: »Liegado el llanto, se tapará con decoro el rostro usando ambas manos con la palma hacia adentro. Los niños llorarán con la manga del saco contra la cira, y de preferencia en un rincón del cuarto. Duración media del llanto, tres ir.inutos.« (Ebd.) 1.1.2. Bedeutung pragmatisch (»El diario a diario«) Die deautomatisierende Dissoziierung von Bedeutung und Bedeutungsträger im Manual de instrucciones legt den falschen Schluß einer dualen Struktur der Zeichenwelt nahe. Die Möglichkeit der Dissoziierung - wie umgekehrt natürlich auch die das Zeichen als solches konstituierende Konjunktion von Bedeutung und Bedeutungskörper ist jedoch in Wirklichkeit - soweit der vorliegende Text - in einem Dritten fundiert, der pragmatischen Dimension des Zeichens: Eine einmal gelesene, auf einer Bank liegengebliebene Zeitung »ya no es el mismo diario, ahora es un montón de hojas impresas [...]« (CF 71) - eine »Zeitung« also nur noch im Sinne einer semantischen Virtualität. Nähert sich jemand, nimmt sie in die Hand, um sie erneut zu lesen, so aktualisiert er abermals ihre dominante Funktion als Medium der Massenkcmmunikation. Jene Alte aber, die sich schließlich des bedruckten Papiers bemächtigt, es zum
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dritten Mal liest und auf dem Heimweg »medio kilo de acelgas« (ebd.) drin einschlägt, aktualisiert auf diese Weise eine weitere - latente - Bedeutung des Signifiant /hojas impresas/, und zwar als »Packpapier«. Die Dissoziierung von Bedeutung und Bedeutungsträger mittels der deautomatisierenden pragmatischen Dimension der Zeichen ist auch das Prinzip des folgenden Textes. 1.1.3. Entpragmatisierung
sozialer Codes (»Simulacros«)
Sein Gegenstand ist nicht eine einzelne Geste wie im ersten oder ein einzelnes Objekt wie im zweiten Teil, sondern eine soziale Institution: Die Errichtung eines Galgens und anderer Folterinstrumente aus Gegenwart und Vergangenheit, die der in der Calle Humboldt ansässige Familienclan im Garten seines Eigenheims praktiziert, nimmt eine bestimmte Praxis des Strafvollzugs ins Visier, näherhin das von der Gesellschaft usurpierte und bis heute praktizierte Recht auf Verfolgung und Tötung einzelner ihrer Mitglieder. Der Humanismus der Aufklärung, weit davon entfernt, diese prinzipielle Fundierung des Strafrechts anzutasten, hat ihm in der Theorie des Rechtsstaates eine bis heute akzeptierte, im »Code pénal« fixierte institutionelle Form verliehen, hat die verschiedenen Formen seiner Exekution jedoch - im Gegensatz zum Strafvollzug des Mittelalters - den Augen der Öffentlichkeit entzogen: Hegels »Dialektik der Sittlichkeit«11 vollzieht sich in der westlichen Hemisphäre hinter abgeschirmten Gefängnismauern. Die Praxis des Strafrechts ist mithin an ein soziales Zeichensystem gebunden, dessen Herzstück eine klar definierte Pragmatik ausmacht. Andererseits: so sehr diese Pragmatik in der Praxis des modernen Rechtsstaates auch Geltung besitzt, so sehr bewirkt die fiktionale Repräsentation des Strafrechts im Bereich der Massenkommunikation ihre Aufhebung: Mord, Totschlag, Hinrichtungen, Folter sind integrierende, durch die ästhetischen Regeln der Gattung sanktionierte Bestandteile des modernen Wildwest-, Kriminal- und Horrorfilms und erreichen auf diesem Wege eine Öffentlichkeit, dergegenüber der mittelalterliche Galgen wie intimes Kammertheater anmutet. An der Western-Ästhetik scheint der mimetische Eifer der Familie in erster Linie orientiert: »Tenemos un defecto: nos falta originalidad. Casi todo lo que decidimos hacer está inspirado - digamos francamente, copiado - de modelos célebres« (CF 33), heißt es zu Anfang des Textes programmatisch. Und weiter: »Mi tío el mayor dice que somos como las copias en papel carbónico, idénticas al original salvo que otro color, otro papel, otra finalidad.« (Ebd.)
11
Zum Begriff vgl. Habermas 1969: 9ff.
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Das Schauergerüst, das sie aufzustellen beschließen, ist mit allen Stereotypen einschlägiger Westem- und Horrorromantik überstrukturiert: - der Vollmond: »'Empezaremos con la luna llena', mandó mi padre.« (CF 34) - das Heulen der Wölfe: »[...] mis hermanas se quedaban en la sala practicando el aullido le los lobos [...)« (Ebd.) - die Requisiten des Gruselkabinetts: »[...] mi tío el mayor [...] discutía con mi madre y mi tío segundo la variedad y calidad de los instrumentos de suplicio. Recuerdo el final de la discusión: se decidieron adustamente por una plataforma bastante alta, sobre la cual se alzarían una horca y una rueda, con un espacio libre destinado a dar tormento o decapitar según los casos.« (CF 35) - das Ritual des geistlichen Beistandes: »[...] dejamos terminada la plataforma y las dos escalerillas (para el sacerdote y el condenado, que no deben subir juntos)« (ebd.); - als »Totale« das Galgenprofil im Abendschein: »[...] entre el solferino y el malva del atardecer ascendía el perfil de la horca [...]« (CF 36); - Indizien des Schreckens: die balancierende Schlinge, das Quietschen des Rades, das Krächzen der Raben: »Una brisa del norte balanceaba suavemente la cuerda de la horca; una o dos veces chirrió la rueda, como si ya los cuervos se hubieran posado para comer« (CF 37); - und schließlich - als Krönung des Werkes - die Perspektive des den Schrecken in wohlige Plüsch-Romantik aufhebenden Genusses: »Después del café apagamos la lámpara para dar paso a la luna que subía por los balaústres de la terraza [...] En el silencio que siguió, la luna vino a ponerse a la altura del nudo corredizo, y en la rueda pareció tenderse una nube de bordes plateados.« (Ebd.) Während die Erbauer nach vollbrachter Tat sich in stiller Kontemplation dem ästhetischen Genuß ergeben, rotten sich jenseits des Gartenzauns Gruppen von Nachbarn und Anwohner zusammen, lassen ihrer moralischen Entrüstung freien Lauf und rufen die Hüter von Sitte und Ordnung herbei. Die Aufregung ist verständlich: Die Funktion des 'Werkes' im Hinblick sowohl auf den realen als auch den fiktiven Signifiant des »code pénal« ist der der Ent-pragmatisierung. Auf der Grenzscheide gelegen
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zwischen privater und Öffentlichkeitssphäre, ist der friedliche Vorgarten der Calle Humboldt ebensoweit entfernt von der öffentlichen Privatheit der Gefängnismauern wie von der privaten Öffentlichkeit des Vorstadtkinos. Durch die Transposition des bloßen Signifiant in einen inadäquaten pragmatischen Kontext verwandelt sich der Vorgarten in die potentielle Schaubühne (»plataforma«) kleinbürgerlicher Hypokrisie. Der Signifiant vermeintlicher Rechtsstaatlichkeit bzw. harmloser Abendunterhaltung offenbart den entsetzten Bürgern den - in beiden Systemen - verdrängten Signifié der Gewalt. Nur die geschickte Berufung auf das unwiderlegbare Fiktionalitätsprivileg der Kunst,12 verbunden mit dem diskreten Hinweis auf das Prinzip des Privateigentums, das die Schwester des Erzählers dem Polizisten entgegenhält, rettet die Situation: »[...] no le fue difícil convencerlo de que trabajábamos dentro de nuestra propriedad, en una obra que sólo el uso podía revestir de un carácter anticonstitucional, y que las murmuraciones del vecindario eran hijas del odio y fruto de la envidia.« (CF 36) Die Kette der Signifikanten (»Historia«) Die pragmatische Dimension, wenngleich an der Konstituierung der Bedeutung beteiligt, ist dennoch nicht die dominante Funktion der Zeichen. Ausgangspunkt des folgenden Textes ist gerade eine pragmatische Situation: 1.1.4.
»Un cronopio pequeñito buscaba la llave de la puerta de la calle en la mesa de luz [...]« (CF 135) Die Unbekannte ist also weder die Bedeutung des Zeichens noch seine pragmatische Funktion. Wonach das Kronopium sucht, ist vielmehr der »Schlüssel« qua Zeichen-Körper: Statt seiner findet es eine Anzahl weiterer Objekte, die durch ihre räumliche Beziehung zum Schlüssel den syntagmatischen Kontext des gesuchten Objekts konstituieren. Die Suche findet sich mithin einer »Kette von Signifikanten«13 konfrontiert, die der Text syntaktisch durch simple Reihung von vier AkkusativObjekten, die durch Genetivattribute bzw. adverbiale Ortsbestimmungen spezifiziert sind, ikonisiert: »[...] buscaba la llave de la puerta de calle en la mesa de luz, la mesa de luz en el dormitorio, el dormitorio en la casa, la casa en la calle.« (Ebd.) Der frustrierende Semioseprozeß sieht sich mithin von Objekt zu Objekt, von Signifiant zu Signifiant verwiesen und gelangt gerade hierin zur Einsicht in sein eigenes Wesen: 12
Zum Begriff der Fiktion vgl. die textwissenschaftliche Grundlegung bei Landwehr 1973; zum geistesgeschichtlichen Rahmen des Begriffs vgl. Assmann 1980.
13
Vgl. die an Peirce anschließende Erörterung des Begriffs bei Eco 1972: 76ff.; zur Verwendung des Begriffs bei J. Lacan (1966: 502) vgl. H. Lang 1973: 234ff.
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»Aquí se detenía el cronopio, pues para salir a la calle precisaba la lave de la puerta.« (Ebd.) Die Kette der Signifikanten, so sieht das Cronopium, ist nicht durch dei Verweis auf 'Realität' und ebenfalls nicht durch die Bedürfnisse ihrer potentiellen Beiutzer definiert, sondern - dominant - durch die syntaktischen Bezüge der Signifikanen untereinander. Der vieldeutige Titel »Historia« suggeriert darüberhinaus eine zumindest dreifache Anwendung des demonstrierten Prinzips: Einmal unterliegt die konkrete »Geschichte«, die der Text erzählt - die Suche des Schlüssels - dem Primat des Sigrifikanten. Im weiteren findet das Prinzip jedoch Anwendung auch auf andere Ge.chichten, insbesondere auf das Problem des Geschichten-£rzä/i/ens, impliziert dernarrative Text doch grundsätzlich wie der vorliegende - als »eje del deseo« 14 - die Stuktur der Suche. Schließlich präsentiert sich auch 'die' Geschichte - die historische Welt im allgemeinen, auf die sich das Geschichten-Erzählen immer bezieht - iach dem Modell des vorliegenden Textes dominant als Kette von Signifikanten. 1.2. Die Welt als Sprache Schlechthin alles verwandelt sich unter den Händen der Cronopien in Zeiihen. Ihre allgemeinste Bestimmung erhält deshalb die Zeichenwelt zweifellos als tnnslinguistische. Andererseits hat das Sprachsystem für die übrigen Zeichensysteme nicht nur Modellfunktion - ein methodologischer Grundsatz, dessen Beweis wir an diser Stelle allerdings schuldig bleiben müssen 15 -, sondern enthält an vielen Stellen dir Sammlung darüberhinaus thematische Dominanz. 1.2.1. Sprachliche Verfremdung sozialer Zeichen (»Instrucciones para sulir una escalera«) Der kulturelle Zeichencharakter der Treppenarchitektur ist evident. Es geiügt, die steil zum Himmel ragenden Stufen einer Maya-Pyramide zu vergegenwärtgen oder die sanft nach oben führenden, durch ihre langgezogenen Absätze nur Lngsames würdevolles Schreiten erlaubenden Repräsentationstreppen einer süddeuts:hen Barockresidenz, um der kulturellen Instruktion des Treppensteigens inne zi werden. Wenn die Treppenarchitektur als solche mithin als Teil eines primären arciitektonischen Zeichensystems zu betrachten ist, so läßt sich das Treppen-S/eige« al zugehörig zu einem durch die architektonische Konfiguration der Treppe, mehr jedtch durch das kulturelle System - dessen Ausdruck die Treppe ist - definierten komotativen Code beschreiben. Beide Ebenen spielen für den vorliegenden Text jedoch offensichtlich kum eine 14
Vgl. Blanco/Bueno 1980: 66.
15
Vgl. Lévi-Strauss 1974 (1958): 39.
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Rolle. Der Text scheint von der kulturellen Bedeutung des Treppensteigens zu abstrahieren und erhebt die durch die aufsteigende Stufenfolge einer Treppe bedingte physische Bewegung des Treppensteigens zum Gegenstand der Beschreibung. Gewiß sind Glanz- bzw. Wildlederschuhe oder die genau auf die Normalgröße eines menschlichen Fußes zugeschnittene Tiefe des Treppenabsatzes kulturelle Indizien: Wir ersteigen offenbar eine Treppe des 20. Jahrhunderts. Ihre Benutzer sind keine Maya-Priester, sondern Angehörige der sogenannten westlichen Kultur. Aber diese Indizien sind nicht Thema des Textes. Dieses ist vielmehr von Anfang an das sprachliche Problem der Beschreibung als solcher: Die Verknüpfung von Signifiant /subir una escalera/ mit dem Signifié einer entsprechenden Körperfunktion ist im Rahmen einer gegebenen Kultur normalerweise durch die Motorik des Ablaufs der physischen Bewegung automatisiert. Wie der Tanz durch Verzögerung und Stilisierung bzw. der Film durch Naheinstellung und Zeitlupe den physischen Signifiant der Bewegung, so versucht der vorliegende Text den Wortkörper /subir una escalera/ zu deautomatisieren. Das Problem besteht dann darin, die automatisch durch den Wortkörper hervorgerufene Vorstellung sprachlich zu verfremden, d.h. den scheinbar evidenten Begriff neu zu definieren. Der Text beginnt folglich mit der Definition der ersten semiotischen Ebene des Treppensteigens (s.o.!) - der Definition der Architektonik einer Treppenstufe: »Nadie habrá dejado de observar que con frecuencia el suelo se pliega de manera tal que una parte sube en ángulo recto con el plano del suelo, y luego la parte siguiente se coloca paralela a este plano, para dar paso a una nueva peipendicular, conducta que se repite en espiral o en línea quebrada hasta alturas sumamente variables.« (CF 25) Folgt im zweiten Abschnitt die Definition der eigentlichen Bewegung: »Para subir una escalera se comienza por levantar esa parte del cuerpo situada a la derecha abajo, envuelta casi siempre en cuero o gamuza, y que salvo excepciones cabe exactamente en el escalón.« (CF 26) Das eigentliche sprachliche Problem der Verfremdung des Wortkörpers - im vorliegenden Fall seine Definition - besteht in der Konstituierung einer vom »definiendum« unabhängigen Metasprache - oder einfacher: in der Vermeidung von Tautologien. Das Problem ist dadurch verschärft, daß der Wortkörper einen Prozeß bezeichnet, besteht doch Treppensteigen gerade in der Wiederholung gleicher Bewegungen mit gleichen Körperteilen. Der Versuch der Verfremdung fällt mithin 'automatisch' zurück in den Fehler, den es zu vermeiden galt - die automatische Subsumption prozeßhafter, mithin heterogener Bewegungen (bzw. Vorstellungen) unter einen einzigen Begriff (bzw. Wortkörper): »Puesta en el primer peldaño dicha parte, que para abreviar llamaremos pie, se recoge la parte equivalente de la izquierda (también llamada pie, pero que no ha
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de confundirse con el pie antes citado), y llevándola a la altura del pie, se la hace seguir hasta colocarla en el segundo peldaño, con lo cual en éste descansará el pie, y en el primero descansará el pie. (Los primeros peldaños son siempre los más difíciles, hasta adquirir la coordinación necesaria. La coincidencia de nombres entre el pie y el pie hace difícil la explicación. Cuídese especialmente de no levantar al mismo tiempo el pie y el pie).« (Ebd.) Der Versuch der verfremdenden Beschreibung des Treppensteigens konfrontiert deshalb unversehens mit einem neuen Problem - der der Sprache eigenen Tendenz zur Abstraktion, zur Kodifizierung des Einzelnen durch den (allgemeinen) Begriff. Die Auffassung der Wirklichkeit als semiotisches System, als Inbegriff einer Vielzahl von »Instruktionen« - jene Grundthese der Welt der Cronopien - ist mithin keine unmittelbare. Die Zeichen der Welt sind für das rezipierende Subjekt nicht frei verfügbar. Ihre Vergegenwärtigung im Bewußtsein ist vielmehr gleichbedeutend mit ihrer (Re-)Produktion durch ein sekundäres Zeichensystem - dasjenige der (im vorliegenden Falle: 'abstrahierenden') Sprache. Das Verhältnis der Sprache der Welt gegenüber ist also kein passiv-abbildendes, sondern ein 'produktives'. Diesen Aspekt der Sprache unterstreichen auch die folgenden Texte. 1.2.2. Grenzüberschreitung durch Neologismen (»Los posatigres«) Der vorliegende Text ist in gewissem Sinne die Umkehrung des realistischen. Während der produktive Aspekt realistischer Schreibe vor allem auf der Ebene der sprachlich-formalen Gestaltung eines (anderweitig) 'gegebenen' Inhalts liegt,16 wird hier der 'Inhalt' - die erzählte Handlung des Textes - umgekehrt recht eigentlich erst produziert durch Sprache: Thema des Textes ist die 'Realisierung' (»llevar nuestra idea a la práctica« - CF 49) - d.h. die Darstellung mittels erzählter Handlung - eines Neologismus: »los posatigres«. »Posar el tigre« (CF 50) nämlich ist keine rhetorische Metapher eines simplen realen Tatbestandes. Das Problem der exzentrischen Familie der Calle Humboldt nämlich besteht keineswegs darin - beispielsweise -, 'dem Tiger einen Käfig zu bauen', sondern genau dies zu 'tun', was die Instruktion des Neologismus befiehlt. Das Kompositum »posatigres« besteht aus zwei Lexemen, deren Verknüpfung wenngleich sie jedes für sich einen kodifizierten Sinn besitzen - neue Bedeutung produziert. Die Sinnproduktion des Kompositums hat Ähnlichkeit mit jener Struktur, die H. Weinrich unter dem Titel der »kühnen Metapher« 17 beschrieben hat: Anders als im Slogan »Pack den Tiger in den Tank«, wo die große Bildspanne zwischen bildspendendem und bildempfangendem Bereich die leichte Akzeptabilität - und 16
M. Vargas Llosa, die große Altemativfigur zu Cortázar im Bereich der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur, hat diesen Aspekt in seinen literauirtheoretischen Arbeiten unter dem Stichwort des »elemento añadido« immer wieder betont. Vgl. Cano Gavina 1972:47; vgl. auch W.B. Berg 1986c.
17
Weinrich 1963: 325ff.
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mithin ihre Instrumentalisierung in der Werbung - garantiert, ist der »posatigre« durch das Merkmal der »kühnen« kleinen Bildspanne ausgezeichnet: Die verschiedenen lexikalisierten Bedeutungen von /posar/ (»1. Reposar. 2. Situarse ante un pintor o fotógrafo. 3. Detenerse las aves, insectos, etc. en un lugar u objeto. 4. Hospedar. 5. Aterrizar.« - Diccionario Anaya de la Lengua, Madrid 1980) sind auf Menschen, Vögel und Insekten zwar anwendbar, nicht jedoch auf das Raubtier »Tiger«. Die 'phantastische', die kodifizierte Verwendung der Lexeme sprengende Bedeutung des Neologismus entsteht mithin durch die Tatsache ihrer Verknüpfung zum Kompositum. Diese verwandelt beide Lexeme in Elemente einer neuen phantastischen Sprachwelt. Es geht in der Geschichte mithin auch nicht um das - ebenfalls noch im Bereich der realen Vorstellung bleibende - Problem, einen irgendwie vorhandenen, durch welche Umstände auch immer in den Besitz der Familie gelangten (realen) Tiger zu domestizieren - eine Bedeutung, die durch das semantische Feld des Lexems »posar« vielleicht abgedeckt werden mag: Nicht nur die Domestizierung ist somit Thema der produktiven Handlung der Familie, sondern auch die Beschaffung des (somit ebenfalls phantastischen) Tigers selbst: »No hablaré aquí de la obtención del primer tigre: fue un trabajo sutil y penoso, un correr por consulados y droguerías, una complicada urdimbre de billetes, cartas por avión y trabajo de diccionario.« (CF 49f.) Die Schwierigkeiten der Familie - wenngleich ihr Tun im Detail betrachtet ebenso 'real' ist, wie die Elemente des Neologismus "kodifiziert' sind - sind denjenigen linguistischer Neuschöpfungen weitgehend analog: »Posar el tigre no es demasiado difícil, aunque puede ocurrir que la operación fracase y haya que repetirla; la verdadera dificultad empieza en el momento en que, ya posado, el tigre recobra la libertad y opta - de múltiples maneras posibles - por ejercitarla.« (CF 50) Der Tiger verhält sich mithin wie eines der beiden Elemente des sprachlichen Kompositums: Das eigentliche Problem besteht nicht in der arbiträren Zusammenfügung der Lexeme, sondern in der Verhinderung ihres erneuten Auseinanderstrebens. »Posar el tigre« - zu verhindern, »[que] el tigre recobra la libertad« - ist mithin gleichbedeutend mit dem Problem, den Neologismus zu lexikalisieren: »Es preciso que el tigre acepte ser posado, o que lo sea de manera tal que su aceptación o su rechazo carezcan de importancia« (CF 51) Die Exaltation der Familie angesichts des gelungenen Experimentes hat zur Voraussetzung das Wittgensteinsche Prinzip, demzufolge - wenn die Grenze unserer Sprache die Grenze unserer Welt markiert - die kreative Überschreitung der kodifizierten Grenzen der Sprache einem kreativen Akt der Erweiterung unserer Welt entspricht:
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»Posar el tigre tiene algo de total encuentro, de alineación frente a un absoluto [...]«(Ebd.) Die Erweiterung seiner Welt ist jedoch gleichbedeutend mit der Erneuerung des schöpferischen Subjekts. Nicht nur die Identität des Objekts, sondern auch diejenige des Subjekts steht mithin im Augenblick des Gelingens der Schöpfung auf dem Spiel: »[...] el equilibrio depende de tan poco y lo pagamos a un precio tan alto, que los breves instantes que siguen al posado y que deciden de su perfección nos arrebatan como de nosotros mismos, arrasan con la tigredad y la humanidad en un solo movimiento inmóvil que es vértigo, pausa y arribo. No hay tigre, no hay familia, no hay posado.« (Ebd.) 1.23. Mythopoietische Funktion der Sprache (»Cuenta sin moraleja«) Die Geschichte der »posatigres« demonstriert eine Eigenschaft der Sprache, die dieser einen Vorrang einräumt gegenüber den übrigen Zeichensystemen. Wir wollen diese Eigenschaft im folgenden »mythopoietisch« nennen. Der Begriff bringt sowohl den schöpferischen (»poetisch«) als auch den ideologischen (»Mythos«) Aspekt des Sachverhalts zum Ausdruck. Letzterer steht im Vordergrund des folgenden Textes. »Cuenta sin moraleja« erzählt das Schicksal eines Mannes, »(que) vendía gritos y palabras« (CF 103), u.a. die »últimas palabras« (ebd.) eines Tyrannen, bestimmt, »para configurar fácilmente un destino histórico retrospectivo« (ebd.). Der Tyrann ist interessiert; doch bevor es zum Kauf kommt, wird er gestürzt. Ein Schuß verhindert, daß er seine letzten Worte noch über die Lippen bringt. Seine Nachfolger versuchen nun mit Gewalt und Folter, dem Wort-Verkäufer zu entreißen, »cuáles hubieron podido ser las últimas palabras del tiranuelo« (CF 105). Da sie das Geheimnis nicht erfahren können, töten sie ihn mit Fußtritten. Doch die verkauften Rufe werden an den Straßenecken von fliegenden Händlern bereits wiederverkauft. Einer der Rufe wird später der Konterrevolution, die das Regime der Generäle und ihrer Sekretäre zu Fall bringen wird, als Losungswort dienen. Die Moral dieses kurzen »cuento sin moraleja« ist weitläufig und explizit: »Algunos, antes de morir, pensaron confusamente que en realidad todo aquello había sido una torpe cadena de confusiones, y que las palabras y gritos eran cosas que en rigor pueden venderse pero no comprarse, aunque parezca absurdo« (ebd.). Die mythopoietische - die Wirklichkeit nicht nur interpretierende, sondern verändernde - Macht der Sprache, so lautet die (zu) späte Einsicht der sterbenden Generäle, entfaltet sich hinter dem Rücken ihrer Benutzer. Ihre Wirksamkeit liegt auf der Ebene des Signifiant (»grito«). Als solche widersteht sie sowohl der Manipulation im durch den vorliegenden Text mit überraschender Klarheit der Zirkulation von Waren
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gleichgesetzten - Prozeß der Kommunikation (»las palabras y los gritos eran cosas que en rigor pueden venderse pero no comprarse«) als auch dem Versuch der ideologischen Inanspruchnahme ihres Signifié durch die Tyrannen (»lo torturaron para que revelase cuáles hubieran podido ser las últimas palabras del tiranuelo«). Die Sprache gibt ihre "moraleja" nicht preis. Als Signifiant erweist sie sich der physischen Gewalt der Generäle überlegen: »Y se fueron pudriendo todos, el tiranuelo, el hombre, y los generales y secretarios, pero los gritos resonaban de cuando en cuando en las esquinas.« (Ebd.) 1.2.4. Verba sive res (»Fin del mundo del fin«) Sprache ist auch im folgenden Text dominant Zeichenkörper. Produkt von Schreiberlingen (»escribas«), entzieht sie sich mehr und mehr dem kommunikativen Kreislauf von Produktion und Rezeption: »Como los escribas continuarán, los pocos lectores que en el mundo había van a cambiar de oficio y se pondrán también de escribas.« (CF 75) Fraglich indessen, ob der Aktivismus der Schreiberlinge weiterhin 'Sprache' ist. Zumindest läßt sie sich nicht mehr bestimmen als »écriture-lecture«, 18 als intertextuelle Fortschreibung sozialer und kultureller Diskurse, eine Eigenschaft, die J. Kristeva zufolge vor allem die poetische Sprachverwendung auszeichnet. Die Produkte der Schreiberlinge reproduzieren vielmehr nur die schlechte Unendlichkeit der um den Austausch von Bedeutungen unbekümmerten Kette papierner Signifikanten. Der Vorrang des Signifiant - jenes Grundprinzips der »écriture«, demgemäß die Kette der Signifikanten, nicht jedoch eine von ihrem Zeichencharakter emanzipierte Bedeutung den primären Referenten der sprachlichen Zeichen ausmacht - wandelt sich unter den Händen der Schreiberlinge zum Absolutismus des puren Zeichen-Körpers. Wenn auch ohne Bedeutung, so ist er als solcher dennoch nicht ohne pragmatische Wirkung: Als erstes überschwemmen die Schreibprodukte die privaten und öffentlichen Bibliotheken. Bald weichen Kinderspielplätze, Theater, Entbindungsheime, Kantinen und Hospitäler dem Ansturm der Bücher. Die Armen verwenden sie zum Bau ihrer Hütten und schließlich ergießen sie sich aufs Land und versperren die Straßen. Die Staatspräsidenten beschließen, die Bücher ins Meer zu versenken, in der Meinung, »que la mar no tiene fondo« (CF 76). Auf dem Meeresgrund indessen häuft sich Papier auf Papier, verbindet sich mit Wasser, verursacht Überschwemmungen, formt neue Erde und Kontinente. Die Produktion des Schrifttums indessen steigt unaufhaltsam. Papier verbindet sich weiter mit Wasser, blockiert die Rotation der Antriebsschrauben der Schiffe, so daß diese schließlich »se detienen en distintos puntos de los mares, atrapados por la pasta, y los escribas del mundo entero escriben millares de 18 Kristeva 1969: 181 ff.
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impresos explicando el fenómeno [...]« (ebd.). Die Unendlichkeit der Signifikanten hat also wieder eine Bedeutung, doch diese ist nichts als die 'Auto-Referentialität' des eigenen Prozesses. Papier und Tinte werden rarer, doch die Zahl der Schreiberlinge nimmt zu. Als beides aufgebraucht ist, wird weiter geschrieben auf Tafeln und auf Fliesen. Man erlernt die Kunst, »intercalar un texto en otro para aprovechar las entrelíneas« (CF 77). Doch das Ende ist absehbar: »En la tierra vive precariamente la raza de los escribas, condenada a extinguirse, y en el mar están las islas y los casinos o sea los transatlánticos donde se han refugiado los presidentes de las repúblicas, y donde se celebran grandes fiestas y se cambian mensajes de isla a isla, de presidente a presidente, y de capitán a capitán.« (Ebd.) Der vorliegende Text verleiht der These Michel Foucaults, derzufolge das Verhältnis von Welt und Sprache seit dem 19. Jahrhundert dadurch gekennzeichnet ist, daß letztere ihr transzendentes Fundament im menschlichen Bewußtsein verloren hat mithin selbst auf die Ebene eines »Dinges unter Dingen« abzusinken im Begriff ist19 - apokalyptische Dimensionen. Das autonomisierte Sprachwesen - »[...] le langage s'enfonçait dans son épaisseur [...], il se reconstituait ailleurs, sous une forme indépendante, difficile d'accès, repliée sur l'énigme de sa naissance et toute entière référée à l'acte pur d'écriture« 20 - hat jede Bindung an einen humanen Zweck preisgegeben und ist ganz dem Automatismus seines internen Funktionierens überantwortet. Die Beziehung der Sprache zur Welt ist deshalb jedoch nicht verschwunden. Sie ist lediglich der Hand des Menschen entglitten: Einer Schar von Zauberlehrlingen gleich sieht die Rasse der Schreiberlinge ihrem eigenen Ende entgegen angesichts der wachsenden Unendlichkeit der sprachlichen Produkte. Der Titel des Textes - sowohl (semantisch) in der Form der doppelten Negation als auch (syntaktisch) in der Form des Chiasmus - suggeriert insofern eine zweifache Lesart: Im Hinblick auf die Sprache bedeutet er deren Emanzipation vom endlichen (Bewußtseins-) Wesen des Menschen. Die automatisierte Sprache ist potentiell der Un-Endlichkeit ihres internen Funktionierens überlassen. In der Perspektive des Textes ist dies dagegen gleichbedeutend mit dem Untergang (»fin del mundo«) einer menschlichen - und das impliziert: einer endlichen - Welt (»mundo del fin«). Das Ende der menschlichen Welt erscheint somit als Produkt einer un-menschlichen Verwendung von Sprache. Auf den Trümmern der humanen Welt überlebt allein die Sprache der Macht und feiert zynisch ihre Feste. 21
19
Foucaull 1966: 313.
20
Ebd.
21
W. Promies, der die Übersetzung der deutschen Ausgabe der Cronopien bei Suhrkamp besorgt hat, übersetzt »Ende der Welt am Ende«. Abgesehen von der grammatikalisch unzulässigen Wiedergabe des Genitivattributs »del fin« durch einen adverbiellen Ausdruck bleibt bei der Übersetzung die im Original ironisch ikonisierte »schlechte Unendlichkeit« der doppelten Negation auf der Strecke.
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1.3. Die kodifizierte Welt »Fin del mundo del fin« ist die Zerstörung der humanen Welt als Resultat einer spezifischen Verwendung von Sprache. Obwohl von »escribas« geschaffen, führen die Produkte in gewisser Weise ein Eigenleben. Die Gesetze des internen Funktionierens der Sprache bleiben denen, die sich ihrer bedienen, verborgen: Die Schreiberlinge fahren fort, die Welt zu kommentieren - blind für die Tatsache, daß diese längst dabei ist, von Kommentaren überschwemmt zu werden. »Fin del mundo« allegorisiert insofern die Erfahrung einer mit Sprache gesättigten, 'kodifizierten' Welt. Es ist die Welt, wie sie die Famen erfahren - und akzeptieren; die gleiche Welt, die den Cronopien ihrerseits zum Ausgangspunkt dient für ihr kreatives, die Wirklichkeit kontinuierlicher Veränderung unterwerfendes Spiel. Die Kodifizierung der Wirklichkeit betrifft nicht nur ihre sprachliche Seite. Wenn es stimmt, daß »die Kodes [...] die notwendige und hinreichende Bedingung für das Bestehen des Zeichens« 22 im allgemeinen sind, das Akzeptieren der Codes jedoch andererseits notwendig an die Bedingung ihres unbewußten Funktionierens gebunden ist, 23 so ist die poetische Deautomatisierung der Kodiertheit der Wirklichkeit als Zeichen - das verfremdende Vorzeigen der Tatsache der Kodiertheit als solcher - ein erster Schritt zu ihrer Dys-funktionalisierung. Dies ist die Funktion der beiden folgenden Texte. 1.3.1. Hamlets Problem (»¿Qué tal, López?«) Der Text ist symmetrisch aufgebaut. Er besteht aus zwei jeweils dreigliedrigen Serien, die zueinander in Opposition stehen, sowie einem kurzen Schlußteil, der das erste Glied der ersten Serie verkürzend wiederholt. Auch die Anordnung der Glieder innerhalb der Serien folgt dem Prinzip der semantischen Opposition: Während die Dreiteilung der ersten Serie eine Klimax bildet - als Aufstieg vom Evidenten zum Femliegenden -, beschreibt die zweite die Bewegung der Antiklimax - als 'Abstieg' vom Allgemeinen zum Besonderen. Worin besteht mithin das - bereits auf der formalen Ebene des Textes angedeutete - Paradox? Die erste Serie nennt drei Aspekte der kodierten Welt: das Ritual der in unseren Gesellschaften üblichen Geste des Grüßens; das automatische Schutzsuchen vor Regen unter Arkaden und schließlich »los gestos del amor, ese dulce museo, esa galería de figuras de humo« (CF 82). Was bei der Grußformel wohl kaum jemand in Abrede stellt, wird im Falle der Liebe - zumindest für die Betroffenen - zur Provokation: »[...] la mano de Antonio buscó lo que busca tu mano, y ni aquélla ni la tuya buscaban nada que ya no hubiera sido encontrado desde la eternidad.« (Ebd.) »¿Qué se busca?« heißt es - entschiedener noch - in Rayuelo: »Terrible tarea la de 22
Eco 1972: 171.
23
Vgl. Anmerkung 8!
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chapotear en un círculo cuyo centro está en todas partes y su circunferencia en ninguna, por decirlo escolásticamente. ¿Qué se busca?« (R 561) 24 »No se buscaría si ya no se hubiera encontrado.« (R 560) Wirklichkeit - so läßt sich die erste Serie zusammenfassen - erscheint mithin als transsubjektives System von Regeln, das insofern den Namen 'Code' verdient, als die Regeln denen der Einzelne beim Kontakt mit der Wirklichkeit (unbewußt) folgt - sei es, er affirmiert explizit die Konvention des Grüßens, sei es, er aktualisiert eine den Dingen eigene Gebrauchsfunktion oder er manifestiert seine eigene Individualität im Akt der Liebe -, den Sinn, den die Wirklichkeit durch das jeweilige Handeln erhält, bereits im vorhinein festgelegt haben. Die zweite Serie setzt dieser Diagnose die Erfahrung der Cronopien entgegen: Da wir der Wirklichkeit normalerweise nur als 'kodierter' - hinsichtlich ihres Sinnes und Funktionierens im vorhinein festliegender - innewerden, ist davon auszugehen, »[que] lo verdaderamente nuevo da miedo o maravilla« (CF 82). Solcherlei Sensationen begleiten gewöhnlich einen Akt prometheischer Schöpfung (erster Abschnitt). Beispiel eines modernen Prometheus ist Hamlet (zweiter Abschnitt). Seine Entscheidung zugunsten der »solución auténtica« (CF 83) lehnt die vorfabrizierte Lösung des kodifizierten Handelns ab: »Los príncipes de Dinamarca, esos halcones que eligen morirse de hambre antes de comer carne muerta.« (Ebd.) Doch die Gelegenheit zur Suspendierung vorgegebener Wirklichkeitsmodelle Findet sich auch im alltäglichen Leben (dritter Abschnitt): »Cuando los zapatos aprietan, buena señal.« (Ebd.) Monster und die Geburt doppelköpfiger Kälber, die die Phantasie des Volkes und der Journalisten beflügeln: »¡Qué oportunidades, qué esbozo de un gran salto hacia lo otro!« (Ebd.) Der Schlußteil jedoch dämpft den Enthusiasmus der zweiten Serie: »Ahí viene López. - ¿Qué tal, López? - ¿Qué tal, che? Y así es como creen que se saludan.« (Ebd.) Die Rückkehr zur Ordnung der kodifizierten Welt ist nicht nur ein Stück ironischer Rhetorik. Sie trägt der Tatsache Rechnung, daß die Lösung ä la Hamlet, der Absprung aus der Scheinwelt prästabilisierter Codes (»así creen que se saludan«) in das 'Andere' authentischen Seins, in der Regel mißlingt, sich am Ende erneut als eine Form kodifizierten Handelns erweisen könnte. Als die Problematik von Sein und Schein, von Autonomie und Heteronomie er24
Wir zitieren die folgende Ausgabe: J. Cortázar: Rayuelo, Editorial Sudamericana, 18. Auflage 1975. Buenos Aires.
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scheint das Thema der kodierten Welt insofern unter ethischem Aspekt. Mehrere Texte der Sammlung behandeln das Thema in expliziter Form. 1.3.2. Der enge Pfad des Tugend-Codes (»La cucharada estrecha«) Wenn es stimmt, daß der »microbio redondo y lleno de patas« (CF 136), die der Fame entdeckt hat, Tugend ist, so müßte die Entdeckung der Lösung des Problems der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem entsprechen, wie es die Idee der Kantischen Ethik enthält: Das in Form der Mikrobe vermittelte subjektiv-moralische Bewußtsein müßte zugleich die Regel enthalten, die das friedliche Zusammenleben aller mit allen gewährleistet. Indessen: »El resultado fue horrible« (ebd.): Zwar enthält die Mikrobe eine Regel zum Handeln, statt der Tugend jedoch lediglich die Anmaßung der Tugend: »[...] esta señora renunció a sus comentarios mordaces, fundó un club para la protección de alpinistas extraviados, y en menos de dos meses se condujo de manera tan ejemplar que los defectos de su hija, hasta entonces inadvertidos, pasaron a primer plano con gran sobresalto y estupefacción del fama. No le quedó más remedio que dar una cucharada de virtud a su mujer, la cual lo abandonó esa misma noche por encontrarlo grosero, insignificante, y en un todo diferente de los arquetipos morales que flotaban rutilando ante sus ojos.« (Ebd.) Die Mikroben-Tugend des Famen ist - kantisch gesprochen - die vollendete Heteronomie. Sie besteht darin, das Leben dem Dogmatismus eines starren Tugend-Codes zu unterwerfen, ohne daß dieser noch am Maßstab eines allgemein verbindlichen Vernunftprinzips - so die traditionelle Idee der Tugend' - zu messen wäre. Im Gegenteil: Jeder einzelne Löffel scheint Ausgangspunkt für eine separate MikrobenKultur, für ein individuelles, arbiträres Veriialtensmuster zu werden. Als solche ist die Mikroben-Tugend jedoch nicht nur dem traditionellen Inhalt von Tugend' inadäquat; als lediglich individuell gültiges System von Verhaltensregeln erfüllt sie gleichzeitig auch nur bedingt die Kriterien eines funktionierenden Zeichensystems. Der Doppelcharakter von Willkür und Konventionalität, der die Zeichen konstituiert, hat sich im Falle der Tugend-Mikrobe zugunsten des ersteren Kriteriums verschoben. Die »Enge« (»la cucharada estrecha«) des Tugend-Codes des Famen besteht darin, arbiträr zu sein, jedoch gleichzeitig intersubjektiver Verbindlichkeit zu ermangeln. Insofern entspricht er dem semiotischen Begriff eines Ideolekts. Als der Fame der sich anbahnenden Kommunikationslosigkeit gewahr wird, greift er selbst zur TugendFlasche (»se tomó un frasco de virtud«): »Pero lo mismo sigue viviendo solo y triste. Cuando se cruza en la calle con su suegra o su mujer, ambos se saludan respectuosamente y desde lejos. No se atreven ni siquiera a hablarse, tanta es su respectiva perfección y el miedo que tienen de contaminarse.« (Ebd.)
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1.4. Zeichen in Bewegung Die allgemeine Funktion der Zeichen besteht in der Ermöglichung (intersubjektiver) Verständigung über die Wirklichkeit. Die Semiotik hält der Erfahrung einer beständiger Veränderung unterworfenen Wirklichkeit die Hypothese eines im »kollektiven Bewußtsein« existierenden Codes entgegen, d.h. eines »Repertoire(s) von elementaren und einigen komplexen Zeichen und ein(es) Komplex(es) von Instruktionen für deren Abwandlungen und Verknüpfungen« 25 . Als kodierte hat die veränderliche Welt als Inbegriff syntaktischer, semantischer und vor allem pragmatischer Regeln im Gedächtnis26 Bestand. Die Erfahrung der kodierten Welt ist deshalb - wie in den vorausgehenden Abschnitten dargelegt - ein Famen und Cronopien gemeinsamer Ausgangspunkt. Ihre Unterschiede liegen dagegen in der je verschiedenen Weise, den Codes gegenüber zu reagieren: »Los famas para conservar sus recuerdos proceden a embalsamarlos [...] Los cronopios, en cambio, esos seres desordenados y tibios, dejan los recuerdos sueltos por la casa, entre alegres gritos, y ellos andan por el medio y cuando pasa corriendo uno, lo acarician con suavidad y le dicen: 'No vayas a lastimarte', y también: 'Cuidado con los escalones'. Es por eso que las casas de los famas son ordenadas y silenciosas, mientras en las de los cronopios hay gran bulla y puertas que golpean. Los vecinos se quejan siempre de los cronopios, y los famas mueven la cabeza comprensivamente y van a ver si las etiquetas están todas en su sitio.« {CF 123) ¡ .4.1. Pragmatische Modifikation der Zeichen (»La foto salió movida«) Eine erste Bewegung, die die Cronopien in die kodierte Welt hineinbringen, besteht in der Tat im Verschieben der »Etiketten«, der Veränderung nämlich des pragmatischen Kontextes, in dem uns die Dinge für gewöhnlich erscheinen. Die selbstverständliche Welt des alltäglichen Lebens - so entdeckt ein Cronopium beim Griff in die Hosentasche - ist durch eine Anzahl pragmatischer Regeln konstituiert, denen wir unbewußt folgen, wenn wir die Dinge »an ihrem Platz« vermeinen. Der Fehlgriff in die Hosentasche, der statt des gesuchten Haustürschlüssels eine Zündholzschachtel zutage fördert, wird für phantasievolle Wesen zum Hebel des Archimedes, der die Welt aus den Angeln hebt (»este cronopio [...] empieza a pensar que [...] el mundo se hubiera desplazado de golpe« - CF 137). Nichts nämlich hindert uns, die an Schlüssel und Zündhölzern gemachte Erfahrung an anderen Gegenständen zu wiederholen und folglich »la billetera llena de fósforos, y la azucarera llena de dinero, y el piano lleno de 25
Cervenka 1978: 168.
26
Für die zentrale Funktion der Memoria im Hinblick auf eine Theorie der Welt als Zeichen vgl. bereits Augustinus: Confessiones, XI, 18ff.; vgl. H.-J. Kaiser: Augustinus. Zeil und »memoriaBonn 1969.
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azúcar, y la guía del teléfono llena de música, y el ropero lleno de abonados, y la cama llena de trajes, y los floreros llenos de sábanas, y los tranvías llenos de rosas, y los campos llenos de tranvías« (ebd.) zu finden. Die im vorliegenden Text als Gedanken- bzw. Sprachspiel vollzogene SedeM/angíverschiebung der die Wirklichkeit konstituierenden Zeichen ist das Produkt der Modifikation des Verhältnisses der Zeichenbenutzer zum Zeichen&örper. Das phantasiebegabte Cronopium kombiniert - ohne Rücksicht auf die Regeln der alltäglichen Pragmatik - die Elemente zweier Paradigmen (»billetera llena de ...«, »azucarera llena de ...« etc. einerseits; »fósforos«, »dinero« etc. andererseits) und erzeugt hierdurch neue Bedeutungen. Diese sind mithin sowohl gegenüber dem Zeichenkörper als auch gegenüber dem Prozeß ihrer Verknüpfung seitens des Zeichenbenutzers sekundär. Der Text macht insofern die Konstitution von Gegenständen zu Elementen kultureller Signifikanz - nach dem Muster: »Schweinslederhüllen mit Seidenfutter dienen in unseren Breiten zum Aufbewahren von Geldscheinen, nicht von Zündhölzern« etc. - als Semioseprozeß wieder sichtbar. 1.4.2. Umfiinktionierung öffentlicher Institutionen (»Correos y Telecomunicaciones«) Die vorübergehende Besetzung eines Postamtes in der Calle Serrano durch die Protagonisten der Ocupaciones raras dagegen ist nicht nur ein Sprachspiel, sondern die reale Umfunktionierung einer öffentlichen Institution und ruft als solche - wie so oft in den Geschichten Cortázars - die Intervention der Ordnungskräfte auf den Plan. Die Störung der öffentlichen Ordnung ist wiederum die Folge - wie im vorhergehenden Text - einer neuen Pragmatik des Zeichenkörpers. Dessen interne Ordnung wird von den neuen Beamten genau respektiert: Wie so viele ihrer lateinamerikanischen Kollegen ist auch für sie der öffentliche Dienst die natürliche Fortsetzung der Familie: »Una vez que un pariente de lo más lejano llegó a ministro, nos arreglamos para que nombrase a buena parte de la familia en la sucursal de correos de la calle Serrano.« (CF 40) Ebenso vollzieht sich die zwangsweise Entfernung aus dem Amt in den Formen einer normalen Pensionierung: »Cantamos el himno nacional y nos retiramos en buen orden [...]« (CF 41). Auch der Schalterdienst - Briefmaikenverkauf, Geldverkehr, Paketabfertigung wird pünktlich vollzogen. Doch hier ist die erste Abweichung zu beobachten: Die neue Mannschaft vollzieht ihren Dienst mit so außerordentlicher Geschwindigkeit, daß ein Inspektor der Zentralpost sie mit seinem Besuch und La Razón mit einer Sonderkolumne beehren. Am dritten Tag ist ihre Popularität bereits derart gestiegen, daß Leute aus den angrenzenden Vierteln erscheinen, »a despachar su correspondencia y a hacer giros a Purmamarca y a otros lugares igualmente absurdos« (CF 40).
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Nun hält das Oberhaupt des Clans - »mi tío el mayor« 27 - den Zeitpunkt für gekommen, daß die Familie das Publikum bedient, jedoch »con arreglo a sus principios y predilecciones« (ebd.): Jeder Briefmarkenkäufer erhält einen bunter. Globus geschenkt. Die Geldiiberweiser werden mit Grappa und Fleischpasteten traktiert, und die Kunden am Paketschalter sehen mit Verwunderung, daß die Beamten die Pakete vor der Abfertigung teeren und federn. Gaffer und Polizei bleiben schließlich nicht aus und werden von einer Wolke bunter, aus Telegramm- und Überweisungsformularen und Einschreibebriefen gefertigten Papierschwalben empfangen, die die Mutter über ihnen ausgießt. Die semiotische Formel dieses Happenings läßt sich nach folgendem Schema transkribieren: A (offizielle = ideologische Version des Zeichens)
B (das Zeichen als »reale« Erfahrung im lateinamerikanischen Kontext)
C (das Zeichen in den Händen der Cronopien)
Signifiant:
Institution »Correos y Telecomunicaciones« pragmatische
(dto.)
(dto.)
Ebene:
- Pfichterfüllung Unbestechlichkeit; Patriotismus
- Nepotismus; Korruption; Faulheit
- Elemente aus A (z.B. Pflichterfüllung, Patriotismus) -Elemente aus B (z.B. Nepotismus) plus:
-neue Elemente: Schnelligkeit; Selbstverwirklichung (vgl. »con arreglo a sus principios y predilecciones«); Uneigennützigkeit (vgl. die Geschenke!); Betonung der appellativen Funktionen des Zeichensystems (»mi padre [...] además reci27
Zur Funktion des Avunkulats im Rahmen eines »elementaren Verwandtschaftssystems« - dessen karikaturales Modell die Familie der Calle Humboldt darstellt - vgl. Lévi-Strauss 1974 (1958): 47ff.
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taba a gritos los mejores consejos del viejo Vizcacha«); (ästhetisches, poetisches) Spiel mit dem Signifiant Signifié: Dienst am Bürger, an der Allgemeinheit; Ziel: soziale Kommunikation
Bewirtschaftung privater Taschen; (teilweise) Verhinderung sozialer Kommunikation; Resultat: Unlust, Ärger
neue (d.h. lustigere bzw. lustvolle) Formen sozialer Kommunikation
1.4.3. Konnotationen der Musik (»Instrucciones para cantar«) Eine weitere Möglichkeit, Bewegung in die kodierte Welt der Zeichen zu bringen, liegt in der Exploration der Ebenen der Konnotation. Der vorliegende Text läßt die zwischen Semiotikem offene - Frage, 28 ob das musikalische Zeichensystem auf denotativer Ebene neben syntaktischen auch semantische Funktionen ausübt, ob es mithin die Kriterien eines Zeichensystems überhaupt erfüllt, hinter sich und handelt vom Gesang von vornherein auf der Ebene der Konnotation. Hier ist die Fragestellung müßig, erfüllt das Singen zweifelsfrei semantische Funktionen. Ein weiteres: Wenn die Denotation der Musik identisch ist mit einer strikten syntaktischen Ordnung, so indiziert die Ebene der musikalischen Konnotation das weite Feld der durch den Zeichenkörper /Musik/ evozierten, mit zunehmender Entfernung vom denotativen Kern des Zeichens an Konventionalität - mithin an Ordnung - verlierenden sozialen Bedeutungen, Attitüden und Gesten. Im entschiedenen Gegensatz zur herkömmlichen Rezeption von Musik, bei der der akustische Eindruck des Klangkörpers die Semantik der sozialen Konnotationen 'automatisch' indiziert,29 nimmt die Bewegung, die die vorliegenden »instrucciones para cantar« in die kodierte Ordnung der Musik hineinbringen, ihren Ausgangspunkt umgekehrt von der 'Unordnung' der sozialen Konnotation: »Empiece por romper los espejos de su casa, deje caer los brazos, mire vagamente la pared, olvídese. Cante una sola nota, escuche por dentro.« (CF 15)
28
Vgl. Jean Molino: »Fail musical et sémiologie de la musique«, in: Musique en jeu, N* 17 (Jan. 1975). Paris: Ed. du Seuil; Jean-Jacques Nattiez: »De la sémiologie à la sémantique musicale«, in: Musique en jeu, a.a.O.
29
Nach diesem Schema funktioniert die traditionelle Filmmusik. Vgl. Adorno 1969: 56f.; vgl. auch Th.W. Adorno/H. Eisler: Komposition für den Film, 1969.
174
Die Kette der konnotativen Indizien erlaubt in diesem Fall eiie weitgehend präzise Rekonstruktion der mutmaßlich zugrundeliegenden musikaliscien Syntax: 'Gemeint' ist offenbar die steinerweichende (»Glas zum Zerspringen bringende«), durch die traditionellen Gesten der Hoffnungslosigkeit und Verlassenheit üihnengerecht dargestellte Sentimentalität spätromantischer Opemmusik. Weniger eindeutig ist demgegenüber der folgende Satz: »Si oye (pero esto ocurrirá mucho después) miedo, con hogueras entre las piedras, con creo que estará bien encaminado, y lo mismo pintadas de amarillo y negro, si oye un sabor bra de caballo.« (Ebd.)
algo como ur paisaje sumido en el siluetas semiiesnudas en cuclillas, si oye un río p r donde bajan barcas de pan, un taco de dedos, una som-
Die Rekonstruktion dieses Klangkörpers, der in Gefühle venunkene Landschaften, bewegte Farben, Geschmacks- und Tastempfindungen sovie vorbeihuschende Schatten zu hören erlaubt, führt hinein in die synästhetische W:lt impressionistischer Klanggebilde, bei welchen - der Eindeutigkeit und Konkrethet mancher ihrer Titel zum Trotz - (vgl. Debussys »La cathédrale engloutie«, »La M;r« etc.) - das Prinzip der polyvalenten Semantik konstitutives Kompositionselemeit der musikalischen Syntax geworden ist. Der letzte, durch eine Leerzeile vom übrigen Text getrennte Satz läßt jedoch auch diese Phase der Musikgeschichte hinter sich und scheint die inarchistisch-kamevaleske De- bzw. Rekonstruktion überkommener Formen schle:hthin zum Kompositionsprinzip einer »neuen« (?) Musik zu erheben: »Después compre solfeos y un frac, y por favor no cante jor la nariz y deje en paz a Schumann.« (Ebd.) 1.4.4. Destruktion ikonischer Codes (»Instrucciones para enteider tres pinturas famosas: 'El amor sagrado y el amor profano' por Tziano«) Die Werke der großen Renaissancemaler haben für die Gesclichte der Neuzeit die Funktion kultureller Ikone: Der Begriff des »Humanen« - eüu neue Sichtweise des Menschen, der Natur, der Religion und des gesellschaftlichen Lebens - eThält durch die Bindung an spezifische Ausdrucksformen (Sujet, Farbe und Perspektive) die Funktion eines - in der Folge mit der Darstellung der humaren 'Natur' schlechthin gleichgesetzten - Codes, der bis spät ins 19. Jahrhundert hineii Geltung besitzt. Die Verfestigung des Codes - als Produkt einer spezifischen Rezeption und Lesart 30 steht indessen in seltsamem Widerspruch zur Ratlosigkeit dei Kunstgeschichte, die genaue Bedeutung einzelner Gemälde zu entschlüsseln. So heiße es in einer populären 30
Zur Bedeutung der Allegorie in Literatur und Kunst vgl. J. BurckhardL Die Cultui der Renaissance in Italien, 2. Auflage 1869: 322ff.
175
Sammlung, die eine Abbildung des Gemäldes enthält, das den Anlaß für den vorliegenden Text gebildet hat: »Die Kunstgeschichtsschreibung hat lange Zeit versucht, den Inhalt dieses Gemäldes, das von Licolö Aurelio in Auftrag gegeben und in den Jahren 1515-1516 ausgeführt wurde, zu deuten.«31 Mit anderen Worten: Es ist der Kunstgeschichte bis heute nicht gelungen, eine eindeutige Bedeutung des Bildes zu ermitteln. Hiermit ist der Kunsthistoriker natürlich nicht am Ende seines Lateins. Er verlegt sich auf die Methodik der Archäologie und beschreibt die angeblich objektive Struktur seines Fundes, d.h. den Signifiant: »Tizians klassische Farbskala wird jetzt durch die offene und weite Landschaft und die auf die ruhende Natur abgestimmten Farben außerordentlich lebendig.« Cortázars Text destniiert nicht nur die sterile Sophistik einer gewissen Kunstgeschichte, sondern stellt darüberhinaus ein allgemeines semiotisches Prinzip in Frage, demgemäß sich das ikonische Zeichen gegenüber dem (symbolischen) Sprach-Zeichen durch die Eigenschaft »geringerer Kodebedingtheit«, mithin »größeren Wahrheitsgehalt(es) und größere(r) Verständlichkeit«32 auszeichnet. Im Vorgriff auf die Skepsis Oliveiras gegenüber dem Maler Etienne - »Tus colores no son más seguros que mis palabras, viejo« (R 191) - durchbricht der Text den kodifizierten Schematismus der traditionellen Deutung und unterlegt dem Gebäude einen neuen - arbiträren Sinn. Doch auch die neue Deutung hat als solche 'Struktur'. Einerseits respektiert sie weitgehend - auch im Detail - die Materialität des ikonischen Signifiant, andererseits funktioniert sie als Um-Schreibung der Paradigmen des traditionellen Signifié: 1. Auch für Cortázar hat das Gemälde symbolisch-allegorische Bedeutung. Figuren und Szenerie bedeuten nicht sie selber, sondern sind Ausdruck - 'Darstellung' - eines Inhaltes, der sich den Augen des Betrachters entzieht: »Esta detestable pintura representa un velorio a orillas del Jordán. Pocas veces la torpeza de un pintor pudo aludir (Hervorh. W.B.B.) con más abyección a las esperanzas del mundo en un Mesías que brilla por su ausencia (Hervorh. im Original); ausente del cuadro que es el mundo, brilla horriblemente en el obsceno bostezo del sarcófago de mármol, mientras el ángel encargado de proclamar la resurrección de su carne patibularia espera inobjetable que se cumplan los signos. No será necesario explicar que el ángel es la figura desnuda [...] El niño que mete la mano en el sarcófago es Lulero, o sea el Diablo. De la figura vestida se ha dicho que representa la Gloria [...]«. (CF 18f. - Hervorh. W.B.B.) 2. Auch auf einer zweiten Ebene ist der Text weniger willkürlich als es zunächst den Anschein hat: Isolierte Elemente der pikturalen Signifikanten - die rechteckige Form 31
Bastei. Galerie der Großen Maler, Nr. 9, Tizian, 1. Teil, 1969.
32
Lotman 1972:91.
176
des Marmorbrunnens, die beiden am vorderen Brunnenrand sitzenden Frauengestalten, die von hinten die Hand ins Wasser tauchende Putte sowie der perspektivisch in die Ferne verlegte, nur durch zwei blaue Flecke angedeutete Fluß - werden zu einer biblisch-mythologisch inspirierten Allegorie verbunden, eine Deutung, die bei allem Widerspruch zum 'Augenschein' des Betrachters Elemente des gleichen Paradigmas verwendet, dem der Titel des Gemäldes - »El amor sagrado y el amor profano« - entstammt. 3. Seine eigentlich verfremdende Wirkung bezieht der Text durch eine dritte Isotopie - diejenige eines profanen, kreatürlichen Realismus -, welche, indem sie die religiösmythologische Allegorie überlagert, eine spezifisch neue, durch den Text produzierte, aber auf die Semiosemöglichkeiten des pikturalen Signifiant weiterhin bezogene Lesart der Verquickung »sakraler« und »profaner« Thematik - auf die der Titel des Gemäldes ja anspielt! - produziert: »No será necesario explicar que el ángel es la figura desnuda, prostituyéndose en su gordura maravillosa, y que se ha disfrazado de Magdalena, irrisión de irrisiones a la hora en que la verdadera Magdalena avanza por el camino (donde en cambio crece la venenosa blasfemia de dos conejos). [...] De la figura vestida se ha dicho que representa la Gloria en el momento de anunciar que todas las ambiciones humanas caben en una jofaina; pero está mal pintada y mueve a pensar en un artificio de jazmines o un relámpago de sémola.« (CF 18f.) Die provozierende Kontamination des sakral-biblischen - »orillas del Jordán«, »Mesías«, »resurrección de [...] carne«, »ángel«, »Magdalena«, »Gloria« etc, - durch die Isotopie profan-obszöner Alltäglichkeit - »obsceno bostezo del sarcófago«, »su carne patibularia« (auf den abwesenden Messias bezogen), »la figura desnuda, prostituyéndose en su gordura maravillosa«, »Todas las ambiciones humanas caben en una jofaina«, »relámpago de sémola« etc. - verleiht dem Text einen blasphemischen Akzent, der, wenngleich im Titel virtuell enthalten, auf der Ebene des pikturalen Signifiant durch die konventionelle Formgebung der beiden Protagonisten verdrängt wird: Für die Augen eines Betrachters des 20. Jahrhundert ist die (halb-) nackte »amor profano« nicht weniger sakral als die elegant bekleidete »amor sagrado« profan wirkt. Analog zum ersten Text der Sammlung (»Instrucciones para llorar«) enthält die poetische Instruktion des Textes mithin ebenfalls die Aufforderung zur kreativen Veränderung des pikturalen Signifiant, dessen semantische Instruktion sie dem Titel zufolge vorgibt zu sein (vgl. Abschnitt 1.1.!). Der kreative Appell bezieht sich jedoch nicht allein auf das 'Werk', sondern schließt die Subjektivität des Künstlers mit ein. Er bezieht sich insbesondere auf den - gleichfalls codebedingten - Geniekult der Renaissancemalerei, auf dessen Destruktion der Text wiederholt (»esa detestable pintura«, »la torpeza de(l) pintor«, »está mal pintada«) insistiert.
177
1.5. Jenseits der Zeichen Die durch die Cronopien in die Zeichenwelt hineingebrachte Bewegung ist jedoch mehr als nur reines Spiel. Ihre Intentionalität liegt nicht nur im Aufweis des konventionellen Charakters der kodierten Welt, sondern macht eine Grenze sichtbar, die das Prinzip der Konventionalität als Grundbestimmung des Zeichens selbst in Frage stellt. Der spielerische Umgang mit den Zeichen hat insofern in verschiedenen Texten den Charakter einer semiotischen Grenzerfahrung. 33 Ohne die Grenze zu verwischen oder gar zu überschreiten, zielt er paradoxerweise auf einen Raum 'jenseits' der Zeichen. 1.5.1. Zeichen und Bedürfnisstruktur (»Su fe en la ciencia«) Der folgende Text ist zunächst einmal eine Parabel des schon im Mittelalter diskutierten Satzes de singularibus non est scientia: Eine Esperanze betätigt sich als Physiognome und teilt ihre Mitmenschen ein in Plattnasen, Aufgeblasene, Griesgrämige, Fisch- und Intellektuellengesichter. Bei näherem Zusehen allerdings stellt sie fest, daß jede Gruppe weitere Unterteilungen zuläßt. So z.B. die Plattnasen in Schnauzbärtige, Boxertypen und Ministerialamtsboten. Als sie ihre Leute jedoch schließlich zu Kaffee und Kuchen ins Paulista de San Martin bestellt, um das System zum Abschluß zu bringen, zerfällt ihr dieses unter den Händen. Auch die zu Untergruppen geordneten Exemplare lösen sich auf in ebensoviele, der klassifizierenden Erfassung entzogene Individuen. Doch der Text ist mehr als eine philosophische Parabel, die Moral der Geschichte mehr als ein epistemologisches Paradox. Die Ironie des auktorialen Erzählers gegenüber dem scheiternden Experiment entdeckt für den Leser, was der wissenschaftsgläubigen Esperanze entgeht. Das physiognomische Modell der Menschheit, so sehr es die Rhetorik wissenschaftlicher Systematik zur Schau trägt, hat in Wirklichkeit nichts gemein mit der Methode rationalistischer Skepsis, wie es dem originären wissenschaftlichen Denken - z.B. dem Positivismus eines Popper - zu eigen ist. Seine Voraussetzung ist vielmehr ein Akt des Glaubens (»Una esperanza creia en los tipos fisionömicos [...]« - CF 140, Hervorh. W.B.B.), sein Gegenstand infolgedessen ein universaler. Das physiognomische Modell ist offenbar von vornherein auf die Wirklichkeit 'Mensch-überhaupt' bezogen. Die Esperanze vergißt, daß wissenschaftliche Modelle nur in dem Maße 'Wirklichkeit' abbilden, in dem sie diese durch ihre eigenen Voraussetzungen konstituieren. Modell (»Physignomie«) und empirische Wirklichkeit (»Mensch«) befinden sich im vorliegenden Fall mithin auf grundsätzlich verschiedenen Ebenen. Sie sind inkommensurabel. Dies - die Erfahrung grundsätzlicher Inkommensurabiliät zwischen Modell und Wirklichkeit - ist mithin die eigentliche Pointe der Geschichte. Die Erfahrung des Inkommensurablen liegt nicht so sehr auf
33
Vgl. Solers 1968.
178
der Ebene der Unvereinbarkeit zweier logischer Größen (»singulare« vs. »scientia«) ein Paradox, das jeder wissenschaftliche Ansatz für sich zu bewältigen hat - als vielmehr in der Konfrontation mit einer Ebene menschlicher Wirklichkeit, die, wenn überhaupt, zu allerletzt mit den Kriterien physiognomischer Deskription zu erfassen ist: Der auf Objektivierung und rationelle Verallgemeinerung erpichten wissenschaftlichen Methode steht auf seiten der menschlichen Spezies, die das Modell zu beschreiben versucht, die irrationale Wirklichkeit einer individuellen Bedürfnisstruktur gegenüber: »Así fue como se le disolvió el subgrupo, y del resto no hablemos porque los demás sujetos habían pasado del mazagrán a la caña quemada, y en lo único que se parecían a esa altura de las cosas era en su firme voluntad de seguir bebiendo a expensas de la esperanza.« (CF 141) 1.5.2. Subjekt und Zeichen (»Los exploradores«) Der 'Glaube an die Wissenschaft' sieht sich erschüttert aufgrund einer Erfahrung, derzufolge die vermeintlichen Objekte der physiognomischen Beschreibung sich als lebendige Subjekte gebärden. Die Struktur des Subjekts erscheint mithin als Grenze des wissenschaftlichen Oiye£/-Bereichs. Der folgende Text zeigt das Subjekt dagegen auch als Grenze der Pragmatik der Wissenschaft, als Grenze mithin des Wissenschaft treibenden Subjekts: Zwei Höhlenforscher - ein Cronopium sowie ein Farne - begeben sich auf die Suche nach einer unterirdischen Quelle. Schon zu Beginn des Abstiegs manifestieren beide je unterschiedliche Interessen: Während der Farne in seinem Tagebuch alle Einzelheiten der Expedition sorgfaltig notiert, gibt das Cronopium der Bodenstation die wütende Meldung durch, man habe ihm statt seiner Lieblingsstullen lediglich Schinkenbrote mitgegeben. Nur mit Mühe widersetzt sich der Farne der Forderung nach Abbruch der Expedition. Inzwischen ist sein Begleiter bereits auf die Wasserquelle gestoßen und meldet nach oben, »que todo va mal, entre injurias y lágrimas informa que los sándwiches son todos de jamón, que por más que mira y mira, entre los sándwiches de jamón no hay ni uno solo de queso« (CF 148f.). Während oben das Subjekt die Konstitution eines wissenschaftlichen Objekts überhaupt verhinderte, erscheint es im vorliegenden Fall - wenngleich am Akt der Konstitution noch unbeteiligt - in 'transzendenter' Position. Der Eigensinn des seine Käsebrote reklamierenden Cronopiums zeigt, daß die Konstitution des wissenschaftlichen Objekts an bestimmte, durch die Wissenschaft treibenden Subjekte zu ratifizierende Interessen gebunden bleibt. Die Universalität des wissenschaftlichen Objekts hat mithin ihren Preis. Sie verlangt die Unterordnung des Subjekts unter intersubjektive Interessen. Auf dieser Ebene betrachtet geht die Bedeutung der Texte über einen Gemeinplatz
179
der Wissenschaftstheorie (bzw. ihrer Kritik) jedoch kaum hinaus. Der verlorengegangene Glaube an die Operabilität des Physiognomiemodells sowie das demonstrative Desinteresse des höhlenforschenden Cronopiums am Ergebnis der Expedition betreffen 'Wissenschaft' vielmehr auf der Ebene einer allgemeinen Zeichentheorie. Die beiden Texten gemeinsame Position der Wissenschaftskritik ist auf semiotische Systeme überhaupt übertragbar. Zum einen: Wie der wissenschaftliche Begriff ist die Semantik des Zeichens aufgrund der Zugehörigkeit zum Code grundsätzlich auf ein Allgemeines bezogen und kollidiert insofern mit der den Zeichensystemen zugeschriebenen Funktion der Mimesis (auch) individueller Realität. Zum anderen: Semiotische Systeme sind keinesfalls - ebensowenig wie der spezielle Fall der Wissenschaft - zureichend gekennzeichnet durch das Merkmal der Interesselosigkeit bzw. der intersubjektiven Verbindlichkeit. Ihre Konstitution ist vielmehr bedingt durch einen speziellen Akt subjektiver énonciation.34 Ihre Verbindlichkeit ist - wie die von Zeichen überhaupt - 'arbiträrer' Natur. 1.5.3. Subjekt und System Es gilt an dieser Stelle einem Mißverständnis entgegenzutreten, das der - wie wir meinen: unumgängliche - Begriff des Subjekts mit sich bringt. Vorauszuschicken ist vor allem, daß 'Subjekt' im vorliegenden Kontext mitnichten die Bedeutung hat, die der Begriff in der neuzeitlichen Philosophie gewonnen hat. Subjekt ist keineswegs jene denkende 'Substanz', die Descartes zufolge jeder sinnvollen Rede vom Sein im Sinne der Selbstgewißheit notwendigerweise zugrundeliegt. Subjekt ist auch nicht die Instanz eines transzendentalen 'Ich', jenes apriorische Vermögen subjektiver Synthesis, welches die durch das Denken hervorgebrachten Kategorien mit den in den Formen der Anschauung gegebenen Daten empirischer Erfahrung in Erkenntnis verwandelt. 35 Der Subjektbegriff dient schließlich erst recht nicht zur Stützung eines vermeintlichen 'Subjektivismus', der hier gegenüber dem Objektivitätsideal der Wissenschaft ins Feld zu führen wäre. Den Vertretern der letzteren freilich - gerade auch manchen 'Semiotikem' unter ihnen -, sofern ihre Entwürfe vom impliziten Vertrauen in eine immer schon gegebene, unabhängig vom Einzelsubjekt bestehende - nach dem Modell eines trivialisierten naturwissenschaftlichen Weltbilds gedachten - 'Realität' getragen sind, 36 ist das Dichterwort entgegenzuhalten: »Nous ne sommes pas au 34 33 36
Vgl. E. Benveniste: »L'appareil formel de l'énonciation« (Bd. 2 1974: 79f.) sowie - neuerdings - O. Ducrot Esquisse d'une théorie polyphonique de l'énociation (1984: 171ff.). Zur Kritik des untergründigen Cartesianismus der modernen Wissenschaftstheorie vgl. Derridas programmatische Auseinandersetzung mit Husserl, in: La voix et le phénomène (Derrida 1976). Dieser Vorwurf trifft das »Rahmenkonzept zur (Re-) Konstruktion und Evaluation von Vorschlägen zur wissenschaftlichen Fundierung der Literaturwissenschaft«, das L. Danneberg und H.-H. Millier vorgelegt haben (Eschenbach/Rader 1980: 17ff.) nicht. Die Frage allerdings, wie die Distanz, die den Theorie-Himmel, wie ihn Danneberg/Müller ausmalen, von der konkreten literaturwissenschaftlichen Forschung eiTeicht werden kann - wie mithin der von den Verfassern selbst beklagten »mangelnden Durchschaubaikeil und [...] Praxisferne der Vorschläge zur wissenschaftlichen Fundierung der Literaturwissenschaft« (18) in concreto Abhilfe geschaffen werden könne -, gehört in die Liste jener Desiderata, die die Verfasser bedauerlicherweise in ihrem interessanten Rahmen-
180
monde«. 37 In diesem verschafft sich ein Subjekt Geltung, das sich gegenüber der texttranszendenten, im Absoluten des Geistes, der Wissenschaft oder der Materie verankerten Rede von 'Welt' - wir nennen sie in der Arbeit die 'logozentrische' - als unüberschreitbare Grenze erfährt. Das Subjekt des modernen Textes ist keine selbstidentische, außerhalb des Textes (der Welt) gelegene Substanz. Es erfährt sich vielmehr selber als Text, als jene grundlegende, jeder Rede vom Subjektiven oder Objektiven immer schon vorausgehende »Bewegung der Differenz«. 38 Nicht das Subjekt konstituiert die Differenz, sondern - umgekehrt - diese das Subjekt. Letzteres findet sich mithin der Differenz ursprünglich »unterworfen« (»subjectum«). Die Differenz ist andererseits das Generationsprinzip jedweder Struktur, sofern wir diese - semiotisch - bestimmen als System von Differenzen. Die von J. Derrida eingeführte Schreibweise »différence« vs. »différence« weist darauf hin, daß die - auf phonetischer Ebene neutralisierte - Unterscheidung der Ordnung der »écriture« angehört. Das in die Bewegung einer ursprünglichen »différance« eingeschriebene Subjekt ist insofern vom Standpunkt einer logozentrischen statischen Struktur her gesehen ein Nicht-Seiendes. Umgekehrt - wenn es stimmt, »(que) les différences sont [...] 'produites' - différées - par la différence« 39 - ist das Subjekt als Differenz nicht nur Anfang, sondern vielmehr auch Ende jedweden logozentrischen Systems: »Si le langage, et en particulier le langage littéraire, ne s'élançait constamment, par avance, vers sa mort, il ne serait possible, car c'est ce mouvement vers son impossibilité qui est sa condition et qui le fonde.« 40 Grenzerfahrung des kodifizierten Zeichens, hat die Bedeutungspraxis 41 des modernen Textes mithin den Charakter einer fortgesetzten Transgression. Gegenüber dem Objektivismus der 'Wissenschaft' nicht weniger wie der Statik eines vermeintlichen »bon sens«, 42 dem das »Meinen« (Hegel!) des natürlichen Bewußtseins als unumstößliche Wahrheit und Realität zu gelten pflegt, bedeutet die Erfahrung des Subjekts die Freilegung einer Ebene ursprünglicher Produktivität: Im Hinblick auf die Erfahrung einer grundlegenden »différence« erscheint das kodifizierte Zeichen mithin als Prozeß.
konzept zu diskutieren unterlassen. 37
A. Rimbaud: Une saison en enfer, in: Oeuvres (1960: 224); das Zitat erscheint mehrfach in Rayuela (R 216,253).
38
Vgl. Derrida 1972b: 39.
39
Derrida 1972c: 15.
40
M. Blanchot: La pari dufeu, S. 28; zitiert nach Todorov 1970: 184.
41
Zum Begriff vgl. Kristeva 1969: 208ff.
42
Zur Funktion des »gesunden Menschenverstandes« (beispielsweise) in der Wahrheitsdefinition bei Tarski, vgl. Danncbcrg/Müller 1980: 26.
181
1.5.4. Brosamen des Todes (»El Almuerzo«) Die Erfahrungen der Cronopien sind Subjekterfahrungen im angedeuteten Sinne. Beispielsweise die folgende: Einem Cronopium gelingt die Herstellung eines Lebens-Thermometers. Anläßlich des Besuchs dreier seiner Freunde appliziert es seine Entdeckung und klassifiziert seine Gäste nach diesem Schema: Der Fame ist »infra-vida«, die Esperanze »paravida« und der Dritte im Bunde - ein »profesor de lenguas« - »inter-vida« (CF 127). Die Lebenstemperatur des Gastgebers zeigt eine leichte Tendenz in Richtung auf »super-vida, pero más por poesía que por verdad« (ebd.). Beim Mittagessen dann läßt es die Gäste reden ... Die Simplizität des Ausdrucks bildet einen ironischen Kontrast zum weitreichenden Sinnangebot des Textes. Es genügt, an die klassische Definition des Menschen zu denken, und der Text verliert auf der Stelle seine vordergründige Naivität. Das Lebensthermometer gewinnt dann die Funktion eines technologischen Maßstabs zur Bestimmung des Grades, inwieweit die Individuen ihre Zugehörigkeit zur Gattung 'Lebe-Wesen' realisieren. Die Spezifik menschlichen Lebens ist indessen - gemäß der alten Definition - die Rationalität, eine Eigenschaft, die im aristotelischen Text bekanntlich durch den Begriff des Logos bezeichnet wird (SvOpomoq ¡¡G3ov \6yov exiov). Der 'Logos' - für die Griechen Sprache, Vernunft und Denken zugleich bezeichnet die allgemeine Fähigkeit des Menschen, mit seinesgleichen mittels der Sprache zu 'vernünftigen' Übereinkünften zu gelangen. Es ist hier nicht der Ort, die theologische Filiation dieses Gedankens sowie die fundamentale Rolle, die er in der Geschichte des abendländisch-logozentrischen Sprachmodells gespielt hat, zu erörtern. 43 Gewiß ist, daß die moderne Linguistik, indem sie 'Kommunikation' nicht nur zu den Effekten der Sprachverwendung rechnet, sondern sie sogar in den Rang einer ihrer Prämissen versetzt, der logozentrischen Geschichte des abendländischen Sprachmodells umso weniger entgeht, als sie dessen theologischen Ursprung durch die positivistischen Modelle der linguistischen Analyseverfahren unkenntlich macht. Das Vergnügen unserer Gastgeber beim Anhören der Unterhaltung ist insofern verständlich. Wenn es stimmt, daß Fortschritt in der Wissenschaft nur auf dem Wege der Falsifikation zu erreichen ist, so indiziert die Freude des Cronopiums in der Tat einen Erkenntnisfortschritt: Im Hinblick auf die in Frage stehende differentia specifica des Lebewesens Mensch falsifiziert die Unterhaltung die Prämisse 'Kommunikation': »A la hora del almuerzo este cronopio gozaba en oír hablar a sus contertulios, porque todos creían estar refiriéndose a las mismas cosas y no era así.« (Ebd.) Das Vergnügen des Cronopiums ist des weiteren verständlich, da die verhinderte Kommunikation - bei welcher der »intra-vitale« Linguistik-Professor über Geist und 43
V g l . Krisleva 1981: 105ff.
182
Kommunikation - bei welcher der »intra-vitale« Linguistik-Professor über Geist und Bewußtsein dissertiert, die »para-vitale« Esperanze offenen Mundes zuhört, der »infra-vitale« Farne beständig den geriebenen Käse verlangt, während der »super-vitale« Gastgeber das Hühnchen tranchiert - die fundamentalen Lebensäußerungen mitnichten beeinträchtigt. Ist es dies oder sind es die von den Gästen schließlich zurückgelassenen pedacitos sueltos de la muerte« (CF 128), die den Gegenstand der Freude unseres Gastgebers ausmachen? Versuchen wir die Andeutung einer Antwort in einem letzten Text der Sammlung zu finden. 7.5.5. Poesie und Transgression (»Pegue la estampilla en el ángulo derecho del sobre«) Auf den ersten Blick wiederholt der Text lediglich ein Verfahren, das wir oben ausführlich analysiert haben: die Modifikation der pragmatischen Instruktion des sozialen Zeichens: Ein Fame und ein Cronopium bringen Briefe an ihre auf einer gemeinsamen Reise befindlichen Ehefrauen zur Post. Während der Fame ohne Verzug den postalischen Vorschriften Folge leistet und seinen Brief ordnungsgemäß frankiert in den Kasten wirft, damit die Nachricht über sein persönliches Wohlbefinden die Empfängerin erreicht, verwickelt das Cronopium die Beamten in ein nutzloses Streitgespräch bezüglich der ästhetischen Qualitäten der Briefmarken. Niemand werde ihn dazu bringen, so teilt er den erstaunten Beamten mit, seine »cartas de amor conyugal« (CF 152) durch dergleichen traurigen Schund zu entehren. Schließlich erscheint der Amtsleiter und setzt das lamentierende Cronopium samt seinem Brief auf die Straße. Sein Freund, der Fame, tröstet ihn mit folgenden Worten: »Por suerte nuestras esposas viajan juntas, y en mi carta anuncié que estabas bien, de modo que tu señora se enterará por la mía.« (CF 153) - eine Meldung, die für das Cronopium offensichtlich ohne Belang ist. Die Modifikation der gewohnten Zeicheninstruktion des /Briefschreibens/ weist im vorliegenden Fall indes eine Besonderheit auf, die es näher zu betrachten gilt: Die Sitte, Briefe zu schreiben, dient seit den frühesten Epochen der kulturellen Entwicklung der Menschheit zur Übermittlung von Nachrichten bei räumlich und zeitlich getrennten Kommunikationspartnern. Papier, Schrift, Umschlag und - seit De Valayer die Briefmarke konstituieren insofern den materiellen Träger der Nachricht. Auf sie ist - Jakobson zufolge - die poetische Sprachfunktion bezogen. 44 Das auf die materielle Seite der Nachricht bezogene Interesse des Cronopiums, welches das bei einem 44
Kommunikationswissenschaftler werden argumentieren, die Schrift nur bilde im strengen Sinne die Nachricht, während Papier, Umschlag und Briefmarke eher auf den Kanal der Nachrichtenübermittlung zu beziehen seien. Die Unterscheidung ist hier jedoch nur von theoretischem Interesse, bilden im Normalfall moderner Korrespondenz doch alle genannten Elemente eine Einheit. Beschriftetes Papier, Umschlag und Marke also sind zusammen die 'Nachricht', welche mittels des Bolen - und die durch diesen repräsentierte, als 'Kanal' fungierende Institution Post' - vom Absender zum Empfänger befördert wird.
183
durchschnittlichen Briefschreiber vorauszusetzende Interesse an der Übermittlung einer referentiell zu beziehenden 'Botschaft' - im vorliegenden Fall: das Wohlbefinden der beiden Ehemänner - dominiert, ist mithin 'poetisches' Interesse im doppelten Sinne: Zum einen aufgrund der Dominanz, die hier die Nachricht als solche gewinnt; zum anderen aufgrund der Tatsache, daß gerade sie, die - im Normalfall automatisierte - materielle Seite des Zeichens, seitens des Cronopiums zum eigentlichen Feld der semiotischen Produktivität erhoben wird - einer Produktivität freilich, die sich ausschließlich auf die äußere, 'ästhetische' Form dessen bezieht, was im herkömmlichen Kommunikationsmodell 'Brief lediglich die Funktion eines untergeordneten Mittels besitzt, die Briefmarke. Die intendierte Umfunktionierung des Zeichens erscheint vom Standpunkt geordneter Nachrichtenübermittlung aus gesehen als sinnlos - ebenso wie diese, die Übermittlung referentieller Botschaften, aus der Perspektive poetischer Produktivität als überflüssige Redundanz erscheint. Wenn auch die freie poetische Produktivität des Cronopiums - im vorliegenden wie in den meisten Texten der Sammlung - an der Intervention der personifizierten sozialen Autorität des Zeichens (»el jefe de correos«) scheitert, so zeigt sich im Scheitern nichtsdestoweniger die Richtung, in welche die den Cronopien eigentümliche Aktivität sich bewegt: Das 'Jenseits der Zeichen', auf welches die Aktivität abzielt, ist mitnichten eine der Zweideutigkeit aller Zeichenkonstellation enthobene 'Realität' - also keinesfalls ein Jenseits traditionellen Zuschnitts im Sinne einer Über-Welt bzw. eines Ding-an-sich. Es ist vielmehr ein Jenseits immer in Bezug auf eine etablierte, durch soziale Sanktionen gefestigte Welt von Zeichen, ein Jenseits mithin dieser (bestimmten) Welt, konstituiert indessen - wie diese - durch signifikantes Material. Das Moment der Freiheit der Cronopien - ihre eigentümliche Produktivität - gegenüber der etablierten Zeichenwelt liegt mithin nicht in der Schaffung neuer Signifiants, sondern in der Zurückweisung, der Transgression sowie der produktiven Umgestaltung der sozial etablierten Regeln ihres Gebrauchs, ihrer Syntax und folglich - ihrer Semantik. Die Aktivität der Cronopien ist in diesem Sinne »Arbeit am Signifiant«. Sie ist - was das gleiche sagt - eine wesentlich »poetische« 45 Aktivität.
45
Es ist dies jene Aktivität, die J. Mukarovsky der »ästhetischen Funktion« zuweist, wenn er - in einer möglichen Mißverständnissen gegenüber nicht gefeiten Formulierung - diese dadurch charakterisiert, daß sie »in sich das Ganze widerspiegelt«. (Mukarovsky 1974: 129ff.)
185
2. Die Semiose des Anderen: zur Metaphysik der Suche in Rayuela
2.0. Einleitung 1
Rayuela ist zweifellos Cortázars bedeutendstes Werk. Der Roman, von einem Teil der Kritik zunächst als kaum lesbares intellektuelles Machwerk abgelehnt, 2 erscheint uns heute - mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen - als eine Summe in vielfacher Hinsicht. Werkgeschichtlich: In Rayuela kulminiert Cortázars literarisches Schaffen bis 1963. 3 Zugleich setzt der Roman Maßstäbe für Cortázars nachfolgende Produktion.4 Biographisch-politisch: Rayuela schlägt die 'Brücke' - mit allem was die von Cortázar gern verwendete Metapher an Prekärem enthält (vgl. unten: 1.2.3.1. sowie Libro de Manuel, 8. Kapitel!) - zwischen einem individualistisch-'bürgerlichen' Lebensabschnitt einerseits und einer 'sozialistischen', auf Solidarität mit dem 'Nächsten' hin abgestimmten Lebensorientierung andererseits, wie sie Cortázar in der Freundschaft mit Kuba exemplarisch erfahrt.5 Literatur geschichtlich: Rayuela ist 1
Wie aus den von A.M. Barrenechea veröffentlichten Skizzen hervorgeht, lautet der ursprüngliche Titel des Romans Mandola (Barrenechea 1983: 20fT.). Die Substitution des Mandala, eines der ältesten religiös-mythischen Symbole der Menschheit mit universeller Verbreitung in fast allen Kulturen (vgl. Jacobi 1978: 135ff.), durch den argentinischen Titel des - nicht minder 'universell' bekannten, von Kindern in aller Welt gespielten - Paiadies-Hüpfens »Himmel und Hölle« (peruanisch: »mundo«; norddeutsch: »Hinkepott«!) ist von zentraler Signifikanz. Der neue Titel ist dem ursprünglichen nicht nur Tco-extensiv* - auch »Rayuela« bezeichnt wie »Mandala« den esoterischen »Weg zum Paradies« (aus einer deutschen Spielanleitung!) -, sondern erweitert ihn zugleich um die für den Gesamttext bedeutsame Dimension des Alltäglichen, Evidenten - um nicht zu sagen - Regionalen. Wir kommen an gegebener Stelle ausführlich auf die Metaphorik des Titels zurück (vgl. 2.1.2.4.2. sowie Anmerkung 46!).
2
Vgl. Imo 1981: 141.
3
Siehe dazu das in Kapitel 1,5. Ausgeführte. - Vgl. auch Cortázar selbst: »Rayuela es de alguna manera la filosofía de mis cuentos, una indagación sobre lo que determinó a lo largo de muchos a/los su materia o su impulso.« (La vuelta al día en ochenta mundos, t.I: 41)
4
Die Modellfunktion, die Rayuela für das spätere Werk besitzt, ist gewiß einerseits eine »formale« (vgl. Yurkievich 1986, in: Berg/Kloepfer 1986: 421), mehr jedoch sicherlich eine »inhaltliche«. So ist es vor allem die - von ihrer formalen Seite natürlich unabtrennbare - alternative Kulturerfahrung (vgl. 2.1.2.4.3. und 2.3.2.: VIII), die den Konvergenzpunkt bildet zwischen Rayuela und Cortázars Hinwendung - nach 1963 - zum politischen "Engagement'.
5
Vgl. die Darstellung dieses »langen Weges«, in dessen Verlauf die mannigfachen Grenzerfahnmgen von Rayuela eine funktionelle Bedeutung erhalten, in Kapitel 1,5. und 1,6.1. J. Alazrakis Vorlage zum Mannheimer Kolloqium sowie - vor allem - auch seine Intervention in der abschließenden »Mesa redonda« weisen in eine ähnliche Richtung: So artikuliert sich bereits in den frühesten Texten Cortázars - z.B. in Los Reyes - eine dezidierte politische Sensibilität (vgl. Alazraki 1986a), die dem durch die Gruppe der »floreistas« repräsentierten traditionellen Ästhetizismus des argentinischen Bürgertums der 20er und 30er Jahre diametral entgegengesetzt ist. Wahrnehmung sozialer Konflikte, dialogische Bereitschaft zur Öffnung gegenüber dem »Nächsten« sind in dieser Perspektive Eigenschaften, die Cortázars Literatur von Anfang an ausge-
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Roman und Anti-Roman zugleich. Nichts liegt Cortázar femer als das avantgardistische Spiel mit der vorgeblich reinen Form: Die Kombination romanesker und antiromanesker Formen auf der syntagmatischen Ebene des Textes macht Literaturgeschichte als beständige Funktionalisierung bzw. Formalisierung überkommener Inhalte (und vice versa) einsichtig. Die Geschichte literarischer Formen als ganze nicht nur die jeweils neuere auf Kosten der traditionellen - wird somit als Prozeß verfügbar. Poetologisch: Rayuela ist kein herkömmlicher Roman mit essayistischen Einsprengseln, die - wie es die von J. Ortega herausgegebene Sammlung La casilla de los Morelli6 glauben macht - als die gleichsam poetologische Metatheorie des Romans vom übrigen Text beliebig ablösbar wären. Theorie und Praxis des Schreibens gehören in Rayuela vielmehr zur gleichen Ebene der 'écriture': Die romanesken Passagen haben ihr 'Ende' (d.h. aber auch ihr 'Ziel') ebenso in den 'theoretisch'-reflektierenden Passagen wie diese - umgekehrt - in den romanesken ihre Fortsetzung, Ausweitung, Einschränkung oder Widerlegung finden. Semiotisch: Der Grundsatz, wonach im Roman potentiell alle Ebenen möglicher Zeichensysteme für die Bedeutungsgenerierung Relevanz erlangen können, 7 ist in Rayuela nahezu idealtypisch verwirklicht: Selbständiger Sinn wird sowohl auf der Ebene der narrativen Systeme im engeren Sinne (Handlung, Personenkonstellation, Chronotopos, Erzähl- bzw. Diskursebene etc.) generiert als auch auf der rein 'poetisch'-sprachlichen 8 oder - schließlich - der 'außersprachlichen', nämlich kulturellen Ebene. Epistemologisch: Die Unzulänglichkeiten der bisherigen Cortázar-Forschung angesichts der Tatsache, daß wie angedeutet - in Rayuela poetischer Text und poetologische Reflexion ein Kontinuum bilden, sind offensichtlich. 9 Ihr Grund liegt nicht so sehr in einem unzureichend entwickelten methodologischen Instrumentarium, sondern darin, daß Rayuela und hierin zeigt der Roman eine Eigenschaft, die er mit dem modernen Text im Sinne der »écriture« teilt 10 - (literaturwissenschaftliche) 'Methodologie' überhaupt - gerade auch in ihrer 'semiotischen' Spielart - im Hinblick auf ihre Prämissen in Frage stellt: Rayuela zwingt dazu, die Axiomatik des semiotischen Instrumentariums - Kommunikation, Zeichen, Wirklichkeit und/oder Referenz, Subjektivität - nicht: methodologisch neu zu formulieren, sondern: philosophisch zu reflektieren. Kulturanthropologisch: Das Urteil Etiennes über Morelli" gilt für das Buch als ganzes: Rayuela ist zeichnet und in der schließlichen Hinwendung zum »Sozialismus« nur eine letzte Konkretion erfahren haben (vgl. Alazraki 1986b: 2ff.). 6
Vgl. O n e g a 1981.
7
Vgl. hierzu Kloepfer 1986.
8
Zum Begriff vgl. Kloepfer 1975.
9
Wir kommen in Abschnitt 2.2. auf dergleichen Unzulänglichkeiten ausführlicher zurück: Die Grundschwäche bisheriger Arbeiten zur Ästhetik Cortázars liegt u.E. in der unreflektierten Voraussetzung der Möglichkeit einer Trennung von Theorie' und 'Praxis'. Auf ihre dichotomische Entgegensetzung - die der eigentlichen Ebene ästhetischen 'Argumentierens' (sofern von einer solchen in Rayuela überhaupt die Rede sein kann!) von vornherein der Boden entzieht - läuft auch die »Conclusión« der materialreichen Arbeit von L. Scholz (1977: 121ff.) hinaus.
10
Zum Begriff vgl. Einleitung, 1.3.1.3. und 1.3.1.4 ; ergänzend siehe Barthes 1970 und 1978; Berg 1983a: 324ff.
11
»Etienne veía en Morelli al perfecto occidental, al colonizador. [...] había que reconocer que su libro constituía
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eine Summe okzidentalen Denkens nicht dank eines imaginären oder willkürlich angenommenen Standpunktes außerhalb, sondern vollzieht die radikale Infragestellung der fundamentalen Prämissen okzidentaler Kultur - vor allem die Hinterfragung des allen 'logozentrischen' Entwürfen letztlich zugrundeliegenden Anthropozentrismus von den bewußt reflektierten Grenzen dieser Kultur aus gesehen. Als »Grenzzeichen« okzidentalen Denkens markiert Rayuela deshalb tendenziell nicht nur die Aufhebung okzidentaler Kultur, sondern gleichzeitig auch die Bewahrung und Fortführung einer ihrer zentralen Qualitäten, ihre im Laufe ihrer Geschichte immer wieder manifest gewordene Fähigkeit zur kritischen Selbstreflektion. Jeder der vorstehend genannten Punkte faßt Rayuela unter einem besonderen, für die Interpretation des Romans bedeutsamen Aspekt. Ihren gemeinsamen Bezugspunkt haben alle Aspekte in einem zentralen Motiv, das der Text von der ersten Seite an zunächst auf der scheinbar nur vordergründigen Ebene der Handlung - entwickelt: dem Motiv der Suche.12 Der Analyse dieses Motivs, soweit in ihm die semantische Geste des Textes ihren umfassendsten Ausdruck findet, ist unsere Untersuchung gewidmet.
2.1. Makrostrukturelle Elemente der Suche 2.1.1. Problemstellung (Kapitel 1) Die Suche ist nicht in erster Linie Gegenstand intellektueller Spekulation. Sie ist vielmehr von Anfang an präsent auf der Ebene der konkreten Handlung. Deren 'Logik' ist in der Tat identisch mit der paradoxen Struktur der Suche. Der systematischen Beschreibung des Motivs soll deshalb einleitend eine Analyse des ersten Kapitels vorangehen. Der erste Satz des ersten Abschnitts indiziert die Situation des (hier mit dem Protagonisten identischen Ich-) Erzählers als die eines Suchenden: »Encontrarfa a la Maga?« (R 15) Das »nunc initial« der Erzählung 13 - im Text »ahora« (R 15; 17) markiert jedoch lediglich abstraktiv die Grenze eines in der Perspektive des Vorher und Nachher erzählten Kontinuums der Suche: Der auffällige Gebrauch des durch den modal-temporalen Konditional indizierten »estilo indirecto libre« 14 , mit dem der Text in den Abschnitten 1 bis 3 bzw. 6 und 7 jeweils beginnt, projiziert das Ziel der ante todo una empresa literaria [...].« (R 491) 12
Das Motiv ist zwar seit A.M. Bairenecheas wichtiger Rezension des Romans (Barrenechea 1964) seit langem in der Cortäzar-Forschung inventarisiert (vgl. Filer 1970: 107ff.; Holsten 1970; Pucciarelli 1972; Satue 1980); eine die Gesamtheit der textuellen Ebenen als Suche erfassende Analyse jedoch fehlt.
13
Der Begriff stammt von B. Groethuysen; vgl. Jauß 1970: 20ff.
14
Die mannigfachen, durch die große französische Erzähltradition des 19. Jahrhundens konventionalisierten Formen erzählter Rede, die von den Vertretern der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur in der Regel meisterhaft praktiziert werden, finden neuerdings auch das systematische Interesse der Literaturwissenschaft. Vgl. Rivarola/Reisz de Rivarola 1984.
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Suche in die Zukunft, während die Abschnitte 4 und 5 den Beginn der Suche in eine unbestimmte Vergangenheit verlegen. Das Ich des Suchenden tritt gegenüber dem dominierenden Faktum der Suche selbst in den Hintergrund, denn: was bzw. wie sucht Oliveira? Er und die Maga suchen ohne zu suchen - überzeugt, »de que un encuentro casual era lo menos casual en nuestras vidas [...]« (ebd.). Oliveiras Suche verzichtet in eigentümlicher Weise darauf, das ins Werk zu setzen, was eine Handlung normalerweise als 'Suche' spezifiziert - die planende, berechnende Vernunft; sie hat nichtsdestoweniger ein Ziel: »Andábamos sin buscarnos pero sabiendo que andábamos para encontrarnos.« (Ebd.) Das Ziel der Suche wird im zweiten Abschnitt mit Hilfe eines zu einer kleinen Geschichte expandierten Vergleichs spezifiziert: Maga gleicht einem zerschlissenen Regenschirm, den beide einst auf der Place de la Concorde gefunden und voll Enthusiasmus benutzt hatten, bis sie ihn, als ein Windstoß ihn zerfetzte, statt auf den Müll, ins hohe Gras einer Parkanlage warfen: »Y quedó entre el pasto, mínimo y negro, como un insecto pisoteado. Y no se movía, ninguno de sus resortes se estiraba como antes. Terminado. Se acabó. Oh Maga, y no estábamos contentos.« (R 16) Der Vergleich funktioniert hinsichtlich der Handlung sowohl als Vorgriff als auch als Rückblende: Maga zu treffen war zwar und ist noch das Ziel der Suche. Doch Maga fungiert nur - substituierbar bei Gelegenheit durch ein anderes Objekt - als Signifiant dieses Ziels. Das Ziel selbst - als Signifié - dagegen bleibt hinter der Person Magas unergründlich verborgen - »[...] como un silencio ensordecedor, una pausa filosa y cristalina que acababa por derrumbarse tristemente, como un paraguas mojado que se cierra« (R 15f.). Die antihumanistische Provokation der Substitution der Maga - als dem Ziel der Suche - durch einen Regenschirm ist das Pendant zur anti-rationalen Bestimmung des Subjekts der Suche im ersten Abschnitt. Sie dementiert zugleich das Bild der reinen, in sich ruhenden Emotionalität, das eine vorschnell auf Harmonisierung bedachte Kritik gerne von Maga zeichnet. 15 Weder ist Maga mit diesem Bild bruchlos identisch noch stimmt es, daß Oliveira, der angeblich hoffnungslos mit sich selbst zerstrittene Rationalist, um jeden Preis um die Identifikation mit diesem Bild als dem Ziel seiner Suche ringt: »Con la Maga hablábamos de patafísica hasta cansarnos, porque a ella también le ocurría (y nuestro encuentro era eso, y tantas cosas oscuras como el fósforo) caer de continuo en las excepciones, verse metida en casillas que no eran las de la gente, y esto sin despreciar a nadie, sin creemos Maldorores en liquidación ni 15
Z.B. Brodin 1975: 19-38 (»Maga o la ingenuidad poética«).
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Melmoths privilegiadamente errantes. No me parece que la luciérnaga extraiga mayor suficiencia del hecho incontrovertible de que es una de las maravillas más fenomenales de este circo, y sin embargo basta suponerle una conciencia para comprender que cada vez que se le encadila la barriguita el bicho de luz debe sentir como una cosquilla de privilegio.« (R 20) Maga ist ebenso wie Oliveira eine Suchende, jedoch ohne um die Tatsache zu wissen, daß sie sucht: bald irrt sie von einem Gehweg zum anderen »para mirar las cosas más insignificantes« (R 18); bald folgt sie Oliveira in die (für sie) unverständliche Welt des Stummfilms oder wohnt den absurden Diskussionen des »Club de la Serpiente« bei; bald unternimmt sie zusammen mit Oliveira Ausflüge in entlegene Gegenden von Paris, »donde el cielo vale más que la tierra« (/? 19), oder vernarrt sich in ein rotes Stück Stoff, das ihr Zeichen ist »del perdón o del aplazamiento« (R 21). Im Gegensatz zu Maga hat Oliveira ein klares Bewußtsein seiner selbst als eines Suchenden: »Ya para entonces me había dado cuenta de que buscar era mi signo, emblema de los que salen de noche sin propósito fijo, razón de los matadores de brújulas.« (R 20) Mit dem Eintritt in die Welt der Maga gelangt diese Suche jedoch keineswegs an ihr Ziel, denn der vermeintliche, vom Makel des Bewußtseins erlöste Signifié der reinen Intuition erscheint dem suchenden Blick Oliveiras als eine endlose Kette konfuser Signifiants - »un mundo donde te movías como un caballo de ajedrez que se moviera como una torre que se moviera como un alfil« (R 18). Das Ende des Textes resümiert das Motiv der perennierenden Suche in der ironisch expandierten Geschichte des mit dem Mut eines Verzweifelten ein zu Boden gefallenes Zuckerstück suchenden und schließlich auffindenden Oliveira, der, als er den Zucker in der Hand hält, spürt, »cómo se mezclaba con el sudor de la piel, cómo asquerosamente se deshacía en una especie de venganza pegajosa [...]« (R 23). Die vorstehende Analyse wirft eine Reihe von Fragen auf, die die folgenden Abschnitte schrittweise zu beantworten versuchen: Der erste Fragenkomplex betrifft den Prozeßcharakter der Suche sowie - damit zusammenhängend - das Problem des 'Mediums' der Suche. Es wird zu zeigen sein, daß weder die Ebene der romanesken 'Handlung' noch die 'psychologische' Ebene der Konstellation der Personen noch weiter gefaßt - die Frage nach der durch die Suche indizierten »Wirklichkeit« 16 die Problematik der Unendlichkeit der Suche adäquat zu begründen vermögen. Die Antwort auf die Frage nach dem Medium der Suche erlaubt es, die für die Suche Oliveiras konstitutive Infragestellung des logo- bzw. anthropozentrischen Weltbilds schärfer zu fassen. 16
Vgl. unsere Rezension der Arbeit von Imo (Berg 1982).
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Gegenstand des zweiten Teils der Untersuchung ist deshalb die Analyse der fundamentalen Spannung, die für das Textganze charakteristisch ist, und zwar im Hinblick auf die auf allen Ebenen des Textes realisierte (logozentrische!) Geste der Suche einerseits sowie die gleichzeitige - als paradoxes Ergebnis der Suche sich ergebende und deren logozentrischer Prämisse entgegengesetzte - Erfahrung textueller Arbeit als 'écriture' andererseits. 2.1.2. Topoi der Suche 2.1.2.1. Ausgangspunkt und Perspektive (»Tablero de dirección«) Ein einziges Mal nur - wenige Augenblicke, bevor die Polizei der zärtlichen Begegnung der zerlumpten Clocharde Emmanuèle mit dem argentinischen Intellektuellen Oliveira ein abruptes Ende setzt - taucht im Bewußtsein des Protagonisten die Möglichkeit einer quasi-nationalen Deutung der Suche auf: »Oliveira [...] seguía pensando en que sólo el que espera podrá encontrar lo inesperado, y entrecerrando los ojos para no aceptar la vaga luz que subía de los portales, se imaginaba muy lejos (¿al otro lado del mar, o era un ataque de patriotismo?) el paisaje tan puro que casi no existía de su kibbutz.« (R 248) Die Funktion der romanesken Handlung als Bedeutungsträger im Rahmen der Suche nach der Bestimmung der nationalen und kulturellen Identität Argentiniens indessen ist offensichtlich. Wir werden im folgenden die Frage der »argentinidad« des Romans nicht erschöpfend behandeln,17 sondern nur, insofern sie als erstes denotatives Element der Suche in Betracht kommt. Die argentinische Perspektive18, unter der wir die Handlung - gerade auch die im Pariser Milieu stattfindende - lesen, findet zunächst in der makrostrukturellen Gliederung des Romans ihren Ausdruck. Teil 1 und Teil 2 sind auf der Diskursebene durch die korrespondierende Deixis der Überschriften dialektisch miteinander verklammert: »Del lado de allá« (Paris) impliziert als origo des Aussageaktes »del lado de acá« (Buenos Aires). Die Bewegung der Suche nimmt insofern in Buenos Aires ihren Ausgang, führt nach Paris und von dort aus zurück nach Buenos Aires. Die strenge Bipolarität der Suche ist jedoch nur eine Möglichkeit der Lektüre. Sie entspricht dem im »tablero de dirección« so genannten »(libro) primero [que] se deja leer en la forma corriente« (R 7), d.h. entsprechend der gewohnten arithmetischen Linearität der Seiten- bzw. Kapitelfolge. 19 Allerdings endet diese Version bereits auf Seite 404, und 17
Zum Thema immer noch grundlegend (faute de mieux!): Roy 1974; der einfühlende, vor Paradoxien nicht zuriiekscheuende, sie im Gegenteil mit allen Mitteln poetischer Rhetorik suchende Einruhrungsessay von S. Yurkievich in Mannheim (»Male, tangos, metafísica«; Yurkievich 1986) weist immerhin eine Richtung!
18
Vgl. Ainsa 1981 (1973).
19
Angesichts der fast generellen Ratlosigkeit der Kritik gegenüber dem »Wegweiser« sind K. Holstens »Notas sobre el 'Tablero de dirección' en 'Rayuela' de Julio Cortázar« (1973: 683-688) fast eine (kleine) Pionierleistung.
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der Leser wird ironisch aufgefordert, den Rest des Buches ohne Gewissensbisse zu überschlagen. Der zweite Lektürevorschlag des »tablero« hebt die bipolare Perspektivierung der beiden ersten Teile auf zugunsten einer zunächst chaotisch erscheinenden Vielzahl von Perspektiven. In anderer Weise als das Pariser Milieu 'internationalisiert' und universalisiert Teil 3 Oliveiras Suche und trägt somit der Tatsache Rechnung, daß weder Paris noch Buenos Aires - gemessen am Ziel der Suche - die Funktion eines endgültigen Bedeutungsträgers zukommen kann: In der Tat bleibt Paris für Oliveira »una enorme metáfora« (R 159), und zeigen sowohl das offene Ende der 'Handlung' im Irrenhaus (Kapitel 56) als auch die 'Fortschreibung' der Handlung im 3. Teil (s. Kapitel 135, 63, 88, 72, 77, 131, 58, 131; alle diese Kapitel sind nach der 2. Lektüreanweisung erst im Anschluß an Kapitel 56 zu lesen!), daß der von Oliveira gesuchte »derecho de ciudad« (R 215) nicht in »Buenos Aires«, sondern nur »de otros lados« zu suchen ist. Die Aufhebung der Linearität der Suche im »libro segundo« indessen ist nur partiell: Die Mäanderstruktur der »capítulos prescindibles« umspielt die lineare Kapitelfolge der beiden ersten Teile, ohne sie im Prinzip zu beseitigen. Dank der Integration des »libro primero« ins »libro segundo« ist dieses zugleich: Aufhebung und Bestätigung der Linearität der Suche. Diese - hier bereits auf der Ebene der allgemeinen Gliederung des Romans angedeutete - Ambivalenz der Suche wird uns in den folgenden Abschnitten weiter beschäftigen. 2.1.2.2. Liebe Im Rahmen der Grundstruktur der Suche, die wir in 1.2.1. angedeutet haben, entfaltet der Roman eine Reihe von Handlungsmotiven, die wir im folgenden zu betrachten haben. Das wichtigste dieser Motive ist das der Liebe. Charakterisiert man die Beziehungen des Protagonisten zu den Frauen Maga, Talita, Pola, Gekrepten und - in gewisser Weise auch - zu Traveler als Liebe, so erscheint Oliveira nur als argentinische Variante eines konventionellen Don Juan. Cortázar selbst ist sich des zugrundeliegenden Konventionalismus dieses Handlungsschemas genau bewußt, wenn er in einer Bemerkung zu Kapitel 20 darauf hinweist, daß die Trennungsszene zwischen Oliveira und Maga ohne die den Text auszeichnende prekäre Stillage zwischen Pathos und Ironie lediglich als »una escena más de ruptura, de las muchas que hay en la literatura« (M 30: 284) gelesen werden kann. Nicht die Darstellungsweise der Liebe soll uns hier jedoch zunächst beschäftigen. Es ist vielmehr zu sehen, daß der Text über die Darstellung von Liebe hinaus zugleich immer auch anderes impliziert. Diese inhaltliche Doppelfunktion - nicht ein geheimnisvolles Stilistikum, so ist auch gegen den Autor selbst zu argumentieren - erlöst die Liebe Oliveiras vom Stigma des Konventionellen. Sie ist zugleich auch der Grund der Aggressionen, die Oliveiras Partnerbeziehungen in den Augen auch der Mitglieder des Intellektuellen-»Club de la serpiente« potentiell provozieren: Babs, Gregorovius,
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Ronald sind unfähig zu akzeptieren, daß Oliveiras Liebe nur Teil, Element, ja bloßes Mittel einer Suche 20 sein soll, deren Ziel zu bestimmen, er selbst paradoxerweise nicht in der Lage ist. Oliveiras potentieller Mitprätendent gegenüber der Maga - Gregorovius - sieht hierin eine versteckte Form von Unehrlichkeit, zu deren Eingeständnis er Oliveira zu bewegen versucht: »Vos [...] escondés el juego [...] Desde que te conozco no hacés más que buscar, pero uno tiene la sensación de que ya llevás en el bolsillo lo que andás buscando« (R 215). Auf die inhumane Konsequenz dieser Haltung anspielend - in intellektuellen Palaver vertieft, hat der Club es Augenblicke zuvor zugelassen, daß Magas Baby Rocamadour im gleichen Zimmer eines elenden Todes starb -, bezeichnet Babs Oliveiras Suche deshalb als »inquisición« (R 234ff.). Oliveira unternimmt keinen Versuch, die Argumente der Freunde zu entkräften, denn auf der psychologischen und moralischen Ebene, auf der sie formuliert werden, sind sie unwiderlegbar. Sein Hinweis auf die »metaphysische« Qualität seiner Suche (vgl. R 109, 110 u.ö.) ist keine Widerlegung der moralischen Argumentation - von der sich Oliveira dem Vorwurf der Freunde zum Trotz durchaus betroffen weiß -, sondern situiert die Suche auf einer Ebene, die von der moralischen Konvention prinzipiell und qualitativ unterschieden ist. Der lange Abschiedsdialog in Kapitel 20 lebt vom Kontrast beider Ebenen: »- No te vas porque sos bastante burgués y tomás en cuenta lo que pensarían Ronald y Babs y los otros amigos. - Exacto. Es bueno que veas que vos no tenés nada que ver en mi decisión. No me quedo por solidaridad ni por lástima ni porque hay que darle la mamadera a Rocamadour. Y mucho menos porque vos y yo tengamos todavía algo en común.« (R 103) Oliveiras Ankündigung, Maga zu verlassen - die hier noch vor Rocamadours Tod ausgesprochen wird (vgl. Kapitel 28) -, ist weder als Flucht vor (Stief-) Vaterpflichten noch als Reaktion der Eifersucht (gegenüber Gregorovius) zureichend motiviert. Ihre 'Motivation' liegt vielmehr auf der Ebene einer freien Entscheidung für eine Suche, deren undefinierbares Ziel sich hier als notwendige Preisgabe eines Partners manifestiert, der bislang die Suche bestimmte. Als eine Form der unendlichen Suche verlangt Oliveiras Liebe die paradoxe Preisgabe des Partners 'in Fleisch und Blut' und setzt sich als Suche der verschwundenen Maga in Montevideo (vgl. Kapitel 39, 48) und schließlich im (Wieder-) Finden des durch Talita verkörperten Bildes der Maga in Buenos Aires (vgl. Kapitel 54, S. 340) fort. Die Manifestation des Zieles als Bild21 garantiert die für die Bestimmung der Suche als Unendlichkeit unabdingbare Diffe20
»A vos todo te sirve para lo que andis buscando.« (R 103) Die als Wortspiel formulierte Replik Magas bringt die Suche Oliveiras nichtsdestoweniger auf den Begriff.
21
Vgl. Copeland 1972.
193
renz von Bedeutungsköiper und Bedeutung und entzieht auch die Beziehung Oliveiras zu Talita der Möglichkeit psychologischer Kategorisierung. Ebensowenig wie Oliveira gegenüber Gregorovius ist Travelers Verhältnis zu Oliveira deshalb als Eifersucht zu bestimmen: »- ¿Pero es que vos creés realmente que él me busca, y que yo ...? - Él no te busca en absoluto - dijo Traveler, soltándola -. A Horacio vos le importás un pito. No te ofendas, sé muy bien lo que valés y siempre estaré celoso de todo el mundo cuando te miran o te hablan. Pero aunque Horacio se tirara un lance con vos, incluso en ese caso, aunque me creas loco yo te repetiría que no le importas, y por lo tanto no tengo que preocuparme. Es otra cosa - dijo Traveler subiendo la voz -. ¡Es malditamente otra cosa, carajo!« (R 318) 2.1.23.
Kommunikation
Liebe als Elemente unendlicher Suche; Liebe als Suche des abwesenden Partners sind dies nicht Formeln, die der Erklärung bedürfen? Ist 'Liebe' nicht eher - statt ewiger Anwesenheit - gerade 'Präsenz' des Partners? Eine Antwort auf diese Fragen gibt ein Text aus dem 3. Teil des Romans. Er beginnt mit den Worten: »Pero el amor, esa palabara ...« (R 483) In der Tat - »Liebe« ist, wie sie der Einwand versteht, ein »Wort«, das einen Sachverhalt vorgibt, dem eine optimistische Psychologie ein Funktionieren unterstellt, das einer gewissen nicht weniger optimistischen - Linguistik zufolge von Sprache insgesamt gilt: 'Kommunikation'. Der Voraussetzung des abstrakten Kommunikationsmodells, das dem realen Funktionieren der Sprache eine immer schon idealisierte Kommunikationssituation unterstellt, hält der Roman die Erfahrung der durch Sprache allererst zu realisierenden Kommunikation entgegen: »Mirá, Manolo, vos hablás de entendernos, pero en el fondo te das cuenta que yo también quisiera entenderme con vos, y vos quiere decir mucho más que vos mismo. La joroba es que el verdadero entendimiento es otra cosa. Nos conformamos con demasiado poco. Cuando los amigos se entienden bien entre ellos, cuando los amantes se entienden bien entre ellos, cuando las familias se entienden bien entre ellas, entonces nos creemos en armonía. Engaño puro, espejo para alondras. A veces siento que entre dos que se rompen la cara a trompadas hay mucho más entendimiento que entre los que están ahí mirando desde afuera.« (R 326f.) Die Primärerfahrung der Sprache der Liebe bzw. - die Umkehrung gilt - der Liebe als Sprache ist deshalb monologisch. 22 Liebe ist für Oliveira eine Art Eigen-Sinn, der 22
Herauszufinden aus diesem (falschen) Mono-log der Liebe hin zur poly-logischen Erfahrung der »Schreibe« - so läßt sich vorausdeutend Oliveiras Suche bestimmen. Als ambivalenter Partner dieser Erfahrung erweist sich am Ende allerdings der »Doppelgänger« (vgl. 2.1.2.4.3.!).
194
seine Kraft aus der Stärke bezieht, mit der er dem sensus communis der Sprache der/über Liebe - hinzuzufügen: den Axiomen einer ganzen Generation von Kommunikationswissenschaftlem 2 3 - widersteht. Die Setzung des Partners des kommunikativen bzw. des Liebes-Aktes ist nicht die Voraussetzung desselben, sondern - bestenfalls - sein Resultat. Der Partner dieses Aktes, für den die Bezeichnung »Kommunikation« dann nur noch als Grenzbegriff Gültigkeit besitzt, wird damit zur Funktion des Prozesses unendlicher Suche: »Amor mío, no te quiero por vos ni por mí ni por los dos juntos, no te quiero porque la sangre me llame a quererte, te quiero porque no sos mía, porque estás del otro lado, ahí donde me invitás a saltar y no puedo dar el salto, porque en lo más profundo de la posesión no estás en mí, no te alcanzo, no paso de tu cuerpo, de tu risa, hay horas en que me atormenta que me ames (cómo te gusta usar el verbo amar, con qué cursilería lo vas dejando caer sobre los platos y las sábanas y los autobuses), me atormenta tu amor que me sirve de puente porque un puente no se sostiene de un solo lado [...].« (R 483) Daß Magas Liebe anders, »intuitiv«, nämlich problem- und reflexionslos funktioniert, ficht diese Erfahrung nicht an, sondern verschärft im Gegenteil nur das Gefühl der unüberbrückbaren Kluft: »[...] no me mires con esos ojos de pájaro, para vos la operación del amor es tan sencilla, te curarás antes que yo y eso que me querés como yo no te quiero. Claro que te curarás, porque vivís en la salud, después de mí será cualquier otro, eso se cambia como los corpinos.« (Ebd.) Prägnanter noch als in Kapitel 93 heißt es im 2. Teil: »Saberse enamorado de la Maga no era un fracaso ni una fijación en su orden caduco; un amor que podía prescindir de su objeto, que en la nada encontraba su alimento, se sumaba quizá a otras fuerzas, las articulaba y las fundía en un impulso que destruiría alguna vez ese contento visceral del cuerpo hinchado de cerveza y papas fritas.« (R 338; Hervorh. W.B.B.) Nichts wäre falscher indessen, als in dieser vehementen Kritik der Kommunikation die Option für den »orden caduco« eines stoischen, monologisierenden Individualismus zu erblicken. Wir können die Erinnerung an die in Kapitel 62 zur Sprache ge-
23
In 62. Modelo para armar dagegen ist die monologische Erfahrung der Liebe nur noch bloße Reminiszenz: Begierde als Präsenz ist erfahrbar nur noch im Prozeß des dekonstmierenden Textes (vgl. unten n,3.4.1.fF.). Den wohl stärksten Ausdruck finde; der Kommunikations-Optimismus wohl in Watzlawicks Axiom einer vermeintlichen »Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren« (vgl. Watzlawick 1974: 50ff.) Kritisch zu Watzlawick vgl. J. Ziegler, Kommunikation als paradoxer Mythos. Analyse und Kritik der Kommunikationstheorie Watzlawicks und ihrer didaktischen Verwertung, Weinheim 1976. - Adepten hat die Kommunikationseuphorie denn auch vor allem im Bereich der Didaktik und Linguistik gefunden: vgl. Becker/Kreuder: Lernziel: Kommunikation (1975); Beth/Pross: Einfährung in die Kommunikationswissenschaft (1976); Große: Text und Kommunikation (1976); J. Habermas war es, der in seinen »Vorbereitenden Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz« sogar so weit ging, die Kommunikationsprämisse transzcndentallogisch zu fundamentieren (1971: lOlff.).
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brachte Thematik sowie die Vorausdeutung auf Cortázars dritten Roman 62. Modelo para armar, die die zuletzt zitierte Stelle unüberhörbar enthält, hier jedoch nicht erörtern, sondern folgen Oliveiras Argumentation zunächst noch bis zu ihrer letzten Konsequenz: Wenn es stimmt, daß Oliveiras Liebe sich nur als unendliche Suche des verschwundenen Partners realisiert, so impliziert die Erfahrung zugleich - und dies ist nach der Provokation der Kommunikation die Herausforderung des Individualismus! - das verschwundene Ich: »Por supuesto Oliveira no iba a contarle a Traveler que en la escala de Montevideo había andado por los barrios bajos, preguntando y mirando, tomándose un par de cañas para hacer entrar en confianza a algún morocho. [...] Antes de desembarcar en la mamá patria, Oliveira había decidido que todo lo pasado no era pasado y que solamente una falacia mental como tantas otras podía permitir el fácil expediente de imaginar un futuro abonado por los juegos ya jugados. Entendió [...] que nada había cambiado si él decidía plantarse, rechazar las soluciones de facilidad.« (R 266) Oliveira soll von Paris erzählen. Er schweigt. Warum? Wenn es stimmt, daß Erzählen nicht nur die sprachliche Mimesis äußeren Geschehens ist, sondern immer zugleich auch Deutung solchen Geschehens im Hinblick auf den diesem innewohnenden Charakter als Ereignis,24 so hat Oliveira in der Tat nichts zu erzählen. Erst später wird ihm das Ende der Suche im Finden eines endgültigen Sinnes für Augenblicke als hypothetisch erwogene »extrapolación« (R 340) möglich erscheinen - »Así la visita al Cerro, después de todo, habría tenido un sentido, así la Maga dejaría de ser objeto perdido para volverse la imagen de una posible reunión« (ebd.). Doch die Ankunft in Buenos Aires steht noch ganz im Zeichen der Dynamik der unendlichen Suche. Das zum Erzählen aufgeforderte Ich ist unfähig, die für jede Erzählung konstitutive Trennung einer Zeit des Erzählens von der des Erzählten zu vollziehen (»Oliveira había decidido que todo lo pasado no era pasado [...].« [Ebd.]). Es weiß sich selbst durch die Wesenlosigkeit der vergangenen sowie die Unendlichkeit der zukünftigen Suche konstituiert. Zu erzählen bleibt somit nur der reine Signifiant der sinnlosen Suche als solcher: »- Un día se me cayó un terrón de azúcar debajo de la mesa de un café. En Paris, no en Viena.« (R 264) Oliveiras Suche rekonstruiert mithin nicht - dem Schema der logozentrischen Epistemologie folgend - das Objekt, den Partner der Liebe, vom Standpunkt des vorausgesetzten monadischen Subjekts aus gesehen, sondern ist auf einen ursprünglichen, Objekt und Subjekt in gleicher Weise konstituierenden Prozeß bezogen: »Había que seguir, o recomenzar o terminar: todavía no había puente.« (R 266) 24
Zum Begriff vgl. Lotman 1972: 329.
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2.1.2.3.1. »El capítulo del tablón« (Kapitel 41 ) 25 Oliveiras Suche als Befragung und Infragestellung menschlicher Kommunikation erhält in Kapitel 41 die Form eines polyvalenten Bedeutungsträgers, der das bisher Erörterte in sich schließt und zugleich um neue Aspekte bereichert: In seiner Wohnung, die derjenigen Travelers und Talitas, durch eine schmale Straße getrennt, genau gegenüberliegt, geht Oliveira einer ebenso simplen wie 'absurden' Tätigkeit nach. Er schlägt sich die Finger blutig, indem er versucht, verbogene Nägel geradezuklopfen. Zugleich verspürt er Lust, Mate zu trinken, stellt aber fest, daß ihm die Blätter ausgegangen sind. Um dem Mangel abzuhelfen, pfeift er Traveler, der nach einiger Zeit auf der anderen Seite erscheint und versucht, Mate und neue Nägel zu holen. Da keiner von beiden bereit ist, die Straße zu überqueren, um das Paket zu befördern, konstruieren sie mit Hilfe zweier Bretter eine prekäre Brücke von Fenster zu Fenster. Rittlings auf den Brettern sitzend, rutscht die nur spärlich mit einem Morgenrock bekleidete Talita sodann in Richtung Oliveiras. Auf dem Scheitelpunkt der Brücke - Zentimeter vor Oliveiras ausgestreckter Hand - kommt das Manöver zum Stillstand. Statt Mate und Nägel werden nun Wörter befördert zwischen Oliveira und Traveler einerseits, zwischen Oliveira und Talita andererseits. Die ersteren diskutieren die Möglichkeit, das Paket, dem Zweck des Unternehmens entsprechend, in Oliveiras Wohnung zu werfen, doch Oliveira hat hieran das Interesse verloren und möchte, daß Talita nun selbst, samt dem Paket, in seine Wohnung steigt. Talita beginnt in der warmen Nachmittagssonne zu schwitzen. Während Traveler einen Hut holt, vertreiben sie und Oliveira sich die Zeit mit ingeniösen Wortspielen. In der Zwischenzeit ist Oliveiras Freundin Gekrepten von einem Einkaufsbummel sowie einem Besuch beim Zahnarzt zurückgekehrt, erzählt ihre Erlebnisse und kocht Milchkaffee. Talita setzt den Hut auf, den Traveler gebracht hat, wirft Nägel und Mate Oliveira ins Zimmer und rutscht langsam zurück. Als Traveler sie wieder in Empfang nimmt, fällt ihr der Hut vom Kopf und landet inmitten einer inzwischen stattlichen Menge von Zuschauern. Das letzte Wort in der Geschichte hat Gekrepten. Sie steigt hinunter auf die Straße, holt den Hut und stellt sich den verwunderten Fragen der Nachbarn: »Lo que pasa es que querían darle un poco de yerba y mi marido, y entonces ...« (/? 306f.) Der Text realisiert die metaphorische Rede vom Kommunikations-Mode//. Dies jedenfalls ist die Perspektive von Oliveiras naiver Freundin, »la siempre fiel Gekrepten« (R 300): Traveler (= Sender) und Oliveira (= Empfänger) benutzen die Bretterbrücke (= Kanal), um Nägel und Mate (= Botschaft) von Wohnung zu Wohnung zu transportieren. Schon auf dieser rudimentären Ebene jedoch verliert das Modell seine Eindeutigkeit, denn: Wozu dient das ganze Manöver? Wozu braucht Oliveira Mate 25
Vgl. unsere über die in diesem Abschnitt vorgelegte Darstellung hinausgehende Analyse des Kapitels in Berg 1985c. Eine deutsche Fassung des Artikels [»Brücken-Spiele und Doppelgänger (Anmerkungen zu RAYUELA, Kapitel 41, von Julio Cortázar)«] erscheint in Kürze in: Paradigmenwechsel in der Romanistik. Festschrift für Rupprecht Rohr zum 70. Geburtstag (hg. von G. Birkcn-Silverman und G. Rössler).
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und Nägel? Die Frage zielt auf nichts weniger als das Problem eines verbindlichen, für das Funktionieren eines kommunikativen Systems unabdingbaren Codes. Weder Gekrepten noch Traveler (als 'Sender') messen der Frage zunächst irgendeine Bedeutung bei, impliziert doch der eigentümliche Charakter der 'Botschaft' - Nägel und Mate - geradezu selbstverständlich den pragmatischen Code, im Hinblick auf welchen sie íí'nn-voll erscheint: Nägel dienen zum Befestigen von Gegenständen und Mate zum Teetrinken. 26 Doch frühzeitig schöpft Traveler Verdacht: »- [...] Estábamos en que yerba y clavos. ¿Para qué querés clavos? - Todavía no sé - dijo Oliveira, confuso -. En realidad saqué la lata de clavos y descubrí que estaban todos torcidos. Los empecé a enderezar, y con este frío, ya ves ... Tengo la impresión de que en cuanto tenga clavos bien derechos voy a saber para qué los necesito. - Interesante - dijo Traveler, mirándolo fijamente -. A veces te pasan cosas curiosas a vos. Primero los clavos y después la finalidad de los clavos. Sería una lección para más de cuatro, viejo.« (R Tili. - Hervorh. W.B.B.) Die Lektion zeigt verblüffende Ähnlichkeit mit jener, die sich - Jakobson zufolge aus der poetischen Verwendung der Sprache ziehen läßt: der Tatsache der Autoreferentialität der Botschaft. 27 Wie das poetisch verwendete Sprachzeichen, das sich statt auf die Wirklichkeit - erst einmal auf sich selbst bezieht, sind Oliveiras Nägel ihrem eigentlichen pragmatischen Kontext entfremdet und erhalten im Rahmen der zwischen Traveler und Oliveira sich realisierenden Kommunikation die der poetischen Botschaft eigentümliche Selbstzweckdefinition: Das Geradeklopfen der Nägel hat in dieser Perspektive die Funktion einer wörtlich genommenen 'Arbeit am Signifiant'. Die Bretterbrücke demonstriert jedoch nicht nur die für poetische Kommunikation grundlegende Autoreferentialität der Botschaft, sondern realisiert darüberhinaus auch die von Jakobson erwähnte potentielle Verdopplung - nicht nur der Botschaft, sondern - auch der übrigen am Zustandekommen des kommunikativen Aktes beteiligten Instanzen. Dies zunächst in Bezug auf den Sender. Auch hier ist die Analogie zur sprachlichen Kommunikation augenfällig: Die Substitution des Primär-Senders Traveler durch Talita entspricht der Verdopplung der Erzählerinstanzen im Falle der Rahmenerzählung. Die Verdopplung hat jedoch Konsequenzen für den Charakter der Botschaft selbst: Analog zu der als »énonciation énoncée« 28 zu bezeichnenden sekundären Erzählerinstanz der Rahmenerzählung ist Talita nicht nur Sender, sondern 26
Zusätzliche Ironie gewinnt die Stelle, wenn man mit lateinamerikanischen - speziell argentinisch-'portenischen' Ohren bei »mate« nicht nur an das bittere Getränk und die zugehörigen Blätter denkt, sondern auch an die ebenfalls umgangssprachlich kodifizierte Bedeutung »mate« = »Kalabassenkürbis«, metaphorisch also auch: »Birne«, »Grips«, »Verstand«. Wir hören z.B. Carlos Gardel singen: »Hoy tenés el mate lleno de infelices ilusiones/ te engrupieron los otarios./ las amigas, el garión.« (Reichardt 1984: 288ff.)
27
Vgl. Jakobson 1972: 108.
28
Der Begriff stammt von A.J. Greimas; vgl. 1979, Art. »Enonciation«; vgl. 1976: 77f.
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zugleich auch Botschaft. Talita selbst bleibt die Umdeutung der Situation nicht verborgen: »'Estos dos han tendido otro puente entre ellos', pensó Talita. 'Si me cayera a la calle ni se darían cuenta.'« (R 291) Als der implizite 'énoncé' der zwischen Traveler und Oliveira gewechselten Worte - »Talita sabía que de alguna manera estaban hablando de ella [...]« (R 292 - Hervorh. WB.B.) - fühlt sich Talita mehr und mehr als Botschaft (zwischen den Männern) konstituiert. Sie erfährt dies schmerzlich als einen Prozeß der Ent-subjektivierung - als »Urteil«: »- Exacto - dijo Oliveira -. En realidad. De modo que podemos volver a lo que decía antes. La diferencia entre Manú y yo es que somos casi iguales. En esa proporción, la diferencia es como un cataclismo inminente. ¿Somos amigos? Sí, claro, pero a mí no me sorprendería nada que ...« (R 298) Das Doppelgängermotiv - die virtuelle Identität von Sender und Empfänger im Horizont ihrer Differenzen - ist eine massive Infragestellung nicht nur des Kommunikationsmodells, sondern vielmehr der realitätsvermittelnden Funktion des Modells überhaupt. Realität vermittelt am wenigsten die Botschaft selbst: »- Lo mejor sería que yo me volviera a casa - dijo Talita, mirando penosamente a Traveler. - Pero primero le tenés que pasar la yerba a Oliveira - dijo Traveler. - Ya no vale la pena - dijo Oliveira -. En todo caso que tire el paquete, da lo mismo. Talita los miró alternativamente, y se quedó inmóvil. - A vos es difícil entenderte - dijo Traveler -. Todo este trabajo y ahora resulta que mate más, mate menos, te da lo mismo.« (R 299) Was Traveler begreiflicherweise schwerfällt einzugestehen - und noch schwerer zuzugeben - ist die Tatsache, daß Oliveira nicht nur sein Verhältnis zu den Dingen Mate, Nägel -, sondern auch zu den Mitmenschen - Talita, ihm selbst - in einem allen pragmatischen oder kommunikativen Zielsetzungen enthobenen bzw. diesen vorgängigen Freiraum des Spiels suspendiert. Botschaften oder Identitäten - d.h. aber die Wirklichkeit überhaupt - verlieren in dieser Perspektive jede pragmatisch-intentionale oder kommunikative Bestimmtheit; sie zeigen sich vielmehr im Horizont eines reinen Spiels von/mit Differenzen. Bedeutet dieses Ergebnis nicht jedoch, so bleibt nun zu fragen, eine krasse Widerlegung des Grundmotivs, dessen Analyse unsere Überlegungen gewidmet sind - des Motivs der Suche? 29 29
Vom Standpunkt einer »genetischen Kritik« aus gesehen - der den unserer Darstellung zugrundeliegenden 'systematischen' Ansatz ergänzt - verdient der Hinweis Cortizars Beachtung, daß das »Brückenkapitel« am Anfang
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2.1.2.4. Suche als Erfahrung des Anderen Der Titel impliziert einen dreifachen Aspekt: Einerseits ist zu zeigen, daß Oliveiras Suche, indem sie den traditionellen Begriff der Kommunikation überschreitet, eine Weise der Erfahrung des 'Anderen' ist: Das Subjekt der Suche sieht sich einem Objekt konfrontiert, das sich dem gewohnten Schematismus einer kategorialen und kodifizierten Erkenntnis grundsätzlich entzieht: »lo otro« ist insofern die Chiffre für eine als absurd, irrational oder einfachhin lächerlich und abstoßend erfahrene Wirklichkeit (vgl. 1.2.4.1.). Andererseits: Indem das Subjekt sich der Erfahrung stellt, macht es auch an sich selbst die Erfahrung des Anderen: es erfährt sich selbst als konstituiert durch »lo otro« (vgl. 1.2.4.2.). Die Erfahrung eines quasi 'objektiven' bzw. 'subjektiven' Anderen schließlich ist die Voraussetzung für die Erfahrung des 'universellen' Anderen der okzidentalen Kultur 30 - der Erfahrung des praktizierten Irr-Sinns (vgl. 1.2.4.3.). 2.1.2.4.1. Das Andere des Objekts (Kapitel 23: »Concierto de piano Madame Berthe Trépat«) Die Szenerie des Verkehrsunfalls, in den der Schriftsteller Morelli verwickelt wird, erscheint dem Bewußtsein des Intellektuellen Oliveira als Demonstration vollendeter In-Kommunikation. Der Unfall läßt den unter die Räder der Technik gekommenen Alten zum Opfer und Gegenstand des Geredes der gaffenden Zuschauer werden sowie einer Form von technologischer Hilfeleistung, deren Effizienz davon abhängt, daß sie das verletzte Individuum zum beliebigen Fall einer allgemeinen Regel erklärt: »Estaba seguro de que el viejo no había sufrido mayores daños, pero seguía viendo su cara casi plácida, más bien perpleja, mientras lo tendían en la camilla entre frases de aliento y cordiales 'Allez pépére, c'est rien, 9a!1 del camillero, un pelirrojo que debía decirle lo mismo a todo el mundo. 'La incomunicación total', pensó Oliveira.« (R 119) Von der Tatsache dieser ad hoc erfahrenen Hilflosigkeit und Einsamkeit auf eine allgemeine 'ontologische', durch die 'Natur' der menschlichen Existenz ein für allemal 'gesetzte' Einsamkeit zu schließen - diese Extrapolation des romantischen Diskurses verbietet sich dennoch, sobald sich zeigen läßt, daß auch Existenz-Erfahrungen von der Art, wie sie der Alte gerade erlebt hat, in Wirklichkeit pragmatischen Bedingungen unterworfen sind, denen zufolge ihre quasi-existentielle Natur als reversibel erscheint: »No tanto que estemos solos, ya es sabido y no hay tu tía. Estar solo es en definides gesamten Schreibprozesses der Rayuelo gestanden habe (vgl. Barrenechea 1983: 21). Ihm voraus ging lediglich die Niederschrift eines erst 10 Jahre später in der Revista Iberoamericana veröffentlichten Textes mit dem Titel »La arafla«. - Eine ausführliche Analyse des »Briickenkapitels« - ausfuhrlicher, als es der vorliegende Text erlaubt - unter Bezugnahme auf »La arafla« - haben wir zum Cortázar-Kolloquium in Poitiers 1985 voigelegt (vgl. Berg 1985c; unsere Stellungnahme zur »crítica genética« von A.M. Barrenechea: vgl. Berg 1984!). 30
Foucault 1966: 15.
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tiva estar solo dentro de cierto plano en el que otras soledades podrían comunicarse con nosotros si la cosa fuese posible. Pero cualquier conflicto, un accidente callejero o una declaración de guerra, provocan la brutal intersección de planos diferentes, y un hombre que quizá es una eminencia del sánscrito o de la física de los quanta, se convierte en un pépére para el camillero que lo asiste en un accidente.« (Ebd.) 'Existenz'-Erfahrungen erweisen sich damit also ebenfalls ihrer Natur nach als 'konstituiert'. Sie enthalten den Verweis auf 'kulturelle' Rahmenbedingungen, denen sie ihr ontologisches So-Sein verdanken. Existenz-Erfahrungen - auch und gerade dann, wenn es für das in sie implizierte 'Subjekt' um Leben oder Tod geht - erweisen sich dann jedoch auch als eine Spielart jener 'semiotischen' Erfahrung der Wirklichkeit, derzufolge jedwede Erfahrung im Zeichen einer fundamentalen Reversibilität erscheint. Cortázar hat deshalb verschiedentlich auf die zentrale Funktion des Humors verwiesen, jenes fundamentale Anti-Pathos, den metaphysischen Un-Emst 31 , der die Handlung in Rayuela gerade dann charakterisiert, wenn die Schürzung des Knotens der aporetischen Nähe des tragischen Konflikts zuzusteuern scheint (vgl. M 30: 28ff.). Exemplarisch für solche Erfahrungen ist das vorstehend behandelte »BrückenKapitel«. Ein weiteres Beispiel findet sich in Kap. 23 - Oliveiras Besuch des Konzertes der »Madame Trépat«: Zerstreuung von der ausweglosen intellektuellen Grübelei suchend, der er sich nach dem Verkehrsunfall des Alten hingegeben hat, besucht Oliveira das gerade stattfindende Konzert einer ihm unbekannten Künstlerin namens Berthe Trépat. Der Saal ist mit kaum 20 Personen nur spärlich besetzt. Ein Blick aufs Programm bringt eine erste Überraschung: Die Pianistin spielt ausschließlich Werke gänzlich unbekannter Komponisten sowie - als Höhepunkt - eine bombastisch-prätentiös titulierte eigene Komposition. Nun betritt eine kuriose Mischung von heruntergekommenem Lebemann und alterndem Zirkusclown (Valentin) die Bühne und spricht in schlimmster Gazetten-Rhetorik ein paar einführende Worte. Die Künstlerin selbst schockiert zunächst durch ihre inkohärente, jedem Konzert-Chic Hohn sprechende Kleidung sowie ihre marionettenartig verkrampfte Körperhaltung. Das erste Stück ist dank des manierierten Gebrauchs eines einzigen Webernschen Stilmittels - der Pausen (!) - eine Manifestation von Langeweile. Das Publikum reagiert uneinheitlich. Einer verläßt den Saal. Das zweite Stück besteht aus einer virtuosen, aber banalen Aneinanderreihung von pianistischen Effekthaschereien und veranlaßt den Exodus etwa der Hälfte 31
Obwohl einer seiner prominentesten Verfechter, ist Cortázar gleichwohl nicht der Begründer des argentinischen »humorismo«. Schon die Avantgarde-Bewegung der »martinfiemstas« (unter ihnen insbesondere ihr Wortführer Oliverio Girando) erhob den Humor zu einem ihrer bevorzugten Stilmittel. Eine direkte Entwicklungslinie zu Cortázars »metaphysischem« Humor ist indessen markiert durch das Werk des außerhalb der Gruppe der »martinfierristas« stehenden, gleichwohl von diesen als Galeonsfigur anerkannten Macedonio Fernández (vgl. dessen Essay »Para una teoría de la humorística«) sowie die Romane des von Cortázar vorbehaltlos als »el más grande novelista latinoamericano« (zit. nach J. Ruíinclli: »Los tigres de la memoria«, in: Marcha, 11 de mayo de 1973) anerkannten Uruguayers Carlos Onctti.
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der Zuhörer. Als die Künstlerin ihr eigenes Werk intoniert, sind noch vier Personen anwesend; als der Schlußakkord ertönt, verläßt der vorletzte, sein Lachen in einem Taschentuch erstickend, den Ort des Geschehens. Berthe Trépat und Oliveira sind allein. Künstlerisch-ästhetische Maßstäbe hintanstellend, seinen physischen Widerwillen überwindend, spricht Oliveira der Pianistin seine Anerkennung aus und bietet ihr in einer Geste des Trostes an, sie nach Hause zu begleiten. Berthe Trépat akzeptiert. Auf dem langen Heimweg hängt sie sich physisch und psychisch immer enger an ihren Begleiter und ergeht sich, unterbrochen von hysterischen Verzweiflungsgesten, ihr Zusammensein mit dem Homosexuellen Valentin betreffend, in absurden Selbststilisierungen als vermeintlich epochemachende, vom Publikum unverstandene Künstlerin. Oliveira hört ihr zu und unternimmt nicht den geringsten Versuch, sie mit dem zu konfrontieren, was die Psychologen Realitätsprinzip nennen. Im Gegenteil: Er selbst fühlt sich immer mehr als Zeuge einer unerwarteten Grenzerfahrung, der auf Seiten der 'Objektivität' die Ununterscheidbarkeit von Traum und Wirklichkeit, auf seiten der 'Subjektivität' das Kontinuum von 'Ich' und 'Doppelgänger' entspricht. Als Berthe schließlich, als Höhepunkt des Porträts ihres absonderlichen Gefährten, berichtet, wie Valentin in einem Akt regressiver Rache die Tür der klatschsüchtigen Nachbarin sowie sich selbst mit Katzenscheiße beschmierte, ist Oliveira plötzlich von einem tiefen Gefühl nie empfundenen Glücks erfüllt, eines Glücks, das ihm als Zeichen einer unmittelbar zugänglich gewordenen Wahrheit erscheint: »[...] la alegría había durado apenas unos momentos pero había sido tan nueva, tan otra cosa, y ese momento en que a la mención de Valentin metido en la bañera y untado de caca de gato había respondido una sensación como de poder dar un paso adelante, un paso de verdad, algo sin pies y sin piernas, un paso en mitad de una pared de piedra, y poder meterse ahí y avanzar y salvarse de lo otro, de la lluvia en la cara y el agua en los zapatos.« (R 144) Oliveira ist so sehr auf Kommunikation eingestimmt, daß er der vor geraumer Zeit ausgesprochenen Einladung der Pianistin, mit Valentin zusammen Kaffee zu trinken, gern folgen würde. Vor der verschlossenen Haustür wiederholt Berthe die Einladung jedoch nicht wieder und weigert sich überdies, das Haus zu betreten, da sie Valentin mit einem Freund im Bett vermutet. Um die Frau nicht länger im Regen stehen zu lassen, schlägt Oliveira vor, ihr für die Nacht ein Hotel zu suchen. Berthe Trépat antwortet zunächst nicht, holt dann aus und schlägt ihm die Hand ins Gesicht. Wieso entspricht die hier wiedergegebene Geschichte einer 'Erfahrung des Anderen'? Eine erste Antwort gibt ein Satz Oliveiras am Anfang des Textes: »Sólo viviendo absurdamente se podría romper alguna vez este absurdo infinito.« (R 123) Was aber heißt 'absurd'? Oliveira meint zunächst noch die Szenerie des Verkehrsunfalls, den er miterlebte:
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»[...] lo que ocurría en torno y que como cualquier esquina de cualquier ciudad era la ilustración perfecta de lo que estaba pensando y casi le evitaba el trabajo.« (R 122) Die Szenerie erscheint ihm als diffuse Addition heterogenster Elemente - Personen, Gruppen, Dinge, Bewegungen, Zeichen -, für die sein Bewußtsein, bei aller Bedeutungshaftigkeit und Evidenz der Elemente im einzelnen, vergeblich den das Sein des Ganzen umfassenden Begriff - die Vorstellung - zu formulieren versucht: »Los albañiles, los estudiantes, el clochard, la vendedora de lotería, cada grupo, cada uno es su caja de vidrio, pero que un viejo cayera bajo un auto y de inmediato habría una carrera general hacia el lugar del accidente, un vehemente cambio de impresiones, de críticas, disparidades y coincidencias hasta que empezara a llover otra vez y los albañiles se volvieran al mostrador, los estudiantes a su mesa, los X a los X, los Z a los Z.« (/? 123) Wieder verweist der Gebrauch des temporalen Konditional darauf hin, daß wir den Bereich einer 'erlebten (inneren) Rede' lesen: Die Erfahrung, die Oliveira hier mit dem mißverständlichen Titel 'Absurdität' bezeichnet, hat Michel Foucault - ausgehend von der Analyse eines bekannten Textes von J.L. Borges (!) - als den Prozeß der unwiderruflichen Disjunktion von »mot« und »chose«, als den Verlust ihres transzendentalen »lieu commun« im menschlichen Bewußtsein {qua »représentation«) beschrieben. 32 Die hier gemeinte Erfahrung ist mithin der äußerste Gegenpol zu jener anderen - 'logozentrischen' - Erfahrung, die ihre geschichtlich gültige Formulierung im Bereich des deutschen Idealismus erhalten hat: »Das Erfahren ist die Weise, wie das Bewußtsein, insofern es ist, ausfahrt nach seinem Begriff, als welches es in Wahrheit ist. Das ausfahrende Auslangen erlangt im erscheinenden Wahren das Erscheinen der Wahrheit. Sie erlangend, gelangt es in das Sicherscheinen des Erscheinens selbst. Das Fahren im Erfahren hat die ursprüngliche Bedeutung des Ziehens. Der Zimmermann fahrt beim Hausbau mit dem Balken in eine bestimmte Richtung. Das Fahren ist ein Langen nach ...: der Hirt fährt aus und fährt die Herde zu Berg. Das Erfahren ist das auslangenderlangende Gelangen. Das Erfahren ist eine Weise des Anwesens, d.h. des Seins.« 33 Soweit Hegels Begriff der Erfahrung in Heideggers Sprache ... Oliveiras Erfahrung dagegen - so sehr sie als Suche auch ein »Langen nach« ist -, erfährt in Berthe Trépats Ohrfeige nicht die Identität des Logos im Sein (»Anwesenheit«), sondern nur eine unübersteigbare Differenz - das Andere. Doch wir greifen der Analyse voraus. Verfolgen wir im einzelnen, welche Stufen die Erfahrung des Anderen, Inkommensu32
Foucault 1966: 9ff.; vgl. Deleuze 1986.
33
Heidegger 1972: 170.
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rabien, Absurden, welche das Konzert für Oliveira bedeutet, durchläuft. a) Der ästhetische Aspekt Schon ein simpler Blick in den Programmzettel, den man Oliveira am Eingang in die Hand gedrückt hat, entlarvt die musikalischen Kompositionen, die die Pianistin zur Aufführung bringt, als absurdes Machwerk, als geschmacklos-prätentiöse Staffage, als arbiträres Plagiat renommierter Konzertliteratur: »[...] Madame Berthe Trépat, medalla de oro, tocaría los Tres movimientos discontinuos' de Rose Bob (primera audición), la 'Pavana para el General Leclerc', de Alix Alix (primera audición civil), y la 'Síntesis Délibes-Saint-Saens', de Délibes, Saint-Saéns [...] 'Joder', pensó Oliveira. 'Joder con el programa.'« (R 124) Die schon in den Titeln zur Schau getragene Intertextualität ist mithin funktionslos: Weder wird sie - wie in Schumanns Carnaval - zu höherer Einsicht zusammengeführt, noch dient sie - wie in der zeitgenössischen Musik - der ironischen Decouvrierung des Faktums der Intertextualität als solcher. Die Kompositionen - und vollends Berthes eigene »Síntesis« - sind vielmehr ganz der durchaus klassizistischen Maxime des innovierenden, sich selbst absolut setzenden »Oeuvre« verpflichtet. Die Demontage dieses »sincretismo fatídico« (/? 125, 127) vollzieht sich infolgedessen buchstäblich hinter dem Rücken der Komponistin sowie der - Interpretin: »En un momento dado, que nada permitía prever, la pianista dejó de tocar y se enderezó bruscamente, saludando con un aire casi desafiante pero en el que a Oliveira le pareció discernir algo de inseguridad y hasta miedo.« (R 128) Doch die schrägen Blicke, die Berthe in die gelichteten Reihen des Auditoriums wirft, bleiben als Realitätserfahmng ohne Effekt: Statt der kaum zwanzig Anwesenden sieht sie sich anfangs von 200 Zuhörern umgeben und zieht sich, angesichts des definitiv leeren Saales, in dem ihr Schlußakkord verhallt, in die absolute und einsame Transzendenz einer imaginären Genialität zurück: »- No quiero tocar más -dijo Berthe Trépat [...] Es una vergüenza que yo tenga que aparecer todavía en un escenario para estrenar mi música, cuando en realidad debería ser la musa, comprende usted, la inspiradora de los ejecutantes, todos deberían venir a pedirme que les permitiera tocar mis cosas, a suplicarme, sí, a suplicarme. Y yo consentiría, porque creo que mi obra es una chispa que debe incendiar la sensibilidad de los públicos, aquí y en Estados Unidos, en Hungría ... Sí, yo consentiría, pero antes tendrían que venir a pedirme el honor de interpretar mi música.« (R 141) b) Der soziale Aspekt Das Publikum ist in seiner zufälligen Heterogenität eine ironische Replik des absurden Programms. Oliveira ist umgeben »[...] de algunos ancianos calvos, otros barbudos y otros las dos cosas, con aire de
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ser del barrio o de la familia, dos mujeres entre cuarenta y cuarenta y cinco con abrigos vetustos y paraguas chorreantes, unos pocos jóvenes, parejas en su mayoría y discutiendo violentamente entre empujones, ruido de caramelos y crujidos de las pésimas sillas de Viena« (R 124). Doch die Reaktionen der Leute auf den pianistischen Vortrag sind von überraschender Einmütigkeit: Während das erste Stück noch eine unausgewogene Mischung von Beifall, Ablehnung und amüsierter Langeweile hervorruft (vgl. R 127f.), veranlaßt das zweite bereits den massiven Exodus des größten Teils des Auditoriums, und findet die als Höhepunkt intendierte Aufführung der »Síntesis« nurmehr vor »Oliveira y un señor de aire plácido« (R 130) statt, der jedoch beim Schlußakkord, seine Heiterkeit in seinem Taschentuch erstickend, den Saal verläßt. Oliveira ist mit der Künstlerin allein: »- Bravo - dijo Oliveira, comprendiendo que el aplauso hubiera sido incongruente. - Bravo, Madame.« (R 131) Entspricht der oben analysierten Dekomposition des ästhetischen Objekts ein Vorgang der Ent-Semantisierung, so wäre die jetzt sich abspielende Dekomposition des Publikums zu beschreiben als Vorgang der Entpragmatisierung. Die Erfahrung der absoluten Sinnentleerung der Zeichen sowie ihre Loslösung aus den gewohnten pragmatischen Bezügen ist indes eine entscheidende Voraussetzung für jene neue Pragmatik der Zeichen, die oben als die Erfahrung des Anderen bezeichnet wurde. c) Der psychologische Aspekt Die Möglichkeit einer neuen Erfahrung ist von dem Augenblick an gegeben, da Oliveira die Frage, »[...] si no sería más piadoso decirle redondamente la verdad [...]« (R 135), negativ beantwortet: Die zwischen Berthe und ihm gewechselten Worte verlieren damit hinsichtlich ihres semantischen und referentiellen Aspekts an Bedeutung; in den Vordergrund tritt ihre expressive und konative Funktion. So sehr sich sein intellektuelles Bewußtsein gegen die abstoßend-lächerliche Person der Künstlerin auflehnt (»esa muñeca desteñida, [...] ese pobre globo inflado donde la estupidez y la locura bailaban la verdadera pavana de la noche« [/? 136]): er wehrt sich nun nicht länger gegen ihre vertraulicher werdenden Gesten. Zugleich jedoch - und darin liegt eine Paradoxie der neuen Erfahrung - erscheint auch die referentielle Funktion der Worte in verändertem Licht. So ist es gerade die herzzerreißende Geschichte des mit Katzendreck besudelten Valentin, die in Oliveira einen unwiderstehlichen Drang zu lachen heraufbeschwört: »No de Berthe Trépat, que proseguía un recuento de honores en Montpellier y en Pau, de cuando en cuando con mención de la medalla de oro. Ni de haber hecho la estupidez de ofrecerle su compañía. No se daba bien cuenta de dónde le venían las ganas de reírse, era por algo anterior, más atrás, no por el concierto mismo
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aunque hubiera sido la cosa más risible del mundo. Alegría, algo como una forma física de la alegría. Aunque le costara creerlo, alegría.« (R 141f.) Doch die Ode an die Freude, die Oliveira als späten Nachhall der »pavana de noche« zu vernehmen glaubt, ist gleichfalls MUSIK, bleibt doch die momentane Erfahrung der Übereinstimmung eines subjektiven Affiziertseins (»Glück«) mit einem objektiv seienden Korrelat (»Wahrheit«) - Erfahrung mithin als »eine Weise des Anwesens, d.h. des Seins« (Heidegger-Hegel, s.o.!) - unwiderruflich gebunden an die Erfahrung der ins Wesen-lose vergehenden ZEIT, eine Erfahrung mithin »ohne Füße noch Beine« (R 144). »El contento se iba poco a poco como si siguiera andando solo por la calle en vez de quedarse con él bajo el portal.« (R 144) Der sentimentale Wunsch, mit Berthe und Valentin zusammen Aperitif zu trinken, entspricht somit der Illusion, dem erfahrenen Glück Beständigkeit zu verleihen. Doch die Reaktionen der Künstlerin restituieren die eigentliche Dimension der Erfahrung: Im Ausbleiben nämlich der erwarteten Einladung fühlt sich Oliveira unversehens »reintegriert der Ordnung der Alltäglichkeit« (R 145) und erfährt in der schallenden Ohrfeige, 34 mit welcher Berthe seinen Vorschlag, ein Hotel zu suchen, beantwortet, wie die als Anwesenheit erfahrene Wahrheit unwiderruflich ver-west zur Erfahrung des Anderen. Sollte dies das Geheimnis sein, das sich hinter einer rätselhaften Künstlerin verbirgt namens Berthe Trépatl 2.1.2.4.2. Das Andere des Subjekts (Kapitel 36: »Emmanuéle la clocharde«) In Kapitel 23 ist Oliveiras Suche als Erfahrung des Anderen vor allem Erfahrung am 'Objekt': die Wirklichkeit selbst - repräsentiert durch Berthe Trépat - ist es, die sich ihm als 'andere' darstellt. Sein eigenes Bewußtsein - so scheint es - steht der Erfahrung zumeist mit der abstrakten Distanz des Intellektuellen gegenüber, es läßt sie 'über sich ergehen' und wendet sich schließlich achselzuckend wieder von ihr ab: »Dejemos las cosas así, hay que irse a dormir.« (R 150) In Kapitel 36 hingegen ist die Suche vor allem auch Erfahrung am Subjekt. Dieses macht die Erfahrung des Anderen nun in radikaler Weise 'an sich selbst'. Die entscheidende Wende, die das Wesen der Suche damit erfährt, ist bedingt durch die Konstellation, die sich als Resultat des Todes von Rocamadour (vgl. Kapitel 28) ergeben hat: Die soziale Kohärenz des »Club de la serpiente« ist zerbrochen. Maga hat Paris mit unbestimmtem Ziel verlassen; Oliveira ist den Freunden emotionell und intellektuell entfremdet und irrt ziellos durch die Gassen des Quartier Latin. Nun erst 34
»Julio Cortázar o la cachetada (»Ohrfeige«) metafísica« ist der einfühlsame Essay, den der Kritiker L. Harss unserem Autor gewidmet hat (vgl. M 30: 252ff.). - Die Nähe der »cachelada metafísica« zum berühmten didaktischen Stockhieb des Zen-Meisters ist unübersehbar. Wir kommen unten im Zusammenhang mit der Erörterung von Kapitel 95 auf die Frage nach dem Stellenwert, den die Rezeption des Zen-Buddhismus für das Thema der Suche in Rayuelo besitzt, noch ausführlich zu sprechen. - Vgl. auch Csep 1980.
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gewinnt die Stadt - am Ende aller Hoffnung, in ihr 'Behausung' zu finden - die Funktion jener »enormen Metapher« (R 159), die ihr Gregorovius zuspricht (vgl. Kapitel 26). Bevor Oliveira ihr den Rücken kehrt und zum »lado de acá« (Buenos Aires) zurückkehrt, wird die Stadt ein letztes Mal - personifiziert in der Gestalt der Chlocharde Emmanuèle - zum Sinnträger okzidentaler Kultur. Doch der schmuddelige »Messias« repräsentiert die Alte Welt nur in ihrem Zerrbild. Der Koitus Oliveiras mit Emmanuèle, in welchem die Pariser Handlung ihren Höhepunkt findet, wird somit zugleich auch zur Grenzerfahrung einer anderen - 'neuen' - Kultur. 35 Die Handlung entfaltet sich im Medium eines dreifachen Bedeutungsträgers: a) Subjekt und Begehren (»el kibbutz del deseo«) Die Bestimmung des Ziels der Suche als »Kibbuz« - »colonia, settlement, asentamiento, rincón elegido donde alzar la tienda final« (R 239) - ist zweideutig. Der Kibbuz ist kein außerhalb des Subjekts der Suche gelegener - 'transzendenter' - Ort. Solchermaßen - nämlich 'logozentrisch' - bestimmt sich die Suche im Rahmen der Prämissen der abendländischen Kultur, die der Text an dieser Stelle lediglich pauschal als »alma de Occidente, [...] el espíritu« (R 240) in Erinnerung ruft. Deshalb: »Kibbuz del deseo, no del alma, no del espíritu.« (Ebd.) Was bedeutet der Begriff des »deseo«? 36 »[...] aunque deseo fuese también una vaga definición de fuerzas incomprensibles, se lo sentía presente y activo, presente en cada error y también en cada salto adelante, eso era ser hombre, no ya un cuerpo y un alma sino esa totalidad inseparable, ese encuentro incesante con las carencias, con todo lo que le habían robado al poeta, la nostalgia vehemente de un territorio donde la vida pudiera balbucearse desde otras brújulas y otros nombres.« (Ebd. - Hervorh. W.BJ).) 'Begehren' bezeichnet mithin das Subjekt der Suche - 'Subjekt' nicht im Sinne der neuzeitlichen Philosophie als das allem Sein - mithin auch dem transzendeten Ziel der Suche - zugrundeliegende Vorstellungs- oder Bewußtseins-Weie«, sondern das einer möglichen Verwendung des Begriffs im Bereich der romanischen Sprachen folgende - fundamentale Unterworfen-sein des Subjekts gegenüber fremder Bestimmung. Das dem Subjekt als »deseo« wesensursprüngliche Sein ist deshalb kein anwesendes, sondern ein abwesendes, es ist Differenz bzw. »carencia«. 37 Insofern tritt 35
Bezogen auf das Gesamtoeuvre Cortázars erhält die Gestalt Emmanuiles eine Replik in dem - allerdings noch sprach-losen - Baby Manuel, dem seine Ehern das provisorische »Buch« der Neuen Welt und des Neuen Menschen ins Stammbuch zu kleben beschlossen haben. Vgl. unsere Analyse in Kapitel 11,4.2.!
36
Die Übereinstimmung des Ausdrucks mit dem Zentral begriff im Denken des jüdischen (!) Philosophen Emmanuel (!) Lévinas gehört zur Physiognomie des an »Koinzidenzien« - deren arbiträre Natur der Autor selbst bekanntlich nie akzeptierte (vgl. »Botella al mar«, in: Deshoras 1983: 9-17) - so reichen Werkes Cortázars: Einen Hinweis, daß Cortázar Lévinas gekannt hat, haben wir nirgends gefunden. - Zum Begriff selbst vgl. Lévinas 1982: 192ff.; vgl. auch Derrida 1967a: 117ff.
37
In der Erfahrung dieser fundamentalen Karenz - als die paradoxe Erfahrung eines Mangels »jenseits all dessen, was [dem Individuum] fehlen oder was es befriedigen kann« (Lévinas 1983: 219) - liegt die phänomenologische
207
Oliveira dem Ziel seiner Suche - d.h. dem »deseo« - am Beginn des Kapitels nicht mehr - wie noch in Kapitel 23 - als ein fremdes, anderes, 'intellektuelles' Subjekt gegenüber. Die Formel »kibbutz del deseo« drückt vielmehr zugleich auch eine Beziehung im Sinne des genitivus subjectivus aus: »Se moriría sin llegar a su kibbutz pero su kibbutz estaba allí, lejos pero estaba y él sabía que estaba porque era hijo de su deseo, era su deseo así como él era su deseo y el mundo o la representación del mundo eran deseo, eran su deseo o el deseo, no importaba demasiado a esa hora.« (R 240f.) Die Spur dieses ursprünglichen Begehrens führt Oliveira nun in die Arme Emmanuéles. b) Kulturelle Grenzerfahrung (»Heráclito el Oscuro«) Wer ist Emmanuele? Welche Botschaft soll sie verkünden? Um ihr Bild dem Leser zu vermitteln - das Bild einer profanisierten, geschändeten, der revolutionären Gewalt des Pöbels preisgegebenen Göttin (der Vernunft?) -, mobilisiert Cortázar metaphorische Register, wie sie in der lateinamerikanischen Literatur der Gegenwart ansonsten nur noch bei Lezama Lima anzutreffen sind: »[...] Oliveira veía las placas de mugre en la frente, los gruesos labios manchados de vino, la vincha triunfal de diosa siria pisoteada por algún ejército enemigo, una cabeza criselefantina revolcada en el polvo, con placas de sangre y mugre pero conservando la diadema eterna a franjas rojas y verdes, la Gran Madre tirada en el polvo y pisoteada por soldados borrachos que se divertían en mear contra los senos mutilados, hasta que el más payaso se arrodillaba entre las aclamaciones de los otros, el falo erecto sobre la diosa caída, masturbándose contra el mármol y dejando que la esperma le entrara por los ojos donde ya las manos de los oficiales habían arrancado las piedras preciosas, en la boca entreabierta que aceptaba la humillación como una última ofrenda antes de rodar al olvido.« (R 246) Die Widerlegung der spirituellen, d.h. theo-logischen Genealogie der abendländischen Kultur im Geltendmachen von zu unrecht der Verdrängung und 'Sublimierung' anheimgefallenen 'animalischen' Tiefenschichten des menschlichen Wesens ist nicht erst Ergebnis kulturicritischer Philosophien ä la Nietzsche und Freud. Sie ist ebenso alt wie die offiziell akzeptierte 'logozentrische' Tradition, die gemeint ist, wenn pauschalisierend von der abendländisch-christlichen Kultur die Rede ist. Im Kontext einer Kritik der zynischen Vernunft (der Gegenwart!) hat so z.B. P. Sloterdijk neuerdings die - von der offiziellen Kultur- und Geistesgeschichte marginalisierte oder ihren eigenen Prämissen gewaltsam einverleibte - abendländische Anti-Kultur des antiken Kynismus neu entdeckt. Genau 20 Jahre vor Sloterdijk läßt Cortázar jedoch beFunktion des Begehrens qua »Spur des Anderen« (ebd.: 228).
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reits seinen Protagonisten in »kynische« Fußstapfen treten: Den Ekel überwindend, den ihm Emmanuéles Erscheinung zunächst einflößt, die mit Lippenstift verschmierte Rotweinflasche sowie die ihm entgegengebrachten Gesten animalischer Zärtlichkeit in wachsendem Wohlgefallen akzeptierend, sieht Oliveira sich nämlich mit zunehmender Explizitheit in die - unter Cortázars »disseminierender« Schreibe in geheimnisvoller Weise mit dem Kyniker Diogenes kontaminierte - Gestalt »Heraklits des Dunklen« 38 versetzt. Von ihm, dem »Antipoden aller künftigen griechischen Philosophie« 39 - Antipode insbesondere der platonischen und aristotelischen »Ontologie« 40 -, berichtet eine Anekdote, er habe sich, um seine Wassersucht zu heilen, einst »in einen Misthaufen eingraben lassen« (/? 247): »Le hacía gracia que amigablemente y de lo más matter of fact la mano de Emmanuele lo estuviera desabotonando, y poder pensar al mismo tiempo que quizá el Oscuro se había hundido en la mierda hasta el cogote sin estar enfermo, sin tener en absoluto hidropesía, sencillamente dibujando una figura que su mundo no le hubiera perdonado bajo forma de sentencia o de lección, y que de contrabando había cruzado la línea del tiempo hasta llegar mezclada con la teoría, apenas un detalle desagradable y penoso al lado del diamante estremecedor del panta rhei, una terapéutica bárbara que ya Hipócrates hubiera condenado, como por razones de elemental higiene hubiera igualmente condenado que Emmanuele se echara poco a poco sobre su amigo borracho y [...]« (R 249) Die offensichtliche Obszönität der Geschichte, die der Text mit ausgesprochener Lust am Detail vor den Augen des Lesers ausbreitet, liest sich wie eine moderne Variante der von Diogenes Laertius überlieferten Praktiken des Kynikers Diogenes »vor den Augen des athenischen Marktpublikums«, Praktiken, in denen »die spätere platonische und christianisierte Tradition, die den Körper unter Scham erstickte, [...] nur einen Skandal erkennen (konnte)« 41 . Doch die Alternativ-Figw des Heraklit 42 - es ist zum ersten Mal, daß der Text die38
»Daß Herakleilos den Beinamen des Dunklen [...] erhielt, hangt erstens damit zusammen, daß keiner seiner Lehrsätze aus systematischem Zusammenhang eine Erklärung findet. Zweitens hat schon die Antike [...] vermutet, Herakleitos habe absichtlich den Logos verhüllt, um ihn nicht vor verständnislosen Plebejern zu profanieren. Drittens widersprach es H.' Verständnis vom Wesen des Logos, irgendeine Erkenntnis lehrsatzartig oder in systematischer Begründung festzulegen. Philosophische Grundsatz-Erkenntnis und stilistische Gestaltung der Einzel-Aussage standen offenbar in enger Beziehung miteinander.« (Der Kleine Pauly, Bd. 2, 1979: 1046) Zur Beschäftigung Cortázars mit den Vorsokratikern vgl. M 21: 64ff.
39
Der Kleine Pauly, S. 1047.
40
Ebd.
41
Slotcrdijk 1982: 317.
42
Die 'kynische' Kontamination Heraklits stammt von Cortázar. Sie stutzt sich nichtsdestoweniger auf die Elemente der in verschiedenen Varianten überlieferten Anekdote. Gemeinsam ist ihnen allen das Motiv des radikalen Außenseitertums des Philosophen - sei es seine (fiiaotvöpcima) (!), die ihn die Einsamkeit suchen und sich dabei die Wassersucht zuziehen läßt (Diogenes Laertius IX, 3-5), sei es seine rätselhaft-ironische Sprechweise, die er beibehält, auch als er hilfesuchend in die Gesellschaft zurückkehrt (ebd.), sei es der Handlungskern der Anekdote selbst, auf den sich Plutarch (Moraha, S. 1063a) bezieht, um an ihm eine bis zum sacrificium intellectus gehende Inkonsequenz des vermeintlichen Proto-Stoikers Heraklit - als der er in der Überlieferung auch geführt wird - zu demon-
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sen zentralen Begriff der Cortázarschen Ästhetik verwendet (vgl. 2.2.1.3.) - ist gleichfalls enttheologisiert. Es fehlt ihr die Erfahrung der das Andere an eine außertextuelle Bedeutung bindenden - insofern ver-bindlichen - »Erfüllung«: Heraklit oder Emmanuèle sind keineswegs die Verkünder einer 'neuen' Kultur. Ihre Funktion besteht vielmehr vor allem darin, Medium zu sein für eine Erfahrung am Signifiant der geltenden Kultur, eine Erfahrung, die deren Geltung versieht mit dem Signum des Anderen: »[...] todo [...] absolutamente anverso o reverso, el signo contrario como posible forma de sobrevivencia.« (R 247) Die Reaktion der solchermaßen verhöhnten Kultur läßt nicht auf sich warten: »[...] Oliveira abría los ojos y veía las piernas del vigilante contra las suyas, ridiculamente desabotonado y con una botella vacía rodando bajo la patada del vigilante, la segunda patada en el muslo, la cachetada feroz en plena cabeza de Emmanuèle que se agachaba y gemía, y sin saber cómo de rodillas, la única posición lógica para meter en el pantalón lo antes posible el cuerpo del delito reduciéndose prodigiosamente con un gran espíritu de colaboración para dejarse encerrar y abotonar [...].« (R 250) Der Versuch jedoch, dem Signifié von Ordnung und guten Sitten mittels Grüner Minna und Knüppel gewaltsam Geltung zu verschaffen, scheitert. Im Gegenteil: Der Prozeß der alternativen Erfahrung wird dadurch nur noch bereichert. Oliveira und Emmanuèle lassen sich widerstandslos in Gewahrsam nehmen. Emmanuèle liegt bäuchlings auf dem Boden des Fahrzeugs, heult und singt Lieder von Kirschblüte und Liebe in einem Atem. Oliveira macht es sich neben ihr bequem und setzt ihr den Fuß aufs Hinterteil. An seiner Seite sitzen zwei Päderasten - dingfest gemachte Altemativfiguren wie Oliveira und Emmanuèle -, die ihre lüsternen Blicke sowohl auf Oliveira richten als auch durch eine zum Kaleidoskop umfunktionierte alte Blechröhre: »Look through the peephole and you'll see pattems pretty as can be.« (R 253) c) »Rayuela« Die Titelmetapher des Romans resümiert die bisher erörterten Elemente der Suche unter einem neuen Aspekt - demjenigen des Spiels. Es ist hier nicht der Ort, die zentrale Bedeutung des Spiels für die Ästhetik des Cortázarschen Oeuvre - und seine Thematik - systematisch zu erörtern.43 Es sollen nur kurz die Elemente angedeutet werden, die dem Spiel an dieser Stelle der Untersu-
43
strieren. Bemerkenswert an Coitázars Version ist schließlich noch, daß sie - abgesehen vom kynischen Demonstrationswert der Anekdote - das Vertrauen auf die positive therapeutische Wirkung des Heraklitschen Misthaufens affirmiert In vier der fünf von Diogenes Laertius erzählten Versionen der Anekdote nämlich ereilt den bäuchlings wie Emmanuèle (!) - im Mist vergrabenen Heraklit der Tod! Eine solche Erörterung - eines der zentralen Desiderate der Cortázar-Forschung! - fehlt bisher völlig. Auch das verdienstvolle Cortázar-Kolloqium 1984 in Poitiers, das sich als Rahmenthema immerhin Lo fantástico y lo lúdico en la obra de Julio Cortázar gewählt hatte, erbrachte hierzu, abgesehen von Einzelaspekten, keine neuen Ergebnisse. - Für die Problemstellung grundlegend ist immer noch die Arbeit von S. Yurkievich: »Eros Ludens (juego, amor, humor según 'Rayuela')« (= Yurkievich 1978b).
210
chung die Funktion eines dominanten Bedeutungskörpers verleihen. Wir fassen zusammen: aa) Das Spiel resümiert die semiotische Qualität der Suche: Semiotische Systeme funktionieren - so lautet die opinio communis von Saussure bis Wittgenstein - im Modus des Spiels, d.h. sie funktionieren auf der Grundlage eines von den Spielern konventionell akzeptierten Codes von Elementen bzw. syntaktischen Regeln. Sowohl die Regeln wie die Elemente sind arbiträrer Natur. Spielen besteht deshalb zuvorderst im Prozeß des Erlernens der das Spiel konstituierenden Elemente und Regeln: »La rayuela se juega con una piedrita que hay que empujar con la punta del zapato. Ingredientes: una acera, una piedrita, un zapato, y un bello dibujo con tiza, preferentemente de colores. En lo alto está el Cielo, abajo está la Tierra [...].« (R 251) bb) Spielen heißt, den »Primat des Spieles gegenüber dem Bewußtsein des Spielenden« (Gadamer 1965: 100) akzeptieren. Schon H.G. Gadamer hat auf den »medialen Sinn« (ebd.: 99) als die dominante Seinsweise des Spiels hingewiesen, eine Eigenschaft, die von Gadamer genutzt wird, um die ontologische Struktur von Kunstwerken jedweder Art zu explizieren. Spielen ist mithin ein Tätigsein, in dem der epistemologische Dualismus von Subjekt und Objekt - wie er für die logozentrische Tradition verbindlich ist - per se bereits invertiert erscheint: Nicht das Subjekt spielt das Spiel, sondern das Spiel spielt das Subjekt. 44 Es ist eben diese Inversion jedoch, die oben bei der Analyse des Begehrens aufgewiesen wurde (vgl. S. 206f.). cc) Spielen ist mithin eine spezielle Ökonomie des Begehrens: In der argentinischen Variante des Hüpfspiels ist das Begehren die Spannung zwischen Cielo und Tierra: »En lo alto está el Cielo, abajo está la Tierra, es muy difícil llegar con la piedrita al Cielo, casi siempre se calcula mal y la piedra sale del dibujo. Poco a poco, sin embargo, se va adquiriendo la habilidad necesaria para salvar las diferentes casillas (rayuela caracol, rayuela rectangular, rayuela de fantasía, poco usada) y un día se aprende a salir de la Tierra y remontar la piedrita hasta el Cielo, hasta entrar en el Cielo (Et tous nos amours, sollozó Emmanuele boca abajo) [...].« (R 251) Das zwischen »Himmel« und »Erde« gespannte Begehren ist im Rayuela-Spiel indessen an die Regeln eines arbiträren Codes gebunden. Auch die Erfüllung mithin der durch die Regeln definierten Intentionalität des Spiels (»llegar al Cielo«) erweist sich deshalb im Hinblick auf die 'unendliche' Natur des Begehrens als prinzipiell unangemessen: 44
Vgl. Gadamer: »Es läßt sich von da aus ein allgemeiner Zug angeben, wie sich das Wesen des Spieles im spielerischen Verhallen reflektiert: alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel Uber den Spielenden Herr wird.« (1965: 101 f.)
211
»[...] lo malo es que justamente a esa altura, cuando casi nadie ha aprendido a remontar la piedrita hasta el Cielo, se acaba de golpe la infancia y se cae en las novelas, en la angustia al divino cohete, en la especulación de otro Cielo al que también hay que aprender a llegar.« (R 25 lf.) Auch das Spiel ist mithin nicht in der Lage, die Erfahrung fundamentalen AndersSeins der durch das Begehren bestimmten Subjektivität zu beseitigen; es ist vielmehr dessen Demonstration. Wenn es aber stimmt, daß das (Un-)Wesen des Subjekts mithin in seinem grundsätzlichen Anders-Sein - nicht aber in einer wie auch immer zu bestimmenden Form von Anwesenheit (»Präsenz«) - besteht, die Suche infolgedessen als Suche-nach-dem-Anderen-des-Subjekts zu bestimmen ist, so vollzieht sich Suche notwendigerweise im Medium des 'Spiels'. Suche ist mithin der 'spielerische' Umgang mit den Codes einer gegebenen Kultur; sie bedeutet die notwendige Transzendierung jedweden Inhalts im Hinblick auf »otro Cielo« 45 ; heißt - einer rätselhaften, im Lichte des Erörterten nun jedoch verständlicheren Formulierung zufolge: »Caminar con un propósito que ya no fuera el camino mismo.« (R 340) Die Rayuela-Metapher erhält somit gegenüber den beiden zuerst erörterten Bedeutungsträgem der Suche - der Bestimmung des Subjekts als »Begehren« sowie der in »Heráclito el Oscuro« verkörperten Alternativ-Figur der abendländischen Kultur eine dominante Funktion; ihre Spannung umgreift sie beide: »[...] mirar el mundo a través del ojo del culo, and you'll see patterns pretty as can be, la piedrita tenía que pasar por el ojo del culo, metida a patadas por la punta del zapato, y de la Tierra al Cielo las casillas estarían abiertas, el laberinto se desplegaría como una cuerda de reloj rota haciendo saltar en mil pedazos el tiempo de los empleados, y por los mocos y el semen y el olor de Emmanuele y la bosta del Oscuro se entraría al camino que llevaba al kibbutz del deseo, no ya subir al Cielo (subir, palabra hipócrita, Cielo, flatus vocis), sino caminar con pasos de hombre por una tierra de hombres hacia el kibbutz allá lejos pero en el mismo plano, como el Cielo estaba en el mismo plano que la Tierra en la acera roñosa de los juegos [...].« (R 253) 4 0 2.1.2.4.3. U-Topie des Anderen: der Wahnsinn (Kapitel 56: »los piolines«) Wenn der Ansatz unserer Analyse richtig ist und die Episode mit Emmanuele über
45
»El otro cielo« ist der Titel der bekannten, die Intertextualität mit Lautr&monts Maldoror in vielfältigen Anagrammen suchenden und realisierenden Kurzgeschichte in Todos los fuegos el fuego. Vgl. zur Analyse: Mc Guirk 1986.
46
Die Aporie, in die an dieser Stelle jede deutsche Übersetzung geraten muß, ist offensichtlich. Es ist gleichwohl ärgerlich, daß die meist vorzügliche Übersetzung von F.R. Fries sich gerade an dieser, für den Gesamttext so zentralen Passage in vermeidbare Widersprüche verwickelt. Der Fehler liegt darin, daß Fries das von Cortizar souverän und vieldeutig entfaltete metaphorische Bildfeld der argentinischen Variante des Hüpfspiels (mit den beiden Polen Himmel und Erde) unbesehen und undedacht in das so gänzlich verschiedene Bildfeld des deutschen Hüpfspicls (zwischen Himmel und Hölle) überträgt.
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ihre individual-psychologische Bedeutung hinaus die Funktion einer kulturellen Grenzerfahrung besitzt, so findet der Umstand eine Erklärung, daß Oliveira im Anschluß an die Episode Paris - d.h. Europa und seiner Kultur - den Rücken kehrt. Nicht nur der Aufenthalt Oliveiras in Paris, sondern vollends seine Rückkehr nach Buenos Aires erscheinen dann als die in ihr Gegenteil verkehrte Version der traditionellen, für das durchschnittliche Kulturverständnis des argentinischen Bürgertums zentrale »Reise nach Europa« 47 : Europa kann nicht länger Ziel der kulturellen Identitätssuche eines Argentiniers sein, wenn es stimmt, daß die durch Europa repräsentierte okzidentale Kultur - demonstriert in Oliveiras Erlebnis mit Emmanuele - selbst in fundamentaler Zweideutigkeit als die Kultur des »Anderen« erscheint. Der Effekt der Emmanuéle-Episode ist deshalb derjenige der Abstoßung. Das Ziel seiner Suche erscheint Oliveira nun in weitere Entfernung gerückt denn je: »Oliveira [...] se imaginaba muy lejos (¿al otro lado del mar, o era un ataque de patriotismo?) el paisaje tan puro que casi no existía de su kibbutz.« (R 248) Die vom traditionellen Kulturverständnis her gesehen paradoxe Bedeutung der Rückkehr liegt also darin, daß dem Europareisenden nunmehr gerade das eigene Land als die terra incógnita der Erfahrung des Anderen erscheint - ja geradezu als »paisaje tan puro [...] de su kibbutz«. Oliveira ist offenbar entschlossen, sich dieser Erfahrung ganz zu öffnen. Die demonstrative Schweigsamkeit, mit der er seinen Freunden auf dem Flughafen begegnet, seine offensichtliche Unfähigkeit zu erzählen, was Europa für ihn bedeutete, sind Indizien für seinen Willen, den kulturellen Ballast der Alten Welt nunmehr restlos von sich zu werfen. Was er aus Europa zurückbringt, ist vielmehr die Überzeugung, »[que] solamente una falacia mental como tantas otras podía permitir el fácil expediente de imaginar un futuro abonado por los juegos ya jugados« (R 266). Liegt die Bedeutung der Emmanuéle-Episode darin, im 'dekonstruktivistisch' motivierten Rückbezug auf den Ursprung der okzidentalen Kultur (Heraklit!) die Möglichkeit einer kulturellen Erfahrung des Anderen zu eröffnen, so stellt sich Buenos Aires dar als der eigentliche Ort dieser Erfahrung. Das 'Andere' schlechthin der okzidentalen Kultur, das Oliveira in Buenos Aires erfährt, ist die Konfrontation mit dem »Wahnsinn« einerseits 48 sowie die Erfahrung fundamentaler Differenz in der Erscheinung des »Doppelgängers« andererseits. Den Höhepunkt dieser Erfahrung bilden die - mit dem Ende der erzählten Handlung koinzidierenden (sofern man die Lektüreanweisung des »libro primero« zugrundelegt) - Ereignisse in Kapitel 56. Um diese - insbesondere die sie bedingende 'Konstellation' - zu verstehen, ist ein Rückblick erforderlich auf die Handlung in Kapitel 54: Oliveira ist zusammen mit dem Ehepaar Traveler/Talita, mit welchem er seit lan47
F. Ainsa hat Bedeutung und Tradition der »viaje iniciático« (nach Europa) in mehreren Beiträgen ausführlich dargestellt. Vgl. Ainsa 1981 (1973) und 1985.
48
Vgl. Foucault 1961.
213
gern in Freundschaft verbunden ist, in einer Irrenanstalt beschäftigt. Das Haus steht seit kurzem unter der Leitung des vormaligen Arbeitgebers der Freunde, des Zirkusdirektors Ferraguto. Kapitel 54 berichtet vom - handlungslogisch nicht weiter motivierten - 'Abstieg' Oliveiras und Talitas in den Leichenkeller der Anstalt. 49 Die unmotivierte Fahrt in den Keller, die Präsenz der in Kühlfächern aufbewahrten Leichen sowie das Alleinsein mit der Frau des Freundes, in der er erneut die verschwundene Maga verkörpert sieht, lösen mit einem Mal Oliveiras Zunge. Kommunikation scheint plötzlich wieder möglich. Oliveira glaubt das Ziel seiner Suche mit Händen zu greifen: Sein Kuß gilt nicht der körperlich gegenwärtigen Frau des Freundes, sondern bezieht sich auf die im Bild der Maga-Talita realisierte, kommunikativ nunmehr greifbar gewordene Präsenz des Anderen: »De alguna manera habían ingresado en otra cosa, en ese algo donde se podía estar de gris y ser de rosa, donde se podía haber muerto ahogada en un río (y eso ya no lo estaba pensando ella) y asomar en una noche de Buenos Aires para repetir en la rayuela la imagen misma de lo que acababan de alcanzar, la última casilla, el centro del mandala [...].« (R 374) In Kapitel 54 scheint Oliveira mithin am Ziel der Suche angelangt. Indessen - die im Leichenkeller vollbrachte Einheit erscheint ihm selbst dann doch wieder nur als imaginäre Traumzeit: »Sentía como si estuviera yendo de sí mismo, abandonándose para echarse - hijo (de puta) pródigo - en los brazos de la fácil reconciliación, y de ahí la vuelta todavía más fácil al mundo, a la vida posible, al tiempo de sus años, a la razón que guía las acciones de los argentinos buenos y del bicho humano en general.« (.R 37 lf.) Die Errichtung der absurden Verteidigungsstellung dagegen, die den Inhalt bildet von Kapitel 56, führt aus der imaginären Traumzeit des Leichenkellers zurück zur real erfahrenen, jene imaginäre Einheit und Versöhnung in der Sukzession des wesenlosen Jetzt vernichtenden Zeit des Wachens: »Algo como la vigilia contra el sueño (las horas del sueño y la vigilia, había dicho alguien un día, no se habían fundido todavía en la unidad), pero decir vigilia contra sueño era admitir hasta el final que no existía esperanza alguna de unidad." (R 388; vgl. 383) Der raffinierte Irrsinn (»lo [...] sensatamente insensato« [/? 389]) des Fadengespinstes (»piolines«), die mit Wasser gefüllten Schalen, Spucknäpfe und Eimer sowie die 49
Handlungslogisch unmotiviert vollzieht sich der Abstieg gleichwohl im Rahmen eines mythologisch bzw. kulturgeschichtlich evidenten Modells: »Estaba en su pequeño, cómodo Hades refrigerado, pero no había ninguna Euridice que buscar, aparte de que había bajado tranquilamente en montacargas y ahora, mientras abría una heladera y sacaba una botella de cerveza, piedra libre para cualquier cosa con tal de acabar esa comedia.« (R 372 - Hervorh.
WBB.)
214
von dem Kranken Nr. 18 als Fußangeln ausgelegten »Rollemans« 50 , mit denen sich Oliveira gegen Travelers vermeintlichen Angriff verschanzt, figurieren gegenüber der imaginären Einheit die reale Differenz, gegenüber dem in der Einheit mit dem Anderen verlorenen Ich die wiedergewonnene Einsamkeit des durch das Andere - d.h. die Differenz - konstituierten Subjekts. Vom Standpunkt der logozentrischen Vernunft aus gesehen erscheint Oliveiras Verteidigung mithin als Position des Wahnsinns. Morelli zufolge »no se puede denunciar nada si se lo hace dentro del sistema al que pertenece lo denunciado« (R 509). Der Wahnsinn Oliveiras (»l'Autre« im Sinne Foucaults) ist dementsprechend der gleichsam archimedische Punkt - Höhepunkt, nicht 'Ziel' seiner Suche -, der es erlaubt, das gründende Fundament der abendländischen Kultur, auf das die Suche bezogen ist, in den Blick zu bringen. Die von R. Girard 9 Jahre nach dem Erscheinen von Rayuela vorgelegte Hypothese zur Genese menschlicher Kultur weist in eine ähnliche Richtung. 51 Sie erlaubt uns, die rätselhafte Verteidigungsstellung Oliveiras in ihren wesentlichen Elementen zu entschlüsseln. a) Der Angriff Oliveira verbarrikadiert sich in seinem Zimmer, da er einen unmittelbar bevorstehenden Angriff (»un determinado ataque« [/? 381; vgl. 383, 387]) Travelers auf sein Leben (»estaba en juego la vida« [Ä 380; vgl. 393f., 398]) befürchtet (»sentía cada vez más miedo« [Ä 382; vgl. 385, 389]). Trotz des im Leichenkeller zwischen ihm und Talita Vorgefallenen ist seine Angst - zumal in dieser Konkretheit - psychologisch unmotiviert: Traveler ist das Interesse, das Oliveira für Talita gefunden hat, seit längerem bekannt. Beide haben es mehrfach unter vier Augen erörtert, wobei Traveler das Angebot Oliveiras, sich von dem Paar zu trennen, ausdrücklich ablehnte (vgl. R 329, 355). Traveler hat in der Tat keinen Grand, in Oliveira den Rivalen und potentiellen Liebhaber seiner Frau zu sehen: »Es otra cosa [...] ¡Es malditamente otra cosa, carajo!« (R 318) Es ist dies eine Version, die nicht nur die Perspektive des (neutralen) Erzählers in Kapitel 54 bestimmt (vgl. R 373), sondern von Talita selbst geteilt wird, als sie Traveler von Oliveiras Kuß berichtet (vgl. R 376). Traveler macht sie sich gleichfalls zu eigen, denn er versichert Oliveira, obwohl er seinen Fuß bereits in einen Wassereimer gesetzt hat, seiner fortdauernden Freundschaft (vgl. R 394) und verläßt, nachdem er zuvor die Anstaltsleitung beruhigt hat, friedlich das Zimmer. Beurteilt man Oliveiras Handlungsweise auf 'psychologischer' Ebene, so kann sie nur als Symptom beginnenden Irrsinns gedeutet werden. Einer Deutung des hier ausgetragenen Konflikts auf der Ebene der psychologischen Handlungslogik - als beha50
Ähnlich wie der Titel des Romans verbindet auch der Ausdruck »rulemanes« Esoterisches mit Alltäglichem (vgl. Anmerkung 1!). Es handelt sich um einen argentinischen Regionalismus zur Bezeichnung von »Kugellagern« aller Art. Der allgemein verständliche Ausdruck im Spanischen lautet »rodamiento«.
51
Vgl. Girard 1972 und 1978.
215
vioristisches Reagieren der Personen auf die von den Partnern ausgehenden Reize steht jedoch die Suspension solcherart »determinismo« schon zu Anfang des Textes entgegen: »[...] Horacio se permitía conjeturar que el orden de los razonamientos no tenía a) que seguir el tiempo físico, el antes y el después, y b) que a lo mejor el razonamiento se había cumplido inconscientemente para llevarlo de la noción de piolín a la de la palangana acuosa.« (R 380) Ihre eigentliche Motivation erhält die auf der syntagmatisch-'logischen' Ebene der Ereignisfolge sinnlose Verteidigung Oliveiras dagegen auf der paradigmatischen Ebene der Personenkonstellation: Kapitel 56 bringt einen Konflikt zum Austrag, der sich bereits in »Del lado de allá« unter dem Titel des »doppelgänger« (sic! - R 140, 252 etc.) angekündigt hatte. Zum Verständnis der Tragweite des Motivs sowie seiner engen Beziehung zu dem als »kibbutz del deseo« (hier erneut: R 384!) bestimmten Ziel der Suche ist ein Blick auf die Grundthese der Anthropologie Girards erforderlich: Im Gegensatz zur Grundannahme des Freudianismus bestimmt Girard die aller kulturellen Entwicklung zugrundeliegende anthropologische Konstante als »désir mimétique« (Girard 1972: 213ff.). Der dem Menschen eigene Nachahmungstrieb ist nicht nur ein Trieb unter anderen, sondern: »le désir est essentiellement mimétique, il se calque sur un désir modèle; il élit le même objet que ce modèle.« (Ebd.: 217) »Désir« und »mimésis« sagen deshalb zweimal das gleiche, weil »désir« eben dies bedeutet: »(un) manque d'être« (ebd.). Das durch den ursprünglichen Seinsmangel bestimmte Bedürfniswesen »Mensch« kann seinem Mangel jedoch nicht dadurch Abhilfe verschaffen, daß es sich blindlings der Objektwelt zuwendet: es befriedigt seine Bedürfnisse vielmehr im Blick auf seinesgleichen: In der Nachahmung der Geste des seine Bedürfnisse befriedigenden Rivalen konstituiert das Subjekt die zur Befriedigung seines eigenen Triebes tauglichen Objekte 52 : »En désignant tel ou tel objet, le rival le désigne au sujet comme désirable. Le rival est le modèle du sujet, non pas tant sur le plan superficiel des façons d'être, des idées, etc. que sur le plan essentiel du désir.« (Ebd.: 216f.) Der aus der Annahme eines ursprünglichen »désir mimétique« resultierende Naturzustand des Menschen ist mithin derjenige einer undifferenzierten Gewalt aller gegen alle. Um der den Bestand der Gattung in Frage stellenden »violence« Einhalt zu ge-
52
Die von Girard als »désir mimétique« bezeichnete Triebkonstante heißt bei E. Lévinas »besoin«. Der im »besoin« sich manifestierende Trieb ist das - auch jedem Erkenntnisakt zugrundeliegende - Streben des Selbst nach Einverleibung und Assimilieiung des Anderen. »Désir« dagegen - in der Terminologie von Lévinas - ist bestimmt als Begehren-nach-dem-Anderen, einem Anderen indessen, welches als das radikalisiert und schlechthin Andere der innerweltlichen Bcdiirfnisstruklur des Selbst gegenüber erhaben ist, ein Anderes mithin, angesichts dessen sich auch das Selbst erfährt als das Andere. Dies nämlich ist die Struktur des »Begehrens«: Sich selbst zu erfahren als das Andere-des-Andercn. - Vgl. Lévinas 1982: 192ff.
216
bieten - kulturelle Entwicklung mithin zu ermöglichen - bedarf es der institutionalisierten Gewaltausübung des Opfers: Die menschliche Gattung konzentriert ihr gesamtes Gewaltpotential auf eines ihrer Mitglieder (»victime émissaire«). Die Sakralisierung und Tabuisierung des Opfers (»victime« = Opfer; »sacrifice« = Opferhandlung) kanalisiert die undifferenzierte Gewalt des »désir mimétique« und ermöglicht kulturelle Entwicklung als geordnetes System von Differenzen: »L'ordre, la paix et la fécondité reposent sur les différences culturelles.« (Ebd.: 78) Girards Theorie wendet sich insofern mit Entschiedenheit gegen die rationalistische Religionskritik der Aufklärung, welche, indem sie das Phänomen des Religiösen in den Bereich des Imaginären verweist, die intime Symbiose von Religion und realer institutionalisierter Gewalt - und damit gerade die letztere - verdrängt. (Vgl. ebd.: 391 und 237) Durch die der »victime émissaire« gegenüber ausgeübten »violence fondatrice« ist die menschliche Kultur nämlich keineswegs gewalt-frei geworden. Sie bedarf vielmehr ihres Fortbestandes zuliebe der kontinuierlichen »substitution sacrificielle« (ebd.: 401), d.h. der rituellen Wiederholung der ursprünglichen Opferhandlung durch die lange Reihe der nachfolgenden Opfer (»sacrifice rituel« [ebd.]). Die kulturellen Systemen eigene Dynamik führt jedoch periodisch zum Verlust des zur Kanalisierung der »violence« erforderlichen gesellschaftlichen Konsenses der Religion. Die hierdurch ausgelöste »crise sacrificielle« (ebd.: 77) zeigt sich vor allem in der Grenzverwischung zwischen der (gesellschaftlich bzw. religiös sanktionierten) »violence purificatrice« (ebd.) des rituellen Opfers und der emeut zur Geltung gelangenden »violence impure« (ebd.) des puren »désir mimétique«: »A mesure que la crise s'exaspère, les membres de la communauté deviennent tous des jumeaux de la violence. Nous dirons nous-mêmes qu'ils sont devenus les doubles les uns des autres.« (Ebd.: 121 - Hervoih. im Original) Die animistische Theorie der Religion, die moderne Psychiatrie sowie die Mehrzahl der literarischen Werke seit der Romantik 53 - mit Ausnahme des auch in unserem Text erwähnten Dostojewski (»¿Te hablé de las sustituciones, no? Qué inmundicia, Manú. Consultá a Dostoievski para eso de las sustituciones.« [Ä 400]) - haben das Phänomen des Doppelgängers jedoch entrealisiert, es zusammen mit dem der Religion in den Bereich des Imaginären verwiesen: »Cette déréalisation se situe dans le prolongement direct du processus sacralisant qui dissimule à l'homme l'humanité de sa violence: dire que le double monstrueux est dieu et dire qu'il est purement imaginaire, c'est aboutir, en fin de compte, au même résultat par des moyens différents. C'est l'incompréhension complète du religieux qui a pris, chez nous, le relais du religieux lui-même, remplissant à merveille la fonction qui était jadis dévolue à celui-ci.« (Girard 1972: 237f.) 54 53
Vgl. Girard 1961.
54
Biographisch näherliegend als die Arbeiten Ginuds, die Cortázar z.Zt. der Niederschrift von Rayuela nicht gekannt
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b) Die Verteidigung Der an mehreren Stellen des Romans wörtlich oder abgewandelt zitierte Satz Rimbauds - »Nous ne sommes pas au monde« (vgl. R 64, 92, 216, 219, 225, 433, 626) ist gewissermaßen der Wahlspruch Oliveiras: Prinzipielle Transgression gegebener Codes, hat die Suche in der Tat den Charakter der Entrealisierung. Die Entpsychologisierung der Personenbeziehungen im vorliegenden Text sowie Oliveiras Doppelgängervisionen sind ein letzter Schritt in diesem Prozeß. Vom Standpunkt der Alltagsvernunft aus gesehen verdienen sie das Prädikat »Wahnsinn«: »- ¿Ahora es a propösito que le Hamas la Maga? No mientas, Horacio. - Yo sé que es Talita, pero hace un rato era la Maga. Es las dos, como nosotros. - Eso se llama locura - dijo Traveler. - Todo se llama de alguna manera, vos elegis [...].« (R 401) In der Perspektive der Girardschen Anthropologie dagegen erscheint die Handlung in verändertem Licht: Oliveiras Tun ist nicht nur die lineare Fortführung der auch in Kapitel 54 unabgeschlossen bleibenden Suche (»Se estaban como alcanzando desde otraparte [...]« [R 373, Hervorh. W.B.B.]); die Erfahrung des Doppelgängers ist nicht länger akzidentelles Beiwerk eines seinem Wesen nach auf Verwirklichung imaginärer »Harmonie« (R 327), eines unschuldigen »Arkadien« oder »reino milenario« (R 399) bezogenen Strebens. Das als »deseo« bestimmte Subjekt der Suche verliert in der Erfahrung des Doppelgänger-Seins vielmehr seine Unschuld: Indem es sich selbst - und den Partner - als doppelgänger erfahrt, durchschaut es die in der HarmoniePrämisse verborgene Realität der Gewalt: Der harmlose Himmel des Rayuela-Spiels »la ultima casilla, el centro del mandala« (R 374) - erscheint im Irrlicht der Hölle des »désir mimétique«. Am Endpunkt der unendlichen Suche steht mithin die Entdeckung des realen Substrats der Gewalt. Sie ist das eigentliche Motiv der Errichtung des absurden Systems der Verteidigung. Im Eingeständnis des antisozialen und agressiven Charakters der mit allen sozialen Beziehungen tabula rasa machenden Suche 55 erhält deshalb der den Vorwürfen von Babs gegenüber geltend gemachte Anspruch auf »auto-inquisiciön« (R 238) den Charakter der »auto-defensa«. Der Verzicht auf die Lösung des durch die Suche provozierten »conflicto del tehabcn kann, ist im Hinblick auf die Doppelgängerproblcmaük gewiß der Verweis auf A. Artauds Le théátre el son double, ein Autor, mit dem sich bereits der junge Cortázar publizistisch beschäftigt hatte (vgl. »Muerte de Antonin Artaud«, in: Sur, NM63 , mayo 1948: 80-82). Nicht der Nachweis literarhistorischer Filiationen indessen, sondern das Verständnis der zugrundeliegenden anthropologischen Problematik als solcher ist unser Thema. Dies ist der Grund, warum wir den eindringlichen Analysen Girards an dieser Stelle den Vorrang geben. 55
»No se puede querer lo que quiero, y en la forma en que lo quiero, y de yapa compartir la vida con los otros. Había que saber estar solo y que tanto querer hiciera su obra, me salvara o me matara, pero sin la rae Dauphine, sin el chico muerto, sin el Club y todo el resto. ¿Vos no creés, che? El galo no dijo nada.« (R 239)
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rritorio versus pieza« (R 384) im Sinne des Präventivschlags 56 und die Beschränkung aller Maßnahmen auf ihre reine Verteidigungsfunktion sind deshalb ein Akt der Anerkennung der realen und unaufhebbaren Differenz von »territorio« und »pieza«, Doppelgänger und Subjekt sowie - mit E. Lévinas gesprochen - von Anderem und Selbst. Die Denunzierung der im Streben nach Harmonie verborgen liegenden Gewalt des Doppelgängers sowie die Errichtung der Verteidigungsstellung als die Anerkennung der realen Differenz des Anderen 57 ist gleichbedeutend mit dem 'Ende' des Romans auf der linearen Handlungsebene (»libro primero«). Gelangt von diesem Ende her gesehen - so ist nun zu fragen - das Projekt der Suche ebenfalls in ein endgültiges Stadium? Gelangt Oliveira ans 'Ziel' seiner Suche, und wenn ja, wie ist dieses Ziel beschaffen? c) Differenz und Versöhnung Die Frage, ob Oliveiras Suche im Selbstmord endet, 58 hat nicht nur anekdotisches 56
»Atacar a Traveler como la mejor defensa era una posibilidad, pero significaba invadir lo que se sentía cada vez más como una masa negra, un territorio donde la gente estaba durmiendo y nadie esperaba en absoluto ser atacado a esa hora de la noche y por causas inexistentes en términos de masa negra.« (R 383)
57
Der Anerkennung der Existenz des Anderen als des Anderen durch das Selbst liegt jene fundamental-ethische Haltung zugrunde, die E. Lévinas Verantwortung (»responsabilité«) nennt: »L'épiphanie de l'absolument autre, est visage où l'Autre m'interpelle et me signifie un ordre de par sa nudité, de par son dénûment. Sa présence est une sommation de répondre. Le Moi ne prend pas seulement conscience de cette nécessité de répondre, comme s'il s'agissait d'une obligation ou d'un devoir dont il aurait à décider. Il est dans sa position même de part en part responsabilité ou diaconie, comme dans le chapitre 53 dlsaïe. Etre Moi signifie dès lors ne pas pouvoir se dérober à la responsabilité. Ce surcroît d'être, cette exagération qu'on appelle être moi, cette saillie de l'ipséilé dans l'être, s'accomplit comme une turgescence de la responsabilité. La mise en question de Moi par l'Autre me rend solidaire d'Autrui d'une façon incomparable et unique. Non pas solidaire comme la matière est solidaire du bloc dont elle fait partie ou comme l'est un organe de l'organisme où il a sa fonction - la solidarité, ici, est responsabilité, comme si tout l'édifice de la création reposait sur mes épaules [...] Découvrir au Moi une telle orientention, c'est identifier Moi et moralité.« (Lévinas 1982: 196) Im Blick auf die der Untersuchung zugrundeliegende Frage nach den Konvergenzpunkten von Leben und Werk Coitázars, von ästhetischem Anspruch und politischer Praxis - »escritura« und »responsabilidad« - erhält die vorstehende Analyse von Kapitel 56 mithin eine Schlüsselstellung. Sie bestätigt aufs beste die von Cortázar selbst gegebene Einschätzung, derzufolge Rayuelo eine zentrale Funktion hat im Hinblick auf den langen Weg, der ihn hingeführt habe zur Entdeckung des Menschen als seines »Nächsten«.
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Im Dialog mit González Bermejo hat Cortázar sich zu der Frage geäußert: »C: [...] Terminado el libro, empezando por mí y siguiendo por cada uno de los otros lectores, cada uno puede tener su propia versión de lo que hizo Oliveira, si se tiró por la ventana o no. GB: Hay una serie de capítulos situados en el futuro de ese momento. [...] ¿Usted pensaba, al escribirlos, que eran reales o imaginados por Oliveira? C: Cuando escribí el libro para mí eran reales porque eso podría haber ocurrido con o sin salto de la ventana; incluso Oliveira podía haberse tirado por la ventana y no haberse matado. GB: Yo siempre los leí como imaginarios: como ocurridos en la cabeza de Oliveira. C: Es una linda hipótesis y perfectamente posible. En la situación que él está no es imposible que haya pasado a un estado de delirio y haya imaginado todo eso. Digamos que a partir del momento en que Oliveira se hamaca en la ventana y viene la última frase: 'plaf, se acabó', la opción queda totalmente abierta, tanto para Oliveira como para el lector. Lo que yo vi cuando estaba escribiendo Rayuelo - creo que me acuerdo más o menos bien - fue el futuro de ese momento, esos fragmentos de que usted habla. Porque Oliveira puede haberse tirado o no por la ventana, puede haberse matado o no, puede haber vivido o imaginado esos momentos futuros pero, en cualquier caso, se muestra a un Oliveira que ya está del otro lado de ese último momento de encuentro y armonía total. GB: Pero me parece importante, para el sentido de la novela, delucidar si se mata o no. Si todos los problemas exi-
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Interesse. Sie ist für den Charakter seiner Suche - und die Bestimmung des Ziels vielmehr von großer Bedeutung. Wir glauben Gründe dafür angeben zu können, die Frage entschieden zu verneinen. Es sind die folgenden: aa) Der Text des letzten Abschnitts von Kapitel 56: Oliveira lehnt in unveränderter Haltung im Fenster, versunken in den Anblick einer ebenso realen wie imaginären Harmonie - 'real', insofern der zärtlich um Talitas Hüfte gelegte Arm Travelers (vgl. R 402) die endgültige Wiederversöhnung der durch den Doppelgänger aus dem Lot gebrachten Harmonie des Paares indiziert; real auch, da Traveler das Schlimmste Oliveiras angedrohten Sturz aus dem Fenster (vgl. R 390) - verhütete, indem er freiwillig den begonnenen »Angriff« abbrach und die von Oliveira gesetzte Differenz von »Territorium« und »Zimmer« akzeptierte; 'imaginär', insofern Oliveira fortfährt, Talita als Maga zu sehen. Doch Oliveira unternimmt keinen Versuch mehr, am Bild der Harmonie zu partizipieren. Die Handlung endet mit einer unmerklich grüßenden Handbewegung Oliveiras in Richtung des Paares sowie der - im Modus des Irrealis vorgetragenen - Überlegung, »[...] que al fin y al cabo algún encuentro había, aunque no pudiera durar más que ese instante terriblemente dulce en el que lo mejor sin lugar a dudas hubiera sido inclinarse apenas hacia afuera y dejarse ir, paf se acabó« (R 404 - Hervorh. W.B.B.) Es gibt auch auf der Ebene der Handlung keinerlei Indiz, daß Oliveira den Gedanken an Selbstmord dann auch in die Tat umsetzt. bb) Der Kontext der Suche: Im Unterschied zu Kapitel 54, wo Oliveira im Kuß des Doppelgängers Talita-Maga die imaginäre Realisierung des Zieles seiner Suche zu erfahren glaubt, bietet Kapitel 56 dem bedrohlichen »Schneeball-Effekt« (Girard 1972: 121) des Doppelgängers Einhalt durch die Errichtung des Distanz und Differenz setzenden Systems der »piolines« und »palanganas«. Oliveira hat erfahren, daß der »encuentro« sich nur als »desencuentro« (R 388) verwirklichen läßt. Eben dies war oben in der paradoxen Formel der Suche als »encuentro incesante con las carencias« (R 240) angedeutet: Als »deseo« bestimmt, erfährt sich das Subjekt als fundamentales Unterworfen-Sein gegenüber fremder Bestimmung, mithin als Differenz. Die Einnahme der den »encuentro« verhindernden Verteidigungsstellung ist deshalb zugleich auch die Ankunft am Ziel der Suche: Indem das Subjekt sich als Differenz akzeptiert, konstituiert es sich andererseits als »deseo«. Eben dies - die unaufhebbare Differenz von Subjekt und »encuentro« - ist sein »kibbutz«, und zwar als »deseo«: »Se moriría sin llegar a su kibbutz pero su kibbutz estaba allí, lejos pero estaba y sccncialcs melafísicos que plantea el personaje se resolvieran con la muerte sería muy simplista, porque con la muerte se van a 'resolver' siempre. C: De acuerdo con usted: yo nunca he creído que Oliveira se matara.« (M 31: 75f - Hervorh. WJ1.B.)
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él sabía que estaba porque era hijo de su deseo, era su deseo así como él era su deseo y el mundo o la representación del mundo eran deseo, eran su deseo o el deseo, no importaba demasiado a esa hora.« (R 240f.) Traum, Irrsinn und Tod erscheinen in dieser Perspektive als Fluchtpunkte imaginärer Harmonie: Das Akzeptieren von Wachen und Schlaf als unterschiedene ist die fundamentalste Form der Setzung von Differenz - bedeutet: »[...] admitir hasta el final que no existía esperanza alguna de unidad« (R 388). Auch der Irrsinn ist - wie der Selbstmord - nur die imaginäre »Lösung« der Differenz. Der Gedanke an sie hat abermals die Form des Irrealis: »Le hacía gracia pensar que si hubiera tenido la suerte de volverse loco esa noche, la liquidación del territorio Traveler hubiera sido absoluta. Solución en nada de acuerdo con su soberbia y su intención de resistir a cualquier forma de entrega.« (R 389) Und schließlich: Der »Himmel« - das Zentrum, die Einheit - ist lediglich das Grab der Differenz: »Fijate que si me tiro -dijo Oliveira-, voy a caer justo en el Cielo.« (/? 398) Zwischen Leben und Tod im Fensterkreuz balancierend, wählt Oliveira - in extremis - die Erde. Der Preis des als Endlichkeit akzeptierten Realitätsprinzips ist hoch. Er besteht im nunmehr endgültigen Verzicht Oliveiras, von den Partnern der sozialen Kommunikation - der Freundin »Gekrepten o el cardenal primado« (R 379), nicht weniger jedoch auch von Traveler - für sein Handeln irgendeine Form von Verständnis zu erwarten: »No te rompás más la cabeza - dijo Oliveira -. ¿Por qué le buscás explicaciones viejo? La única diferencia real entre vos y yo en este momento es que yo estoy solo.« (R 398; vgl. 394f.) Doch die das Ende der Handlung markierende Suspendierung alltäglicher 'Kommunikation' ist dennoch nicht das letzte Wort des Textes. Dieser findet im 'un-endlichen' Prozeß der Akkumulation von »palabras inútiles« (R 397) - so jedenfalls müssen die von den Protagonisten des »libro segundo« im dritten Teil des Romans (»de otros lados«) zusammengetragenen Text-Fragmente vom Standpunkt alltäglicher Kommunikation aus erscheinen - seine Fortsetzung. 59 Die Fortsetzung der Suche qua »ataque por acumulación« (R 604) auf die als »falsch« denunzierte Welt ist das ästhetische Programm des Schriftstellers Morelli jenes unscheinbaren Alten, den Oliveira anläßlich eines Verkehrsunfalls kennenlernte und später zusammen mit den Freunden des Club de la serpiente verschiedentlich frequentiert. Sie ist das Thema des zweiten Kapitels dieser Untersuchung. 59
Vgl. die weiterfuhrende Analyse dieser Stelle unten S. 280f.
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2.2. (Literatur-) Theorie der Suche (»Morelliana«) Rayuela ist beides zugleich - Praxis des Schreibens (»escritura«) und literarische »Theorie«. Die Frage, wie beide zueinander stehen, wird in der Cortázar-Forschung gemeinhin keiner weitergehenden Erörterung für wert befunden. Der Sinn der Fragestellung scheint von vornherein gegeben und keiner kritischen Überprüfung zu bedürfen: In Frage steht die Adäquatheit des theoretischen Modells der »Morelliana« im Hinblick auf die textuelle Praxis des Romans. Unerörtert bleibt vor allem die Legitimität des die Frage leitenden instrumentalistischen Modells: Literarisches Schreiben gilt von vornherein - dem Vorbegriff der traditionellen Poetik folgend - als eine Form von Poiesis, als die Erstellung des poetischen Produkts, im Hinblick auf welches poetische Theorie entweder als theoretisches Konstruktionsmodell oder - zumindest, im Hinblick aufs 'fertige' Produkt - als deskriptives Strukturmodell fungiert. 60 Die Frage behandelt das Problem von Theorie und Praxis des Schreibens mithin auf der Ebene der literarischen Verfahren. Sie ist bezogen auf die Problematik der Konstitution des literarischen Objekts. Die Frage nach der Rolle des Objekts im Hinblick auf die Konstitution des Subjekts der literarischen Produktion dagegen gilt als gelöst oder doch - zumindest - nur als zweitrangig. Morelli thematisiert das Problem der literarischen Verfahren dagegen nur am Rande. Im Zentrum der Reflexion der »Morelliana« steht vielmehr die Frage nach der Literatur als einer spezifischen Praxis der Suche - eben jenem umfassenden Handlungs- und Konstitutionsproblem des Subjekts, dem der erste Teil unserer Analyse gewidmet war. In dieser Perspektive werden wir die obige Frage nach dem Verhältnis der »Morelliana« zum Gesamttext im 3. Teil der Analyse emeut zu stellen haben, und zwar als die Frage nach dem Verhältnis der literarischen Verfahren des Textes im Hinblick auf jene sowohl auf der Ebene der Handlung als auch auf der Ebene der literarischen Theorie (Morellis) thematisierte Konstitutionsproblematik des Subjekts der Suche im Kontext der abendländischen Kultur. Die Reflexionen Morellis stehen insofern weder im Widerspruch noch in Konkurrenz zur semiotischen Analyse des Textes. Sie treffen sich mit dieser jedoch auf der Ebene einer Diskussion der die Analyse leitenden Prämissen. 2.2.1. Diesseits und jenseits literarischer Kommunikation 2.2.1.1. Die Sprache: Bordell und »Novum Organum« Die Basis der literarischen Theorie Morellis bildet ein System von sprachphilosophischen Prämissen, die sich ihrer Herkunft nach aus der Philosophie Wittgensteins 61 ,
60
Vgl. Scholz 1977: 1211T. (vgl. Anmerkung 9!); De Mora Valcárcel 1982; Ostria González 1980.
61
»También habló de las palabras - dijo Gregorovius -, y Horacio no hace más que plantear el problema en su forma dialéctica, por decirlo así. A la manera de un Wittgenstein, a quien admiro mucho.« (Ä 191)
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den Grundannahmen der allgemeinen semiotischen Theorie 62 sowie aus - sprachphilosophisch interpretierten - Grundsätzen der englischen und deutschen Aufklärung herleiten lassen. Die Frage der Legitimität dieser Herleitung kann im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht gelassen bleiben. Sie hat für Morelli den Charakter einer faktischen Evidenz 63 : Die Sprache hat für Morelli - wie für Kant das Denken und Anschauen - transzendentale Funktion: Realität ist nicht identisch mit Sprache, wohl aber ist sie uns zugänglich nur als Sprache. Deren Grenzen sind deshalb - nach Wittgenstein - auch die Grenzen der Welt des Menschen. Ebensowenig wie für Kant die reine Vernunft ist die Sprache deshalb tauglich, als Organon zu dienen zur »Erweiterung unserer Kenntnisse« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 86): »En lo que acabás de leemos está bien claro que Morelli condena en el lenguaje el reflejo de una óptica y de un Organum falsos o incompletos, que nos enmascaran la realidad, la humanidad.« (R 500) Als »Disziplin« (Kant, B 823) beschränkt sich ihre Funktion statt dessen auf die Bestimmung der subjektiven Grenzen unserer Erkenntnisvermögen: »Morelli y su lección. De a ratos inmundo, horrible, lastimoso. Tanta palabra para lavarse de otras palabras [...]«. (R 540) Literatur als Kritik des Bestehenden mittels der Sprache sieht sich dann jedoch aufgrund der unübersteigbaren sprachlichen Verfaßtheit der historischen Welt - einem ursprünglichen Dilemma konfrontiert: Wenn es stimmt, daß Subjekt und Objekt - der Schriftsteller selbst und die Welt, gegen die er sich wendet - lediglich Momente eines übergreifenden sprachlichen Systems sind, sinkt die vermeintlich kritische Attitüde des Schriftstellers ab zum bloß arbiträren Spiel mit vorgegebenen Codes: »Morelli parece convencido de que si el escritor sigue sometido al lenguaje que le han vendido junto con la ropa que lleva puesta y el nombre y el bautismo y la nacionalidad, su obra no tendrá otro valor que el estético, valor que el viejo parece despreciar cada vez más.« (R 509) 62
Siehe oben Einleitung 1.3.1.2.!
63
Die von Morelli und seinen Gesprächspartnern zumeist im Konversationston vorgebrachten Philosopheme' sind das gerade Gegenteil philologisch exakter Zitate. Begriffe und Namen, die sie verwenden, haben grundsatzlich indizielle - nicht aber logisch-'definitorische' - Funktion, d.h. sie erfordern, um verstanden zu werden, die Rekonstruktion eines (paradigmatischen) Kontextes. Um diesen sind wir bemüht, indem wir den Zentralbegriff dieses Abschnittes - Novum Organum - in philologisch durchaus anfechtbarer Manier im Kontext der Kantischen Vernunftkritik erklären, nicht aber historisch 'exakt' im Kontext der Philosophie von Francis Bacon, nach dessen Hauptwerk er geprägt ist (vgl. F. Bacon 1981). - Die FortUne des Begriffs »organon« in der Geschichte der abendländischen Philosophie ist exemplarisch fttr die Linearität und seit ihrem Beginn immer wieder von der Prämisse des 'Fortschritts' geprägte Entwicklung des 'Logozentrismus': »Organon« gilt von der Antike bis zum Mittelalter als die Bezeichnung für eine Art propädeutischer Gmnddisziplin der Philosophie. F. Bacon nimmt im 17. Jahrhundert hierauf Bezug und verfaßt den Novum Organum. Im 19. Jahrhundert schließlich schreibt W. Whewell sein Novum Organum renovalum (Belege s. Ritter/Gründer Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Artikel »Organon« und »Organonmodell«).
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Die Präsentation einer Namensliste von Apotheken als »instancia de realidad« (R 218) sowie die von Oliveira und Talita gemeinsam durchgeführten »juegos en el cementerio« (R 278ff.) - dem Friedhof des spanischen Akademie-Wörterbuchs - sind Beispiele solcher - freilich mit satirischer Intention inszenierter - Sprach-Spiele. Der trotz allem auf Originalität erpichte Schriftsteller, der eine jungfräuliche Botschaft mittels ge- bzw. ver-brauchter Wortkörper zu übermitteln versucht, konzipiert sein Werk - einer Formulierung Oliveiras zufolge - »como un burdel de vírgenes si la cosa fuera posible« (R 485). Die Sprache mithin als Kupplerin - das ist das schärfste Verdikt, das in Rayuela über sie gesprochen wird, ein Verdikt, das zugleich jedoch auch jene Kultur trifft, die sich selbst wie keine zweite als die Kultur des Logos verstanden hat: »La moral de occidente se les aparecía a esa hora como una proxeneta, insinuándoles una a una todas las ilusiones de treinta siglos inevitablemente heredados, asimilados y masticados.« (R 604; vgl. 150; 485) Nicht nur die sogenannte Außenwelt - 'Kultur' als der Ort sozialen und kommunikativen Handelns - ist indessen sprachlich konstituiert, sondern - a fortiori - die Welt des Subjekts. Auch dieses findet sich niemals als reines, absolutes, »transzendentales« Ich, sondern - in Analogie zu Kants »empirischem Ich« (Kant, B 139f.) - als »Erscheinung«, unterworfen den allgemeinen Bedingungen empirischer Erkenntnis, bedroht durch die potentiell falsche Optik der »idola fori64, las palabras que falsean las intuiciones, las petrificaciones simplificantes [...]« (R 339). Die zentrale Erfahrung der Suche Oliveiras - die Unmöglichkeit einer eindeutigen Fixierung des Ziels wie auch des Weges der Suche - erhält hier eine Erklärung: Das sich in der scheinbar totalen Einsamkeit mit sich selbst auf das Objekt seiner Suche besinnende Subjekt findet sich immer schon vor-bestimmt durch das Präjudiz einer unbewußt wirkenden Sprachstruktur: »Podía ocurrir que la traición se consumara en una perfecta soledad, sin testigos ni cómplices: mano a mano, creyéndose más allá de los compromisos personales y los dramas de los sentidos, más allá de la tortura ética de saberse ligado a una raza o por lo menos a un pueblo y una lengua. En la más completa libertad aparente, sin tener que rendir cuentas a nadie, abandonar la partida, salir de la encrucijada y meterse por cualquiera de los caminos de la circunstancia, proclamándolo el necesario o el único. La Maga era uno de esos caminos, la literatura era otro (quemar inmediatamente el cuaderno aunque Gekrepten se retorciera las ma64
Der Begriff stammt von F. Bacon: »Auch aus der geselligen Verbindung der Menschen untereinander entspringen gewisse Vorurteile, welche wir daher Vorurteile der Gesellschaft [idola fori] nennen. Das Bindungsglied zwischen den Menschen ist die Sprache; allein die Worte werden der Fassungskraft des gemeinen Haufens gemäß gewählt, und so wird der Verstand durch unpassende Wortbezeichnungen vielfach irre geführt. Die Definitionen und Erklärungen derselben, welche sich die Gelehrten manchmal vorbehalten, machen keineswegs dieses Uebel gut. Die Worte thun dem Verstände wahrhaft Gewalt an, werfen Alles durcheinander und fuhren zu vielen leeren Streitigkeiten und Einbildungen.« (Bacon 1981: 33 = 1,43)
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nos), la fiaca era otro, y la meditación al soberano cuete era otro.« (R 339f.) Oliveiras ebenso abstrakte wie paradoxe Lösung des Dilemmas der Suche - »Caminar con un propósito que ya no fuera el camino mismo« (R 340) - liest sich insofern wie eine Replik auf Morellis Grundsatz, demzufolge »no se puede denunciar nada si se lo hace dentro del sistema al que pertenece lo denunciado« (R 509). Beiden - Oliveira sowohl wie Morelli - stellt sich deshalb das gleiche Problem: »Nos hace falta un Novum Organum de verdad, hay que abrir de par en par las ventanas y tirar todo a la calle, pero sobre todo hay que tirar también la ventana, y nosotros con ella. Es la muerte, o salir volando.« (R 616) Der utopischen Suche Oliveiras nach einem »paraíso perdido« (R 485) entspricht insofern in Morellis Theorie das Projekt eines Schreibens, »para recobrar un derecho perdido, el uso original de la palabra« (R 540). 2.2.1.2. Der Autor: Subjekt im Prozeß Auch die über ihre eigentliche Funktion belehrte Literatur ist über das grundlegende Sprach-Dilemma keineswegs erhaben. 65 Als sprachkonstituierte Praxis bleibt sie vielmehr gebunden ans Medium, gegen das sie sich wendet. Literarische Produktion ist die Aufhebung des Dilemmas nur in Form seiner Re-produktion auf der Ebene des Textes: »repulsa de la literatura« (R 452); »guerra al lenguaje emputecido« (R 504); aber doch immer nur »repulsa parcial puesto que se apoya en la palabra« (R 452). Die Einsicht in den Realitats-verfälschenden Charakter der Sprache entbindet Literatur jedoch keineswegs von der ihr wesenseigenen trans-linguistischen Funktion. Deshalb sind die Surrealisten zu kritisieren, »[que] se colgaron de las palabras en vez de despegarse brutalmente de ellas, como quisiera hacer Morelli desde la palabra misma« (R 503). Die surrealistische »liberación verbal« (R 502), die sich selbst als extremste Form von Sprachkritik versteht, läuft paradoxerweise Gefahr, die Sprache abermals zu verabsolutieren, da sie der Gefahr keine Rechnung trägt, »que la creación de todo un lenguaje, aunque termine traicionando su sentido, muestra irrefutablemente la estructura humana, sea la de un chino o la de un piel roja« (R 503). Der »Verrat« der Sprache hat mithin noch eine zweite, von den Surrealisten unterschlagene - nämlich positive - Bedeutung: Verfälschend-verdeckende Maske von Realität, ist sie gleichzeitig dennoch -semiotisch gesprochen - ein unumstößliches Indiz dessen, was sie verdeckt: »Lenguaje quiere decir residencia en una realidad, vivencia en una realidad.« (Ebd.) Dies ist vorauszuschicken, um Morellis Theorie der literarischen Kommunikation 65
Der Gedanke - als Folge der Kantischen Vemunftkritik -, daß es an der »Kunst« sei, »das einzige wahre ewige Organum« zu sein, stammt bereits von W.J. Schilling (Beleg, s. Historisches Wörterbuch, Art. »Organon«, S. 1367).
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nicht im vorhinein bereits als im Widerspruch stehend zur Kritik des Kommunikationsmodells, das sich wie ein roter Faden durch alle Ebenen des Textes hindurchzieht, mißzuverstehen. In der Tat unterscheidet sich Morellis Theorie von jenem Modell in folgenden Punkten: Literarische Kommunikation ist keine Anwendung eines außerhalb des lebendigen Prozesses der Kommunikation gegebenen 'Modells' auf eine 'an sich', d.h. unabhängig vom Prozeß existierende Realität. Die das Modell konstituierenden Elemente - »Botschaft«, Autor und Leser - sind vielmehr Funktionen eines Prozesses, zu dessen Kennzeichnung Morelli-Cortázar - mitunter freilich die mißverständliche Sprache der Informationstheorie verwenden, eben jener Theorie, gegen die sich die Überlegungen Morellis doch andererseits entschieden absetzen: »Tomar de la literatura eso que es puente vivo de hombre a hombre, y que el tratado o el ensayo sólo permite entre especialistas.« (R 453) Der folgende Satz indessen ist weniger mißverständlich: »Una narrativa que no sea pretexto para la trasmisión de un 'mensaje' (no hay mensaje, hay mensajeros y eso es el mesaje, así como el amor es el que ama); una narrativa que actúe como coagulante de vivencias, como catalizadora de nociones confusas y mal entendidas, y que incida en primer término en el que la escribe [...].« (Ebd.) Literatur dient der Übertragung von Botschaften in genau der gleichen Weise wie die zwischen Traveler und Oliveira konstruierte prekäre Bretterbrücke (vgl. 2.1.2.3.1.): Nicht die Brücke ist Vorwand - 'Medium' - für den Transport des MateNägel-Pakets, sondern umgekehrt ist dieses nur der Vorwand - ein Anlaß, dessen Bedeutungslosigkeit am Ende des Manövers ironisch anerkannt wird - für die Konstruktion nicht nur der Brücke selbst, sondern eines Prozesses, in dessen Verlauf sich der 'Sender' - Talita - in der Tat als die eigentliche Botschaft konstituiert. Schreiben ist deshalb der Vorgang einer »extraña autocreación del autor por su obra« (ebd.). Vom Standpunkt der literarischen Informationstheorie aus gesehen, deren Prämissen zufolge Schreiben als ein Sich-Verständigen über eine als für-sich-seiend betrachtete Realität erscheint - ein Standpunkt, den Morelli global seinem eigenen Friihwerk unterstellt66 -, mag diese Konzeption als eine Art von Realitätsverlust erscheinen: »Por momentos Morelli optaba por una conclusión amargamente simple: no tenía ya nada que decir, los reflejos condicionados de la profesión confundían necesidad con rutina, caso típico de los escritores después de los cincuenta años y los grandes premios.« (R 502) 66
»En algún otro pasaje Morelli decía haber releído con nostalgia y hasta con asombro textos suyos de aflos atrás. ¿Cómo habían podido brotar esas invenciones, ese desdoblamiento maravilloso pero tan cómodo y tan simplificante de un narrador y su narración? En aquel tiempo había sido como si lo que escribía estuviese ya tendido delante de ¿1, escribir era pasar una Lettera 22 sobre palabras invisibles pero presentes, como el diamante por el surco del disco.« (R 501) Vgl. auch La casilla de los Morelli, S. 114.
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Ein Ausweg aus der entmutigenden Erfahrung einer NICHTS-sagenden Einschreibung des Autors in den Text ist indessen indiziert durch das gleichzeitige, auf dem Höhepunkt der Enttäuschung sich einstellende Gefühl Morellis, »que jamás había estado tan deseoso, tan urgido de escribir« (ebd.). Die Realisierung dieses Weges ist die Praktizierung einer neuen Schreibweise, deren Titel im Widerspruch zu stehen scheint zu allem bisher Gesagten: Bei der Korrektur seiner Texte stellt Morelli fest, daß er ein Stilideal zu verwirklichen bestrebt ist, welches den Text in ein »mero vehículo de información« (R 538) verwandelt. Der Kontext indessen hilft auch hier, das Mißverständnis zu beseitigen: »mero vehículo de información« wäre ein Text in der Tat, sofern er sich darauf beschränkte, »coagulante de vivencias« (R 453) zu sein, ein Text mithin, der im Verzicht auf »Rhetorik« und »Stil« (R 538) »la sumersión (sc. des Autors!) en la existencia« (/? 453) protokollierte: »El 'estilo' de antes era un espejo para lectores-alondra; se miraban, se solazaban, se reconocían, como ese público que espera, reconoce y goza las réplicas de los personajes de un Salacrou o un Anouilh.« (R 539) Die vordergründige Polemik gegen Rhetorik und Stil, mit welcher Morelli lediglich einen periodisch in der Geschichte der Literatur auftauchenden Topos aufzugreifen scheint 67 , zielt indessen auf mehr: Der auf seine reine Informationsfunktion beschränkte, von allem rhetorischen Beiwerk befreite Text wäre der aus dem konstituierenden Gefüge der Intertextualität gelöste, den zu einer Entschlüsselung erforderlichen Code auto-generierende »Ideolekt«. 68 Morellis Suche nach dem verlorenen »uso original de la palabra« (vgl. R 540) scheint insofern auf die problematische Formel eines »degré zéro de l'écriture« 69 abzuzielen. Nichts wäre jedoch verfehlter, als der literarischen Theorie Morellis eine Art von unterschwelligem Monologismus zu unterstellen. Sehen wir deshalb zu, welche Funktion Morelli dem dritten Element literarischer Kommunikation - dem Leser - zuweist. 2.2.13. Der Leser: »figura« und
»lector-cómplice«
Der Leser, sagt Morelli, »[es] el verdadero y único personaje que me interesa« (R 497). 70 Im Unterschied zu herkömmlichen Leser-Theorien ist diejenige Morellis jedoch keine 'Rezeptions'-, sondern eine Produktionstheorie. Morelli geht über alle jene
67
Vgl. Lotmaii 1972: 143ff.
68
Vgl. Eco 1972: 151.
69
Vgl. Barthes 1953.
70
»[...] el verdadero y único personaje que me interesa«; F.R. Fries Ubersetzt: »[...) die einzige und wahre Person, die ...« und verspielt damit die schöne Doppeldeutigkeit des spanischen Originals: »personaje« (nicht »persona«) ist die Theaterfigur, der (fiktionale!) Protagonist 'erfundener' Werke der Kunst: natürlich auch jede anderweitig in der Realität (!) »bedeutsame Person« (vgl. die Redewendung: »¡es un personaje!«), im Sinne also von »Persönlichkeit«. Beides ist in Cortizars Text gemeint: der Leser als (erster) Protagonist des Romans, ein Protagonist jedoch ebenso wirklich (»verdadero«!) wie jedwede »Person im öffentlichen Leben«!
227
- hermeneutisch (vgl. Gadamer 1965: 250ff.) oder kommunikativ argumentierenden 71 - Theorien, die dem Leser neben seiner dominanten Funktion als Rezipient eine mehr oder weniger bedeutende Rolle bei der (Re-) Konstruktion der Botschaft zuweisen, weit hinaus. Wenn es stimmt, daß der schöpferische Akt auf Seiten des Autors nicht die Konstitution einer »Botschaft« betrifft, sondern auf die Produktion des Subjekts des Autors selbst bezogen ist, so heißt die These von der Simultanität von Autor und Leser eben dies: auch der Leser konstituiert sich als Subjekt erst im Prozeß der Rezeption: »Situación del lector (...) hacer del lector un cómplice, un camarada de camino. Simultaneizarlo (!), puesto que la lectura abolirá el tiempo del lector y lo trasladará al del autor. Así el lector podría llegar a ser copartícipe y copadeciente de la experiencia por la que pasa el novelista, en el mismo momento y en la misma forma.« (R 453 - Hervorh. im Original) Morellis Theorie des »lector cómplice« 72 findet in Benvenistes Theorie der »énonciation« eine Stütze: Benveniste zufolge ist die dialogische Struktur der Sprache nicht in einer anthropologischen, die Sprach-»Verwendung« bedingenden Disposition des Menschen begründet, sondern integrierendes Element der Sprache selbst als »énonciation«. 73 Die Theorie des »lector-cómplice« weist in die gleiche Richtung: Der zu lesende Text ist nicht der »Text des Autors« (= genitivus objectivus), sondern der »Autor als Text« (= genitivus subjectivus). An diesem ursprünglichen Produktionsprozeß des Autors als »sujet de l'énonciation« 74 ist der Leser gleichursprünglich beteiligt. Morellis Theorie geht über diejenige Benvenistes jedoch insofern hinaus, als er die - Benveniste zufolge - notwendige Fundierung der »énonciation« im Code der Sprache entschieden zurückweist: Der »Autor als Text« präsentiert sich als Ideolekt - als Text zwar, »trasmitida por la palabra, es cierto, pero una palabra lo menos estética posible« (R 454) -, als Text mithin, der tendenziell auf die Autor und Leser verbindende Brücke des Codes verzichtet 75 : »Negarse a hacer psicologías y osar al mismo tiempo poner a un lector - a un 71
Vgl. Weinrich 1967.
72
Auch die Leser-Theorie Cortázars - wie diejenige des Humors (vgl. Anm. 31!) - hat bei Macedonio Fernández bereits ihr Vorbild: »La Novela usa de los Personajes operados o funcionados, no para hacer creer en ellos - realismo pueril - sino para hacer personaje' al Lector; atentando incesamente a su certeza de existencia, por procedimientos que tratan de hacer desempeñarse como personajes' a los Personajes para, por contragolpe, hacer personaje al Lector. Es lo único artístico obtenible con la palabra de la Prosa a Personajes, único fin que no puede lograrse con otra beiarte.« (M. Fernández: Teorías. Corregidor, Buenos Aires 1974: 248)
73
Vgl. 11,1., Anmerkung 34.
74
F. Jacques' Versuch einer transzendentallogischen Begründung des dialogischen Prinzips der Sprache stützt sich maßgeblich auf Benvenistes »énonciation«-Artikel; vgl. unsere Rezension der Arbeit (Jacques 1979 und Berg 1980).
75
Der Begriff des »Ästhetischen« meint hier offensichtlich die Tradition der bürgerlich-ästhetischen Scheinwelt des kodifizierten Kultur- und Liieraturbetricbs. Er ist denkbar weit entfernt vom Begriffsverständnis einer originär »ästhetischen Erfahrung«, die an allen Stellen gemeint ist, wenn in dieser Arbeit vom Begriff des Ästhetischen ansonsten die Rede ist.
228
cierto lector, es verdad - en contacto con un mundo personal, con una vivencia y una meditación personales ... Ese lector carecerá de todo puente, de toda ligazón intermedia, de toda articulación causal. Las cosas en bruto: conductas, resultantes, rupturas, catástrofes, irrisiones.« (R 497) Erst die systematische Zerstörung etablierter, Rezeption und Produktion vorgängig leitender Codes - das »des-escribir« 76 des »roman comique« (R 452) - läßt den Leser zum Produzenten werden, zum Komplizen einer zwar fremden, durch die Zerstörung vermittelnder Brücken zugleich jedoch eigenen Erfahrung. 77 Cortázar stellt den schöpferisch-produktiven, Sinn- und damit Code-stiftenden Aspekt der Rezeption schon in den ersten Kapiteln - liest man den Roman in der Ordnung des »libro segundo« - in den Vordergrund: Kapitel 73 behandelt ihn unter dem Stichwort der »invención« (R 439) 78 , Kapitel 116 unter dem der »figura«: »Acostumbrarse a emplear la expresión figura en vez de imagen, para evitar confusiones. Sí, todo coincide. Pero no se trata de una vuelta a la Edad Media ni cosa parecida. Error de postular un tiempo histórico absoluto: Hay tiempos diferentes aunque paralelos. En ese sentido, uno de los tiempos de la llamada Edad Media puede coincidir con uno de los tiempos de la llamada Edad Moderna. Y ese tiempo es el percibido y habitado por los pintores y escritores que rehusan apoyarse en la circunstancia, ser 'modernos' en el sentido en que lo entienden los contemporáneos, lo que no significa que opten por ser anacrónicos; sencillamente están al margen del tiempo donde todo accede a la condición de figura, donde todo vale como signo y no como tema de descripción, intentan una obra que puede parecer ajena o antagónica a su tiempo y a su historia circundantes, y que sin embargo los incluye, los explica, y en último término los orienta hacia una trascendencia en cuyo término está esperando el hombre.« (R 545) Die zentrale Funktion des Figura-Begriffs 79 für die Literaturtheorie Morellis läßt sich in folgenden drei Punkten zusammenfassen: a) »Figura« und allgemeine Semiotik: Die mittelalterliche Hermeneutik benutzt den Begriff der Figur als zentrales Instrument einer semiotischen Deutung der Weltgeschichte als Geschichte des Heils. 80 Seiner allgemeinsten Verwendung nach besagt der Begriff die Inbeziehungsetzung 76
Zum Begriff des »des-escribir« vgl. Patemain 1980.
77
Nirgends tritt der »Grenz-Zeichen«-Charakter der Literaturtheorie Cortázars deutlicher zutage als in der literarischen Kommunikations-Theorie Morellis: Die durch den Text geleistete 'Kommunikation' ist gerade keine codebzw. »zeichenvermittelte Bewußtseinsfüllung« im Sinne des »Sympraxis«-Konzepts bei Kloepfer (vgl. 1985: 152). Sie ist vielmehr der - vielleicht ohnmächtige - Versuch, das von R. Barthes denunzierte »faschistische« Wesen der Sprache, die der Sprache innewohnende codebedingte »(Obligation) ä dire« (1978: 14) zu transzendiercn.
78
Vgl. dazu die (R 433f.) humoristisch nacherzählte Anekdote vom Tunnelbau in Dublivna!
79
Vgl. Sicard 1981.
80
Vgl. Auerbach 1967: 55ff.
229
zweier historischer Wirklichkeiten, dergestalt, daß durch diese Beziehung die zweite der beiden Wirklichkeiten als »Erfüllung« der ersten - der »Figur« im eigentlichen Sinne - erscheint. Als Zeichentheorie ist die Figuraldeutung am ehesten der Semiotik der Konnotation 81 vergleichbar: Figur und Erfüllung stehen nicht - wie der Ausdruck »Erfüllung« suggeriert - im Verhältnis von Signifiant und Signifié zueinander. Beide sind vielmehr Bedeutungs-Träger - Signifiants oder 'Zeichen'. Auch als »Figur« und »Erfüllung« bleibt ihr jeweiliges individuelles, historisches Denotat voll erhalten, eine Eigenschaft, die bisweilen - wie Auerbach exemplarisch an den Figuren Dantes gezeigt hat 82 - in Widerspruch tritt zur figuralen Bedeutung im eigentlichen Sinne. Diese ist deshalb auch keineswegs mit quasi-naturhafter Evidenz 'gegeben', sondern bedarf eines eigenen Aktes der Bedeutungs-Stiftung auf der Ebene des »intellectus spiritualis«. 83 Die Rolle des »intellectus spiritualis« gegenüber den Denotaten der historischen Wirklichkeit entspricht insofern derjenigen der kulturellen Codes gegenüber den Objekten der sogenannten 'Natur'. Der figúrale Sinn historischer Wirklichkeit ist ein Sonderfall der sogenannten zweiten semiotischen Ebene (kultureller Konnotation). Er setzt in der Tat eine Auffassung von Wirklichkeit voraus, »donde todo vale como signo y no como tema de descripción« (R 545). Der Figuralbegriff entspricht mithin der allgemeinen semiotischen Prämisse der Morellischen Literaturtheorie. (Siehe oben 2.2.1.1.!) b) »Figura« und der Vorrang des Signifikanten: Die dominante Zeichenfunktion der mittelalterlichen »figura« liegt auf der Ebene der Semantik. Die Figuraldeutung liefert den Schlüssel zum wahren Verständnis der Geschichte des Heils, verbürgt - in letzter Instanz - durch die Wahrheit des Fleisch gewordenen Wortes Gottes. In dem Augenblick, in dem das die Semantik der (Heils-) Figuren verbürgende Lehrgebäude seine Legitimation verliert, tritt die syntaktische Gliederung der Figuren in den Vordergrund, zeigt sich der mittelalterliche Figuralismus im Lichte einer überraschenden Modernität. Unbeeinflußt vom seit der Renaissance zur Geltung gelangten (natur-)wissenschaftlichen Objektivitätsideal, jedoch in Analogie zur Ästhetik des Impressionismus, konzipiert das Mittelalter Kunst als »serie de imágenes« (R 544): »Lionello Venturi, hablando de Manet y su Olympia, señala que Manet prescinde de la naturaleza, la belleza, la acción y las intenciones morales, para concentrarse en la imagen plástica. Así, sin que él lo sepa, está operando como un retorno del arte moderno a la Edad Media. Ésta había entendido el arte como una serie de imágenes, sustituidas durante el Renacimiento y la época moderna por la representación de la realidad.« (Ebd.) 81
Vgl. Kloepfcr 1975: 88ff.; Stierle 1975: 131 ff.
82
Vgl. Auerbach 1964: 167ff.
83
Auerbach 1967: 66.
230
Die moderne Wissenschaft vertritt hinsichtlich der Zeichen dieselbe Funktion wie die mittelalterliche Dogmatik hinsichtlich der Figuren. Sie versichert jene ihrer 'Wahrheit' - einer Wahrheit, die der Welt der Zeichen selbst transzendent bleibt und im Logos einer selbstgewissen, im Medium klarer und deutlicher Vorstellungen operierenden (mathematischen) Vernunft ihr »fundamentum inconcussum« 84 findet. Dem Objektivitätsideal der Wissenschaft entspricht in der Geschichte der Literatur der Standpunkt des literarischen Realismus in all seinen Spielarten. Insofern der Realismus außerliterarische Wirklichkeit dem Maßstab 'wissenschaftlicher' Wahrscheinlichkeit folgend im literarischen Text zur Darstellung bringt, erfüllt er - J. Kristeva zufolge - die Funktion einer »tentative de récupération d'une pratique translinguistique par la raison logocentrique« 85 . Der - gleichsam mit den entzauberten Augen der Moderne gesehene - Figuralismus des Mittelalters, der Impressionismus Manets sowie der »roman comique« (/? 452) Morellis restituieren demgegenüber den Primat einer Wirklichkeit als »chaîne signifiante«. Die Wahrheit des Textes im Sinne von figura ist nicht mehr durch eine texttranszendente, außerhalb des Systems der Zeichen gelegene Instanz - »le Verbe«, Wort Gottes, »intellectus spiritualis« oder wissenschaftliche Vernunft - verbürgt, sondern selbst in eine Funktion des Systems verwandelt: Bedeutung hat die Figur nur in Bezug auf den Code einer bestimmten Kultur. Dieser jedoch ist Produkt der Syntax der Zeichen. 86 c) »Figura« und die Funktion des Lesers: Figura ist für Morelli indes kein Synonym für »Signifiant«. Den Text als »figura« lesen, bedeutet vielmehr - wie oben angedeutet -, zwei (oder mehrere) Signifikanten miteinander in Beziehung setzen. Die Beziehung zweier Signifikaten zueinander indessen stiftet (neue) Bedeutung. Eben hierin liegt die produktive Leistung des Lesers. Morelli bezeichnet sie als »cristalización« (R 533). Der Begriff der »cristalización« 87 entspricht dem der »Erfüllung« im traditionellen Figuralismus: Der Text präsentiert sich seitens des Autors als inkohärente Kette von Bedeutungsträgern, als sprachliche Momentaufnahme »eleatisch zerschnittener Fragmente« (R 532). Als solcher - als Sprache nämlich - indiziert er zwar humane 84
Vgl. R. Descartes: Medilaliones de prima phiiosophia, 3. Meditation, Nr. 4.
85
Kristeva 1969: 210.
86
Anzuschließen ist dieser ent-theologisierte Figura-Begriff Cortázars an W. Benjamins berühmte Revalorisiemng der Allegorie in Ursprung des deutschen Trauerspiels. Cortázais Begriff der »figura« entspricht der von Benjamin gegen den »erschlichene(n) Gebrauch [... der] Rede vom Symbolischen« (Benjamin 1982: 138) geltend gemachte Rückführung der Allegorie auf die kontingentcn Ausdrucksformen historischer Epochen: »Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt: bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls. Soviel Bedeutung, soviel Todesverfallenheit, weil am tiefsten der Tod die zackige Demarkationslinie zwischen Physis und Bedeutung eingräbt« (Ebd.: 145)
87
Die Übernahme (?) dieses Zentralbegriffs aus Stendhals De l'amour weist auf den trans-rationalen, »erotischen« Charakter der Leistung des Lesers hin, eine Eigenschaft, durch welche diese emeut mit einem kreativen Akt seitens des Autors homologisiert wird.
231
Erlebniswirklichkeit (»vivencia«), ohne deshalb jedoch zu kohärenter Bedeutung zu gerinnen: »Morelli pensaba que la vivencia de esas fotos, que procuraba presentar con toda la acuidad posible, debía poner al lector en condiciones de aventurarse, de participar casi en el destino de sus personajes.« (Ebd.) Auch der traditionelle Text bleibt im Hinblick auf die 'Totalität' einer darzustellenden Wirklichkeit notwendigerweise fragmentarisch, repräsentiert Wirklichkeit lediglich auf der Ebene von 'Indizien'. Zugleich jedoch produziert er - zumindest in gewissen Grenzen - auch den zur Entschlüsselung seitens des Lesers erforderlichen Code, eine Eigenschaft literarischer Texte, auf die Lotman vom Standpunkt der Kommunikations-Semiotik immer wieder aufmerksam gemacht hat.88 Allein - solche Texte sind Morelli zufolge Literatur für den lediglich passiv-rezipierenden (bzw. re-produzierend) tätigen »lector-hembra«89: »[...] dar coherencia a la serie de fotos para que pasaran a ser cine (como le hubiera gustado tan enormemente al lector que él llamaba el lector-hembra) significaba rellenar con literatura, presunciones, hipótesis e invenciones los hiatos entre una y otra foto.« (Ebd.) Die Anti-Literatur des »roman comique« dagegen überläßt die Produktion des »Films«, der kohärenten Bedeutung - mithin des Codes - dem Leser: »Los puentes entre una y otra instancia de esas vidas tan vagas y poco caracterizadas, debería presumirlos o inventarlos el lector, desde la manera de peinarse, si Morelli no la mencionaba, hasta las razones de una conducta o una inconducta, si parecía insólita o excéntrica. El libro debía ser como esos dibujos que proponen los psicólogos de la Gestalt, y así ciertas líneas inducirían al observador a trazar imaginativamente las que cerraban la figura.« (R 532f.)90 Die Produktion der Bedeutung als Kristallisation steht zu dem im vorhergehenden Abschnitt erörterten Prinzip des Vorrangs des Signifikanten nicht im Widerspruch. Schon im mittelalterlichen Figuralismus wird - wie wir sahen - die historische Individualität der Figur (als Signifiantl) durch die allegorische, symbolische und spirituelle Bedeutung der Figur keineswegs zum Verschwinden gebracht. Die Bedeutungsproduktion des Morelli-Lesers dagegen ist ganz und gar an den Signifiant des Textes gebunden. Sie ist keiner außertextuellen Instanz unterworfen (»subsumiert«):
88
Vgl. Lotman 1972: 3 lOf.
89
Zur Polemik um den Begriff vgl. E. Picon Garfields Gespräche mit Cortázar (M 2:117f.); vgl. auch das engagierte Pamphlet von M. Paley Francescato: »The New Man (But Not the New Woman)« (1978).
90
Eine weiterführende Analyse der Rezeptionstheorie Cortäzars hätte hier den Begriff der »Leerstelle« zu diskutieren. - Vgl. Iscr 1974 und 1976; in kritischer Ergänzung zu Iser aus dem Blickwinkel der Literatursemiotik vgl. Klocpfer 1979, Bd. 1: 643ff.
232
»Una cristalización en la que nada quedara subsumido 91 , pero donde un ojo lúcido pudiese asomarse al calidoscopio y entender la gran rosa policroma, entenderla como una figura, imago mundis que por fuera del calidoscopio se resolvía en living room de estilo provenzal, o concierto de tías tomando té con galletitas Bagley.« (R 533) Der provenzalische »living« oder das Kaffeekränzchen der Tee-Tanten ist das aufgelöste Rätsel der Welt, nämlich als »arcilla significativa«, d.i. als Signifiant. Seine mysteriöse Verwandlung zur imago mundi - zu einer schließlich und endlich sich als »kohärent darstellenden Welt« (ebd.) - verdankt er keiner logozentrischen, der »chaîne signifiante« transzendenten Instanz, sondern dem »luziden Auge« des Lesers, d.h. jener Struktur der Aussage (»énonciation«), als die sich der Leser als das dem Autor simultane »sujet de l'énonciation« im Prozeß der »écriture-lecture«92 konstituiert. 2.2.2. Logozentrismus versus »escritura« Wir haben die Erörterung der Frage nach dem Verhältnis der (Theorie der) »Morelliana« zur Schreib-Praxis des Gesamttextes bisher aus unseren Überlegungen ausgespart. (Vgl. oben Seite 221) Daß dieses Verhältnis nicht als instrumentalistisches Theorie-Praxis-Modell bestimmbar ist, gehört zu den Ergebnissen unserer bisherigen Analyse - wenn es stimmt, daß Morellis Theorie des literarischen Textes sich darstellt als Theorie der Praxis der »écriture«.93 Zu fragen bleibt jedoch, ob die These von einer nahtlosen Übereinstimmung der Morelliana mit der Theorie der »écriture« nicht ebenfalls in der Gefahr der Vereinseitigung steht. Negiert sie nicht jene zentrale Erfahrung der Leser Morellis, die die Mitglieder des Schlangenclubs als die einer unerträglichen Zweideutigkeit bezeichnen? »Las alusiones de Morelli a la inversion de los signos, a un mundo visto con otras y desde otras dimensiones, como preparación inevitable a una visión más pura (y todo esto en un pasaje resplandecientemente escrito, y a la vez sospechoso de burla, de helada ironía frente al espejo) los exasperaba al tenderles la percha de una casi esperanza, de una justificación, pero negándoles a la vez la seguridad total, manteniéndolos en una ambigüedad insoportable.« (R 604) Eben dies, die ausgehaltene Zweideutigkeit zwischen Logozentrismus und »escritura«, gilt es jetzt zu betrachten. Sie schlägt - wie wir sehen werden - die Brücke zum Gesamttext des Romans.
91
Der gewissermaBen 'absolute' Empirismus, den die Literaturtheorie Morellis - in Analogie zur écriture-Erfahrung bei Derrida (vgl. 1967a: 89!) - für sich in Anspruch nimmt, verbietet es, die produktive Ausfüllung der »Leerstellen« seitens des Lesers nach dem Modell des begrifflich und hypothetisch' schließenden Subsumptionsverfahrens der Philosophie und Wissenschaft zu denken.
92
Kristeva 1969: 181 ff.
93
Vgl. Theile 1974.
233
2.2.2.1. Morelli und das abendländische
Denken
Morellis Kampf gegen die »Gran-Infatuacion-Idealista-Realista-Espiritualista-Materialista del Occidente, S.R.L.« (/f 510) ist die eine Seite der Morelliana. Es ist die Decouvrierung der »seudo realizaciones« (R 560) überkommener Denk- und Sprachmodelle, der Versuch, »la gran máscara podrida del Occidente« (ebd.) abzuschütteln, die Emanzipation von der Hörigkeit gegenüber einer dreitausendjährigen okzidentalen »Moral« (R 604) - mit einem Wort die Überwindung der falschesten aller Freiheiten, »la dialéctica judeocristiana« (R 616). Andererseits ist die Morelliana durchzogen von der »convicción cristiana de que no hay salvación individual posible, y que las faltas del uno manchan a todos y viceversa« (R 491). 9 4 Die Idee eines »Novum Organum de verdad« (R 616) ist ebenso 'abendländisch' wie die Suche nach einem Mutterreich (»me acerco a las Madres« [R 458], 9 5 »retomo al gran útero« [/? 432]), dem Zentrum des Mandala (R 458), 9 6 einem »uso original de la palabra« (R 540) oder schließlich die Sehnsucht nach »conciliación« - »sin la cual la vida no pasa de una oscura tomada de pelo« (R 561). In dieser Hinsicht ist Morellis Suche nichts weniger als Exponent - statt Kritik oder Überwindung - der Schlüsselidee abendländischen Denkens, dem (von Morelli so genannten) 94
Vgl. zu diesem Zusammenhang die erstaunliche Äußerung Cortázars in einem Brief an A.M. Barreneehea; Thema ist Banenecheas Rezension von Rayuelo in der Zeitschrift Sur: »[...] y cómo me gusta que hayas citado la frase de la p. 507 sobre el rechazo de toda salvación 'individual'. Aquí en París vivo rodeado de gente muchas veces extraordinaria, pero para la que su 'cielito personal' basta y sobra. A mí también me bastó durante muchos aflos, y quizá fue bueno, porque hay que ser muy duro a veces para cumplirse. (Esta actitud casi insoportable de Cristo con su madre ...) Pero llega el momento en que se descubre una verdad tan sencilla como maravillosa: la de que salvarse solo no es salvarse, o en todo caso no nos justifica como hombres. El Oriente encontró la fórmula opuesta; pero nosotros 'esclaves de notre baptime', no podemos refugiarnos cómodamente en el gran escape de la liberación individual.« (zit. bei Banenechea 1983: 130f.)
95
Eine Anspielung offenbar auf Goethe, Faust, 2. Teil, 1. Akt, »Finstere Galerie« (Werke, 3. Bd., Frankfurt 1965, 178ff.): »Mephistopheles: Ungem entdeck ich höheres Geheimnis, Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit. Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; Von ihnen sprechen ist Vergangenheit. Die Mütter sind es! Faust: (aufgeschreckt) Mütter! Mephistopheles: Schaudert's dich? Faust: Die Mutter! Mutter! - 's klingt so wunderlich. Mephistopheles: Ist es auch. Göttinnen, ungekannL Euch Sterblichen, von uns nicht mehr genannt. Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefe schürfen; Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen. Faust: Wohin der Weg? Mephistopheles: Kein Weg! Ins Unbetretene, Nicht zu Betretende! Ein Weg ans Unerbetene, Nicht zu Erbittende! Bist du bereit? Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben, Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.« Goethe orientiert sich offenbar an der schon in der Antike bekannten Vorstellung einer »mater annonim«, die im »antnim aeternitatis« Wohnung hat (vgl. Plutarch: Parallelbiographien, Marcellus, Kapitel 20; zur Deutung vgl. Gespräche mit Eckermann (Goethe: Sämtliche Werke, Münchener Ausgabe 1986, Bd. 19, 348f.)
96
Näheres zum Mandala-Symbol s. Jacobi 1978: 135ff.; zum Thema Buddhismus vgl. Csep 1980 und Sarduy 1967.
234
»Complejo de la Arcadia« (R 432): »La tacita de café es blanca, el buen salvaje es marrón, Planck era un alemán formidable. Detrás de todo eso (siempre es detrás, hay que convencerse de que es la idea clave del pensamiento moderno) el Paraíso, el otro mundo, la inocencia hollada que oscuramente se busca llorando, la tierra de Hurqalya.« (Ebd.) 97 Was von den Prämissen Morellis auf allgemeiner philosophischer Ebene gilt, wiederholt sich auf der literarischen Ebene im engeren Sinne: Als Arbeit am Signifiant abendländischer Sprach-, Denk- und Lebensformen akzeptiert die Morelliana zumindest eine der Prämissen dieser Kultur - die entmythisierende, Bedeutung und Bedeutungsträger distanzierende, jene beständig in diese transformierende Konzeption von Sprache und (Kultur) als offenes System von Zeichen: »Etienne veía en Morelli al perfecto occidental, al colonizador. Cumplida su modesta cosecha de amapolas búdicas, se volvía con las semillas al Quartier Latin. Si la revelación última era lo que quizá lo esperanzaba más, había que reconocer que su libro constituía ante todo una empresa literaria, precisamente porque se proponía como una destrucción de formas (de fórmulas) literarias.« (R 491) 2.2.2.2. »Auf den Hund gekommen ...« (Kapitel 125) Der vorliegende Abschnitt enthält eine Implikation, die es nun zu erörtern gilt. Es handelt sich um die Identifikation von 'okzidentalem' Denken und 'Logozentrismus'. Gilt diese Identifikation - so ist nun zu fragen -, so sehr sie sich als Resultat der Schriften von J. Derrida auch ergibt, ebenso für die Morelliana? Ist - vorausgesetzt, die Frage ist affirmativ zu beantworten - auch die Position Morellis zum Prinzip der 'écriture' diejenige der 'Ambiguität'? Wir gehen der Frage nach mit Hilfe einer Analyse von Kapitel 125. Im Zentrum des Textes steht abermals das Motiv der Suche, zugespitzt auf das Grundproblem abendländischen Denkens - die Frage nach dem Menschen. Die Reflexionsstruktur des Textes ist dialektisch. Sie bewegt sich zwischen den Polen 'Logozentrismus' und 'escritura'. Sehen wir zu. Der erste Abschnitt (Z. 1-6) formuliert das Problem aus 'logozentrischer' Perspektive: »La noción de ser como un perro 98 entre los hombres: materia de desganada re97
Vgl. Cortázar an anderer Stelle zur Problematik unserer kodiñzieiten Transzendenzvorstellungen: »En esa noción de lo fantástico, de lo imaginativo como una noción de más allá, eso es también un reflejo de nuestras tradiciones porque hay una noción de trascendencia, ya sea metafísica, ya sea religiosa. ¿Por qué más allá ? A veces, lo fantástico está más acá. No más allá. Solamente que la noción de más allá es fácil porque es la primera que nos viene, pero también hay la noción de 'más acá'.« (M 3: 25)
98
Bemerkenswert auch für diese Stelle wieder die - durch den Hund indizierte - »kynische« Inspiration der Passage: »Die Antike verstand als Tcynisch' das Hundeleben der Kyniker außerhalb aller Gesellschaft, ohne aiSox; und Kotvtovia (Der kleine Pauly, Bd. 3, 339)
235
flexión a lo largo de dos cañas y una caminata por los suburbios, sospecha creciente de que sólo el alfa da el omega, de que toda obstinación en una etapa intermedia - épsilon, lambda - equivale a girar con un pie clavado en el suelo. La flecha va de la mano al blanco: no hay mitad de camino, no hay siglo XX entre el X y el XXX. Un hombre debería ser capaz de aislarse de la especie dentro de la especie misma, y optar por el perro o el pez original como punto inicial de la marcha hacia sí mismo.« (R 560) Um sein Wesen zu realisieren - ein 'Wesen', das nicht identisch ist mit den »seudo realizaciones« (ebd.) von dreißig Jahrhunderten" abendländischer Kulturgeschichte -, bedarf der Mensch eines Standpunktes außerhalb der eigenen Gattung. Der Literaturprofessor und der Allergologe, welche - jeder auf seine Weise - ebenfalls vom 'Menschen' handeln, verfehlen dagegen das Wesen: »Eingekapselt in die Gattung« (ebd.), akzeptieren sie das historische Apriori 100 »die große verfaulte Maske« - des Abendlandes (»la gran máscara podrida del Occidente« - ebd.). Hund und Fisch dagegen bezeichnen den Standpunkt der Mzfur-Geschichte - mit J.-L. Houdbine zu sprechen -, den Standpunkt der Materie, »c'est à dire hétérogénéité irréfutable par rapport au sujet-sens« 101 , einen Standpunkt mithin vor der Konstituierung der (kulturellen) Spezies Mensch. Allein - es leuchtet ein, daß auch /Hund/ und /Fisch/ den Stellenwert von Signifiants haben, weist man ihnen nicht - wie Derrida Houdebine gegenüber kritisch zur Geltung bringt - doch wieder die Funktion eines »signifié transcendental« 102 zu. Die Bestimmung eines Standpunktes außerhalb der Gattung führt mithin geradewegs zurück zur Immanenz der Gattung als »chaîne signifiante«. Der zweite Abschnitt (Z. 17-48) reflektiert die Konsequenzen, die die Aufdeckung der dem Projekt einer Überschreitung des Aprioris abendländischer Kultur zugrundeliegenden »illusion transcendentale« 103 für den Begriff der Suche selbst hat: Wenn es unmöglich ist, das Wesen des Menschen im Blick auf ein »concept signifié en luimême« 104 zu bestimmen - heiße dieses »Logos« oder »Materie« -, so findet sich die Suche an sich selbst zurückverwiesen: Element der unendlichen Reihe kultureller Signifikanten, ist der Suchende immer schon gewissermaßen im Besitz dessen, wonach er andererseits sucht: »¿Qué busca? ¿Se busca? No se buscaría si ya no se hubiera encontrado.« (Ebd.) So entzieht der Standpunkt der »écriture« dem logozentrisehen Projekt der Suche den Boden. Das hinter der »gran máscara« abendländischer Kultur verborgen liegende Wesen des Menschen ist nur im Rahmeiv- nicht in der Überschreitung - des 99
Vgl. die kaum weniger apodiktischen Fomiulienjngen Demdas gegenüber J. Kristeva in Positions (1972b: 27ff.).
100 Vgl. Foucault 1966: 13. 101 Derrida 1972b: 82. 102 Ebd.: 88. 103 Ebd.: 45. 104 Ebd.: 30.
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Signifiant eben dieser Kultur zu finden. Enthüllt sich damit jedoch nicht cas Projekt der Suche überhaupt - und damit die Infragestellung des Aprioris abencländischer Kultur - als Illusion? Die Frage verneinen, heißt ein Programm zur Quadratur des Kreises vorlegen, heißt, das im Rahmen des Logozentrismus bestimmte Ziel der Suche (»reconciliación«) mit dem Wesen der als »écriture« bestimmten Suche selbst in Einklang zu bringen: »Bueno, la búsqueda no es. Sutil, eh. No es búsqueda porque ya se ha encontrado. Solamente que el encuentro no cuaja. Hay carne, papas y puerros, pero no hay puchero. O sea que ya no estamos con los demás, que ya hemos dejado de ser un ciudadano (por algo me sacan carpiendo de todas partes, que lo diga Lutecia), pero tampoco hemos sabido salir del perro para llegar a eso que no tiene nombre, digamos a esa conciliación, a esa reconciliación.« (R 561) Der dritte Abschnitt (Z. 49-78) versucht den Widerspruch zu beheben durch eine erneute Reflexion des Ziels der Suche: Wenn das Ziel - das Wieder-zum-VorscheinBringen des durch die abendländische Kultur verdeckten Wesens des Menschen - als »reconciliación« zu bezeichnen ist, so entspräche diese - unter der Bedingung nämlich, daß die logozentrische Prämisse einer Hinter-, Über- oder Gegenwelt nicht gelten soll - einer »santidad no religiosa« (ebd.), »[...] un estado sin diferencia, sin santo (porque el santo es siempre de alguna manera el santo y los que no son santos, y eso escandaliza a un pobre tipo como el que admira la pantorrilla de la muchacha absorta en arreglarse la media torcida), es decir que si hay conciliación tiene que ser otra cosa que un estado de santidad, estado excluyeme desde el vamos. Tiene que ser algo inmanente, sin sacrificio del plomo por el oro, del celofán por el cristal, del menos por el más; al contrario, la insensatez exige que el plomo valga el oro, que el más esté en el menos.« (/? 56 lf.) Der Protagonist dieser Reflexion - so macht der vierte Abschnitt (Z. 79-95) deutlich - löst den Widerspruch im Betrachten einer ihr Strumpfband zupfenden Frau 105 : »La chica ya se acomodó la media, listo. ¿Ves? Formas de la conciliación. II mió supplizio ... A lo mejor todo es tan sencillo, un tironcito a las mallas, un dedito mojado con saliva que pasa sobre la parte corrida. A lo mejor bastaría agarrarse la nariz y ponérsela a la altura de la oreja, desacomodar una nada la circunstancia.« (R 562) Doch auch gerade hier bleiben sie zwei, der die Versöhnung in Gedanken suchende Philosoph und das ins reine, befreiende Tätigsein versunkene Mädchen. Der eine 105 Es handelt sich offenbar um den - Breton-Lesem wohlbekannten - »adorable leurre qu'est, au musée Grévin, cette femme feignant de se dérober dans l'ombre pour attacher sa jarretelle et qui, dans sa pose immuable, est la seule statue que je sache à avoir des yeux: ceux mêmes de la provocation« (A. Breton: Nadja. Folio 73. Paris 1964: 179). Der zitierte Text sowie die Reproduktion der von Breton erwähnten Photographie auf der gegenüberliegenden Buchseite sind bestimmt, wie der Erzähler in einer der Bemerkung angefügten Fußnote verdeutlicht, jenes mit der Person Nadjas verbundene unerklärliche »principe de subversion totale« (ebd.) zu illustrieren.
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denkt, die andere handelt; der Gedanke jedoch meinte die unterschiedslose Einheit beider - »un estado sin diferencia«.. Auch eine »santidad no religiosa« - die epikureische Versöhnung mit dem Diesseits - ist allemal eine Heiligkeit, ist, was sie ist, nur als Differenz, als das Dazwischen einer ihr Ziel beständig transzendierenden (logozentrischen) Suche. So kehrt auch die Überlegung des vagabundierenden Philosophen am Ende desillusioniert zurück zu dem, wovon sie ausging: »Nada más fácil que cargarle la romana a lo de afuera, como si se estuviera seguro de que afuera y adentro son las dos vigas maestras de la casa. Pero es que todo está mal, la historia te lo está diciendo, y el hecho mismo de estarlo pensando en vez de estarlo viviendo te prueba que está mal, que nos hemos metido en una desarmonía total que todos nuestros recursos disfrazan con el edificio social, con la historia, con el estilo jónico, con la alegría del Renacimiento, con la tristeza superficial del romanticismo, y así vamos y que nos echen un galgo.« (R 562) 2.2.23. Morelli und das Prinzip der »écriture« Die »Morelliana« thematisiert das Motiv der Suche mit den Mitteln literarischer Theorie und philosophischer Reflexion. Sie enthält insofern die logozentrische Prämisse eines 'reinen', vom (materiellen) Medium der 'écriture' ablösbaren Gedankens. Kapitel 125 nennt das Ziel der Suche - die Realisierung eines das Geflecht der Signifiants, mithin die Differenzen, transzendierenden Sinnes - »Versöhnung«, »un estado sin diferencia«. Der fundamentale Widerspruch, auf den die Analyse des Kapitels im vorangehenden Abschnitt aufmerksam zu machen versuchte, besteht darin, daß Morelli die Realisierung des Ziels ineins setzt mit dem, was die Suche Morellis mit derjenigen Oliveiras verbindet - der Transzendierung des logozentrischen Aprioris abendländischer Kultur. Kapitel 125 enthält gleichzeitig die für die logozentrische Prämisse vernichtende Erfahrung, »que todo está mal« - die Erfahrung der grundsätzlichen Unüberschreitbarkeit der Kette der Signifikanten, die Erfahrung des Faktums der Einschreibung des Subjekts der Suche in die Systeme historischer und kultureller Differenzen. Die wahre - durch den vagabundierenden Philosophen aus Kapitel 125 nur unvollständig realisierte - Überschreitung des logozentrischen Aprioris liegt mithin in der Einsicht, daß der Suchende nicht suchte, »hätte er nicht schon gefunden«. Als »écriture« mithin unterliegt Morellis (bzw. Oliveiras) Suche nicht länger dem okzidentalen Erkenntnismodell: Problematisch ist nicht, wie das als tabula rasa gedachte abstrakte Erkenntnis-Su¿ye/tí zum (transzendentalen) Objekt gelangt, 106 vielmehr zu akzeptie106 Gegen diese logozentrische Prämisse isl auch der klassische Empirismus keineswegs gefeit. Vgl.: »Supposons donc qu'au commencement l'âme est ce qu'on appelle une table rase, vide de tous caractères [»Schrift-Zeichen«], sans aucune idée, qu'elle qu'elle soit. Comment vient-elle à recevoir des idées? Par quel moyen en acquiert-elle cette prodigieuse quantité que l'Imagination de l'Homme, toujours agissant et sans bornes, lui présente avec une
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ren, daß das erkennende Subjekt immer schon durch die Struktur seines Gegenstandes - das kulturelle Objekt - determiniert ist. Beide - Subjekt wie Objekt der Sjche - entspringen insofern dem gleichen Konstitutionszusammenhang, dem Kontintum der als »différance« bestimmbaren Kette der Signifikanten. Himmel und Erde, Trmszendenz und Immanenz befinden sich mithin in der Tat - der Figur der Rayuela entsprechend »en el mismo piano« (R 253). Es leuchtet ein, daß der Standpunkt der »écriture«, wie er sich für uns - die Leser als Resultat der »Morelliana« ergibt, zu unterscheiden ist von der Geste enttäuschter Selbstironie, die Kapitel 125 beschließt. Die Enttäuschung des vagabundierenden Philosophen trifft das Scheitern des logozentrischen Projekts - die Suche nach einem Standpunkt 'außerhalb' der Gattung, 'jenseits' des Kontinuums der histor.schen und kulturellen Signifikanten, die das Wesen des Menschen determinieren. Sie ist - darüberhinaus - ein Indiz für das Scheitern der »Morelliana« als Projekt der Konstituierung einer literarischen Metatheorie. Unsere oben geäußerte Skepsis gegenüber jener simplifizierenden Deutung, die die »Morelliana« als Theorie der narrativen Kapitel der Rayuela betrachtet, erhält nun ihre eigentliche Begründung: Wenn es stimmt - mit R. Barthes zu sprechen -, daß die Funktion der »écriture« darin besteht, die Gewalt einer Sprache über eine andere außer Kraft zu setzen - »dissoudre, à peine constitué, tout métalangage« 107 , so besteht in der Tat kein Anlaß, den Reflexionen Morellis, die
variété presque infinie? D'où puise-t-elle tous ces matériaux qui sont comme le fond de tous ses raissonements et de toutes ses connaissances? A cela je réponds en un mot, de l'Expérience [...]« (Locke: Essai philosophique concernant l'entendement humain, trad. de l'anglais par M. Coste, Amsterdam/Leipzig 1755,61 [11,11, § 2].) Der »semiotische Phänomenalismus« bei Peirce enthalt - wie wir sahen (vgl. Einleitung 1.3.1.2 !) - eine Kritik auch dieser empiristischen Position: Nicht die als dyadische Beziehung gedachte »Affektion« der Sinne durch »äußere« Objekte, sondern die Trias: Objekt, Zeichen(körper) und Interprétant steht Peirce zufolge am »Anfang« aller Erkenntnis. Ist eine über diese »grundlegende« semiotische Trias hinausgehende - bzw. ihr vorausliegende - Erfahningsebene denkbar? R. Kloepfers Peirce-Interpretation (Kloepfer 1985) scheint eine solche zu unterstellen: Der »Grund des Zeichens« ist Kloepfer zufolge eine »tiefe Korrespondenz zwischen einer Bedürftigkeit und einer Entsprechung« (ebd.: 151). Die Manifestation der Entsprechung selbst ist der »emotionale Interprétant« (ebd.: 149; vgl. CP 5.475): »Es ist so etwas wie ein unmittelbarer Eindruck des mehr oder weniger kulturellen Objektes in das beeindruckbare (!) Bewußtsein, der sich Uber ein Drittes - nämlich einen von beidem unabhängigen Zeichenkörper Dauer zu verschaffen vermag.« (Kloepfer 1985: 151) Peirce' eigene Ausführungen zur Frage des Ursprungs der Zeichen sind keineswegs klar und unzweideutig. So gilt ihm zwar der »emotional interprétant« als »the first proper significate effect of a sign« (CP 5.475), doch nennt er an anderer Stelle jene »first concepts (first in the Order of development, but emerging at all stages of trenta! life«) {CP 5.480) - eben jene »Ver-mutung« ('conjecture')« (CP 5.480), in der Kloepfer das Wesen des emotiven Interpretanten sieht - auch wieder »the first logicai interpretanti (CP 5.480). »Emotional« und »logicai interprétant« benennen also offenbar ein und dieselbe Sache, allerdings in unterschiedlicher Perspektive. Die Selbigkeit, um die es Peirce geht, ist diejenige des Inteipretanten selber, näherhin »the madie production of the interpretalt essential to a 'sign' (...)« (CP 5.473). Schon der »emotional interprétant« mithin hat Teil an der Trias der Zeichet: Nicht das »Bewußtsein, daß etwas an der Welt 'mein' ist« (1085: 151), ermöglicht Semiose, sondern umgekehrt, weil menschliches Bewußtsein immer schon durch das »passée absolue« kultureller Prozesse geprägt ist, ve-mag es die Well - auch schon auf der rudimentären Ebene des »emotionalen Inteipretanten« - als die »seinige« (ils Zeichen nämlich!) zu erfahren. Vgl. in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung Derridas mit Peirce einerseits, mit der Traditioi des Empirismus andererseits sowie die Kennzeichnung der »dekonstruktivistischen« Methode als einer »geste< (...) radicalement empiriste« (Derrida 1967a: 71ff„ 89f„ 231f). 107 Barthes 1970: 105.
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die Mitglieder des Schlangenclubs beim Studium der in der Wohnung des Dichters zurückgelassenen Papiere zur Kenntnis nehmen, gegenüber den Erfahrungen Oliveiras und seiner Freunde, die den Inhalt der erzählenden Kapitel des Romans bilden, einen (theoretischen) Vorrang einzuräumen. Diese erfüllen gegenüber jenen - ebenso wie jene gegenüber diesen - vielmehr die Funktion der Fort-Schreibung einer Erfahrung, die sich für den Leser - nicht jedoch für Morelli selbst oder für Oliveira und seine Freunde, für die die Lektüre der Papiere Morellis in der Tat Bestandteil ihrer (logozentrisch motivierten) Suche (auch nach einem vermeintlich festen Standpunkt auf der Ebene der literarischen Theorie) bildet - als Arbeit am Signifiant darstellt. Cortázar hat die Funktion des dritten Teils des Romans - die zu Unrecht und mit ironischem Understatement als »prescindibles« bezeichneten Kapitel - als 'Fortschreibung' der beiden ersten Teile unübersehbar im »tablero de dirección« signalisiert. Die Lektüreanweisung des »libro segundo« konstituiert ein Syntagma, das aus einer zunächst chaotisch erscheinenden - Folge von theoretischen und erzählenden Texten besteht. Die Dichotomie »Theorie« versus »Fiktion« ist jedoch durch eine Reihe weiterer Oppositionen neutralisiert: Einerseits sind die theoretischen Texte (»Morelliana«) über die Person des als Romanfigur auftretenden Morelli in die Handlung eingebunden und werden darüberhinaus von den Mitgliedern des »Club de la serpiente« gelesen, diskutiert und mit eigenen Theorien konfrontiert. Andererseits sind unter den die erzählenden Kapitel gemäß dem »tablero« zwischengeschalteten »capítulos prescindibles« auch eine Vielzahl von Texten heterogener Herkunft zu finden, die sich der genannten Dichotomie auf ihre Weise entziehen: Zitate aus dem Bereich der fiktionalen oder essayistischen Literatur, Texte aus dem Bereich der Massenmedien und vor allem eine Reihe von Texten, die die im ersten und im zweiten Teil erzählte Handlung weiterschreiben und damit auch die geschlossene Raum-, Zeit- und Personenwelt der Handlung in die Unabschließbarkeit der »écriture« hin öffnen. Wir haben bisher die Lektüreanweisung des »tablero« zugunsten der Analyse der Handlungsebene sowie der Reflexionen der »Morelliana« außer acht gelassen. Indem wir im dritten und letzten Teil die Anweisung des »tablero« zur Grundlage der Analyse erheben, gelangt zugleich der Gesamttext des Romans in den Blick. 108
2.3. Rayuela - Produktivität als Text Wir haben uns dem Problem der »écriture« im Verlauf der bisherigen Analyse von zwei Seiten her genähert. Zum einen auf der Ebene der Handlung bzw. der Konstellation der Personen: Oliveiras Suche spielt alle Möglichkeiten der Kommunikation und Partnerbeziehung bis hin zur Grenze der Erfahrung des Anderen durch und inszeniert am Ende - gegenüber dem »Doppelgänger« Traveler - ein Szenarium der
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V g l . KCIT 1 9 7 3 .
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»différence«. Zum anderen auf der Ebene der literaturtheoretischen Reflexionen der »Morelliana«: Obwohl Morellis Projekt eines literarischen Textes als Überschreitung des logozentrischen Aprioris okzidentaler Kultur selbst noch - wie wir sahen - durch die Prämisse des Logozentrismus bedingt ist, erweist sich das Scheitern des Projekts für den Leser - als »effet d'écriture«. Was mit »Schreibe« gemeint ist, soll nun vorab - vor Eintritt in die Globalanalyse anhand zweier Kapitel nochmals erläutert werden. Es sei betont, daß die Praxis der »Schreibe« (»écriture«) an das Prinzip der Schriftlichkeit als solches keineswegs gebunden ist. Texte jedweder Art - akustische nicht weniger als visuelle oder figurative -, sofem sie nicht lediglich als Manifestationen von Bedeutungen figurieren, die dem materiellen Medium ihrer Übermittlung gegenüber indifferent bleiben, sind »écriture«, d.h. sind aufzufassen als (arbiträre) »institutions durables« (vgl. Derrida 1967a: 65) oppositioneller Werte, definiert durch ihre jeweilige - durch die Prozesse des »espacement« und der »temporalisation« jedoch ebenso »differierte« - Position im Syntagma der »chaîne signifiante«. Demonstrieren läßt sich die der Praxis der »Schreibe« eigentümliche Form von Produktivität jedoch zweifellos leichter an Texten, die sich selbst bereits des Mediums der Schrift in spezifischer Weise bedienen, dergestalt nämlich, daß sie die Grenzen einer sinnvollen Anwendung des logozentrischen Modells der Kommunikation sichtbar machen. Von solcher Art sind sowohl Kapitel 66 als auch Kapitel 34. 23.1. »Schreibe« exemplarisch (zwei Textbeispiele) 2.3.1.1. »dibujar las ideas« (Kapitel 66) »Facetas de Morelli, su lado Bouvard et Pécuchet, su lado compilador de almanaque literario (en algún momento llama 'Almanaque' a la suma de su obra). La gustaría dibujar ciertas ideas, pero es incapaz de hacerlo. Los diseños que aparecen al margen de sus notas son pésimos. Repetición obsesiva de una espiral temblorosa, con un ritmo semejante a las que adornan la stupa de Sanchi. Proyecta uno de los muchos finales de su libro inconcluso, y deja una maqueta. La página contiene una sola frase: 'En el fondo sabía que no se puede ir más allá porque no lo hay.' La frase se repite a lo largo de toda la página, dando la impresión de un muro, de un impedimento. No hay puntos ni comas ni márgenes. De hecho un muro de palabras ilustrando el sentido de la frase, el choque contra una barrera detrás de la cual no hay nada. Pero hacia abajo y a la derecha, en una de las frases falta la palabra lo. Un ojo sensible descubre el hueco entre los ladrillos, la luz que pasa.« (R 425) Das Kapitel gehört zur »Morelliana«-Serie. Es berichtet von einem Text, den Morelli von einem der vielen Projekte zur Beendigung seines Buches hinterlassen hat.
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Das Kapitel hat trotz seiner Kürze eine dominant narrative Struktur: Der Text präsentiert den Gegenstand, von dem er handelt, 'gebrochen', vermittelt durch die beobachtende, berichtende, kommentierende Perspektive eines 'Erzählers'. Im Gegensatz zur traditionellen Erzählung ist das Erzähltempus jedoch nicht die Vergangenheit, sondern das Präsens. Der Gegenstand bleibt mithin 'präsent', erscheint nicht in zeitlicher ('epischer'), sondern in intellektueller Distanz. Auch das Erzählverhalten konnotiert 'Rationalität'. Die unterschiedliche Länge der drei Abschnitte entspricht der Struktur der Klimax und modelliert den 'Aufstieg' vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Einfachen hin zum Komplexen - ein Schema, das auf der Inhaltsebene seine offensichtliche Parallele findet: Der erste Abschnitt ist kaum mehr als eine Überschrift. Er besteht aus drei nominalen Wendungen, die das Thema des Textes benennen, sowie einer die letzte dieser Wendungen aufgreifenden, erläuternden Klammerbemerkung. Der zweite Abschnitt nennt das semiotische Prinzip, das Morellis Werk im Sinne des »Almanach«-Prinzips zu verwirklichen strebt: »Le gustaría dibujar las ideas«. Text mithin als 'Ikone'; Texte, die ihre Signifiés 'modellieren', deren Signifiants die Schemata allgemeingültiger, mithin 'evidenter' (kultureller) Wahrnehmung reproduzieren. Was liegt näher - mithin -, als die Texte zu 'illustrieren'! Allein, Morelli zeichnet 'schlecht'. Er ist unfähig, den Illustrationen semiotische Eigenständigkeit zu verleihen. Ihre Linienführung erinnert bestenfalls an die - für das Auge des Okzidentalen - »obsessive« Ornamentik am Stupa von Sanchi. Sie sind also 'schön' (im Sinne der Kantischen Ästhetik), jedoch gleichzeitig inhaltsleer. 109 Der dritte Abschnitt handelt jedoch von einem geglückten Versuch ikonischer »Schreibe«. Er besteht in der Lösung des Problems, das unabschließbare Werk zu beenden. Ein von Morelli hinterlassenes »Modell« zeigt eine Buchseite, bedeckt mit einem einzigen, vielfach wiederholten, ohne Punkt und Komma hintereinandergereihten Satz: »En el fondo sabía que no se puede ir más allá porque no lo hay ...«, ein massives Ikon menschlicher Endlichkeit, dessen Sinn dem Betrachter unmittelbar einleuchtet, handelt es sich doch um: »un muro de palabras ilustrando el sentido de la frase, el choque contra una barrera detrás de la cual no hay nada«. Doch das Ikon straft die scheinbare Evidenz 'leere Transzendenz' Lügen, denn: »en una de las frases falta la palabra lo«. Zufälliger Schreib-Effekt 110 oder ingeniöse Manipulation - das fehlende (oder vergessene) »lo« unterbricht den kodifizierten Gleichklang von Form und Inhalt und er109 Vgl. Gadamers »Analyse des Dekorativen« (1965: 51,151f.). 110 Vgl. Barthes: Ecrivains, intellectuels, professeurs, in: Tel Quel 38 (1971), S. 3-18.
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zeugt an dieser Stelle - sichtbar nur für das »luzide Auge« des Lesers (bzw. des den Leser als Morelli-Leser vertretenden Erzählers) -, dank der nunmehr zutage tretenden Divergenz zwischen Form und Inhalt, zwischen der materiellen Seite des Zeichens und der semantischen Aussage des Satzes, neuen bzw. zusätzlichen Sinn. Der Text realisiert mithin das Grundmotiv der Suche Oliveiras und Morellis als ein »ir más allá« - nicht jedoch als Ikon, sondern als die Form- und Inhaltsseite dissoziierende »écriture«. In der Tat - hier liegt die eigentliche Ironie des Textes - ist das Ikon, mit dem Morelli sein Werk zum vermeintlichen Ende bringen wollte, keineswegs im Text re-präsentiert. Präsent dagegen ist von Anfang an - und zwar auf der Ebene der Makrostruktur in Form von semantischen Widersprüchen - die »différance«: Morelli nennt die »Summe« seines Werkes einen Sonntags-»Almanach« à la Bouvard et Pécuchet. Die einzigartige Idee zur Beendigung des Werkes erscheint somit im Kontext der Flaubertschen Sammlung der »idées reçues« ... Das Ende selbst ist signalisiert als »Ende« eines un-vollendeten Buches - ein subtiles »jeu de différences« mithin, das die Grunddifferenz des Textes - diejenige zwischen intentionalem Sinn des Morelli-Ikons und der das Ikon neutralisierenden Erzähl- bzw. Leserperspektive vorbereitet. Letzterer - dem »sensiblen Auge« des Lesers mithin - ist die eigentliche Sinnproduktion des als »gramme« präsenten »ir más allá« anheimgestellt. 23.1.2.
Galdós/Cortázar
»entre líneas« (Kapitel 34)
Im Gegensatz zum oben besprochenen Text realisiert Kapitel 34 selbst als Text die Struktur des Ikons. Das ikonische Prinzip, das den Text als ganzen bestimmt, ist jedoch nicht eine Folge »geringerer Kodebedingtheit« - einem Weniger an Konventionalität und einem Mehr an 'intuitiver', code-unabhängiger Verständlichkeit, wie sie J.M. Lotman tendenziell dem literarischen Zeichen überhaupt beimißt 111 -, sondern Resultat einer willkürlichen Verknüpfung zweier unabhängiger Codes, Produkt mithin einer Schreibe, die das Prinzip der Intertextualität, die arbiträre Verknüpfung von Signifikanten, zum buchstäblichen Produktionsprinzip von Sinn erhebt: Das Syntagma des Textes ist gebildet durch a) den Text eines Absatzes aus einem der Romane des spanischen Realisten Pérez Galdós und b) - Zeile für Zeile alternierend mit a) - einem Text, der in der Form eines inneren Monologs Oliveiras sowohl die Lektüre von a) als auch die vermutliche Rezeption des Textes durch Maga bzw. die psychologische Konstellation beider Protagonisten reflektiert. 112 ad a): Das geöffnete Buch, das Oliveira in dem ansonsten leeren, von seiner Bewohnerin verlassenen Zimmer der Maga findet, gehört keineswegs zur Gattung der Triviallite111 Lotman 1972: 89-91. 112 Die Analogie des Textes mit der »Makro«-Stniktur des Gesamttextes (1. und 2. Roman gemäß den Instruktionen des »Tablero«) liegt auf der Hand: In dieser Perspektive gewinnt Kapitel 34 die Funktion eines Stniktur-»Modells« für Rayuela.
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ratur - »uno de los libros cursi de la Maga«, sagt L. Harss zu Unrecht 113 -, es sei denn, man sähe in der Produktion des europäischen Realismus des 19. Jahrhunderts nichts weiter als »cursilería«. Das Buch demonstriert vielmehr jenes - wenn auch von Oliveira immer wieder mit Ironie vermerkte - reale Bedürfnis nach Bildung, das Maga sei es durch Lektüre, Musik oder auch das Gespräch mit den Freunden zu realisieren versucht. Der vorliegende Text befriedigt dieses Bedürfnis mit den Mitteln realistischer Mimesis: Der Text bezieht seine Wirkung - wie viele der großen Texte der spanischen Realisten - aus der Perspektive 'auktorialer', ironischer Distanz, mit der der Erzähler - im vorliegenden Fall zugleich Protagonist der Handlung - der Welt, über die er berichtet, gegenübersteht. Die Teilnahme an dieser Perspektive - Teilnahme in erster Linie am rhetorischen Gestus des Erzählers - vermittelt dem Leser eine 'Vorstellung' von der durch die Erzählung geschaffenen 'fiktiven', der Rhetorik des realistischen Stils entsprechend jedoch ebenso 'wahrscheinlichen' Welt. Der Text ist 'realistisch', insofern die durch ihn vermittelte Vorstellung von Welt dem Schematismus der im 19. Jahrhundert entstandenen - in beträchtlichem Umfang durch den europäischen Realismus und Naturalismus selbst mitgeschaffenen - Wissenschaftsideologie gemäß ist. Diese bildet den Code, im Hinblick auf welchen der Leser die Indizien des Textes als realistisch bzw. der 'Wahrheit' des wissenschaftlichen Diskurses entsprechend - entschlüsselt. So läßt sich für jeden der fünf Abschnitte das entsprechende wissenschaftliche Code-System benennen, auf das die Beschreibung anspielt (und in dessen ausschließlichem Rahmen sie als 'sinnvoll' betrachtet werden kann): 1. Abschnitt: Der Entschluß des Erzählers, sein Jérez-Untemehmen in Andalusien zu verkaufen, um sich als Rentner in Madrid niederzulassen: Soziologie der Stadt-LandBeziehungen; 2. Abschnitt: Das veränderte, dem Provinzler vorteilhaft erscheinende Bild der Hauptstadt seit dem Beginn der Bautätigkeit nach 1869: Urbanismus; 3. Abschnitt: Leben, Berufskarriere und Vermögensverhältnisse des Onkels Bueno Guzmán y Ataide, bei dem der Erzähler Wohnung bezieht: Soziologie des Beamtenstandes; 4. Abschnitt: Sozialverhalten und äußere Erscheinung des Onkels: Sozialpsychologie und Physionomik; 5. Abschnitt: Emotionelle und familiäre Bindung zwischen Onkel und Neffe: Familiensoziologie. Die Instanz, die dem überlegenen, ironischen, distanzierten Diskurs des Erzählers Autorität verleiht, ist mithin die ordnende, systematisierende, analysierende Rationalität der Wissenschaft. 113 Vgl. M 30: 284. Es handelt sich vielmehr um einen Ausschnitt aus Lo prohibido, einer herben Kritik des großen spanischen Realisten am Adelsmilicu des späten 19. Jahrhundens, die von der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung noch zu Galdós' »naturalistischer« Phase gerechnet wird. - Vgl. die interessanten, leider fragmentarisch bleibenden Bemerkungen zu Kapitel 34 bei Palcmain 1980.
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ad b): Der mit dem Galdós-Text alternierende und kontrastierende Monolog Oliveiras signalisiert auf der Ebene des Erzählverhaltens im Verzicht auf referentielle Gliederungssignale (Abschnitte) »Reflexion« als unendlichen Prozeß. Er realisiert - gleichzeitig, aber mit unterschiedlicher Dominanz - eine dreifache Funktion: metatextuell als Reflexion der Galdós-Lektüre Oliveiras; referentiell - als Reflexion der vermutlichen Lektüreerfahrungen der Maga; appellativ - als Reflexion der psychologischen Konstellation der beiden Protagonisten. Demgemäß läßt auch der Text Oliveiras eine dreifache semantische Gliederung erkennen. Der erste Abschnitt ist im wesentlichen ein ironischer Metadiskurs zu Galdós. Oliveira denunziert den rhetorischen Schematismus des Textes - »una lengua hecha de frases preacuñadas para transmitir ideas archipodridas, las monedas de mano en mano, de generación degeneración« (R 227) 114 -, den automatisiertes Leserverhalten provozierenden Gebrauch leerer Worthülsen: »[...] me imagino que después de tragarse cinco o seis páginas uno acaba por engranar y ya no puede dejar de leer, un poco como no se puede dejar de dormir o de mear, servidumbres o látigos o babas« (ebd.). Für die Maga dagegen ist der Verbalismus identisch mit »la vida« (R 228). Der zweite Abschnitt fragt nach den Lektüreerfahrungen der Maga sowie nach deren Motivation: Der Grund, daß Maga sich mit Galdós beschäftigt, liegt darin, daß Oliveira sich ihrem Informations- und Kommunikationsbedürfnis verweigert und es vorzieht, alleine die Pariser Museen zu durchstreifen. Unempfänglich für Oliveiras Dementis - »no había manera de hacerte comprender que así no llegarías nunca a nada« (/? 229) - dient ihr die Lektüre von Galdós dazu, an dem zu partizipieren, was für sie das intellektuelle Leben des Freundes bedeutet. Doch insofern - so läßt sich argumentieren - ist Magas Interesse an Galdós gerade nicht in erster Linie »referentiell« motiviert. Maga liest Galdós nicht im Hinblick auf realistische Mimesis. Die Funktion der Lektüre ist vielmehr vergleichbar der sogenannten »konativen« Sprachfunktion. 115 Sie dient der Erstellung dessen, was in Rayuela und andernorts 116 als »el puente« bezeichnet wird: »[...] vos esperabas que yo me sentara a tu lado y te explicara, te alentara, hiciera lo que toda mujer espera que un hombre haga con ella, le arrolle despacito un piolín en la cintura y zás la mande zumbando y dando vueltas, le dé el impulso que la arranque a su tendencia a tejer pulóvers o a hablar, hablar, intemiinablemente hablar de las muchas materias de la nada.« (R 230) Doch gerade in diesem Punkt täuscht sich die Maga: Galdós kann zwischen Oliveira und ihr keine Brückenfunktion mehr übernehmen, »porque estaba bien decidido 114 Das Wortspiel am Ende ist unübersetzbar »monedas de mano a mano, de generación degeneración (sie!)«. 115 Vgl. Jakobson 1972. 116 Eine »geschichtsphilosophische« Reflexion über das »Briicken«-Motiv enthält - ausgehend von K.H. Stockhausens Prozession - Kapitel 8 in Libro de Manuel', vgl. unsere Analyse, Kapitel 11,4.2.
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que tenía que perderte (ni siquiera perderte, antes hubiera tenido que ganarte)« (ebd.). In den Augen Oliveiras dient die Galdós-Lektüre der Maga - im Gegensatz zu ihrem eigenen Dafürhalten - keinerlei kommunikativen Funktion. Der positive - ja produktive - Aspekt dieses Mißverständnisses indes ist unübersehbar: Mag sich die Maga über die wirkliche Informationsfunktion des Textes auch täuschen - fraglich bleibt, ob die 'Geschichte' als solche überhaupt jenes Maß an Faszination in ihr auszulösen imstande war, das der Metadiskurs des ersten Abschnitts als gegeben ansieht. Zu fragen bleibt deshalb, ob ihr der Text nicht vielmehr als »trampolín« diente, »para irte por ahí, a tus países misteriosos que yo te envidiaba vanamente mientras vos me envidiabas mis visitas al Louvre, que debías sospechar aunque no dijeras nada« (R 231). Die letzte Formulierung verweist auf jenes - vom Standpunkt der Kommunikationsprämisse aus gesehen »paradoxe« Beziehungsmodell der Protagonisten, das Kapitel 1 programmatisch entfaltet (vgl. 1.1.!). Der dritte Abschnitt - eine Art retrospektiver Liebeserklärung Oliveiras an die Maga in Form einer emphatischen Apostrophe (»Pero qué hermosa estabas en la ventana, con el gris del cielo posado en una mejilla, las manos teniendo el libro, la boca siempre un poco ávida, los ojos dudosos.« [/? 231]) - beschreibt die Beziehung nunmehr jedoch als figura, als eine dem Zufall der Raum-Zeit-Konstellation unterworfene Beziehung zweier in ihrem Selbstsein (»signifié«) unergründlicher, das Beziehungsverhältnis ihrer 'Liebe' nur auf der Grundlage jener Konstellation manifestierender Signifiants: »Dónde estarás, dónde estaremos desde hoy, dos puntos en un universo inexplicable, cerca o lejos, dos puntos que crean una línea, dos puntos que se alejan y se acercan arbitrariamente [...] pero no te explicaré eso que llaman movimientos brownoideos, por supuesto no te los explicaré y sin embargo los dos, Maga, estamos componiendo una figura, vos un punto en alguna parte, yo otro en alguna parte, desplazándonos, vos ahora a lo mejor en la rué de la Huchette, yo ahora descubriendo en tu pieza vacía esta novela [...].« (R 232f.) a) plus b) = F(igura): Die zentrale Funktion der »figura« im Rahmen der Cortázar-/Morellischen Poetik ist - wie oben gezeigt - diejenige der Bedeutungsproduktion. Steht diese Funktion nicht im Widerspruch zum literalen Sinn unseres Textes, der die Beziehung Oliveira-Maga am Ende als »una figura absurda [...], una interminable figura sin sentido« (R 233) bezeichnet? Gewiß, wer den Text - wie wir es bisher getan haben - 'analytisch' liest, d.h. ohne auf die syntagmatische Verschachtelung der Texte a) und b) zu achten, wird nicht umhin kommen, diesen Widerspruch zu konstatieren. Der Text enthält dann zwar ein Sinn-Versprechen - eben die »figura« -, welches dem Text selbst jedoch transzendent bleibt: Angesichts der totalen Divergenz ihrer Wege - »yo [...] en tu
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pieza [...] vacía [...], mañana vos en la Gare de Lyon (si te vas a Lucca, amor mío) y yo en la rué du Chemin Vert« (ebd.) - mögen die Protagonisten zwar weiterhin Figuren zeichnen, Figuren indessen, deren »Erfüllung« auf der Ebene der Handlung in immer weitere Fernen entrückt wird. Die die »figura« komponierende, mithin neuen Sinn produzierende semiotische Ebene ist also nicht die 'Makrostruktur' - d.h. die Ebene der durch ihre Handlungen identifizierbaren, mit den Eigennamen »Oliveira« und »Maga« bezeichneten »personnages« -, sondern die materielle Mikrostruktur der die Aktanten in Kapitel 34 »repräsentierenden« 117 Texte. Es ist das durch die Alteration von a) und b) gebildete Syntagma, das die in b) genannte »Figur« erzeugt. Deren »Kristallisation« vollzieht sich - einmal mehr - als »sympraktische« Leistung des Lesers. (Vgl. Kloepfer 1985!) Der figúrale Sinne entsteht auf der Grundlage dreier textueller Verfahren. Wir nennen sie in der Reihenfolge ihrer Bedeutung: a) Die Verschiedenheit des Ähnlichen (paradigmatische Elemente): Beispiele: b: No había manera de hacerte a: tiempo de andar en estos trotes se felicitaba de ellos y de b: comprender que así no llegarías nunca a nada (R 229) oder: b: hermosa estabas en la ventana, con el gris del cielo posado a: se le iba el santo al cielo distrayéndose del asunto (R 231). Im Gegensatz zum ersten Beispiel, in dem die Wiederholung der visuellen Verklammerung beider Texte dient, ohne deren semantische Isolation aufzuheben, erzeugt sie im zweiten Beispiel eine Sinnkollision. bj Die Unmöglichkeit des Gleichen (wörtliche Zitate): Das Verfahren dient im ersten Abschnitt von b) der Konstituierung von b) als Metadiskurs zu a). Zugleich findet hierin - insofern a) »la Maga« repräsentiert - die intellektuelle Überlegenheit Oliveiras gegenüber seiner Freundin ihren klarsten Ausdruck: »[...] 'personalidades que ilustraron el apellido de Bueno de Guzmán', pero mirá las cursilerías de este tipo, Maga, cómo podías pasar de la página cinco [...].« (R 232f.)
117 R. Baithes Unterscheidung von »personnage et figure« (1970: 74f.) verweist in die Richtung der hier vorgeschlagenen Analyse. Der Begriff der »figure« als »configuration incivile, impersonelle, achronique, de rapports symboliques« ist jedoch - wenn wir richtig sehen - eine dominant semantische, mithin auf die Inhaltsseite der sprachlichen Zeichen bezogene Definition. Die durch die Texte a) und b) gebildete »figura sin sentido« dagegen erfordert eine Analyseebene, die der materiellen, formalen Konfiguration der Signifiants - im Sinne der in dieser Arbeit mehrfach zitierten Definition Lacans (1966:493ff.) - Vorrang einräumt.
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Doch dies ist nur die eine Seite des Verfahrens. Die andere - subtilere - besteht darin, daß Oliveira den aus a) zitierten Text dem eigenen Diskurs einverleibt, ohne daß damit a) jedoch zum Objekt-Text würde. Das Objekt der Rede ist vielmehr ein dritter Text: »Lisonjero, desde quién sabe cuándo no oía esa palabra, cómo se nos empobrece el lenguaje a los criollos [...].« (R 231) Das aus a) zitierte Wort »lisonjero« gehört hier offensichtlich zur Objektebene; Oliveira fährt jedoch fort: »de chico yo tenía presentes muchas más palabras que ahora, leía esas mismas novelas, me adueñaba de un inmenso vocabulario perfectamente inútil por lo demás, 'pulcro y distinguidísimo', eso sí« (ebd.). Die Objektebene ist nunmehr also die Jugendlektüre Oliveiras; die aus a) zitierte Wendung »tadellos und höchst distinguiert« (»pulcro y distinguido«) dagegen - wenn auch noch mit ironischer Anspielung auf a) - ist dem eigenen Metatext einverleibt. Eine dritte Weise der Verwendung der Zitate besteht in der spiegelbildlichen Umkehrung des ersten Verfahrens: »Y así íbamos acercando a esto que tenía que occurrimos un día cuando vos comprendieras plenamente que yo no te iba a dar más que una parte de mi tiempo y de mi vida, 'y de diluir 118 fatigosamente sus relatos', exactamente esto, me pongo pesado hasta cuando hago memoria.« (Ebd.) Die Objektebene des Textes ist in diesem Fall Oliveira selbst. Oliveira redet über sich selbst (sowie die Weise, wie er sein Verhältnis zu Maga einrichtete). Das aus a) übernommene Zitat »y de diluir fatigosamente sus relatos« faßt, wie er glaubt, den Gedanken prägnant zusammen und konstituiert sich mithin seinerseits gegenüber der Selbstreflexion Oliveiras als Metadiskurs. c) Der produktive Zufall (typographische Effekte): Die typographische Verklammerung der beiden Texte ist das dominante Verfahren zur Erzeugung »figurativer« Bedeutung. Es besteht in der Vertauschung paradigmatischer Elemente der beiden Texte bei identisch bleibender syntaktischer Struktur. Die semantische Funktion des Verfahrens liegt - wie schon beim Verfahren des wörtlichen Zitierens - darin, gegenüber der dominierenden Funktion von b) als Metatext zu a) einen - man möchte sagen - herrschaftsfreien, an-archischen, der zufälligen Konstellation der Lexeme unterworfenen Raum von Neben-, Gegen- und Un-Sinn zu erzeugen, dergestalt, daß im Horizont der figuralen Lektüre nicht mehr einer von beiden Texten als Metatext des anderen fungiert, sondern beide im dialogischen Medium 118 Vgl. hier die im Spanischen »zwanglose« syntaktische Verknüpfung: »... no ... dar más que una parte de mi tiempo y de mi vida, 'y de diluir fatigosamente sus relatos', exactamente ...«
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der Schreibe, d.h. als Intertext, erscheinen. Auch hierzu einige Beispiele. 1. Beispiel: a: [...] traspasé b: esta sopa fría y desabrida, tantas otras lecturas increíbles, a: las bodegas y sus existencias, y me fui a vivir a Madrid b: Elle y France Soir, los tristes magazines que le prestaba a: Mi tío [...] don Rafael Bueno de b: Babs. Y me fui a vivir a Madrid, me imagino que después a: Guzmán y Ataide [...] (R 227)
(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
Liest man den Text fortlaufend in 'normaler' Typographie, so bilden sich bei erster Lektüre unvermeidlich neue Syntagmen, deren Bedeutung zum intentionalen Sinn der Texte a) und b) in Spannung tritt. Dies gilt für beide Texte: In Z. 1 und 2 läßt sich »esta sopa fría y desabrida«, liest man den Ausdruck als Objekt zum vorausgehenden Verb »traspasé«, auch auf den eigenen Metadiskurs Oliveiras - und nicht auf den Text von Galdós - beziehen. Der Satz enthält dann das Eingeständnis - wovon Oliveira im Augenblick weit entfernt ist -, daß auch der eigene Metadiskurs durch 'Rhetorik' desavouiert ist. In Z. 4 und 5 ist der Verleiher der elenden Lektüre der Maga absurderweise »mi tío« - nicht aber das Club-Mitglied »Babs«, während eine Zeile weiter der klingende Name des vom Galdos-Erzähler hochgeschätzten Onkels zu »don Rafael Bueno de Babs« verballhornt wird. 2. Beispiel: a: [...] las necesidades de su famib: [...] sacabas la plaqueta con poemas de a: lia lo estimularon a trocar la mezquina seguridad de un b: Tristan L'Hermite, por ejemplo, o una disertación de Boris a: sueldo por las aventuras y esperanzas del trabajo libre [...] b: de Schloezer [...] (R 229)
(1) (2) (3) (4) (5) (6)
Auch im zweiten Beispiel entsteht durch die Montage der beiden Texte eine neue 'absurde' Sinn-Figur: Liest man - unter Absehung des Wortes »sueldo« (Z. 5) - die Zeilen 3 bis 5 als fortlaufendes Syntagma, so reduzieren sich die beiden Oppositionen »Lohn vs. freiberufliche Arbeit« (für Text a) und »Einsamkeit vs. Kommunikation mittels Dichtung« (für Text b) zu der neuen, weder in a) noch in b) erwähnten Opposition »Dichtung vs. Arbeit«.
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3. Beispiel b: vos esperabas que yo [...]
(1)
a: [...] (2) b: [...] hiciera lo que toda mujer espera que un hombre (3) a: [...] (4) b: haga con ella [...] (5) a: [...] (6) b: [...] le dé el impulso (7) a: [...] (8) b: que la arranque a su tendencia a tejer pulóvers o a hablar (9) a: cuando me establecí en Madrid, su posición debía ser (10) b: hablar, interminablemente hablar de las muchas materias (11) a: por las apariencias, holgada sin sobrantes. No carecía de (12) b: de la nada. Mirá si soy monstruoso, qué tengo yo para (13) a: nada, pero no tenía ahorros, lo que en verdad era poco lison- (14) b: jactarme, ni a vos te tengo ya porque estaba bien decidido (15) a: jero para un hombre que, después de trabajar tanto, se (16) b: que tenía que perderte (ni siquiera perderte, antes hubiera (17) a: acercaba el término de la vida y apenas tenía tiempo ya de (18) b: tenido que ganarte), »lo que en verdad era poco lisonjero (19) a: ganar el terreno perdido (20) b: para un hombre que [...] (R 230f.) (21) Das dritte Beispiel legt den Vergleich mit einer speziellen Form der Kompositionstechnik in der Musik nahe: Wie die beiden Themen einer enggefiihrten Doppelfuge verlieren die beiden Texte dank der typographischen Verklammerung ihre vermeintliche syntaktisch-'melodische' Selbständigkeit und erhalten im Kontext des paradigmatisch-'harmonischen' Materials der jeweiligen Gegenstimme veränderten Sinn. Wie bei der Fugentechnik ist die neue Sinnproduktion darüberhinaus dadurch garantiert, daß beide Texte vergleichbare syntagmatisch-paradigmatische Bauelemente aufweisen. Das dritte Beispiel verwendet mithin nicht nur das dritte, sondern auch die beiden ersten der besprochenen Verfahren. Im einzelnen: - narrative Struktur: Beide Texte haben die Form der Ich-Erzählung und weisen zwei Protagonisten auf - den Ich-Erzähler sowie eine weitere 'besprochene' Person, »él« (der Onkel) in a) sowie »ella« (die Maga) in b). - »situación de carencia«: in a) bezogen auf den Onkel (»No carecía de nada, pero no tenía ahorros, lo que en verdad era poco lisonjero para un hombre que ...«); in b) bezogen auf den Erzähler (»qué tengo yo para jactarme, ni a vos te tengo ya porque estaba bien decidido que tenía que perderte (ni siquiera perderte ...), 'lo que en verdad era poco lisonjero para un hombre que ...«); dieser letzte Satz als Zitat aus a), jedoch
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ebenfalls bezogen auf den Erzähler Oliveira, in dessen Augen Magas »tendencia a tejer pulóvers o a hablar« offenbar auch nur als Ersatzbefriedigung frustrierter erotischer Bedürfnisse erscheint. - Infinitivkonstruktion: Infinitiv mit »a« in b) (»su tendencia a tejer ... o a hablar«); Infinitiv mit »de« in a) (»su posición debía de ser«) sowie - virtuell - sogenannter »reiner« Infinitiv (anstelle der Wendung »su posición debía de ser ... holgada« ist die Wendung »su posición debía de ser hablar« grammatikalisch ebenfalls akzeptabel!) - lexikalische Wiederholung: »hablar de las muchas materias de la nada« in b); »No carecía de nada« in a) - Wiederholung semantischer Oppositionen: ökonomischer Gewinn bzw. Verlust in a); Gewinn und Verlust auf personaler Ebene in b). Dank der Fülle paradigmatischer Wiederholungen in beiden Texten bewirkt deren typographische Verschachtelung in Z. 9ff. nun vollends eine virtuelle Inversion des jeweiligen »sujet de l'énonciation«: Der Leser kann nicht umhin, das durch die emphatische Apostrophe der Zeilen 1, 3, 5, 7 und 9 verdeckte Aussagesubjekt (»Oliveira«) mit dem in Zeile 10 klar artikulierten Ich-Erzähler zumindest momentan zu identifizieren. Dann erscheinen die »machismo«-Phantasien Oliveiras (»vos esperabas que yo ... hiciera lo que toda mujer espera que un hombre haga con ella ...«) jedoch plötzlich ebenfalls im Lichte eines »hablar, hablar, interminablemente hablar de la nada« eine Lesart, die in Z. 13-14 durch das neue Syntagma »qué tenía yo para nada« sowie das Eingeständnis der eigenen Karenz Oliveiras in Z. 15, 17 und 19 ironisch ratifiziert wird. Dem fügt sich die auf den Onkel bezogene Karenzformel »lo que en verdad era poco lisonjero para un hombre que ...«, die in Z. 19-21 zitiert wird, nunmehr zwanglos an. Sie ist nun auf den Ich-Erzähler von b) - Oliveira - bezogen. Natürlich ist unsere Lektüre nicht unumstößlich: So läßt sich der Satz »Cuando me establecí en Madrid, (su) posición debía de ser hablar ...« (Z. 10-11) ebensowohl auf den Ich-Erzähler beziehen (unter der Voraussetzung, daß »su« als »mi« gelesen wird) wie auch auf den Onkel in a). Gerade dies, die Unmöglichkeit eindeutiger Sinnzuweisungen, die Auflösung der 'geschlossenen' Texte a) (realistische Mimesis) und b) (intellektueller Metadiskurs) in unabhängige, manipulierbare, neue Bedeutungen produzierende Textkomponenten ist der eigentliche Effekt der figuralen Schreibe. Im Modus der »Schreibe« - als Konstitutions-ProzejS möglicher Bedeutungen nämlich repräsentiert die »figura« vor allem jedoch das die Identität der Bedeutung garantierende Subjekt der Aussage: Sowohl der ironische, überlegene Ich-Erzähler des Galdós-Textes als auch der - trotz des Eingeständnisses einer ursprünglichen Karenz gegenüber Maga und vor allem dem von ihr gelesenen Text nicht weniger überlegen sich gebende Intellektuelle Oliveira erscheinen im Horizont eines ihre jeweilige Identität als »Sender« einer realistischen bzw. intellektuellen Botschaft annullierenden, insofern an-archischen Signifikationsprozesses. Die figúrale Schreibe rück-ver-
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wandelt mithin sowohl die realistische Mimesis des ersteren als auch den intellektuellen Metadiskurs des zweiten Textes in jene »arcilla significativa«, deren Sinnkonstitution (»cristalización«) der Theorie Morellis zufolge allein dem Leser zukommt nicht als »tema de descripción« indessen, sondern als »el yeso que vertemos sobre un rostro para hacerle una mascarilla. Pero el rostro debería ser el nuestro.« (R 544) 2.3.2. Die Summe und der Rest (Versuch einer »figuralen« Lektüre des Gesamttextes) Die Struktur des Kapitels 34 hat Modellcharakter für den Gesamttext des Romans: Ebenso wie in Kapitel 34 die willkürliche Verschachtelung der Zeilen neue Syntagmen produziert, erzeugt die - gemäß der Lektüreanweisung des »tablero de dirección« vorgenommene - Unterbrechung der narrativen Sequenzen durch die eingeschobenen »capítulos prescindibles« einen neuen Text. Dieser bleibt - wie zu zeigen sein wird der narrativen Gliederung des ersten Buches zwar weiterhin unterworfen, doch wird die immanente Evaluationsstruktur der narrativen Sequenzen durch die Theorie' der eingeschobenen »Morelliana«-Kapitel ebenso wie durch die die Handlung variierenden, ergänzenden oder alternativ weiterführenden narrativen Kapitel 'fortgeschrieben'. Infolge der Montagetechnik dieser Fortschreibung verlieren die jeweiligen Texte sowohl die narrativen Sequenzen als auch die eingeschobenen Kapitel selbst - den Charakter eindeutig bestimmbarer Zeichen. Charakteristisch für die Gesamtstruktur ist vielmehr ein beständiges Oszillieren zwischen Form und Inhalt. Die nachfolgende Deskription der Gesamtstruktur ist von einer Interpretation herkömmlichen Stils insofern unterschieden, als sie den Prozeßcharakter der Lektüre - im Sinne der »Kristallisations«-Theorie Morellis (vgl. 2.1.3.) - ansatzweise nachzuzeichnen versucht: Dem im Hinblick auf Kapitel 34 erprobten Verfahren folgend beschreibt sie deshalb jede der 8 Sequenzen anhand eines dreifachen Analyseschrittes: A: die Beschreibung der narrativen Komponenten der entsprechenden Sequenz (»libro primero«); B: die Beschreibung der in die Sequenz gemäß dem »tablero« eingeschobenen »capítulos prescindibles« des dritten Teils (»de otros lados«); AB: die Beschreibung der durch die Kombination von A und B gebildeten Figur (die arabischen Ziffern hinter den Majuskeln A und B verweisen auf die zu Sequenzen zusammengefaßten Kapitel!). Eindeutige Sinnzuweisungen - so zeigt sich - gelingen nur mehr auf Kosten abstraktiver Verfahren. Die Kombinatorik der Texte (A vs. B, bzw. die Sinnfigur Aß) führt nicht mehr zu der - im Sinne der traditionellen »Interpretation« erwartbaren »Hierarchisierung von Zeichenfunktionen« (vgl. Kloepfer 1975: 141), der Erfassung mithin einer Bedeutung 'auf höherer Ebene', sondern konfrontiert mit einem ins Unendliche der Zeichenkette verweisenden Prozeß semiotischer De-Konstruktion. Gerade hierin - der Erfahrung jenes unüberschreitbaren Vorrangs der Signifikanten, der
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»dissémination« (vgl. Derrida 1972a) mithin jeder einmal ausgemachten Bedeutung in weitere Bedeutungs-Trager - besteht der Charakter des Textes als »écriture«. /. Sequenz A (1-8): Das auffälligste Stilmittel der ersten 8 Kapitel ist die Erzählform der Dauer und Wiederholung, signalisiert durch den rekurrenten Gebrauch des Imperfekts (vgl. R 15, 24, 34, 46, 49). Die erzählten Handlungen haben noch nicht den Charakter der Einmaligkeit eines Ereignisses, sondern dienen der Charakterisierung des sogenannten Chronotopos sowie der psychologischen Konstellation der Protagonisten: Der in Paris lebende argentinische Intellektuelle Horacio Oliveira unterhält freundschaftliche und erotische Beziehungen zu einer Uruguayerin namens Maga, die seit kurzem ebenfalls mit ihrem Baby Rocamadour in Paris ansässig ist. Beide schließen sich einer kleinen Gruppe buntgemischter, aus verschiedenen Ländern Europas und aus Übersee stammender Intellektueller an und bilden zusammen mit diesen den sogenannten »Club de la Serpiente« (R 38). Der Aspekt scheinbar zeitloser Dauer, unter dem der Text das Verhältnis des Protagonisten darstellt, ist jedoch ebensowohl prospektiv als auch retrospektiv begrenzt: Im 1. Kapitel öffnet der auffällige Gebrauch konditionaler Verbformen einen unabgeschlossenen Horizont zukünftiger Aktivitäten. Desgleichen verweist der mehrfache Gebrauch des Plusquamperfekts zu Beginn des 2., 4. und 5. Kapitels auf die Vorgeschichte bzw. den Beginn der Beziehungen der Protagonisten. Die erwähnten Merkmale kontrastieren mit dem Bild des Anti-Romans, unter dem man Rayuela gewöhnlich zu sehen pflegt. Sie charakterisieren den Text vielmehr als Exempel eines durchaus konventionellen Genres - sagen wir, des psychologischen (realistischen) Romans. Diesem Urteil widerspricht weder die 'paradoxe', der gewohnten Liebeskasuistik wenig konforme Thematik der Suche, wie sie in Kapitel 1 und 6 ausführlich dargestellt wird, noch der scheinbar unkonventionelle Perspektivenwechsel der ersten Kapitel (1., 2. und 8. Kapitel: Ichperspektive aus der Sicht Oliveiras; 3.-6. Kapitel: auktoriale Perspektive; 7. Kapitel: Apostrophe Oliveiras an Maga). Weder die Thematik der Suche noch der Perspektivenwechsel durchbrechen die in den ersten Kapiteln aufgebaute Erwartungsstruktur. Sie sind vielmehr integrierender Bestandteil einer dem Maßstab psychologischer Wahrscheinlichkeit konformen 'Introspektion'. B (73,116,74,71,81,74,93,68): Die acht, der ersten narrativen Sequenz zwischengeschalteten »capítulos prescindibles« enthalten mehrere der interessantesten - aber auch schwierigsten - Texte der »Morelliana«. Wir haben sie oben (vgl. 2.1.ff.) im Kontext der systematischen Darstellung der literarischen Theorie Morellis z.T. ausführlich erörtert und können uns deshalb mit einer kurzen Erinnerung der im einzelnen behandelten Thematik begnü-
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gen: Bereits das erste Kapitel führt ins Zentrum der literarischen Avantgarde-Theorie Morelli/Cortázars. Das reflektierende Erzähler-Ich evoziert anläßlich eines Spaziergangs durch die abendliche Rue de la Huchette Atmosphäre und Lebensgefühl des Pariser Existentialismus, terminus a quo der Suche Oliveiras ebenso wie - so ist zu vermuten - biographischer Kontext des Entstehens der Rayuela,119 Schon der zweite Abschnitt jedoch übersetzt den existentialistischen Ontologismus in eine radikale Position semiotischer Kritik und stellt die Frage, inwieweit die existentialistische - desgleichen wie jedwede andere - Handlungsphilosophie nur Formen von »literatura« oder auch »escritura« (R 438) seien. Authentizität und Freiheit - die Schlüsselbegriffe des Existentialismus - bedeuten in dieser Perspektive deshalb vor allem Freiheit gegenüber allen verfestigten Formen von Sinn; Freiheit mithin gegenüber der »Gran Costumbre« (R 439), der Welt der Zeichen als einer fix und fertigen Zuordnung von Signifiés und Signifiants. Freiheit bedeutet mithin Freiheit gegenüber diesen - den Signifiants -, bedeutet Sinnproduktion als »invención« (ebd.) - Erfindung nicht neuer Bedeutungskörper, sondern »Findung« neuer Bedeutungen auf der Grundlage bestehender Signifiants: »Todo es escritura (Hervorh. W.B.B.), es decir fábula. ¿Pero de qué nos sirve la verdad que tranquiliza al proprietario honesto? Nuestra verdad posible tiene que ser invención (Hervorh. im Original), es decir escritura (Hervorh. W.B.B.), literatura, pintura, escultura, agricultura, piscicultura, todas las turas de este mundo. [...] Nos arde un fuego inventado, una incandescente tura, un artilugio de la raza, una ciudad que es el Gran Tomillo, la horrible aguja con su ojo nocturno por donde corre el hilo del Sena, máquina de torturas como puntillas [...] Nadie nos curará del fuego sordo, del fuego sin color que corre al anochecer por la rue de la Huchette. Incurables, perfectamente incurables, eligimos por tura el Gran Tornillo, nos inclinamos sobre él, entramos en él, volvemos a inventarlo cada día, a cada mancha de vino en el mantel, a cada beso del moho en las madrugadas de la Cour de Rohan, inventamos nuestro incendio, ardemos de dentro afuera [...].« (R 439f.) Die weiteren Kapitel der Sequenz variieren die Thematik von Kapitel 73 in je spezifischer Weise: Kapitel 84 begründet die Notwendigkeit der Überschreitung traditioneller Denkformen durch eine Argumentation ex contrario: Jene - die Überschreitung gewohnter Formen - ist die Konsequenz der Einsicht in den Charakter radikaler Endlichkeit des den Scheinfüßen der Amöbe vergleichbaren menschlichen Erkenntnisapparates. Kapitel 116 führt im Kontrast zur realistischen Mimesis des traditionellen Sittenromans, bei welchem der Autor gegenüber einer als gegeben betrachteten Wirklich119 Die unterschwelligen Beziehungen Cortàzars (zumindest in Rayuela) zur Philosophie Sartres verdienen eine eigene Untersuchung. Vgl. das uneingeschränkte Bekenntnis zum Prinzip der »Freiheit« in seinen Erklärungen gegenüber der Zeitung L'Unità (vgl. M 88).
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keit nur die Funktion eines »voyeur« (R 544) einnimmt, den Begriff der »figura« (R 545) ein: Als »figura« betrachtet, d.h. nicht länger in der Perspektive empirischer Wahrscheinlichkeit (»como tema de descripción« - ebd.), gewinnt alles erneut eine Funktion als Zeichen; es eröffnet sich dem entdeckenden, erfindenden Blick des Schriftstellers als eines »voyant« (R 544). Auch die um den Utopie-Begriff als einer Schlüsselidee der Moderne kreisenden Reflexionen des Kapitels 71 kulminieren in der Theorie der Figur als einer Weise spontaner Sinnproduktion: »Digamos que el mundo es una figura, hay que leerla. Por leerla entendamos generarla.« (R 435) Der produktive Umgang mit den Zeichen bedarf dann jedoch eines Protagonisten, der die gewohnten Raster sozialen Verhaltens vom Grundsätzlichen her zu überschreiten in der Lage ist. Er erfordert ein Verhalten gemäß dem Modell des »inconformista« (R 441), welches - Kapitel 74 zufolge - Morelli einem an einer Wäscherechnung befestigten Zettel anvertraut hat. Nur Kapitel 93 und 68 - und die beiden letzten der zwischengeschalteten Texte stehen in erkennbarem Zusammenhang mit der Thematik der narrativen Sequenz: das erstere, indem es das bereits in Kapitel 1 erwähnte erste Zusammentreffen Oliveiras mit Maga weiterschreibt und den romantischen Begriff der Liebe und Kommunikation der semiotischen Sprachkritik - »Liebe« in dieser Perspektive als Exempel der universalen »Kuppelei« der Sprache - unterwirft; das zweite, indem es, die Überlegungen aus Kapitel 93 á la lettre nehmend, einen morphologisch zwar verfremdeten, dank einer konventionellen Syntax jedoch annäherungsweise semantisierbaren Text über »Liebe« präsentiert. Kapitel 81 - ein Zitat aus Lezama Limas Tratados en la Habana - behandelt emeut das Thema der »invención«: die sophistische - sie besteht im Erfinden neuer Argumente; die emotionale - sie besteht im Erfinden neuer bzw. im Er-neuem (»reproducir«) alter Leidenschaften; und schließlich die religiöse - sie besteht in einer Form von Glauben, der in der Mitte steht zwischen »superstición« und »libertinaje« (R 457), eine im Rahmen okzidentaler Kultur utopische Form von »Religion«, da sie - als »superstición« - die Bindung an die verschiedenen Formen 'rationaler' Theologie sowie - als »libertinaje« - jedwede 'moralische' Funktion im Hinblick auf die Disziplinierung sozialen Verhaltens verloren hat. AB: Die durch die syntagmatische Verknüpfung der beiden Serien A und B produzierte Sinn-Figur hat asymptotische Struktur. Beide Serien weisen semantisch in verschiedene, ja entgegengesetzte Richtungen: A in Richtung auf die realistische Mimesis psychologischer Prozesse; b in Richtung auf eine freie, um psychologische bzw. empirische Wahrscheinlichkeit unbekümmerte Arbeit am Signifiant. A und B stehen je-
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doch nicht mehr - wie im »libro primero« - unverbunden nebeneinander. B ist keine 'verzichtbare', arbiträre intellektuelle Reflexion. Die syntagmatische Verschachtelung verknüpft die Serien vielmehr auf der Grundlage des Prinzips der Kontiguität: Wir lesen B als einen auf A bezogenen Metatext. Als solcher enthält B ein Sinnversprechen für A, das dem 'immanenten', durch die Textstruktur von A produzierten Sinn - der Mimesis 'realer', kommunizierbarer Prozesse - zuwiderläuft: Im Horizont von B erscheint A vielmehr zugleich als Nicht-A, als Manifestation einer Suche - nicht auf der Ebene psychologischer Signifiés, sondern - auf der Ebene eines unendlichen Prozesses psychologischer Sinn-Produktion, der jeden einmal gefundenen Sinn (»signifié«) sogleich zum Anlaß (»signifiant«) nimmt für die Suche nach neuem Sinn. Es ist diese, auf »lo otro« (R 464; vgl. Kapitel 84!) bezogene 'semiotische' Dimension der Suche Oliveiras, die sich in der oben analysierten 'paradoxen' Struktur dieser Suche manifestiert. Kapitel 93 faßt sie in die folgenden Worte: »Amor mío, no te quiero por vos ni por los dos juntos, no te quiero porque la sangre me llame a quererte, te quiero porque no sos mía, porque estás del otro lado [...].« (R 483) //. Sequenz A (9-20): Der Beginn der zweiten Erzählsequenz unterscheidet sich von der ersten vor allem durch einen Wechsel auf der Ebene der Erzählform: Die erzählte Handlung rückt dank des rekurrenten Gebrauchs des »pretérito indefinido« nunmehr in den Brennpunkt des Interesses. Sie erscheint deshalb unter dem Aspekt ihres zeitlichen Ablaufs, und zwar als eine Folge von drei Szenen unterschiedlicher Länge: 1. Mehrere Mitglieder des Club de la Serpiente - unter ihnen Oliveira, Maga, Etienne, Perico, Wong, Guy und Gregorovius - treffen sich in der Wohnung der beiden Nordamerikaner Ronald und Babs. (Kapitel 9) 2. Die Genannten bleiben bis spät in der Nacht zusammen und verbringen die Zeit mit Reden, Trinken und Anhören klassischer Jazz-Platten (Kapitel 10-18). Die Gespräche drehen sich um Fragen der Kunst, der Musik, des menschlichen Verhaltens im allgemeinen sowie einzelner Mitglieder des Clubs im besonderen: Gregorovius und Maga erzählen sich gegenseitig ihre Jugend (Kapitel 11-12); Wong wird von Oliveira zum Vorzeigen einer Serie vergilbter Photos über Folterungen im Alten China gedrängt (Kapitel 14); Oliveira selbst erinnert sich angesichts der Gefühlskalte, mit der er die Bilder Wongs betrachtet, an die Einladung eines Schweizer Arztes, sich einen detailgerechten Film über den Vollzug einer Hinrichtung mit dem Strang anzusehen; Maga erzählt weiter von ihrer Jugend, der Vergewaltigung durch einen Neger sowie der väterlichen Prügel (Kapitel 15 und 16); sodann versucht sie sich zusammen mit Gregorovius an einem Psychoporträt des gemeinsamen Freundes Oliveira (Kapitel 17).
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Der die Gespräche kontinuierlich begleitende Kontrapunkt der Jazzmusik - »un modesto ejercicio de liberación« (R 60) - rückt in mehreren Kapiteln als der die Thematik der Gespräche dominierende cantus firmus in den Vordergrund: So führt der Vergleich verkratzter Schellackaufhahmen von Bix Beiderbecke mit einem 25minütigen 33-tours-Solo von Stan Getz zu weitreichenden Reflexionen über den Einfluß technischer Produktionsmittel auf die Entwicklung der Künste (Kapitel 10) oder dient der Bericht über Louis Armstrongs bejubeltes Konzert in Buenos Aires Oliveira als Anlaß sarkastischer Bemerkungen einen gewissen cultural lack seine Landsleute betreffend (Kapitel 13) oder singt Big Bill Broonzy am Ende der Fotoserie Wongs mit sarkastischer Blues-Stimme »See, see, rider, see what you have done«. (Kapitel 14). Die handlungslogische Funktion der zweiten Serie liegt vor allem in der Entstehung einer neuen, die Peripetie am Ende der Sequenz allmählich vorbereitenden 'Konstellation': Obwohl Oliveira und Maga gemeinsam angekommen sind, sucht Maga den Abend über vor allem die Gesellschaft von Gregorovius, Oliveira diejenige von Ronalds Freundin Babs. 3. Die dritte Szene findet in einem kleinen von Oliveira, Maga und dem Baby Rocamadour gemeinsam bewohnten Zimmer statt, offenbar unmittelbar im Anschluß an den Abend in der Wohnung von Ronald und Babs. Rocamadour ist krank und wird von Maga versorgt, während Oliveira mit Sarkasmus und Ärger Mate kocht und über seine absurde, durch die Koordinaten der stinkenden Windeln Rocamadours, die »ríos metafisicos« (R 110) seiner Suche sowie seine rätselhafte Gefährtin bestimmte Situation nachsinnt (Kapitel 19). Das letzte Kapitel der Sequenz schildert die entscheidende Peripetie der Handlung: Nach einem langen, teilweise in zärtlich-ironischem »gliglico« (R 105) 120 geführten, alle Abschattierungen zwischen blanker Aggression und Wiederversöhnung erprobenden Dialog trennt sich Oliveira von Maga und läßt sie mit Rocamadour allein (Kapitel 20). Die Evaluationsstruktur der zweiten Sequenz hat gegenüber der ersten an Komplexität gewonnen: Zum einen ist zwar das Thema psychologischer Mimesis auch in II präsent, doch ist die Partneipsychologie von I in n zur Gruppenpsychologie erweitert. Protagonist der 2. Szene ist der gesamte Club - nicht mehr nur die beiden Mitglieder Maga und Oliveira. Zum anderen wird in der langen 2. Szene die psychologische Problematik auf der Ebene der Konstellation der Personen in den Hintergrund gedrängt durch die auf der Ebene der Diskurse artikulierte philosophische, ethische und ästhetische Thematik der Suche. Dieser Wandel findet auf der Ebene des Erzählverhaltens in der für viele Kapitel von Rayuela charakteristischen Dominanz der - als Mono-, Dia- oder auch als 'Poly'-log manifestierten - Personen-Rede gegenüber der beschreibenden oder kommentierenden Rede des Erzählers seinen Niederschlag. Die Thematik des Textes erfährt in der zweiten Sequenz mithin eine Verschiebung 120 Näheres zum »gliglico«, dem erotischen »Ideolekt« zwischen Maga und Oliveira bei Ruffinelli 1980: 336ff.
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von der psychologischen Ebene der Konstellation der Personen hin zur philosophischen Ebene der Problematik der Suche - eine These, die durch den Hinweis auf die scheinbare Rückkehr zur Partner-Psychologie in Kapitel 19 und 20 kaum zu widerlegen ist: Die Trennung Oliveiras von Maga ist auf der psychologischen Ebene letztlich ebenso unmotiviert wie sie auf der moralischen Ebene - angesichts des todkranken Babys Rocamadour - verwerflich erscheint. Ihre Motivation - und in gewissem Sinne auch Rechtfertigung - bezieht sie dagegen allein aus dem mit immer entschiedener werdenden Konsequenzen verfolgten Projekt der Suche. (Vgl. dazu den der Trennung vorausgehenden Monolog Oliveiras in Kapitel 18!) B (104, 65,136,106, 115,114, 117, 120,137, 97, 153,90): Die zweite Serie der »capituols prescindibles« besteht im Gegensatz zur ersten aus einer heterogenen Folge von Textsorten verschiedenster Provenienz. Thematisch lassen sie sich vier Kategorien zuordnen. 1. »la vida«: Kapitel 104 variiert das Thema aphoristisch in Form verschiedener Attributionen: »La vida como un comentario de otra cosa que no alcanzamos, y que está ahí al alcance del salto que no damos.« (R 522) Kapitel 65 seinerseits - burleskes Beispiel eines solchermaßen unverständlichen Kommentars - präsentiert das 'Modell' einer Club-Karte von Ossip Gregorovius. Kapitel 106 besteht aus zwei englischen Blues-Texten - melancholischen Kommentaren zum Thema 'Leben als Mangel'. 2. »la violencia«: Kapitel 114 zitiert einen detaillierten AP-Bericht über die Hinrichtung eines Delinquenten in der Gaskammer eines Gefängnisses im Staate Kalifornien. Kapitel 117 zitiert einen Text aus der Geschichte des angloamerikanischen (?) Strafrechts, der die Vollstreckung der Todesstrafe an Minderjährigen vorsieht, falls die Geschworenen zu der Überzeugung gelangen, der Angeklagte sei schuldfahig, d.h. »sabía la diferencia que hay entre lo que está bien y lo que está mal.« (R 546) Kapitel 120 berichtet von einem Fall ausgeklügelten Sadismus' auf der Ebene kindlichen 'Spiels': Wenn die Erwachsenen Siesta halten, schleicht sich der kleine Ireneo in den Garten, 'befreit' eine Seidenraupe aus dem schützenden Kokon und beobachtet, wie sie von Ameisen langsam verzehrt wird. Kapitel 153 schließlich besteht aus einem nur zehn Zeilen langen Zitat aus Cambaceres' Música sentimental - der an einen »porteño« gerichteten Warnung vor Prügel, auf welche er mit einer lakonischen, den Wortlaut der Warnung teilweise wiederholenden Wendung antwortet: »Trataré de no descuidarme, entonces.« (R 622)
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3. »Morelliana«: Von den vier dieser Gruppe zugehörigen Kapiteln sind jeweils zwei thematisch aufeinander bezogen: Gemäß Kapitel 137 ist Morellis Werk - dem Augenschein zum Trotz - nicht als Summe, sondern als »una resta implacable« (R 595) intendiert; Kapitel 136 verweist - als Beleg dieser Aussage (?) - auf »la manía de las citas en Morelli« (R 594) und zitiert - als Beleg des Belegs sowie ikonisch die »Manie« reproduzierend - einen Text von Georges Bataille: »Me costaría explicar la publicación, en un mismo libro, de poemas y de una denegación de la poesía, del diario de un muerto y de las notas de un prelado amigo mío ...« (Ebd.) Das thematische Verbindungsstück der beiden Kapitel 97 und 115 ist ihr gemeinsamer Bezug auf Morellis Theorie des Lesers: Kapitel 97 handelt von der Möglichkeit eines Schreibens, das ein unmittelbares, von keinem Kohärenzpostulat geleitetes »Sich-Einlassen auf eine Realität« (R 497) bedeutet. Gerade dies - die Präsentation inkohärenter, 'absurder' Bruchstücke von Realität - bringt den Leser jedoch in Kontakt mit der wirklichen Erlebniswelt (»vivencia«) eines »mundo personal« (ebd.). Morelli vertraut darauf, daß im Akt der Rezeption - obwohl der Leser jeder »Brükke«, jedes logisch-vermittelten Zwischenglieds ermangelt - »[...] del tejido divergente (con relación al dibujo estereotipado de cada día) surge y se define un dibujo coherente que sólo por comparación temerosa con aquél parecerá insensato o delirante o incomprensible« (ebd.). Kapitel 115 bezeichnet diese Sinn- und Kohärenz-produzierende Leistung des Lesers als »extrapolación« (R 543). Sie ist erforderlich, da Morelli nicht - wie der traditionelle Roman - (fix und fertige) Charaktere (»personajes«) in (variablen) Situationen vorführt, sondern umgekehrt die Situation in die (sich dadurch in variable »personas« verwandelnden) Charaktere verlegt. Letztere gewinnen Kohärenz und Bedeutung nur dank der Sinn-produzierenden Tätigkeit (»extrapolación«) des Lesers. 4. »la verdadera moral de la acción«: Diese letzte Gruppe besteht gemäß der hier vorgeschlagenen Einteilung lediglich aus einem einzigen Kapitel - einer langen und mühevollen Reflexion Oliveiras hinsichtlich der Bestimmung des rechten Verhältnisses zwischen Praxis und Theorie. Wer die Frage umgehen zu können glaubt, läuft Gefahr, in der Solidarisierung mit der »acción colectiva« nur die Scheinlösung eines »fácil estupefaciente« (R 474) zu suchen, »[...] una coartada, como los hijos suelen ser la coartada de las madres para no hacer nada que valga la pena en esta vida, como la erudición con anteojeras sirve para no enterarse de que en la cárcel de la otra cuadra siguen guillotinando a tipos que no deberían ser guillotinados« (R 475), läuft Gefahr, das Handeln selber zu pervertieren:
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»[...] la traición era de otro orden, era como siempre la renuncia al centro, la instalación en la periferia, la maravillosa alegría de la hermandad con otros hombres embarcados en la misma acción.« (Ebd.) Angesichts der Unmöglichkeit, das »Zentrum« (theoretisch) zu bestimmen, erscheint es Oliveira deshalb akzeptabler, »pecar por omisión que por comisión« (ebd.). Doch die Entscheidung fürs geringere Übel - das Nicht-Handeln des klassischen Intellektuellen - ist kein Ausweg aus dem Dilemma, sondern lediglich - so schließt Oliveira mit resignierter Selbstironie - »la búsqueda de un alto previo a todo camino« (R 476).
AB Nicht nur die immanente Evaluationsstruktur der zweiten narrativen Sequenz hat wie oben bemerkt - gegenüber der ersten an Komplexität gewonnen, sondern vor allem auch die durch A und B produzierte Sinnfigur. Die Sinnprozesse beider Serien streben nicht länger asymptotisch auseinander, sondern konvergieren in mannigfacher Weise. 1. Thematische Konvergenz: B ist nicht - wie in I - ein 'arbiträrer' Metatext zu A, sondern mit diesem in vielfacher Weise thematisch verbunden. Dies gilt ebenso für die die Sequenz einleitenden Aphorismen über »la vida«, die der Trennungsszene in Kapitel 20 vorausgehende Reflexion Oliveiras über Probleme des Handelns wie auch - vor allem - für die Sequenz der Kapitel 14-114-117-15-120, die die Thematik der Gewalt behandeln. 2. Präsenz des Verdrängten: Die Gewalt, das beherrschende Thema der erwähnten Sequenz der Kapitel 14 bis 120, ist in den beiden narrativen Kapiteln 14 und 15 auf der Ebene der Makrostruktur zwar präsent - Wong 'zeigt' den Mitgliedern des Clubs die Bilder der chinesischen Folterung; Maga »erzählt« das Trauma ihrer Vergewaltigung sowie die Prügel des Vaters -, zugleich jedoch wird das Thema auf der Ebene der Gespräche der Personen wortwörtlich verdrängt: Wong selbst spielt den Demonstrationswert der Photos »lächelnd« herunter: »Están muy borrosas, no vale la pena mostrarlas« (R 70). Oliveira, der die Bitte zum Vorzeigen ausgesprochen hat, »estaba demasiado borracho para insistir« (R 71) und bemerkt am Ende befremdet, »que había mirado fríamente las fotos de Wong« (R 73). Ist die Reaktion auf das Zeigen der Photos nur skeptische Indifferenz, so provoziert die Erzählung der Maga offenen Zynismus. Etienne: »Lo único curioso, como siempre, es el divorcio diabólico de las formas y los contenidos. En todo lo que contaste el mecanismo es casi exactamente el mismo que entre dos enamorados, aparte de la menor resistencia y probablemente la menor agresividad.« (R 79)
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Die tendenzielle Verdrängung des Faktums der Gewalt durch rationalisierendes intellektuelles Palaver - soweit der 'Inhalt' von Kapitel 14 auf der Ebene der Makrostruktur - wird indessen kompensiert durch ein virtuoses erzähltechnisches Verfahren auf der Ebene der Diskursstruktur: Im Augenblick, da Wong die Photos vorzeigt, tritt der Erzähler dominierend in den Vordergrund und liefert - statt der detaillierten Beschreibung des Inhalts der Bilder allein - zugleich eine genaue Beschreibung des Vorgangs des Sehens. Die durch diese Art der Beschreibung erzeugte Perspektive reproduziert nicht den Blick einer der an der Handlungsszene beteiligten Personen, sondern ist identisch mit dem durch den Text produzierten Erzählvorgang als solchem. Oliveiras Urteil in Bezug auf sich selbst - »en realidad todo se reduce a aquello de que ojos que no ven ...« (R 74) - gilt deshalb nicht in gleichem Maße auch für den Leser: Der Text gibt diesem die Möglichkeit, mehr zu sehen. 121 Die Syntagmatik der gemäß dem »tablero« in die narrative Sequenz eingeführten »capítulos prescindibles« erfüllt eine analoge Funktion wie die in Kapitel 14 dominant werdende Perspektive des Erzählers. Sie aktiviert auf den verschiedenen Ebenen die sympraktische Beteiligung des Lesers an der Konstituierung eines durch die Texte vermittelten »Sinnes«: Der AP-Bericht über die kalifornische Gaskammer (Kapitel 14), die sophistische Begründung für die Hinrichtung von Kindern (Kapitel 117) sowie die minutiöse Beschreibung des langsamen Tods einer Seidenraupe (Kapitel 120) konstituieren das auf der »Bedeutungs«-Ebene der Makrostruktur virtuell verdrängte Faktum der Gewalt als primär-ästhetische Erfahrung. 3. Textuelle Konvergenz: Auch auf der metatextuellen Ebene der vier Morelli-Texte ist eine gegenseitige Konvergenz der Serien A und B feststellbar: So ist die Montage verschiedener Texte und Textsorten, wie sie Morelli bei G. Bataille vorfindet (Kapitel 136), als Strukturbeschreibung der vorliegenden Sequenz durchaus verwendbar. Ebenso finden - auf der Grundlage der vorstehenden Analyse - Morellis Gedanken zur Rolle des Lesers eine annähernde Bestätigung: Durch die Realisierung der Seh-Perspektive in Kapitel 14 sowie durch die Konfrontation mit dem 'Text der Gewalt' der Kapitel 114, 117 und 120 gelangt der Leser in der Tat gegenüber den Personen der Handlung in eine Position der Überlegenheit und wird als quasi-Person (»el verdadero y único personaje que me interesa«!) in die Konstruktion der erzählten 'Geschichte' integriert, einer Ge-
121 Kapitel 14 kann deshalb als ein Schulbeispiel gelten für die »zeichengelenkte« Partizipation des Lesers an der »symprak tischen« Konstituierung des »Sinn«-Potentials eines Textes (vgl. Kloepfer 1985). ein Schulbeispiel mithin - zugleich - für die Appellstrukuir eines Textes im Hinblick auf Reaktionen des »lector-cömplice«. Eine Reduzierung des Text-»Sinnes« auf »Sympraxis« ist damit mitnichten impliziert: Zum einen steht die Aktivierung der »sinnlichen« Rezeptionsebene ja in engster Beziehung zum Thema' - der intellektuellen VerdrSngungsstrategie Oliveiras und seiner Freunde angesichts der 'unsagbaren' sinnlichen Healität' des auf den Fotos Dargestellten; zum anderen jedoch ist die Aktivierung selbst ja - wie unsere Analyse der Sequenz zu zeigen versucht - gerade kein (ästhetischer) Selbstzweck, sondern integrierendes Teilstück des (auch) 'ideologiekritisch' strukturierten, das atavistische Gewalt-Potential der Spezies 'Mensch' denunzierenden Kontextes der gesamten Textsequenz.
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schichte, die er dank seiner Überlegenheit als Geschichte der Gewalt zu dechiffrieren in der Lage ist. III. Sequenz A (21-27): Die dritte Erzählsequenz - handlungslogisch eine Folge der in Kapitel 20 dargestellten Peripetie - besteht aus einer doppelten, um je einen der beiden Protagonisten zentrierten Folge von Szenen. Beide Folgen stehen im Zeichen der Suche: Oliveira, nachdem er in einem imaginierten Zwiegespräch mit René Crevels Etes-vous fous? emeut zu der Erkenntnis gelangt ist, »[que] las palabras [...] sólo han servido para no entendernos« (R 116), setzt seine Suche nun auf der Ebene der 'Handlung' fort: Ziellos durch die Straßen von Paris wandernd, wird er Zeuge eines Verkehrsunfalls - für das Bewußtsein des die Szenerie distanziert beobachtenden Intellektuellen abermals eine Demonstration »(de) la incomunicación total« (/? 119). Sowohl Kapitel 20 als auch Kapitel 21 dienen der Grenzbestimmung jener neuen Qualität - als »Erfahrung des Anderen« -, die die Suche Oliveiras anläßlich des Besuchs des Konzertes der Pianistin Berthe Trépat erhält (Kapitel 23). Maga ihrerseits versorgt unterdessen, begleitet von Gregorovius, den kranken Rocamadour (Kapitel 24 bis 27). Darüberhinaus beschränkt sich der Inhalt des folgenden Kapitels auf die Fortsetzung des zwischen Maga und Gregorovius in Ronalds Wohnung geführten Dialogs. Dominantes Thema des Gesprächs ist der durch die Abwesenheit Oliveiras provozierte Versuch, die rätselhafte Persönlichkeit Oliveiras - mithin das Wesen vor allem seiner 'Suche' - näher zu bestimmen: »En el fondo«, sagt Gregorovius schließlich, als Rocamadour eingeschlafen ist, »Paris es una enorme metáfora« (R 159). Was folgt, ist jedoch weder eine PsychoAnalyse Oliveiras noch eine philosophische Definition der Suche, sondern die Verlagerung dessen, was Oliveira im Augenblick zu 'tun' im Begriff ist, auf die Ebene des Textes. Das Gespräch ist deshalb nicht nur ein Reden-über-Oliveira, das Problem seiner Suche sowie - in Kapitel 27 - auch über Oliveiras Freundin Pola, sondern partizipiert - als Text - am Medium der Suche selbst. Oliveiras Fortgang hat seine Freunde zumindest in den Augen des Lesers - gleichfalls in Suchende verwandelt. Gregorovius' Antwort auf Magas verwunderte Frage, weshalb er Paris eine »Metapher« nenne, ist selbst ein Exempel dessen, was oben als »Arbeit am Signifiant« bezeichnet wurde: »- Él anda por aquí como otros se hacen iniciar en cualquier fuga, el voodoo o la marihuana, Pierre Boulez o las máquinas de pintar de Tinguely. Adivina que en alguna parte de París, en algún día o alguna muerte o algún encuentro hay una llave; la busca como un loco. Fíjese que digo como un loco. Es decir que en realidad no tiene conciencia de que busca la llave, ni de que la llave existe. Sospecha sus figuras, sus disfraces; por eso hablo de metáfora.« (R 160)
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B (126, 79, 62, 124, 128, 134, 141, 109, 60): In der dritten Serie der »capítulos prescindibles« dominiert wiederum - wie in der ersten - die theoretische bzw. metatextuelle Reflexion. Sechs der neun Kapitel gehören zur Serie der »Morelliana«: Kapitel 128 zitiert einen kurzen Text A. Artauds, Le pèse-nerfs, der den Gedanken eines »poetischen«, vitalen - im Gegensatz zum physikalischen stehenden r Raumes erwägt. Nur Kapitel 126 und 134 handeln von nichtästhetischen Gegenständen: das erstere, ein Zitat aus Achim von Arnim, von der Liebe als Einbruch in fremde Individualität; das zweite, ein dem Almanaque Hachette entnommener Text, von den Vorteilen der englischen gegenüber der französischen Gartenbautradition. Der gemeinsame Nenner der »Morelliana«-Texte - mit Ausnahme von Kapitel 60, das die lange Liste jener Autoren und Künstler anführt, denen Morelli sich verbunden fühlt - liegt auf der Ebene einer - der Ausdruck sei gestattet - literatur-p/¡;7osop/n'schen Reflexion. Diese betrachtet den literarischen Text nicht nur hinsichtlich seiner 'immanenten' Struktur - als Teil lediglich der literarischen Reihe -, sondern hinsichtlich seiner Funktion im Kontext des übergreifenden, allgemeinen Systems der Kultur. Die kulturelle Funktion des literarischen Textes besteht nach Morelli in der Möglichkeit einer Transzendierung des Aprioris abendländischer Kultur: Kapitel 62 zitiert in diesem Zusammenhang eine auf den Schweden Holgar Hyden zurückgehende biochemische Theorie des Denkens, deren tentative Applikation im Bereich der Literatur die kulturellen abendländischen Postúlate der Einheit der Person, des moralischen Handelns bzw. der Freiheit menschlichen Wollens potentiell suspendiert. Die AußerKraft-Setzung traditioneller Werte ist jedoch kein anarchistischer Selbstzweck; sie dient vielmehr - wie Morelli in Kapitel 124 formuliert - der Annullierung »[de] las quimeras de una realidad mediatizada y traicionada por los supuestos instrumentos cognoscitivos« (R 558). Sie dient mithin der Erstellung eines Textes, dem es gelingt, - im Verlöschen der »ultima chispa de (falsa) humanidad« (R 558f.) - »insinuar otros valores« (R 452). Das anti-humanistische Kultuimodell des Kapitels 62 ebenso wie die anti-literarische bzw. anti-romaneske Theorie des »roman comique« (ebd.) sind insofern orientiert an einem Ziel, das Morelli in Kapitel 79 mit dem Neologismus »antropofania« (R 453) umschreibt. Morellis Schreibweise - »la autodestrucción virtual en cada fragmento del libro« (R 604) - ist deshalb vergleichbar einer »búsqueda del metal noble en plena ganga« (ebd.). Es ist das Projekt einer Literatur, die den Leser, indem sie ihm die Erfahrung einer »unerträglichen Ambiguität« (R 604) zumutet, aus der »Rezipienten«-Rolle des »lector-hembra« (R 452) herausreißt, um ihn in die Rolle des ko-produzierenden, die »gran rosa policroma« als »figura, imago mundis« (R 533) verstehenden »lector-cómplice« (R 454) hineinzuversetzen. AB: Auch die dritte Sinnfigur ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Konvergenz.
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Die Kombination der beiden Serien produziert in mehreren Fällen die Figur der Replik: So folgt Oliveiras Reflexion über Maga (Kapitel 21) auf die romaneske Problematisierung der Liebe bei Achim von Arnim (Kapitel 126); so führt die Theorie des »roman comique« (Kapitel 79) Aspekte des im Dialog mit R. Crevel erörterten Sprachproblems (Kapitel 21) weiter; so kommentiert die subjekt-lose Handlungstheorie aus Kapitel 62 auch die Erfahrung der »incomunicación total« (R 119), wie sie Oliveira beim Verkehrsunfall des alten Morelli gemacht hat. Und ist nicht auch Oliveiras Ausharren an der Seite der absurden Berthe Trépat Ausdruck eines unfreiwilligen Versuchs, »(de) créer en nous des espaces à la vie« (R 566), eben jener poetischen Erfahrung von Räumen, »qui n'étaient pas et ne semblaient pas devoir trouver place dans l'espace« (ebd.), von welcher in Artauds auf Kapitel 23 folgendem Text die Rede ist? Ebenso greifen die dem Gespräch Magas mit Gregorovius zwischengeschalteten »Morelliana«-Kapitel zentrale Gesichtspunkte der im Gespräch erörterten Suche Oliveiras auf - so insbesondere Kapitel 109, das sich ausschließlich mit dem von Gregorovius eingeführten Begriff der »Figur« beschäftigt. Andererseits: Nicht alle Ebenen der in A erzählten Handlung partizipieren in gleichem Maße an der durch B bezeichneten Ebene der Bedeutung. Protagonisten der Handlung sind nicht nur die Erwachsenen Oliveira und Berthe Trépat, Maga und Gregorovius, sondern zugleich das von Maga versorgte Kind Rocamadour. Die wortwörtliche Verdrängung des Babys aus dem Geltungsbereich intellektueller Verantwortung (»Eso es cierto, el chico no entraba en mis cálculos.« [R 101]), die ausdrückliche Unterordnung seiner unter die Rechte des Suchenden (»No me quedo por solidaridad ni por lástima ni porque hay que darle la mamadera a Rocamadour.« [/? 103]) sind Akte praktizierter Ex-kommunikation, flagrante Verstöße gegen das humane Ziel der Suche als »antropofania«, jedoch auch gegen die Maxime einer »verdadera moral de la acción« (R 474), derzufolge Oliveira es doch ablehnen wollte, »[ser] santo a costa de otro« (R 475 - Hervorh. WB.B.). Das sprach-lose Schweigen des schlafenden Kindes (»Rocamadour se ha dormido dijo la Maga, sacudiendo el cigarillo -.« [/? 159]) markiert auf der Ebene der Handlung - den erwähnten Indizien der 'Konvergenz' zum Trotz - mithin erneut ein entscheidendes, weder durch die Spekulationen der »Morelliana« noch die Diskussionen Magas und Gregorovius' aufhebbares Motiv der Differenz. IV. Sequenz A (28): Der in Kapitel 28 erzählte Tod Rocamadours ist eine 'Katastrophe' im traditionellen Sinne des Wortes. Er ist das eigentliche 'Ereignis' des handlungsarmen ersten Teils Peripetie auf der Ebene der Konstellation der Personen (definitive Trennung der 'Protagonisten' Maga und Oliveira; Auflösung des Club de la Serpiente) sowie auf der
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Ebene des Chronotopos (Oliveira verläßt Paris und kehrt heim nach Buenos Aires), Peripetie jedoch auch - und vor allem - für die evulative Ebene der Handlung als Suche: »Escándalo de los escándalos« (R 197) bedeutet das Ereignis des Todes das Ende der philosophischen Prätentionen des Intellektuellen-Clubs, des Versuchs einer diskursiven Lösung der »Dicotomías occidentales [...] Vida y muerte, más acá y más allá.« (R 189) 'Erfüllung' der paradoxen Sinnfigur der ersten Sequenz - der durch das Syntagma I:AB produzierten semantischen Asymptote -, emanzipiert das Ereignis des Todes die Handlung endgültig vom Postulat psychologischer Mimesis und verleiht ihr die Funktion eines autonomen, auf diskursive Inhalte irreduziblen Bedeutungsträgers der Suche: Erst durch den Tod Rocamadours wird Oliveira auch auf der Ebene der Handlung tatsächlich zum Suchenden. Die Dominanz der durch den Signifiant /Tod/ repräsentierten Handlung gegenüber der diskursiven Ebene der Reflexion gewinnt in Kapitel 28 Ausdruck mittels des narrativen Verfahrens »objektiver« Ironie 122 : Oliveira kehrt müde und durstig vom Konzert der Berthe Trépat zurück, findet Maga und Gregorovius sowie den schlafenden Rocamadour (»Rocamadour duerme el sueño de los justos« [/? 173]), läßt sich von Maga mit Mate versorgen und entdeckt schließlich, daß der scheinbar schlafende Rocamadour in Wirklichkeit tot ist, sein Körper bereits Symptome von Todesstarre zeigt. Oliveira versucht anspielungsweise das Gespräch auf den Toten zu lenken, wird jedoch durch Ronald, Babs und Etienne unterbrochen, die gekommen sind, um von einem Selbstmordversuch des Club-Mitglieds Guy zu berichten. Oliveira teilt Ronald - wie zuvor Gregorovius - den Tod Rocamadours mit und läßt sich anschließend widerstandslos in eine ausgedehnte Erörterung über Tod, Totenkult und Todesphilosophie verwickeln. Angesichts der handgreiflichen Präsenz des Todes ist die Funktion des Gesprächs seines metaphysischen Ernstes zum Trotz manifest: Es dient dazu, den Zeitpunkt der Entdeckung des 'Unsagbaren' durch die Mutter - Maga hat als einzige in der Runde den Tod Rocamadours nicht bemerkt - hinauszuschieben. Gilt dies im Hinblick auf die pragmatische Dimension des Gesprächs, so gilt Ähnliches auch für seine referentielle Funktion: Weder im Verweis auf den Totenmythos des »Bardo« (R 187) noch dessen psychoanalytische Aktualisierung bei Jung (R 188) noch auch in der zum x-ten Mal debattierten Problematik des Begriffs einer angeblich »objektiven Realität (R 190) gelangt das absurde Faktum des Todes zur Präsenz einer Bedeutung. Insofern - d.h. im Hinblick auf die Erfahrung der jeder 'Bedeutung' spottenden und insofern der Pragmatik eines moralisch 'adäquaten' Verhaltens außer Kraft setzenden Realität des Todes - besteht zwischen dem philosophischen Zynismus des Gesprächs und der Frivolität der durch die Entdeckung Magas ausgelösten hektischen Aktivität der Freunde - Ronald und Babs legen Rocamadour in eine provisorische Totenwiege, Babs versorgt Maga mit Kölnisch Wasser, Etienne beruhigt den randalierenden Alten von oben (»Ta gueule, pépére« [R 203]) - kein prinzipieller Unter122 Vgl. Allemann 1956.
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schied: Die Erfahrung des Todes manifestiert sich nicht weniger in der Geste wortlosen Schmerzes der Maga - »con la cara y las manos pegadas a un muñeco indiferente y ceniciento que temblaba y se sacudía« (/? 201) - als in dem gleichgültigen »Vamos« (/? 205), mit welchem Oliveira das Totenzimmer und Maga, die ihn vom Bett mit einem letzten Blick zu erreichen sucht, hinter sich läßt. B (130, 151, 152, 143, 100, 76, 101, 144, 92, 103, 108, 64, 188, 123, 145, 122, 112, 154, 85, 150, 95, 146): Die Folge der 22 (!) »capítulos prescindibles«, die an die Peripetie des Kapitels 28 anschließt, ist ein aus vier ineinander verschachtelten Textgruppen bestehendes, das aus den vorangegangenen Sequenzen bekannte Kompositionsgesetz der Serien AB wiederholendes Syntagma. Die erste Gruppe besteht aus drei Zeitungstexten, einem Text von Jean Tardieu sowie einem Aphorismus aus Cortázars eigener Feder. Das verbindende Band der Texte ist ihre Heterogenität: Kapitel 130 enthält eine im Observer abgedruckte Information des British Medical Journal, die Gefahr von Vorhautverletzungen bei Kindern beim Gebrauch von Hosen mit Reißverschlüssen betreffend; der zweite Text ist die Anfrage eines Lesers nach den Gründen für die sinkende Anzahl der zu beobachtenden Schmetterlinge (Kapitel 145); die Sunday Times informiert, daß sich die Gräfin von Grafton ein Bein gebrochen hat und hospitalisiert ist (Kapitel 150); der mit »Bewußtseinsmißbrauch« betitelte Text Tardieus handelt von einem ganz nach dem Ebenbild seines Bewohners geschaffenen Haus, das sein Besitzer trotz allem nicht als sein eigenes anerkennt: »[...] no se vaya a pretender que soy yo! ¡Vamos! Todo es falso aquí. Cuando me hayan devuelto mi casa y mi vida, entonces encontraré mi verdadero rostro.« (R 621) Der Aphorismus Cortázars vergleicht das menschliche Leben mit einem in einer Zeitung abgedruckten literarischen Text - voller Prunk auf der ersten Seite, »y rematando en una cola desvaída, allá por la página treinta y dos, entre avisos de remate y tubos de dentífrico« (R 465). Die zweite Gruppe besteht aus vier »Morelliana«-Texten: Morelli vergleicht die Tendenz zur »des-antropomorfizaciön« der modernen Naturwissenschaft mit jenem sowohl im Buddhismus, der Vedanta, dem Sufismus als auch der okzidentalen Mystik vorfindlichen Motiv, »renunciar de una vez por todas a la mortalidad« (R 620); in Kapitel 145 zitiert Morelli einen Text aus Gombrowicz - dem Vorläufer des modernen Antiromans -, in welchem der Autor den Begriff der Partialität zum Grundmotiv seines Werkes erklärt; Kapitel 112 definiert den prosaischen, antirhetorischen Stil Morellis als »mero vehículo de información« (R 538); Kapitel 95 ist eine mit 7 aufeinander Bezug nehmenden Fußnoten versehene - insofern die Formel sowohl einer 7fachen 'Meta'-Reflexion als auch die Zen-Methode selbst ikonisierende - Erörterung
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der Beziehung Morellis zum Zen-Buddhismus123: Das Ziel der Zen-Rezeption Morellis besteht in der Erprobung einer der abendländischen Denktradition entgegengesetzten inneren Erfahrung - ein Ziel, dem die 6. und die 7. Fußnote indessen ihre ganz und gar abendländische Inspiration entgegenhalten. Die Funktion der dritten Gruppe ist eine doppelte: Sie besteht einmal in der handlungslogischen Fortschreibung von Kapitel 22 und lüftet das Geheimnis der Identität des in einen Verkehrsunfall verwickelten 'Alten'. Es handelt sich um den Schriftsteller Morelli. Oliveira und Etienne besuchen ihn im Hospital und erhalten die Erlaubnis zum Lesen seiner Papiere (Kapitel 155, 123, 122, 154); das Handlungsmotiv des Krankenbesuchs ist jedoch andererseits überlagert von der Oliveira beschäftigenden, in Kapitel 100 mit Etienne telefonisch erörterten und von beiden Seiten in den folgenden Kapiteln weiter diskutierten Problematik der Beziehung von Traum und Realität; dazu paßt - thematisch - das die Gruppe einleitende Kapitel 143, welches - im Vorgriff auf den zweiten Teil des Romans - von den Traumerlebnissen Travelers bzw. Talitas berichtet: Beide träumen, obwohl die Nacht im gleichen Bett verbringend, immer verschiedene Träume. Die verbindende Thematik der vierten Gruppe (Kapitel 76, 101, 144, 92, 103, 108, 64) ist die Darstellung verschiedener Weisen erotischer (Grenz-) Erfahrungen: Das Beobachten von Polas Hand: »Usted movía esa mano como si estuviera tocando un límite, y después de eso empezaba un mundo a contrapelo en el que por ejemplo yo podía ser su bolso y usted el Père Ragon.« (R 446) Das Liebesspiel mit Pola und Maga als Erfindung einer Welt: »Sólo el placer en su aletazo último es el mismo; antes y después el mundo se ha hecho pedazos y hay que nombrarlo de nuevo, dedo por dedo, labio por labio, sombra por sombra.« (R 481) Die Biologie des schlafenden Körpers als Mikrokosmos einer »química infinitamente rica y misteriosa y remota y contigua« (R 521). Die prekäre Artistik der Kreidezeichnungen des Boul'Mich' als Metapher der an Brustkrebs erkrankten Pola (R 421 f.), der Schmutz der Clocharde als Indiz der Erfahrungen des »Anderen« (R 526ff.) und schließlich der Körper der Maga als Manifestation von »figuras iniciales y finales« (R 612). AB: »Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder fixement«, sagt der Moralist des 17. Jahrhunderts124: Für den Moralisten des 20. Jahrhunderts - »Moralista Horacio, temeroso de pasiones sin una razón de aguas hondas« (R 483) - besteht das Problem eher 123 Vgl. Csep 1980; Sarduy 1967. 124 La Rochefoucauld: Maximes, 1967: 13 (Max. 26).
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darin, über den Tod zu sprechen. Die Totenrede - die Rede über den Tod (hinaus!) -, dies wäre die Aie/a-Sprache par excellence: »Basta mirar un momento con los ojos de todos los días el comportamiento de un gato o de una mosca para sentir que esa nueva visión a que tiende la ciencia, esa des-antropomorfización que proponen urgentemente los biólogos y los físicos como única posibilidad de enlace con hechos tales como el instinto o la vida vegetal, no es otra cosa que la remota, aislada, insistente voz con que ciertas líneas del budismo, del vedanta, del sufismo, de la mística occidental, nos instan a renunciar de una vez por todas a la mortalidad.« (R 620) Doch Morellis Idee einer »antropofania« ist ebenso unvereinbar mit dem Standpunkt einer durch den naturwissenschaftlichen Objektivismus vorausgesetzten »desantropomorfización« wie mit dem die Endlichkeit menschlicher Existenz ins Absolute entgrenzenden sub specie aeíermía/j's-Standpunkt 125 der Mystik. Als Versuchung des Logozentrismus ist die mystische Erleuchtung zwar ein die Suche der OliveiraMorelli-Cortázar stets begleitendes Motiv, ihrer semiotischen Struktur zufolge ist die vierte Sequenz jedoch gleichwohl die Demonstration eines Weges - den Oliveira in Kapitel 36 beschreiten wird -, »que llevaba al kibbutz del deseo, no ya subir al Cielo (subir, palabra hipócrita, Cielo, flatus vocis), sino caminar con pasos de hombre por una tierra de hombres hacia el kibbutz allá lejos pero en el mismo piano« (R 253). Die Sinn-Figur der vierten Sequenz ist die Erfahrung des Todes als Signifiant-katexochen, zugleich die Erfahrung der Unmöglichkeit, 'über' den Tod - als Objekt, als existentielle Realität - zu sprechen. Die Toten -Rede der Freunde, der vergebliche Versuch, die 'Bedeutung' des Todes auf der Ebene philosophischer Meta-Sprache zu fassen, ist deshalb immer schon »écriture« - als Ausdruck menschlicher Endlichkeit (»signifiant«) prinzipiell auf der gleichen Ebene befindlich wie der die B-Serie eröffnende Ofoerver-Artikel über die Gefahren des Reißverschlusses bzw. die die Serie abschließende Klage des Observer-Lesers über die ökologische Dezimierung des Schmetterlings. Die Bedeutungsfunktion der B-Serie gegenüber der A-Serie hinsichtlich der Thematik des Todes im allgemeinen sowie der von Oliveira mehrfach thematisierten Problematik moralischen Handelns im besonderen ist mithin weder diejenige einer frivolen Entschuldigung noch diejenige einer moralischen Verurteilung - beides Varianten eines der Realität des Todes gegenüber als Metasprache funktionierenden »signifié transcendantal«. Sie liegt vielmehr in der Fort-Schreibung der 'unaussprechlichen' Erfahrung des Todes in Kapitel 28 - einer Erfahrung, zu welcher auch die im Zentrum der B-Serie stehende Thematik des Eros keinen Widerspruch darstellt: Oliveiras Liebespartner ist einerseits Maga - eine Liebe, über deren 'Ende' uns spätestens 125 Cortázars persönliche Ablehnung eines traditionell »mystischen« Standpunktes ist kategorisch (vgl. M 2: 18), andererseits konzediert er unumwunden: »Los místicos fueron los hombres más libres que se pueda imaginar.« (A/ 88:9)
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Kapitel 20 ausführlich ins Bild setzt -, andererseits die vom Brustkrebs gezeichnete Pola. Letztere »está enferma y sola, la voy a ver, hacemos el amor todavía, pero basta, no quiero convertirla en palabras, ni siquiera con vos«, sagt Oliveira zu Maga (R 531 - Hervorh. W.B.B.). Signifiant der Endlichkeit wie der Tod, entzieht sich auch die Liebe jener von Freud restituierten abendländischen Dichotomie »Vida y muerte, más acá y más allá« (R 189) V. Sequenz A (29-34): Die fünfte Sequenz ist eine Art Intermezzo. Die erzählten Ereignisse stehen weiterhin im Zusammenhang mit Rocamadours Tod: Oliveira kehrt in Magas Wohnung zurück und findet statt ihrer Gregorovius vor. Die Versionen über Magas Verbleiben gehen auseinander. Sie selbst sprach gleichzeitig von der Absicht, nach Montevideo wie auch nach Italien zu reisen; Babs berichtet, Maga leiste Krankenpflegedienste bei Pola und schließlich läßt die Ähnlichkeit einer in der Seine aufgefundenen Toten mit Maga sogar den Gedanken an einen Selbstmord aufkommen (vgl. R 210f.) Gregorovius berichtet weiter von den Ereignissen am Abend des Todes (Kapitel 30) und lenkt das Gespräch schließlich auf Oliveiras eigene Person. Doch der Tod Rocamadours, das Verschwinden der Maga haben - so scheint es - Oliveiras Suche dem Bereich dialogischer Kommunikabilität entzogen: »Vos en el fondo te das cuenta que ya no puedo decirte nada, ni a vos ni a nadie.« (R 219) Daraufhin läßt Gregorovius ihn allein. (Kapitel 31) Die folgenden Kapitel sind eine Art fiktives Zwiegespräch Oliveiras mit Maga und Rocamadour auf der Ebene »figuraler« Sinnproduktion: Oliveira liest zunächst einen von Maga an das »bébé Rocamadour« gerichteten Brief (Kapitel 32 und 33), sodann einen Abschnitt aus einem von Maga zurückgelassenen Roman von Pérez Galdós (Kapitel 34). Kapitel 35 schließlich berichtet von einem letzten Treffen des Club de la Serpiente: Die betrunkene Babs verwickelt Oliveira in einen Streit, nennt ihn herausfordernd »inquisidor« und provoziert damit die endgültige Auflösung des Clubs. B (107,113, 5 7 , 7 0 , 1 4 7 , 1 3 2 , 6 1 , 6 7 , 83,142, 8 7 , 1 0 5 , 9 6 , 94,91, 82, 99, 121): Die 18 Kapitel der B-Serie lassen sich drei, aus je sechs Kapiteln bestehenden Textgruppen zuordnen. 1. »Morelliana«: Der erste Text - von Morelli im Hospital verfaßt - enthält eine metaphorisch verschlüsselte Reflexion zur Problematik des Verhältnisses von Autor und Werk. Seine 126 Vgl. Anmerkung 97!
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Freunde, so teilt Morelli mit, werden nach seinem Tod eine Statue herstellen lassen, die ihn als Wasserspeier am Rande eines Froschteiches zeigt. Für ein Geldstück spuckt er Wasser in den Teich, so daß sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer schnell von der Statue weg auf die Frösche verlagert (Kapitel 107). Kapitel 61 enthält in Form einer »nota inconclusa« den Gedanken an ein die Fäulnis des Körpers überdauerndes transzendentes Sein als »lo otro« (R 413). Wie das vorangehende reflektiert auch Kapitel 105 das Problem von Zeit und Identität und stellt angesichts der Konstitution unseres »Ich« durch die in Vergessenheit geratenen Gesten und Worte die skeptische Frage nach dem, »[...] lo que fuimos antes de ser esto que vaya a saber si somos« (R 523). Kapitel 82 und 94 sind verschiedenen Aspekten einer Phänomenologie des Schreibens gewidmet, während Kapitel 121 ein satirisches Gedicht Ferlinghettis zitiert. 2. »Club de la Serpiente«: Die zweite Textgruppe besteht in der Hauptsache aus zwischen Mitgliedern des Clubs geführten Gesprächen: Kapitel 113 ist eine unzusammenhängende Folge kurzer Aphorismen, formuliert auf dem Weg von der »Rue de la Glacière hasta la Rue du Sommerand«; die Thematik - die Willkür christlicher Zeitrechnung; die Frage nach dem »uso original de la palabra«; Morelli; Pola; Klages - läßt vermuten, daß der reflektierende Spaziergänger Oliveira heißt. In Kapitel 57 diskutieren Gregorovius und Oliveira Ubiquitätserlebnisse bei Wachträumen und ihre theoretische Verarbeitung bei Morelli sowie im Zen. Gegenstand des in Kapitel 42 zwischen Etienne und Ronald geführten Gesprächs ist der Versuch, die rätselhafte Persönlichkeit der Maga zu ergründen. Kapitel 96, 91 und 99 zeigen den Club in verschiedener Zusammensetzung, die Papiere Morellis sichtend, lesend und diskutierend. 3. »Sonstige«: Die dritte Gruppe besteht wiederum aus einer 'freien', in keinerlei Bezug zur Makrostruktur von A stehenden Folge von Texten. Eine gewisse Einheit erhalten sie jedoch durch die Thematisiening philosophischer Probleme: Kapitel 70 zitiert einen Text aus Meister Eckhardt über die Bitte der Seele um Einheit mit dem Absoluten. Kapitel 147 fragt nach der wahren »epifanía« (R 616). Sie bedarf, damit sie Wirklichkeit werde, eines »Novum Organum de verdad« - der Lösung mithin aus der fatalen Tradition der »dialéctica judeocristiana« (ebd.). Kapitel 132 nennt die Geographie der Pariser Cafés ein »territorio neutral para los apátridas del alma« (R 576) und vergleicht ihren Effekt mit der paradiesischen Erfahrung des Traums. Die Funktion der Traumwelt besteht laut Kapitel 67 darin, daß wir ein dem Realitätsprinzip nicht länger unterworfenes Universum erleben - »plástico, cambiante, lleno de maravilloso azar, un cielo elástico, un sol que de pronto falta o se queda fijo o cambia de forma« (R 426f.). Kapitel 83 erklärt »la invención del alma por el hombre« (R 459) als not-
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wendige und unausbleibliche Folge der Erfahrung unserer Körperlichkeit als NichtIch. Kapitel 87 schließlich zitiert einen Blues von Duke Ellington, dessen kunstloser Text trotz allem Nachdenken verdient: »I get the blues down North,/ The blues down South,/ Blues anywhere [...] ¿Por qué, a ciertas horas, es tan necesario decir: 'Amé esto?'« (R 468) Weil - so heißt es am Ende - die Dinge auch als kleine, unbedeutende (»unos blues«) - ihren Platz im Gedächtnis bewahren. AB: Die Sinnfigur der fünften Sequenz ist von außergewöhnlicher Komplexität. Ihre allgemeine Struktur ist die folgende: 1. Fortschreibung der Handlung: Schon im Rahmen der vierten Sequenz erhalten die in B erzählten Besuche der ClubMitglieder Oliveira und Etienne bei Morelli gegenüber der in A erzählten 'Haupt'handlung eine selbständige Funktion. Die fünfte Sequenz dagegen expandiert die Besuche in einer Weise, die ihnen gegenüber A die Funktion einer alternativen Handlung verleiht. Auch wenn Haupt- und Alternativhandlung, wie aus Kapitel 57 und 96 zu schließen, 127 chronologisch miteinander verbunden sind - die Besuche des Clubs bei Morelli finden statt in der kurzen Zeitspanne zwischen Rocamadours Begräbnis und dem endgültigen Auseinanderbrechen des Clubs (Kapitel 35) -, kommt in der Expansion von B eine Sinndeutung zur Geltung, welche diejenige der A-Serie tendenziell neutralisiert: A ist die Geschichte eines fortschreitenden Prozesses der Sprachlosigkeit angesichts der Erfahrung des Todes, manifestiert im physischen Verstummen der Maga, der demonstrativen Inkommunikation zwischen Gregorovius und Oliveira sowie der schließlichen Auflösung des Clubs: B dagegen ist die Geschichte des fortgesetzten Gespräches - nicht nur als die Rede der Personen miteinander, sondern vor allem - 'referentiell' - als Rede über das Werk Morellis, den Gegenstand also der »écriture«. 2. Über den Tod hinaus - schreiben: Die Pointe der vierten Sequenz ist - wie oben dargelegt - die Annullierung jeder 'meta'-sprachlichen Instanz gegenüber der Grunderfahrung menschlicher Endlichkeit als Tod. Die Erfahrung des Todes ist insofern gleichursprünglich der Erfahrung der Konstitution der menschlichen Existenz als »écriture«. Was heißt das? Jedenfalls nicht - so belehrt uns die fünfte Sequenz -, daß damit gemäß einer trivialisierten Rezeption des 'Existentialismus' die Position der Endlichkeit ihrerseits in den Rang eines vermeintlichen »signifié transcendantal« gehoben würde. Die dominierende Sinnfigur der fünften Sequenz ist deshalb - angesichts der einem Zustand von Sprachlo-
127 »Esta mañana le estuve contando a Etienne unos sueños muy bonitos. Ahora mismo se me estaban mezclando con otros recuerdos mientras vos disertabas sobre el entierro con palabras tan sentidas. Realmente debe haber sido una ceremonia emotiva, che.« (R 407 - Hervorh. WMJt.)
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sigkeit zustrebenden 'Geschichte' - diejenige der »Transzendenz« 128 : Sowohl Morellis ironische Überlegung hinsichtlich seines Fortlebens als wasserspeiende Witzfigur (Kapitel 107), der mit überraschendem Emst zuende gedachte Gedanke einer der Fäulnis des Körpers enthobenen Ich-Substanz (Kapitel 61; vgl. auch 83) als auch Meister Eckhardts Mystik (Kapitel 70) oder der in verschiedenen Texten immer wieder im Zusammenhang mit Traumerfahrungen zitierte Zen-Buddhismus (Kapitel 57 und 67) bzw. die engagierten Diskussionen des Clubs, die verschiedenen Modi des »Yonder« (R 506ff.) betreffend, artikulieren in diesem Sinne ein verschiedenen Kulturen, Zeiten, Personen und Umständen gemeinsames Streben, die Grenzen gegebener - 'endlicher' - Realität zu überschreiten. 129 Die Transzendenz-thematik findet ihre Fortsetzung auf der textuellen Ebene: Kapitel 34 ist nicht nur - wie oben gezeigt (vgl. 3.1.2.) - der ironische Metatext Oliveiras zu einem Stück realistischer Literatur, sondern ist zugleich - und zwar von Anfang an dank der typographischen Alternierung der beiden Texte - die Realisierung der dialogischen Sinnfigur, die der Kommentar am Ende erwähnt. Wie Kapitel 34 die verschwundene Maga, so ver-gegenwärtigt Kapitel 32 seinerseits den toten Rocamadour: Resultat jener in Kapitel 61 benannten »operación todavía inconcebible por la que dejaría de ser podredumbre [...]« (R 413), ist der »Brief an Rocamadour« die faktische Transzendierung des armseligen Endes des Babys im Medium der »écriture«. VI. Sequenz A (36-40) Das Einteilungsprinzip der sechsten Sequenz entspricht der Sinnfigur des »zweiten«, nicht der Kapiteleinteilung des »ersten« Buches: Diesem zufolge unterscheiden sich die beiden Teile der Handlung auf der Ebene des Chronotopos: »del lado de allá« als Paris und »del lado de acá« als Buenos Aires. Kapitel 36 ist insofern das 'Ende' des ersten Teils der Handlung in Europa. Im Lichte der Sinnfiguren des zweiten Buches dagegen ist der eigentliche Hiatus der Handlung der bereits in Kapitel 35 erzählte Tod Rocamadours, das Verschwinden der Maga sowie die Auflösung des Clubs. In Kapitel 36 dagegen gewinnt die Handlung als die Geschichte der Suche eine neue Qualität, für welche der Ortswechsel Paris-Buenos Aires eigentlich nur akzidentelle Bedeutung besitzt 130 : Oliveiras Reisegepäck beim Betreten argentinischen Bodens ist 128 Dem philosophischen Apriori dieses Gedankens hat - wie uns scheint - J.-P. Sartre am klarsten Ausdruck verliehen. Vgl. Sartre 1943: 21 lff. (vgl. Anmerkung 119). Cortázar entdogmatisiert indessen die rationalistisch eingeengte Bestimmung des Begriffs der Transzendenz, wie ihn Sartre im Rahmen der Definition eines »existentiellen Humanismus« verwendet, indem er den Begriff (rilck-) Ubersetzt in den unbegrenzten Signifiant kultureller Überlieferung. 129 Niemand hat der Paradoxic dieses beständigen Transzendierens einer gleichwohl immer wieder zu den Grenzen immanenter Erfahrung zunickkehrenden Bewegung in Rayuela beredteren Ausdruck verliehen als J. Lezama Lima in seiner Rezension des Romans. Vgl. Lezama Lima 1972. 130 Die eigentliche argumentative Basis für diese Bewertung der Rückkehr nach Buenos Aires, sofern sie zu der oben gegebenen, aus einer isolierten Betrachtung der Kapitel 36 und 56 resultierenden Einschätzung der Rückkehr (vgl. 2.1.4.2. und 2.1.4.3.) im Widerspruch zu stehen scheint, ergibt sich erst als Resultat der Zusammenschau der Se-
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jene in Paris mit Berthe Trépat und Emmanuele erprobte »Erfahrung des Anderen«, ein Sinnangebot, dessen Signifiant - wenn schon nicht durch die Pariser »Metapher« (R 159) - erst recht nicht im bodenständigen (Klein-) Bürgersinn der Jugendfreunde Traveler und Talita zureichend repräsentiert ist. In der Tat, so erkennen Traveler und Talita alsbald, »Oliveira no podía reconciliarse hipócritamente con Buenos Aires [...] estaba mucho más lejos del país que cuando andaba por Europa« (R 268). Fürs erste indessen fügt sich Oliveira den sozial-ökonomischen Bedingungen seiner Heimat widerspruchslos ein: Während Traveler zunächst ohne Erfolg versucht, ihn im Zirkus, in welchem er und seine Frau beschäftigt sind, unterzubringen, verdingt sich Oliveira als Vertreter für Mantelstoff-Coupons und bezieht bei seiner Freundin - »der armen und selbstlosen Gekrepten« (R 268) - bescheidenes Quartier. B (98, 86,78, 59): Die B-Serie der sechsten Sequenz besteht lediglich aus vier Kapiteln: In Kapitel 98 reflektiert Oliveira einmal mehr sein Verhältnis zu Maga: Sie erscheint ihm als ein noch in seinen unscheinbarsten Manifestationen bedeutsames Universum von Sinn, ein Territorium subtiler »Zeichen« (R 499), zu dem ihm nichtsdestoweniger - eine paradoxe und skandalöse Erfahrung für die Prämisse der »comunicación« (ebd.) - der Zugang auf immer verschlossen bleibt: »Ella era incapaz de mostrarme nada dentro de mi terreno, incluso en el suyo giraba desconcertada, tanteando, manoteando.« (R 499) Kapitel 86 referiert aus der Sicht des lesenden Clubs zwei unter den Papieren More Iiis zu findende Zitate: Das erste erwägt - aller 'Erkenntniskritik' zum Trotz - den Gedanken eines Ortes, »desde donde pueda percibirse la realidad entera« (R 466); das zweite dagegen sieht den Zugang zu einem solchen Ort verschlossen durch die unübersteigbare binäre Konstitution des menschlichen Erkenntnisapparates. Um das Wesen der Realität 'an sich' zu verstehen, bedürfte es eines Denkens, dessen binäres Funktionieren ersetzt wäre »por una conciencia analógica que asumiera las formas y asimilara los ritmos inconcebibles de esas estructuras profundas ...« (R 467) Der lange Monolog in Kapitel 78 ist ein - gemessen an Oliveiras hartnäckiger Schweigsamkeit in A - wortreiches und für den Verlauf der Handlung sowie die Entwicklung der Personenkonstellation aufschlußreiches 'Aparte'-Sprechen des Protagonisten: Wie gegenüber der Maga seine Rolle als Liebhaber ist auch gegenüber Traveler und Talita seine Rolle als Freund die des »Suchenden« (»inquisidor cariñoso« [/? 451]). Der sich hieraus ergebende Konflikt ist in gewisser Weise schon vorprogrammiert: »[...] a mí me gustaría entrar en la intimidad de los Traveler so pretexto de conocerlos mejor, de llegar a ser verdaderamente el amigo , aunque en realidad lo que rien VI,A und B als AB (s.u.!).
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quiero es apoderarme del maná de Manú, del duende de Talita, de sus maneras de ver, de sus presentes y sus futuros diferentes de los míos.« (R 450 - Hervorh. W.B.B.) Kapitel 59 schließt die Serie mit einer Bemerkung aus Lévi-Strauss' Tristes tropiques über den Fang ungenießbarer Fische und die Maßnahmen der Behörden (?) zur Reinerhaltung der Strände. AB: Die durchschnittliche Altemierungsfrequenz von A und B ist 1:1, seltener 1:2. Die Fälle dagegen, in denen auf ein einziges 'narratives' Kapitel drei oder mehrere Kapitel der B-Serie folgen, sind selten und markieren für A ein besonderes semantisches Gewicht; so zum Beispiel für die Kapitel 28 (Tod Rocamadours), 34 (Oliveiras Kommentar zu Magas Galdós-Lektüre), 54 (Oliveira und Talita im Leichenkeller) sowie 56 (Schlußkapitel): Der semantische Impuls der A-Kapitel ist durch den eigenen Signifiant noch gleichsam unausgeschöpft; er bedarf der Fortsetzung durch B. Eine Ausnahme aus dieser Regel bildet Kapitel 36: Obwohl der Text einen der Wendepunkte der Handlung markiert - Oliveiras Suche erscheint zum ersten Mal im Lichte der »Rayuela«, als Suche eines Himmels, der »estaba en el mismo plano que la Tierra« (R 253) -, wird der Sinnimpuls des Textes weder durch die Metareflexionen der »Morelliana« noch durch eine 'anderweitige' Handlung der »capítulos prescindibles« aufgehoben: Die 'Transzendierung' des Textes vollzieht sich vielmehr ebenfalls »en el mismo piano«, d.h. als Fortschreibung der Handlung in Buenos Aires in Kapitel 37! Die 'unvermittelte' Kontiguität der Kapitel 36 und 37 ist die eigentliche Sinnfigur der sechsten Sequenz. Sie ist die elementare Erscheinungsform des zentralen Handlungsmotivs des zweiten Teils - desjenigen des »Doppelgängers«: Die durch die Kontiguität der Kapitel suggerierte potentielle Identität des Chronotopos überträgt sich im Verlauf der Handlung auf die Aktanten. Maga substituiert Talita, Oliveira tritt an die Stelle Travelers. Die Antizipation des Konflikts findet statt - wie oben angedeutet - in Kapitel 78. Die Sinnfigur der Kontiguität produziert jedoch nicht nur das (neue) Motiv des »Doppelgängers«, sondern verknüpft die Buenos-Aires-Handlung zugleich mit dem Handlungsmotiv des ersten Teils: Sowohl Kapitel 98 als auch Kapitel 86 thematisieren Grundmotive der 'Suche' - das erstere, indem es die Suche auf einen Bereich 'jenseits von Kommunikation' bezieht; das zweite, indem es die Möglichkeit einer Transzendierung unserer Erkenntnisvermögen zur Diskussion stellt. Die aus der Sinnfigur der sechsten Sequenz sich ergebende Frage betrifft das Verhältnis beider Motive im Verlauf der weiteren Handlung.
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VII. Sequenz A (41-48): Die Sequenz beginnt mit der oben bereits besprochenen Konstruktion einer der Beförderung von Mate, Nägeln und anderen Zeichen dienenden Bretterbrücke - prekärer Signifiant der ihre Bedeutung suchenden, durch die Intervention des »Doppelgängers« (vgl. R 297) alltägliche 'Kommunikation' transzendierenden Konstellation Oliveira/Traveler/Talita. (Kapitel 41) Auch die Gespräche der folgenden Kapitel - Oliveira/Talita (Kapitel 43), Traveler/Talita (Kapitel 44), Oliveira/Traveler (Kapitel 45 und 46) - versuchen die rätselhafte Beziehung der drei Freunde näher zu bestimmen. Die potentielle Verdoppelung der Kommunikationspartner - die Substituierung Talitas durch Maga sowie Travelers durch Oliveira - entziehen sie nicht weniger dem Schematismus der traditionellen Dreierbeziehung (vgl. R 312) als der einfühlenden Wahrnehmung durch »Kommunikation« (vgl. R 326). Travelers Irritation gegenüber Oliveira ist deshalb ebensowenig mit »Eifersucht« wie das Verhältnis Talitas zu Oliveira mit »Liebe« zu umschreiben (vgl. R 318). Was Traveler vielmehr beunruhigt und Talita an Oliveira fasziniert -, ist das unbestimmte, rationaler Faßbarkeit sich entziehende, sozialer Ordnung insofern überhaupt entgegengesetzte Projekt der »Suche« selbst: »Buscás eso que llamás la armonía, pero la buscás justo ahí donde acabás de decir que no está, entre los amigos, en la familia, en la ciudad. ¿Por qué la buscás dentro de los cuadros sociales? - No sé, che. Ni siquiera la busco. Todo me va sucediendo.« (R 327f.) Die Sequenz schließt mit zwei Monologen: Talita spricht einen Text auf ein Tonbandgerät und versucht vergeblich, im Dialog mit der durch das Gerät verfremdeten Stimme Ordnung in ihr durch Oliveira gestörtes Identitätsbewußtsein zu bringen. (Kapitel 47) Im folgenden Kapitel dagegen reflektiert Oliveira ein letztes Mal seine 'Suche': Auch die paradoxe Tatsache seiner - trotz der definitiven Trennung - fortbestehenden, durch den Besuch in Montevideo unter Beweis gestellten 'Liebe' zu Maga erscheint ihm nun als authentischer Akt seiner Suche: »Despacio se fue dando cuenta de que la visita al Cerro había estado bien, precisamente porque se había fundado en otras razones que las supuestas. Saberse enamorado de la Maga no era un fracaso ni una fijación en un orden caduco; un amor que podía prescindir de su objeto, que en la nada encontraba su alimento, se sumaba quizá a otras fuerzas, las articulaba y las fundía en un impulso que destruiría alguna vez ese contento visceral del cuerpo hinchado de cerveza y papas fritas.« (R 338) Suche als Liebe des abwesenden Partners (vgl. 1.2.2.), das heißt: »Caminar con un propósito que ya no fuera el camino mismo.« (R 340) Suche hat somit die Struktur der »Extrapolation«! (ebd.).
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Auf der Ebene der äußeren Handlung bringt die siebte Sequenz für Oliveira eine neue Beschäftigung. Travelers Bemühungen waren erfolgreich: Auch Oliveira arbeitet nun im Zirkus; er betreut eine Nummer mit einem »gato calculista« (R 310). Doch eine Veränderung ist abermals im Gespräch: Der Direktor des Unternehmens schickt sich an, die Leitung einer Irrenanstalt zu übernehmen. (Vgl. R 314) B (148,75,125,102,80,110,111): Alle Texte der B-Serie stehen in mehr oder weniger enger Beziehung zur dominanten Thematik der A-Serie. Dies gilt ebenso für das Motiv des Doppelgängers wie für das der Suche. 1. Die Herausforderung des Doppelgängermotivs für das traditionelle Modell menschlicher Identität ist zunächst dokumentiert im "klassischen' Zitat des Begriffs der »persona« bei Aurelius Gelius (Kapitel 148). Kapitel 75 zeigt uns Oliveira, die Zahnbürste in der Hand, vor einem Spiegel, all dies reflektierend, was ihn vom kulturellen Identitätsbewußtsein seiner Landsleute zu trennen scheint. Allein, jene durch die Form, nicht den Inhalt (»énoncé«), des Textes repräsentierte Identität des Reflektierenden - »un lenguaje sumamente elegante«, wie Cortázar gegenüber L. Harss selbst kommentiert (M 30: 286) - affirmiert die »goethische Heiterkeit« (»serenidad goethiana«) (R 444) der literarischen Zirkel von Buenos Aires, die der »énoncé« des Textes zu überschreiten vorgibt, und zwar die Identität der romantischen Bohème, wie sie Kapitel 111 in den Bekenntnissen der Tänzerin Guitry dokumentiert. All dies hat mit dem Problem einer Suche als »extrapolación« nichts zu tun: Zur Einsicht in die Falschheit 131 seines Weges gelangt, unterbricht Oliveira deshalb seinen Mentaldiskurs und schreibt dem falschen Spiegelbild die Differenz mit Zahnpaste ins Gesicht: »[...] en vez de meterse el cepillo en la boca lo acercaba a su imagen y minuciosamente le untaba la falsa boca de pasta rosa, le dibujaba un corazón en plena boca, manos, pies, letras, obscenidades, corría por el espejo con el cepillo y a golpe de tubo, torciéndose de risa [...]« (R 444) 2. Die vier übrigen Texte der Serie dagegen haben erneut die philosophische Reflexion der Suche zum Thema: Kapitel 125 diskutiert das Problem der Überschreitung des Aprioris abendländischer Kultur. Kapitel 102 enthält zwei vom Club in Morellis Wohnung aufgefundene Zitate - das eine ein Musil-Zitat über die Fremdartigkeit der scheinbar gewöhnlichsten Dinge; das andere ein Hofmannsthal-Zitat über die Verwandlung der Dinge in Funktion der sie betrachtenden Perspektive. Kapitel 80 schließt an die Körper-Seele-Spekulation von Kapitel 83 an und weist auf die erstaunliche Strukturgleichheit von Traum und Irrsinn hin. Wovon die Rede ist, demon131 »Me rebelo contra un cierto uso, un determinado lenguaje que me parece falso, bastardeado, aplicado a fines innobles« (gegenüber L. Haiss, M 30: 286). Und nochmals Kapitel 48: »¿De qué sirve saber o creer saber que cada camino es falso si no lo caminamos con un propósito que ya no sea el camino mismo?« (R 340)
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striert Kapitel 110 durch die textuelle Wiedergabe eines in Anais Nins Winter of Artifice erzählten Traums. AB: Setzt man die Bedeutungsinstruktionen der wichtigsten Texte der beiden Serien zueinander in Beziehung, so läßt sich die aus der sechsten Sequenz offen gebliebene Frage nach dem Verhältnis der beiden Handlungsmotive - Doppelgänger und Suche neu formulieren: 'Gegenstand' der Suche - die Transzendierung des Aprioris abendländischer Kultur (Kapitel 125) - ist dann nicht so sehr das Problem der Bestimmung eines neuen 'Objekts', sondern die Frage nach der Konstitution des 'Subjekts' der Suche. Was immer mit dem Schlagwort der in Kapitel 147 global angeprangerten »jüdisch-christlichen Dialektik« gemeint ist: das Extrapolationsproblem der Suche gewinnt im Lichte der Identitätsproblematik der Kapitel 148, 75 und 111 eine eigentümlich reflexive Struktur: Einerseits ist das Auftreten des »Doppelgängers« bereits ein Ergebnis der Suche selbst (Kapitel 44); andererseits konfrontieren die sich aus der Erscheinung des Doppelgängers ergebenden Probleme für die Konstellation der Personen (Kapitel 46) den Suchenden mit einer neuen Situation: Er selbst - und zwar als Suchender - findet sich impliziert in das Problem des »Doppelgänger«-Seins. Die Bedingung der Möglichkeit der Verwirklichung des eigentlichen Ziels der Suche - sei dieses als »kibbutz del deseo« (R 239), als »Centro« (R 458), als »otro mundo« (R 432) oder schlicht als »armonia« (R 327) bestimmt - ist mithin die Lösung des Doppelgänger-Konflikts. Nur sie ermöglicht es dem Suchenden, einen Weg zu beschreiten »con un propösito que ya no sea el Camino mismo« (R 340). VIII. Sequenz A (49-56): Für die Geschichte der okzidentalen Kultur seit dem Mittelalter ist der Wahnsinn den Analysen Michel Foucaults zufolge - das schlechthin Andere: »la différence qui la limite« 132 . Erfahrung und Überschreitung der Grenzen abendländischer Kultur andererseits sind - wie wir sahen - Angelpunkt und Ziel der Suche Oliveiras. Die Anstellung, die Oliveira, Talita und Traveler in der Klinik Ferragutos - des zum Leiter einer Irrenanstalt avancierten Ziikusdinektors - finden, ist insofern »una especie de paso adelante« (R 342): Thema der achten Sequenz ist die Kulmination der 'Suche' Oliveiras als die Erfahrung des Wahnsinns. Der »dialektischen« Struktur der Erfahrung entsprechend weist die Sequenz zwei Teile auf: 1. Verkehrte Welt: Der erste Kontakt Oliveiras mit der Welt der Irren vollzieht sich ganz im Rahmen der von Foucault beschriebenen 'traditionellen' Kulturerfahrung des Wahnsinns: Die Irren 132 Vgl. Foucault 1966: 15.
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- das sind die Repräsentanten einer am Maßstab der 'Vernunft' gemessen 'verkehrten', deshalb in den abgeschlossenen Raum des »manicomio« zurückgedrängten Welt; Objekte einer am Buchstaben der fortschrittlichen »ley Méndez Delfino« (R 348) orientierten (Kapitel 50), das Recht der Kranken auf Selbstbestimmung jedoch ebensowohl manipulierenden Administration (Kapitel 51); abstraktes Gegenüber der von Ovejero und Remorino streng, hierarchisch und präzis organisierten Pflege-Arithmetik: »Antes de trenzarse en un poker con Ferraguto y Traveler, el doctor Ovejero había autorizado a Talita para que distribuyera limonada sin miedo, con excepción del 6, el 18 y la 31.« (/? 360) »El 56 acababa de morir esperadamente en el segundo piso, había que darle una mano al camillero y distraer a la 31 que tenía unos telepálpitos de abrigo.« (R 361) Die Irren - daran besteht bis Kapitel 53 kein Zweifel - das sind die anderen, Aktanten einer irrationalen, kommunikationslosen Gegenwelt, von den Agenten der der »ley Méndez Delfino« oder der Staatsräson (»en esos días se hablaba mucho de revolución, de que Campo de Mayo se iba a levantar« [R 342]) unterstellten Welt der Vernunft in vemunft-lose Objekte verwandelt. 2. Verkehrtes Subjekt: el mismo - el otro - el doble: Im referierten 1. Teil der Sequenz ist Oliveira als Angestellter Ferragutos in die durch Pfleger, Arzt und Administration repräsentierte Welt der 'Vernunft' integriert. Der durch den Wechsel vom Zirkus zur Irrenanstalt erhoffte »Schritt nach vorn« allerdings bleibt aus. Wie schon in Kapitel 39 insistiert Kapitel 52 auf der Unfähigkeit Oliveiras, mittels Erzählen mit seiner Vergangenheit in Paris zu kommunizieren: »Porque en realidad él no le podía contar nada a Traveler.« (R 358) Die vernünftige, »Raison« und »Déraison« säuberlich trennende Ebene des Pflegepersonals verhindert - trotz räumlicher Nähe - die Anknüpfung an jene Dimension der Erfahrung des Anderen, wie sie Paris im Kontakt mit Berthe Trépat und Emmanuéle bereits ermöglicht hatte. Das Projekt der Suche indes besteht weiter: »La diferencia insalvable, un problema de niveles que nada tenían que ver con la inteligencia o la información, una cosa era jugar al truco o discutir a John Donne con Traveler, todo transcurría en un territorio de apariencia común; pero lo otro, ser una especie de mono entre los hombres, querer ser un mono por razones que ni siquiera el mono era capaz de explicarse empezando porque de razones no tenían nada y su fuerza estaba precisamente en eso y así sucesivamente.« (Ebd.) Im zweiten Teil der Sequenz ist »lo otro« - die Grenzüberschreitung okzidentaler Vemünftigkeit als Wahnsinn - eine konkrete Erfahrung des suchenden Subjekts an
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sich selber: Gleichwohl sind das Erscheinen der Maga als die Rayuela-spielende »figura de rosa« (R 365), der 'Abstieg' in den grotesken »Kühl-Hades« (»Hades refrigerado«) (R 372), Oliveiras Talita berührender, dennoch für eine andere bestimmter Kuß (vgl. R 373) nicht eigentlich Erfahrungen eines 'Wahnsinnigen'; die Pointe des Abstiegs in Kapitel 54 liegt vielmehr darin, daß er für die Perspektive des Suchenden gerade die für okzidentales Denken kategorische Trennung von Vernunft und Wahn, Wachsein und Traum - ja schließlich auch - Leben und Tod momentan neutralisiert: »De alguna manera habían ingresado en otra cosa, en ese algo donde se podía estar de gris y ser de rosa, donde se podía haber muerto ahogada en un río (y eso ya no lo estaba pensando ella) y asomar en una noche de Buenos Aires para repetir en la rayuela la imagen misma de lo que acababan de alcanzar, la última casilla, el centro del mandala [...].« (R 374) Klarstes Indiz für die Realität der Erfahrung ist die plötzlich - zum ersten Mal seit der Ankunft in Buenos Aires - wieder möglich gewordene Erinnerung: »[...] mientras cerraba la puerta de la heladera y se apoyaba sin saber por qué en el borde de la mesa, un vómito de recuerdo empezó a ganarlo, se dijo que apenas un día o dos atrás le había parecido imposible llegar a contarle nada a Traveler, un mono no podía contarle nada a un hombre, y de golpe, sin saber cómo, se había oído hablando le a Talita como si fuera la Maga, sabiendo que no era pero habiéndole de la rayuela, del miedo en el pasillo, del agujero tentador. Entonces (y Talita estaba ahí, a cuatro metros, a sus espaldas, esperando) eso era como un fin, la apelación a la piedad ajena, el reingreso en la familia humana [...].« (R 371 Hervorh. W.B.B.) Die Bedingung der vermeintlichen Versöhnung des Suchenden mit sich selbst und der Menschheit indessen ist die Erscheinung des Doppelgängers. Es ist jedoch gerade das Doppelgängermotiv, das den letzten - und das Ziel der Suche entscheidenden Knoten der Handlung knüpft: Talita kommt zu Traveler zurück und erzählt, daß Oliveira sie mit Maga verwechselt (Kapitel 55). Traveler - schlaftrunken im Bett liegend - reagiert einsilbig und desinteressiert. Erst als Talita sich ihm wie Hilfe - und Erklärung - suchend (»Yo no soy el zombie de nadie, Manú, no quiero ser el zombie de nadie« [7? 377]) an den Hals wirft, scheint er langsam zu begreifen: »[...] y de todo eso nacía como una explicación que Traveler era incapaz de rechazar, un contagio que venía desde más allá, [...] un balbuceo como un anuncio intraducibie, la sospecha de que estaba delante de algo que podía ser un anuncio, pero la voz que no traía estaba quebrada y cuando decía el anuncio lo decía en un idioma ininteligible [...].« (R 377) Traveler reagiert auf den Anruf des Anderen mit einer Hegel-Reminiszenz. Es handelt sich - wenn wir richtig sehen - um jenen berühmten Passus aus der Einleitung
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zu den Vorlesungen über Ästhetik (Werkausgabe, Suhrkamp Bd. 13), der im Zusammenhang mit der schon an dieser Stelle erwähnten Grundthese, »die Kunst (bleibe) nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes« (ebd.: 25), der Kunst gleichwohl einen Vorrang einräumt gegenüber dem »Schein der sinnlichen unmittelbaren Existenz und dem der Geschichtsschreibung«, denn - so formuliert Hegel, plötzlich in pathetische Metaphorik verfallend - »die harte Rinde der Natur und der gewöhnlichen Welt machen es dem Geiste saurer, zur Idee durchzudringen« (ebd.: 23). »Die harte Rinde des Geistes« (»la dura costra mental« [Ä 377]), fährt es Traveler durch den Kopf. Die metonymische Metathesis (Traveler substituiert »Natur« durch »Geist«!) hat Signifikanz 133 : Nicht mehr - wie bei Hegel - die »harte Rinde der Natur« nur gilt es zu durchbrechen, vielmehr ist es die harte Rinde des Geistes - das gründende Fundament des Logozentrismus selbst mithin -, dem sich die Erfahrung des Anderen konfrontiert sieht. Traveler ist sprachlos, verweigert sich der Erfahrung und klammert sich an Handgreifliches, 'Kommunikables': »Oía confusamente que el miedo, que Horacio, que el montacargas, que la paloma; un sistema comunicable volvía a entrar poco a poco en el oído. De manera que el pobre infeliz tenía miedo de que él lo matara, era para reírse.« (R 377f.) Der Anruf des Anderen bleibt ungehört. Schutzsuchend kehren beide zurück zur ehelichen Routine: »Talita se corrió un poco en la cama y se apoyó contra Traveler. Sabía que [...] no se había ahogado, que él la estaba sosteniendo a flor de agua y que en el fondo era una lástima, una maravillosa lástima. Los dos lo sintieron en el mismo instante, y resbalaron el uno hacia el otro como para caer en ellos mismos, en la tierra común donde las palabras y las caricias y las bocas los envolvían como la circunferencia al círculo, esas metáforas tranquilizadoras, esa vieja tristeza satisfecha de volver a ser el de siempre, de continuar, de mantenerse a flote contra viento y marea, contra el llamado y la caída.« (R 378) Die Umarmung bietet Schutz vor der Drohung des Doppelgängers: Ritual des Selben bedeutet sie gleichzeitig jedoch das Ende der Suche als Erfahrung des Anderen. Oliveiras im Anschluß an den 'Abstieg' in seinem Zimmer errichtete »Verteidigungsstellung« (Kapitel 56) dient ebenfalls der Abwehr des »Doppelgängers«. Sie ist 133 »Ahí está - dijo Traveler -. Una ruptura que prueba la perfecta salud central de Ceferino. Horacio tiene razón, no hay por qué aceptar los órdenes tal como nos los alcanza papito. A Ce fe le parece que el hecho de componer alguna cosa vincula al dentista con los expedientes intrincados; los accidentes valen tanto como las esencias ... Pero es la poesía misma, hermano. Ceje rompe la dura costra mental, como decía no sé quién [! ], y empieza a ver el mundo desde un ángulo diferente. Claro que a eso es la que le llaman estar piantado.« (R 581 - Hervorh. WMM.) Vgl. das Wiederauftauchen der »Krusten«-Metapher in Cortázars Theorie des Phantastischen: »Lo fantástico fuerza una costra aparencial [»das Phantastische zerbricht die Kruste der Erscheinungen«], y por eso recuerda el punto vélico [»und läßt deshalb an einen Segelpunkt denken«]; hay algo que arrima al hombro para sacamos de quicio [»etwas trifft uns an der Schulter, um uns aus der Bahn zu werfen«]« (Vuelta al día, t.I: 74)
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jedoch gleichbedeutend mit der »Anerkennung der realen Differenz des Anderen« (vgl. 1.2.4.3.)- Ende und Zielpunkt der Suche ist deshalb weder jene durch Traveler und Talita repräsentierte Figur einer »armonía insensata« (R 402) noch der den realen Irrsinn ratifizierende tödliche Sprung aus dem Fenster. Die Errichtung der absurden Verteidigungsstellung hat vielmehr jene, bei Foucault unterstrichene 134 , Distanz und Differenz setzende - und aushaltende! - Funktion des Werkes als Grenz-Zeichen. B (118, 119, 69,89,66, 149, 129- 139- 133- 140- 138- 127; 135 - 6 3 - 8 8 - 7 2 - 7 7 -131-58-131): Die B-Serie der achten Sequenz unterscheidet sich von den übrigen Serien durch folgende Eigentümlichkeiten: 1. Das Fehlen jeder metaliterarischen oder philosophischen Reflexion (ausgenommen Kapitel 66, s.u.!); 2. eine durch die Anordnung der Kapitel indizierte Gliederung der Texte in drei Teile: a) Der erste Teil zeigt die durchschnittliche Alternierungsfrequenz zwischen narrativen und eingeschobenen Kapiteln. Die ersten vier Kapitel der A-Serie sind von je einem Kapitel der B-Serie gefolgt: einem Zitat aus Malcom Lowry über die Heimsuchung des Mörders durch die Erscheinung des Ermordeten (Kapitel 118); dem im Observer abgedruckten Aufruf von Tierfreunden zum Schutz von Wellensittichen (Kapitel 119); dem in der Irrenzeitschrift Renovigo erschienenen, durch das Mittel phonetischer Schreibweise »lateinamerikanischen Kontext« indizierenden Nachruf auf einen verstorbenen Oberstleutnant namens »Adolfo Abila Sanhes« (Kapitel 69); einem aus auktorialer Perspektive kommentierten Brief des religiösen Eiferers Juan Cuevas, Verfasser der sogenannten »Soberanía mundial« (Kapitel 88). Die Funktion der Texte liegt auf der Hand: Die Obsession der Gewalt im ersten, der Privatismus des zweiten, die hermetische Standesrhetorik des dritten und schließlich der fanatische Absolutismus des Verfassers der »Soberanía« konnotieren - aus je verschiedenen Perspektiven - das Thema 'Irrsinn'. Einer vorschnellen Subsumption der B-Serie unter die Thematik der A-Kapitel stehen die beiden auf Kapitel 53 folgenden Texte jedoch insofern entgegen, als sie die für den Semioseprozeß des Gesamttextes grundlegende Figuraldeutung erneut ins Gedächtnis zurückrufen: Kapitel 66 erinnert an Morellis Prinzip des »dibujar ideas« und Kapitel 149 zitiert einen Achtzeiler von Octavio Paz, der - analog zu Morellis Buchseite - durch das Mittel der Kookkurrenz (vgl. Kloepfer 1975: lOOff.) ebenfalls einen zentralen Aspekt figuraler Schreibe verwirklicht. b) Der zweite Teil besteht aus einer gemäß dem »tablero« zwischen Kapitel 54 und 56 einzuschiebenden Folge von sechs Kapiteln. Kapitel 129 und 133 zusammen sind
134 »11 n'y a de folie que comme instant dernier de l'oeuvre - celle-ci la repousse indéfiniment à ses confins; là où il y a ouevre, il n'y a pas folie; et pourtant la folie est contemporaine de l'oeuvre, puisqu'elle inaugure le temps de sa vérité.« (Foucault 1961: 304)
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eine Art Expansion des gemäß der Lesart des »zweiten Buches« zu überspringenden Kapitels 55 135 : Traveler vertreibt sich die Zeit des Wartens auf Talita mit der Lektüre eines Werkes von Ceferino Piriz, Verfasser einer phantastischen Weltordnung unter dem Titel »La Luz de la Paz del Mundo«. Die Lektüre des Ceferino Piriz sowie der von Oliveira nach Argentinien importierten - Schriften Morellis ist Teil der von Traveler, Talita und Oliveira gepflegten »Profanisierungs- und Verfremdungsübungen« (R 600), welche die drei Freunde in den Augen der argwöhnisch über die Moral des Personals wachenden Cuca dann auch prompt zu »monstmos« (R 564, 601) abstempeln (Kapitel 127, 140). Auch die beiden letzten Kapitel des zweiten Teils sind dem Thema der Affirmation bzw. Negation einer arbiträren Ordnung gewidmet: Kapitel 139 zitiert einen anonymen Plattentext, der die anagrammatische Kompositionstechnik in Alban Bergs Kammerkonzert unterstreicht; Kapitel 138 blendet in die Zeit des Zusammenlebens von Oliveira und Maga zurück und berichtet von der von beiden mit Hingabe gepflegten »Profanisierung der Erinnerung« (R 596), der systematischen Verbalnegation sanktionierter emotioneller und institutioneller Ordnungen. c) Der dritte Teil besteht aus einer Folge von acht kurzen Texten, die ihrem Inhalt nach die vorstellbaren Ereignisse im Anschluß an die »Verteidigungsstellung« in Kapitel 56 variierend »fortschreiben«. Ihr gemeinsamer Nenner ist Oliveiras Hilfsbedürftigkeit: Er hütet das Bett und wird von Gekrepten (Kapitel 135, 72) oder Talita (Kapitel 63) gepflegt; er erörtert mit Traveler das System des Ceferino Piriz (Kapitel 88) bzw. die Möglichkeiten des Eintritts in einen religiösen Orden (Kapitel 131). Den engsten Zusammenhang mit den in Kapitel 56 erzählten Ereignissen weisen die drei letzten Kapitel der Serie auf: Oliveira nimmt Abschied von Ferraguto und erhält Lohn für acht Arbeitstage (Kapitel 77); Oliveira wird vom Arzt Ovejero behandelt (Kapitel 131); er ist frühmorgens mit der Straßenbahn nach Hause gefahren und läßt sich von Gekrepten versorgen (Kapitel 58). Die Fortschreibung der Handlung durch die Kapitel der B-Serie ist indessen nur scheinbar: Nicht nur der eigentümliche 'Zirkelschluß' des Romans - die Lektüreanweisung hinter dem an vorletzter Stelle stehenden Kapitel 131 verweist auf Kapitel 58; diejenige von Kapitel 58 dagegen auf Kapitel 131 zurückl -, sondern auch die sowohl zwischen den einzelnen Kapiteln bestehenden Ungereimtheiten als auch vor allem die Inkongruenzen innerhalb mancher Kapitel 136 führen jede lineare Handlungslogik ironisch ad absurdum.
135 Kapitel SS erscheint weder im »Tablero« noch in den Kapitelverweisen am Ende der jeweiligen Texte. 136 So verabschiedet sich Oliveira zu Beginn des Kapitels 77 von Ferraguto, während er sich den Andeutungen des letzten Satzes zufolge krank im Bett befindet und das Gespräch mit Ferraguto erst noch zu erwarten scheint. - Den Gesprächsindizien von Kapitel S8 zufolge befindet sich Oliveira gleichzeitig in der Obhut seiner Freundin Gekrepten wie - zusammen mit Traveler, Talita, Ovejero sowie dem hilfsbereiten Kranken Nr. 18 - noch in der Klinik.
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AB: Die Frage nach der Sinnfigur der achten Sequenz ist gleichbedeutend mit der - im Verlauf der vorliegenden Studie immer erneut zurückgestellten - Frage nach einem definitiven Ziel der Suche Oliveiras qua Überschreitung des Aprioris abendländischer Kultur im Sinne des Logozentrismus. Die Erreichung des Ziels indessen - so das Ergebnis der achten Sequenz - ist in gewisser Weise verstellt durch das Problem des Doppelgängers. Beide - sowohl der Versuch einer Transzendierung der abendländischen Kultur als auch die Lösung des Doppelgänger-Konflikts - sind mithin Ziel der Suche. Die Antwort der Sinnfigur der achten Sequenz auf diese doppelte Problematik läßt sich unter drei Aspekten erörtern: 1. Tod: Traum, Irrsinn und Selbstmord sind - wie oben gezeigt - Lösungsmöglichkeiten des Doppelgängerkonflikts auf der Ebene der Handlung. Sie werden von Oliveira ausdrücklich als mit dem Ziel der Suche unvereinbar abgelehnt. Die acht auf Kapitel 56 folgenden Kapitel zeigen: Oliveira überlebt das vieldeutige Ende der Handlung unzweideutig. 2. Versöhnung: Talita flüchtet aus der exstatischen Erfahrung des Anderen im Totenkeller - »Se estaban como alcanzando desde otra parte, con otra parte de sí mismos, y no era de ellos que se trataba, como si estuvieran pagando o cobrando algo por otros, como si fueran los gólems de un encuentro imposible entre sus dueños« (/? 373) - geradewegs in die Arme Travelers. Die Umarmung - als Figur der Versöhnung bzw. der Erfahrung des Selben - ist eine weitere Möglichkeit zur Lösung des Konflikts des Doppelgängers. Die Umarmung bietet Schutz vor der bedrohlichen Präsenz des Anderen und restituiert das Gefühl der eigenen Identität - »esa vieja tristeza satisfecha de volver a ser el de siempre, de continuar, de mantenerse a flote contra viento y marea, contra el llamado y la caída« (R 378). Nicht nur der Doppelgänger indes, sondern auch - wie die Fortschreibung zeigt von Kapitel 55 in Kapitel 133 - die Erfahrung des im totalitären Weltsystem des Ceferino Piriz seine »Wahrheit« offenbarenden Logozentrismus bedroht die Identität des Selbst. Beide, sowohl die Erfahrung des Doppelgängers als auch die Apotheose des Logozentrismus, enthalten mithin - dies beweist die Schutz und Versöhnung suchende Umarmungsgeste Talitas - ein Substrat von Gewalt, das die Identität des Selbstseins in Frage stellt. Oliveira seinerseits erscheint die Geste versöhnlicher Umarmung (»todo era como un maravilloso sentimiento de conciliación« [R 402]), mit der Talita und Traveler engumschlungen die 'Verteidigungsstellung' für beendet erklären, lediglich im Lichte des »incurable error de la especie descaminada« (ebd.). Worin besteht - so bleibt des-
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halb abschließend zu fragen - der Irrtum der »cinco mil años de territorio falso y precario« (ebd.)? 3. Differenz: Die Erfahrung im Totenkeller entspricht für Oliveira einem augenblickhaften AnsZiel-Gelangen der Suche. Die unendliche Kette der das Ziel bezeichnenden Signifiants - »derecho de ciudad« (R 215), »reino milenario« (R 432), »otro mundo« (ebd.), »Centro« (R 458), »Mandala« (R 540), »conciliación« (R 561) oder »armonía« (R 327) - gibt den Blick frei auf einen vermeintlich endgültigen Signifié: »Entonces [...] eso era como un fin, la apelación a la piedad ajena, el reingreso en la familia humana [...].« (R 371) Die ans Ziel gelangte Suche ist jedoch gleichbedeutend mit der Erscheinung des Doppelgängers, d.h. der Erfahrung des das Sein des Doppelgängers gründenden »désir mimétique« als Gewalt. Folgt man der oben dargestellten anthropologischen Theorie R. Girards, so bleibt die Entdeckung der im »désir mimétique« gründenden Gewalt nicht länger Episode: Die am Ende der Suche entdeckte Gewalt ist nicht nur die Gewalt-der-anderen, sondern die Gewalt des Suchenden (»auto-inquisidor« [R 234ff.]) - als des potentiellen Doppelgängers - selbst. An ihr Ziel gelangt, wird die Suche sich selbst gleichsam transparent; sie entdeckt sich im Lichte einer fundamentalen Zweideutigkeit: Das von Oliveira am Ende der Suche entdeckte Andere ist nämlich einerseits das die Geschichte okzidentaler Kultur immer erneut beherrschende - wenn auch ebensooft 'verdrängte' und sublimierte - Wesen der logozentrischen Kultur als Gewalt. Die Freilegung dieses Aprioris führt deshalb andererseits zu dem Schluß, daß das Andere okzidentaler Kultur keineswegs identisch ist mit einem kultur-'transzendenten', d.h. außerhalb des Geltungsbereichs dieser Kultur gelegenen kulturellen Arkadien. Es läßt sich vielmehr formelhaft bestimmen als das Andere des Anderen, d.h. als eine andere Weise der Praxis der selben kulturellen Signifikanten. Vom Standpunkt logozentrischer Vernunft aus gesehen kann diese Praxis nur als abwegig, absurd, ja irrsinnig erscheinen: Kapitel 36 memoriert sie in der exemplarischen Gestalt eines 'kynisch' verkleideten Heraklit; Kapitel 56 erprobt sie im Irrsinn des absurden Systems der 'Verteidigung': Die ausgestreckte Hand der 'Versöhnung' zurückweisend, verharrt Oliveira im Eigen-Sinn der Differenz. Der Verzicht auf »Harmonie« (R 327) bedeutet die Weigerung, zu partizipieren am »unheilbaren Irrtum der auf dem Holzweg befindlichen Spezies« (»incurable error de la especie descaminada« [R 402]). So dient das Differenz-System der »piolines y palanganas« vor allem der Verteidigung nach innen. Sie enthält das Eingeständnis, daß die 'Suche', wie sie Oliveira bisher praktizierte, mithin auch geleitet war von einer potentiell wirksamen logozentrischen Prämisse der Gewalt. Im Epilog der B-Serie auf die in Kapitel 56 zu Ende gegangene 'Handlung', der von einem ans Krankenlager gefesselten Oliveira berichtet - dem Be-
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dürfniswesen par excellence -, zeigt sich mithin so etwas wie eine Richtung, in der sich Suche fortan wird fortsetzen lassen: Aus dem Himmel der Idee - der die Realität menschlicher Existenz gemäß dem Rimbaudschen »nous ne sommes pas au monde« (R 216 u.ö.) ent-wirklichenden Spekulation - scheint sie definitiv zurückgekehrt in den banalen Alltag des Bedürfniswesens 'Mensch'. So eröffnet sich erst am Ende des Romans die faszinierende Perspektive einer Suche, die dem im Rayuela-Spiel immer schon figurierten Bild tatsächlich entspräche - das Bild einer Suche, die die Gewalt des Logozentrismus hinter sich gelassen hat, das Beschreiten mithin eines Weges »con un propósito que ya no fuera el camino mismo« (R 340), eines Weges - in der Formulierung von Kapitel 36 - »con pasos de hombres hacia el kibbutz allá lejos pero en el mismo plano« (R 253). Als Grenzerfahrung okzidentaler Kulturprämissen enthält die damit angedeutete Perspektive auch eine Transzendierung des durch die Kultur des Okzidents bereitgestellten Modells erotischer Erfahrung. Dies gemäß folgender Überlegung: Jeder Liebesakt ist ein Akt des Begehrens. Das Begehren verleiht dem Anderen notwendigerweise Identität, um es zum Gegenstand einverleibenden Genusses zu machen. Durch den Genuß ist das Andere jedoch gerade bedroht als das Andere. Durch die Einverleibung nämlich wird es Teil des Selbst. Die große europäische Tradition des Eros vom mittelalterlichen Minnegesang über die religiöse Lyrik des Hl. Johannes vom Kreuz bis hin zu Georges Bataille und den Texten des argentinischen Tango - wiederholt deshalb in immer wieder neuen Formen den alten Topos, daß Liebe nämlich in letzter Konsequenz - die Gewalt des Todes in sich schließe. Nur der Tod nämlich als die Erfahrung des radikalen Anderen - erlaube eine Erfahrung des Anderen, in der das Andere seine Qualität als solche behält und nicht der Selbigkeit des Begehrenden anverwandelt wird. Solcherart Liebe bedeutet indes gerade auch das radikale Ende jeglicher Liebe als solcher. Sigmund Freuds Rede von einer insgeheim herrschenden Todessehnsucht abendländischer Kultur meint u.a. diesen Zusammenhang. Oliveiras Wahnsinnsakt im Fensterkreuz nun bedeutet nichts weniger als die Nicht-Einverständniserklärung auch mit dieser Prämisse abendländischer Kultur, die sich sogar noch in dem, was sie an Erhabenstem zu bieten hat - der Kultur des Eros Cortázar zufolge als Geschichte peipetuierter Gewalt rekonstruieren läßt. Weder die Verzweiflung der gegen das Subjekt selbst gerichteten Gewalttat - der Selbstmord noch die das offengelegte Gewaltpotential lediglich verdrängende 'Versöhnung' sind am Ende deshalb akzeptabel. Für den Leser affirmiert die Unentschiedenheit der vom Protagonisten vielmehr bis zu Ende hartnäckig durchgehaltenen 'Verteidigungsstellung' (gegen Tod und Versöhnung) das die Handlung seit Beginn beherrschende Motiv der Suche nach einer alternativen Kulturerfahrung. Es erscheint fraglich, ob wir über die geeigneten Begriffe verfügen, die es erlaubten, die ästhetische Erfahrung einer Kultur der Differenzen, wie sie von Cortázar am Ende von Rayuela formuliert wird, adäquat zu fassen. Als ästhetische Erfahrung ist
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sie selbst in ihrem Vollzug ein Stück Differenz, die sich als solche natürlich einer gewissermaßen 'rest-losen' Übersetzung in einen anderen Diskurs notwendigerweise widersetzen muß. Ich glaube jedoch, die von Derrida als »Dekonstruktion« bezeichnete Schreib-Praxis weist zumindest in eine analoge Richtung. Es liegt ganz in der Linie dieser (analogen) Logik, wenn Cortäzars nächster Roman, der die Schreiberfahrungen von Rayuela fortsetzt, zwar den Titel trägt 62. Modelo para armar (ich übersetze frei: »62. Modellbaukasten 'Kultur'«), in weitaus entschiedenerer Weise jedoch, als es Rayuela getan hat, die dekonstruktivistische Schreib-Praxis fortsetzt: Es fehlt dem Text gerade das, was unsere abendländischen Modellbaukästen in aller Welt so beliebt - bei Pädagogen manchmal auch verdächtig - macht, eine verständliche Konstruktionsbeschreibung - eben das im Vorgriff konzipierte 'Modell' des Ganzen. Keine Konstruktions-, sondern eher eine De-Konstruktionsanleitung abendländischer Kultur mithin liegt vor.
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3. Grenzerfahrung narrativer Schreibe: 62. Modelo para armar A considérer cette littérature que nous appelons notre activité scientifique (J. Lacan) ... ese laborioso homicidio que llaman análisis textual... (M. Vargas Llosa) Notre évaluation ne peut être liée qu'à une pratique et cette pratique est celle de l'écriture. (R. Barthes)
3.1. Einleitung Die Semiotik der Titel Cortázars bleibt noch zu schreiben. Titel wie »La continuidad de los parques« oder Rayuela sind offenbar unübersetzbar. Wohlmeinende Übersetzungen wie »Park ohne Ende« (Wolfgang Promies) oder erläuternde Kompromisse wie »Rayuela. Himmel und Hölle« (Fritz Rudolf Fries) verfälschen oder vereindeutigen die den spanischen Titeln beigegebene Leser- bzw. Bedeutungsinstruktion in unzulässiger Weise. Dunkelheit umgibt auch den Titel des dritten Romans, des wohl schwierigsten Textes, den der Autor hinterlassen hat - eine Dunkelheit, die durch die Möglichkeit, ihn 'banal' zu verstehen, zu referentialisieren auf der ersten konventionalisierten Ebene des Sprachgebrauchs, noch verstärkt wird. »62«? Cortázar-Leser erinnern sich an Holger Hydens elektromagnetische Theorie des Denkens, die in Kapitel 62/Rayuela exponiert wird. Der Roman mithin als Baukastensatz, Gebrauchs- und Konstruktionsanweisung einer quasi-technologischen Praxis? Sollte dies das Wirklichkeitsmode// sein, auf welches Cortázars Roman sich bezieht? Konträr hierzu - dies natürlich unter Absehung von der provokativen Theorie des Schweden - der hermeneutische Versuch der Lösung des Problems: Der Roman erscheint dann als eine Antwort auf einen im Titel implizierten (enigmatischen) »code herméneutique« (R. Barthes) 1 , den es durch die Analyse der vielfältigen - vomehm-
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»Décidons d'appeler code herméneutique (...) l'ensemble des unités qui ont pour fonction d'articuler, de diverses manières, une question, sa réponse et les accidents variés qui peuvent ou préparer la question ou retarder la réponse; ou encore: de formuler une énigme et d'amener son déchiffrement.« (R. Barthes: SIZ. Points 70. Paris 1970: 24)
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lieh philosophischen, psychologischen und mythologischen - Implikationen des Textes schrittweise offenzulegen gilt. Man wird den philologischen Bemühungen der Arbeiten von S. Boldy und W. Imo, die den Text in dieser Hinsicht als dominant hermeneutisches Modell konstituieren, Erfolge kaum absprechen können. 2 Sie haben Licht in die Dunkelheit mancher Passagen gebracht. Dies gilt insbesondere für die Analysen Boldys, die den intertextuellen Horizont von 62 in all seinen Verästelungen rekonstruieren. Die Grenze der Arbeit liegt jedoch in der unbedacht bleibenden Verwendung des hermeneutischen Modells selbst 3 : Boldy konstituiert den Roman von vornherein bereits als ein 'psychologisch' zu deutendes Verstehens-Modell. Unbedacht bleibt bei diesem Ansatz jene 'transzendentale' Ebene textueller Produktivität, für die wir in Anlehnung an den französischen und spanischen Sprachgebrauch ('écriture' resp. 'escritura') in der Arbeit den Ausdruck 'Schreibe' verwenden: »Modelo para armar« - der mit dem Titel implizierte hermeneutische Code bezeichnet nicht so sehr die 'Leerstelle' eines mit Hilfe philologischer Sucharbeit zu erstellenden Modells psychologischer Bedeutung, als vielmehr jene Ebene textueller Praxis, im Hinblick auf welche jedwede Rede von 'Handlung', 'Personen' bzw. den durch diese gesetzten philosophischen und psychologischen 'Inhalten' allererst im Horizont ihrer semiotischen Möglichkeiten erscheinen.
3.1.1. Text-Modell(e) Vor Eintritt in die Analyse des Textes soll zunächst einmal der Problemhorizont, auf den bezogen die Hypothese formuliert ist, erläutert werden. Dieser ist gegeben - auf der Ebene literaturwissenschaftlicher Begriffsbildung - als das seit längerem diskutierte Problem der Beziehung von Text und Modell; zum anderen durch den bereits erwähnten expliziten Bezug des Romans auf Kapitel 6 2 / R a y u e l a . U m den ersten Teil der Problemstellung zu erhellen, werfen wir zunächst einmal einen Blick auf die Texttheorie von Jurij M. Lotman. Der Modellbegriff hat für den russischen Semiotiker die zentrale Funktion, das Wesen des »literarischen« - bzw. »künstlerischen« - Textes verständlich zu machen: Die spezifische Differenz des künstlerischen Textes liegt darin, daß er sich - im Hinblick auf den sprachlichen Alltagstext - auffassen läßt als »sekundäres modellbildendes System« 4 . Auch der literarische Text - als 'Sekundär'-System - ist mithin Text, als Sprache 2
mit allen Charakteristika, die das Primärsystem, aus dessen Elementen er
Vgl. S. Boldy 1980; W. Imo 1981.
3
Vgl. unsere Rezension der Arbeit Boldys (= Berg 1983b).
4
J.M. Lotman: Die Struktur liierarischer Texte, München 1972: 31. - Alle weiteren Zitate aus Lotman sind dieser Ausgabe entnommen. Die Übersetzungsvarianten der deutschen Fassungen des Buches - R.-D. Keil übersetzt »literarische Texte* (Fink Verlag); R. Griibel, W. Kroll, H.-E. Seidel übersetzen »künstlerische Texte« (bei Suhrkamp 1973) - spiegeln verschieden weit gefaßte Konzeptionen der semiotischen Theorie. Dem russischen Original - »chudoiestevennyj teks« - näherstehend ist zweifellos die Obersetzung »künstlerische Texte«, ist ja der Lotmansehe Zcichcnbegriff gerade nicht nur auf »literarische« Texte (sensu stricto), sondern auf künstlerisch strukturierte scmiotischc Texte allgemein (z.B. auch die Sprache des Films) bezogen.
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gebildet ist, auszeichnen. Sein Funktionieren ist der natürlichen Sprache des Primärsystems in fast allen Punkten analog - auch der künstlerische Text läßt sich mithin auffassen als formales System ('Code'), als Ensemble festliegender Oppositionen ('Werten' nach F. de Saussure), deren wechselnde Kombinatorik es den Gesprächspartnern ermöglicht, sich über 'Realität' zu verständigen. Die Aktualisierung dieser Werte heißt 'Kommunikation'. Der entscheidende Grundgedanke Lotmans ist jedoch der folgende: Die Funktion der Sprache - weder der natürlichen noch der künstlerischen - ist keineswegs lediglich die eines wertneutralen Instruments. Sprache als formales kodiertes System, dessen wir uns als 'Vehikel' bedienen, um Botschaften aller Art mit einem Empfänger auszutauschen, ist vielmehr als solche bereits eine allgemeine Form von 'ausgelegter Welt'. Jeder spezielle Akt der Kommunikation setzt die Existenz eines solchermaßen festliegenden Systems oppositioneller Werte notwendig voraus. Das (relativ) 'Neue' der Botschaft hat mithin seine Grenze an dieser allgemeinen, durch die Sprache als System immer schon (mit-) gesetzten Form von ausgelegter Welt. Die durch die Sprache als System gesetzte Form von Weltauslegung nennt Lotman 'Modell'. Dank dieser modellbildenden Funktion ist Sprache immer schon 'mimetisch', ist sie die produktive Hervorbringung eines je eigenen 'Abbild(s)' der Wirklichkeit. (Lotman 1972: 27) Alle diese Charakteristika teilt die künstlerische mit der natürlichen Sprache. Ihr Spezifikum liegt jedoch darin, daß sie, indem sie mit den Elementen der natürlichen Sprache eine Sprache sui generis bildet, ineins damit ein vom Primärsystem der natürlichen Sprache unterschiedliches, mit dieser unter Umständen auch in Widerspruch tretendes Wirklichkeitsmodell hervorbringt. Was die durchgängige Kodifiziertheit des natürlichen Sprachgebrauchs - die normalerweise vorherrschende strikte Trennung von Form und Inhalt, Code und Botschaft - tendenziell verdeckt, macht der künstlerische Sprachgebrauch mithin offensichtlich: Sprache hat immer - auch auf der Primärebene - den Charakter eines Welt-Entwurfs. Sie ist ein Akt produktiver Hervorbringung von Wirklichkeit; ihre modellbildende Funktion liegt im Auslegen und Entwerfen von Wirklichkeit, nicht jedoch im »Kopieren« von (wie denn auch?) irgendwie »vorhandener« Realität. (Ebd.: 77!) Dank dieses fruchtbaren Begriffs der Literatur als eines sekundären modellbildenden Systems gelingt es Lotman, die Funktion der Kunst als Instrument prinzipieller Infragestellung und Transzendierung etablierter Wirklichkeitsmodelle verständlich zu machen. Die Grenze dieses Modellbegriffs - bedingt vielleicht dadurch, daß er allzusehr an Beispielen einer vergangenen Literaturepoche (19. Jahrhundert, Anfang 20. Jahrhundert) orientiert bleibt - liegt indessen in seiner Unterordnung unter einen allzu schematisch verwendeten Begriff der Kommunikation: Wenn die Funktion der Kunst darauf beschränkt bleibt, lediglich einander widersprechende Weltmodelle miteinander zu konfrontieren oder sie im Hinblick auf ein gesuchtes, neues Modell x zu tran-
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szendieren, so stimmt es, daß die Frage nach dem »Wahrheitsgehalt« eines Textes nur auf der Ebene der aktuellen »Mitteilung« (ebd.: 31), nicht aber auf der Ebene der die Mitteilung ermöglichenden »Sprache« (ebd.), d.h. des durch diese gesetzten allgemeineren Wirklichkeitsmoi/e//i zu stellen ist. Der vermeintliche Konflikt besteht jedoch nur so lange, als - bei aller vorausgesetzten Relativität verschiedener und konkurrierender Wirklichkeitsmodelle - der Rezipient solcher Texte stillschweigend voraussetzt, daß der Text ihm die Mühe der Lektüre am Ende doch wieder durch Übermittlung eines einigermaßen kohärenten, Mitteilungen und Code miteinander trennenden Wirklichkeits-Modells belohnt. Es ist offensichtlich, daß Texte wie der vorliegende, um dessentwillen wir diese Überlegungen anstrengen, diesen »Pakt« - soweit er einer »Semiotik der Kommunikation« 5 als Prämisse vorausliegt - nach Kräften unterläuft: »El subtítulo 'Modelo para armar' podría llevar a creer que las diferentes partes del relato, separadas por blancos, se proponen como piezas permutables. Si algunas lo son, el armado a que se alude es de otra naturaleza, sensible ya en el nivel de la escritura donde recurrencias y desplazamientos buscan liberar de toda fijeza causal, pero sobre todo en el nivel del sentido donde la apertura a una combinatoria es más insistente e imperiosa. La opción del lector, su montaje personal de los elementos del relato, serán en cada caso el libro que ha elegido leer.« ( M A iy> Natürlich läßt sich 62 - wie jeder Text - auch unter der Prämisse von Kommunikation lesen. Eine solche Lektüre betrachtet den Text lediglich als Variante eines hypothetisch angenommenen Super-Erzähltextes, der Wirklichkeit im Modell des Erzählens verfügbar macht. Der Unterschied von 62 zum traditionellen Erzähltext läge dann darin, daß der Roman dem Leser die Elemente zwar darböte - und damit ineins auch das allgemeine Modell der 'erzählten Welt' -, ihm die Erstellung einer spezifischen Botschaft jedoch selbst überließe. Soweit die Andeutungen des ersten Teils des zitierten Vorworts... Der Anspruch des Buches geht jedoch offenbar weiter: Modelo para armar lädt ein zu einer »Kombinatorik«, durch welche sämtliche Ebenen des Textes - sowohl die sprachlich-formale Ebene des Ausdrucks (»escritura«) als auch die inhaltliche Ebene (»sentido«) - potentiell als prozeßhafte Leistung des Lesers erscheinen. »Lo armado« - das zu erstellende Modell - ist also nicht nur ein bestimmtes Kommunikations- bzw. Wirklichkeitsmodell unter anderen, sondern meint den Prozeß der zeichenhaften Konstitution von Wirklichkeit überhaupt, eine Ebene mithin, die derjenigen jedes bestimmten Wirklichkeitsmodells - also auch des unter der Kommunikationsprämisse stehenden - mit logischer Notwendigkeit vorausliegt, »lo armado« zielt mithin ab auf eine Ebene, die alles weniger ist als ein »Modell« (im Sinne Lotmans); es ist die 5
D. Blanco/R. Bueno 1980: 15f.
6
J. Cortázar: 62. Modelo para armar, Buenos Aires 1980: 7. - Alle wörtlichen Zitate aus 62 sind dieser Ausgabe entnommen.
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Ebene ursprünglicher Differenzen, wie sie von Jacques Derrida ungefähr zur gleichen Zeit wie 62 in der 1967 erschienenen Grammatologie als »écriture« beschrieben wird. Cortázar hat immer wieder betont, kein Theoretiker des literarischen Textes zu sein. Wie wenig er in der Lage ist, begrifflich und konzeptuell eine adäquate Beschreibung seiner eigenen textuellen Arbeit zu geben, zeigen die Formulierungen des zitierten Vorworts. Es steht jedoch für uns außer Frage, daß 62 der erste originäre Beitrag Cortázars ist zur Praxis der Schreibe (im Sinne Derridas). Modelo para armar ist mithin keine Anleitung zur Erstellung eines Modells, sondern führt hinein in die Praxis des De-Konstruicrens, den jedwedem »Modell« von Wirklichkeit vorausliegenden Prozeß ursprünglicher Differenzen. 7 Ein zweiter bedeutender Ansatz, das Verhältnis von Text und Bild zu klären, soll nicht unerwähnt bleiben. Er stammt von Max Black und wird von Paul Ricoeur in La métaphore vive ausführlich diskutiert. Nach Konstitution und Funktion lassen sich drei Arten von Modellen unterscheiden: die »Maßstab«-Modelle, die analogen sowie die theoretischen Modelle (Ricoeur 1975: 302ff.). Einem unter Semiotikern verbreiteten Konsens (Peirce, Lotman) zum Trotz liegt dem literarischen Text in der Regel nicht das ikonisch-anschauliche »Maßstab«-Modell, sondern das theoretische Modell zugrunde. Modelle solcher Art »ne sont pas du tout des choses; ils introduisent plutôt un langage nouveau, tel un dialecte ou un idiome, dans lequel l'original est décrit sans être construit« (ebd. - Hervorh. W.B.B.). Die Opposition »description« vs. »construction« weist darauf hin, daß der Zusammenhang zwischen »Modell« und »Original« sprachlicher Art ist, nicht reduzierbar auf sinnliche Vorstellung (»représentation«) oder gar auf Verifikation im Experiment: »L'important est que le modèle n'a que les propriétés qui lui sont assignées par convention de langage, hors de tout contrôle par le moyen d'une construction réelle (...)« (ebd.). Das theoretische Modell hat mithin - da es sich auf ein Original bezieht, das nur bereits als »chose décrite« verfügbar ist - die Funktion einer »ré-description« (ebd.: 308). Diese Eigenschaft sichert ihm seine Zugehörigkeit zu einer »logique de la découverte«. Ricoeur kann mit dem Begriff des theoretischen Modells - ebenso wie Lotman - den Entwurf-Charakter der literarischen Mimesis verständlich machen, doch erweist sich seine Theorie aus ähnlichen Gründen wie diejenige Lotmans als unzureichend, die oben angedeutete Praxis des Textes von 62 adäquat zu beschreiben: ist es bei Lotman die Prämisse der Kommunikation, so ist es bei Ricoeur die ontologische Fragestellung - die Frage nach der dem metaphorischen Text entsprechenden Referenz -, die die Grenze bezeichnet, seine Theorie zur Beschreibung des vorliegenden Problemzusammenhangs uneingeschränkt zu verwenden. 7
Zu einer systematischen Lektüre Derridas scheint Cortázar erst viele Jahre später gekommen zu sein: »Diario para un cuento« in Deshoras (1. Auflage 1983) dekonstruiert - ausgehend von einem längeren Text aus Derridas La vérité en peinture - die geschlossene Form, die gemeinhin als verbindlich gilt für den Typus der Cortázarschen Kurzgeschichte, zum bloßen Protokoll eines prinzipiell unabgeschlossenen Schreib-Prozesses. - Vgl. unten Analyse II,4.4.!
292
3.1.2. Capítulo 62/(Rayuelo) Es gibt wenige Untersuchungen zu 62, die den Zusammenhang des 62. Kapitels aus Rayuela und Cortázars drittem Roman überhaupt beachten. Es gibt keine einzige, die ihn systematisch zu entfalten versucht. Dies soll nun geschehen. Ein erster ins Auge springender Zusammenhang zwischen Kapitel 62 und 62 besteht darin, daß auch dieser Text - wie 62 - sich als Modell präsentiert, und zwar als Projektskizze eines zu schreibenden Buches: »En un tiempo Morelli había pensado un libro que se quedó en notas sueltas.« (R 415) Was auf diesen ersten Satz folgt, ist eine dreifach gegliederte Kostprobe aus Morellis »notas sueltas« sowie - als Fußnote - ein dem Magazin L'Express entnommener Bericht über eine auf den schwedischen Neurobiologen Holger Hyden zurückgehende »teoría química del pensamiento« (ebd.), auf die die Notizen Bezug nehmen. Die trockene Theorie des Schweden kann deshalb zu potentiell literarischen Ehren gelangen, da Morelli sie - in Übereinstimmung mit Lotmans Mineralogie-Beispiel! 8 - von vornherein als Modell einer Welt funktioniert. Morelli geht jedoch noch einen Schritt weiter: Er addiert die biochemisch ausgelegte Welt zur traditionellen humanistischen nicht einfach hinzu - wie es dem Brauch des modernen Bewußtseins entspräche -, sondern vollzieht das Gedankenspiel, die biochemische tatsächlich an die Stelle der humanistischen Weltauslegung treten zu lassen. Traditionell für hinreichend erachtete Erkläningsschemata - Person, Individuum, Gefühl etc. - geraten ins Wanken. Aus der Sicht der traditionellen Weltauslegung verwandeln sich die Phänomene deshalb - potentiell zumindest - in Erscheinungen des Phantastischen: »Química, electromagnetismo, flujos secretos de la materia viva, todo vuelve a evocar extrañamente la noción del mana; así, al margen de las conductas sociales, podría sospecharse una interacción de otra naturaleza, un billar que algunos individuos suscitan o padecen, un drama sin Edipos, sin Rastignacs, sin Fedras, drama impersonal en la medida en que la conciencia y las pasiones de los personajes no se ven comprometidas más que a posteriori. Como si los niveles subliminales fueran los que atan y desatan el ovillo del grupo comprometido en el drama. O para darle el gusto al sueco: como si ciertos individuos incidieran sin proponérselo en la química profunda de los demás y viceversa, de modo que se operaran las más curiosas e inquietantes reacciones en cadena, fisiones y transmutaciones.« (/? 415ff. - Hervoih. im Original) Nichts liegt Morelli allerdings ferner als die biochemische zur dogmatisch gültigen Welt zu erklären. Dient sie im ersten Abschnitt dazu, die Geltung der humanistischen aus den Angeln zu heben, so handelt der zweite Abschnitt von einer Welt, deren 8
Loman 1972:66.
293
Auslegungsschema weder das biochemische noch das humanistische sein kann, deren »Sein« vielmehr nur im Horizont jener »langage métaphorique« aussagbar ist, für die - Ricoeur zufolge - die Spannung zwischen einem »est« und einem »n'est pas« (Ricoeur 1972: 312) konstitutiv geworden ist. Morelli rettet sich vor dem sich ankündigenden Sinn-Paradox jedoch nicht - wie Ricoeur - durch den Sprung in eine - wenn auch nur metaphorisch aussagbare - ontologisch begründete Welt des Sinnes. Er nutzt den Impuls des Paradoxes vielmehr zum Absprung in einen schwindelerregenden Prozeß der Sinn-Bildung, der sich als ganzer auf keinerlei dogmatisch fixierbaren 'Sinn' (signifié) 9 mehr beziehen läßt, vielmehr als dynamische »búsqueda superior a nosostros mismos como individuos« Sinn gleichsam nur noch asymptotisch zur Geltung bringt: »Así las cosas, basta una amable extrapolación para postular un grupo humano que cree reaccionar psicológicamente en el sentido clásico de esa vieja, vieja palabra, pero que no representa más que una instancia de ese flujo de la materia animada, de las infinitas interacciones de lo que antaño llamábamos deseos, simpatías, voluntades, convicciones, y que aparecen aquí como algo irreductible a
9
Dieser Teil der Analyse - insbesondere Abschnitt 3.1.2 - geht zurück auf eine im Herbst 1981 entstandene, im Rahmen eines Mannheimer Kolloquiums vorgetragene Skizze. Sie bildet die Grundlage fllr die nachfolgenden Darstellungen der Abschnitte 2-5. Die Verwendung des 'Sinn'-Begriffs erfolgte damals in enger Anlehnung an die Saussuresche Dichotomie signifiantlsignifié einerseits, an die Luhmansche Verwendung von »Sinn als Grundbegriff der Soziologie« (in: J. Habermas/N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971: 25-100) andererseits. Die Brücke zwischen Luhmanns Begriff des »Sinns« und Saussures Begriff des »signifié« bildet das Insistieren des ersteren auf dem »funktionellen Primat der Negativität im sinnkonstituierenden Erleben« (S. 35 - Hervor h. im Original), das sich anschließen läßt an die sinnkonstituierende Leistung der Opposition in der Sprachkonzeption Saussures. R. Kloepfer seinerseits macht in seinen verschiedenen Studien zur »Sympraxis« gegenüber dem dichotomischen Zeichenbegriff bei Saussure einen triadisch verstandenen Zeichenbegriff in der Nachfolge der Peirceschen Semiotik geltend. Zeichen konstituieren sich dieser Konzeption zufolge nicht nur als die zweigliedrige Korrespondenz zwischen Zeichenkörpcr (»signifiant«) und Zeicheninhalt (»signifié«). Sie bedürfen vielmehr auf Seiten ihrer Benutzer eines »sympraktischen« Aktes »dominant selbstbezogene(r), dauerhafte^) und zeichenvermittelte(r) Bewußtseinsfüllung« (R. Kloepfer: »Mimesis und Sympraxis: Zeichengelenktes Mitmachen im erzählerischen Werbespot«, in: MANA. Mannheimer Analytika, 4/1985 (Narrativik in den Medien), S. 152), der es seinerseits erst ermöglicht, daß die logische - intersubjektiv vermittelte - »Bedeutung« der Zeichenkörper erfahrbar wird. Es ist jener Akt selbstbezogener Bewußtseinsfüllung, den Kloepfer terminologisch als »Sinn« bezeichnet Er entspricht in der Periceschen Zeichenkonzeption der Funktion der »energetischen« bzw. »emotionalen Interpretanten«. Sympraxis dient vor allem der Beschreibung solcher bei der Konstituierung der Interpretanten-/»Sinn«-Ebene beobachtbarer Prozesse. Als Beschreibungsinstmment spezifisch ästhetischer Prozesse, die die Zeichenkonstitution ermöglichen, darf die Sympraxis-Ebene gleichwohl nicht verabsoluüert werden. Wenn es stimmt, daß ästhetische Genre denkbar sind, bei denen »sich Bedeutung dem Sinn unterordnet« (S. 142) - und gewiß ist der in Kloepfers Studie analysierte Werbespot hierfür ein schlagendes Beispiel -, so gibt es doch andere, in denen umgekehrt die ästhetischen Prozesse der Sinn-Bildung - und zwar ungeachtet ihrer »relativen Dominanz« - untergeordnet sind der Konstitution von Bedeutung. Nur die abgehaltene Differenz von »Sinn« und »Bedeutung« - Sympraxis und Mimesis - bewahrt die ästhetischen Prozesse vor dem Rückfall in nazistischen Selbstgenuß - eine Möglichkeit, von der die Werbeindustrie so trefflichen Gebrauch zu machen versteht (um die Produkte samt ihren Rezipienten nur umso leichter ihren ökonomischen Bedeutungen dienstbar zu machen!). Die 'perennierende Suche' - Thema der Rayuelo im allgemeinen sowie von Kapitel 62 im besonderen - ist diese Differenz als Prozeß: Die von Morelli beschworene »búsqueda superior a nosostros mismos como individuos« ist als Sympraxis beschreibbar, ein Prozeß jedoch, der seine Dynamik gerade darin entfaltet, daß eine jede seiner Phasen im Hinblick auf das immer erneut entschwindende endgültige Ziel der Suche im Lichte von Negativität erscheint.
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toda razón y a toda descripción: fuerzas habitantes, extranjeras, que avanzan en procura de su derecho de ciudad; una búsqueda superior a nosotros mismos como individuos y que nos usa para sus fines, una oscura necesidad de evadir el estado de homo sapiens hacia ... ¿qué homo? Porque sapiens es otra vieja, vieja palabra, de esas que hay que lavar a fondo antes de pretender usarla con algún sentido.« (R 417) Der dritte Abschnitt geht nun wieder näher auf das Schreibprojekt ein: »Si escribiera ese libro, las conductas standard (incluso las más insólitas, su categoría de lujo) serían inexplicables con el instrumental psicológico al uso. Los actores parecerían insanos o totalmente idiotas. No que se mostraran incapaces de los challenge and response corrientes: amor, celos, piedad y así sucesivamente, sino que en ellos algo que el homo sapiens guarda en lo subliminal se abriría penosamente un camino como si un tercer ojo parpadeara penosamente debajo del hueso frontal.« (Ebd. - Hervorh. im Original) Schreiben ist für Morelli also vor allem eine mühevolle Arbeit (!) am signifiant am Signifikanten deshalb, weil der Text das gewöhnliche Signifikat menschlichen Verhaltens, eben dessen alltägliche oder abnorme Bedeutung, der Methode der Husserlschen »epoché« nicht unähnlich, zunächst einmal gleichsam in Klammem setzt. Das Phänomen (der Signifikant) wird somit frei für neue, erweiterte Bedeutungsmöglichkeiten, z.B. für Deutungen auf der Grundlage einer - vom Standpunkt der »conductas Standard« aus gesehen als phantastisch erscheinenden - biochemischen Theorie des Bewußtseins. Das Gedankenspiel Morellis - soweit seine Funktion im Rahmen von Rayuela - besteht also darin, einen Beitrag zu leisten zum Zentralthema des Romans, dem Thema der Suche. Die tentative Konfrontation zweier gänzlich verschiedener diskursiver Welten - der biochemisch strukturierten einerseits, der humanistischen andererseits verdeutlicht ihren jeweiligen Modell-Charakter, zeigt, daß ihre Geltung reduzierbar ist auf kulturelle Konventionen. Schreiben - als Arbeit am kulturellen und sprachlichen signifiant - macht dergleichen Konventionen sichtbar, nimmt ihnen damit potentiell ihre Geltung und schafft so die Möglichkeit, dank einer neuen »Kombinatorik« der Signifikanten, neue, kulturell bisher nicht akzeptierte Signifikate zu finden. Die letzten Sätze des Kapitels ikonisieren das Thema, indem sie das Pathos der perennierenden Suche in den vorwärtsdrängenden Rhythmus einer ausgedehnten, parataktisch strukturierten, dominant über rhythmische Impulse funktionierenden Klimax übersetzen: »Todo sería como una inquietud, un desasosiego, un desarraigo continuo, un territorio donde la causalidad psicológica cedería desconcertada, y esos fantoches se destrozarían o se amarían o se reconocerían sin sospechar demasiado que la vida trata de cambiar la clave en y a través y por ellos, que una tentativa apenas
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concebible nace en el hombre como en otro tiempo fueron naciendo la clave-razón, la clave-sentimiento, la clave-pragmatismo. Que a cada sucesiva derrota hay un acercamiento a la mutación final, y que el hombre no es sino que busca ser, proyecta ser, manoteando entre palabras y conducta y alegría salpicada de sangre y otras retóricas como esta.« (R 417f.) Der pathetische Impuls Morellis schwingt in 62 offenbar nach. Es ist anzunehmen, daß er zumindest das anfangliche Projekt des Schreibens begleitete. Ebenso offenbar ist jedoch die Tatsache, daß sich das Projekt mit dem Vollzug der Praxis grundlegend veränderte. Die Richtung, in der sich diese Veränderung bewegt, läßt sich allgemein bezeichnen als der Umschlag einer »logique de la découverte«, wie sie maßgebend ist für Rayuela, in eine Erfahrung des »déjà vu«, die Erfahrung nämlich, daß Suche nur möglich ist im Rahmen einer immer schon kodifizierten Welt, einer Welt mithin, die jedwedes Suchen in gewisser Weise immer schon transzendiert hat im Hinblick auf ein Bereits-gefunden-haben. Oder - mit anderen Worten formuliert - die konzentrierte und radikalisierte Wiederaufnahme des Themas der Suche aus Rayuela10 mündet ein in die Erfahrung der Schreibe, welche nicht nur dem logozentrischen Projekt der Suche selbst, sondern auch ihrem Medium - dem erzählenden Schreiben - als die Bedingung ihrer Möglichkeit vorausliegt. Der Struktur dieser Erfahrung entsprechend hat unsere Analyse drei Teile: Wir zeigen zunächst die Grenzen einer traditionellen Lektüre des Romans. Die Überschreitung der traditionellen Erzählsituation, die Unmöglichkeit mithin, den Text als Diskurs eines Erzählers im Hinblick auf seine Angleichung an den durchschnittlich geltenden Wahrheitsdiskurs zu verstehen 11 , ist angezeigt im Indiz der radikalisierten Polyperspektive (Abschnitt 2). Der zweite Teil behandelt exemplarische Erfahrungen der Schreibe, zunächst anhand einer Analyse der Eingangssequenz (Abschnitt 3), sodann im Hinblick auf den Gesamttext des Romans (Abschnitt 4). Dieser erweist sich als durchgängig strukturiert durch die Ebene mythologischer Intertextualität. Gegenstand des dritten Teils (Abschnitt 5 und 6) ist deshalb die Analyse der textuellen Verfahren, dank derer der Text den paradoxen Gestus eines »Erzählens ohne Modell« verwirklicht, d.h. den mythologischen Intertext im Prozeß des »Mytho-skripts« dekonstruiert.
3.2. 62: Grenzerfahrung des »klassischen« Textes Die Polyperspektive ist keine Erfindung von 62. Daß es mitunter nur der schmale Grad einer bestimmten Aussage (frz.: »énonciation«) ist, der die Trennung erlaubt zwischen Realität und Irrealität, Vernunft und Wahnsinn, Alltäglichkeit und Phantastik, ist ein Thema, das in den phantastischen Erzählungen in immer neuen Formen 10
Hiervon handelt »La muflcca rola«, in: J. Cortázar: Ultimo round, Madrid 1974, t.I, 248ff.
11
J. Kristeva: Semiotikè.
Recherches pour une sémanalyse, Paris 1969: 211.
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variiert wird: in »Continuidad de los parques« als ironische Verschachtelung von Realitäts- und Fiktionalitätsebene seitens des »lector-hembra« (R 452); in »La puerta condenada« die UnUnterscheidbarkeit von empirisch verifizierbarer bzw. halluzinatorischer Identitätserfahrung; in »Relato con un fondo de agua« als die beständige Oszillation zwischen Traum- und Erlebniswelt; in »La noche boca arriba« (alle vier zitierten Erzählungen finden sich in Final del juego von 1956) sowie in »Todos los fuegos el fuego« (die Titelgeschichte des gleichnamigen Erzählbandes von 1966) als die erlebnismäßige Parallelisierung von unterschiedlichen historischen und kulturellen Zeiten bzw. Räumen; und schließlich als 'willkürliche', im einen Fall vom Aussagesubjekt eines Briefschreibers, im anderen von der Sensibilität einer Fotolinse abhängige Grenzverwischung zwischen Tod und Leben in »Cartas de Mama« bzw. in »Las barbas del diablo« (beide Erzählungen in: Las armas sécrétas von 1958). Im Unterschied zur geschlossenen Form der Kurzgeschichte dient die Polyperspektive in 62 jedoch nur der Hinführung zur eigentlichen Thematik des Romans, d.h. der Überschreitung und Außerkraftsetzung der 'traditionellen' Lesart des Textes im Rahmen des Wahrscheinlichkeitsdiskurses. Die Transgression durchläuft indessen verschiedene Stufen. Auf der ersten Ebene führt sie noch keineswegs zur Aufhebung unseres gewohnten Weltbilds, sondern - durchaus im Rahmen einer 'realistischen' Lektüre - zu dessen Erweiterung: So erleben wir die Ankunft Celias und Hélènes im Appartement der letzteren (vgl. Kapitel 42, MA 135ff.) 12 nacheinander im Spiegel des Bewußtseins der jungen Studentin, sodann der chaotischen Gefühlswelt der (nicht mehr jungen) Ärztin. Der Effekt dieser Doppelperspektive - die dem Leser in dieser Form aus Rayuela geläufig ist - besteht mithin in der Bereicherung unseres Informationsstandes über die beiden gegensätzlichen Frauen und liefert für die sich anbahnende 'Katastrophe' (Kapitel 51) insofern eine 'plausible' Erklärung. Ähnliches gilt zunächst auch für die Perspektivenwechsel in Kapitel 54 (AM 187ff.): Atemlos der Vampir-Frau Marta und ihrem 'Opfer', der jungen englischen Touristin, folgend, befinden sich die beiden Voyeure - Juan und Teil - schließlich auf der Straße im frühmorgendlichen Berufsverkehr von Wien. Frau Marta besteigt eine überfüllte Straßenbahn. Juan gelingt es eben noch, sich ebenfalls hineinzuzwängen, verliert Frau Marta dann jedoch im Gedränge aus den Augen. Statt ihrer erblickt er plötzlich - wir sind in Wien! - seine Pariser Freundin Hélène, die ein paar Stationen weiter - ohne daß es ihm gelungen ist, bis zu ihr vorzudringen - aussteigt. Bis hierhin ist die Geschichte 'auktorial' - in Außenperspektive - erzählt. Der Leser ist gezwungen, die Geschichte als ein dem Augenschein entsprechendes Geschehen zu akzeptieren - auch wenn er vom auktorialen Erzähler gerne Auskunft darüber erhielte, wieso Hélène, die er in Paris weiß, nun plötzlich in einer Wiener Straßenbahn auftaucht. Statt einer Erklärung konfrontiert ihn der Text zu Beginn des Kapitels jedoch nur mit 12
Wir haben die lediglich durch blancs voneinander abgesetzten Textabschnitte durchnummeriert- Es ergibt dies eine Gesamtzahl von - nach Länge zwischen 1 und 20 Seiten variierenden - 71 Kapiteln'.
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dem Kontinuum von Hélènes subjektivem Bewußtseinsstrom, der hinsichtlich des fraglich gewordenen Chronotopos jedoch die gleichen Informationen enthält wie die 'Außenperspektive': Hélène befindet sich in der Tat in der Straßenbahn und ist auf der Suche nach einer Adresse, wo sie ein mysteriöses »Paket« abzugeben hat. Die Polyperspektive zwingt hier nicht nur zu einer quantitativen Erweiterung des Wirklichkeitsbildes, sondern zwingt zu dessen kategorialer Revision: Traum und Wirklichkeit sind ununterscheidbar geworden, dergestalt, daß 'Wirklichkeit' nun als Kontinuum gilt, für das die Gesetze von Raum und Zeit keine Gültigkeit mehr besitzen. Ein vom Gesichtspunkt einer an einer wahrscheinlichkeitsgetreuen Re-Konstruktion der Handlung und der Personen interessierten Lektüre aus gesehen schwerwiegenderes Problem ergibt sich jedoch hinsichtlich des Todes von Hélène: Einerseits erscheint es offensichtlich, daß Hélène - den Informationen von Kapitel 69 (MA 264) zufolge - durch die Hand von Celias Freund Austin stirbt, der sich in Eifersucht verzehrt ob ihrer homosexuellen Beziehungen zu Hélène. Andererseits - wie ist es zu erklären, daß die gleiche Hélène wenige Monate nach diesen Ereignissen offenbar weiterhin 'lebendig' ist? Kapitel 16 nämlich, das Schlußkapitel der 'Eingangssequenz', berichtet von einem der gewohnten Treffen der Freunde im Restaurant »Cluny«. Scheinbar unzweideutige Indizien - Erwähnung von »Frau Marta«, das Bild eines »toten jungen Mannes« - suggerieren eine Situierung der Szene, dem Parameter der erzählten Zeit zufolge im Anschluß an die in den Hauptsequenzen erzählten Ereignisse in Wien und Paris. So erhält der Text die Funktion eines melancholischen Schlußpunktes unter eine Serie kumulierender, die Grenzen totaler Kommunikationslosigkeit berührender Mißverständnisse zwischen Juan und Hélène: »Hélène seguía callada, fumando despacio un cigarillo rubio, atenta y ajena como siempre que yo hablaba. No la había mencionado ni una sola vez (¿qué les conté, finalmente, qué rara mezcla de espejos y Sylvaner para alegrarles la nochebuena?), y sin embargo era como si se supiese aludida, se refugiaba detrás del cigarillo, en alguna observación casual a Tell o a Marrast, seguía cortésmente el relato. Si hubiéramos estado solos creo que me hubiera dicho: 'No soy responsable de la imagen que anda a tu lado', sin sonreír pero casi amablemente. 'Si me ocurriera soñar contigo, tú no serías responsable', podría haberme dicho Hélène. 'Pero eso no era un sueño', le hubiese contestado yo, 'y tampoco sé con certeza si tenías algo que ver o si te incorporaba por rutina, por estúpida costumbre'. No era difícil imaginar el diálogo, pero si hubiese estado solo con Hélène ella no me hubiera dicho eso, probablemente no me hubiera dicho nada, atenta y ajena; una vez más la incluía sin derecho, imaginariamente, como un consuelo por tanta distancia y tanto silencio. Ya nada teníamos que decimos Hélène y yo, que nos habíamos dicho tan poco. De alguna manera que a los dos se nos escapaba y que quizá estaba tan clara en lo que había sucedido esa noche en el restaurante Poli-
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dor, no coincidíamos ya en la zona o en la ciudad, aunque nos encontráramos en una mesa del Cluny y habláramos con los amigos, a veces entre nosotros brevemente. Sólo yo me obstinaba todavía en esperar; Hélène permanecía allí, atenta y ajena. Si en el último reducto de mi honradez ella y la condesa y Frau Marta se sumaban en una misma abominable imagen, ¿no me había dicho alguna vez Hélène - o me lo diría después, como si yo no lo hubiese sabido desde siempre - que la única imagen que podía guardar de mí era la de un hombre muerto en una clínica? Intercambiábamos visiones, metáforas o sueños; antes o después seguíamos solos, mirándonos tantas noches por encima de las tazas de café.« (MA 40f.) In Kapitel 16 haben die erwähnten Indizien für den Leser mithin antizipatorische Funktion: Sie deuten voraus auf handlungslogisch noch in der Zukunft liegende Ereignisse. Später jedoch zeigt sich, daß diese Lektüre den Ablauf der Ereignisse in unzulässiger Weise vereindeutigt. Auch im Rahmen der Erzählsequenzen 'Wien' und 'London' fehlt es nämlich keineswegs an Indizien, die es naheliegend erscheinen lassen, gewisse Ereignisse, die sich an einem Heiligabend in Paris zugetragen haben, als vergangene zu betrachten. 13 Der Widerspruch ist mithin offensichtlich: die Eingangssequenz hat im Hinblick auf die Chronologie der Handlung ebensowohl prospektive wie retrospektive Funktion. Einmal mehr jedoch ergibt sich hieraus ein Problem der Perspektive: Wer spricht?14 Wer ist das 'Subjekt' jener Aussage, das in der Eingangssequenz unter dem Titel »el coágulo« erscheint? Juan kann es offenbar nicht sein, wenn die Annahme gilt, daß 'Juan' ein Individuum ist, dessen Leben dem unumkehrbaren Ablauf der Zeit unterliegt. Wenn nicht Juan, so doch der 'Erzähler', so wird man argumentieren. Welchen Sinn hat jedoch eine Erzähl-Geste, welche die elementaren Gesetze des (chrono-) logischen Denkens systematisch mißachtet? Wir sind offensichtlich einem Typus von Erzählen konfrontiert, das in der prinzipiellen Umkehrbarkeit des Parameters Zei'r seine Nähe zum mythischen Diskurs signalisiert. Dieses vorläufige Ergebnis fordert es, die Eingangssequenz, die die erörterten Fragen ausgelöst hatte, erneut schärfer ins Auge zu fassen. Im Mittelpunkt der hier erzählten Ereignisse steht Juans Erfahrung des sogenannten »coágulo«. Ihr haben wir uns nunmehr zuzuwenden.
3.3. Unterwegs zur »Schreibe«: Die Funktion des »coágulo« Was ist das - »el coágulo«? Überführung einer flüssigen Substanz in einen festen Aggregatszustand - gemäß einer gängigen Wörterbuchdefinition - markiert der »coágulo« eine alltägliche, nichtsdestoweniger signifikante Erfahrung verbaler Natur: Sie stellt sich ein in dem Augenblick, als Juan, am Ende seines ziellosen Umherirrens im vorweihnachtlich-verlassenen Quartier Latin in einem kleinen Restaurant namens 13
Vgl. etwa MA 178f„ 218,236,257,262.
14
Barthes 1972: 146.
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»Polidor« Platz nimmt und zufällig hört, wie ein Gast am Nebentisch seine Bestellung ausspricht. »Je voudrais un château saignant« ( M A 9), sagt der Mann in lässigem Französisch. Einen Augenblick lang dominiert die Routine des Simultandolmetschers das analytische Bewußtsein des Intellektuellen: die Tatsache außer Acht lassend, daß die französische Opposition »sanglant«/»saignant« im spanischen Ausdruck »sangriento« neutralisiert ist und der Gast das nomen proprium des berühmten Romantikers außerdem zum nomen commune verkürzt hat, glaubt Juan zunächst das französische Äquivalent des spanischen Syntagmas »castillo sangriento« zu vernehmen. Der durch den harmlosen Übersetzungsfehler zutage geförderte Un-Sinn - dessen Juan natürlich augenblicklich inne wird - erweist sich nichtsdestoweniger als sinn-produzierendes Element ersten Ranges: »château saignant« evoziert in Juans Bewußtsein eine Kette weiterer Signifikanten, die mit dem Ausgangssyntagma - wie bereits »castillo sangriento« - in paradigmatischer Beziehung stehen. Die wichtigsten sind die folgenden: - das eben auf dem Boulevard Saint Germain erstandene Butor-Buch 6810000 litres d'éau par seconde mit der Erwähnung des Schriftstellers Chateaubriand auf der ersten Seite, ein Name, der ihn augenblicklich den Roman Atala assoziieren läßt (MA 17); - die Erinnerung an die um die Person der Gräfin Erszebet Báthory geknüpften Vampir-Geschichten, eine Evokation, die sich Minuten zuvor just an der Ecke »rue Monsieur le Prince«!»rue de Vaugirard« eingestellt hatte (ebd.); - das Basiliskenhaus in Wien sowie die sowohl von Monsieur Ochs als auch von Hélène als Schmuck getragenen Abbildungen der mythologischen Figur des Basilisken (MA 18); - die Erinnerung an die Umtriebe der Frau Marta in Wien (ebd.); - der Name des Restaurants, das Juan betreten hat: »Polidor« (ebd.); - der unbequeme Platz vor dem Spiegel, den man ihm zugewiesen hatte, sowie schließlich - die Flasche Sylvaner, die er im Begriff ist zu leeren (MA 19). Der »coágulo« ist mithin eine Art Superzeichen, ein aus heterogenen Sinnschichten, nach den Regeln der metonymischen »coprésence [...] des éléments de la chaîne signifiante horizontale« 15 bzw. der metaphorischen »substitution du signifiant au signifiant«16 gebildetes »signo oscuro« (MA 11), ein in die Form des Anagramms 17 gegossenes Sinn-Rätsel, um dessen »Entzifferung« (ebd.) sich Juan in den auf die Erfahrung folgenden Minuten und Stunden mit den Mitteln sowohl der rationalen Analyse als auch der chronologischen Erzählung bemüht. Beide - Analyse sowohl als Erzäh15
J.Lacan 1966: 151.
16
Ebd.
17
Zur Entzifferung des Rätsels hat die vom philologischen Standpunkt aus gesehen vortreffliche Arbeit von S. Boldy (vgl. Anm. 2!) vieles beigetragen, etwa dies: »(...) the word vampire is clearly present in Monsieur le /"rince and V^ug/Rard« (Boldy 1980: 115).
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lung - sind der »Versuch, (ein) Etwas, das sich als augenblickshafter Widerspruch einstellte, das (zu Bedeutung) geronnen, (diese) im gleichen Moment wieder verließ, in Sprache zu übersetzen ('situar al nivel de lenguaje')« {MA 10), heißt, die Simultanität einer in Form von »visiones, metáforas o sueños« (MA 41) gegebenen Erfahrung durch ihre Verwandlung in die den Sinn der ursprünglichen Erfahrung notwendig verfälschende Sukzession der sprachlichen Elemente (im Syntagma) - sich selbst oder anderen - 'kommunizierbar' zu machen. Dann jedoch ist die Erfahrung des »coágulo« mehr - bzw. 'weniger' - als ein 'Zeichen'. Die mit dem »coágulo« gleichursprüngliche Erfahrung der Unmöglichkeit der 'Entzifferung', der Unmöglichkeit nämlich, sich selbst - als erkennendes, erklärendes, erzählendes Subjekt - dem »coágulo« gleichsam gegenüberzustellen, es hinsichtlich seiner Bedeutung zu entschlüsseln, um diese dann in einem weiteren Schritt 'mitzuteilen' (sich selbst bzw. einem anderen), erinnert an das oben besprochene Problem der Polyperspektive bzw. das durch dieses indizierte Problem der Identifizierung eines Subjekts der Aussage. So konfrontiert der »coágulo« offenbar mit jenem von R. Barthes erwähnten - »heilsamen Unbehagen der Schreibe«, welches darin besteht, die endgültige »Beantwortung der Frage: Wer spricht? ein für allemal zu verhindern« 18 . Der »coágulo«-Erfahrung eignet Ursprünglichkeit in jenem paradoxen, von Jacques Derrida als »différance« bezeichneten Sinne: »Rien - aucun étant présent et in-différent - ne précède [...] la différance et l'espacement. Il n'y a pas de sujet qui soit agent, auteur et maître de la différance et auquel celle-ci surviendrait éventuellement et empiriquement. La subjectivité comme l'objectivité - est un effet de différance, un effet inscrit dans un système de différance.« 19 'Ursprünglich' ist der »coágulo« gleichsam nur im Komparativ. Er ist ursprünglicher als das erzählende und analysierende Subjekt. Er ist ursprünglicher - auch - als die 'objektive' Welt, denn diese ist es ja - nicht sein privates Bewußtseinsleben -, die Juan in Form des vor ihm befindlichen Spiegel-Bildes, der eben vernommenen Worte am Nebentisch, der vor ihm stehenden Sylvaner-Flasche oder des gerade gekauften Butor-Buches zu 'entziffern' versucht. Ursprünglich ist der »coágulo« mithin, indem er im Hinblick auf 'Setzungen' aller Art - sei es im Bereich der erkenntnistheoretischtranszendentalen 'Subjektivität', sei es im Bereich der als unabhängig von subjektiven Bewußtseinsleistungen angenommenen 'Objekte' - die Erfahrung unerbittlicher Dekonstruktion bedeutet. Juan ist natürlich weiterhin bemüht, den »coágulo« zu denken, die Erfahrung bewußtseinsmäßig - 'logozentrisch' - zu verobjektivieren. Wessen er dabei inne wird, ist jedoch nur jene »contradicción instantánea« (MA 10), die Erfah-
18
R. Barthes, a.a.O. (vgl. Anm. 14)
19
J. Derrida 1972b: 40.
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rang mithin, daß der/das da denkt, durch das zu Denkende konstituiert ist: »'Sí', pensó Juan suspirando, y suspirar era la precisa admisión de que todo eso venía de otro lado, se ejercía en el diafragma, en los pulmones que necesitaban espirar largamente el aire. Sí, pero también había que pensarlo porque al fin y al cabo él era eso y su pensamiento, no podía quedarse en el suspiro, en una contracción del plexo, en el vago temor de lo entrevisto. Pensar era inútil, como desesperarse por recordar un sueño del que sólo se alcanzan las últimas hilachas al abrir los ojos; pensar era quizá destruir la tela todavía suspendida en algo como el reverso de la sensación, su latencia acaso repetible.« (AM 13) Die im »coágulo« indizierte ursprüngliche »différance« - jenes sich dem Denken als »momentaner Widerspruch« zeigende und im gleichen Augenblick wieder entziehende »Etwas« - läßt sich auf die Aussagestruktur eines empirischen Subjekts nicht mehr beziehen: »[...] eso no entraba ya en el lenguaje articulado de nadie, ni siquiera de un intérprete avezado como Juan.« ( M A 10; Hervorh. - W.B.B.) Wenn diese Feststellung auch zunächst nur zu gelten scheint im Hinblick auf die konstitutiven Leistungen des Bewußtseins des Protagonisten, so befindet sich der Leser Juan gegenüber doch keineswegs in einer privilegierteren Situation: Juan und der 'Erzähler' der Eingangssequenz sind zwar nicht ein und dieselbe Instanz; ihre Erfahrungen sind jedoch analoge: wie Juan gegenüber sich selbst (Juan als reflektierendes Bewußtsein), ebensowenig gelingt es dem Erzähler, die »Geschichte«, die er zu erzählen versucht - d.h. Juans Erfahrung des »coágulo« im Restaurant »Polydor« - als kommunizierbare 'Botschaft' zu vergegenständlichen. Wie Juan ins »coágulo« so erfährt auch er sich eingeschrieben in ein diskontinuierliches Kontinuum von Texten. Die Frage nach der Funktion des »coágulo« bzw. - im weiteren - der Einleitungssequenz im Ganzen läßt sich mithin beantworten: Sie modelliert die Erfahrung der ursprünglichen Einschreibung des Subjekts - des Protagonisten sowohl wie des Erzählers - in den kulturellen Text, dergestalt jedoch, daß dieser (vermeintliche) 'Ursprung' - so sehr er die gewohnten Setzungen unserer logozentrischen Kultur transzendiert (Subjekt und Objekt; Kommunikation und Erkenntnis) - nur erfahrbar ist als der unabschließbare, 'Ursprung' immer wieder auf neue Signifikanten hin 'verschiebende' Prozeß der Signifikation. Was dies bedeutet im Hinblick auf den Text als Ganzes, wird in den folgenden Abschnitten zu erörtern sein. Einen Hinweis auf die Modellfunktion des »coágulo« im Hinblick auf die Struktur eines Erzähltextes im Horizont der Schreibe bietet Juans Blick auf das spiegelverkehrte Bild des nunmehr in die Lektüre des France Soir vertieften Restaurant-Gastes. Der Blick zeigt nicht nur die Nachrichten-Welt der Zeitung, sondern - metonymisch verknüpft mit dieser - auch die Romanhandlung und ihre Konstellation als der Entzifferung bedürftige Hieroglyphe:
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»El alfabeto ruso sigue ahí, oscilando entre las manos del comensal gordo, contando las noticias del día como más tarde en la zona (el Cluny, alguna esquina, el canal Saint-Martin que son siempre la zona) habrá que empezar a contar, habrá que decir algo porque todos ellos están esperando que te pongas a contar, el corro siempre inquieto y un poco hostil al comienzo de un relato, de alguna manera están todos allí esperando que empieces a contar en la zona, en cualquier parte de la zona, ya no se sabe dónde a fuerza de ser en tantas partes y tantas noches y tantos amigos, Tell y Austin, Hélène y Polanco y Celia y Calac y Nicole, como otras veces le toca a alguno de ellos llegar a la zona con noticias de la Ciudad y entonces te toca a ti ser parte del corro que espera ávidamente que ese otro empiece a contar, porque de alguna manera en la zona hay como una necesidad entre amistosa y agresiva de mantener el contacto, de saber lo que ocurre ya que casi siempre ocurre algo que alcanza a valer para todos, como cuando sueñan o anuncian noticias de la Ciudad, o vuelven de un viaje y entran otra vez en la zona (el Cluny por la noche, casi siempre, el territorio común de una mesa de café, pero también una cama o un sleeping car o un auto que corre de Venecia a Mantua, la zona entre ubicua y delimitada que se parece a ellos, a Marrast y a Nicole, a Celia y a monsieur Ochs y a Frau Marta, participa a la vez de la Ciudad y de la zona misma, es un artificio de palabras donde las cosas ocurren con igual fuerza que en la vida de cada uno de ellos fuera de la zona.« (MA 15f.)
3.4. Erzählen ohne Modell Die bisher gewonnenen Einsichten in die Struktur des Textes führen zu dem paradoxen Ergebnis, daß dem Roman gerade jene Eigenschaften zu fehlen scheinen, welche der semiotischen Erzähltheorie zufolge für die Funktion des Erzähltextes als Modell einer möglichen Welt konstitutiv sind. Als Maßstab für die Formulierung dieses Paradoxes gilt der konventionalisierte Typus des »klassischen Textes« (R. Barthes): Diesem zufolge ist Erzählen seinem Wesen nach 'Kommunikation', d.h. Mitteilung einer bestimmten Bedeutung ('Moral', 'Evaluation', 'Ideologie') im Hinblick auf eine mögliche Welt. Erzählen stellt sich dar als Manifestation einer intentionalen Leistung, als 'Diskurs' eines Erzählers im Hinblick auf den Rezipienten, als GlaubhaftMachen (»vraisemblabiliser«) einer speziellen 'Sichtweise' von Welt im Rahmen eines bekannten oder auch ad-hoc, im Vorgang des Erzählens oder Rezipierens 'neu' zu definierenden Codes. Der Erzähl-Tex/ selbst hat insofern nur intentional-'strategische' Funktion. Er steht im Dienst eines Mitteilen-Wollens, d.h. des an den Rezipienten gerichteten Erzählerdiskurses 'über' die Welt. Seine Bedeutung ist deshalb reduziert auf die Funktion eines fundamentalen »Vouloir-dire-vrai« 20 im Rahmen einer möglichen Welt. 20
Kristeva (vgl. Anm. 11).
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An diesem Maßstab gemessen ist