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German Pages 417 [420] Year 2006
Grammatik aus Nähe und Distanz
Grammatik aus Nähe und Distanz Theorie und Praxis am Beispiel von Nähetexten 1650-2000
Herausgegeben von Vilmos Ägel und Mathilde Hennig
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN-13: 9783-484-64033-7 ISBN-10: 3-484-64033-2 © Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Einband: Verlags- und Industriebuchbinderei Nadele, Nehren
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I
Theorie und Praxis
Vilmos Agel/Mathilde Hennig Theorie des Nähe- und Distanzsprechens Vilmos Agel/Mathilde Hennig Praxis des Nähe- und Distanzsprechens
II
IX
3
33
Beispiele
Ildikö Mänässy Bauernleben im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Die Stausebacher Chronik des Caspar Preis 1636-1667 [= Bauernleben I]
77
Peter Kappel Augustin Güntzer: Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert [= Güntzer I]
101
Annamdria Fotos/Barbara Horväth Prozeß gegen Georg Schobel und seine Frau; Prozeß gegen die Frau des Simon Schnell [= Hexe I]
121
Ildikö Hegedüs Hans Ludwig Nehrlich. Erlebnisse eines frommen Handwerkers im späten 17. Jahrhundert [= Nehrlich II]
141
Orsolya Rauzs Meister Johann Dietz des Großen Kurfürsten Feldscher und Königlicher Hofbarbier [= Meister Dietz II]
163
VI
Inhaltsverzeichnis
Judit Gaäl Gottfried August Bürger: Mein scharmantes Geldmännchen. Gottfried August Bürgers Briefwechsel mit seinem Verleger Dieterich [= Bürgers Geldmännchen III]
183
Orsolya Rauzs Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheur des Armen Mannes im Tockenburg [= Bräker III]
201
Petra Molnär Georg Anger: Die Chronik des Georg Anger [= Anger Chronik IV]
221
Ildiko Mänässy Haniel, Franz 1779-1868. Materialien, Dokumente und Untersuchungen zu Leben und Werk des Industriepioniers Franz Haniel [= Haniel IV] . . .
241
Mathilde Hennig „Denn das Schreiben gehört nicht zu meiner täglichen Beschäftigung". Der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch [= Alltag kleiner Leute V]
261
Petra Molnär/Eszter Zöka „Wenn doch dies Elend ein Ende hätte": ein Briefwechsel aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 [= Briefwechsel V]
279
Daniel Czicza Briefe des Braut- und Ehepaares von Neupauer [= Liebesbriefe VI]
297
Eszter Zöka Zwischen Front und Heimat: der Briefwechsel des Münsterischen Ehepaares Agnes und Albert Neuhaus 1940-1944 [= Briefwechsel VI] ..
319
Mathilde Hennig Sprachbiographien. Sprache und Sprachgebrauch vor und nach der Wende von 1989 im Erinnern und Erleben von Zeitzeugen aus der DDR [= Sprachbiographien VII]
341
Daniel Czicza/Peter Kappel Mathilde Hennig: Privatbriefe aus den 90er Jahren [= Privatbriefe VII] ..
361
Inhaltsverzeichnis
VII
III Gesamtübersicht über das Modell des Näheund Distanzsprechens
377
IV Modellglossar
385
V
397
Literatur
Einleitung
Vorliegender Sammelband stellt eine theoretische, methodische und empirische Vorarbeit zu einer in der „Sammlung kurzer Grammatiken Germanischer Dialekte" des Niemeyer Verlages geplanten Sprachstufengrammatik des Neuhochdeutschen (= Nhd.Gr.) dar. Der überwiegende Teil dieser Vorarbeit entstand in den Jahren 2001-2004 an der Universität Szeged im Rahmen eines durch die Ungarische Forschungsgemeinschaft (= OTKA) geförderten Projekts (T 034340 NYE). Die Vorbereitung der Publikation wurde im Jahre 2005 durch die Zentrale Forschungsförderung der Universität Kassel (= ZFF) unterstützt. Die Herausgeber danken sowohl der OTKA als auch der ZFF für die Unterstützung des Projekts. Im Folgenden soll versucht werden, den Status der im vorliegenden Sammelband veröffentlichten Arbeiten im Rahmen des Gesamtprojekts Nhd.Gr. zu beleuchten. Dies ist insbesondere auch deshalb notwendig, weil diese Arbeiten keine grammatischen Analysen im herkömmlichen Sinne darstellen, sondern dazu beitragen sollen, historische Quellentexte aus grammatischer Perspektive diamedial - hinsichtlich des Grades an (grammatischer) Nähe- bzw. Distanzsprachlichkeit - einordnen zu können. 1 Wir gehen davon aus, dass man die nachmittelalterliche Geschichte einer modernen Kultursprache wie des Deutschen als Literalisierungsgeschichte, d. h. als Geschichte der Verschriftung - mediale Achse von Oralität/Literalität - und Verschriftlichung - konzeptionelle Achse von Oralität/Literalität - zu interpretieren und zu beschreiben hat. 2 Dabei stellt Literalisierung nicht bloß einen Faktor der sog. äußeren Sprachgeschichte dar, sondern sie formt fundamental die kognitionspsychologischen Grundlagen von Denken und Sprechen um: 3 Einerseits fuhrt Literalisierung zu neuen Denkmustern. Diese, die kognitionspsychologisch als symbolorientiert (kognitivistisch) zu charakterisieren sind, verdrängen nicht die alten Denkmuster, die als netzwerkorientiert (konnektionistisch) zu bezeichnen sind, sondern sie überlagern sie. Es kommt zu
1 2 3
Zu den Begriffen ,Nähe' und ,Distanz' vgl. Koch/Oesterreicher (1985/1994). Zu .Verschriftung/Verschriftlichung' s. Koch/Oesterreicher (1994: 587). Zum Nachfolgenden (inkl. der verwendeten Literatur) vgl. ausfuhrlicher Agel (2003, 2005, i. Dr.) und Hennig (i. V.). Zur kognitionspsychologischen Grundlegung vgl. Scheerer (1993).
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Einleitung
einer kulturhistorisch induzierten und motivierten Vertikalisierung der kognitionspsychologischen Grundlagen des Denkens. Andererseits führen Literalisierung und ,Kognitivierung' zu einer veränderten Wahrnehmung von Sprechereignissen durch Sprecher wie Sprachwissenschaftler. Besonders bedeutsam aus der Sicht einer .Theorie und Praxis' der Nhd.Gr. sind dabei die grammatischen und grammatiktheoretischen Konsequenzen dieser veränderten Wahrnehmung. Wir rechnen mit der Herausbildung neuer Grammatikmuster, die grammatiktheoretisch als symbolgrammatisch zu charakterisieren sind. Diese neuen Grammatikmuster verdrängen nicht die alten, die grammatiktheoretisch als kontextgrammatisch zu bezeichnen sind, sondern es kommt zu der historischen Überformung und Überlagerung der kontextgrammatisch strukturierten Mündlichkeit durch die neuen symbolgrammatischen Strukturen der Schriftlichkeit. .Überlagerung' heißt dabei, dass neue Organisationsformen, Organisationstechniken und Funktionsweisen des Sprechens auf der Basis der alten entstehen und dass es oft zu einer vertikalen Kohabitation von Altem und Neuem kommt. Der Prozess fuhrt also keinesfalls notwendigerweise zur endgültigen Verdrängung kontextgrammatischer Grammatikmuster. Vielfach büßen .überlagerte' kontextgrammatische Formen, Techniken und Funktionsweisen auch ihre Produktivität nicht ein, sondern es kommt zu einer kulturhistorisch induzierten und motivierten bzw. kognitionspsychologisch motivierten Vertikalisierung von grammatischen Strukturen. Die neuen symbolgrammatischen Strukturen gewinnen dabei zunehmend an Sozialprestige. Dies bedeutet wiederum, dass sie zunehmend auch die primär kontextgrammatisch strukturierten Varietäten der Mündlichkeit beeinflussen, und dass es auf diese Weise zur tertiären - symbolgrammatisch induzierten - Oralität kommt. Längerfristig ist also damit zu rechnen, dass der symbolgrammatische Überformungs- und Überlagerungsprozess soziopragmatisch homogenisierend wirkt. 4 Die skizzierten kognitionspsychologischen und grammatiktheoretischen Überlegungen fuhren nun zum konzeptionellen Leitprinzip der geplanten Nhd.Gr.: Wir nehmen an, dass die diamediale Dimension eine besondere Rolle bei der grammatischen Entwicklung des Nhd. spielt, was eine theoretisch fundierte und methodisch umsetzbare Berücksichtigung der Nähe/Distanz-Dimension bei der Erarbeitung der Nhd.Gr. erfordert. Infolgedessen wird dieses Leitprinzip auch zur Grundlage der Korpuszusammenstellung für die empirischen Arbeiten gemacht. Genauer gesagt geht es uns darum, ein kleines Nähekorpus des Nhd. theoretisch zu begründen und methodisch kontrollierbar praktisch umzusetzen,
Angesichts der Polydimensionalität sprachlicher Phänomene können die .Spuren' kontextund symbolgrammatischer Organisationstechniken und Funktionsweisen mitunter am selben Phänomen nachgewiesen werden. Beispielsweise sind Genese und Verbreitung epistemischer Modalpartikeln an die Literalisierung gebunden (s. Agel 1999), doch die Partikeln selbst verstärken eher den holistischen als den kompositionalen Charakter des Sprechens. Daher werden diese im Zuge der Literalisierung entstandenen Sprachzeichentypen - im Gegensatz zu den .kompositionalen' Modalwörtern - vorzugsweise sprechsprachlich eingesetzt.
Einleitung
XI
da die vorhandenen empirischen Arbeiten zur Grammatik des Nhd. eher der Erforschung von Distanzvarietäten zuzurechnen sind und daher die grammatische Untersuchung des Nähepols als das wesentlich dringendere Forschungsdesiderat anzusehen ist. Die Erforschung historischer Mündlichkeit macht aus nahe liegenden Gründen einen besonderen methodischen Zugriff erforderlich, der nur aus einer theoretischen Modellierung der Nähe/Distanz-Dimension hergeleitet werden kann. Einen Ansatz für eine solche Modellierung bietet das Konzept von Koch/Oesterreicher (s. Anm. 1). Da dieses Modell aber aus Gründen, die im ersten Aufsatz des vorliegenden Sammelbandes erörtert werden, eine methodisch kontrollierbare praktische Umsetzbarkeit bei der Ermittlung des Grades an Nähesprachlichkeit (bzw. Distanzsprachlichkeit) eines potentiellen Korpustextes nicht bietet, wurde von uns in einem ersten Schritt der Versuch unternommen, das Modell von Koch/Oesterreicher derart weiterzuentwickeln, dass diese „Theorie des Nähe- und Distanzsprechens" (erster Aufsatz von Teil I) eine operationalisierbare Grundlage für die praktische Textarbeit bilden, d. h. die Validierung von potentiellen Korpustexten ermöglichen kann. Die Operationalisierung erfolgte in einem zweiten Schritt, indem in der „Praxis des Nähe- und Distanzsprechens" (zweiter Aufsatz von Teil I) auf zwei Ebenen der grammatischen Analyse - auf der sog. Mikro- und auf der sog. Makroebene der Nähe- und Distanzsprachlichkeit - ein Punktgebungsverfahren entwickelt wurde. Die grammatischen Analysen auf Mikro- und Makroebene verbinden sich also mit der Anwendung des Punktgebungsverfahrens, das wiederum die Ermittlung der prozentualen Nähesprachlichkeit (bzw. Distanzsprachlichkeit) eines potentiellen Korpustextes ermöglicht und somit zu einer methodisch kontrollierbaren Korpusbildung beiträgt. Im Projektjargon sprechen wir hier von ,Nähechecks' (von ,Mikro- bzw. Makronähechecks'). Alle Beiträge von Teil II exemplifizieren die praktische Umsetzung und Umsetzbarkeit der in Teil I vorgestellten Theorie und Methode an historischen Quellentexten aus dem Zeitraum 1650-2000, stellen also ,Nähechecks' dar. Dabei wurde der Zeitraum in sieben Abschnitte ä 50 Jahre unterteilt. Im vorliegenden Sammelband geht es allerdings weder um die gleichmäßige Verteilung der untersuchten Texte auf die einzelnen Zeitabschnitte noch um die Dokumentierbarkeit und Vergleichbarkeit historischer Nähesprachlichkeit innerhalb des Nhd. Solche .höheren Ziele' können nur im Rahmen eines größeren Projekts verfolgt werden. Als historisch maximal nähesprachliche Texte konnten etwa Verhörprotokolle von Hexenverhören, Lebensberichte einfacher Leute sowie verschiedene Korrespondenzen identifiziert werden. Was diese durchaus verschiedenen Texte für uns verbindet und grammatisch vergleichbar macht, ist also deren prozentual vergleichbarer Grad an grammatischer Nähesprachlichkeit. Noch ein Wort zu dem durchaus nicht unproblematischen Begriff der , historisch maximalen Nähesprachlichkeit': Dem kritischen und aufmerksamen Leser von Teil II wird nicht entgehen, dass die bei historisch überlieferten Texten erreichbare maximale Nähesprachlichkeit bei ca. 40 % liegt. Ein historisch
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Einleitung
maximal nähesprachlicher Text ist also tendenziell - zu ca. 60 % - noch immer distanzsprachlich. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Theoriefehler oder um einen von uns nicht bemerkten Widerspruch, sondern um empirische Analyseergebnisse auf der Grundlage der uns zugänglichen Überlieferungswirklichkeit mit Ausnahme des 20. Jhs. Texte mit höheren Nähewerten sind uns nur aus dem 20. Jh. bekannt, diese können jedoch bei der Korpusbildung aus Gründen der Vergleichbarkeit nicht berücksichtigt werden. Last, but not least möchten wir kurz noch auf die Szegeder Projektgruppe, deren ,nähecheck'bezogene Leistungen im vorliegenden Sammelband dokumentiert werden, eingehen: Mit Ausnahme von Judit Gaäl und Daniel Czicza, die von Budapest nach Szeged kamen, um dort zu promovieren, waren alle späteren Projektmitglieder Studierende an der Universität Szeged und nahmen an den in jedem Semester mit wechselnder Thematik angebotenen Projektseminaren für interessierte Studierende teil. Sie stiegen erst nach und nach in die OTKA-Projektgruppe ein und begannen, die regelmäßigen Projektsitzungen zu besuchen und mitzugestalten. Auf diesen Sitzungen wurden ,Nähechecks' durchgeführt bzw. Einzelprobleme im Zusammenhang mit ,Nähechecks' und deren theoretische und methodische Konsequenzen diskutiert. Diese Diskussionen haben die im vorliegenden Sammelband erstmals vorgestellte Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens entscheidend geprägt. Ein wichtiger Unterschied zu deutschen Drittmittelprojekten besteht darin, dass sich aus einer Projektforderung durch die Ungarische Forschungsgemeinschaft keine nennenswerten finanziellen Vorteile für die Projektmitglieder ergeben. OTKA finanziert schwerpunktmäßig Sach- und Reisekosten. Die Finanzierung von Personalkosten ist dagegen eher symbolisch zu nennen. Daraus folgt, dass die Mitglieder der Szegeder Projektgruppe aus purem wissenschaftlichen Interesse und Engagement am Projekt teilgenommen haben bzw. größtenteils noch immer teilnehmen. Die meisten der damaligen Studierenden verfassten ihre Magister- und Examensarbeiten zu projektbezogenen grammatischen Themen und arbeiten mittlerweile an eigenen Dissertationsprojekten im Rahmen der Nhd.Gr.: Ildiko Hegedüs, Peter Kappel, Ildiko Mänässy, Petra Molnär, Orsolya Rauzs, Eszter Zoka. Barbara Horväth studiert noch, Annamäria Fotos ist Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Germanistische Linguistik der Universität Szeged. Wir danken allen Projektmitgliedern für die uneigennützige und engagierte Arbeit und Mitarbeit, die, wie wir meinen, ihresgleichen sucht. An diesen ,Projektgeist' schließt nahtlos die Bereitschaft des Niemeyer Verlags an, den vorliegenden Sammelband zu veröffentlichen. Unser besonderer Dank gilt dabei Frau Birgitta Zeller und Frau Ulrike Dedner. Last, but not least danken wir Isabel Buchwald und Bettina Grävingholt für Korrekturen sowie Peter Kappel und Attila Nemeth für die Formatierungsarbeiten. Nyiri und Kassel, August/September 2005
Die Herausgeber
I Theorie und Praxis
Vilmos Agel/Mathilde
Hennig
Theorie des Nähe- und Distanzsprechens 1 2 3 3.1 3.2 3.3
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Ebenen der Nähe- und Distanzkommunikation Bisherige Ansätze Die Theorie des Nähe- und Distanzsprechens Ausgangspunkt Das Modell des Nähe- und Distanzsprechens Erläuterung einiger Zentralbegriffe
Ebenen der Nähe- und Distanzkommunikation
Vorliegender Beitrag setzt sich zum Ziel, eine Theorie des Nähe- und Distanzsprechens vorzustellen (Kapitel 3). Diese soll in einem noch näher zu spezifizierenden Sinne eine der beiden kulturellen Teiltheorien der (natürlichsprachlich realisierten) Nähe- und Distanzkommunikation darstellen. Den sprachtheoretischen Hintergrund bildet die Theorie des Sprechens von Eugenio Coseriu (1988). Unter .Sprechen' verstehen wir in Anlehnung an Coseriu (1988: 64ff.) eine biologisch (= psychophysisch) bedingte „kulturelle Tätigkeit, d. h. eine Tätigkeit, die Kultur schafft" (ebd.: 69). Dabei ist ,Sprechen' weder auf die Sprachproduktion noch auf das Phonische zu reduzieren. Kultur schaffend sind phonische und graphische Produktion bzw. phonische und graphische Rezeption gleichermaßen. , Sprechen' stellt in diesem Sinne also einen Oberbegriff für ,Sprechen', ,Hören', .Schreiben' und ,Lesen' dar. Doch ist,Sprechen' auch aus einer anderen Perspektive eine umfassende Tätigkeit. Denn jedes Sprechen schafft auf gleich drei Ebenen - universell, historisch und individuell - Kultur: Das Sprechen ist eine universelle allgemein-menschliche Tätigkeit, die jeweils von individuellen Sprechern als Vertretern von Sprachgemeinschaften mit gemeinschaftlichen Traditionen des Sprechenkönnens individuell in bestimmten Situationen realisiert wird. (Coseriu 1988: 70)
Folglich sind auch die kulturellen Aspekte der (natürlichsprachlich realisierten) Nähe- und Distanzkommunikation auf diesen drei Ebenen zu betrachten. Obwohl der Begriff des Sprechens bei Coseriu alle drei Ebenen umfasst, verwendet er den Terminus ,Sprechen (im Allgemeinen)' auch eingeschränkt auf die universelle Tätigkeit des Sprechens, weil für die beiden anderen Ebenen die Termini ,Einzelsprache' - Tätigkeit des Sprechens auf der historischen Ebene bzw. ,Diskurs' - Tätigkeit des Sprechens auf der individuellen Ebene - zur Verfügung stehen (Coseriu 1988: 75). Wir schließen uns im Nachfolgenden diesem eingeschränkten Gebrauch von ,Sprechen' als ,universelles Sprechen' an, da die Begründer der Begrifflichkeit der Nähe- und Distanzkommunikation ebenfalls
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Vilmos Agel/Mathilde Hennig
diesem Sprachgebrauch folgen: Peter Koch und Wulf Oesterreicher (1990: 12) unterscheiden zwischen ,Nähe- und Distanzsprechen' (universelle Ebene), ,Nähe- und Distanzsprachen' (historische Ebene) und ,Nähe- und Distanzdiskursen' (individuelle Ebene). 1 Betrachtet man nun eine historische Sprache (= Einzelsprache) als „ein Gefuge von - teilweise - verschiedenen Sprachsystemen" (Coseriu 1988: 24), als eine sich historisch wandelnde „Architektur" (ebd.: 148 und 263) von syntopischen, synstratischen und synphasischen Wissensbeständen, so stellt sich die Frage, ob sich in dieser Architektur ein Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache, wie er insbesondere in der Gesprochenen-Sprache-Forschung herausgestellt wird, überhaupt manifestiert, und wenn ja, wie und wo. Dialekte - der wichtigste Typus von syntopischen Wissensbeständen - werden grundsätzlich gesprochen. Ihre Diatopik, „Verschiedenheit im Raum" (Coseriu 1988: 24), lässt sich daher auf eine Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache nicht abbilden. Was die Sprachniveaus (Soziolekte) anbelangt, korreliert keiner der Parameter, mit deren Hilfe sie soziolinguistisch beschrieben werden, mit der gesprochen/geschrieben-Dimension. Weder gruppen-, noch alters-, geschlechts-, bildungs-, kommunenspezifische oder sonstige Differenzen des Sprachverhaltens lassen sich an der gesprochen/geschrieben-Dimension festmachen. Manifestiert sich demnach die gesprochen/geschrieben-Dimension in der Diaphasik, in der situativen Verschiedenheit der Sprachstile und Register? Offensichtlich nicht. Denn unabhängig davon, ob es Sokrates war, der gestern mit Plato diskutierte, ob es Klaus Müller ist, der heute mit seinem Chef redet, oder ob es Petra Schmidt ist, die morgen mit einem Autohändler verhandeln wird, sie alle befanden sich, befinden sich und werden sich befinden in aktuellen Instanzen einer universellen Kommunikationssituation, für die gilt, dass die Raumzeit der Produktion mit der der Rezeption identisch ist. Dabei befanden sie sich, befinden sie sich und werden sie sich befinden in jeweils anderen, historisch bedingten und individuell geprägten soziokulturellen Situationen. Stile und Register sind unter den historisch gegebenen Bedingungen individuell wählbar. Durch die Wahl, die immer auch die Abwahl anderer, unter den gegebenen historischen Bedingungen möglicher Stile und Register impliziert, wird das aktuelle Sprachverhalten der aktuellen soziokulturellen Situation angepasst (oder eben bewusst nicht angepasst, was dann als , Stilbruch' oder als unangemessene Registerwahl identifiziert und u. U. sanktioniert wird). Demgegenüber lässt sich der ,Eintritt' in eine aktuelle Kommunikationssituation, die den Hintergrund der aktuellen soziokulturellen Situation bildet, wohl kaum als Anpassung des Sprachverhaltens an die aktuelle soziokulturelle Situation verstehen. Wenn man etwa seinem Chef gegenübersteht, wird man mit ihm - wenn überhaupt - derart kommunizieren, dass dabei die Raumzeit der Produktion mit
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D i e „von Einzelsprachen unabhängigen" (ebd.: 7) ,Nähe- und Distanzdiskurstraditionen' werden von ihnen der historischen Ebene zugeordnet. A u f , D i s k u r s ' und ,Diskurstradition' kommen wir weiter unten noch zu sprechen.
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der der Rezeption identisch sein wird. Man wird keine Fragen stellen, anschließend den Raum verlassen und am nächsten Tag zurückkehren, um den Antworten zuzuhören. Die aktuelle Kommunikationssituation entsteht durch keine echte, d. h. unter den historisch gegebenen Bedingungen individuell erwägbare, Wahl (und Abwahl), sondern sie stellt lediglich eine Instanz der universellen Kommunikationssituation ,Raumzeit der Produktion = Raumzeit der Rezeption' dar. Umgekehrt wählt man, wenn man etwa einen Brief schreibt, auch nicht die Kommunikationssituation , Raumzeit der Produktion Φ Raumzeit der Rezeption', sondern man entscheidet sich für ein im Rahmen einer historisch bedingten soziokulturellen Situation individuell gestaltbares Sprachverhalten namens ,Briefeschreiben'. Warum tut man sich nun schwer, in der Architektur einer historischen Sprache die gesprochen/geschrieben-Dimension zu verorten? Hierzu ließe sich eine lange und heterogene Liste von möglichen Antworten anfuhren. Wir beschränken uns jedoch lediglich auf zwei Punkte, die unser Anliegen unmittelbar betreffen und im gewählten sprachtheoretischen Rahmen bleiben: 1. Die sprachliche Verständigung hat auch übereinzelsprachliche (universelle) Züge, die nicht sprachstruktureller Natur sind. Zu den prominentesten universellen Zügen zählt, dass man in jeder Sprachgemeinschaft sowohl die Kommunikationssituation ,Raumzeit der Produktion = Raumzeit der Rezeption' - die Nähekonstellation - als auch die Kommunikationssituation ,Raumzeit der Produktion Φ Raumzeit der Rezeption' - die Distanzkonstellation - instanziieren kann. Aus diesen zwei axiomatischen Möglichkeiten ergeben sich (nicht zwangs-, sondern naheliegenderweise) verschiedene universale Parameter der Kommunikation mit jeweils prototypischen Nähe- und Distanzwerten (s. Kapitel 3). Diese universalen Parameterwerte von Näheund Distanzkommunikation gestalten einzelsprachlich zu bewältigende soziokulturelle Situationen des Sprachverhaltens mit, ohne selbst Abstraktionen von einzelsprachlichen oder soziokulturellen Merkmalen darzustellen. 2. Das Sprachverhalten in einzelsprachlich zu bewältigenden soziokulturellen Situationen wird allerdings nicht nur universell mitgestaltet, sondern auch individuell. Dies ist die Ebene der Diskurse, die wir in Anlehnung an Coseriu (1988: 7Iff.) als mündliche oder schriftliche Produktions- oder Rezeptionstätigkeiten, deren Produkte gesprochene oder geschriebene Texte sind, bestimmen können. 2 Doch interessiert hier die Individualität von Diskursen nicht in dem trivialen Sinne, dass jeder Diskurs von einem oder mehreren Individuen ausgeführt wird. Vielmehr geht es darum, dass individuelle Diskurse auf dreifache Weise auch nicht individuell determiniert sind: 1) Sie sind insofern auch universell determiniert, als sich aus den universalen Pa-
in diesem Sinne werden wir im Folgenden den Terminus ,Diskursart' auf die Ebene der Produktions- und Rezeptionstätigkeit beziehen und den Terminus ,Textsorte' auf die Produktebene.
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Vilmos Agel/Mathilde Hennig rametern der Nähe- und Distanzkommunikation universale Parameter der Nähe- und Distanzdiskursgestaltung ableiten lassen (s. Kapitel 3). M. a. W., die Wirkung der (universalen) Parameterwerte des Nähe- und Distanzsprechens reicht massiv in die Diskursebene hinein; 2) sie sind insofern auch durch eine Kulturtradition determiniert, als sich individuelle Diskurse in Diskurstraditionen eines wie auch immer definierten Kulturkreises fügen (oder sich bewusst von diesem distanzieren); 3) schließlich sind sie insofern auch durch eine einzelsprachliche Diskurstradition determiniert, als sich im Laufe der Geschichte einer Einzelsprache spezielle Ausdrucksformen der Textgestaltung herausgebildet haben können, die die den aktuellen Diskurs ausfuhrenden Individuen berücksichtigen (oder sich bewusst von diesen distanzieren) können.
Im Sinne des Gesagten lässt sich also die gesprochen/geschrieben-Dimension in der Architektur einer historischen Sprache deshalb schwer verorten, weil die durch diese Dimension begründete geregelte Heterogenität (Varietät) nicht in der Struktur(geschichte) der Einzelsprache wurzelt, sondern in universalen Parametern der Nähe- und Distanzkommunikation bzw. in universalen Parametern und kulturellen und (idiomatisch geprägten) einzelsprachlichen Traditionen der Textgestaltung (vgl. auch Koch/Oesterreicher 1990: 14f.). Eine Theorie des Nähe- und Distanzsprechens stellt demnach deshalb eine 7e/7theorie der Nähe- und Distanzkommunikation dar, weil mit ihr ,nur' diejenigen (nicht biologischen, sondern kulturellen) Aspekte der (natürlichsprachlich realisierten) Nähe- und Distanzkommunikation modelliert werden können und sollen, die aus universalen Parametern abzuleiten sind. Erst wenn diese universale Teiltheorie durch eine die historisch-kulturellen Bezüge der Nähe- und Distanzkommunikation modellierende Teiltheorie ergänzt worden ist, wird man von einer (Gesamt-)Theorie der (kulturellen Aspekte der natürlichsprachlich realisierten) Nähe- und Distanzkommunikation sprechen können. Warum aber wird der Schwerpunkt zunächst auf die universelle Ebene gelegt? Warum wird im vorliegenden Beitrag mit der Ausarbeitung der universalen Teiltheorie angefangen und das Entwerfen der historisch-kulturellen Teiltheorie einer späteren Arbeit überlassen? Wie auch aus Punkt 2 oben zu entnehmen ist, ist die Relation der drei Coseriu'schen Ebenen zueinander nicht als einfaches Neben- oder Übereinander zu denken. Vielmehr materialisiert sich das Universelle, wenn es zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raum realisiert wird, auf der historischen Ebene von Einzelsprachen (genauer: Varietäten), ohne dass alles Historische die Materialisierung von Universellem darstellte. Des Weiteren materialisieren sich das Universelle und das Historische auf der individuellen Ebene von Diskursen, ohne dass diese lediglich Materialisierungen von Universellem und Historischem darstellen würden. Die Geltung des Universellen reicht also in die historische Ebene und über diese bis in die Diskursebene hinein. Bezogen auf die Gesamtheit der möglichen Parameter der Nähe- und Distanzkommunikation folgt hieraus, dass die (universalen) Parameter des Nähe-
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und Distanzsprechens sowohl auf der (einzelsprachlich) historischen Ebene von Nähe- und Distanzvarietäten als auch auf der individuellen Ebene von Näheund Distanzdiskursen als auch auf der (nicht einzelsprachlich) kulturellen Ebene von Nähe- und Distanzdiskurstraditionen wirksam und nachweisbar sein müssen. M. a. W., die historisch-kulturellen Parameter der Nähe- und Distanzdiskursgestaltung setzen die universalen voraus, aber nicht umgekehrt. Die historisch-kulturellen Parameter üben ihre Wirkung auf die individuelle Ebene der Diskurse vor dem Hintergrund der universalen Parameter aus. Daher ist es sinnvoll, ja vielleicht sogar logisch notwendig, mit der Ausarbeitung der Parameter des Nähe- und Distanzsprechens anzufangen. Und da diese universale Teiltheorie im oben skizzierten Sinne ,etwas mehr' als die Hälfte der Gesamttheorie darstellt, ist auch zu hoffen, dass unser Anwendungsvorschlag in Kapitel 3 ebenfalls ,etwas mehr' als die Hälfte der .praktischen Wahrheit' repräsentiert.
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Bisherige Ansätze
Das Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit stand in den letzten Jahrzehnten vielfach im Mittelpunkt des Interesses der GesprochenenSprache- sowie der Schriftlichkeitsforschung. Ausgangspunkt ist dabei in der Regel die Einsicht, dass es sich sowohl bei so genannter g e s p r o c h e n e r ' als auch bei .geschriebener Sprache' 3 um heterogene Gegenstandsbereiche handelt, da die Variationsbreite an medial gesprochenen bzw. geschriebenen Diskursarten immens ist. Es lassen sich mindestens drei Strategien des Umgangs mit diesem Problem feststellen: 1. Versuch einer Definition von entweder geschriebener oder gesprochener Sprache (je nach Forschungsinteresse), entweder in Abgrenzung vom anderen Medium oder als möglichst eigenständige Definition; 2. Versuch der Erfassung des Spannungsfeldes von Mündlichkeit und Schriftlichkeit mit Hilfe einer komplexen Modellierung; 3. Ablehnung des Konzepts .gesprochene Sprache'. Auf die letzte Strategie, die sich vor allem in den Arbeiten von Biber (1986/1988) und Fiehler (2000a/b) manifestiert, 4 gehen wir hier nicht näher ein, da diese Strategie natürlich nicht in Frage kommt, wenn wir an der Verbesserung der Erfassung von Nähe- und Distanzkommunikation arbeiten wollen.
Es ist ein Grundproblem linguistischer Arbeiten, dass mit Termini gearbeitet werden muss, die zunächst oder prinzipiell als ungeklärt gelten. Wir bitten unsere Leser deshalb, das Attribut „so genannt" stets mitzudenken, wenn im Folgenden von .gesprochener und geschriebener Sprache' oder .Sprache der Nähe und Distanz' die Rede ist. Das Gleiche gilt fur den Begriff .konzeptionelle Mündlichkeit'. Zu einer Auseinandersetzung mit dieser Position siehe Hennig (2000a).
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Vilmos Agel/Mathilde Hennig Die Grenzen der ersten Strategie sind an zwei Beispielen rasch aufgezeigt:
la) Eine häufig zitierte Definition gesprochener Sprache ist der frühe Versuch von Schank/Schoenthal (1976: 7), die gesprochene Sprache' definieren als „frei formuliertes, spontanes Sprechen aus nicht gestellten, natürlichen Kommunikationssituationen, Sprache also im Sinne von Sprachverwendung, nicht von Sprachsystem". Diese Definition stellt das Bestreben dar, gesprochene Sprache von geschriebener Sprache abzugrenzen, indem sie impliziert, dass nicht frei formulierte, nicht spontane, unnatürliche Kommunikationssituationen als gesprochene Sprache nicht in Frage kommen, also geschriebene Sprache sein müssen. Offenbar meinen die Autoren den prototypischen Kern gesprochener Sprache und wollen mit ihrer Definition prototypische Kommunikationssituationen wie Alltagsgespräche von weniger prototypischen wie dem Vortrag abgrenzen; damit wird aber erstens nur eine Lesart von gesprochen' erfasst 5 und zweitens auch diese nur ansatzweise. Problematisch ist aber vor allem die Gegenüberstellung von Sprachverwendung vs. Sprachsystem in Bezug auf die hier erfolgende Abgrenzung gesprochener von geschriebener Sprache, da sie suggeriert, gesprochene Sprache habe kein System und geschriebene Sprache sei keine verwendete Sprache. lb) Wir möchten außerdem einen Definitionsversuch geschriebener Sprache zitieren, der die Bestrebung widerspiegelt, geschriebene Sprache völlig autonom zu erfassen, um somit dem Vorurteil, die Schrift sei lediglich Modell der Lautsprache (vgl. Günther 1995), zu begegnen. So bemüht sich Krämer (1996) um einen „sprachneutralen Schriftbegriff' und definiert Schrift als ein „Symbolschema [...], das die Kennzeichen der Disjunktivität und der endlichen Differenziertheit aufweist" (1996: 101).6 Während der Definitionsversuch in la) der so genannten „konzeptionellen" Lesart zugeordnet wurde, ist die hier vorliegende Begriffsbestimmung von Schrift eher medial intendiert. Dadurch gelingt der Autorin offenbar eine Definition, die ohne Rückgriff auf das andere Medium erfolgt (man könnte höchstens in Analogie gesprochene Sprache als ,nicht disjunkt' und ,nicht endlich' differenziert definieren, dabei wäre aber nicht sichergestellt, dass dies sinnvolle und hinreichende Definitionsmerkmale für gesprochene Sprache sind), d. h., es handelt sich hier nicht um Abgrenzungskriterien wie in la). Man könnte nun aus diesem Grunde die vorliegende Definition als
Fiehler (2000b: 94) benennt vier Lesarten; wesentlich sind dabei vor allem die mediale Lesart sowie das so genannte „konzeptionelle" Verständnis von gesprochener Sprache. Schank/Schoenthal meinen offenbar Letzteres mit ihrer Definition. „Disjunktivität" bedeutet, dass jede Marke (= Zeichenvorkommnis) nur zu einem Zeichen (= Zeichentypus) gehört. „Endliche Differenzierbarkeit" stellt sicher, „daß die Zeichen eines Symbolschemas diskret angeordnet sind, es also zwischen zwei benachbarten Zeichen immer eine Lücke gibt und sich dort nicht etwa ein drittes Zeichen befinden kann. [...] Während die Disjunktivität sicherstellt, daß Marken, die zu demselben Zeichen gehören, füreinander austauschbar sind, gewährleistet die Differenzierbarkeit, daß es überhaupt möglich ist, korrekt zu entscheiden, daß zwei Marken zu demselben Zeichen gehören." (1996: lOOf.)
Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
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Definition des Mediums Schrift akzeptieren; 7 sie würde folglich nichts über das Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit aussagen und wäre für unsere Fragestellung nicht relevant. Nun widersteht aber Krämer doch nicht der Versuchung, mit ihrer Begriffsbestimmung Aussagen über eben dieses Spannungsverhältnis zu treffen, indem sie die These aufstellt: „Es gibt begründete Zweifel daran, daß die mündliche Sprache ein disjunktives und endlich differenzierbares Symbolschema ist." (1996: 103) Abgesehen davon, dass Krämer ganz offensichtlich mit .mündlicher Sprache' zunächst die ,Lautsprache' meint, also das rein mediale Pendant zu Schriftsprache', ist ihr nun folgender Vorstoß, diesen Abgrenzungsversuch dann doch auf die so genannte konzeptionelle Ebene zu übertragen, ein Zeichen dafür, dass sie offenbar selber die eingangs intendierte Beschränkung auf die mediale Ebene sowie auf ein Medium als nicht mehr ausreichend betrachtet. Ihre Hypothese lautet: Doch ist zu vermuten, daß der vielleicht folgenreichste Aspekt, der mit dem vorliegenden Schriftbegriff zu gewinnen ist, gerade darin besteht, daß er eine medienzentrierte Abgrenzung zwischen Sprachen und Schriften, damit auch zwischen geschriebener und gesprochener Sprache erlaubt. Und diese liegt nicht in der Unterscheidung von Phonischem und Graphischem, von Sprache der Nähe und der Distanz, sondern darin, daß mündliche Sprachen nicht als disjunktive, endlich differenzierbare Schemata gelten können, (ebd.)
Da die Autorin die postulierte Überlegenheit einer medialen Bestimmung und Abgrenzung gegenüber der Abgrenzung als ,Sprache der Nähe' vs. ,Sprache der Distanz' nicht begründet, kann diese Hypothese in dieser Form nicht akzeptiert werden, zumal die Formulierung, der vorgeschlagene Schriftbegriff erlaube eine medienzentrierte Abgrenzung zwischen Sprachen und Schriften und damit auch zwischen geschriebener und gesprochener Sprache eine Gleichsetzung oder zumindest Analogie von medialer und konzeptioneller Ebene suggeriert, die im Widerspruch zu der Hypothese steht. Da die dritte Strategie nicht in Frage kommt und die erste offenbar nicht in der Lage ist, die Komplexität des Spannungsverhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu erfassen, müssen wir bei der zweiten Strategie nach Ansatzpunkten suchen. Weil es in diesem Rahmen nicht möglich ist, alle möglicherweise mit dieser Strategie in Zusammenhang stehenden Ansätze zu erfassen, beschränken wir uns auf die Modelle, die zumindest die germanistische Erforschung der gesprochenen und geschriebenen Sprache entscheidend geprägt haben. 8 Die vorzustellenden Modelle - das Freiburger Redekonstellationstypenmodell, das Koch/Oesterreicher'sche Nähe-Distanz-Modell sowie die Charakterisierung der Spezifik mündlicher Kommunikation der Arbeitsgruppe um Rein-
7
8
Eine Beurteilung der Definition auf dieser Ebene überlassen wir der Schriftlichkeitsforschung. So verzichten wir auf die Einbeziehung der umfangreichen englischen Literatur zu gesprochener Sprache, da unseres Wissens hier auch kein Modell vorliegt, das dem Koch/Oesterreicher'schen Konkurrenz machen könnte. Die Arbeiten von Koch/Oesterreicher sind zwar im Rahmen der romanistischen Sprachwissenschaft entstanden, haben aber (wahrscheinlich, weil sie auf Deutsch verfasst sind) die germanistische Forschung entscheidend beeinflusst.
Vilmos Agel/Mathilde Hennig
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hard Fiehler - werden in chronologischer Reihenfolge präsentiert; der Schwerpunkt liegt dabei auf der Herausarbeitung von Schwächen, die uns zur Erarbeitung eines neuen Modells bewogen haben. 2a) Steger et al. (1974) gehen von dem Ziel des Freiburger Projektes zur Erforschung der gesprochenen Sprache aus, „als Grundlage für eine Gebrauchsbestimmung deutscher gesprochener Standardsprache geeignete K l a s s e n v o n T e x t e n auszugliedern" (1974: 41). Das daraus entstandene Redekonstellationstypenmodell ist also nicht als Definitionsversuch von gesprochener vs. geschriebener Sprache zu werten, sondern stellt ein methodisches Instrumentarium für die Erfassung von für die Untersuchung gesprochener Sprache möglichst geeigneten Diskursarten bzw. Textsorten dar und bildet somit eine Ergänzung zu der in Steger (1967) vorgestellten prototypisierenden Definition gesprochener Sprache: Als gesprochene Sprache kann [...] nur akzeptiert werden 1. Was gesprochen wird, ohne vorher aufgezeichnet worden zu sein; 2. Was gesprochen wird, ohne länger fur einen bestimmten Vortragszweck bedacht worden zu sein [...]. (Steger 1967: 262)
Da das Modell der Ermittlung prototypisch gesprochensprachlicher Diskursarten bzw. Textsorten dienen soll, ist es trotz seines primär methodisch intendierten und diskursarten- bzw. textsortendifferenzierenden Charakters für unsere Fragestellung relevant. Die Merkmale zur Beschreibung von Redekonstellationen sind: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Sprecherzahl; Zeitreferenz; Verschränkung Text/soziale Situation (Situationsverschränkung); Rang; Grad der Vorbereitetheit; Zahl der Sprecherwechsel; Themafixierung; Modalität der Themenbehandlung; Öffentlichkeitsgrad. 9
Den einzelnen Merkmalen werden jeweils die entsprechenden Möglichkeiten zugeordnet (ζ. B. ein Sprecher vs. mehrere Sprecher bei Merkmal 1, öffentlich, halböffentlich, nicht öffentlich, privat zu Merkmal 9); aus den Merkmalskombinationen ergeben sich Redekonstellationstypen. Als Grundproblem dieses Modells sehen wir an, dass es eine klare Zuordnungsmöglichkeit von Merkmalen in einer +/- Matrix suggeriert, die u. E. der Variationsbreite gesprochener oder auch geschriebener Diskursarten nicht gerecht werden kann. So lässt sich selbst das auf den ersten Blick eindeutige Merkmal 1 relativieren, da auch eine zunächst monologische Diskursart wie der
9
Vgl. die Übersicht der Merkmalsmatrix (1974: 94f.).
Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
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Vortrag dialogische Passagen aufweisen kann und auch im Dialog längere Erzählpassagen einzelner Sprecher vorkommen, die monologischen Charakter haben. Die Merkmale 2, 3 sowie 5 - 8 können innerhalb eines Textexemplars variieren (zum Beispiel kann in einem Teil eines Gespräches ein im Voraus festgelegtes Thema besprochen werden und in einem anderen Teil ein nicht im Voraus festgelegtes Thema); bei Merkmal 4 lassen sich die einzelnen Merkmalsmöglichkeiten u. E. schwer voneinander abgrenzen: Ab wann spricht man von gleichem Rang oder von Unterordnung? Lediglich Merkmal 9 ermöglicht gemäß der erfolgenden Begriffsbestimmung der einzelnen Varianten (1974: 83f.) eine Zuordnung einzelner Diskursarten; dieses Merkmal ist aber klar diskursartendifferenzierend und lässt noch keine Schlüsse bezüglich der Prototypikalität dieser Diskursarten zu, d. h., es kann nicht ohne weiteres festgelegt werden, dass eine private Diskursart per se ein besserer Vertreter der Kategorie .gesprochene Sprache' ist als eine öffentliche oder halb öffentliche (man vgl. etwa das Talkshowgenre ,Trivial-Talk'). Es mag sich zwar aus den Merkmalen ein prototypisch gesprochensprachlicher Redekonstellationstyp ausgliedern lassen, der etwa durch die Kombination ,mehrere Sprecher', .starke Situationsverschränkung', ,gleicher Rang', ,nicht vorbereitet', .viele Sprecherwechsel', ,Thema nicht festgelegt' und .privat' gekennzeichnet ist (bei Merkmal 2 und 8 ist dagegen nicht klar, welche Variante typischer für gesprochene Sprache wäre), dieser bietet aber - abgesehen von den angedeuteten Problemen, die mit einzelnen Merkmalen verbunden sind - noch keine zufriedenstellende Beschreibungsmöglichkeit fur gesprochene vs. geschriebene Sprache, da der Charakter der Merkmale als universale vs. diskursartendifferenzierende nicht reflektiert wird. Außerdem wird das Verhältnis von die Kommunikationssituation betreffenden und textgestalterischen Merkmalen nicht deutlich; auch ein möglicher Zusammenhang zwischen einzelnen Merkmalen (ζ. B. wenn das Merkmal ,ein Sprecher' vorliegt, erübrigt sich Merkmal 6) bleibt unberücksichtigt, d. h., Hierarchien und Abhängigkeiten treten nicht zu Tage, das Modell suggeriert, dass sich die einzelnen Merkmale additiv aneinander reihen lassen. Die Pionierleistung der Freiburger Projektgruppe soll hier nicht in Frage gestellt werden; aus heutiger Sicht bietet es aber nur vage Ansatzpunkte fur die Modellierung des Verhältnisses von gesprochener und geschriebener Sprache.
2b) Koch/Oesterreichers Vorschlag der .Sprache der Nähe' und .Sprache der Distanz' ist zweifelsohne der am meisten rezipierte und angewendete Ansatz zur Beschreibung von gesprochener und geschriebener Sprache. Sie modellieren .Nähe' und .Distanz' mit folgenden Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien (1985: 23):
Vilmos
12
Agel/Mathilde
Hennig
Kommunikationsbedingungen:
/^Dialog -
Vertrautheit der Partner face-to faceInteraktion freie Themenentwicklung keine Öffentlichkeit Spontaneität .involvement' Situationsverschränkung Expressivität Affektivität
Monolog Fremdheit der Partner raumzeitliche Trennung Themenfixierung Öffentlichkeit Reflektiertheit ,detachment' Situationsentbindung .Objektivität'
VersprachlichungsStrategien: - Prozeßhafligkeit - Vorläufigkeit geringere: - Informationsdichte - Kompaktheit - Integration - Komplexität - Elaboriertheit - Planung
- .Verdinglichung' - Endgültigkeit größere: - Informationsdichte - Kompaktheit - Integration - Komplexität - Elaboriertheit Planung
Der Erfolg des Modells lässt sich darauf zurückführen, dass die Autoren Sölls Unterscheidung von zwei definitorischen Ebenen, einer medialen (,graphisch' vs. ,phonisch') und einer konzeptionellen (.geschrieben' vs. gesprochen') aufgreifen und das Spannungsfeld auf konzeptioneller Ebene als Kontinuum zwischen den Polen ,Sprache der Nähe' und ,Sprache der Distanz' modellieren. Dadurch ist es den Autoren gelungen, einerseits einen definitorischen Ansatz für die Erfassung der schon von Steger (1967) und Schank/Schoenthal (1976) anvisierten prototypischen gesprochenen Sprache zu liefern, aber andererseits und gleichzeitig Anhaltspunkte für die kommunikationstheoretische Verortung von in konzeptioneller Hinsicht nicht prototypischen phonischen und graphischen Diskursarten zu bieten. Diese Leistung soll hier keineswegs geschmälert werden; wenn etwas geleistet wurde, so heißt das aber noch nicht, dass diese Leistung nicht noch verbessert werden könnte. Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass das von uns vorzuschlagende Modell auf den Grundideen des Koch/Oesterreicher'schen Ansatzes aufbaut. Da wir Prototypisierung nicht wie Fiehler (2000a) als Problem bei der Erforschung gesprochener Sprache ansehen, sondern als Methode, die es erlaubt, gesprochene Sprache trotz ihrer Heterogenität zum Untersuchungsgegenstand zu machen (vgl. Hennig 2000a), knüpfen
Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
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wir an Koch/Oesterreichers Vorstellung eines Kontinuums zwischen den Polen ,Sprache der Nähe' und ,Sprache der Distanz' an. Wir übernehmen auch die Termini ,Nähe' und ,Distanz', weil sie u. E. sprechende und treffende Metaphern sind und vor allem aber, weil wir Koch/Oesterreichers Modell nicht als einen Ansatz für die prototypische Erfassung der gesprochenen Sprache, sondern als einen für die prototypische Erfassung der Nähekommunikation sehen. W o aber liegt der Unterschied? Reinhard Fiehler (2000a: 36), nach dem „bei der Beschäftigung mit gesprochener Sprache zwei Sichtweisen [konkurrieren]: eine medial-extensionale und eine ideal- oder prototypisch-normative", ordnet Koch und Oesterreichers Modell der letzteren Sichtweise zu: „Beim prototypischnormativen Zugang spielen zusätzliche Kriterien [d. h. nicht nur das der Medialität] eine Rolle." (ebd.) Der Punkt ist u. E. der folgende: Wenn nun beim prototypisch-normativen Zugang wirklich das mediale Kriterium die Grundlage der Prototypisierung wäre und die anderen Kriterien sich nur in diesem medial abgesteckten Rahmen bewegen könnten, so wäre dieser Zugang tatsächlich normativ, und in diesem Falle ginge es wirklich um die prototypische Erfassung der gesprochenen Sprache. Koch und Oesterreicher und auch uns geht es aber um einen nicht normativen prototypischen Zugang, der darin besteht, Nähe- und Distanzkommunikation prototypisch zu modellieren (was aber wohlgemerkt nicht dasselbe ist, wie prototypische Nähe- und Distanzkommunikation zu modellieren). In einem solchen Ansatz ist der Parameter des Mediums nicht distinktiv, sondern reiht sich in eine Gruppe nicht gleichgewichtiger Parameter ein. Wir wollen die kommunikativen Praktiken der gesprochenen Sprache keinesfalls homogenisierend darstellen, sondern die kommunikativen Praktiken sowohl der gesprochenen als auch der geschriebenen Sprache im gleichen NäheDistanz-Raum modellieren. Dass uns dabei eher die Zentren (extreme Nähe und Distanz) als die Peripherie (die Mitte der Skala) interessieren, gehört nicht in den aktuellen theoretischen Zusammenhang. Soweit die wichtigsten positiven Inspirationen. Inwieweit aber ist der Ansatz von Koch und Oesterreicher revisionsbedürftig? Entsprechend unserer doppelten - theoretischen und praktischen - Zielsetzung kann auch die Antwort auf diese Frage zweigeteilt werden: 1. In theoretischer Hinsicht gibt es das generelle Problem der logisch heterogenen Bezüge: Dialogisch ist die Kommunikation und nicht deren Bedingungen; vertraut sind sich j a die Partner und nicht die Kommunikation; freie Themenentwicklung ist charakteristisch für die Art der Dialoggestaltung; keine Öffentlichkeit ist keine Bedingung, sondern ein äußerer Umstand der Kommunikation; spontan kann das kommunikative Verhalten der Partner oder eines der Partner sein, genauso expressiv und affektiv. Unter Vorläufigkeit als Versprachlichungsstrategie können wir uns ehrlich gesagt gar nichts vorstellen. Geringere Informationsdichte stellt auch keine Strategie dar, sondern ist ein wahrscheinliches Ergebnis der Nähekommunikation. Prozesshaftigkeit ist ein Merkmal, das ein externer Beobachter konstatieren kann, aber gewiss keine Strategie.
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Vilmos Agel/Mathilde Hennig In engem Zusammenhang mit dem Problem der logisch heterogenen Bezüge steht, dass in dem Nähe-Distanz-Modell von Koch und Oesterreicher universale und diskursartendifferenzierende Merkmale vermischt sowie die Gleichrangigkeit der einzelnen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien suggeriert wird: Abhängigkeiten werden nicht dargestellt, Gewichtungen werden nicht vorgenommen. Ein weiteres generelles Problem ist die vage Differenzierung zwischen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien. So findet sich unter Versprachlichungsstrategien einiges, was man auch den Kommunikationsbedingungen zuordnen könnte, vor allem die Prozesshaftigkeit und Vorläufigkeit. Im Bereich der Kommunikationsbedingungen sehen wir als grundlegendes Problem an, dass die Potenzen der einzelnen Kommunikationsbedingungen, Versprachlichungsstrategien zu determinieren, sehr unterschiedlich sind. Während Dialogizität für nahezu alle Versprachlichungsstrategien mit verantwortlich ist, wäre es wohl sehr schwer, die Versprachlichungsstrategien zu nennen, die etwa durch freie Themenentwicklung oder durch fehlende Öffentlichkeit maßgeblich determiniert werden. Mit Bezug auf die Versprachlichungsstrategien ist kritisch anzumerken, dass es unklar bleibt, was eine Versprachlichungssira/egie eigentlich ist. Der Begriff ,Strategie' lässt bewusst eingesetzte Mittel und Verfahren vermuten. Doch die Versprachlichungsstrategien von Koch und Oesterreicher stellen keine Strategien, sondern Merkmale und Dispositionen des Sprechens dar. Auch daran sieht man, dass es den Autoren nicht gelungen ist, die zwei Ebenen und deren interne und externe Relationen befriedigend zu begründen.
So weit unsere Kritik an der Theorie. 2. Warum aber meinen wir, dass das Modell von Koch und Oesterreicher auch in praktischer Hinsicht revisionsbedürftig ist? Aus dem einfachen Grunde, weil eine verlässliche Einordnung einzelner Diskursarten in das Nähe-Distanz-Kontinuum anhand der Identifizierung der jeweiligen Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien kaum möglich ist. Dafür sind natürlich die in der Theoriekritik erwähnten Gründe verantwortlich zu machen. 2c) Fiehler und seine Arbeitsgruppe gehen zu Recht davon aus, dass „das Spektrum der mündlichen kommunikativen Praktiken so breit und vielfaltig [ist], dass sich nur wenige Merkmale ausmachen lassen, die allen mündlichen Praktiken gemeinsam sind" (2004: 53). 10 Sie beschreiben zunächst Merkmale von primärer Oralität, auf die wir hier nicht eingehen, weil es uns hier um die Universalien der Nähe- und Distanzkommunikation geht. Zur Charakterisierung
10
Mit ,mündlichen Praktiken' meinen die Autoren im Grunde genommen Diskursarten gesprochener Sprache. Dieses Konzept ist als Weiterfuhrung von Fiehlers Infragestellung des Gegenstandsbereiches .gesprochene Sprache' zu verstehen (vgl. Fiehler 2000b).
Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
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und Differenzierung mündlicher kommunikativer Praktiken erachten die Autoren folgende Bedingungen als wesentlich: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11)
Kurzlebigkeit/Flüchtigkeit Zeitlichkeit Anzahl und Größe der Parteien Kopräsenz der Parteien und Gemeinsamkeit der Situation Wechselseitigkeit der Wahrnehmung Multimodalität der Verständigung Interaktivität Bezugspunkt der Kommunikation Institutionalität Verteilung der Verbalisierungs- und Thematisierungsrechte Vorformuliertheit von Beiträgen (Fiehler et al. 2004: 56)
Die Autoren weisen d a r a u f h i n , dass nur die Bedingungen (1) und (2) für alle mündlichen Praktiken gelten; d. h., diese Merkmale sind konstitutiv für eine mediale Begriffsbestimmung gesprochener Sprache. Alle anderen Merkmale sind differenzierend, wobei die Merkmale (3)-(7) laut Fiehler et al. (2004: 57) „auf die Charakterisierung ursprünglicher mündlicher Verständigung" zurückgehen und die restlichen Merkmale neu hinzugekommen sind. Betrachtet man die neun Merkmale unter dem Blickwinkel prototypischer Mündlichkeit, so ergibt sich eine weitere Differenzierungsmöglichkeit: Die Merkmale lassen sich unterteilen in solche, die prototypischer Mündlichkeit zuzuordnen sind, und in praktiken- bzw. diskursartendifferenzierende Merkmale. Die Merkmale prototypischer Mündlichkeit sind: (4) Kopräsenz der Parteien und Gemeinsamkeit der Situation, (5) Wechselseitigkeit der Wahrnehmung, (6) Multimedialität der Verständigung, (7) Interaktivität. Diskursartendifferenzierend dagegen sind die Merkmale: (3) Anzahl und Größe der Parteien, (8) Bezugspunkt der Kommunikation, (9) Institutionalität, (10) Verteilung der Verbalisierungs- und Thematisierungsrechte, (11) Vorformuliertheit von Beiträgen. Diese Unterscheidung wird von Fiehlers Arbeitsgruppe natürlich nicht vorgenommen, weil sie eine prototypische Betrachtungsweise ablehnen. Die Folge ist, dass es nur zwei Merkmale gibt, die mediale Mündlichkeit charakterisieren; zusätzlich dazu gibt es nur praktikendifferenzierende Merkmale. Da den zwei Merkmalen zur Charakterisierung medialer Mündlichkeit wohl nichts Wesentliches hinzuzufügen sein wird, kann bei einer solchen Auffassung nur die Beschreibung einzelner Praktiken zum weiteren Untersuchungsgegenstand gemacht werden. Die Frage ist aber, ob es sich dann tatsächlich noch um „Grundbedingungen mündlicher Kommunikation" handelt (so lautet die Kapitelüberschrift). Dadurch zeigt sich, dass Fiehlers Ausspielen der Konzepte g e s p r o c h e n e Sprache' vs. ,kommunikative Praktiken' (2000b) in eine Sackgasse führt.
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Vilmos Agel/Mathilde Hennig
3 Die Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
3.1 Ausgangspunkt Die angedeuteten Probleme bisheriger Vorschläge der definitorischen oder modellierenden Erfassung von gesprochener vs. geschriebener Sprache sind der Grund dafür, dass wir nun eine neue Modellierung vorschlagen möchten. Dabei ist nicht alles „neu", d. h., all das, was uns an bisherigen Modellierungen und Beschreibungen sinnvoll erschien, haben wir übernommen. Ziele der hier erfolgenden Modellierung sind: a) in theoretischer Hinsicht 1. eine präzisierende Beschreibung der komplexen Zusammenhänge zwischen medial mündlichen und schriftlichen Diskursarten und den jeweils präferierten sprachlichen Mitteln; 2. eine modellierende Verdeutlichung der dadurch entstehenden Abhängigkeiten und Hierarchien; b) in praktischer Hinsicht 1. die Schaffung einer Beschreibungsgrundlage fur sprachliche Besonderheiten prototypischer gesprochener und geschriebener Sprache; 2. die Schaffung einer Grundlage für die kommunikationstheoretische Verortung von einzelnen Diskursarten. Dabei gehen wir von den folgenden Grundannahmen aus: Wie in Kapitel 2 bei der Diskussion des Koch/Oesterreicher'schen Konzeptes bereits angedeutet, erfolgt die Modellierung auf der Grundlage eines Prototypenkonzeptes. Die Vielfalt der möglichen Diskursarten und die Heterogenität der medial gesprochenen bzw. geschriebenen Diskursarten hat einzelne Autoren dazu veranlasst, den Sinn des Konzeptes gesprochene Sprache' in Frage zu stellen (Biber 1986/ 1988; Fiehler 2000a/b). Eine Kapitulation vor der Beschreibbarkeit gesprochener oder geschriebener Sprache auf Grund der Heterogenität ihrer Konstellationsmöglichkeiten hat u. E. einerseits verheerende praktische Folgen, denn man könnte nicht mehr sprachliche Merkmale in gesprochener oder geschriebener Sprache, d. h. einer abstrahierten größeren Menge von Diskursarten, beschreiben, sondern müsste bei jeder einzelnen „kommunikativen Praktik" quasi von vorne beginnen. Andererseits ist eine solche Kapitulation nicht nötig, weil es ja keineswegs der Fall ist, dass sich alle einzelnen kommunikativen Praktiken grundlegend voneinander unterscheiden, sondern sich innerhalb der medialen gesprochenen und geschriebenen Sprache Kernbereiche von vergleichbaren Praktiken bzw. Diskursarten ausmachen lassen. Die Modellierung dieser prototypischen Endpunkte auf einer Skala bietet gleichzeitig einen Ansatzpunkt für die Verortung von weniger prototypischen Diskursarten im Zwischenbereich:
Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
17
Es ist also keineswegs so, wie Fiehler kritisiert, dass eine solche prototypische Betrachtungsweise den Blick auf weniger prototypische kommunikative Praktiken verstellt, im Gegenteil: Eine Modellierung der Prototypen bietet eine Erklärungsbasis auch für Nichtprototypen. Gleichzeitig bietet die hier vorzustellende Modellierung auch eine Erklärungsbasis für die Festlegung von Prototypen: Durch die hierarchische Gliederung der verschiedenen Parameter und Merkmale ist gesichert, dass diese sich tatsächlich aus der Grundvoraussetzung für prototypische gesprochene oder geschriebene Sprache bzw. für Nähe- vs. Distanzsprechen (die wir, wie weiter unten erklärt werden wird, als ,Universales Axiom' bezeichnen) ergeben. Eine Diskursart, der die einzelnen Parameter zugesprochen werden können, kann also als prototypische Nähe- bzw. Distanzkommunikation klassifiziert werden.
3.2 Das Modell des Nähe- und
Distanzsprechens
Wenn man eine Modellierung genauer als die bisherige gestalten möchte, so führt dies zwangsläufig dazu, dass der neue Versuch komplexer wird. Wir müssen deshalb um Verständnis dafür bitten, dass unsere Nähe-Distanz-Modellierung nicht als knappe Übersicht präsentiert werden kann, wie es Koch/Oesterreicher (1985: 23) gelungen ist. Wir werden uns im Folgenden darum bemühen, dies durch entsprechende Erklärungen zu kompensieren. Diesen möchten wir einige technische Bemerkungen zur Darstellungsweise vorausschicken. Die Erklärung des Modells gliedern wir in folgende Teile: 1. Im Anschluss an diese einleitenden Bemerkungen werden wir in diesem Teilkapitel das Funktionieren des Modells erläutern, ohne dabei alle Details der Modellierung aufzuführen und zu erklären. Dabei geht es darum, das Grundverständnis der hierarchischen Modellierung verschiedener Ebenen zu sichern, d. h., es soll erklärt werden, wie die Modellierung eine Ableitung der einzelnen an der Oberfläche zu beobachtenden sprachlichen Merkmale aus den Bedingungen der Nähe- bzw. Distanzkommunikation ermöglicht. 2. Anschließend (in Kapitel 3.3) werden ausgewählte Details näher erläutert. Dabei beschränken wir uns aber auf solche Phänomene, die einerseits in der vorliegenden Modellierung neu sind, d. h. nicht aus anderen Arbeiten übernommen wurden, und die wir andererseits für zentral für die Modellierung von Nähe und Distanz halten. 3. Eine Übersicht über das gesamte Modell findet sich erst am Ende des Bandes (Teil III), weil es nicht nur für den Theorie- und Praxisteil von Belang ist, sondern auch für die Beispielanalysen. 4. Die einzelsprachlichen Merkmale (Ebene V des Modells = UNIMERK) werden am Ende des Buches in einem „Modellglossar" erklärt. Das Nähe-Distanz-Modell arbeitet mit folgenden hierarchisch zu verstehenden Ebenen:
Vilmos Agel/Mathilde Hennig
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I. II. III. IV. V.
UNIAX = Universales Axiom UNIKOM = Universale Parameter der Kommunikation UNIDIS - Universale Parameter der Diskursgestaltung UNIVER = Universale Diskursverfahren UNIMERK = Universale Diskursmerkmale
Diese Ebenen sind durch Relationen (kursiviert) verbunden: I baut auf II bauen auf III führen zu IV können sich einzelsprachlich terialisieren durch V
ma-
Die Ebenen lassen sich folgendermaßen bündeln: A I - UNIAX: Dies ist die Grundvoraussetzung, aus der sich alles Weitere ergibt. Diese Grundvoraussetzung wird bei Koch/Oesterreicher mitgedacht, aber nicht in die Modellierung einbezogen. Β II UNIKOM und III UNIDIS: Diese beiden Ebenen betreffen das, was im Allgemeinen (so auch bei Koch/Oesterreicher) als „Kommunikationsbedingungen" bezeichnet wird. Die hier erfolgende Unterteilung in zwei Ebenen soll präzisieren, dass es sich einerseits um solche Parameter handelt, die außersprachliche Bedingungen der Kommunikation betreffen (wie ζ. B. Rollendynamik vs. Rollenstabilität), und andererseits um solche Parameter, die sich in der Kommunikation manifestieren (wie ζ. B. Interaktivität vs. Eigenaktivität). C IV UNIVER und V UNIMERK: Diese beiden Ebenen betreffen nun die sprachliche Realisierung, wobei die einzelnen sprachlichen Merkmale (UNIMERK) sich nach übergeordneten Verfahren (UNIVER) bündeln lassen. Ausgangspunkt für die weitere Erfassung von Parametern ist das universale Axiom. Es lautet für Nähe- vs. Distanzsprechen: Offene P-R
Geschlossene P-R
Das bedeutet, dass es sich bei Nähesprechen grundsätzlich um eine offene Produzenten-Rezipientenbeziehung handelt, d. h., Produzent und Rezipient können ihre Rollen jederzeit tauschen, während bei Distanzsprechen die Rollen festgelegt sind. Prinzipielle Nähesprachlichkeit liegt also dann vor, wenn PRaumzeit gleich R-Raumzeit ist, prinzipielle Distanzsprachlichkeit, wenn dies nicht der Fall ist.11 Alle weiteren Ebenen lassen sich von diesem Ausgangspunkt
11
Natürlich gibt es auch einzelne Diskursarten, in denen P-Zeit gleich R-Zeit ist, aber PRaum nicht gleich R-Raum (der umgekehrte Fall P-Raum = R-Raum, aber P-Zeit nicht gleich R-Zeit ist uns nicht geläufig und erscheint auch wenig wahrscheinlich). Dies ist der Fall etwa bei Telefongesprächen, Videokonferenzen und beim Chat. Wir halten diese Diskursarten dennoch für prinzipiell nähesprachlich, weil die Zeitgleichheit u. E. dominanter ist als die Raumungleichheit. Vgl. Agel/Hennig (i. Dr.).
Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
19
ableiten. Ziel der Modellierung der weiteren Ebenen ist es, empirisch vorfindliche einzelsprachliche Merkmale durch entsprechende hierarchische Rückführung über die Ebenen II—IV auf das universale Axiom zu beziehen. Aus der offenen Produzent-Rezipientbeziehung des Nähesprechens ergeben sich auf Ebene II 1 Rollendynamik; 2 P-R-Zeitgebundenheit; 3 P-R-raumzeitgebundener P-R-Horizont; 4 Ganzkörper R und Ρ sowie 5 Phonizität. Diese wiederum fuhren auf Ebene III zu: 1 Interaktivität; 2 Zeitgleichheit von Planung und Produktion; 3 P-R-raumzeitgebundene Referenz; 4 Multimodalität und 5 Bidimensionalität. Diese manifestieren sich auf Ebene IV u. a. in den sprachlichen Verfahren 1 P-mit R-Sequenzierung; 2 aggregative Strukturierung; 3 direkte grammatische Verfahren; 4 holistische Informationsstrukturierung und 5 Sprecheinheitenbildung, welche wiederum auf Ebene V bspw. zu den folgenden sprachlichen Merkmalen fuhren: 1 2 3 4 5
Adjazenzstrukturen; aggregative Satzstrukturen; direkte Rede; Topikellipsen sowie phonisches Wort.
Diese grobe Auflistung soll einerseits die hierarchische Gliederung des Modells illustrieren, andererseits dürfte auch deutlich geworden sein, dass den vier auf dem Axiom aufbauenden Ebenen jeweils fünf Parameter bzw. Verfahrens- oder Merkmalgruppen zugeordnet werden. Diese Parameter sind jeweils aufeinander bezogen, d. h., Parameter 1 auf Ebene II führt zu 1 auf allen anderen Ebenen. Diese fünf für alle vier Ebenen relevanten Parametergruppen werden folgendermaßen benannt:
20
Vilmos Agel/Mathilde Hennig
1 Rollenparameter 2 Zeitparameter 3 Situationsparameter 4 Parameter des Codes 5 Parameter des Mediums Die hierarchische Verflechtung der einzelnen Ebenen sollen folgende Übersichtsskizzen verdeutlichen: Skizze 1: Hierarchien des Nähe- vs. Distanzsprechens:
I
IIIR
IIIZ
IVRaIVRbIVRc
IVzalVzblV*
Iiis
I V S a IVsb I V S c
vvvvvvvvv vvvvvvvvv vvvvvvvvv
R Ζ S Μ C
= = = = =
Rollenparameter Zeitparameter Situationsparameter Parameter des Codes Parameter des Mediums
IIIc
IIIM
IVCa I V c b IVCc
IVM,IVMbVMc
vvvvvvvvv
vvvvvvvv
Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
21
Skizze 2: Hierarchien am Beispiel des Rollenparameters: I Offene P-R
II P-R-Rollendynamik
III Interaktivität
IVa P-mit RSequenzierung
Vaa A d j a z e n z strukturen
Vab RederechtsSignale
IVb P-mit REngführung der Orientierungen
V b a Kontaktsignale
Vbb Wiederaufnahmen
IVc aggregative Rezeptionssteuerung
Vca OperatorV c b aggreg. Skopus-Str. Strukturen (links)
Der hier exemplarisch gezeichnete Stammbaum des Rollenparameters auf der Seite des Nähesprechens kann auch auf alle anderen Parameter und auch auf die Seite des Distanzsprechens übertragen werden. Die in Teil III des Sammelbandes zu findende Übersicht über das gesamte Modell ist also wie diese Skizze des Rollenparameters zu lesen: Diese hierarchischen Verflechtungen gelten für jeden der fünf Parameter jeweils für die Nähe- und die Distanzseite. Da wir also einerseits von fünf Hierarchieebenen ausgehen, die andererseits auf den Ebenen II—IV anhand von fünf Parametern beschrieben werden, ergeben sich zwei Modellierungsmöglichkeiten: Das Modell kann einerseits ausgehend von den fünf Ebenen, andererseits ausgehend von den fünf Parametern dargestellt werden. Wir werden hier nun jeweils eine verkürzte, nicht alle Merkmale enthaltende Übersicht über diese beiden Sichtweisen präsentieren. Α Darstellung nach Ebenen Ausgangspunkt sind die oben vorgestellten Ebenen II-V. Die Ebene I, das universale Axiom, ist eine Grundvoraussetzung und wird nicht weiter untergliedert. Die Ebenen II—IV lassen sich mittels der fünf Parameter näher beschreiben:
Vilmos Agel/Mathilde
22
NÄHE
DISTANZ
Hennig
II UNIKOM 1 Rollenparameter:
P-R-Rollendynamik
P-R-Rollenstabilität
2 Zeitparameter:
P-R-Zeitgebundenheit
P-R-Zeitfreiheit
3 Situationsparameter:
P-R-raumzeitgebundener P-
P-R-raumzeitfreier P-R-
R-Horizont
Horizont
4 Parameter des Codes:
Ganzkörper R und Ρ
Teilkörper R und Ρ
5 Parameter des Mediums:
Phonizität
Graphizität
Interaktivität
Eigenaktivität
Zeitgleichheit von Planung
Planung vor Produktion
III UNIDIS 1 Rollenparameter: 2 Zeitparameter: 3 Situationsparameter: 4 Parameter des Codes: 5 Parameter des Mediums:
und Produktion P-R-raumzeitgebundene
P-R-raumzeitfreie
Referenz
Referenz
Multimodalität
Monomodalität
Bidimensionalität
Monodimensionalität
IV UNIVER 1 Rollenparameter:
P-mit R-Sequenzierung
P-ohne R-Sequenzierung
2 Zeitparameter:
aggregative Strukturierung
integrative Strukturen
3 Situationsparameter:
direkte grammatische
indirekte grammatische
4 Parameter des Codes: 5 Parameter des Mediums:
Verfahren
Verfahren
holistische Informations-
autonome Informations-
strukturierung
strukturierung
Sprecheinheitenbildung
Schreibeinheitenbildung
V UNIMERK 1 Rollenparameter:
Adjazenzstrukturen
eigenaktive Strukturen
2 Zeitparameter:
aggregative Satzstrukturen
integrative Satzstrukt.
3 Situationsparameter:
direkte Rede
indirekte Rede
4 Parameter des Codes:
Topikellipsen
Vorfeldbesetzung durch expletives es
5 Parameter des Mediums:
Sprechzeichen
Schreibzeichen
Theorie des Nähe- und Distanzsprechens
23
Β Darstellung nach Parametern Ausgangspunkt sind die fünf Parameter. Die Parameter 1-5 lassen sich mittels der Ebenen II-IV näher beschreiben: NAHE
DISTANZ
1 Rollenparameter UNIKOM:
P-R-Rollendynamik
P-R-Rollenstabilität
UN1DIS:
Interaktivität
Eigenaktivität
UNIVER:
P-mit R-Sequenzierung
P-ohne R-Sequenzierung
UNIMERK:
Adjazenzstrukturen
eigenaktive Strukturen
UNIKOM:
P-R-Zeitgebundenheit
P-R-Zeitfreiheit
UNIDIS:
Zeitgleichheit von Planung und
Planung vor Produktion
2 Zeitparameter
Produktion UNIVER:
aggregative Strukturierung
integrative Strukturierung
UNIMERK:
aggregative Satzstrukturen
integrative Satzstrukturen
P-R-raumzeitgebundener P-R-
P-R-raumzeitfreier
Horizont
P-R-Horizont
3 Situationsparameter UNIKOM:
UNIDIS:
P-R-raumzeitgebundene Referenz
P-R-raumzeitfreie Referenz
UNIVER:
direkte grammatische Verfahren
indirekte grammatische Verfahren
direkte Rede
indirekte Rede
UNIKOM:
Ganzkörper R und Ρ
Teilkörper R und Ρ
UNIDIS:
Multimodalität
Monomodalität
UNIVER:
holistische
autonome Informations-
UNIMERK: 4 Parameter des Codes
UNIMERK:
Informationsstrukturierung
strukturierung
Topikellipse
Vorfeldbesetzung durch expletives es
5 Parameter des Mediums UNIKOM:
Phonizität
Graphizität
UNIDIS:
Bidimensionalität
Monodimensionalität
UNIVER:
Sprecheinheitenbildung
Schreibeinheitenbildung
UNIMERK:
Sprechzeichen
Schreibzeichen
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Schließlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass eine Verortung im Kontinuum zwischen dem Nähe- und dem Distanzpol natürlich von der Modellierung dieser Pole abhängt, d. h., wenn Koch/Oesterreichers Modell auf eine vergleichbare Weise zum Ausgangspunkt einer solchen Methode wie der hier vorgestellten gemacht würde, heißt das noch lange nicht, dass das Ergebnis der Verortung eines konkreten Textes das gleiche wäre wie bei der Anwendung unseres Modells. Ein wesentlicher Unterschied im Verständnis von ,Nähe' und ,Distanz' liegt wohl darin, dass Koch/Oesterreicher - sicherlich in Anlehnung an das Freiburger Redekonstellationstypenmodell - für ,Nähe' ganz offensichtlich eine private, spontane Atmosphäre für konstitutiv halten (vgl. die Kommunikationsbedingungen ,Vertrautheit der Partner', .freie Themenentwicklung', ,keine Öffentlichkeit'), während wir uns bei der Modellierung darum bemüht haben, nur solche .Kommunikationsbedingungen' (= ,Parameter der Kommunikation und der Diskursgestaltung') in die Modellierung einzubeziehen, die nachweislich für das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein bestimmter grammatischer Merkmale verantwortlich sind. Wie bereits mehrfach betont, geht es in der hier vorliegenden Modellierung um die systematische Rückführung sprachlicher Merkmale auf die Parameter der Kommunikation und letztendlich auf das universale Axiom. Wir haben deshalb konsequent solche aus der Literatur bekannten Parameter, die das nicht gewährleisten, außen vor gelassen. Eine Kommunikationsbedingung wie .Öffentlichkeit' mag zwar die Sprachproduktion insofern beeinflussen, als der Sprecher sich um eine korrektere Ausdrucksweise bemüht als in einem Gespräch unter Freunden, es lassen sich u. E. aber keine spezifischen, unmittelbar auf das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Öffentlichkeit zurückführbaren grammatischen Merkmale nachweisen.
3.3 Erläuterung
einiger
Zentralbegrijfe
3.3.1 E n g f u h r u n g der Orientierungen Bei der Ausdifferenzierung des Rollenparameters haben wir als universales Diskursverfahren (UNIVER lb) .Engführung der Orientierungen' aufgeführt. Der Begriff .Engführung der Orientierungen' geht zurück auf Helmuth Feilke. Wir möchten nun erklären, warum und in welchem Sinne wir ihn hier zur Bezeichnung eines nähesprachlichen Diskursverfahrens verwenden. Den Begriff .Engführung der Orientierungen' prägt Feilke (1994: 365) im Rahmen seiner Beschreibung der .Common-sense-Kompetenz'. .Common sense' definiert Feilke (1994: 363) als „ein auf die ökologischen Bedingungen menschlichen Handelns bezogenes und durch diese Bedingungen pragmatisch konstituiertes und stabilisiertes intuitives Wissen". Mit diesem ,Common sense' begegnen wir im Kommunikationsprozess dem Problem der interpretativen Offenheit: Wir müssen uns vor Augen halten, dass wir uns als Kommunikationsteilnehmer stets als Individuen mit individuellen Prägungen und indivi-
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duellem Vorwissen am Kommunikationsprozess beteiligen. Unsere Kommunikationspartner verfügen selbstverständlich über einen teils anderen individuellen Hintergrund, d. h., wir haben unsere spezifischen Orientierungen. Wir sind aber prinzipiell daran interessiert, Meinen und Verstehen im Kommunikationsprozess abzugleichen, d. h., wir sind daran interessiert, dass wir unsere Orientierungen abgleichen bzw. engßhren. Natürlich ist dies ein zentrales Ziel jedweder Kommunikation. Die Möglichkeiten der Engführung der Orientierungen in Nähekommunikation sind aber um ein Vielfaches größer als in raumzeitentbundener Distanzkommunikation. Wir können hier Nuancen unserer Orientierung etwa durch Suprasegmentalia oder durch Nonverbales explizit machen. Was uns hier im Rahmen der Nähe-Distanz-Modellierung interessiert, sind die sprachlichen Merkmale, die sich mit diesem zentralen Kommunikationsverfahren verbinden. Wir nutzen in Nähekommunikation die ständig bestehende Möglichkeit der Engfuhrung der Orientierungen, indem wir sprachliche Merkmale verwenden, um eine Engführung sicherzustellen, eine erfolgte Engführung zu kennzeichnen oder das Nichtgeiingen der Engfuhrung zu signalisieren. Ein Beispieltext soll dies verdeutlichen. Es handelt sich um einen Gesprächsausschnitt aus einem Beratungsgespräch auf dem Arbeitsamt. 12 „A" ist der Berater und „K" ist die Rat Suchende; Κ hat gerade überlegt, ob ein Beruf im Elektrobereich für sie in Frage käme; der Berater äußert nun seine Bedenken zu diesem Tätigkeitsfeld. 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21
12
A: A: K: K: A: K: A: K: A: B: K: A: K: Κ: K: K: A: A: K: A: K: A: A: A:
Wie sind Sie denn darauf gekommen? . . (Auf den) Elektrobereich? Ja, mein Vatter, der hat früher, wo er . noch gelebt hat, da hatt er j a ( ) viel mit Elektro geHm. m a c h t . und zu Hause privat. Und da hab ich ihm im. . . Ja, und was meinen Sie jetzt konkret mer geholfen. mit Elektrobereich? ( H m . ) . . ((10 s e c . ) ) . . Also mit Elektrotechnik und so, das hab ich eigentlich nich Hm. so gedacht. (Ich mein) einfach nur was mit,. ich weiß nich genau, wie man das beschreiben soll,. vielleicht irgendwie mit Lampen oder s o , . die man zu Lampen zusammensetzt. H m . . . . Ja, ich m e i n , . . das Problem ist ja/ Als äh ohne Hauptschulabschluß,. das mein Ja, das ist zum Beispiel ein Problem, aber das ich. mein ich jetzt noch gar nicht mal, das Problem ist ja auch, ob man (mit) so einer,. ,mit soner Ausbildung hinterher auch Arbeit bekommen kann. . . Is j a leider
Der Text ist (in leicht vereinfachter Transkription) übernommen aus Ehlich/Redder (1994: 98f.).
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26 22 23
Α: immer noch so, daß . Elektroberufe so überwiegend MänA: nerberufe sind, ne. K: Jaja, das ist es ja.
In Zeile 17 unterbricht Κ die Aussage von A, weil die Sprecherin zu wissen meint, über welches Problem Α sprechen will, d. h., sie geht davon aus, dass ihre Orientierungen übereinstimmen. Um dies kundzutun, d. h., um also Α unnötige längere Ausführungen zu ersparen, unterbricht sie ihn und fuhrt aus, worin ihrer Meinung nach das Problem liegt. Sie produziert also eine adjazente Struktur, um die vermeintliche Übereinstimmung der Orientierungen anzugeben. In Zeile 18 beginnt Α nach dem Sprecherwechsel seine Aussage mit ja, das hier als engführendes Kontaktsignal angesehen werden kann, weil Α damit ausdrückt, dass er versteht, worin IC das Problem sieht, d. h., welche Orientierung hinter ihrer Aussage steht. Mit Kontaktsignalen wie ja (häufig auch hm oder aha) gibt der Rezipient an, dass er der Orientierung des Produzenten folgen kann, dass also Meinen und Verstehen hier übereinstimmen. Durch den folgenden Einschub aber das mein ich jetzt noch gar nicht mal drückt Α dann aber aus, dass die Engführung seiner ursprünglichen Orientierung von Zeile 16f. (d.h., das von ihm gemeinte Problem) nicht gelungen ist, dass er also eine andere Orientierung verfolgt hatte als die, die Κ für seine Orientierung hielt. Da er nun erläutert, was er fur das/ein Problem hält, sichert er ab, dass Κ über seine ursprüngliche Orientierung informiert wird und beide Orientierungen abgeglichen werden. Natürlich erfolgt die Engführung hier zunächst durch die Ausführungen über das gemeinte Problem, also auf lexikalischer und nicht grammatischer Ebene. Es finden sich aber auch zwei engführende sprachliche Strukturen: Die Wiederaufnahme von das Problem ist ja in Zeile 19 stellt sicher, dass der Rezipient nach den eigenen Ausführungen und dem Einschub aber das mein ich jetzt noch gar nicht mal versteht, dass es im Folgenden wieder um das Problem gehen wird. Außerdem dient ne in Zeile 23 der Absicherung der gelungenen Engflihrung der Orientierungen. 13 M. a. W., Α setzt dieses um Bestätigung bittende Signal ein, um zu überprüfen, ob Κ jetzt klar geworden ist, worin seiner Meinung nach das Problem liegt. Durch das folgende Jaja, das ist es ja bestätigt Κ die gelungene Engfuhrung.
3.3.2 Aggregation vs. Integration Zentral für die grammatische Ausgestaltung eines Diskurses ist die Frage, ob Planung und Produktion zeitgleich verlaufen. Denn „on line-Zeitlichkeit" (Auer
13
Der Status von so genannten ,Diskursmarkem' oder ,Gliederungssignalen' als lexikalische, grammatische und/oder pragmatische Sprachzeichen kann nicht als geklärt angesehen werden. Wir betrachten die ,Nähezeichen' (Agel 2005) insofern als relevant auch für die grammatische Beschreibung von Nähekommunikation, als sie einerseits zur Strukturierung des Redeflusses beitragen und andererseits nicht Bestandteil benachbarter Einheiten sind, sondern eigenständige Einheiten darstellen (Hennig i. V.).
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2000) fuhrt dazu, was Wilhelm Koller (1993: 21) in Anlehnung an den Kunsthistoriker Erwin Panofsky einen „Aggregatraum" genannt hat. Während Aggregativität in der Kunstgeschichte mit der so genannten aspektivischen Darstellungsweise der altägyptischen und mittelalterlichen Malerei bzw. der Art und Weise, wie Kleinkinder malen, in Verbindung gebracht wird, möchten wir analog das Nähesprechen als einen fiktiven Aggregatraum charakterisieren, dessen Elemente eher (semantisch-pragmatisch) kohärent als (strukturell) kohäsiv organisiert sind. Strukturell gesehen stellen somit die Elemente eines Aggregatraumes eher „eigenständige Monaden" (ebd.) als Ganzheiten dar. Panofskys und Kollers Gegenbegriff zum Aggregatraum ist der „Systemraum" (Koller 1993: 24), für den charakteristisch ist, daß nun die dargestellten Dinge zu einer Funktion des Raumes würden bzw. zu einer Funktion des Sehepunktes, den das wahrnehmende Subjekt eingenommen habe, (ebd.)
Mit dem Begriff des Systemraumes sind (strukturell) kohäsive Ganzheiten zu fassen, die in der linguistischen Theoriebildung vereinzelt auch mit dem Terminus der Integrativität belegt werden (Raible 1992; Koch/Oesterreicher 1990: 11 und 96).14 Grammatiktheoretische Verortungsversuche von .Aggregativität/Aggregatraum vs. Integrativität/Systemraum' finden sich in Raible (1992), Koller (1993) und Agel (2003). Zu betonen ist hier, dass bei allen Differenzen im Detail Konsens über den prinzipiell skalaren Charakter des Konzepts ,Aggregativität/Integrativität' besteht. Dies bedeutet aber natürlich nicht, dass es im Falle jedes einzelnen Beispieltyps Zwischenstufen zwischen Aggregativität und Integrativität geben muss. Wir möchten das für uns zentrale Konzept ,Aggregativität/Integrativität' mit drei Beispieltypen illustrieren: Mit Beispieltyp (a) soll ein etablierter Phänomenbereich der Symbolgrammatik kritisch hinterfragt werden. Beispieltyp (b) will das Konzept aus der Sicht der Gesprochenen-Sprache-Forschung beleuchten. Schließlich wollen wir Beispieltyp (c) zum Anlass nehmen, die Problematik der Relation zwischen universaler und historischer Ebene der Nähe- und Distanzkommunikation anzuschneiden. (a) Adjektivvalenz: Ein klassischer Fall für Adjektivvalenz ist die Infinitivkonstruktion in (1): (1) Würden Sie so freundlich sein, mir zu helfen? (DUW 2003)
Wie aber würde man den aggregativen und-Anschluss in (2) einordnen? (2) Würdest du so lieb sein und das fur mich abgeben? (Sommerfeldt/Schreiber 1983: 321)
14
König/Auwera (1988: 107-109) gehen bezogen auf die Grammatikalisierung von vorangestellten Nebensätzen von einem (unidirektionalen) historischen Integrationsprozess aus, dessen .Endpunkt' die totale Integration des Vorsatzes durch Erststellung des Finitums im Hauptsatz ist.
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Obwohl die Abhängigkeit des und-Anschlusses von dem Adjektiv lieb genauso auf der Hand liegt wie die Abhängigkeit der Infinitivkonstruktion von freundlich, sehen Valenztheorien keine Adjektivvalenz mit ««^-Anschluss vor. Offensichtlich tragen Valenztheorien das skriptizistische Erbe von Symbolgrammatiken (Agel 2003), indem sie das (semantisch-pragmatisch) Kohärente nur auf der Folie des (strukturell) Kohäsiven wahrnehmen bzw. theoretisch zulassen wollen. Anders gesagt: Der Kompetenzbereich von Valenztheorien erstreckt sich nicht auf rein aggregative Abhängigkeiten, da diese rektional nicht interpretierbar sind. (b) Satzrandstrukturen: Sowohl die Strukturen am rechten als auch die am linken Satzrand [s. die Zeilen 1 , 9 , 12, 15 im Beispieltext in Kapitel 3.3.1] lassen sich mit Bezug auf den Zeitparameter als aggregativ erklären. Man kann sich am besten vorstellen, was hier mit,aggregativ' gemeint ist, wenn man sich jeweils das integrierte Pendant vorstellt: Das integrierte Pendant zur obigen Struktur am rechten Satzrand - Wie sind Sie denn darauf gekommen, auf den Elektrobereich - lautet natürlich Wie sind Sie denn auf den Elektrobereich gekommen? Das Pendant zu mein vatter der hat früher, wäre mein Vater hat früher. Die beiden Beispiele mit Satzrandstrukturen lassen sich im Sinne der obigen Systemraumcharakterisierung als von mehreren - in der Regel zwei - Sehepunkten aus organisiert beschreiben, während integrierte Strukturen nur von einem Sehepunkt aus gestaltet sind. Im Fall von Strukturen am linken Satzrand ist der eine Sehepunkt auf die rezeptionssteuernde Funktion ausgerichtet. M. a. W. lenkt der Sprecher mit einer Struktur am linken Satzrand die Aufmerksamkeit des Hörers auf das Folgende, er kündigt an, was Thema seiner Äußerung sein wird. Die darauf folgende Einheit wird von einem weiteren Sehepunkt aus organisiert. Umgekehrt folgt bei Strukturen am rechten Satzrand auf eine solche Einheit eine Präzisierung, deren Organisation von einem zweiten Sehepunkt aus ebenfalls auf den Rezipienten ausgerichtet ist. Mit solchen Strukturen wird sichergestellt, dass der Rezipient versteht, was gemeint war, Meinen und Verstehen werden abgeglichen, Orientierungen enggeführt. (c) Matrixverb mit negativer Bedeutung: Wie Peter Auer (1998) gezeigt hat, führt semantische (konzeptuelle) Negation im Matrixsatz - egal, ob syntaktisch oder lexematisch realisiert - zu einer pragmatischen Relevanzrückstufung im abhängigen Satz, was sich syntaktisch in der präferierten Wahl eines Nebensatzes, semantisch in dem relativ präsupponierenden Charakter der Proposition äußert. M. a. W., semantische (konzeptuelle) Negation im Matrixsatz führt zu einer stärkeren Integration des abhängigen Satzes, umgekehrt ist die Relation zwischen Matrixsätzen ohne semantische (konzeptuelle) Negation und deren abhängigen Sätzen aggregativer.
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Aus Auers Auffassung folgt für uns, dass abhängige Hauptsätze grundsätzlich aggregativer sind als uneingeleitete Nebensätze und diese grundsätzlich aggregativer als eingeleitete Nebensätze. Allerdings scheint uns die von Auer postulierte (wenn auch nicht absolute) Korrelation zwischen ,relativ präsupponierend' und Nebensatz bzw. zwischen .relativ assertierend' und abhängigem Hauptsatz nicht generell zu gelten, sondern eher das Ergebnis historisch zunehmender Integration zu sein. Man vergleiche folgenden Beleg: (3) Weil aber, wenn der Verstand nicht wohl darauf Acht hat, zu verhüten, daß diese subjektive Vorstellungsart nicht vor objektiv gehalten werde, leichtlich ein falsches Urteil entspringen kann, so sagt man: sie scheinen zurückzugehen [...]. (Kant 1783/1989: 2 9 1 )
Die Relation zwischen der Matrix-Infinitivkonstruktion (zu verhüten) und dem daß-Satz lässt sich einerseits mit dem Integrationsmerkmal des eingeleiteten Nebensatzes, andererseits aber auch mit dem Aggregationsmerkmal der syntaktischen Negation im daß-Satz trotz eines Matrixverbs mit negativer Bedeutung beschreiben. Der Nebensatz ist assertierend, die negative Bedeutung des Matrixverbs reicht hier - nicht einmal in der Distanzkommunikation - aus, um die Integration in das ,Innere' des Nebensatzes zu ,tragen'. Die Parallelen zur sukzessiven Integration der Verbalklammer - zuerst werden die ,Grenzen' abgesteckt, später wird auch der Klammerinhalt strukturiert (Ägel 2000b) - sind unübersehbar. Aggregation ist also zwar ein universales Merkmal des Nähesprechens und Integration eines des Distanzsprechens. Dies heißt aber weder, dass die Relation zwischen Aggregation und Integration historisch konstant wäre, noch, dass sich aus der Aggregativität eines Phänomens zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Geschichte einer Sprache automatisch auch auf dessen historische Nähesprachlichkeit schließen ließe. Was ist damit gemeint? Wir gehen mit Welke (2002: 248) von der folgenden „grundlegende(n) Bedingung diachroner Entwicklung" aus: Strukturen sind träger als Funktionen. Zuerst ändert sich die Funktion in der alten Struktur. Dann sprengt die neue Funktion die alte Struktur. Die Struktur paßt sich der Funktion an. (ebd.)
Verschriftlichung führt zu immer mehr Integrationsmerkmalen und somit auch zu einer Umstrukturierung der Relation zwischen Aggregation und Integration. Dabei kann der Umstrukturierungsprozess sowohl darin bestehen, dass ein Aggregations- durch ein Integrationsmerkmal ersetzt wird, als auch darin, dass es zu einer Vertikalisierung (Reichmann 1988) von Aggregations- und Integrationsmerkmalen kommt (ausführlicher s. Ägel 2003). In letzterem Falle stehen einem Sprecher/Schreiber, der die entsprechenden Varietäten beherrscht, aggregative und integrative Realisierungsoptionen zur Verfugung. Hat dagegen der Umstrukturierungsprozess bei einem Phänomen - u. U. trotz fortgeschrittener Verschriftlichung - zu einem gegebenen Zeitpunkt noch nicht eingesetzt oder ist es umgekehrt bereits zu vollem Ersatz einer aggregativen durch eine integ-
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rative Struktur gekommen, ist die aggregative bzw. die integrative Realisierung obligatorisch. Sprecher/Schreiber des heutigen Standarddeutschen haben keine Wahl mehr zwischen etwa „Sie will verhüten, dass kein Unglück passiert" (aggregativ) und „Sie will verhüten, dass ein Unglück passiert" (integrativ). Ob dagegen für Kant noch die aggregative Realisierung obligatorisch war oder ob ihm die Alternative bereits verfügbar war, muss in Ermangelung einschlägiger Untersuchungen vorerst dahingestellt bleiben. Im Sinne des Gesagten scheint angemessen, zwei Typen von Nähe- bzw. Distanzsprachlichkeit zu unterscheiden: eine genuine (universelle), die an den (universellen) Zeitparameter, und eine historische, die an zeit(en)gebundene Umstrukturierungen von Aggregat- zu Systemräumen gebunden ist. Dabei gilt, dass ein obligatorisches Aggregationsmerkmal ,nur' universell nähesprachlich ist, während ein optionales Aggregationsmerkmal sowohl universell als auch historisch nähesprachlich ist. Da wir allerdings im vorliegenden Beitrag zugegebenermaßen nur die universelle Ebene modellieren können (s. Kapitel 1), bleibt dieser wichtige Unterschied in der Praxis des Nähe- und Distanzsprechens vorerst unberücksichtigt.
3.3.3 Sprech- vs. Schreibeinheitenbildung (Sprech- vs. Schreibzeichen) Es geht hier um die in Agel/Kehrein (2002) empirisch und theoretisch begründete Unterscheidung eines graphisch gewonnenen Wort- bzw. Zeichenparadigmas von einem phonisch (= akustisch-auditiv) gewonnenen. Die Unterscheidung setzt zwar die semiotische Unterscheidung zwischen Schreibsignifikant und Sprechsignifikant bzw. die zwischen Schreibsignifikat und Sprechsignifikat voraus, doch um die gewohnten Termini nicht ersetzen zu müssen, schien es zweckmäßig, sie für die Schreibeinheiten beizubehalten. Somit haben nicht die Sprachzeichen schlechthin, sondern nur die Schreibzeichen Signifikanten und Signifikate. Den Schreibzeichen mit Signifikant und Signifikat entsprechen im anderen Medium Sprechzeichen mit Sprechtyp/Phonotyp und Bedeutung. Im Falle des empirisch untersuchten Schreibzeichens JA (Agel/Kehrein 2002: 11-20) konnten zwei Phonotypen ja mit je einer Bedeutung identifiziert werden: ein bestätigend-zustimmendes und ein .abtönendes' ja. Auf der Ebene der Sprechzeichen ist also die Relation zwischen Form und Bedeutung ikonisch, die zwei Sprechzeichen ja sind - im Gegensatz zu dem als hochgradig polysem dargestellten Schreibzeichen JA der Wörterbücher - monosem. 15
15
Möglicherweise sind also manche Bedeutungsstrukturen gar nicht so komplex und kompliziert wie ihre lexikographische Beschreibung. Um zu übersichtlicheren Bedeutungsstrukturen zu kommen, würde es vielleicht reichen, das von allen akzeptierte, aber nur von wenigen praktizierte Saussure'sche Primat des gesprochenen Wortes ernster zu nehmen.
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Während Sprechzeichen-Paradigmen ausschließlich im Rekurs auf das phonische Medium etabliert sind, sind die ausdrucke- und die inhaltsseitige Distinktivität und somit die Paradigmenbildung bei Schreibzeichen graphisch begründet oder mitbegründet (vgl. etwa Saite vs. Seite).
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Praxis des Nähe- und Distanzsprechens 1 2 2.1 2.2 2.3 3 3.1 3.2
1
Beschreibungsebenen der Nähesprachlichkeit Mikronähesprachlichkeit Methode Beispiel Festlegungen zur Identifizierung von Merkmalen Makronähesprachlichkeit Theoretische Voraussetzungen Methode
Beschreibungsebenen der Nähesprachlichkeit
Bei der Modellierung des Nähe- und Distanzsprechens ging es uns nicht nur um eine theoretisch angemessene Erfassung des Spannungsfeldes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, sondern diese sollte gleichzeitig so gestaltet sein, dass sie die praktische Arbeit mit Texten erleichtert. Wir werden nun unseren Vorschlag zur praktischen Verortung einzelner Diskursarten bzw. empirisch vorfindlicher Texte/Textausschnitte erläutern und anschließend anhand von Beispielen vorfuhren, wie wir uns die Arbeit mit Texten mit Hilfe des Nähe-Distanz-Modells vorstellen. Da wir es als unbefriedigend empfanden, dass die Koch/Oesterreicher'sche Nähe-Distanz-Modellierung (1985: 23) keine konkreten Anhaltspunkte zur Verortung einzelner Diskursarten zwischen den Polen der Nähe und Distanz bietet, 1 haben wir nach einem Verfahren gesucht, das die Modellierung von Nähe und Distanz operationalisiert und somit eine solche Verortung ermöglicht. Wenn wir im Folgenden Überlegungen zur Praxis der Verortung von Diskursarten oder (Korpus-)Texten präsentieren, so nehmen wir dabei eine Näheperspektive ein, weil uns die Ermittlung von Nähesprachlichkeit momentan stärker interessiert als die Ermittlung von Distanzsprachlichkeit.
Eine solche Verortung wird von den Autoren aber sehr wohl vorgenommen, vgl. Fig. 2 (1985: 18). Diese lässt aber nicht erkennen, wie man zu dieser Verortung gelangt, d. h., es wird keine direkte Beziehung zwischen den in der Modellierung verwendeten Kommunikationsbedingungen und Versprachlichungsstrategien und der Verortung einzelner Diskursarten hergestellt, so dass man sich im Einzelfall fragt, ob etwa ein Privatbrief tatsächlich nähesprachlicher ist als ein Vorstellungsgespräch. Hinzu kommt, dass es Unterschiede zwischen den Verortungen der Diskursarten in Koch/Oesterreicher (1985) und (1994) gibt, so dass man sich fragen muss, ob sich tatsächlich die entsprechenden Diskursarten in dieser kurzen Zeit so gravierend verändert haben oder ob nicht doch die Verortung ohne transparentes Verfahren etwas spekulativ bleibt.
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Das Modell des Nähe- und Distanzsprechens ist allmählich, in ständiger Interaktion mit der praktischen Arbeit an historischen Texten gewachsen'. Es zeigt ein Bild, das Wittgensteins sprachmetaphorischer Stadt mit geplant-durchstrukturierter Innenstadt und verwinkelten Gassen in den Außenbereichen ähnelt. Das ,Nachwachsen' von bestimmten theoretischen Überlegungen hat zwei wichtige Konsequenzen: 1. Ursprünglich hatten wir (grammatische) Nähesprachlichkeit mit den konkreten (grammatischen) Merkmalen auf der untersten Hierarchieebene des Modells (UNIMERK) gleichgesetzt. Inzwischen sind wir allerdings zu der Überzeugung gekommen, dass sich die (grammatische) Nähesprachlichkeit von Texten präziser erfassen lässt, wenn man in der praktischen Analyse die originale .Froschperspektive' auf die Mikroebene (der UNIMERK) durch einen globalen Blick auf die das Textprofil prägenden grammatischen Schemata, durch die Vogelperspektive auf die Makroebene, ergänzt. Infolgedessen unterscheiden wir mittlerweile zwei Ebenen der Nähesprachlichkeit: Mikro- und Makronähesprachlichkeit. Das Modell des Nähe- und Distanzsprechens beruht auf einer Theorie der Mikronähesprachlichkeit. Die Theorie der Makronähesprachlichkeit ist in das Modell nachträglich nicht mehr integriert worden, damit das ohnehin recht umfangreich gewordene Modell nicht völlig aus den Fugen gerät. In der praktischen Arbeit bedeutet das allerdings kein Handicap, da in die Textanalyse sowohl die Mikro- als auch die Makronähesprachlichkeit gleichwertig einbezogen und miteinander verrechnet werden. 2. Um mit Hilfe unseres Modells die Nähesprachlichkeit eines Textexemplars analysieren zu können, schien es uns unerlässlich, von einem prototypischen Nähetext als Vergleichsbasis auszugehen. Ohne ein solches tertium comparationis bleiben Überlegungen zur Verortung eines Textexemplars oder einer Diskursart bzw. Textsorte mit Hilfe einer Punktgebung spekulativ. Die nachträgliche Begründung des Konzepts einer Makronähesprachlickeit hat allerdings auch hier zu neuen methodischen Überlegungen geführt. Denn während das Ausgehen von nur einem prototypischen Nähe text als Vergleichsbasis im Bereich der Mikronähesprachlichkeit eine zulässige methodische Vereinfachung darzustellen scheint (die Distanzseite des Modells des Näheund Distanzsprechens konnte oft nur negativ - durch das Fehlen eines Nähemerkmals - charakterisiert werden), wäre dieses Verfahren im Bereich der Makronähesprachlichkeit nicht mehr adäquat: Die von uns angenommenen, das Textprofil prägenden grammatischen Schemata (s. Kapitel 3.1) prägen gleichermaßen Nähe- wie Distanztexte - aber eben auf unterschiedliche Weise. Im Bereich der Makronähesprachlichkeit braucht man also zwei textuelle Vergleichsbasen, deren globale grammatische Merkmale die Methode der Punktgebung gemeinsam zu begründen haben: einen prototypischen Nähetext und einen prototypischen Distanztext. Der einem ,Makrocheck' zu unterziehende Text wird in dem grammatischen Raum zwischen dem pro-
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens
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totypischen Nähetext und dem prototypischen Distanztext zu lokalisieren sein. Das Verfahren zur Verortung von Textexemplaren zwischen Nähe und Distanz gliedert sich also in folgende drei Etappen: 1. Methode und Praxis der Mikroanalyse: das In-Beziehung-Setzen des NäheVergleichstextes zu dem zu ,checkenden' Text (so genannter ,Mikrocheck'); 2. Methode und Praxis der Makroanalyse: das In-Beziehung-Setzen der Relation zwischen Nähe-Vergleichstext und Distanz-Vergleichstext zu dem zu .checkenden' Text (so genannter .Makrocheck'); 3. Verrechnung der Ergebnisse des ,Mikro- und Makrochecks' miteinander (Durchschnittsbildung). Sowohl auf Mikro- als auch auf Makroebene wird also eine prozentuale Nähesprachlichkeit ermittelt. Wir möchten an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass unser Arbeiten mit Prozentzahlen keine mathematische Genauigkeit suggerieren soll. Es schien uns aber notwendig, um einerseits eine nicht nur rein spekulative Verortung einer Diskursart oder eines (Korpus-)Textes zwischen den Polen der Nähe und Distanz zu ermöglichen und andererseits auf diese Weise die Vergleichbarkeit unserer Korpustexte aus dem Zeitraum 1650-2000 zu gewährleisten: Da ein wesentliches Kriterium für die Zusammenstellung des Korpus fur die Sprachstufengrammatik 1650-2000 die Berücksichtigung des Kontinuums zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist, muss der Grad an Mündlichkeit der Texte vergleichbar sein. Genau diese Vergleichbarkeit soll mit der Ermittlung der prozentualen Nähesprachlichkeit erreicht werden, ohne dass wir damit demonstrieren wollten, dass wir Nähesprachlichkeit für mathematisch messbar hielten.
2 Mikronähesprachlichkeit
2.1 Methode Wie in Kapitel 1 begründet wurde, schien es uns unerlässlich, zur Ermittlung der Mikronähesprachlichkeit eines Textexemplars von einem prototypischen Nähetext als Vergleichsbasis auszugehen. Das Verfahren zur Verortung von Textexemplaren zwischen Nähe und Distanz gliedert sich deshalb in folgende Schritte: 1. Analyse des tertium comparationis 1.1 Auflistung der Nähemerkmale des Vergleichstextes 1.2 Statistische Auswertung dieser Merkmale (token-Frequenz im Verhältnis zur Textlänge)
36 2. 2.1 2.2 2.3
Vilmos Agel/Mathilde Hennig Analyse des einzuordnenden Textes Auflistung der Nähemerkmale des Textes Statistische Auswertung dieser Texte wie in 1.2 In-Beziehung-Setzen der Ergebnisse zu den Ergebnissen aus 1.2.
Punkt 1 werden wir im Folgenden erläutern; Punkt 2 werden wir anhand eines Beispiels kurz illustrieren. Detaillierte Beispielanalysen finden sich in Teil II dieses Sammelbandes. Auf der Suche nach einem geeigneten tertium comparationis haben wir uns für ein Radio-phone-in entschieden. 2 Das Transkript umfasst 353 Zeilen und 1784 Wortformen. Wir konnten 1127 Nähemerkmale identifizieren. Da hier aus Platzgründen nicht die gesamte Analyse wiedergegeben werden kann, möchten wir wenigstens einen kurzen Ausschnitt (die ersten 20 Zeilen) vorstellen. 3 945 946 947 948 949 950 951 952 953 954 955 956 957 958 959 960 961 962 963 964
D:
D: Da: D: Da:
D:
das war naDINE, und jetzt (.) kommt DAniel; (-) daniel is achtzehn JAHre alt; guten MORgen; (.) Daniel: ja guten MORgen domian;= =hallo DAniel; (0,6) was kannst DU nicht wieder gut machen; oder MElNst nicht wieder gut machen zu können. (0,7) äh j a bei mir is FOLgendes, ähm ich bin j a ich bin seit zwei jähren mit meiner freundin jetzt zuSAMmen, JA (0,5) und ähm meine FREUNdin, (.) MEINte jetzt (0,5) vor äh un ungefähr nem Monat, (.) meinte se zu MIR, (-) du DAniel pass auf jetz versuchen wir mal also sexuell was NEUES; lass dir einfach mal was EINfallen; « l e i s e > hm=hm> (-)
Wir möchten uns an dieser Stelle ausdrücklich bei Susanne Günthner dafür bedanken, dass sie uns das Transkript zur Verfugung gestellt hat. Wir sind uns darüber im Klaren, dass ein Radio-phone-in keine optimale Lösung ist, da es ja nur zeitgleich, aber nicht im gleichen Raum abläuft. Wir hielten den Text dennoch fur geeignet für die Analyse, weil sich die Zeitgleichheit ungleich stärker auf das Einsetzen grammatischer Verfahren auswirkt als die Raumgleichheit. Da Raumgleichheit in grammatischer Hinsicht nur zu a) raumdeiktischen grammatischen Strukturen und b) in Verbindung mit Nonverbalität interpretierbaren grammatischen Strukturen führt und beides wahrscheinlich von sehr geringer statistischer Relevanz im Rahmen der Nähekommunikation ist, hielten wir das Phone-in-Beispiel für unsere Zwecke anwendbar, da es ja gerade um die Ermittlung der token-Frequenz der Nähemerkmale ging. Ein vergleichbares Transkript eines nicht institutionengebundenen und nicht oder nur wenig dialektal gefärbten Alltagsgespräches stand uns leider nicht zur Verfugung. Die gesamte Analyse findet sich in Hennig (i. V.).
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens Zeile
Beleg
Einordnung
945 946 946 947 947 9485051 950
war jetzt kommt is is guten MORgen-guten MORgen-hallo
Temporaldeixis 4 deiktisches Adverbial Temporaldeixis Temporaldeixis phonisches Wort Begrüßungssequenz
ja
Kontakt/Rederechtssignal Anredenominativ Anredenominativ Temporaldeixis Personendeixis Hervorhebungsakzent Temporaldeixis phonisches Wort? 5 Zögerungssignal Kontakt-/Rederechtssignal Personendeixis Temporaldeixis phonisches Wort Zögerungssignal On-line-Reparatur Personendeixis Temporaldeixis Abtönungspartikel Personendeixis Zeitdeixis Engfuhrungssignal parataktischer adjazenter Anschluss Zögerungssignal Personendeixis Temporaldeixis Zeitdeixis Nachtrag; d. h. jetzt wird
950 951 951 951 951 952 952 953 953
domian DAniel kannst DU DU MEINst MEINst äh ja
953 953 953 953 953 953 953 953 954 954 955 957
mir is is ähm ich bin ja ich bin ich bin ja meiner jetzt JA und
957 957 958 958 959
ähm meine MEINnte jetzt vor äh un ungefähr
37 Merkmal 3a 3a 3a 3a 5b la
Parameter S S S S Μ R
lb/c
R
la la 3a 3a 5a 3a 5b 2e lb/lc
R R S S Μ S Μ Ζ R
3a 3a 5b 2e 2c 3a 3a le 3a 3a lc la 2e 3a 3a 3a lc/2a
S
s Μ Ζ Ζ
s s R
s s R R
Ζ S s s R/Z 6
Zur Erläuterung der einzelnen Merkmale siehe das Modellglossar am Ende dieses Bandes. Im Transkript scheint das Personalpronomen nicht realisiert zu sein. Wir rechnen aber damit, dass es mit meinst verschmolzen ist.
Vilmos Agel/Mathilde Hennig
38 Zeile
Beleg
Einordnung
959 959 959 960
nem Monat äh un ungefähr nem meinte se zu MIR
960 960 961 961 961 961
meinte se du DAniel pass auf jetzt
961 961 961 961
versuchen wir mal also was
aggregativ präzisiert Zögerungssignal On-line-Reparatur phonisches Wort Wiederaufnahme/Wiederholung Temporaldeixis phonisches Wort Personendeixis in DR 8 Anredenominativ in DR Imperativ in DR deiktisches Adverbial in DR Indikativ in DR Personendeixis in DR Abtönungspartikeln phonisches Wort
961 962 962 962 962 963
NEUES lass dir mal was hm hm
Hervorhebungsakzent Imperativ in DR Personendeixis in DR Abtönungspartikel phonisches Wort Engftihrungssignal
Merkmal
Parameter
2e 2c 5b lc/2c
Ζ Ζ Μ R/Z 7
3a 5b 3b 3b 3b 3b
S Μ S S
3b 3b ld 5b
s s R Μ
5a 3b 3b ld 5b lc
Μ S S R Μ R
s s
Tabelle 1: Mikroanalyse eines Ausschnittes aus DomianDaniel
Mit Hilfe dieser Analyse konnte nun die token-Frequenz der einzelnen Merkmale ermittelt werden. Es ergab sich folgendes Bild in Bezug auf die einzelnen Parameter (im gesamten Text):
6
7
8
Dieser Beleg ist als aggregative Struktur erklärbar, verfügt aber auch über eine Leistung im Rahmen des Rollenparameters: Der Nachtrag dient der Engfiihrung der Orientierungen, d. h., er stellt sicher, was mit j e t z t ' gemeint ist. Auch hier zeigt sich, dass sowohl Rollen- als auch Zeitparameter greifen: Die Wiederholung ist durch Zeitgebundenheit erklärbar, als Wiederaufnahme hat sie aber auch engführende Funktion. DR = direkte Rede.
Praxis des Nähe- und
Distanzsprechens
Anzahl
der
Nähemerkmale
39
Anteil an
allen
Nähemerkmalen
Statistisches Mittel»
Rolle
310
27,51 %
5,75
Zeit
186
16,5 %
9,59
Situation
385
34,16%
2
0,18%
4,63 892io
244
21,65 %
7,31
Code Medium
Tabelle 2: Statistische Auswertung der Nähemerkmale von DomianDaniel Mit diesen Werten kann nun ein beliebiger einzuordnender Text verglichen werden. W i e detailliert die A n a l y s e durchzufuhren ist, hängt natürlich v o n ihrem A n l i e g e n ab. Im Normalfall wird sicher ein In-Beziehung-Setzen des Verhältnisses der Nähemerkmale zur Wortzahl des einzuordnenden Textes z u m Vergleichstext ausreichen, auf diese Methode wird auch im vorliegenden S a m melband zurückgegriffen. D i e s e Werte betragen in B e z u g auf den A u s g a n g s text: Wortzahl: 1 7 8 4 Anzahl der Nähemerkmale: 1127 Nähemerkmale durch Wortanzahl: 0,63 (auf z w e i Stellen nach d e m K o m m a g e rundet)
9
10
Das statistische Mittel wurde berechnet, indem die Wortanzahl des Textes durch die Merkmalsanzahl dividiert wurde. Es gibt also wieder, auf wie viele Wörter in statistischer Hinsicht ein dem Parameter zuzuordnendes Merkmal kommt. Der auffallend geringe Anteil an Merkmalen, die auf .körperliche Ganzheitlichkeit' zurückzuführen sind, ist einerseits dadurch zu erklären, dass das Phone-in ja ohne Raumgleichheit auskommen muss und Nonverbalität deshalb gar nicht zum Einsatz kommen kann. Wenn wir uns dennoch in zwei Fällen fur eine Zuordnung eines Merkmals zum Parameter des Codes entschlossen haben, so wollten wir damit der Tatsache gerecht werden, dass die Äußerung in diesen Fällen offenbar in starkem Maße ,holistisch' realisiert wird; bspw. geht die Reduplikation in ,was denn, was denn' höchstwahrscheinlich mit einer im Rahmen unserer Möglichkeiten nur als ,holistisch' interpretierbaren Ereiferung einher. Wir halten den geringen Anteil an Merkmalen des Parameters des Codes im Rahmen einer token-Frequenz-Analyse aber auch generell nicht fur unrealistisch, weil ,Nonverbalität' ja eben gerade das Nichtvorhandensein von Verbalem bedeutet. D. h., man wird nur äußerst selten grammatische Strukturen identifizieren können, die sich aus dem Zusammenspiel von Verbalem und Nonverbalem ergeben (und es geht uns ja hier nur um grammatische Strukturen, nicht das gesamte Funktionieren mündlicher Kommunikation). Vermutlich sind die Möglichkeiten dieses Zusammenspiels noch vielfaltiger, als wir momentan annehmen. Es handelt sich unserer Kenntnis nach um einen noch unerforschten Bereich, so dass wir hier nur zur Bearbeitung dieser Frage anregen können. Dass dieser Bereich trotz der hier aufgeführten Einschränkungen und der geringen tokenFrequenz in die Modellierung aufgenommen wurde, liegt daran, dass es sich um eine typeModellierung handelt.
40 2.2
Vilmos Agel/Mathilde
Hennig
Beispiel
Wir möchten nun anhand eines Beispiels aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts illustrieren, wie die Anwendung dieser Methode zur Ermittlung der Nähesprachlichkeit auf Mikroebene erfolgt." Es handelt sich dabei um die Lebensbeschreibung eines einfachen Mannes, eines Kannengießers, der viel auf Reisen war (vgl. auch Kappel in diesem Band).
5
10
15
20
25
30
35
Under solche beße Buben undt Merdter bin ich auch gevallen undt nahe ermordtet worden, so mich mein Gott nicht erhalten hette. Es zog mit mihr von Oberehn hinweck ein Man, so alda in den Weinreben 2 1/2 Jahr gearbeidtet hatt, in der Underpfaltz sunsten wonhafft wahr zur Neystatt bey der großen Linden, auch bey sich hett in barem Gelt 1 1/2 hundtert fl. Als wihr ein Meill Wex in den Hagenauer Forst kamen, so käme auß einem Busch ein Merdter, kurtz von Person, sprach zu unß: Wie weidt wolt ihr? Ich wil mitt eich gehen. Ich hatte bey mihr einen Busser. Ich sähe mich fohr, dacht in meinem Sin, dißer Gesell ist ein Waltfischer. Indem sprach er: Landtsman, prenet eyren Busser loß, dan es ist verbodten, kein geladten Rohr in dißem Walt zu tragen bey Leibstraff, wogen daz man kein Gewilt schießen dudt. So ein Walt forster solt zu eich komen, wirdt er eich gefenglich nacher Hagenau fieren. Gab ihme darauff zurr Andwordt: Ich trag meinen Busser undt Gewohr nicht auff das Gewilt in meiner Wandterschafft, sonder auff die Straßenreiber undt Merdter, dieweill es sonderlich vil in dißem Walt gibet, wie man dan der Zeichen undt Holzheiffen vil sieht, da die reißet[e]n Leidt ermordtet sindt worden. Mache also den Merdter die Seil so haiß durch Reden, wie ewiglichen darinen Martter undt Plag werdten leidten undt austehen, wafehrn sie nicht werden Buße thun. Aber dißer boßer Gesell achtet meiner Reden nichts, sondter er wahr ein Merdter undt begerdt mich zu ermerdten. Under 30 Mallen ist er nicht hinder mihr gangen auff den beschlagen Beimen, darauff man muß gehen des Geweßers undt boßen Weges halben. So offt als er hinder mich ging, spring ich von den gelegten Beimen herunder undt ging widerumb dahinden. Als wihr mitten in den Walt kamen, ging er widerumb hinder mihr, zog ein Meßer auß dem Hossensack, stick mihr nach dem Halß, aber Gott behiedtet mich fihr einem solchen Dodt, der Stich ging mihr nceben dem Kragen hinauß. Da lieff ich mitt dem Rapier auff i[h]n zu, so ersprang er mihr, zog ein Pfeifflin auß dem Sack, gab 3 Mall Loßung dermit. Da käme alsobaldt auß dem Busch ein Merdter, sein Gesell, welcher im Busch als mitging. Aber ich undt der redlicher Geferdt, welcher mit mihr von Oberehn auß reißet, sahen i[h]n nicht. Diß 2 Merdter lieffen mitten in der Straß zusamen, dirfften sich aber nicht mehr an unß wagen, dieweill wihr wol bewerdt wahren, gingen also noch mit unß durch den Walt mitt Streitt undt strengen Worden. Im Ende des Walts lag ein Miller undt sein Son auff Reder bey ihrer Millen. Der Vatter hatt in diß[e]m Walt bey 24 Mordt begangen undt der Son 15, welcher 18 Jahr alt wahr. Aldar wahr gleich ein Dorff. Schieß also meinen Busser loß, daß die Kugel in eine Eichen ging, undt sprach zu den zweyen Merdtern: Saet ihr es, ihr Merdter, so ihr noch einmall an unß angesetz hetten, so wolt ich einem diße Kugel in Leib geschoßen haben. Gleich wie diße Merdter auff den Reder ligen, so werdtet ihr auch darauff gelegt werden, darum nemet ein
'1
12
In Ägel/Hennig (i. Dr.) findet sich darüber hinaus als Beispiel die Anwendung der Methode auf einen Chat, um dadurch zu illustrieren, dass die Methode keineswegs nur auf historische Korpora angewendet werden kann, sondern dass wir davon ausgehen, dass die Methode auch für andere Fragen der Verortung von Diskursarten im Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit geeignet ist. Zitierter Textausschnitt umfasst die Teile 41 recto bis 43 verso, die auf den Seiten 126f. der Textausgabe zu finden sind. Die Nummerierung der Zeilen wurde fur die hier folgende Analyse vorgenommen.
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens
40
41
Exenpel an dißen Merder, welche dahier geredert sindt worden. In dem gingen diße 2 Merdter widerunb zuruck in den Walt. Ich undt meine fromer Geferdt gingen mitt Freidten unßers Wegs fordt, dancken Gott, daz er unß auß der Merdterhandt erett hatt, klagten solches in dem Dorff. Die Bauern verwundern sich, daß wihr mit dem Leben sindt darvonkomen woegen der großen Unsicherheidt der Merdter. Gott sey Lob um seine Hilff. Am[en]t. 1 2
Der Beispieltext wurde nach dem Muster der Analyse des Vergleichstextes analysiert. Folgendes Ergebnis der token-Frequenzanalyse hat sich ergeben (bei 574 Wortformen): Zeile 1
2 2 2 3-4
4
4 5 6 6 6 6 6 6 6
Beleg
Phänomen
Verfahren 2a
Parameter Ζ
Under solche beße Buben undt Merdter bin ich auch gevallen undt nahe ermordtet worden, so mich mein Gott nicht erhalten hette. mich mein mihr in der Underpfaltz sunsten wonhafft wahr zur Neystatt bey der großen Linden Es zog mit mihr [...] ein Man, so alda [...] gearbeidtet hatt, in der Underpfaltz sunsten wonhafft wahr [...], auch bey sich hett in barem Gelt 1 1/2 hundtert β
aggregativer Subjunktor
Personendeixis Personendeixis Personendeixis Nachtrag
3a 3a 3a 2a
s s s ζ
Ausklammerung
2a
ζ
3a 2d
s ζ
3a 3a 3b
s s s
3b 3b 3b 3b
s s s s
wihr Personendeixis Als wihr [...] kamen, so Korrelat als Aggregationsindikator käme [...] unß Personendeixis ihr Personendeixis in DR sprach zu unß: Wie abhängiger HS in DR weidt wolt ihr? wolt Indikativ in DR Ich Personendeixis in DR wil Indikativ in DR mitt eich Personendeixis in DR
Vilmos Agel/Mathilde Hennig
42 Zeile 6 6 6 7 7
7 7 7
7 8
8 8 8 8
8-9
9
9
9-10 9-10 10 11
Beleg
Phänomen
sprach zu unß: [...] /c/z w/7 zw/W eich gehen. Ich mihr Ich Ich sähe mich fohr, [...] dißer Gesell ist ein Waltfischer dacht meinem dacht in meinem Sin, dißer Gesell ist ein Waltfischer ist Landtsman prenet prenet eyren Indem sprach er: Landtsman, prenet eyren Busser loß es ist verbodten, kein geladten Rohr in dißem Walt zu tragen es ist verbodten, kein geladten Rohr in dißem Walt zu tragen bey Leibstraff So ein Waltforster solt zu eich komen, wirdt er eich gefenglich nacher Hagenau fieren. So ein Waltforster solt zu eich komen zu eich eich So ein Waltforster solt zu eich komen, wirdt er eich gefenglich nacher Hagenau fieren. Gab ihme darauff zurr Andwordt:
abhängiger HS in DR
Verfahren 3b
Parameter S
Personendeixis Personendeixis Personendeixis keine syntaktische Kohäsionsmarkierung
3a 3a 3a 2d
S S S Ζ
Personendeixis Personendeixis abhängiger HS in DR
3a 3a 3b
S S
Indikativ in DR Anredenominativ in DR Imperativ in DR Personendeixis in DR Personendeixis in DR abhängiger HS in DR
3b 3b 3b 3b 3b 3b
s s s s s s
aggregative Negation in DR
3b
s
Nachtrag in DR
3b
s
aggregativer Subjunktor in DR
3b
s
Serialisierung in DR
3b
s
Personendeixis in DR Personendeixis in DR uneigentliche Aussagesatz-VI
3b 3b 2a
s s ζ
s
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens Zeile 11 11 11 11 12 12
12
14 13-14
14 14
15
15-16 16 16 17 17 17-18
18 18
19 19
Beleg
Phänomen
Gab Ich trag meinen meiner Gab ihme darauff zurr Andwordt: Ich trag meinen Busser ... Ich trag meinen Busser undt Gewohr nicht auff das Gewilt in meiner Wandterschafft ermordtet sindt worden da die reißet[e]n Leidt ermordtet sindt worden. Mache also den Merdter... Mache Mache also den Merdter die Seil so haiß durch Reden wie ewiglichen darinen Martter undt Plag werdten leidten und austehen wafehrn sie nicht werden Buße thun dißer boßer Gesell
Personendeixis Personendeixis in Indikativ in DR Personendeixis in Personendeixis in abhängiger HS in
meiner mich mihr Under 30 Mallen ist er nicht hinder mihr gangen auff den beschlagen Beimen mus gehen darauff man mus gehen des Geweßers undt boßen Weges halben mich spring ich
43
DR DR DR DR
Verfahren 3a 3b 3b 3b 3b 3b
Parameter S S S S S S
Ausklammerung in DR
3b
S
Serialisierung uneigentliche Aussagesatz-VI
2a 2a
Ζ ζ
Personendeixis Ausklammerung
3a 2a
S ζ
Serialisierung
2a
ζ
Serialisierung
2a
ζ
aggregativeNominalgruppenflexion Personendeixis Personendeixis Personendeixis Nachtrag
2a
ζ
3a 3a 3a 2a
S S S ζ
Serialisierung Ausklammerung
2a 2a
ζ ζ
Personendeixis freiere Tempuswahl
3a 3a
S S
Vilmos Agel/Mathilde Hennig
44 Zeile
Beleg
Phänomen
19 19 21 21 22 22 22-23
spring ich
Personendeixis Personendeixis Personendeixis Personendeixis Personendeixis Personendeixis keine syntaktische Kohäsionsmarkierung
23 23 23-24
24 25 26 26 27 28 28 28-29
30-31
32
32 32 32 33
ging wihr mihr mihr mich Gott behiedtet mich fihr einem solchen Dodt, der Stich ging mihr noben dem Kragen hinauß. mihr ich Da lieff ich mitt dem Rapier auff i[h]n zu, so ersprang er mihr mihr ich der redlicher Geferdt mihr unß wihr unß gingen also noch mit unß durch den Walt mitt Streift undt strengen Worden Der Vatter hatt in diß[e]m Walt bey 24 Mordt begangen undt der Son 15 welcher 18 Jahr alt wahr Aldar wahr gleich ein Dorff. Schieß also meinen Busser loß, Schieß Schieß meinen sprach
Verfahren 3a 3a 3a 3a 3a 3a 2d
Parameter S S S S S S Ζ
Personendeixis Personendeixis keine syntaktische Kohäsionsmarkierung
3a 3a 2d
s s ζ
Personendeixis Personendeixis aggregative Nominalgruppenflexion Personendeixis Personendeixis Personendeixis Personendeixis Ausklammerung
3a 3a 2a
s s ζ
3a 3a 3a 3a 2a
s s s s ζ
aggregativer Relativanschluss
2a
ζ
uneigentliche Aussagesatz-VI
2a
ζ
freiere Tempuswahl Personendeixis Personendeixis Personendeixis
3a 3a 3a 3a
s s s s
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens Zeile 33
33 33 33
33 33 34
34 34 35 35
35 35 35 35 36 36 37 37 37 38 38 38 38
38 39 39 39
Beleg
Phänomen
undt sprach zu den zweyen Merdtern: Seiet ihr es Saet ihr Merdter so ihr noch einmall an unß angesetz hetten, so wolt ich [...] ihr unß so ihr noch einmall an unß angesetz hetten, so wolt ich [...] ich diße ligen Gleich wie diße Merdter auff den Reder ligen, so werdtet ihr [·•·]
abhängiger HS in DR
werdtet ihr nemet ein Exenpel nemet dahier geredert sindt worden Ich meine unßers dancken dancken unß dancken Gott, daz er unß auß der Merdterhandt errett hatt, klagten solches in dem Dorff. klagten verwundern wihr sindt darvonkomen
45 Verfahren 3b
Parameter S
Indikativ in DR Anredenominativ in DR aggregativer Subjunktor in DR
3b 3b 3b
S S S
Personendeixis in DR Personendeixis in DR Korrelat als Aggregationsindikator in DR Personendeixis in DR Deixis in DR Indikativ in DR Korrelat als Aggregationsindikator in DR
3a 3a 3b
S S S
3b 3b 3b 3b
S S S S
Indikativ in DR Personendeixis in DR Imperativ in DR Personendeixis in DR Lokaldeixis in DR Serialisierung in DR Personendeixis Personendeixis Personendeixis Personendeixis freiere Tempuswahl Personendeixis uneigentliche Aussagesatz-V1
3b 3b 3b 3b 3b 3b 3a 3a 3a 3a 3a 3a 2a
S S S S S S S S S S S S
Personendeixis freiere Tempuswahl Personendeixis Serialisierung
3a 3a 3a 2a
ζ
S S
s ζ
Vilmos Agel/Mathilde Hennig
46 Zeile
Beleg
Phänomen
39-40
daß wihr mit dem Leben sindt darvonkomen wogen der großen Unsicherheidt der Merdter.
Ausklammerung
Verfahren 2a
Parameter Ζ
Tabelle 3: Mikroanalyse von Güntzer
Parameter
Anzahl der Nähemerkmale 24 87 111
Zeit Situation Gesamt
Anteil an allen Nähemerkmalen 22% 78%
Statistisches Mittel 23,9 6,6 5,17
Tabelle 4: Statistische Auswertung der Mikroanalyse von Güntzer
Die Nähesprachlichkeit lässt sich nun im Verhältnis zu den Nähemerkmalen des Vergleichstextes wie folgt berechnen: Verhältnis der Nähemerkmale zu Wortformen im Vergleichstext: 1127 : 1784 = 0,63 Verhältnis der Nähemerkmale zu Wortformen im Textausschnitt: 111 : 574 = 0,19 0.63 =0,19 100 χ x = 30,16
Es ergibt sich folgende Verortung fur den Text: ι
ι
ι
ι
ι
ι
ι
ι
ι
ι
ι
Nähe-
Günt-
Distanz-
pol
zer
pol
Natürlich ist der Text somit deutlich distanzsprachlich und kein nähesprachlicher Text in dem Sinne, dass er dem Nähepol näher stehen würde als dem Distanzpol. Er kann als ,nähesprachlich' nur insofern bezeichnet werden, als er mit 30%iger Nähesprachlichkeit einen weit höheren Grad an Nähesprachlichkeit aufweist als die meisten uns zur Verfugung stehenden Quellentexte aus dieser Zeit. Wenn man sich zum Ziel setzt, ein historisches Nähekorpus zusammenzustellen, so wird die Nähesprachlichkeit aus nahe liegenden Gründen immer nur eine relative sein: Ein historischer Text kann dann als ,nähesprachlich' be-
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens
47
zeichnet werden, wenn er ungefähr die für seine Zeit überlieferte maximale Nähesprachlichkeit aufweist. Wenn wir diesen Beispieltext mit Hilfe des Nähe-Distanz-Modells auf Nähephänomene untersuchen, so fallt auf, dass der Text eine Vielzahl von aggregativen Strukturen aufweist. Wir gehen, um das Ausmaß des theoretisch-methodischen Problems zu demonstrieren, auf zwei Beispiele ein, die beide auf den ersten Blick nach einer so genannten Ausklammerung aussehen: 1. Zeile 3 9 ^ 0 (wogen der großen Unsicherheidt der Merdter):
Wir denken, dass die ,monadenhafte' Wortstellung im daß-Satz (daß wihr mit dem Leben sindt darvonkomen wogen der großen Unsicherheidt der Merdter) eher darauf zurückzuführen ist, dass der Verbalkomplex und damit auch die Endstellung des finiten Verbs noch nicht grammatikalisiert sind (vgl. Härd 1981, Agel 2001). Es handelt sich um einen klassischen Fall von Aggregatraum. ,Ausklammerung' ist dagegen ein typischer Systemraumbegriff, der die grammatikalisierte Strukturierungsinstanz der Klammer voraussetzt. Wir vermuten, dass hinsichtlich der Serialisierung in unserem Beispieltext die „Grammatikalisierung des Aggregatraumes" (Agel 2003: 23) noch nicht vollzogen ist. Doch es gilt auch hier, was in „Theorie des Nähe- und Distanzsprechens", Kapitel 3.3.2, bereits gesagt wurde: Aus der Aggregativität eines Phänomens in einem Text lässt sich nicht automatisch auf dessen historische Nähesprachlichkeit schließen. Das Aggregationsmerkmal der , Ausklammerung' gilt zwar als universales Nähemerkmal und wird entsprechend auch bei der Punktgebung berücksichtigt, es könnte aber nur dann auch als historisches Nähemerkmal eingestuft werden, wenn sich im Text auch das zeit-, räum- und textsortentypische Grammatikalisierungsmaximum bezüglich der Nebensatzwortstellung nachweisen ließe. 2. Zeile 9 (bey Leibstraff):
Auch in den Zeilen 8 - 9 (dan es ist verbodten, kein geladten Rohr in dißem Walt zu tragen bey Leibstraff [...]) könnte man auf den ersten Blick eine ,Ausklammerung' vermuten. Doch (nach unserem gegenwärtigen Grammatikgefühl) ließe sich das Adverbial gar nicht erst in die Infinitivkonstruktion integrieren, sondern vielmehr in den da«-Satz (dan es ist bey Leibstraff verbodten, kein geladten Rohr in dißem Walt zu tragen). Die Anwendung des Begriffs der .Ausklammerung' auf diesen wäre demnach noch fraglicher als auf den vorigen Fall. In beiden Fällen handelt es sich nach unserem Verständnis um aggregative Präzisierungen, wobei man möglicherweise auch hier mit Abstufungen zu rechnen hat. Fall 1 stellt so etwas wie eine aggregative Präzisierung ersten Grades dar, Fall 2 eine zweiten Grades, bei der das Präzisierte nicht die unmittelbar links befindliche Diskurseinheit ist. Um die vielfaltigen Beschreibungsmöglichkeiten historischer Phänomene mit Hilfe des Begriffspaars Aggregation vs. Integration' anzudeuten, möchten wir auf einige weitere im obigen Textauszug belegte Beispieltypen aufmerksam machen:
Vilmos Agel/Mathilde Hennig
48 -
-
-
-
-
die scheinbar doppelte Negation in Zeile 8 - 9 ist nicht doppelt, sondern aggregativ (s. hierzu die Erläuterung im Anschluss an den Kant-Beleg in „Theorie des Nähe- und Distanzsprechens", Kapitel 3.3.2); das Vorhandensein von so als Korrelat in Zeile 5 lässt vermuten, dass die volle Integration - und somit überhaupt die volle Herausbildung - des vorangestellten Nebensatzes noch nicht erfolgt ist (umfassender zum Hauptsatz-/Nebensatz-Problem aus methodischer Sicht vgl. Agel 2000b: 1880ff). Es handelt sich um das von König/Auwera (1988) postulierte Zwischenstadium ,resumptiv' zwischen den Polen ,nicht-integrativ' und ,integrativ'; 13 die Stellung des Verbum finitum in den ,Nebensätzen' in Zeile 10, 15f., 36 und 39 deutet darauf hin, dass die syntaktische Integration des Nebensatzes und/oder die Serialisierung im Verbalkomplex noch nicht voll grammatikalisiert ist; auch die ,doppelte' Markierung der Kategorien in der Nominalgruppe 14 in Zeile 16 und Zeile 26 (dißer boßer Gesell bzw. der redlicher Geferdt) lässt sich als Aggregation deuten: Die „substantivische Gruppenflexion" (Pavlov 1995: 88ff.) ist erst auf dem Wege, sich zu etablieren, die Alternative des im Frühneuhochdeutschen noch häufigen doppelmarkierenden Musters (Pavlov 1995: 214f.) ist noch verfügbar; im Relativsatz in Zeile 30-31 (Der Vatter hatt in diß[e]m Walt bey 24 Mordt begangen undt der Son 15, welcher 18 Jahr alt wahr) folgt das Relativum nicht unmittelbar auf das Bezugswort, weil andernfalls das Akkusativobjekt des Hauptsatzes erst im Anschluss an den Relativsatz hätte realisiert werden können. Dies wiederum hätte das Vorhandensein eines stark integrierenden Typs von Vorwärtsellipse zur Voraussetzung gehabt.
Nach diesen theoretisch-methodischen Kautelen sollen nun weitere nähesprachliche Elemente benannt werden, um eine Einordnung in das Nähe-Distanz-Kontinuum zu ermöglichen: Rollenparameter Der Text ist natürlich monologisch, so dass von Vornherein keine auffallige interaktive Diskursgestaltung zu erwarten ist. Mit Interaktivität kann in monologischen Texten nur gerechnet werden, wenn a) Dialogpassagen wiedergegeben werden und wenn b) der Autor einen bestimmten Rezipienten oder eine bestimmte Rezipientengruppe direkt anspricht. So werden etwa Lebensberichte häufig an die Nachfahren gerichtet. Im vorliegenden Text ist keine Orientierung an bestimmten Rezipienten sichtbar, so dass es auch keine entsprechenden rezeptionssteuernden Passagen gibt. Da keine längeren Dialogpassagen wieder-
13
14
Im vorliegenden Beispieltext und in anderen Quellentexten aus dieser Zeit verweist aber keineswegs auf alle Nebensätze ein Korrelat im Hauptsatz. Die Untersuchung der genauen Bedingungen der Verwendung der Korrelate steht noch aus. In einer Arbeit, für die die Unterscheidung ,aggregativ vs. integrativ' zentral ist, scheint es angebracht, den Phrasenbegriff ,NP' für den Systemraum zu reservieren.
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens
49
gegeben werden, finden sich in den Redewiedergaben nur relativ wenige auf interaktive Verfahren rückführbare Merkmale, wie etwa die Anrede mit Landtsman in Zeile 8 und ihr Merdter in Zeile 33, die dialogische Deixis in Zeile 33 bis 35 und der Imperativ in Zeile 8 und 35. Diese Merkmale wurden als Verfahren zur Markierung der Direktheit der Redewiedergabe (3b) gewertet, so dass in obiger Tabelle kein Wert für den Rollenparameter vorkommt. Zeitparameter Mit Hilfe des Zeitparameters lässt sich die teilweise aggregative Strukturierung des Textes beschreiben. So finden wir zahlreiche Stellen, die aggregativ organisiert sind in dem Sinne, dass einzelne Gedankeneinheiten aneinander gereiht sind, ohne durch sprachliche Mittel wie Ko- und Subordination verbunden zu werden. So sind bspw. in den Zeilen 21-24 (in ging er widerumb hinder mihr, zog ein Meßer auß dem Hossensack, stick mihr nach dem Halß) die einzelnen Einheiten aneinander gereiht. Weder die Koordination noch die temporale Abfolge sind sprachlich markiert. Auch die Kette aber Gott behiedtet mich fihr einem solchen Dodt, der Stich ging mihr nceben dem Kragen hinauß ist aggregativ aneinander gereiht, ohne etwa eine kausale Beziehung (weil Gott mich behütete, ging der Stich...) zu markieren. Eine solche aggregative Deutung gilt auch für den folgenden Satz: Da lieff ich mitt dem Rapier auff ifhjn zu, so ersprang er mihr, zog ein Pfeifflin auß dem Sack, gab 3 Mall Loßung dermit. Situationsparameter Im Rahmen des Situationsparameters lassen sich hier vor allem verschiedene direkte grammatische Verfahren diagnostizieren. Dies gilt neben den deiktischen Verfahren vor allem für die Redewiedergabe, die in vorliegendem Textausschnitt ausnahmslos direkt erfolgt (bspw. in den Zeilen 6-9, 11 f. und 33). Direkte Redewiedergabe ist ein Zeichen dafür, dass der Autor sich in die Situation hineinversetzt. So kommen innerhalb der Redewiedergaben auch deiktische Verweise vor, wie ζ. B. in dißem Walt in Zeile 8 und diße Kugel in Zeile 34. Die direkte Redewiedergabe führt auch zu einem Tempuswechsel beim Erzählen, d. h., der Autor wechselt von erzählenden zu besprechenden Tempora, wobei sich die besprechenden Tempora auf die Situation des Geschehens beziehen. Schließlich sind auch die Nichtrealisierungen des Erstaktanten als situationsverschränkt zu werten (bspw. Zeile 11 und 32), da der Erstaktant dann nicht realisiert werden muss, wenn er durch die Situation bereits identifiziert ist. Erwähnenswert sind noch die Präsensformen wie schieß in Zeile 32 und spring in Zeile 19: Sie sind in den Erzählkontext der vorher durch Präteritumformen markierten Erzählzeit eingebettet. Mit dem Wechsel zum ,historischen Präsens' versetzt Güntzer sich unmittelbar in die Situation.
50
Vilmos Agel/Mathilde Hennig
2.3 Festlegungen zur Identifizierung von Merkmalen Bei der bisherigen Praxis der Anwendung der hier vorgestellten Methode auf historische Texte hat sich gezeigt, dass die Identifizierung von Merkmalen teilweise sehr schwierig ist. Die Definition eines Merkmals, wie sie im Modellglossar am Ende dieses Bandes zu finden ist, reicht häufig für die Entscheidung, ob es sich im vorliegenden Fall tatsächlich um Merkmal X handelt, nicht aus. Andererseits finden sich auch immer wieder Erscheinungen, die mit den bisher bekannten Merkmalen nicht oder nicht angemessen erfasst werden können. Deshalb mussten einerseits Festlegungen zu einzelnen Merkmalen getroffen werden und andererseits Festlegungen zum Umgang mit den Merkmalen allgemeinerer Natur. Diese Festlegungen stellen wir hier vor.
2.3.1 Neue Merkmale Bei der Erarbeitung des Nähe-Distanz-Modells haben wir hauptsächlich die in der einschlägigen Fachliteratur besprochenen Merkmale berücksichtigt. Die bisherige Praxis der Analyse der Nähesprachlichkeit von historischen Texten hat erkennen lassen, dass keineswegs für alle empirisch vorfindlichen Merkmale Kategorien der Gesprochenen-Sprache-Forschung vorhanden sind (bspw. , keine syntaktische Kohäsionsmarkierung', ,Korrelate als Aggregationsindikatoren' oder Serialisierungsphänomene). Das Modell ist deshalb zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer in Arbeit. Wenn bei der Analyse eines Quellentextes einzelsprachliche Merkmale identifiziert werden, die sich nicht bzw. nicht ohne weiteres einem der im Modell bereits berücksichtigten Merkmale zuordnen lassen, sollten diese weder ignoriert noch in das bisherige Schema „gepresst" werden. Zunächst kann geprüft werden, a) ob es sich eindeutig um ein nähesprachliches Merkmal handelt und b) durch welchen Parameter es zu Stande kommt. Auf diese Weise befindet sich das Modell derzeit noch in einer Phase der ständigen Erweiterung.
2.3.2
Punktgebung bei Merkmalen, die für mehrere Parameter relevant sind
Die Rückführung der einzelsprachlichen Merkmale auf die fünf Parameter soll keineswegs suggerieren, dass es sich dabei um eine eineindeutige Rückflihrbarkeit handelt. Vielmehr können einzelsprachliche Merkmale auch durch den Einfluss mehrerer Parameter der Kommunikation entstehen. Die folgenden Beispiele sollen dies verdeutlichen: (1) (2)
Das 66er Jahr, das hatte was an sich! (Heuchelheimer Tagebuch V) und ähm jetzt meinte SIE äh DAniel es gibt da was was du nicht WEIST (DomianDaniel)
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens
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Die Tatsache, dass das 66er Jahr in Beispiel (1) nicht in den Satz integriert ist (Das 66er Jahr hatte was an sich), sondern aggregativ als sog. ,Linksversetzung' realisiert wird, lässt sich einerseits durch den Zeitparameter erklären, d. h., die aggregative Realisierung kommt durch die Gleichzeitigkeit von Planung und Äußerung zu Stande. Andererseits ist eine Linksversetzung auch rezeptionssteuernd, da sie die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das Folgende lenkt. Deshalb kann diesem Merkmal auch eine Leistung im Rahmen des Rollenparameters zugeschrieben werden. In Beispiel (2) kommt es zu einer Überschneidung zwischen dem Rollenund dem Situationsparameter durch die Verfahren zur Wiedergabe von direkter Rede. Diese werden dem Situationsparameter zugeordnet (Verfahren 3b). Der Anredenominativ Daniel ist aber auch ein Merkmal des Rollenparameters (la). Wie ist nun in solchen Fällen bei der Punktgebung zu verfahren? Da es sich trotz der hier angedeuteten Überschneidung der Einflüsse verschiedener Parameter der Kommunikation um ein nähesprachliches Merkmal handelt, wird es bei der Punktgebung nur einmal berücksichtigt. Dabei ist es bei Überschneidungen zwischen verschiedenen Parametern eine Ermessensfrage, welchem Parameter man den Punkt zuordnet. Man sollte den Punkt demjenigen Parameter zuordnen, dessen Einfluss man für dominanter hält. Die hier diskutierten Beispiele (1) und (2) illustrieren die beiden wichtigsten Typen von Überlappungen: 1. Es lassen sich häufig Überschneidungen zwischen dem Zeit- und dem Rollenparameter wie hier in Beispiel (1) identifizieren, die dadurch zu erklären sind, dass einzelne Phänomene einerseits durch den Zeitparameter zu Stande kommen und ihnen andererseits eine Funktion im Rahmen des Rollenparameters zugeschrieben werden kann. Hier schien uns die Determiniertheit durch den Zeitparameter schwerwiegender zu sein, so dass wir in diesen Fällen den Nähepunkt dem Zeitparameter zuordnen. 2. Wie in Beispiel (2) können einzelne Merkmale des Rollenparameters die Direktheit bei der Redewiedergabe (Situationsparameter) unterstützen. Da es hierbei darum geht, dass nähesprachliche Merkmale verwendet werden, um einen Direktheitskontext bei der Wiedergabe von Rede aufzubauen, geben wir in diesen Fällen einen Punkt für den Situationsparameter.
2.3.3
Mehrfache Punktgebung bei (scheinbar) einem sprachlichen Merkmal
Normalerweise gilt - wie in 2.3.2 ausgeführt wurde - das Prinzip, dass jedes Merkmal nur einmal als Nähemerkmal zu werten ist, da ein Phänomen ein Phänomen bleibt, auch wenn es möglicherweise durch mehrere Parameter der Kommunikation begünstigt wird. Prinzipiell ist es aber auch möglich, dass in einem Sprachzeichen zwei Phänomene inkorporiert sind. In diesem Fall sind auch beide Phänomene zu werten. Bisher ist uns dieser Fall nur bei Mikrorealisierung
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der Personendeixis begegnet. Wir wollen dies am Beispiel des Imperativs erläutern: Imperative werden als solche dem Verfahren ,Kontakt von Ρ und R' (la) zugeordnet, da sich der Produzent mit dem Imperativ mit einer Aufforderung an den Rezipienten wendet. Andererseits ist aber zu berücksichtigen, dass es sich um eine Verbform handelt, die die verbale Kategorie ,Person' nicht wie die anderen Modi des Verbs makro- und mikrorealisiert, sondern nur mikrorealisiert, vgl. bspw. Räumt auf! vs. Ihr räumt auf. Beim Indikativ wird die zweite Person Plural sowohl durch die Verbalendung realisiert (= mikro) als auch durch das Personalpronomen (= makro), beim Imperativ dagegen fehlt die Makrorealisierung. Im Falle von makrorealisiertem deiktischem Personenbezug wird beim ,Mikrocheck' ein Punkt fur den Situationsparameter (3a = direkte grammatische Verfahren) gegeben. Beim Imperativ ist der Personenbezug nicht makrorealisiert. Weil er mikrorealisiert ist, ist er aber trotzdem vorhanden. Aus diesem Grund werden hier zwei Nähepunkte gegeben: ein Punkt für den Imperativ (Rollenparameter la) und ein Punkt für die Personendeixis (Situationsparameter 3a). Das mit der Einordnung dieses Falles verbundene methodische Problem unterscheidet sich kategorial von dem in 2.3.2 angesprochenen ParameterÜberschneidungsproblem. Im Falle der Überschneidungen (bspw. die Linksversetzung in Beispiel 1 und der Anredenominativ in Beispiel 2) handelt es sich immer darum, dass einer Zeichengruppe nur ein grammatisches Nähemerkmal zugeordnet werden kann. Im Falle einer Verbform im Imperativ geht es dagegen darum, dass immer zwei grammatische Nähemerkmale (Imperativ und Personendeixis) vorhanden sind. Die Frage nach der Anzahl der einem Zeichen oder einer Zeichengruppe zuzuordnenden Nähemerkmale ist also prinzipiell unabhängig von der Frage nach eventuellen Parameter-Überschneidungen im Falle eines bestimmten Merkmals.
2.3.4
Reduzierte Punktgebung bei (scheinbar) mehreren sprachlichen Merkmalen
Der umgekehrte Fall liegt dann vor, wenn die Identifizierung eines Merkmals zur Aufhebung eines anderen Merkmals fuhrt, d. h. wenn eine Struktur als nähesprachlicher Ausdruck gewertet wird: Ausdrucksbildung hat im Sinne Feilkes (1996) zur Folge, dass die Bedeutung des Ausdrucks nicht mehr kompositionell prädiktabel ist. Folglich sind die Bestandteile des Ausdrucks nicht gleichzusetzen mit einer syntagmatischen Verwendung dieses Sprachzeichens. Dies gilt für Merkmale wie ,Anredenominativ' und ,Verabschiedungs- und Begrüßungssequenz': In Beispielen wie Du Lieber, mein armer Karlheinz, Ich bin mit Leib und Seele der Eurige führt die Ausdrucksbildung dazu, dass der deiktische Personenbezug aufgehoben wird. Folglich geben wir hier nur einen Punkt für das jeweilige Merkmal und keinen Punkt für Personendeixis. Das Gleiche gilt im Falle einer Einschätzung einer Struktur als Operator in einer Operator-
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens
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Skopus-Struktur (bspw: Hört einmal!, ich mein): Die Ausdrucksbildung zum Operator hebt die kompositioneile Erklärbarkeit der Bestandteile auf, folglich werten wir hier nur den Operatorcharakter als nähesprachliches Merkmal und nicht den Imperativ in hört einmal oder die Personendeixis in ich mein.
2.3.5 Festlegungen zur Punktgebung einzelner Merkmale Die bisherigen Festlegungen waren allgemeinerer Natur und betrafen deshalb mehrere Merkmale. Nun folgen Festlegungen zu einzelnen Merkmalen. Hier werden aber nicht alle im Nähe-Distanz-Modell aufgeführten und im Modellglossar erklärten Merkmale aufgegriffen, sondern nur solche Merkmale, die sich bei den bisherigen Analysen wiederholt als schwer identifizierbar erwiesen haben. Rederechts- und
Engfiihrungssignale
Bei der Analyse erweist sich die Identifizierung von Nähezeichen als Rederechts- oder Engfiihrungssignale häufig als schwierig, insbesondere bei ja. Ja steht häufig am Anfang von Äußerungen und kann deshalb als redeeinleitend interpretiert werden. Andererseits ist auch denkbar, dass ein Sprecher mit ja anzeigt, dass er das, was der andere zuvor gesagt hat, verstanden hat, was eine Einordnung als Engführungssignal zur Folge hätte. Da es sich in beiden Fällen um ein Merkmal des Rollenparameters handelt, ist eine Festlegung für den Mikrocheck aber nicht erforderlich. Aggregative Strukturen am Satzrand In der Gesprochenen-Sprache-Forschung sind die Satzrandstrukturen ein beliebtes Forschungsobjekt. In den entsprechenden Arbeiten werden verschiedene Typen von Strukturen am linken und rechten Rand von Sätzen angenommen. Für den ,Mikrocheck' ist diese Subtypisierung nicht unbedingt relevant, da es hier nur darum geht, die aggregative Struktur als solche zu identifizieren: Satzrandstrukturen sind prinzipiell aggregativ, Strukturen am linken Satzrand sind prinzipiell rezeptionssteuernd und Strukturen am rechten Satzrand prinzipiell engführend. Dennoch haben wir eine Zuordnung zu Subtypen vorgenommen, wobei wir uns auf die Typen Linksversetzung und Freies Thema für den linken Satzrand und Rechtsversetzung, Ausklammerung und Nachtrag für den rechten Satzrand festgelegt haben. Für den ,Makrocheck' ist darüber hinaus eine Differenzierung zwischen satzinternen und satzexternen Satzrandstrukturen notwendig. Aggregative
Koordination
Bei Koordinationen von zwei Elementarsätzen können bestimmte Elemente weggelassen werden:
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Vilmos Agel/Mathilde Hennig (3) Gestern haben wir einen Spaziergang gemacht und dabei die Herbstfarben bewundert, vs. (3a) Gestern haben wir einen Spaziergang gemacht und dabei haben wir die Herbstfarben bewundert.
In (3) gelten das im ersten Elementarsatz realisierte Subjekt und finite Verb auch für den zweiten Elementarsatz. Die beiden Elementarsätze werden auf diese Weise integriert. Die sich daraus ergebende Koordinationsellipse ist deshalb nicht per se ein nähesprachliches Phänomen, sondern sie ist im Gegenteil eine integrative Struktur. In Quellentexten konnten wir aber auch Fälle identifizieren, in denen zwar eine Koordinationsellipse vorliegt, die Integration aber nicht so weit fortgeschritten ist wie in Beispiel (3). Bezogen auf unser Beispiel würde eine weniger integrative (und deshalb: aggregative) Koordination etwa so aussehen: (3b) Gestern haben wir einen Spaziergang gemacht und dabei wir die Herbstfarben bewundert.
Aggregative Koordinationen können vielgestaltig sein. Folgendes Beispiel illustriert den Fall, dass ein Element als für beide Elementarsätze geltend nur einmal realisiert wird, obwohl im zweiten Elementarsatz dieses Element grammatisch anders hätte kategorisiert sein müssen: (4) Vor mir war alles Feuer, Rauch und Dampf; hinter mir noch viele nachkommende auf die Feinde loseilende Truppen (Bräker III)
Constructio ad sensum vs. Inkongruenz Im Nähe-Distanz-Modell ist dem Nähemerkmal .Constructio ad sensum' als distanzsprachliches Pendant das Merkmal ,formale Korrespondenz' zugeordnet. Das bedeutet aber nicht, dass automatisch alle Fälle von fehlender formaler Korrespondenz als .Constructio ad sensum' aufzufassen sind, vielmehr kann es sich auch um rein grammatische Inkongruenzen handeln, die keine Sinnkongruenzen und keine nähesprachlichen Merkmale sind. Die folgenden Beispiele sollen diesen Unterschied verdeutlichen: (5) dann kam der Hafner, Glaser, Schlosser, Schreiner, einer nach dem andern. (Bräker III) (6) Erst machte das Ding Bedenklichkeiten; nachwerts bot es sich selber an. Aber meine Neigung zu ihr war zu schwach; und doch glaub' ich nicht, daß ich unglücklich mit ihr gefahren wäre. (Bräker III)
In Beispiel (5) handelt es sich um reine Numerusinkongruenz, die durch die Aufzählung zu Stande kommt. In Beispiel (6) dagegen ist die Genusinkongruenz eine Sinnkongruenz: Das mit dem grammatischen Genus des Subjekts inkongruente ihr kongruiert mit dem natürlichen Geschlecht des Referenzobjektes und ist deshalb eine ,Constructio ad sensum'. Eine grammatische Inkongruenz, die keine Sinnkongruenz ist, ist nur dann als nähesprachlich zu werten, wenn sie mit einem der Parameter des Nähesprechens in Verbindung gebracht werden kann. In Bezug auf Beispiel (5) neh-
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men wir an, dass die Numerusinkongruenz wortstellungsbedingt ist: Eine Kongruenz mit dem ersten Element der Aufzählung ist gegeben, nicht aber mit der ganzen Aufzählungskette. Unserer Meinung nach ist dieser Fall durch den Zeitparameter erklärbar, weil der Schreiber offensichtlich zuerst nur das erste Element geplant hat und nicht die ganze Kette. Da er das nicht im Nachhinein korrigiert hat, gehen wir von Gleichzeitigkeit von Planung und Äußerung aus. Wiederholungen ,Wiederholung' wurde im Nähe-Distanz-Modell als ein durch das Verfahren ,on-line-Reparaturen' bedingtes Merkmal (2c) aufgenommen. Zu berücksichtigen ist, dass aber nicht jede Wiederholung eine on-line-Reparatur ist. Als ,Wiederholung' sollte deshalb bei der Punktgebung nur gewertet werden, was tatsächlich als on-line-Reparatur identifiziert werden kann. Dagegen verstärken Reduplikationen von Interjektionen wie ach, ach oder ey, ey u. E. eher den Status der Interjektionen als Gefühlsäußerungen, so dass wir diese Wiederholung als ein Phänomen der holistischen Gefühlsäußerung betrachten. Keine syntaktische
Kohäsionsmarkierung
.Keine syntaktische Kohäsionsmarkierung' ist nur ein sehr allgemeiner Oberbegriff. Vielmehr ist von einem Kontinuum zwischen minimaler und maximaler Kohäsionsmarkierung auszugehen, so dass es verschiedene Abstufungen der Kohäsionsmarkierung gibt. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: (7) Ich war bei meinem Petter Volkmann Hannes: auf einmal ging die Stube auf (Heuchelheimer Tagebuch V) (7a) Ich war bei meinem Petter Volkmann Hannes, da ging auf einmal die Stube auf (7b) Als ich bei meinem Petter Volkmann Hannes war, ging auf einmal die Stube auf
Die Kohäsion ist in (7) überhaupt nicht markiert, in (7a) wird sie zwar markiert, es bleibt aber bei der syntaktischen Nebenordnung, in (7b) liegt die maximal mögliche Integration, nämlich ein Nebensatz, vor. Da wir momentan noch nicht über eine Theorie verfugen, die das hier angedeutete Kontinuum modelliert, fragen wir beim ,Mikrocheck' lediglich, ob eine integriertere Variante möglich und sinnvoll gewesen wäre, und ordnen das Merkmal in dem Fall allgemein als ,keine oder geringe syntaktische Kohäsionsmarkierung' ein. Da das Merkmal ,keine syntaktische Kohäsionsmarkierung' eben gerade auf Grund seines verallgemeinernden Charakters teilweise schwer zu identifizieren ist, haben wir folgende Festlegungen getroffen: -
Von ,keiner syntaktischen Kohäsionsmarkierung' sprechen wir nur bei Subordinationsbeziehungen, d. h. nicht bei Nichtmarkierung von Koordination, weil die asyndetische Koordination kein nähesprachliches Phänomen ist. Deshalb wäre bspw. im folgenden Fall kein Punkt für ,keine syntaktische
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-
Kohäsionsmarkierung' zu geben: zog mit mihr ... ein Man, so alda ... gearbeitet hatt, in der Unterpfaltz sunsten wonhaft wahr zur Neustatt (Güntzer I) Ebenso können wir schwer von .keiner syntaktischen Kohäsionsmarkierung' sprechen, wenn semantisch überhaupt keine Kohärenz vorhanden ist (Bsp.: Wir kunten nicht zu hilf komen, man hat in Dorf zu Retten, das gescha vormittag, Anger Chronik IV). Wenn gar nicht klar ist, was der Zusammenhang sein sollte, wie könnte dieser dann syntaktisch markiert werden? Wir haben mit diesem Fall folgendes Problem: Das Phänomen als solches wirkt durchaus nähesprachlich, da es aber ein rein semantisch-pragmatisches Problem ist, können wir es mit unserem grammatisch orientierten Modell nicht erfassen.
Serialisierung
und inkohärenter
Infinitiv
In den Quellentexten finden wir häufig Fälle, die von der heutigen Serialisierung abweichen, indem das finite Verb im Nebensatz nicht an letzter Stelle des Verbalkomplexes steht, wie in folgendem Beispiel: (8) Die Bauren verwundern sich, daß wihr mit dem Leben sindt darvonkomen (Güntzer I)
Diese Abweichungen sind insofern nähesprachlich, als sie erkennen lassen, dass die Integration des Nebensatzes noch nicht voll grammatikalisiert war. Wir gehen davon aus, dass die heutige Serialisierung im Nebensatz, deren markantestes Merkmal die Endstellung des finiten Verbs ist, Ausdruck der Integration des Nebensatzes ist, da sie die Subordination markiert. Eine aggregativere Organisation der Elemente des Verbalkomplexes werten wir deshalb als nähesprachlich. Von Serialisierungsphänomenen zu unterscheiden ist der so genannte , inkohärente Infinitiv' (zur Definition siehe Modellglossar). Folgende Beispiele sollen den Unterschied verdeutlichen: (9) Klagts ihm, wie es sei ergangen (Hexe I) = Serialisierungsphänomen (10) Waß ist in dem großen Scherben? Schmer damit den Wagen pflegt zu (Hexe I) = inkohärenter Infinitiv
A ussagesatz-
schmeren
Verberststellung
Wie bei vielen anderen Phänomenen auch, ist nicht jede Verberststellung im Aussagesatz automatisch ein nähesprachliches Phänomen. Auch hier können wie bspw. bei der Anaphorik - Textmuster für dieses Merkmal verantwortlich sein, die indifferent in Bezug auf nähe- vs. distanzsprachliche Realisierung sind: Wenn bspw. nach bereits erfolgter Nennung des Personenbezugs dieser nicht erneut makrorealisiert wird, ist dies keine nähesprachliche Besonderheit. Dies gilt für Beispiele wie: (11) Als wihr mitten in den Walt kamen, ging er widerumb hinder mihr, zog ein Meßer auß dem Hossensack, stick mihr nach dem Halß [...] (Güntzer I)
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Im folgenden Beispiel dagegen kann die Nicht-Makrorealisierung des Personenbezugs nicht auf eine bereits erfolgte Identifizierung des Personenbezugs im Linkskontext zurückgeführt werden: (12) Indem sprach er: Landtsman, prenet eyren Busser loß, [...] Gab ihme darauff zurr Andwordt: (Güntzer I)
Die Nicht-Makrorealisierung der ersten Person erfolgt hier nach einem Wechsel im Personenbezug, da vorher auf die dritte Person Bezug genommen wurde. Diese Form der Verberststellung im Aussagesatz ist als nähesprachlich zu werten. Wir übernehmen Auers (1993) Differenzierung der Fälle von Verbspitzenstellungen im Aussagesatz in ,uneigentlich' und eigentlich', weil es sich u. E. dabei in der Tat um unterschiedliche Phänomene handelt. Beispiel (12) repräsentiert die ,uneigentliche Verbspitzenstellung', die durch eine elliptische Realisierung zu Stande kommt. Als ,eigentliche Verbspitzenstellung' betrachtet Auer dagegen die Fälle, in denen das Verb trotz Realisierung aller Aktanten an erster Stelle steht: (13) [...] Indem bekäme mihr ein Wolff. Wihr beide stundten eine gudte Weil geyeneinander, hatte einer kein Hertz, den andern anzugreifen (Güntzer I)
Deixis vs. Anaphorik Als problematisch hat sich bei den bisherigen Analysen von Quellentexten die Abgrenzung von Deixis und Anaphorik erwiesen. Diese Abgrenzung ist aber fundamental, weil nur Deixis nähesprachlich ist, während Anaphorik ein textlinguistisches, in Bezug auf nähe- oder distanzsprachliche Realisierung indifferentes Phänomen ist. Als Faustregel zur Abgrenzung von Deixis und Anaphorik hat sich bewährt: Der Bezug auf etwas, was vorher im Text schon einmal vorkam, ist anaphorisch. Wenn es bspw. heißt in diesem Wald, dann ist das anaphorisch, wenn der Wald vorher bereits genannt wurde, und deiktisch, wenn dies nicht der Fall ist. Zu beachten sind aber auch semantische Relationen: Wenn bspw. ein Gewehr genannt wurde und später von dieser Kugel die Rede ist, so ist das anaphorisch. Zu beachten ist aber, dass Anaphorik dann nähesprachlich wird, wenn sie adjazent realisiert wird, d. h. wenn ein Sprecher durch ein anaphorisches Sprachzeichen auf eine Äußerung des anderen Sprechers Bezug nimmt. ,Adjazente Anaphorik' ist deshalb ein Merkmal der P-mit-R-Sequenzierung des Rollenparameters (lb). Folgendes Beispiel soll dies illustrieren: (14)
A: ... konntest Du da Veränderungen in unserer Alltagssprache feststellen? B: Ja, das gibt es (Sprachbiographien VII)
Die Identifizierung von Deixis und Abgrenzung von Anaphorik ist vor allem deshalb problematisch, weil die Anzahl und Art der Mittel zur Markierung der Deixis bei den verschiedenen Deixisarten divergiert. Folgende Übersicht soll dies verdeutlichen:
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Vilmos Agel/Mathilde Hennig Mittel zur Markierung Personalpronomen + grammatische Kategorisierung am Verb lexikalische Realisierung lexikalische Realisierung (Adverbial) + grammatische Kategorisierung am Verb Tabelle 5: Markierung von Deixisarten
Während also für Raum nur ein Mittel zur Markierung der Deixis zur Verfügung steht, gibt es für Person und Zeit zwei Mittel zur Markierung der Deixis. Wie bereits erwähnt wurde, gilt das Prinzip, dass ein Merkmal nur einmal zu werten ist, auch, wenn mehrere Markierungen für das Merkmal vorliegen. Das bedeutet in Bezug auf die Personen- und Temporaldeixis: Die Personendeixis wird nur einmal gewertet, auch wenn sie mikro- und makrorealisiert ist. Ebenso wird die Temporaldeixis nur einmal berücksichtigt, auch wenn sie sowohl durch die Tempuskategorie als auch durch ein temporales Adverb markiert wird. Personendeixis Es sind Punkte zu vergeben für all solche Personalformen, die einen deiktischen Bezug zu einer Person herstellen. Personendeixis wird meist durch Personalpronomina der 1. und 2. Person realisiert, während die 3. Person i. d. R. anaphorisch ist. Wie in Bezug auf den Imperativ bereits bemerkt wurde, liegt Personendeixis auch dann vor, wenn der Personenbezug nur mikrorealisiert ist. Schließlich sind auch solche Fälle der Personendeixis zuzuordnen, in denen ein normalerweise nicht-deiktisches Pronomen personendeiktisch verwendet wird (wie bspw. man für die 1. Person Singular, vgl. dazu Barth 2000 zu Defokussierungsstrategien bei der Personenreferenz in Sprachbiographien VII). Temporaldeixis Im Bereich der Temporaldeixis erweist sich die Abgrenzung von Deixis und Anaphorik als besonders schwierig. So ist die Möglichkeit, dass die Realisierung der verbalen Kategorie Tempus deiktisch verstanden werden kann, nur eine prinzipielle Möglichkeit, weil die Markierung der Kategorie Tempus obligatorisch bei finiten Verben im Deutschen ist. Deshalb kann von dem Vorhandensein einer Tempusmarkierung noch nicht automatisch auf eine temporaldeiktische Interpretation geschlossen werden. Dass die Verortung eines Geschehnisses in der Zeit häufig durch temporale Angaben realisiert werden kann, die den temporalen Wert der Tempuskategorie relativieren, ist allgemein bekannt und besonders deutlich am Präsens zu beobachten (vgl. heute/gestern/ morgen/immer esse ich Spaghetti). Die prinzipielle Möglichkeit, dass eine Tempuskategorisierung deiktisch wirken kann, kann aber auch durch eine Vielzahl anderer Kontextfaktoren aufgehoben werden. Als Faustregel gilt dabei: Wenn der Zeitbezug bereits im Kontext festgelegt ist (sei es durch eine Datumsangabe
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über dem Brief, ein temporales Adverbial im Satz oder im Falle einer Tempusform im Nebensatz die hierarchische Abhängigkeit von einem Zeitbezug im übergeordneten Matrixsatz), dann ist die Tempusform nicht als deiktisch zu werten, sondern sie ordnet die Zeit in Abhängigkeit vom auf andere Art und Weise bereits erfolgten Zeitbezug ein. Deshalb trifft das Merkmal ,Temporaldeixis' in Bezug auf die Tempusformen selten auf unsere historischen Texte zu, weil wir es meistens mit Briefen oder Chroniken zu tun haben, in denen nichtdeiktische Zeitangaben gemacht werden. Wenn eine solche Auflösung der zeitdeiktischen Funktion der Tempora nicht vorliegt (bspw. in den Hexenverhören oder Sprachbiographien), muss in Bezug auf jede einzelne Tempusform geprüft werden, ob diese den zeitlichen Bezug zum Sprechmoment herstellt oder ob das durch ein anderes Element geschieht. Neben der weiter oben genannten Faustregel, dass Temporaldeixis nur für eine Tempusform gilt, wenn der zeitdeiktische Bezug nicht durch ein anderes Mittel hergestellt wird, muss außerdem noch in Bezug auf jede Tempusform geprüft werden, ob es sich nicht um eine allgemeingültige Aussage, d. h. eine Aussage, die nicht auf eine der Zeitstufen Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft festgelegt ist (Die Erde dreht sich um die Sonne, ich kann schwimmen etc.), handelt. Diese sind nicht deiktisch. Die Schritte zur Identifizierung der Temporaldeixis sollen hier noch einmal zusammengefasst werden: 1. Gibt es im Text eine nicht-deiktische Zeitangabe, die für den ganzen Text gilt? Dann regelt sie den zeitlichen Bezug. Tempora sind dann nicht zeitdeiktisch zu werten, weil sie sich auf diese Zeitangabe und nicht auf den Sprechmoment beziehen. 2. Wenn dies nicht der Fall ist: Gibt es im Satz ein temporales Adverbial? Dann ist dieses als zeitdeiktisch zu werten und nicht die Tempusform. 3. Wenn es kein temporales Adverbial im Satz gibt: Handelt es sich um einen abhängigen oder einen unabhängigen Satz? Wenn es sich um einen abhängigen Satz handelt (d. h. alle Formen von Nebensätzen, IK und abhängige Hauptsätze), hängt der Zeitbezug vom übergeordneten Satz ab und ist also nicht deiktisch. 4. Wenn es sich um einen unabhängigen Satz ohne temporales Adverbial handelt: Ist es eine Aussage, die ein Geschehen in einer Zeitstufe einordnet (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) oder eine in Bezug auf Zeitstufen indifferente Aussage (so genannte Allgemeingültigkeit)? Allgemeingültige Aussagen sind nicht als deiktisch zu werten. 5. Wenn all dies ausgeschlossen werden kann, gibt es wahrscheinlich nur noch eine Möglichkeit der Aufhebung der Zeitdeixis: Wenn in einem Roman durchweg Präteritum als Erzählzeit verwendet wird, stellt der Autor dadurch nicht wirklich einen Bezug zur Vergangenheit her, sondern das Präteritum ist hier sozusagen das neutrale, zeitindifferente Tempus (vgl. Hamburger 1957). Dann ist es nicht als deiktisch zu werten. Ob so etwas auch für andere Erzähltexte, die keine Romane sind, zutreffen kann, d. h., ob diese Möglich-
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keit überhaupt für unsere Texte von Belang ist, können wir momentan noch nicht beurteilen. Freiere
Tempuswahl
Das Merkmal »freiere Tempuswahl' ist nicht identisch mit dem Merkmal ,Temporaldeixis'. Vielmehr meint es die Möglichkeit, im Nähesprechen die Tempora freier zu wählen, weil die zeitliche Einordnung sehr stark durch die Situationseinbindung begünstigt wird. Besonders deutlich wird dies beim so genannten ,historischen Präsens', das in unseren Texten durchaus häufig zu finden ist: (15) So offt als er hinder mich ging, spring ich von den gelegten Beimen herunder undt ging widerumb dahinden. (Güntzer I)
Direkte Verfahren der
Redewiedergabe
Es ist nicht der Fall, dass Rede entweder direkt oder indirekt wiedergegeben wird, vielmehr gibt es Mittel zur Markierung der Direktheit und Mittel zur Markierung der Indirektheit, die beliebig kombiniert werden können. Beim ,Mikrocheck' ist also nicht eine wiedergegebene Redesequenz als direkt oder indirekt zu bewerten, sondern es wird nach Mitteln gesucht, die die Direktheit markieren. Diese können sein: Indikativ, kein redeeinleitendes Verb, abhängiger Hauptsatz. Wenn mehrere dieser Merkmale vorhanden sind, werden auch mehrere Punkte gegeben. Es ist aber, wie Beispiel (2) bereits gezeigt hat, auch möglich, dass ein nähesprachliches Merkmal eines anderen Parameters die Direktheit erkennen lässt. Dies können bspw. Anredenominative, redeeinleitende Signale und Zögerungssignale sein. Wie bereits weiter oben festgelegt wurde, wird in diesen Fällen ein Punkt für die Direktheit der Redewiedergabe gegeben. Als Methode zur Identifizierung der grammatischen Verfahren zur Markierung der Direktheit der Redewiedergabe hat sich die Umformung des jeweiligen Beispiels in indirekte Rede bewährt: Wenn wir bspw. Er sagte: Ich hasse dich umwandeln in Er sagte, dass er mich hasse, erkennen wir daran, dass die Direktheit durch die Personendeixis (1. und 2. Person), den Indikativ und den abhängigen Hauptsatz zu Stande kommt. Phonisches
Wort
Bei der Identifizierung von phonischen Wörtern ist zu beachten, dass nur solche Wörter als phonische Wörter anzusehen sind, die eindeutig auf das Verfahren der Sprecheinheitenbildung rückführbar sind. Keine phonischen Wörter sind: a) grammatikalisierte Verschmelzungen wie im und zur; b) dialektal bedingte Reduzierungen (wie ζ. B. die Schwa-Apokope im Bayrischen); c) Wortformen, die zwar eine Homonymie mit einer als phonisches Wort realisierbaren Form aufweisen, im gegebenen Kontext aber einer anderen Wortart angehören. So ist bspw. mal dann ein phonisches Wort, wenn es
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sich dabei um eine Reduzierung von einmal handelt. Wenn mal aber als Abtönungspartikel verwendet wird, gibt es keine andere Realisierungsmöglichkeit und mal ist deshalb in dem Fall kein phonisches Wort; d) rein graphische Abweichungen von der heutigen orthographischen Norm, die keine rein phonischen Realisierungen repräsentieren (bspw. eur).
3 Makronähesprachlichkeit 3.1 Theoretische
Voraussetzungen
In Kapitel 1 dieses Beitrags haben wir darauf hingewiesen, dass die Analyse der Makronähesprachlichkeit die Analyse der Mikroebene (d. h. der einzelsprachlichen grammatischen Merkmale der Nähesprachlichkeit) durch einen globalen Blick auf die das Textprofil prägenden grammatischen Schemata ergänzen soll. Auf diese Weise soll die Einschätzung der Nähesprachlichkeit von schriftlich überlieferten Texten verfeinert werden. Da das Modell des Nähe- und Distanzsprechens auf einer Theorie der Mikronähesprachlichkeit beruht, kann die Makronähesprachlichkeit nicht aus dieser Theorie abgeleitet werden. Aus diesem Grunde müssen nun der Darstellung der Methode der Ermittlung der Makronähesprachlichkeit die theoretischen Überlegungen, die die Grundlage für die praktische Arbeit mit der Nähesprachlichkeit auf Makroebene darstellen, vorausgeschickt werden. Folgende Prämissen und Konklusionen bilden den Ausgangspunkt für die Modellierung der Makronähesprachlichkeit: 1. Nähe-/Distanzsprachlichkeit äußert sich (a) auf der Mikroebene einzelner Merkmale und (b) auf der Makroebene von diese Merkmale überlagernden textprofilprägenden (grammatischen) Mustern/Schemata; 2. der Nähe-/Distanzcharakter eines Textes wird gleichermaßen von Mikround Makroebene geprägt; 3. die entscheidende textprofilgebende Quelle bei schriftlicher Überlieferung ist der Zeitparameter (Grade/Ausprägung der on-/off-Linehaftigkeit); 4. die entscheidende textprofilgebende Dimension des Zeitparameters bei schriftlicher Überlieferung ist die Aggregation/Integration, d. h. die MakroAggregation/-Integration; 5. der Grad der Makro-Aggregation/-Integration entscheidet über die Nähe/Distanzsprachlichkeit eines schriftlich überlieferten Textes auf Makroebene. Wie den Punkten 3 und 4 zu entnehmen ist, besteht ein Berührungspunkt zwischen der Makronähesprachlichkeit und dem Zeitparameter des die Mikronähesprachlichkeit modellierenden Nähe-Distanz-Modells: Auf Makroebene unterscheiden sich Nähe- und Distanzsprechen durch eine prinzipiell aggregativere bzw. prinzipiell integrativere Textorganisation. Die Makroebene hat somit et-
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was mit einem Teilaspekt der Modellierung des Nähe-Distanzsprechens auf Mikroebene zu tun. Der Unterschied besteht darin, dass auf Mikroebene die aggregative vs. integrative Diskursgestaltung ein Verfahren der Diskursgestaltung neben anderen ist und dass auf Mikroebene mit aggregativer vs. integrativer Diskursgestaltung einzelne im Text vorkommende Merkmale identifiziert werden, während auf Makroebene der Grad an Aggregation vs. Integration des Gesamttextes untersucht wird. Die Grundsatzfrage, um die es bei der Ermittlung der Nähe- vs. Distanzsprachlichkeit eines Textes auf Makroebene geht, ist also, was ein aggregatives vs. integratives Textprofil ist bzw. welche Merkmale dazu fuhren, dass ein eher aggregatives oder ein eher integratives Textprofil entsteht. Wir gehen davon aus, dass folgende Faktoren das Textprofil prägen: 1. die Anzahl der einfachen Sätze; 2. die Anzahl der abhängigen Sätze; 3. die Anzahl der Einheiten, die nicht die Kriterien einer Satzdefinition erfüllen; 4. die Länge der Sätze und anderer Einheiten; 5. die Anzahl und Art von Satzunterbrechungen. Es versteht sich von selbst, dass eine von diesen Faktoren ausgehende Modellierung nähe- vs. distanzsprachlicher Textprofile eine Klärung des Verständnisses der verwendeten Begriffe voraussetzt. Zentral ist dabei der Satzbegriff. Für die praktischen Zwecke der Identifizierung der Makronähesprachlichkeit von Texten bedarf es eines operationalisierbaren Satzbegriffes, der sowohl Kriterien zur Identifizierung von Sätzen als auch zur Abgrenzung von anderen Einheitentypen (die wir hier mit dem Terminus ,Nicht-Satz' zusammenfassen) bietet. Wir gehen von folgender Satzdefinition aus: Eine syntaktische Einheit ist dann ein Satz, wenn a) ein finites Verb bzw. eine komplexe verbale Struktur vorhanden ist und die Valenzpotenz des Valenzträgers regulär realisiert wird 1 5 und b) keine Störungen in der Realisierung der Projektionsstruktur zu verzeichnen sind. (Nach Hennig i. V.)
Im Gegensatz dazu ist eine syntaktische Einheit dann kein Satz (also ein NichtSatz), wenn 1. kein Valenzträger vorhanden ist; 2. ein Valenzträger zwar vorhanden, aber seine Valenzpotenz nicht vollständig realisiert ist;
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Mit .regulärer Realisierung' sind auch Fälle wie Der Fisch riecht oder Peter schreibt gemeint, d. h. Fälle von regelhafter Weglassbarkeit obligatorischer Aktanten (vgl. Agel 2000c: 247ff.). Diese Auffassung von ,regulärer Realisierung' ist hier notwendig, um solche Fälle dadurch von durch die Grundbedingungen prototypischer gesprochener Sprache zu Stande kommenden, nicht verbabhängigen Nichtrealisierungen abgrenzen zu können (vgl. Hennig 2004a/b).
Praxis des Nähe- und Distanzsprechens
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3. ein Valenzträger vorhanden ist und seine Valenzpotenz realisiert ist, aber andere Projektionspotenzen nicht realisiert sind. Mit dem Terminus ,Projektion' knüpfen wir an den Projektionsbegriff der Gesprochenen-Sprache-Forschung an (vgl. Auer 2002a, Stein 2003: 247ff., Hennig i. V.). Mit ,Projektion' sind dort Fortsetzungserwartungen des Hörers gemeint: „By projection I mean the fact that an individual action or part of it foreshadows another." (Auer 2002a: 2) Solche Fortsetzungserwartungen greifen auf verschiedenen Ebenen des Sprechens, dementsprechend können etwa prosodische, pragmatische und syntaktische Projektionen unterschieden werden. Es versteht sich von selbst, dass, wenn der Projektionsbegriff für die Abgrenzung von syntaktischen Einheitentypen nutzbar gemacht werden soll, der Begriff der syntaktischen Projektion zentral ist, der von Stephan Stein wie folgt beschrieben wird: So kann der Rezipient Fortsetzungserwartungen aufbauen, weil er weiß, dass beispielsweise Nominalphrasen durch Artikel(wörter), Präpositionalphrasen durch Präpositionen, Verbalphrasen durch (finite) Verbformen, Relativsätze durch Relativpronomen, Nebensätze durch Subjunktionen und koordinierte Strukturen durch Konjunktionen angekündigt und eingeleitet werden. (2003: 249)
Die Kriterien a) bis c) für Nicht-Sätze erfüllen beispielsweise Ellipsen, Anakoluthe, Diskursmarker und Anredenominative. Bei der Ermittlung der Nähevs. Distanzsprachlichkeit eines Textprofils ist in erster Linie die Tatsache relevant, dass Nicht-Sätze vorhanden sind. Aus diesem Grunde und da eine Abgrenzung dieser verschiedenen Nicht-Satztypen hier auch zu weit fuhren würde, verzichten wir darauf und fassen bei der Analyse der Makronähesprachlichkeit alle Nicht-Satztypen als Nicht-Sätze zusammen. Allerdings, das hat die Arbeit mit den historischen Texten gezeigt, gibt es auch Einheiten, die zwar die Kriterien eines Nicht-Satzes erfüllen, aber dennoch nicht nähesprachlich sind. Häufig handelt es sich dabei um Textsortenkonventionen wie Überschriften oder Datumsangaben in Briefen oder Chroniken. Weil diese nicht mit den Parametern des Nähesprechens in Verbindung gebracht werden können, unterscheiden wir zwischen Nähe-Nicht-Sätzen und Distanz-Nicht-Sätzen. Zur Beschreibung von einfachen und abhängigen Sätzen greifen wir auf den Begriff,Elementarsatz' von Wladimir Admoni zurück: Der Begriff des Elementarsatzes umfaßt alle syntaktischen Strukturen, die zu einem der logisch-grammatischen Satztypen gehören und die nach den Richtlinien erweitert werden können, die fur den selbständigen Satz gelten. Als Elementarsatz tritt also jeder Satz auf, der in den wichtigsten Zügen mit der Struktur des selbständigen Satzes übereinstimmt, ohne Rücksicht darauf, ob er eine abgeschlossene Einheit darstellt, und unabhängig davon, welche Rolle er im Redestrom spielt. Selbständiger Satz, Hauptsatz, Nebensatz, beigeordneter Satz - alle diese Sätze sind Elementarsätze. (1990: 4f.)
Wir unterscheiden deshalb im Folgenden einfache und abhängige Elementarsätze. Da bei der praktischen Analyse eine Ausdifferenzierung des Grades der
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Abhängigkeit zu aufwendig wäre, bezeichnen wir einfache Elementarsätze als ,Ε-SatZ]' und abhängige Elementarsätze als ,E-Satz x '. 16 Die Festlegungen zu den Einheitentypen sollen mit den folgenden Punkten noch einmal zusammengefasst werden: 1. Nicht-Satz: Es werden NNS (= Nähe-Nicht-Sätze) und DNS (= DistanzNicht-Sätze) unterschieden; 2. NNS sind Anakoluthe, Ellipsen (Sequenzen ohne VT, auch wenn sie Antwortsequenzen sind),' 7 aggregative Satzrandstrukturen (Freies Thema links und Nachtrag rechts),' 8 Vokative und N-Marker (= Nähe-Diskursmarker). Manche NNS können auch inmitten eines Satzes vorkommen (= NNS-Parenthesen); 3. DNS sind D-Marker (= Distanz-Marker), Überschriften, Anredeformeln, Abschiedsformeln und Datumsangaben; 4. Ε-Satz, ist ein unabhängiger oder ein regierender Satz (also alle einfachen Sätze oder Hauptsätze). Sprichwörter - obwohl u. U. aus mehreren E-Sätzen bestehend - werden immer als ein Ε-Satz, gerechnet; 5. E-SatZx ist jeder Ε-Satz nichtersten Grades; 6. jeder Ε-Satz nichtersten Grades ist ein subordinierter Satz; 7. Feststellung der Subordination: Alle Ε-Sätze mit Subjunktor und/oder Verb(komplex)letzt, alle Ε-Sätze mit Verbzweit und Konjunktiv als Abhängigkeitssignal (uneingeleitete NS) und alle IK (= Infinitivkonstruktionen) sind subordinierte Sätze und somit E-Sätze x ; 8. ein integrativ unterbrochener - genauer: ,entlinearisierter' - Satz (= I-UBS) ist ein durch einen anderen Ε-Satz unterbrochener Ε-Satz: „Daß ein Körper ausgedehnt sei, ist ein Satz, der α priori feststeht, und kein Erfahrungsurteil" (Kant: Prolegomena). Die Setzung von Diskursmarkern fuhrt dagegen zu keiner Unterbrechung; 9. ein aggregativ unterbrochener E-Satz (= A-UBS) ist ein durch einen NNS unterbrochener Ε-Satz: „du hast vorgeschlagen dass äh einen flotten dreier" (DomianDaniel). Auf der Grundlage dieser Begriffsbestimmungen werden nun folgende (grammatische) Muster/Schemata als textprofilgebend angenommen: 1. 2. 3. 4. 5.
Proportion NNS/E-Satz Proportion E-Satz,/E-Satz x Linearität der Satzfiigung: Proportion E-Satz/I-UBS Satzlänge (Unterbrechungsmuster: Proportion A-UBS/I-UBS)
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Hinweis: E-SatZx entspricht dem traditionellen Nebensatz x .|. Bei Verbalkomplexen gilt auch der infinite Komplex allein (ohne Finitum) als VT. Beispiele unten bei „Potenziellen (Nicht-)Satz-Problemen". Zur Festlegung dieser Satzrandstrukturen als N N S siehe 3.2.3.2.
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6. (Proportion Ganzsatz/E-Satz) 7. (Proportion primäres Nominal/durchschnittliche Satz+Nicht-Satz-Länge) 8. (Proportion Wortform/Kompositum (inkl. Zusammenrückung)) Auch wenn alle genannten Proportionen zur Textprofilgebung beitragen, werden die Proportionen 5-8 aus technischen und Aufwandsgründen im Folgenden nicht weiter berücksichtigt. Aus den genannten Proportionen ergeben sich folgende Korrelationen, die ein Textprofil aggregativer vs. integrativer machen und den Text somit auf Makroebene als eher nähe- oder distanzsprachlich ausweisen: 1. je niedriger die Proportion NNS/E-Satz, desto integrativer; 2. je niedriger die Proportion E-Satz|/E-Satz x , desto integrativer; 3. je niedriger die Proportion E-Satz/I-UBS, desto integrativer (je weniger linear desto integrativer); 4. je größer die durchschnittliche Satz+Nicht-Satz-Länge (inkl. D-Marker oder DNS), desto integrativer; 5. (je niedriger die Proportion A-UBS/I-UBS, desto integrativer); 6. (je niedriger die Proportion Ganzsatz/E-Satz, desto integrativer); 7. (je niedriger die Proportion primäres Nominal/durchschnittliche Satz+ Nicht-Satz-Länge, desto integrativer); 8. (je niedriger die Proportion Wortform/Kompositum (inkl. Zusammenrückung), desto integrativer). Die Korrelationen 5 - 8 werden hier nicht weiter berücksichtigt.
3.2
Methode
3.2.1 Prototextanalysen Wie bereits in Kapitel 1 dieses Beitrags erwähnt wurde, verwenden wir zur Bestimmung der Nähesprachlichkeit auf Makroebene nicht nur ein nähesprachliches, sondern auch ein distanzsprachliches tertium comparationis. Die nähesprachliche Vergleichsbasis bildet auch hier das DomianDaniel-Transkript von Susanne Günthner. 19 Als distanzsprachliches tertium comparationis dient Immanuel Kants Prolegomena. 20 Die Analyse eines kurzen Ausschnittes aus beiden Texten sei nun zur Illustration angeführt. Die Analysen sind wie folgt zu verstehen: -
Ε-Sätze! stehen in einem einfachen Kasten, E-Sätze x in doppelt umrandeten Kästen.
19
Transkript Radio-phone-in DomianDaniel, Z. 945-1298. Kant: Prolegomena, § 2c ohne letzten Absatz.
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NNS sind zwischen · * gesetzt, DNS sind zwischen EQ gesetzt. Wenn Ε-Sätze über mehrere Zeilen gehen oder unterbrochen wurden, wird dies durch eine Verbindungslinie gekennzeichnet. Integrative Unterbrechungen werden durch ein hochgestelltes l lJBS am Anfang der Unterbrechung markiert.
-
1. DomianDaniel D:
|das war naDlNE],
|und jetzt (.) kommt DAniel;T-)| |daniel is achtzehn JAHre alt); • ä guten M O R g e n · 1 ; Daniel:
• « j a · « • guten MORgen domian*';=
D:
= · « hallo DAnielt