Gotthold Ephraim Lessings Sämmtliche Schriften: Teil 24 Hamburgische Dramaturgie, Teil 1 [Neue Aufl., Reprint 2021] 9783112462423, 9783112462416


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German Pages 412 [417] Year 1806

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Gotthold Ephraim Lessings Sämmtliche Schriften: Teil 24 Hamburgische Dramaturgie, Teil 1 [Neue Aufl., Reprint 2021]
 9783112462423, 9783112462416

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Hamburgische

Dramaturgie. Do«

Gotthold Ephraim Lessing.

Erster Theil. Neue Auflage.

Berlin, 1805. I« der Vvssischeu Buchhandlung.

Gotthold Ephraim Lessings

sämmtliche Schriften.

Vier und zwanzigster Theil. Neue, unveräüderte Auflage.

Berlin, 1805. In Der Vvssischen Buchhandlung.

Hamburgische

Dramaturgie. Erster Theil.

Ankündigung.

wir- sich leicht errathen lassen, daß die neue Verwaltung deö hiesigen Theaters die Deranlassung des gegenwärtigen Blattes ist. Der Endzweck desselben soll den guten Absich­ ten entsprechen, welche man den Mannern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beymeffen kann. Sie haben sich selbst hinläng­ lich darüber erklärt, und ihre Aeußerungen sind, sowohl hier, als auswärts, von dem feinern Theile des Publikums mit dem Beyfalle ausgenommen worden, den jede sreywillige Beförderung des all­ gemeinen Besten verdienet, und zu unsern Zeiten sich versprechen darf. Freylich giebt es immer und überall Leute, die, weil sie sich selbst am besten kennen, bey jedem gu­ ten Unternehmen nichts als Nebenabsichten erblikfeit. Man könnte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern gönnen; aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selb- ausbringen; wenn ihr hämischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese scheitern zu lassen, bemüht ist: so müssen A »

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Hamburgische Dramaturgie.

sie wissen, daß sie die verachtung-würdigste» Glie­ der der menschliche» Gesellschaft sind. Glücklich der Ort, wo diese Elende» de» To» nicht angeden; wo die größere Anzahl wohlgesinn­ ter Bürger sie in de« Schranke» der Ehrerbietung hält, «nd nicht verstauet, daß das Bessere des Gan­ te» ein Raub ihrer Kabalen, und patriotische Absich­ ten ein Vorwurf ihres spöttischen Aberwitzes werde»! So glücklich sey Hamburg in allem, woran sei­ nem Wohlstände und seiner Freyheit gelegen: den» es verdient so glücklich zu seyn! Als Schlegel, jur Aufnahme de» dänischen Thea­ ters, — (ein deutscher Dichter de« dänische» Thea­ ters!) Vorschläge that, von welche» es Deutsch­ land noch lange zum Vorwurfs gereichen wird, daß ihm keine Gelegenheit gemacht worden, sie jur Auf­ nahme des unsrigen zu thun: war dieses der erste Md vornehmste, „daß man de» Schauspielern selbst „die Sorge nicht überlasse» müsse, sür ihren Ver„lust und Gewinnst r» arbeite» ') “ Die Prinzi­ palschaft unter ihnen, hat eine freye Kunst zu ei­ nem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrentheils desto nachlässiger und eigennütziger treiben läßt, je gewissere Kunden, je mehrere AdNehmer, ihm Rothdurft »der Luxus verspreche». *) Werke, zter Theil, S. -r».

Ankündigung.

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====!^= der unbefriedigte Zuschauer wenigsten« daran urtheilen lernt. Ei, «em Menschen von gesundem Verstände, wen» man ihm Geschmack beybringen will, braucht cka« e« nur au- einander zu setzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmäßige Stücke müssen auch schon darum beybehalten werden, weil sie gewisse vorzügliche Rollen haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Starke zeigen {amt.-* So verwirft malt nicht gleich eine musika­ lische Komposition, weil der Text dazu elend ist. Die größte Feinheit eine- dramatischen Richterzeigt sich darin, wenn er in jedem Falle Le« Ver­ gnügens und Mißvergnügens, unfehlbar zu unter­ scheide» weiß, was und wie viel davon auf die Rech­ nung des Dichters, »der des Schauspielers, zu setzen sey. Den» eine« um etwas tadeln, was der ander« versehen hat, heißt Beyde verderben. Jenem wird der Muth benommen, und dieser wird sicher gemacht. Besonders darf es der Schauspieler verlange», daß man hierin die größte Strenge und Unpar« theylichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dich­ ters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da, und kann »ns immer wieder vor die Au­ gen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspie­ lers ist in ihre» Werken transitorisch. Sei» Gutes und Schlimme- rauscht gleich schnell vorbey; und A4

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Ankündigung. ..........

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nicht selten ist die heutige kaune der Zuschauerr mehr Ursache, al« er selbst', warum das eine oder das andere einen lebhafter« Eindruck auf jene» gemacht hat. Eine schöne Figur, eine beraubernde Miene, ei» sprechendes Lug«, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: find Dinge, die sich nicht wohl mitWorten auödrücken lassen. Doch sind ti auch weder die einzigen «och größten Vollkommenhefte» des Schauspielers. Schätzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr lnöthig, aber noch lange nicht seinen Beruf erfüllend! Er muß überall mit dem Dichter denken; et muß da, wo dem Dich« ter etwas Menschliches widerfahren ist, für ihn denken. Ma« hat allen Grund', häufige Beyspiele hier­ von sich von unsern Schauspielern zu versprechen. — Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht höher stimmen. Beyde schaden sich selbst: der zu viel verspricht, und der zu viel erwartet. Heute geschieht die Eröffnung der Bühne. Sie wird viel entscheiden; sie muß aber nicht alles ent­ scheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urtheile ziemlich durchkreuzen. Es würde Mühe kosten, ein ruhiges Gehör zu erlangen. — Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher, als mit demAnsange des künftigen Monats erscheine». Hamburg, den aaste« April, 1767.

=♦ Hamburgische

Dramaturgie. No. I, Dm istm May, 1767.

Theater ist den -2ste» vorigen Monat- mit dem Trauerspiele, Olint und Svphronia, glücklich eröffnet worden. Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deut, scheu Originale anfangen, welches hier noch de» Reitz der Neuheit hätte. Der innere Werth die, ses Stücks konnt« auf eine solche Ehre keine» Anspruch mache». Die Wahl wäre zu tadeln, wenn sich zeigen liesse, daß man «ine viel besser» hätte treffen können. Olint und Sophronia ist das Work eine- junge» Dichters, und sein unvollendet hinterlassene- Werk. Lronegk starb allerdings für unsere Bühne zu früh; aber eigentlich gründet sich sein Ruhm mehr auf A 5

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Hamburgische Dramaturgie.

-- ------daS, was er, nach dem Urtheile seiner Freunde, für dieselbe noch -hätte, leisten können, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeile» und Nationen, hätte in seinem sechs und zwanzigste» Jahre sterben können, ohne die Kritik über seine wahren Talente nicht eben so zweifelhaft zu lassen? Der Stoss ist die bekannte Episode beym Tasso. Eine kleine rührende Lrrählung in ein rührendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar ko» stet es wenig Mühe, neue Verwickelungen zu er­ denke», und einzelne Empfindungen in Scenen auszudehnen. Aber zu verhüten wissen, daß diese'neuen Verwickelungen weder das Interesse schwachen, noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag thun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzählers iu den wahren Standort einer jeden Person versetzen können; die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauer« entstehe», und ohne Sprung, in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, daß dieser sympathisiren muß-, et mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu nöthig ist; was sdas Genie, ohne es zu wisse», ohne es sich langweilig zu erklären, thut, und was der bloß witzige Kopf »achzumachen, vergeben« sich martert. Lasso scheint, in seinem Slint und Sophronia, den Virgil, in fernem Mus und Luryalus, vor

Erster Theil.

II

Augen gehabt zu haben. So wk Virgil in diesen die Starke der Freundschaft geschildert halte, woll­ te Lasso in jenen die Stärke der Liebe schildern. Dort war es heldenmütiger Diensteifer, der die Probe der Freundschaft veranlaßte; hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit giebt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bey den Casso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeigt, ist in Cronegks Be­ arbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieser, in den Triumph jener veredeln. Gewiß, eine fromme Verbesserung; — weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn verlei­ tet, was bey dem Lasso so simpel und natürlich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhast, so wunderbar und himmlisch zu ma­ chen, daß nichts darüber! Beym Lasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ stoch Mahomedaner ist, sondern sich aus beyden Religionen einen eigenen Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rath giebt, das wunderthatige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn dieser Priester in sei­ ner Religion nicht eben so unwissend war, als eS der Dichter zu seyn scheint, so konnte er einey

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Hamburgische Dramaturgie. >

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solchen Rath unmöglich gebe«. Sie duldet durch, aus keine Bilder in ihren Moscheen. Croncgk vek, räth sich in mehrer» Stücken, daß ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem mahomedanischen Glauben bcygewvhnet. Der gröbste Fehler aber ist, daß er eine Religion überall des Polytheismus schuldig macht, die säst mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heißt ihm „ein Sitz der falschen Gotter," und de» Priester selbst läßt er ausrufen: „So wollt ihr euch noch nicht mit Rach und Strafe rüsten, „3hr Götter? Blitzt, vertilgt das freche Volk der Christen!

Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Kostüme, vom Scheitel bis jur Zehe, genau ju beobachten gesucht; und er muß solche Unze, reimtheiten sagen! Beym Lass» kömmt dar Marienbild aus der Moschee weg, ohne daß man eigentlich weiß, ob es von Menschenhänden entwendet worden, oder ob eine höhere Macht dabey im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Thäter. Zwar verwan­ delt er das Marienbild in „ein Bild des Herrn am „Kreut r" aber Bild ist Bild, und dieser armseiige Aberglaube giebt dem Olint eine sehr verächtliche Seite, Ma« kan» ihn» unmöglich wieder gut wer,

Erster Theil.

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de», daß er e« wagen können, durch eine so kleine That fein Volk an den Rand des Verderben« $it stellen. Wenn er sich hernach frey willig dazu be­ kennt: so ist es nicht« mehr als Schuldigkeit, und keine Großmuth. Beym Taffo last ihn bloß die Liebe diesen Schritt thun; er will Sophronien ret­ ten, oder mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloß um mir ihr zu sterbe»; kann er mit ihr nicht Ei» Bette besteigen, so sey es Ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an de» nehmliche» Pfahl gebunden, bestimmt, von dem nehmlichen Feuer verzehrt zu werden, empfindet er bloß das Glück einer so süße» Nachbarschaft, denkt an nicht«, was er jenseit« de« Grabes $u hoffen habe, und wünschet nichts, als daß diese Nachbarschaft noch enger und ver­ trauter seyn möge, daß er Brust gegen Brust drükke», und auf ihren Lippe» seinen Geist verhauche» dürfe. Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lie­ ben, ruhige», »an» geistigen Schwärmerinn, und einem hitzigen, begierigen Jünglinge, ist beym Cronegk völlig verloren. Sie sind beyde von der kälteste» Einförmigkeit; beyde haben nichts al« da« Märtyrerthum im Kopfe. Und nicht genug, daß Tr, daß Sie, für'die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena hätte nicht übel Lust dazu.

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Hamburgische Dramaturgie.

2ch will hier eine doppelte Anmerkung Machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragischen Dichter vor großen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrifft das Trauerspiel überhaupt. Wenn heldenmüthige Gesinnungen Bewunderung erregen sol­ len: so muß der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man öfters/ was man an mehrern sieht, hört man auf zu bewundern. Hierwrder hatte sich Cronegk schon in seinem CodruS sshr versündigt. Die Liebe deS Vaterlandes, bis zum freywilligen Tode für dasselbe, hatte den Codrus allein auszeichnen sollen: er hätte als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art da stehen müssen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hat. Aber Elesinde und Philaide, und Medvn, und wer nicht? sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande auf-uopfern; unsere Bewunderung wird getheilt, und Codrus verliert sich unter der Menge. So auch hier. Was in Olint und Sophronia Christ ist, das alles halt gemartert werden und sterben, für ein Glas Wasser trinken. Wir hören diese from­ men Vravaden so oft, aus sv verschiedenem Mun­ de, das sie alle Wirkung verlieren. Die zweyte Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrentheils Märtyrer. Nun leben wir ju

Erster Theis.

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einer Seit, in welcher die Stimme der gesunden Verminst zu laut erschallt, als daß jeder Rasern de, der sich muthwillig, ohne alle Noth, mit Ver­ achtung aller seiner bürgerlichen Obliegenheiten, in den Tod sturst, den Titel eines Märtyrers sich anmaßen dürste. Wir wissen jetzt zu wohl, die fal­ schen Märtyrer von den wahren z« unterscheiden; wir »erachte» jene eben so sehr, als wir diese ver­ ehren, und höchstens können sie uns eine melancholische Thräne über die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit überhaupt in ihnen fähig erblicken. Doch diese Thräne ist keine von -en angenehme», die da» Trauerspiel erregen will. Men» daher der Dichter eine» Märtyrer zu seinem Helden wählet: daß er ihm ja die lauterste« und triftigste» Bewegungsgründe gebe! daß er ihn ja i« die unumgängliche Nothwendigkeit setze, de» Schritt zu thu», durch den er sich der Gefahr bloß stellet! daß er ihn ja den Lod nicht freventlich su­ che», nicht höhnisch ertrotzen lasse! Sonst wird «ns sein frommer Held zum Abscheu, und die Reli­ gion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leide». Ich habe schon berührt, daß es nur ein eben so nichtswürdiger Aberglaube seyn konnte, als wir in -em Zauberer Ismen verachten, welcher den Olint ««trieb, das Bild aus der Moschee wieder zu ent­ wende». Es entschuldigt de« Dichter nicht, daß

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Hamburgische Dramaturgie.

es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube alle gemein war, und bey vielen guten Eigenschaft«» bestehe» konnte; baß es noch Lander giebt, wo er der frommen Einfalt nichts Befremdendes habe» würde. Denn er schrieb sein Traurspiel eben so wenig für jene Seiten, als er es bestimmte, inBöhmen oder Spanien gespielt zu werde». Der gute Schriftsteller, er sey von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bleß schreibt, seinen Witz, sein« Ge, lehrsamkeit ru reize», hat immer die Erleuchtetste» und Besten seiner Zeit und seines Landes im Au» ge; und nur was diesen gefallen, was diese rüh­ re» kann, würdigt er ru schreiben. Selbst der dramatische, wen» er sich ru dem Pöbel herabläßt, läßt sich nur darum ru ihm herab, um ihn zu er­ leuchte» und r» besser»; nicht aber ihn in seine« Vorurtheilen, ihn in seiner unedel» Denkungsart I» bestärken.

II. Den Zten May,

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vlvch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, würde über die Bekehrung

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ter Cloriuds $u machen seyn. So überzeugt wir «uÄ) immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sey» mögen, so wenig könne« sie uns auf dem Theater gefallen/ wo alles, was ru dem Cha­ rakter der Personen gehört, aus den natürlichste« Ursachen entspringen muß. Wunder dulde» wir da nur in der physischen Welt; in der morali­ schen muß alles seinen ordentlichen Laus behalten, weil das Theater die Schule der moralische« Welt sey» soll. Die Deivegungsgrüude zu jedem Ent­ schlüsse, i» jeder Aenderung der geringsten Gedan­ ke« und Meynungen, müsse», »ach Maaßgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegen «inander abgewogen seyn, und jene müsse» nie mehr hervorblingen, als sie nach der strengsten Wahr­ heit hervorbringen können. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns durch Schönheiten des Details über Mißverhältnisse dieser Art zu tauschen; aber er täuscht uns nur einmal, und sobald wir wie­ der kalt werden, nehmen wir de» Beyfall, den er «ns «bgelauschl hat, zurück. Dieses auf di« vierte Scene des dritten Akt- angewendet, wird man finden, daß die Reden und das Betrage« der Sophrvnia t>k Clorinde zwar zum Mitleide« hätte« bewegen Wonnen, aber viel zu unvermö­ gend sind, Bekehrung an einer Person zu wirke», die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Dramanikaie. it ry. D

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Hamburgische Dramaturgie.

Beym Lasso nimmt Clorinde auch dar Christen­ thum an; aber in ihrer letzte» Stunde; aber erst, nachdem sie kur; zuvor erfahren, daß ihre Aelter» diesem Glauben zugethan gewesen: seine, erhebliche Umstande, durch welche die Wirkung einer höher» Macht in die Reihe natürlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser «erstanden, wie weit man in diesem Stücke auf dem Theater gehen dürfe, als Voltaire. Nach­ dem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beyspiel und Bitten, durch Großmuth und Er­ mahnungen bestürmt, und bis in das Innerste er­ schüttert worden, laßt er ihn doch dir Wahrheit der Religio», an deren Bekenner» er so viel Großes sieht, mehr vermuthen, als glauben. Und vielleicht würde Voltaire auch dies« Vermuthung unterdrückt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas hatte geschehen müssen. Selbst der Polyeukt des Corneille ist, in Ab, sicht auf beyde Anmerkungen, tadelhast; und wen» es seine Nachahmungen immer mehr geworden sind, so dürfte die erste Tragödie, die de» Nansen einer christliche» verdient, ohne Zweifel noch zu erwar­ ten seyn. Ich meyne ein Stück, in welchem einzig der Christ als Christ «ns interessirt. — Ist ei« solches Stück aber auch wohl möglich? Ist -er Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz «n,

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theatralisch? Streite» nicht etwa die stille Gelas­ senheit, die unveränderliche Sanstmuth, die seine wesentlichsten Züge sind, mit dem ganzen Geschäfte der Tragödie, welche- Leidenschaften durch Leidem schäften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht et» wa seine Erwartung einer belehnenden Glückselig­ keit nach diesem Leben, der Uneigennützigkeit, mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Bühne unternommen und vollzogen |u sehe» wünschen? Bl- ein Werk de- Genie-, von dem man nur «u- der Erfahrung lernen kann, wie viel Schwie­ rigkeiten e- zu übersteige» vermag, diese Bedenk­ lichkeiten unwidersprechlich widerlegt, wäre also mein Rath: — man liesse alle bisherige christliche Trauerspiel« unausgeführt. Dieser Rath, wel­ cher au- de» Bedürfnissen der Kunst hergenomme» ist, welcher uns um weiter nicht-, als sehr mittel, mäßige Stücke bringen kann, ist darum nicht­ schlechter, weil er den schwächer« Gemüthern $u Statten kömmt, die, ich weiß nicht welchen Schau­ der empfinden, wen» sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Stätte gefaßt mache», im Theater iu hören bekomme». Das Theater soll Niemande», «er es auch sey, Anstoß geben; und ich wünschte, daß e- auch allem genommenen An» stoße Vorbeugen könnte und wollte. Ba

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Hamburgische Dramaturgie.

Cronegk hatte fein Stück nur bi- gegen da« Ende d«- vierten Ausjuge« gebracht. Da- übrige hat eine Feder in Wie» dazu gefügt; eine Fe» der: — denn die Arbeit eines Kopfe- ist dabey nicht sehr sichtbar. Der Ergänzet hat, allem An» sehen nach, di« Geschichte ganz anders geendet, al- sie Cronegk zn enden Willen« gewesen. Der Lod löset alle Verwirrungen am besten; darum laßt er Beyde -erben, den Clint unj» die Sophronia. Beym Lasso kommen sie beyde davon; denn Clo, rinde nimmt sich mit der uneigennützigsten Groß« muth ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freylich schwer r« errathen, wie er zwey Nebenbuhlerinnen au« ein# ander setzen wolle, ohne den Tod ;u Hülfe zu rn» fen. In einem andern noch schlechtem Trauerspiele, wo eine von den Hauptpersonen ganz an« heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: Aber woran stirbt sie denn? — Woran? am sünft ten Akte; antwortete dieser. In Wahrheit: der fünfte Akt ist eine garstige böse Staupe, die man» chen hinreißt, dem die ersten vier Akte ein wett längere« Leben versprachen. — Doch ich will mich in die Kritik des Stück« Vicht tiefer einlaffen. So mittelmäßig es ist, so ausnehmend ist e« vorgestellt worden. Ich schwett -e von der äußern Pracht; denn diese Berbeffe»

Erster Theil. * i

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rung unsers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Künste, deren Hülfe dazu nöthig ist, sind bey uns in eben der Vollkommenheit, wie in jedem an' dern Lande; nur die Künstler wollen eben so be< zahlt sey»/ wie in jedem andern Lande. Man muß mit der Vorstellung eines Stücke­ zufrieden seyn, wenn unter vier, fünf Personen, ei­ nige vortrefflich, und die andern gut gespielt ha­ ben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfänger oder sonst ein Nothnagel so.sehr beleidigt, daß er über das Ganze die Nase rümpft, der reise nach Utopien, und besuche da die vollkommenen Thea­ ter, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist. Herr Eckhoff war Evander. Evander ist zwar der Vater des Olinr, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indeß mag dieser Mann eine Rolle machen, welche er will; man er­ kennt ihn in der kleinsten noch immer für den ersten Akteur, und bedauert, auch nicht zugleich alle übri­ gen Rotten von ihm sehen zu können. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, daß er Sittensprüche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Aus­ beugungen e'nes verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiß, daß das Trivialste von dieser Art in seinem Munde Neuheit und Würde, das Frostigste Feuer und Le, den erhalt. D r

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Hamburgische Dramaturgie.'

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Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, tu seinem CodruS und hier, so manche in einer so schönen 'nachdrücklichen Kürze ausgedrückt, daß viele von seinen Versen als Zentenzen behalten, und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit ausgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch isters gefärbtes Glas für Edelsteine, und witzige Antithesen für gesunden Verstand einzuschwatzen. Zwey dergleichen Zeilen in dem ersten Akte hat­ ten eine besondere Wirkung auf mich. Die eine, „Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht."

Die andere, „Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Dösewicht."

Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemein ne Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu bemer­ ken, durch welche- sich der Beifall ausdrückt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gänzlich aurbrechen läßt. Theil« dachte ich: Vortrefflich! Man liebt hier die Moral; diese« Parterr findet Geschmack an Maximen; auf dieser Buhne könnte sich ein Eu­ ripides Ruhm erwerben, und ein SokrateS würde sie gern besuchen. Theil« fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstößig diese vermeyiiteu Maximen wären, und ich wünschte sehr, daß die Mißbilligung an jenem Gemurmel den mei­ sten Antheil möge gehabt haben. €« ist nur Ein

Erster Theil.

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Athe» gewesen, er wird nur Ein Athen bleiben, wo auch bey dem Pöbel dat sittliche Gefühl so fein, so rärtlich war, daß einer «»lautern Morat wegen, Schauspieler und Dichter Gefahr liefe», von dem Theater herabgesiürmt zn werden! Ich weiß wohl, die Gesinnungen müssen in dem Dra, ma dem angenommenen Charakter der Person, »el» ehe sie äußert, entspreche»; sie könne» also das Sie« gel der absoluten Wahrheit nicht haben: genug, wenn sie poetisch wahr sind, «en» wir ge-eheir müssen, daß dieser Charakter, in dieser Situation, bey dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urtheilen könne». Aber, auch diese poetische Wahr» heit muß sich, ans einer andern Seite, der absolu» ten wiederum nabern, und der Dichter muß nie so nnphilosophisch denken, daß erannimmt, ein Mensch könne das Böse, um des Bösen wegen, wolle», er könne nach lasterhaften Grundsätzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen, und doch gegen sich und Andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ei« Unding, so gräßlich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines schalen Kopses, der schimmernde Tiraden für die höchste Schönheit des Trauerspiels hält. Wenn Jsme» nor ein grausamer Priester ist, sind darum alle Prie» ster Ismenors? Man wende nicht ein, daß von Priestern einer falsche» Religio» die Rede sey. So Bo

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Hamburgische Dramaturgie.

falsch war «och keine in der Welt, daß ihre Lehrer nothwendig Unmenschen seyn müssen. Priester ha« den in de» falschen Religionen, so wie in dtt wahr re«, Unheil gestiftet; aber nicht weil sie Priester, sondern weil sie Bösewichter waren, bi«, jum Be« huf ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Stande« gemißbraucht hätten. Wenn die Bühne so unbesonnene Urtheile über die Priester überhaupt ertönen läßt; was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie al« die gerade Heerstraße zur Hölle an«« schreyen? Aber ich verfalle wiederum in die Kritik de« Stücke«, und ich wollt« von dem Schauspieler sprechen.

IIL Deu 8tm May, 1767, llnb wodurch bewirkt dieser Schanspieler, (Hr.

Eckhvff) daß wir auch die gemeinste Meral so gern von ihm hören? Was ist es eigentlich, wa« ein Anderer von ihm tu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle eben so unterhaltend finden sollen?

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Elster Theil.

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Alle Moral muß aus der Fülle des Herzenfontmen, von der der Mund übergehet; man muß eben so wenig lange darauf zu denken, als damit zu prahlen scheinen. ES versteht sich also von selbst, daß die mora­ lischen Stellen vorzüglich wohl gelernt seyn wol­ len. Sie müssen ohne Stocken, ohne den gering­ sten Anstoß, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer Leichtiakeit gesprochen werden, daß sie keine mühsame Auskramungen deö Gedächt­ nisses, sondern unmittelbare Eingebungen der ge­ genwärtigen Lage der Sachen scheinen. Eben so ausgemacht ist es, daß kein falscher Accent uns muß argwöhnen lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muß uns durch den richtigsten, sichersten Ton überzeugen, daß er den ganzen Sinn seiner Worte durchdrungen habe. Aber die richtige Accentuation ist zur Noth auch einem Papagey beyzubringen« Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch von dem entfernt, der sie auch zugleich empfindet! Worte, deren Sinn man einmal gefaßt, die man sich ein­ mal ins Gedächtniß geprägt hat, lassen sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern Dingen beschäftigt; aber alsdann ist keine Empfindung möglich. Die Seele muß ganz gegen­ wärtig seyn; sie muß ihre Aufmerksamkeit einzig B 5

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Hamburgische Dramaturgie.

und allein auf ihre Reben richten, uni nur als­ dann — Aber auch alsdann kann -er Akteur wirklich viel Empfindung haben, und doch keine zu haben schei­ nen. Die Empfindung ist überhaupt immer da­ streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann seyn, wo man sie nicht erkennt; und man samt sie zu erkennen glauben, wo sie nicht ist. Denn die Empfindung ist etwa- Inneres, voit dem wir nur nach seinen äußern Merkmalen urtheilen kön­ nen. Nun ist es möglich, daß gewisse Dinge in dem Baue des Körper- diese Merkmale entweder gar nicht »erstatten, oder doch schwächen und zweydeutig machen. Der Akteur kann eine gewisse Bil­ dung de» Gesichts, gewisse Mienen, einen gewissen Ton haben, mit denen wir ganz andere Fähigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere Gesinnun­ gen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwärtig äußern und ausdrücken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst im Widersprüche. Ge­ gentheil- kann ein anderer so glücklich gebauet seyn; er kann so entscheidende Züge besitzen; alle seine Muskeln können ihm so leicht, so geschwind zu Gebote stehen; er kaun so seine, so vielfältige Abänderungen der Stimme in seiner Gewalt ha­ ben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime erftr-

verliehen Gaben in einem so hohen Grade beglückt seyn, daß er uns in denjenigen Rollen, die er nicht ursprünglich, sondern nach irgend einem guten Vorbilde spielt, von der innigsten Empfindung besee­ let scheinen wird, da doch alles, was er sagt und thut, nichts als mechanische Nachäffung ist. Ohne Zweifel iß dieser, ungeachtet seiner Gleich­ gültigkeit und Kälte, dennoch auf dem Theater weit brauchbarer als jener. Wenn er lange genug nichts als nachgeäfft hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln bey ihm gesammelt, nach denen er selbst tu handeln anfängt, und durch de­ ren Beobachtung (zu Folge dem Gesetze, daß eben die Modifikationen der Seele, welche gewisse VerLnderungen des Körpers hervorbringen, hinwieder, um durch diese körperlichen Veränderungen bewirkt werden,) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorstellung kräf­ tig genug ist, etwas von den nicht sreywilligen Ver­ änderungen des Körpers hervorzubringen, aus de, ren Daseyn wir fast allein auf das innere Gefühl zuverlässig schließen zu können glauben. Ein sol­ cher Akteur soll z. E. die äußerste Wuth des Zor­ nes ausdrücken. Ich nehme an, daß er seine Rolle nicht einmal recht versteht, daß er die Gründe

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Hamburgische Dramaturgie.

dieses Zornes weder hinlänglich ztt fassen, noch leb­ haft genug sich vvrzustellen vermag, um seine See, le selbst in Zorn zu setzen. Und ich sage: wenn er nur die alleriröbsten Aeußerungen deö Zornes ei/ nem Akteur von ursprünglicher Empfindung abge, lernet hat, und getreu nachzumachen weiß — den hastigen Gaug, den stampfenden Fuß, den rauhen bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zahne, u. s. w. — wenn er, sage ich, nur dieseDinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will, gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefühl von Jörn befallen, welches wiederum in den Körper zurück wirkt, und da auch diejenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht bloß von unserm Willen abhangen; sein Gesicht wird glühen, seine Augen werden blitzen, seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu seyn scheinen, ohne es zu seyn, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es seyn sollte. Nach diesen Grundsätzen von der Empfindung überhaupt, habe ich mir zu bestimmen gesucht, welche äußerliche Merkmale diejenige Empfindung begleiten, mit der moralische Betrachtungen wollen gesprochen seyn, und welche von diesen Merkmalen in unserer Gewalt sind, so daß sie jeder Akteur, er

Erster Theil.

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was die Empfindniig selbst habe», »der nicht, -ar» stellen kann. Mich dünkt Folgende». Jede Moral ist ein allgemeiner Satz, der, al» solcher, einen Grad von Sammlung der Seele und ruhiger Ueberleguug verlangt. Er will als» mit Gelassenheit und einer gewissen Kalke gesagt sey». Allein dieser allgemeine Satz ist jugleich da» Resultat von Eindrücken, welche individuelle Um» stände auf die handelnden Personen machen; er ist kein bloßer symbolischer Schluß; er ist eine ge«e» ralifirt« Empfindung, und als diese will er mit Feuer und einer gewissen Begeisterung gesprochen sey«. Folglich mit Begeisterung und.Gelassenheit, mit Feuer und Kälte? — Nicht anders; mit einer Mischung von beyde», in der aber, nach Beschassenheit der Situativ«, bald dieses, bald jenes, hervorsticht. Ist die Situation ruhig, so muß sich die Seele durch die Moral gleichsam einen neuen Schwung geben wollen; sie muß über ihr Glück, oder ihr« Pflichten, bloß darum allgemeine Betrachtungen gu machen scheine», um durch diese Allgemeinheit selbst, jenes desto lebhafter ju genießen, diese desto williger und muthiger r» beobachten. Ist die Situation hingegen heftig, so Muß sich di« Seele durch die Moral (unter welchem Wort« ich jede allgemeine Betrachtung versteh«) gleich»

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Hamburgische Dramaturgie.

faitt vo« ihrem Fluge zurückholen; sie muß ihre» Leidenschaften das Ansehen der Vernunft, stürmt» schon Ausbrüche« den Schei« vorbedachtlicher Ent­ schließungen geben ru wollen scheinen. Jenes erfordert einen erhabnen und begeister­ ten Ton; dieses einen gemäßigte» und seyerlichen. Denn dort muß da- Raisonnement in Affekt ent­ brennen, und hier der Affekt in Raisonnement sich auskühlen. Die meisten Schauspieler kehre» es gerade um. Sie poltern in heftige» Situationen die allaemei» »en Betrachtungen eben so stürmisch heraus, als das Uebrige; und in ruhigen bete» sie dieselbe» eben so gelassen her, als das Uebrige. Daher geschieht «# -en» aber auch, daß sich die Moral weder in de» einen, «och in den andern bey ihnen ausnimmt; und daß wir sie in jenen eben so unnatürlich, al« in diesen langweilig und kalt finden. Sie überlegten nie, daß die Stickerey vv» dem Grunde absteche» muß, und Gold auf Gold brodire» ein elender Geschmack ist. Durch ihre Gestus verderbe» sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn sie deren dabe» machen sollen, noch was für welche. Sie mache» aemet* «iglich zu viele, und i« unbedeutende. Wen» • in einer heftigen Situation bi» Seele sich auf einmal r» sammeln scheint, um eine» überlegenden Blick auf sich, oder auf da-, was sie

umsiebt, zu werfe«; so ist eS natürlich, -aß sie allen Bewegungen des Körpers, die von ihrem bloßen Willen abhängen, gebieten wird. Nicht,die Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle gerathen in einen Stand der Ruhe, um die innere Ruhe auszudrücken, ohne die das Auge der Ver­ nunft nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuß fest auf, dir Arme sinken, der ganze Körper zieht sich in den wagrech­ ten Stand; eine Pause — und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer seyerliche» Stille, als ob er sich nicht stören wollte, sich selbst zu hö­ ren. Die Reflexion ist aus, — wieder eine Pau­ se — und so wie die Reflexion adgezielt, sein« Leidenschaft entweder zu mäßigen, oder zu befeuern, bricht er, entweder auf einmal wieder los, oder setzt allmälig das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben, während der Reflexiv», die Spuren des Affekts: Miene und Auge sind noch in Bewegung und Feuer; denn wir haben Miene und Auge nicht so urplötzlich in un­ serer Gewalt, als Fuß und Hand. Und hierin denn, in diesen ausdrückende« Mienen, in diesem entbrannten Auge, und in dem Ruhestande des gan, zen übrigen Körpers, besteht die Mischung von Feuer und Kälte, mit welcher ich glaube, daß die Moral in heftigen Situationen gesprochen sey» will.

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Hamburgische Dramaturgie.

Mit eben dieser Mischung will sie huc6 in rnl)iqcn Situationen gesagt seyn; nur mit dem Un­ terschiede, M der Theil der Aktion, welcher dott der feurige war, hier der kältere, und welcher dort der kältere war, hier der feurige sey» muß. Näm­ lich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte Em­ pfindungen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften Empfindungen einen höheren Grad vott Lebhaftigke'L zu geben gesucht, so wird sie. auch die Glieder des Körpers, die ihr unmittelbar zu Gebote stehen, dazu beyrragen lassen. Die Hande werden in voller Bewegung seyn; nur der Ausdruck des Gesichts kann so geschwind nicht nach, und in Miene und Auge wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der übrige Körper gern j)ey aus arbeiten möchte.

IV. Den laten May, 1767. Äber von was für Art sind die Bewegungen der Hande, mit welcher, in ruhigen Situationen., die Moral gesprochen iu seyn liebt? Von

Erster Theil.

Don der Ckironomie der Alten, das ist, von dem Inbegriffe der Regeln, welche die Alten den Bewegungen der Hande vorgeschrieben hatten, wist fett wir nur sehr wenig- aber dieses wissen wir, daß sie die Händesprache zu einer Vollkommenheit gebracht, von der sich aus dem, was unsre Redner darin $u leisten im Stande sind, kaum die Möglichkeit sollte begreifen lassen. Wir scheinen von dieser ganzen Sprache nichts als ein unartikulirtes Geschrey behalten zu haben'; nichts als daVermögen Bewegungen zu machen, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine faire; Bedeutung zu geben, und wie sie unter einander zu verbinden, daß sie nicht bloß eines einzeln Sinnes, sondern eines zusammenhängenden Verstandes fähig wer­ den. Ich bescheide mich gern, daß man bey den Alten den Pantomimen nicht mit dem Scham spieler vermengen muß. Die Hände des Schau­ spielers waren bey weitem so geschwätzig nicht, als die Haude des Pantomimen. Bey diesem ver­ traten sie die Stelle der Sprache; bey jenem soll­ ten sie nur den Nachdruck derselben vermehren, und durch ihre Bewegungen, als natürliche Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben verschaffen helfen. Bey dem Pantomimen waren die Bewegungen der Hände Dramaturgie. rr Lh.

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Hamburgische Dramaturgie.

nicht bloß natürliche Zeichen; viele derselben hatten eine konventionelle Bedeutung, und dieser mußte sich der Schauspieler gänzlich enthalte». Er bediente sich also seiner Hande sparsamer, als der Pantomime, aber eben so wenig vergeben-, als dieser. Er rührte keine Hand, wenn er nichts damit bedeuten oder verstärken konnte. Er wußte nichts von den gleichgültigen Bewegungen, durch deren beständigen einförmigen Gebrauch ein so gro­ ßer Theil von Schauspielern, besonders das Frau­ enzimmer, sich das vollkommene Ansehen von Dratpuppe» giebt. Bald mit der rechten, bald mit der linken Hand, die Hälfte einer krüpplichtcn Achte, abwärts vom Körper, beschreiben, oder mit beyden Händen zugleich die Lust von sich wcgruder«, heißt ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewis­ se» Tanzmeistergrazie zu thun geübt ist, v! der glaubt, uns bezaubern zu könne». Ich weiß wohl, daß selbst Hogarth den Schau­ spieler» befiehlt, ihre Hand in schönen Schlangen­ linie» bewegen zu lernen; aber nach alle» Seiten mit allen mögliche» Abänderungen, deren diese Linien, in Ansehung ihres Schwünge-, ihrer Größe und Dauer fähig sind. Und endlich befiehlt er es ihnen nur zur Uebung, um sich zum Ägiren da­ durch geschickt zu mache», um den Armen die

Erster Theis.

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Biegungen des Reizes geläufig zu machen; nicht aber in der Meinung, daß das Agiren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung solcher schö­ nen Linien, immer nach der nämlichen Direktion, bestehe. Weg also mit diesem unbedeutenden PortebraS, vornehmlich bey moralischen Stellen, weg mit ihm l Reiz am unrechten Orte ist Affektation und Gri­ masse; und eben derselbe Reiz, zu oft hinter ein­ ander wiederholt, wird kalt und endlich ekel. Ich sehe einen Schulknaben sein Sxrnchelchen aufsagen, wenn der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher man in der Me­ nuett die Hand giebt, mir zureicht, oder seine Mo­ ral gleichsam vom Rocken spinnt. Jede Bewegung, welche die Hand bey mora­ lischen Stellen macht, muß bedeutend seyn. Oft kann man bis an da- Mahlerische damit gehen; wenn man nur das Pantomimisch? vermeidet. Es wird sich vielleicht ein andermal Gelegenheit fin­ den, diese Gradation von bedeutenden zu mahle­ rischen, von mahlerischen zu pantomimischen Gesten, ihren Unterschied und ihren Gebrauchs in Bey­ spielen zu erläutern. Jetzt würde mich dies zu weit führen, und ich merke nur an, daß es unter den bedeutenden Gesten eine Art giebt, die der Schauspieler vor allen Dingen wohl zu beobachte» C 2

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Hamburgische Dramaturgie.

bat, «nd mit denen er allein der Moral Licht und Lede» ertheilen kann. Es sind dies mit Einem Worte, die iudividttalisirenden Gestus. Die Moral ist ein allgemeiner Satz, aus den besondern Um­ standen der handelnden Personen gezogen; durch seine Allgemeinheit wird er gewissermaaßen der Sache fremd, er wird eine Ausschweifung, deren Beziehung auf das Gegenwärtige, von dem weni­ ger aufmerksamen, oder weniger scharfsinnigen Zu­ hörer, nicht bemerkt oder nicht begriffe» wird. Wenn es daher ein Mittel giebt, .diese Beziehung sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das Anschauende zurückzubringen, und wenn dieses Mittel gewisse Gestus seyn kön­ nen; so muß sie der Schauspieler ja nicht zu mw chen versäumen. Man wird mich aus einem Exempel am besten verstehen. Ich nehme es, wie mir es jetzt beyjallt; der Schauspieler wird sich ohne Mühe auf noch weit einleuchtendere besinnen. — Wenn Olint sich mit der Hoffnung schmeichelt, Gott werde das Herz des Aladin bewegen, daß er nicht so grausam mit den Christen verfahre, als er ihnen gedrohet: so kann Evander, als ein alter Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrüglichkeit unsrer Hoffnun­ gen zu Gemüthe führen.

Erster Theil.

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„Vertraue nicht, mein Sohn, Hoffnungen, die berriügen!"

Sein Sohn ist ein feuriger Jüngling, und in der Jugend ist man vorzüglich geneigt, sich von der Zukunst nur das Beste zn versprechen. „Da sie ju leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft."

Doch indem besinnt er sich, daß das Alter ru dem entgegengesetzten Fehler nicht weniger geneigt ist; er will den unverzagten Jüngling nicht ganz nie­ derschlagen, und.fährt fort; „DaS Alter quält sich selbst, weil es ;u wenig hofft."

Diese Sentenzen, mit einer gleichgültigen Aktion, mit einer nichts als schönen Bewegung des Armes begleiten, würde weit schlimmer seyn, als sie ganz ohne Aktion hersagen. Die einzige ihnen ange­ messene Aktion ist die, welche ihre AÜaemeinheit wieder auf das Besondere einschränkt. Die Zeile: „Da sie;u leichtlich glaubt, irrt muntre fugend oft."

muß in dem Tone, mit dem Gestus der väterlichen Warnung, an und gegen den Clint gesprochen wer­ den, weil Clint es ist, dessen uncrsahrne leicht­ gläubige Jugend bey dem sorgsamen Men diese Betrachtung veranlaßt. Die Zeile hingegen: „Das Alter quält sich selbst, weil eä zu wenig hofft,"

erfordert den Ton, das Achselzucken, mit dem wir unsere eigenen Schwachheiten zu gestehen C 3

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pflege», und die Hände müssen sich nothwendig gegen die Brust ziehen, um zu bemerken, daß Evander diesen Satz aus eigener Erfahrung habe, daß er selbst der Alte sey, von dem er gelte. —

Es ist Zeit, daß ich von dieser Ausschweifung über den Vortrag der moralische» Stelle» wieder -urückkomme. Was man Lehrreiche- darin findet, hat man lediglich den Beyspielen des Hrn. Eckhof zu danke»; ich habe nichts als von ihnen richtig zu abstrahire» gesucht. Wie leicht, wie angenehm ist es, einem Künstler nachzusorsche», dem bas Gute nicht bloß gelingt, sondern der «- macht! Die Rolle der Clorinde ward von Madame Hensel gespielt, die unstreitig eine von de« besten Aktrice» ist, welche das deutsche Theater jemals gehabt hat. Ihr besondrer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; eiu falscher Accent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiß den verworrenste», holprichsten, dunkelsten Vers, mit einer Leichtigkeit, mit einer Präcision zu sagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichste Erklärung, de» vollständige stcn Kommentar erhält. Sie verbindet damit nicht selten ein Raffinement, welches entweder von einer sehr glücklichen Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurtheilung zeugt. Ich glaube die Lie
** rgQgMM....,.,.,,. , , ,» Verwandtschaft darin ru erkennen. Sie beweisen rugleich, daß e< an Originalnarren bey uns gar nicht mangelt, und daß nur die Augen ein wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte teigen. Unsre Thorheiten sind bemerkbarer, al» bemerkt; im gemeinen Leben sehen wir über viele au» Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich unsre Virtuosen an eine allzuflache Manier gewöhnt. Eie machen sie ähnlich, aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand nicht vortheilhast genug zu beleuchten gewußt, so mangelt dem Bilde die Rune düng, da- Körperliche; wir sehen immer nur Eine Seite, an der wir uns bald satt gesehn, und deren allzuschneidende Außenlinien im» gleich an die Täu­ schung erinnern, wenn wir in Gedanke» um die übrigen Seiten herumgehen wolle». Die Narre» find in der ganzen Welt platt und frostig und ekel; wenn sie belustigen sollen, muß ihnen der Dichter etwas von dem ©einige» geben. Er muß sie nicht in ihrer Alltagskleidung, in der schmutzigen Nachläs­ sigkeit, auf da- Theater bringe», in der sie inner­ halb ihrer vier Pfähle herumträumen. Sie müsse» nichts een der engen Sphäre kümmerlicher Um­ stände verrathen, au« der sich ein feder gern her, ausarbeiten will. Er muß sie aufputzen; er muß ihnen Witz und Verstand leihe», da« Armselige

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ihrer Thorheiten bemänteln zu können; er muß ih­ nen den Ehrgeiz geben, damit glänzen zu wollen.

Ich weiß gar nicht, sagte ein« von meinen Bekanntinne», was das für ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan, und diese Frau Stephan! Herr Stephan ist ein reicher Man», und ein gu­ ter Man». Gleichwohl muß seine geliebte Frau Stephan um eine lumpige Adrienne so viel Um­ stände machen! Wir sind freylich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar großes Nicht« n cht. Eine neue Adrienne! Kann sic nicht hinschicken, und ausnehmen lassen, und machen lassen? D r Mann wird ja wohl bezahlen; er muß ja wohl. Ganz gewiß! sagte eine andre. Aber ich habe »och etwas zu erinnern. Der Dichter schrieb zu de» Zeiten unsrer Mütter. Eine Adrienne! Wel­ che Schneidersfcau trägt denn «och eine Adrien­ ne? Es ist nicht erlaubt, daß die Aktrice hier dem guten Mann« nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie nicht Noberonde, Benediktine, Respektueuse, (ich habe die andern Namen vergesse», ich würde sie auch »icht zu schreiben wissen) — dafür sage»? Mich in einer Adrienne zu denke»; das allein könnte mich krank machen. Wen» es der neuest? .Stoff ist, wonach Madame Stephan

Erster Theil.

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lechzt, so muß es auch die neueste Tracht seyn. Wie können wir es sonst wahrscheinlich finde», daß sie darüber krank geworden? Und ich, sagte eine dritte, (es war die gelehrteste) finde es sehr unanständig, daß die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht, auf ihren Leib gemacht worden. Aber man sieht wohl, was de» Verfasser i» dieser — wie soll ich es nennen? — Werkennung unsrer Delikatesse gezwungen hat. Die Ein­ heit der Zeit! Das Kleid musste fertig seyn; die Stephan sollte es »och anziehe»; und in vier und lwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid fer­ tig. Ja er durste sich nicht einmal zu einem kteinenNachspiele vier und zwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Aristoteles sagt Hier ward meine Kunstrichterin unterbrochen. Den neun und zwanzigsten Abend (Mittwochs, den gteii Junius) ward, nach der Melanide des de la Chaussee, der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann, gespielt. Der Verfasser diese- Stücks ist Herr Hippel, in Danzig. ES ist reich an drolligten Einfällen; nur Schade, daß ein jeder, sobald er den Titel hört,' alle biese Einfälle voraussieht. National ist e- auch genug; oder vielmehr provinzial. Und dieses konnte leicht das andre Extrem werden, in das unsre komischen Dichter verfielen, wenn

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sie wahre Deutsche Sitten schildern wollten. Ich fürchte, daß jeder die armseligen Gewohnheiten des Winkels, in dem er geboren worden, für die eigentlichen Sitten des gemeinschaftlichen Vater­ landes halte» dürfte. Wem aber liegt daran, |u erfahre», wie vielmal im Jahre man da oder dort grünen Kohl ißt? Ein Lustspiel kann einen doppelten Titel ha­ be«; doch versteht sich, daß jeder etwa- ander« sa­ gen muß. Hier ist dar nicht; der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann, sagen riemlich das nehmliche; außer da- -a- erste ungefähr die Karrikatur von dem andern ist. Den dreyßigsten Abend (Donnerstag-, den 4ten Innins) ward der Gras von Essex, von ThomaCorneille, aufgesührt. Diese« Trauerspiel ist fast da« einzige, welche« sich au- der beträchtlichen Anzahl der Stücke dejünger» Corneille, auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, ei wird auf de» deutschen Bühne» »och öfter wiederholt, al« auf den französischen. Ls ist vom Jahre 1678, nachdem vierzig Jahre vorher bereit- Calprenede die nehmliche Geschichte bearbeitet hatte. „LS ist gewiß, schreibt Corneille, daß der Gras yo» Essex bey -er Königin Elisabeth in besondern

Erster Theis. »■........

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Gnaden gestanden. Er war von Natur sehr fielt. Die Dienste, die er England geleistet hatte, blie­ sen ihn noch mehr auf. Seine Feinde beschuldig« ten ihn eines Verständnisses mit dem Grafen von Throne, den die Rebellen in Irland tu ihrem Haupte erwählt hatten. Der Verdacht, der die« serwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kom­ mando der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte da- Volk auf, ward in Verhaft gezogen, verurtheilt, und nachdem er durch«»« nicht um Gnade bitte» wollen, de» -rsteu Februar 1601 enthauptet. So viel hat mir die Historie a« die Hand gegeben. Wen» man mir aber zur Last legt, daß ich sie in einem wichtige» Stücke ver, fälscht hätte, weil ich mich de« Vorfalls mit dem Ringe nicht bedient, den die Königin dem Grafe» zum Unterpfande ihrer unfehlbare» Begnadigung, falls er sich jemals eine- Staatsverbrechens schul, dig machen sollte, gegeben habe; so muß mich die, s«S sehr befremden. Ich bin versichert, daß dieser Ring eine Erfindung deS Calprenede ist; wenigstens habe ich in keinem Geschichtschreiber da« geringste davon gelesen. “ Allerdings stand e« Corneille» frey, diese» Umstand mit dem Ringe zu nutzen, oder nicht tu nutze»; aber darin ging er zu weit, daß er ihn für eine poetische Erfindung erklärte. Sein« historische

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Richtigkeit ist neuerlich fast außer Zweifel gesetzt worden; und die bedächtlichsten, skeptischsten Ge­ schichtschreiber, Humo und Robertson, haben ihn in ihre Werke auftensmme«. Wenn Robertson in seiner Geschichte von Schottland von der Schwsrmukh redet, in welche Elisabeth vor ihrem Tode verfiel, so sagt er: „Die gemeinste Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrscheinlichste, war diese, daß die­ ses Uebel aus einer betrübten Reue wegen des Graft» von Essex entstanden sey. Sie hatte eine gant außerordentliche Achtung für das Andenken dieses unglückliche» Herrn; und wiewohl sie ost über seine Hartnäckigkeit klagte, so nannte sie doch seine» Namen selten ohne Thränen. Knrr vor­ her hatte sich ei» Vorfall rugetrageff, der ihre Neigung mit neuer Zärtlichkeit belebte, und ihre Betrübniß noch mehr vergällte. Die Gräfin von Nottingham, die auf ihrem Lodbette lag, wünschte die Königin zu sehen, und ihr ein Geheimniß zu offenbaren, dessen Verhehlung sie nicht ruhig würde sterbe« lassen. Wie die Königin in ihr Zimmer kam, sagte ihr die Gräfin: Essex habe, nachdem ihm da- Todesurtheil gesprochen worden, gewünscht, die Königin um Vergebung $u bitte», und zwar auf die Art, die Jhro Majestät ihm ehemals selbst vorgeschrieben. Er habe ihr nemlich den

den Ring zu schicken wollen, den sie ihm, zur Zeit der Huld, mit der Versicherung geschenkt, daß, wenn er ihr denselben, bey einem etwanigen Nnglücke, als ein Zeichen senden würde, er sich ihrer »illigr» Gnade wieder versichert halten sollte, La» dy Scroop sey die Person, durch welche er ihn habe üderftnden wollen; durch «in Versehe» aber sey er nicht in der Lady Scroop, sondern in ihre Hände gerathen. Sie habe ihrem Gemahl die Sa­ che erzählt, (er war einer von den unversöhnlichsten Feinden bet Essex;) und der habe ihr verboten, den Ring weder der Königin zu geben, »och dem Grasen zurück zu senden. Wie die Grast» der Kö­ nigin ihr Geheimniß entdeckt hatte, bat sie die­ selbe um Vergebung; allein Elisabeth, die nunmehr sowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigne Ungerechtigkeit einsah, daß sie ihn im Verdacht eines unbändigen Eigensinnes gehabt, antwortete: „Gott mag Euch vergeben; ich kann es nimmermehr!" Sie verließ da« Zimmer in gro­ ßer Entsetzung, und von dem Augenblicke an san­ ken ihre Lebensgeister gänzlich. Sie »ahm weder Speis« noch Trank zu sich; sie verweigerte sich alle Arzneyen; sie kam in kein Bett; sie blieb zehn Tage und zehn .Nächte aus einem Polster, ohne rin Wort zu sprechen, in Gedanken sitzen; eine» Finger im Munde, mit offene», aus die Erde g» Dramarurgie. it Et).

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schlagnen Auge»; bi« fl« endlich/ »en innerlicher Ängst der Seele und von so langem Fasten ganz entkräftet/ den Geist aufgab. “

*= XXIII. Den i7ten Julius, 1767. Der Herr von Voltaire hat den Essex auf eine sonderbare Weise kritisirt Ich möchte nicht gegen ihn behaupten, daß Essex ein vorzüglich gute« Stück sey; aber da« ist leicht zu erweisen, daß viele von den Fehlern, die er daran tadelt, theils sich nicht darin finden, theil« unerhebliche Kleinigkei­ ten sind, die seiner Seit« eben nicht den richtigsten und würdigsten Begriff von der Tragödie voraussetzen. Es gehört mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, daß er ein sehr profunder Historiker seyn will. Er schwang sich also auch bey dem Essex auf dieses sein Streitroß, und tum­ melte et gewaltig herum. Schade nur, daß alle dir Thaten, die er darauf »errichtet, de- Staubes nicht werth sind, den er erregt. Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewußt; und tum Glück für

Erster Theil. ch i.

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de» Dichter, war das damalige Publikum noch unx wissender. Jetzt, sagt er, kenne» wir die Königin Elisabeth und de» Grasen Essex besser; jetzt würden einem Dichter dergleichen grobe Verstoßungen wider die historische Wahrheit schärfer aufgemutzt werden. Und welches sind denn diese Verstoßungen? Voltaire hat au-gerechnet, daß die Königin da­ mals, als sie dem Grafe« den Prozeß machen ließ, acht und sechzig Jahre alt war. CS wäre also lä­ cherlich, sagt er, wenn man sich einbilden wollte, daß die Liebe de» geringsten Antheil an dieser Be­ gebenheit könne gehabt habe».' Warum das? Ge­ schieht nichts Lächerliche- in der Welt? Sich et­ wa- Lächerliche- als geschehen denken, ist da- so lächerlich? „Nachdem da- Urtheil über den Essex abgegeben «ar, sagt Hume, fand sich die Königin in der äussersten Unruhe und in der grausamsten Ungewißheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleide», Sorge für ihre eigne Sicherheit, und Bekümmerniß um das Lebe« ihres Lieblings, strit­ ten unaufhörlich in ihr: und vielleicht, daß sie in diesem quälende» Zustande mehr zu beklage» war, als Essex selbst. Sie unter, zeichnete und widerrief de» Befehl zu seiner Hinrichtung einmal über da- andre: jetzt war sie fest entschlossen, ihn dem Tode zu überliefern; SR-1

Igo Hamburgische Dramaturgie.

leit Augenblick darauf erwachte ihre Zärtlichkeit auf- neue, und er sollte leben. Die Feind« des Grafen ließen sie nicht aus den Augen; sie stellten ihr vor, daß er selbst den Lod wünsche, daß er selbst erklärt habe, wie sie doch anders keine Ru­ he vor ihm haben würde. Wahrscheinlicher Wei­ se that diese Aeußerung von Reue und Achtung für die Sicherheit der Königin, die der Graf so­ nach lieber durch seinen Lod befestigen wollte, eine ganr andre Wirkung, als sich seine Feinde davon versprochen halten. Sie fachte das Feuer einer alten Leidenschaft, die sie so lange für den un­ glücklichen Gefangnen genährt hatte, wieder an. Wat aber dennoch ihr Herr gegen ihn verhärtete, war die vermeintliche Halsstarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten. Sie versah sich die­ ses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus Verdruß, daß er nicht erfolgen wollte, liöß sie dem Rechte endlich seine» Lauf." Warum sollt« Elisabeth nicht noch in ihrem acht und sechzigsten Jahre geliebt haben, sie, die sich so gern lieben ließ? sie, der es so sehr schmei­ chelte, wenn man ihre Schönheit rühmte? sie, die t< so wohl aufnahm, wenn man ihre Kette r« tragen schien? Die Welt muß in diesem Stücke keine eitlere Frau jemals gesehn haben. Ihre Höflinge stellten sich daher alle in sie verliebt, imd

Erster Theil. .>

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iebienteit sich gegen Ihrs Majestät, mit allem Anscheine deS Ernstes, des StylS der lächerlichste« Galanterie Als Raleigh in Ungnade fiel, schrieb er an seinen Freund Cecil einen Brief, ohne Zwei» sel, damit er ihn weifen sollte, in welchem ihm die Königin eine Venus, eine Diane, und ich weiß nicht was, war. Gleichwohl war diese Göttin d«, mal» schvw sechzig Jahre alt. Fünf Jahre darauf führte Heinrich Unton, ihr Abgesandter in Frank­ reich, die nehmliche Sprache mit ihr. Kur«,' Cor, neille ist hinlänglich berechtigt gewesen, ihr alle die verliebten Schwachheiten beyzulege», durch die er das zärtliche Weib mit der stottert Königin in «inen so interessanten Streit bringt. Eben so wenig hat er den Charakter des Essex verstellt oder verfälscht. Essex, sagt Voltaire, war der Held gar nicht, zu dem ihn Corneille macht: er hat nie etwas Merkwürdiges gethan. Aber, wenn er e< nicht war, so glaubte er es doch zu seyn. Die Vernichtung der spanischen Flotte, die Eroberung von Cadix, an der ihm Voltaire wenig oder gar keinen Theil läßt, hielt er so sehr für sein Werk, daß er e» durchaus nicht leiden wollte, wenn sich jemand die geringste Ehre davon aNmaaß, te. Er erbot sich, eS mit dem Degen in der Hand gegen den Grafen von Notthingham, unter dem er kommandirt hatte, gegen seinen Sohn, gegen M 3

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jede» von seinen Anverwandte», ju beweisen, daß fir ihn» allein zugehire. Corneille läßt den Grafen von seinen Feinden, namentlich von Raleigh, von Cecil, von Cobhan, sehr verächtlich spreche». Auch da- will Voltaire nicht gut heiße». ES ist nicht erlaubt, sagt er, eine so neue Geschichte so gröblich tu verfälschen, «nd Männer von so vornehmer Geburt, von so große» Verdienste«, so unwürdig zu mißhandeln. Aber hier kommt es ja gar nicht darauf an, was diese Männer waren, sondern wofür sie Essex hielt; und Essex war aus seine eignen Verdienste stolt gee mifl, um ihnen ganz und -ar kein« einzuräume». Wenn Corneille den Essex sage» laßt, daß es nur an seinem Wille» gemangelt, den Thron selbst zu besteigen, so läßt er ihn freylich etwas sagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire hätte darum doch nicht ausrufe» müssen: „Wie? Essex auf dem Throne? mit was für Recht? unter was für Vorwande? wie wäre bas möglich gewesen?" Den» Voltaire hätte sich erinnern solle», baß Essex von mütterlicher Seit« au- dem königliche» Hause abstammte, und daß e« wirklich Anhänger von ihm gegeben, di« und«, sonnen genug waren, ihn mit unter diejeni-en zu zählen, bi« Ansprüche auf dir Kron« machen könn« ten. «l« «r daher mit dem König« Jakob von

Erster Theil. *

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Schottland in geheime Unterhandlungen trat, ließ er es das erste seyn, ihn zu versichern, daß er selbst dergleichen ehrgeijige Gedanke» nie gehabt habe. Was er hier von sich ablehnte, ist nicht viel we# Niger, als was ihn Corneille voraussitzen laßt. Indem also Voltaire durch das gant« Stück nicht- als historische Unrichtigkeiten findet, begeht er selbst nicht geringe. Ueber eine hat sich Wal» pole') schon lustig gemacht. Wenn nehmlich Bol, tairr die erstern Liebling, der Königin Elisabeth nennen will, so nennt er den Robert Dudley «nd den Grafen von Leicester. Er wußte nicht, daß beyde nur eine Person waren, und daß man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den Kammerberrn von Voltaire tu zwey verschiednen Personen machen könnte. Eben so unverzeihlich ist das Hysteronproteron, in welches er mit der Ohr, feige verfällt, die die Königin dem Essex gab. Es ist falsch, daß er sie nach seiner unglückliche» Ex, pedition in Irland bekam; er hatte sie lange vor, her bekommen; und es ist so wenig wahr, daß er damals den Zorn der Königin durch die geringste Erniedrigung r» besänftigen gesucht, daß er viel, mehr auf die lebhafteste und edelste Art mündlich M 4

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and schriftlich seine Empfindlichkeit darüber auSließ. Er that zu seiner Begnadigung auch nicht wieder den ersten Schritt; die Königin mußte ihn thun. Aber was geht mich hier die historische Un­ wissenheit des Herrn von Voltaire an? Eben so wenig als ihn die historische Unwissenheit des Cor­ neille hätte angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur dieser gegen ibn annehmen. Die ganze Tragödie des Corneille sey ein Ro­ man: wenn er rührend ist, wird er dadurch weni­ ger rührend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedient hat? Weswegen wählt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil Cha­ raktere, welche ihnen die'Geschichte beylegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu zeigen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit ha­ ben? Ich rede nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der gewöhnlichen Praxis der Dichter übereinstimmender auSzudrücken: sind eS die hloßen Fakta, die Um­ stände der Zeit und des Orrs, oder sind e- die Charaktere der Personen, durch welche die Fakta wirklich geworden, warum der Dichter lieber diese

Erster Theil,

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als eine andre Begebenheit wählt? Wenn es die Charaktere sind/ so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der Dichter von der historischen Wahr, heit abgehen könne. In allem, was die Charak, tere nicht betrifft, so weit «r will. Nur die Cha, raktere sind ihm heilig; diese ;u verstärken, diese in ihrem besten Lichte zu zeige», ist alles, was er von dem Eeinigen dabey hinzuthu» darf; die ge, ringste wesentliche Veränderung würde die Ursache aufheben, warum sie diese und nicht andre Na, men führen; und nichts ist anstößiger, als wovon wir uns keine Ursache angeben können. ■fr;

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XXIV. Dr» Listen Julius, 1767. Wenn der Charakter der Elisabeth des Corneille das poetische Ideal von dem wahren Charakter ist, den die Geschichte der Königin dieses Namens bey, legt; wenn wir in ihr die Unschlüssigkeit, die Widersprüche, die Beängstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und zärtliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bey diesen und jenen Umständen wirklich verfallest M 5

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iß, sondern auch nur verfallen zu können vermu­ the» lassen, mit wahre» Farbe» geschildert finde»; so hat der Dichter alle« gethan, wa« ihm al« Dich­ ter i» thun obliegt. Sein Werk, mit der Chro­ nologie in der Hand, untersuchen; ih« vor de» Richter-uhl der Geschichte führen, um ihn da je­ de« Datum, jede beyläufig« Erwähnung, auch wohl solcher Personen, über welche die Geschichte selbst r» Zweifel ist, mit Zeugnisse» belegen r» lassen: heißt ihn und seinen Beruf verkenne», heißt von dem, dem man diese Verkennung nicht rutraue» kann, mit einem Worte, chikaniren. Zwar bey dem Herrn von Voltaire könnte t« leicht weder Verkennung »och Chikan« sey». Den» Voltaire ist selbst ei« tragischer Dichter, und un­ streitig ein weit größerer, al« der jüngre Corneille. E< wäre den», daß man ein Meister in einer Kunst seyn, und doch salche Begriffe von der Kunst ha­ be» könnte. Und wa- die Chikane anbelangt, die ist, wie die ganze Welt weiß, sein Werk nun gar nicht. Wa- ibr in seinen Schriften hier und da ähnlich sieht, ist nicht« al« Laune; au« bloßer Lau­ ne spielt er dann und wann ddr in Poetik den Hi­ storiker, i» der Historie de» Philosophen, und i» der Philosophie den witzigen Kopf. Sollte er umsonst wisse«, deß Elisabeth acht und sechzig Jahr« alt war, da sie den Grafen köpfe»

Erster Theil.

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lieg’ Im acht und sechrigste» Jahre noch verliebt, noch eifersüchtig! Die große Nase der Elisabeth da«u genommen, was für lustige Einfälle muß das geben! Freylich stehe» diese lustigen Einfälle in dem Kommentar über eine Tragödie; also da, roe sie nicht hingehören. Der Dichter hätte Recht, ;n seinem Kommentator ;u sagen: Mein Herr No, tenmacher, diese Schwänke gehöre» in Eure all-e« meine Geschichte, nicht unter meinen Text. Denn es ist falsch, daß meine Elisabeth acht und sechzig Jahre alt ist. Weiset mir doch, wo ich das sage. Was ist in meinem Stücke, das Euch hinderte, sie nicht ungefähr mit Esser von gleichem Alter anzunehmen? Ihr sagt: sie war aber nicht von gleichem Alter. Welche Sie? Eure Elisabeth im Rapin de Lhoyras; das kann sey». Aber warum habt ihr den Rapin de Thoyras gelesen? Warum seyd ihr so gelehrt? Warum vermengt ihr diese Elisabeth mit meiner? Glaubt ihr im Ernst, baß die Erinnerung bey dem und jenem Zuschauer, der den Rapin de Lhoyra» auch einmal gelesen hat, lebhafter seyn werde, alt der sinnliche Eindruck, den eine wohlgebildete Aktrice in ihren beste» Iah, re» aus ihn macht? Er sieht ja meine Elisabeth; und seine eignen Augen überteugen ihn, daß es nicht eure achtr-gjährige Elisabeth ist. Oder wird

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er dem Rapin de Thoyrar mehr glauben, als fei# «en eignen Augen? “ — So ungefähr könnte sich auch bet Dichter über die Rolle de« Essex erklären. „Euer Essex im Ra# pin de Thoyras, könnte er sagen, ist nur der Em# dry» von dem meinigen. Was sich jener ru seyn dünkte, ist meiner wirklich. WaS jener, unter glücklichern Umständen, für die Königin vielleicht gethan hätte, hat meiner gethan. Ihr hört ja, daß es ihm die Königin selbst rugesteht; wollt ihr meiner Königin nicht eben so viel glauben, als dem Rapin de Thoyras r Mei» Essex ist ein verdien# ter und großer, aber stolzer und unbiegsamer Mann. Eurer war in der That weder so groß, noch so unbiegsam: desto schlimmer für ihn. Genug sür mich, daß er doch immer noch groß und unbiegsam genug war, um «einem von ihm abgezognen Be# griffe seine» Namen zu lassen." Kur«: die Tragödie ist keine dialogirte @e# schichte; die Geschichte ist sür die Tragödie nicht-, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind. Findet der Dichter in der Geschichte mehrere Um# stände zur Ausschmückung und Jndividualisicung feinet Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur daß man ihm hieraus eben so wenig ein Der#

Erster Theil. .............. 2,'."/.

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dienst, al- aus Dem Gegentheil ein Verbrechen mache! Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr bereit, das übrige Urtheil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben. Essex ist ein mittelmastige- Stück, sowohl in Ansehung der Intrigue, al- de- Styl-, Den Grafen zu eh »em seufzenden Liebhaber einer Jrtv» zu machen; ihn mehr au-Verzweiflung, daß er der Ihrige nicht seyn kaun, al- au- edelmüthigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigungen undBitlen herab zu lassen, auf das Echaffott zu führen: da« war der unglücklich­ ste Einfall, den Thoma- nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl haben mußte. Der Styl ist in der Grundsprache schwach; in der Ueber» setzung ist er oft kriechend geworden. Aber über» Haupt ist da- Stück nicht ohne Interesse, und hat hier und da glückliche Verse; die aber im Franzi, fischen glücklicher sind, als im Deutschen. „Die Schauspieler, setzt Herr von Voltaire hinzu, besonder« die in der Provinz spielen die Rolle des Effex gar zu gern, weil sie in einem gestickten Ban» de unter dem Knie, und mit einem großen blaue» Bande über die Schulter darin erscheinen können. Der Graf ist ein Held von der ersten Klasse, de» der Neid verfolgt: dat macht Eindruck. Uebri» gen« ist die Zahl der guten Tragödie» bey allen

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Stationen in der Welt so klein, daß die, welche nicht ganr schlecht find, noch immer Zuschauer au sich ziehen, wenn sie von guten Akteur- nur auf' gestutzt werden." Er bestätigt dieses allgemeine Urtheil durch verschicdne allgemeine Anmerkungen, die eben so richtig, als scharfsinnig sind, und deren man sich vielleicht, bey einer wiederholten Vorstellung, mit Vergnügen erinnern dürste. Ich theile die vor­ züglichsten also hier mit; in der festen Ueberzeugung, da- die Kritik dem Genusse nicht schadet, und daß diejenigen, welche ein Stück am schärfesten zu beurtheilen gelernt haben, immer diejenigen sind, welche das Theater am fleißigsten be­ suchen. „Die Rolle de- Cecils ist eine Nebenrolle, und eine sehr frostige Nebenrolle.. Solche kriechen­ de Schmeichler zu malen, muß man die Farben in seiner Gewalt haben, mit welchen Racine den Narcissu- geschildert hat.« „Die vorgebliche Herzogin von Irtou ist eine vernünftige tugendhafte Frau, die sich durch ihre stiebe zu dem Grafen weder die Ungnade der Eli­ sabeth zuzieheu, noch ihren Liebhaber heyratheu wollen. Dieser Charakter würde sehr sch in seyn, wenn er mehr Leben hätte, und wenn er zur Ver­ wickelung etwa« beytrüge; aber hier vertritt sie

Erster Theil.

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bloß die Stelle eine» Freunde». Da» ist für ba» Lheater nicht hinlänglich.'' „Mich dünkt, daß alle», wa« die Personen in dieser Tragödie sagen und thun, immer »och sehr spielend, verwirrt und unbestimmt ist. Die Hand­ lung muß deutlich, der Knoten verständlich, und jede Gesinnung plan und natürlich seyn: da» sind die erste», wesentlia, ste» Regeln. Aber wa- will Essex? Wa» will Elisabeth? Worin besteht da« Verbrechen de» Grasen? Ist er schuldig, oder ist er fälschlich angeklagt? Wenn ihn die Königin für unschuldig hält, so muß sie sich seiner anneymen. Ist «r aber schuldig: so ist e» sehr unver­ nünftig, die Vertraute sagen zu lassen, daß er nim­ mermehr «m Gnade bitten werde, daß er viel zu stolz dazu sey. Dieser Stolz schickt sich sehr wohl für einen tugendhaften unschuldigen Helden, aber für keinen Mann, der de» Hochverrarh» überwie­ sen ist. Er soll sich unterwerfen, sagt die Köni­ gin. Ist da- wohl die eigentliche Gesinnung, die sie haben muß, wen» sie ihn liebt? Wenn er sich nun unterworfen, wenn er nun ihre Verzeihun­ angenommen hat, wird Elisabeth darum von ihm mehr geliebt, al» zuvor? Ich liebe ibn hundert­ mal mehr, al» mich selbst; sagt die Königin. Ah, Madame; wenn e« so weit mit Ihnen gekommen ist; wen» Ihre Leidenschaft so heftig geworben; so

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Untersuche» Sie doch die Beschuldigungen Ihre« Geliebte» selbst, «nd verstatten nicht, daß ihn sei­ ne Feinde Unter Ihrem Namen so verfolgen und unterdrücken, Mir ei durch das ganje Stück, ob­ wohl ganz ohne Grund, heißt." „Auch aus -em Freunde des Grafen, dem Sa­ lisbury, kann Man nicht klug werden, ob er ihn für schuldig oder für unschuldig hält. Er stellt der Königin vor, daß der Anschein öfters betrüge, daß Man alles von der Partbeylichkeit und Unge­ rechtigkeit seiner Richter zu besorgen habe. Gleich­ wohl nimmt er seine Zuflucht zur Gnade -er Kö­ nigin. Was hatte er dies nöthig, wenn er sei­ nen Freund nicht strafbar glaubte? Aber was soll -er Zuschauer glaube»? Der weiß eben so wenig, woran er mit der Verschwörung des Grafen, als woran er mit der Zärtlichkeit der Königin gegen ihn ist." ..Salisbury sagt der Königin, daß man die Unterschrift des Grafe» nachgemacht habe. . Aber die Königin läßt sich im geringsten nicht einfalle«, eine» so wichtigen Umstand näher zu untersuchen. Gleichwohl war sie als Königin und als Geliebte dazu verbunden. Sie antwortet nicht einmal auf diese Eröffnung, die sie doch begierigst hätte ergrei­ fen müsse». Sie erwiedert bloß mit andern Wor­ te»

^Erster Theil.

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ton, da- der Graf allzu stolz- sey/ und daß sie durchaus wolle, er solle um Gnade bitten." „Aber warum Milte er um Gnade bitten, wenn seine UUterschu.t nachgemacht war?" * —------- --

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Den 24sten Julius, 1767. „§ssex selbst betheuert seine Unschuld; aber nw rum wrll er lieber sterben, als die Königin davon überzeugen? Seine Feinde haben ihn verläumdet; er kann sie mit einem einzigen Worte zu Boden schlagen; und er thut es nicht. Ist das dem Charatter eines so stolzen Mannes gemäß? Soll er aus Lü'be zur Jtton so widersinnig handeln; so hätte ibn der Dichter durch das ganze Stück von seiner Leidenschaft mehr bemeistert zeigen müssen. Die Heftigkeit des Affekts kann alles entschuldi­ gen; aber in dieser Heftigkeit sehen wir ihn nicht." „Der Stolz der Königin streitet unaufhörlich mit dem Stolze des Essex; ein solcher Streit kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieser Stolz sie handeln last, so ist er bey der Elisabeth sowohl, als bey dem Grafen, bloßer Eigensinn. Er soll Dramaturgie.,^ Ty. N

194 Hamburgische Dramaturgie.

mich um Gnade bitten; ich will sie nicht um Gna­ de bitten: daS ist die ewige Leyer. Der Zuschauer muß vergessen, daß Elisabeth entweder sehr abge­ schmackt, oder sehr ungerecht ist, wenn sie verlangt, daß der Graf sich ein Verbrechen soll vergeben lassen, welche- er nicht begangen, oder sie nicht untersucht hat. Er muß es vergessen, und er ver­ gißt e- wirklich, um sich bloß mit den Gesinnun, gen des Stolzes zu beschäftigen, der dem mensch­ lichen Herzen so schmeichelhaft ist." „Mit Einem Worte: keine einzige Rolle diese« Lrauerspiels ist, was sie seyn sollte; alle sind ver­ fehlt; und gleichwohl hat es gefalle». Woher diese- Gefallen? Offenbar au- der Situation der Personen, die für sich selbst rührend ist. — Ein großer Mann, den man auf das Schaffst führt, wird immer interessiren; die Vorstellung seines Schicksal- macht, auch ohne alle Hülse der Poesie, Eindruck; ungefähr eben den Eindruck, de» die Wirklichkeit selbst machen würde." So viel liegt für den tragischen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch diese allein, könne» die schwächsten, verwirrtesten Stück« eine Art von Glück mache»; und ich weiß nicht, wie eS kommt, daß es immer solche Stücke sind, in welchen sich gute Akteurs am vortheilhasteste» zeigen. Selten wird ein Meisterstück so meisterhaft vorgestellt, als

Erster Theil.

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es geschrieben ist; da- Mittelmatige fahrt mit ihnen immer besser. Vielleicht, weil sie in dem Mittelmäßigen mehr von dem Ihrigen hinzuthun können; vielleicht, weil uns das Mittelmäßige mehr Zeit und Ruhe laßt, auf ihr Spiel aufmerk/ sam zu seyn; vielleicht, weil in dem Mittelmäßi­ gen alle- nur auf einer oder zwey hervorstechenden Personen beruht, anstatt daß in einem vollkommeuern Stücke öfters eine jede Person ein Hauptak­ teur seyn müßte, und wenn sie eS nichr ist, indem sie ihre Rolle verhunzt, rugleich auch die übrigen verderben Hilst. Beym Essex können alle diese und mehrere Ur­ sachen zusammen kommen. Weder der Graf noch die Königin sind von dem Dichter mit der Stärke geschildert, daß sie durch die Aktion nicht noch weit stärker werden könnten. Essex spricht so fiolr nicht, daß ihn der Schauspieler nicht in jeder Stellung, in jeder Geberde, in jeder Miene, noch stolzer zeigen könnte. Es ist sogar dem Stolze we­ sentlich, daß er sich weniger durch Worte, als durch das übrige Betragen, äußert. Seine Worte sind öfters bescheiden, und es läßt sich nur sehen, nicht bören, daß es eine stolze Bescheidenheit istDiese Rolle muß also nothwendig in der Vorstel­ lung gewinnen. Auch die Nebenrollen können kei­ nen üblen Einfluß auf ihn haben; je subalterner N 2

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Cecil und Salisbury gespielt werden, desto mehr ragt Essex hervor. Ich darf es also nicht erst lan­ ge sagen, wie vortrefflich ein Cckhoff das machen must, was auch der gleichgültigste Akteur nicht ganz verderbe» kann. Mit der Rolle der Elisabeth ist es nicht völlig so; aber doch kann sie auch schwerlich ganz ver­ unglücken. Elisabeth ist so zärtlich, als stolz: ich glaube es ganz gern, daß ein weivlich-s Herz bey­ des zugleich seyn kann; aber wie eine Aktrice bey­ des gleich gut vorstelle» könne, das begreife ich «icht recht. In der Natur selbst trauen wir einer stolzen Frau nicht viel Zärtlichkeit, und einer zärt­ lichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen es ihr »icht zu, sage ich: denn bk« Kennzeichen des ei­ nen widersprechen den Kennzeichen des audern. ES ist ein Wunder, wenn ihr beyde gleich geläu­ fig find; hat sie aber nur die einen vorzüglich in ihrer Gewalt, so kann sie die Leidenschaft, die sich durch die andern auödrückt, zwar empfinde», aber schwerlich werden wir ihr glauben, daß sie dieselbe so lebhaft empfindet, als sie sagt. Wie kann eine Aktrice nun weiter geh», als die Na­ tur? Ist sie von einem majestätischen Wüchse, tont ihre Stimme voller und männlicher, ist ihr Blick dreist, ist ihre Bewegung schnell und herz­ haft: so «erden ihr die stolze» Stellen vor-

Erster Theil.

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trefflich gelingen; aber wie steht es mit de» zärt, lieben ? Ist ihre Figur hingegen weniger imponi, rend; herrscht in ihren Mienen Sanftmuth, in ih, ren Ange» ein bescheidenes Feuer, in ihrer ©tim# me mehr Wohlklang, als Nachdruck; ist in ihrer Bewegung mehr Anstand und Würde, als Kraft und Geist: so wird sie den zärtliche» Stellen die völligste Genüge leisten; aber auch den stolzen? Sie wird sie nicht verderben, ganz gewiß nicht; sie wird sie noch genug absetze»; wir werden eine beleidigte zürnende Liebhaberin j» ihr erblicken; nur eine Elisabeth nicht, die Manns genug war, ihren General und Geliebten mit einer Ohrfeig« nach Hause zu schicke». Ich meine also, die Ak, tricen, welche die ganze doppelte Elisabeth uns gleich täuschend zu zeigen vermögend wäre», dürft teil noch seltener seyn, al- die Elisabeths selber; und wir können und müssen uns begnüge», wen» eine Hälfte nur recht gut gespielt, und die andere nicht ganz verwahrloset wird. Madame Löwen hat in der Rolle der Elisa, beth sehr gefallen; aber, jene allgemeine Anmer, kung nunmehr auf sie anzuwenden, uns mehr di« zärtliche Frau, als die stolze Monarchin, sehen und hören lassen. Ihre Bildung, ihre Stimme, ih, re bescheidne Aktion, ließen es nicht anders ep N;

198 Hamburgische Dramaturgie.

warten; und mich dünkt, unser Vergnügen hat da» bey nicht« verloren- Denn wenn nothwendig eine die andre verfinstert, wenn eS kaum ander« seyn kann, al« daß nicht die Königin unter der Liebha, derin, oder diese unter jener, leiden sollte: so glaube ich, ist e« zuträglicher, wenn eher etwa« von dem Stolze und der Königin, al« von der Liebhaberin und der Zärtlichkeit, verloren geht. E« ist nicht bloß eigensinniger Geschmack, wenn ich so urtheile; noch weniger ist e« meine Absicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu machen, die noch immer eine Meisterin in ihrer Kunst seyn würde, wenn ihr diese Rolle auch gar nicht gelungen wäre. Ich weiß einem Künstler, er sey von einem oder dem andern Ge­ schlechte , nur eine einzige Schmeichele» zu ma­ chen; und diese besteht darin: daß ich annehme, er sey von aller eitel« Empfindlichkeit entfernt, die Kunst gehe bey ihm über alle«, er höre gern frey und laut über sich urtheilen, und wolle sich lieber auch dann und wann falsch, als seltner be­ urtheilt wissen. Wer diese Schmeichele» nicht »ersteht, bey dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist es nicht werth, daß wir ihn studiren. Der wahre Virtuose glaubt e< nicht einmal, daß wir seine Vollkommenheit einsehen und empfinden, wenn wir auch noch so »iel Geschrey davon

Erster Theil.

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machen, ehe er nicht merkt, baß wir auch Auge» und Gefühl für seine Schwäche Haden. Tr spot/ tet bey sich über rede uneingeschränkte Bewunbe/ rung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von dem er weiß, daß er auch das Herr hat, ihn ru tadeln. Ich wollte sagen, baß sich Gründe anführeu lassen, warum es besser ist, wen« die Aktric« mehr die zärtliche, als die stolze Elisabeth aus/ drückt. Stolt muß sie seyn; das ist ausgemacht: und daß sie es ist,. das hären wir. Die Frag« ist nur, ob sie zärtlicher als stolz, oder stolzer als zärtlich scheinen soll; ob man, wenn man unter zwey Aktricen zu wählen hätte, lieber die zur Elisabeth nehme» sollte, welche die beleidigte KL» nigin, mit allem drohenden Ernste, mit alle» Schrecke» der rächerische» Majestät, auszudrücke» vermöchte, oder die, welcher die eifersüchtige Lieb/ baberin, mit allen kränkenden Empfindungen der verschmähte» Liebe, mit aller Bereitwilligkeit, dem theuern Frevler zu »ergeben, mit aller Beängsti/ gung über seine Hartnäckigkeit, mit allem Jammer über seinen Verlust, angemessener wäret Und ich sage: diese. Den» erstlich wird dadurch die Verdoppelung des »ehmliche» Charakter- vermiede». Essex ist stolz; und wen» Elisabeth auch stvlr sey» soll, so N4

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muß sie es wenigstens auf eine andre Art seyn. Wenn bey dem Grafen die Zärtlichkeit nicht an­ ders, a!s dem Stolze untergeordnet seyn kann, so muß bey der Königin die Zärtlichkeit den Stolz überwiegen, Menn der Graf sich eine höhere Miene giebt, als ihm zukcmmt; so muß die Kö­ nigin etwas weniger zu seyn scheinen, als sie ist. Beyde auf Stelzen, mit der Nase nur immer in der Lust einhertreten, beyde mit Verachtung aus alles, was um sie ist, herabblicken lassen, würde die ekelste Einförmigkeit seyn. Man muß nicht glauben können, daß Elisabeth, wenn sie an Essex Stelle wäre, eben so, wie Essex, handeln würde. Der Ausgang beweiset es, daß sie nachgeben, -er ist, als er; sie muß also auch gleich vom An, fange nicht so hoch daherfahren, als er. Wer sich durch äußere Macht empor zu halten vermag, braucht weniger Anstrengung, als der es durch eigne innere Kraft thun muß. Wir wissen darum doch, daß Elisabeth die Königin ist, wenn sich gleich Essex das königliche Ansehen giebt. ZwevtenS ist es in dem Trauerspiele schicklicher,

baß die Personen in ihren Gesinnungen steigen, als daß sie fallen- Es ist schicklicher, daß ein zärtlicher Charakter Augenblicke des Stolzes hat, als daß ein stolzer von der Zärtlichkeit sich sortreißen

Erster Theil.

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läßt. Sen« scheint, sich tu erheben; dieser, tu fluken. Eine ernsihaste Königin, mit gerunzelter Stirne, mit einem Blicke, der alles scheu und zit­ ternd macht, mit einem Tone der Grimme, der allein ihr Gehorsam verschaln könnte, wenn die zu verliebten Klagen gebracht wird, und nach den kleinen Bedürfnissen ihrer Leidenschaft seufzt, ist fast, fast lächerlich. Eine Geliebte hingegen, die ihre Eifersucht erinnert, daß sie Königin ist, erhebt sich über sich selbst, und ihre Schwachheit wird fürchterlich. ■■■■ ■■ XXVI. Den 28sten Julius, 1767.

©eu ein und dreißigsten Abend (Mittwochs, dcn ioteit Junius,) ward das Lustspiel der Madame Gottsched, die von den italiänischen Komödianten zu Paris, im December 1765. aufgeführt ward. Herr Löwen scheint nicht sowohl diese- Stück, als die Erzählung des Voltaire selbst, vor Augen gehabt P 2

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tu habe». W«»U man, bey Beurtheilung einer Bildsäule, mit auf de» Marmorblock tu sehen hat, «US welchem sie gemacht worden; wenn die pri, mitivr Form diese» Blocke» es tu entschuldigen vermag, daß diese» »der jener Glied zu kurz, diese oder jene Stellung tu gerwungen gerathen: so ist die Kritik auf einmal abgewiesc», die Herr» Löwen wegen der Einrichtung seine» Stück» in An, spruch nehmen wollte. Mache au» einem Hexen, mährchen etwa» Wahrscheinlicher», wer. da kann! Herr Löwen selbst giebt sein Räthsel für nichts ander», al» für eine kleine Plaisanterie, die auf dem Theater gefallen kann, wenn sie gut gespielt wird. Verwandlung und Tanz und Gesang konkur, riren tu dieser Absicht; und e» wäre bloßer Eigen, sinn, an Keinem Belieben zu finden. Die Laune de» Pedrillo ist zwar nicht original, aber doch gut getroffen. Nur dünkt mich, baß ein Wasserträger oder Stallmeister, der da» Abgeschmackte und Wahn­ sinnige der irrenden Ritterschaft einsieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen will, die sich auf die Wirklichkeit der Zauberey gründet, und ritterliche Abentheuer al» rühmliche Handlungen eine» »er, nünftigen und tapfern Manne» annimmt. Doch, wie gesagt, es ist eine Plaisanterie; und Plaisan­ terie» muß man nicht tergliedern wollen. Den fünf und dreyßigsten Abend (Mittwochs, den isten Julius) ward, in Gegenwart Sr. Königs.

Erster Theil.

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Majestät von Dännemark, die Rodogune des P«, ter Corneille aufgcführt. Corneille bekannte, daß er sich auf dkefe« Trauerfpiel das meiste einbilde, baß er e« weit über feine« Cinna und Cid setze, daß seine übrigen Stücke wenig Vorzüge hätten, die in diesem nicht vereint anzutreffen waren: ein glücklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, starke Verse, ei» gründ» liehe« Raisonnement, heftige keibenschasten, ei» vo» Akt iii Akt immer wachsende« Interesse. — E« ist billig, da- wir un« bey dem Meister, stücke diese« große» Mannes verweilen. Die Geschichte, auf die e« gebauet ist, erzählt Appiann« Alexandrinus, gegen da« Ende seine« Buch« von den syrischen Kriegen. „Demetrius, mit dem Zunamen Nikanor, unternahm einen Feld­ zug gegen die Parther, und lebte al« Kriegtgefangener einige Jeitla» dem Hofe ihre« Königes Phraate«, mit dessen Schwester Rodogune er sich ver­ mählte. Inzwischen bemächtigte sich Diodotu«, der den vorige» Königen gedient hatte, de« syri­ schen Throne«, und erhob ein Kind, den Sohn de« Alexander Nothu«, daraus, unter dessen Na­ men er al« Vormund Anfang« die Regierung führte. Bald aber schaffte er den jungen König au« dem Wege, setzte sich selbst die Krone auf, und gab sich den Namen Lryphon. Al« Antivchu«, der

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Bruder de- gefangenen Königs das Schicksal des« selben, und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs, |ti Rhodus, wo er sich aufhiett, Hirte, kam er nach Syrien zurück, überwand mit vieler Mühe den Tryphon, und ließ ihn hinnchten. Hierauf wandte er seine Waffen gegen den Phraate-, und forderte die Besreyung seines Bruders. Phraates, der sich des Schlimmsten besorgte, gab den Demetrius auch wirklich los; aber nichts desto weniger kam es zwischen ihm und dem AntiochuS zum Treffen, in welchem dieser den Kürzern zog, und sich aus Verzweiflung selbst entleibte. Deme­ trius, nachdem er wieder in sein Reich gekehrt war, ward von seiner Gemahlin, Cleopatra, aus Haß gegen die Rodogune, umgebracht; obschon Cleopatra selbst, aus Verdruß über diese Heyrath, sich mit dem nehmlichen AntiochuS, seinem Bru­ der, vermahlt hatte. Sie hatte von dem Deme­ trius zwey Söhne, wovon sie den ältesten, mit Namen Seleukus, der nach dem Lode seines Va­ ters den Thron bestieg, eigenhändig mit einem Pfeil erschoß; eS sey nun, weil sie besorgte, er möchte den Tod seines Vaters an ihr rächen, oder weil sie sonst ihre grausame Gemüthsart dazu veranlaßte. Der jüngste Sohn hieß AntiochuS; er folgte seinem Bruder in der Regierung, und zwang seine ab, scheuliche Mutter, daß sie den Giftbecher, den sie ihm zugedgcht hatte, selbst trinken mußte."

Erster Theil

In dieser Erzählung lag Stoff zu mehr als Einem Trauerspiele. Es würde Corneille» eben nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen Lryphon, einen AntiochuS, einen Demetrius, einen SeleukuS, daraus zu machen, als eS ihm, eine Rodogune daraus ru erschaffen, kostete. Was ihn aber vorzüglich darin reizte, war die beleidigte Ehefrau, welche die usurpirten Rechte ihres Ranges und BetteS nicht grausam genug rachen zu können glaubt. Diese also nahm er heraus; und es ist unstreitig, daß sonach sein Stuck nicht Rodogune, sondern Cleopatra heißen sollte. Er gestand es selbst, und nur weil er besorgte, daß die Zuhörer diese Königin von Syrien mit jener be­ rühmten letzten Königin von Egypten gleiches NamenS verwechseln dürften, wollte er lieber von der zweyten, als von der ersten Person den Titel hernehmen. „Ich glaubte mich, sagt er, dieser Freyheit um so eher bedienen zu können, da ich angemerkt hatte, daß die Alten selbst es nicht für nothwendig gehalten, ein Stück eben nach seinem Helden zu benennen, sondern eS ohne Bedenken auch wohl nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger Theil hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z. E. Sophokles eins seiner Trauerspiele die Trachinerinnen genannt, welches man jetziger Zeit schwerP 4

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lich ander-, als beit sterbenden Herkules nennen würde." Diese Bemerkung ist an und für sich sehr richtig; die Alte» hielte» den Titel für gank »»erheblich; ste glaubte» im geringste» nicht, daß er de» Inhalt angebcn müsse; genug, wen» dadurch ein Stück von dem ander» unterschieben ward, und hierin ist der kleinste Umstaud hinlänglich. Allein, gleichwohl glaube ich schwerlich, da- Sophokle» da- Stück, welche- er die Lrachinerinne» über« schrieb, würde habe» Deianira nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nicht-bedeutenden Titel I» geben; aber ihm einen verführerischen TM zu geben, eine» Titel, der unsre Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen möchte er sich ohne Zweifel mehr bedacht habe». Die lBesorg« niß de» Corneille ging hiernächst r» weit; wer die «gyptische Cleopatra kennt, weiß auch, daß Sy­ rien nicht Egypten ist, weiß, daß mehr -Kö­ nige und Königinnen einerley Name« geführt haben; wer aber jene nicht kennt, kann ste auch mit dieser nicht verw-chsel». Wenigstenhätte Corneille in dem Stücke selbst, de» Namen Cleopatra nicht so sorgfältig vermeiden sollen; die Deutlichkeit hat in dem ersten Akte darunter gelitten; und der deutsche Uebersetzer that daher sehr wohl,, daß er sich über die kleine Bedenklichkeit wegsetzte. Kein Skribent, am w«.

Erster Theil,

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nigsten ei'» Dichter, muß seineLeser ober Zuhtrer so gar unwissend annehme»; er darf auch gar wohl manchmal denken: was sie nicht wissen, m$/ gen sie fragen!

XXX. Den uten August, 1767,

Cleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Ge/ mahs, erschießt beit einen von ihre» Sihnen, und will bett andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ei» Verbrechen* au- dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und eben dieselbe jQuclIe. Wenigstens laßt es sich mit Wahrscheim lichkeit annehme», daß die einiige Eifersucht ei» wüthendes Eheweib rn einer eben so wüthende» Mutter machte. Sich eilte rweytt Gemahlin an die Seite gestellt |U sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatte» und die Hoheit ihres Ranges »u thei, len, brachte ein empfindliche- und stoljes Herr leicht r» dem Entschlüsse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht allein besitzen konnte. Demetrius muß nicht leben, «eil er für Cleopatra nicht al» lein leben will. Der schuldige Gemahl fallt; aber P 5

Erster Theil,

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nigsten ei'» Dichter, muß seineLeser ober Zuhtrer so gar unwissend annehme»; er darf auch gar wohl manchmal denken: was sie nicht wissen, m$/ gen sie fragen!

XXX. Den uten August, 1767,

Cleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Ge/ mahs, erschießt beit einen von ihre» Sihnen, und will bett andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel folgte ei» Verbrechen* au- dem andern, und sie hatten alle im Grunde nur eine und eben dieselbe jQuclIe. Wenigstens laßt es sich mit Wahrscheim lichkeit annehme», daß die einiige Eifersucht ei» wüthendes Eheweib rn einer eben so wüthende» Mutter machte. Sich eilte rweytt Gemahlin an die Seite gestellt |U sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatte» und die Hoheit ihres Ranges »u thei, len, brachte ein empfindliche- und stoljes Herr leicht r» dem Entschlüsse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht allein besitzen konnte. Demetrius muß nicht leben, «eil er für Cleopatra nicht al» lein leben will. Der schuldige Gemahl fallt; aber P 5

LZ4 Hamburgische Dramaturgie.

in ihm fällt auch ein Vater, der rächende Söhne hinterlaßt. An diese hat die Mutter in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an ihre Söhne gedacht, von deren Ergebenheit sie versichert sey, oder deren kindlicher Eifer doch, mnn er unter Aeltern wählen müßte, unfehlbar sich für den zuerst beleidigten Theil erklären wür­ de. Sie fand es aber so nicht; der Sohn ward König, und der König sah in Cleopatra nicht die Mutter, sondern die Königsmvrderin. Sie hatte alles von ihm zu fürchten; und von dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem Herzen; noch war der treulose Gemahl in seinen Söhnen übrig; sie fing an, alles zu hassen, was sie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben; die Selbsterhaltung stärkte diesen Haß; die Mutter war fertiger als der Sohn, die Beleidigerin fertiger, als der Beleidig­ te; sie beging den zweyten Mord, um den erstell ungestraft begangen zu haben; sie beging ihn an ihrem Sohne, und beruhigte sich mit der Vor­ stellung, daß sie ihn nur an dem begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, daß sie eigent­ lich nicht morde, daß sie ihrer Ermordung nur zuvorkomme. Das Schicksal des altetn Sohnes wäre auch das Schicksal des jüngern geworden; aber dieser war rascher, oder war glücklichen

Erster Theil.

Er rwingt die Mutter, da- Gift zu trinken, da» sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbre, die« racher das andere; und es kommt bloß auf die Umstände an, auf welcher Seite wir wehr Ver­ abscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen. Dieser dreyfache Mord würde nur eine Hand­ lung akSmachen, die ihren Anfang, ihr Mittel und ihr Ende in der nehmlichen Leidenschaft der nehm­ lichen Person hätte. WaS fehlt ihr noch rum Stoffe einer Tragödie? Für oaö Genie fehlt ihr nichts; für den Stümper, alles. Da ist keine Liebe, da ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer Zwischenfall; alles geht feinen natürlichen Gang. Dieser natürliche Gang reizt, das Genie; und den Stümper schrrk, ket er ab. DaS Genie können nur Begebenheiten beschäftigen, die in einander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurück zu führen, jene gegen diese abzuwäaen, überall das Ungefähr auszuschließen, alles, was ge­ schieht, so geschehen zu lassen, daß eS nicht anders geschehen können: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln. Der Wch l-i.igeaen, als der nicht auf das in einander $cgrinh’L-, son­ dern nur auf das Aehnliche oder Unähnlich? geht.

2z6 Hamburgische Dramaturgie.

wenn er fich an Werke wagt, die dem Genie aU lein vorgespart bleiben sollten, hält sich bey Vegebenheite» auf, die weiter nichts mit einander gemein haben, als daß sie zugleich geschehen. Die­ se mit einander tu verbinde», ihre Fäden so durch einander zu siechten und zu verwirre», daß wir je­ den Augenblick den einen unter dem andern ver­ lieren, aus einer Besrenidnng in die andere gesiürtt werden: das kann er, der Witz; und nur das. Au« der besiändigen Durchkreuzung solcher Faden von ganz verschiedncn Farben, entstehet denn eine Contextur, die in der Kunst eben da« ist, was die Weberey Changeant nennet; ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder roth, grün ober gelb ist; der beyde« ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheint; ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelpntz für Kinder. Nun urtheile man, ob der große Corneille sei, neu Stoff mehr al« ein Genie, oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser Beurtheilung weiter nicht«, al« die Anwendung eine« Satze«, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz, Verwicklung. Cleopatra bringt, in der Geschichte ihren Ge­ mahl au« Eifersucht um. Au« Eifersucht? dachte Corneille: das wäre ja eine ganz gemeine Frau; «ein, meine Cleopatra muß eine Heldin seyn, die

Erster Theil.

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noch wohl ihren Mann gern verloren hätte, aber durchaus nicht de» Thron; daß ihr Mann Rodo« guiien liebt, muß sie nicht so sehr schmerzen, al« daß Rodogune Königin sey» soll, wie sie; das ist weit erhabner. — Ganz recht; weit erhabner und — weit um«»« tätlicher. Den» einmal ist der Stolt überhaupt ein unnatürlicheres, ein gekünstelteres Laster, als die Eifersucht. ZweytenS ist der Stolt eines WeibeS noch unnatürlicher, als der Stvlr eines Mannes. Die Natur rüstete da« weibliche Geschlecht zur Liebe, nicht r« Gewaltsamkeiten aus; eS soll Iärtt lichkeit, nicht Furcht erwecken; nur seine Reize sollen es mächtig machen; nur durch Liebkosungen soll es herrschen, und soll nicht mehr beherrsche» wollen, als eS genießen kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloß des Herrschens wegen, gefällt, bey der alle Neigungen dem Ehrgeize untergeordnet sind, die keine andre Glückseligkeit kennt, al« j» gebiete», zu tyrannisiren, und ihren Fuß ganzen Völker» auf de» Nacken zu setzen: so eine Fran kann wohl einmal, auch mehr alö einmal, wirklich gewesen seyn; aber sie ist dem ungeachtet eine An«, nähme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert unstreitig das minder Natürliche. Die Cleopatra des Corneille, die fo eine Fra» ist, die ihren Ehr« geiz, ihren beleidigten Stolt t» befriedigen sich

LZ8 Hamburgische Dramaturgie.

alle Verbrechen erlaubt, die mit nichts als mit machiavtllische» Maximen um sich wirst, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen sie tugendhaft und liebenswürdig. Den» alle die Grausamkeiten, welche Medea begeht, begeht sie ' —=l=j=.

2)1

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selbst tut Unglücke, dieses hingegen als häßlich Mr­ unglücklich selbst im Glücke, zu Zeigen; die Absicht, bey Vorwürfen, wo keine unmittelbare Nacheisernng, keine unmittelbare Abschreckung für uns Statt hat, wenigstens unsere Begehrmigs-und Ver, abscheuungskräfte mit solchen Gegenständenzu bt» schastigen, die es zu seyn verdienen, und diese Ge­ genstände jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher Tag verführt, was wir be, gehren sollten, zu verabscheuen, und was wir verabscheuen sollten, zu begehren. Was ist nun von diesem allen in dem Charak/ ter des Soliman, in dem Charakter der Strane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchem ist gerade das Gegentheil darin; ein Paar Leute, die wir verachten sollten, wovon uns das eine Ekel, und das andere Unwillen eigentlich erre, gen müßte, ein stumpfer Wollüstling, eine abge­ feimte Buhlerin, werden uns mit so verführerischen Zügen, mit so lachenden Farben geschildert, daß es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus berechtigt zu seyn glaubte, seiner- rechrschaffenen und so schönen als gefälligen Gattin überdrüßig zu seyn, weil sie eine Elmire und keine Roxelane ist. Wenn Fehler, die wir adoptiren, unsere eige­ nen Fehler sind, so haben die angeführten stanzisi-

272 Hamburgische Dramaturgie.

scheu Kunstrichter Recht, daß sie alle« da« Tadel­ hast« de- Marmontelschen Stoffes dem Favarl mit zur Last lege». Dieser scheint ihnen sogar dabey »och mehr gesündigt tu haben, als jener. „Die Wahrscheinlichkeit, sage» sie, auf die es vielleicht in einer Erzählung so sehr nicht ankommt, ist in einem dramatischen Stücke unumgänglich nöthig; und diese ist in dem gegenwärtigen auf das äußer­ ste verletzet. Der große Soliman spielt eine sehr kleine Rolle, und c- ist unangenehm, so eine» Helden nur immer au« so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht «i« Schatten von der unumschränkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muß. Ma» hätte diese Gewalt wohl lindern können, nur gant vertilgen hätte man sie nicht müssen. Der Charakter der Roxelane hat «egen seine« Spiel« gefalle»; aber wen» dieUebrrlegung darüber kommt, wie sieht e« dann mit ihm «US? Ist ihre Rolle im geringste» wahrscheinlich? Sir spricht mit dem Sultan, wie mit einem Pa­ riser Bürger; sie tadelt alle seine Gebräuche; sie widerspricht in allem seinem Geschmacke, und sagt ihm sehr harte, nicht selten sehr beleidigende Din­ ge. Vielleicht iwar hätte sie da« alle« sagen kön­ nen; «en» sie r« nur mit gemessener» Ausdrücke» gesagt hätte. Aber wer kann e« aushalten, de» -ro-

Erster Theil.

großen Solima» von einer jungen Landstreicherin so Hofmeistern zu höre»? Er soll sogar die Kunst ju regieren von ihr lernen Der Zug mit dem verschmähten Schnupftuchs ist hart; und der mit der weggeworfenen Labackspfeife ga»r unerträglich. “

XXXV. Den 28sten August, 1767. Der letztere Aug, muß man missen, gehört dem Favart ganz allein; Marmontel hat sich ihn nicht erlaubt. Auch ist der erstere bey diesem feiner, als bey jenem. Denn beym Favart giebt Ro.relane das Tuck, welches der Sultan ihr gegeben, weg; sie scheint eS der Delia lieber r» gönne», als sich selbst; sie scheint es zu verschmähen: das ist Beleidigung- Beym Marmontel hingegen läßt sich Roxclane das Tuch von dem Sultan geben, und giebt es der Delia in seinem Namen; sie beugt damit einer Gunstbezeigung nur vor, die sie selbst noch nicht anzunehmen Willens ist, und das mit der uneigennützigsten, gutherzigsten Miene: der Sultan kann sich über nichts beschweren, als daß sie seine Gesinnungen so schlecht erräth, oder nicht besser errathen will. »Dramaturgie. >r Th. S

274 Hamburgische Dramaturgie. *-i..

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Ohne Zweifel glaubte Favart durch dergleichen Neberladungen daS Spiel der Nvxelane, noch leb; haster zu machen; die Anlage zu Impertinenzen sah er einmal gemacht, und eine mehr oder wenu ger konnte ihm nichts verschlagen, besonders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit der Person nehmen wollte. D.enn un' geachtet, daß seine Roxelane nod) unbedachtsamere Streiche macht, noch plumpern Muthwillen treibt, so hat er sie dennoch zu einem bessern und ediern Cha­ rakter zu machen gewußt, als wir in Marmontels Ro-lelane erkennen. Und wie das? warum das? Eben auf diele Veränderung wollte ich oben *) kommen; und mich dünkt, sie ist so glücklich und vortheilhaft, daß sie von den Franzosen bemerkt und ih­ rem Urheber angerechnet zu werden verdient Hütte. Marmorrtel'SRoxelane iß wirklich, was sie scheint, ein kleine- narrisches, vermessenes Ding, dessen Glück e- ist, daß der Sultan Geschmack an ihm gesunden, und das die Kunst versteht, diesen Geschmack durch Hunger immer gieriger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedigen, als bis sie ihren Zweck erreicht hat. Hinter Favart'S Roxelane hin­ gegen steckt mehr; sie scheint die kecke Buhlerin mehr gespielt ru haben, als tu seyn, durch ihre

Erster Theil.

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27;



Dreistigkeiten den Sultan mehr aus die Probe ge­ stellt, al« seine Schwäche gemißbraucht zu haben. Denn kaum bat sie den Sultan dahin gebracht, wo sie ihn habe» will, kaum erkennt sie, daß seine Liebe ohne Gränzen ist, als sie gleichsam die Larve abnimmt, und ihm eine Erklärung thut, die zwar ein wenig unvorbereitet kommt, aber ei« Licht auf ihre vorige Aufführung wirft, durch welche- wir ganz mit ihr autgesihnt werden. „Nun kenn' ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre geheimsten Triebfedern, erforscht; es ist eine edle, große Seele, ganz den Empstndungen der Ehre oft sen. Sv viel Tugend entzückt mich! Aber lerne nun auch mich kennen. Ich liebe dich, Solimanz ich muß dich wohl lieben! Nimm alle deine Rech­ te, nimm meine Freyheit zurück; sey mein Sultan, mein Held, mein Gebieter! Ich würde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen müssen. Nein, thue nicht-, als was dich dein Gesetz zu thun be­ rechtigt. Es giebt Vorurtheile, denen man Ach­ tung schuldig ist. Ich verlange einen Liebhaber, der meinetwegen nicht errölhen darf; sieh hier in Roxelane» — nichts, als deine unterthänige Skla­ vin *).“ Sv sagt sie, und uns wird ans einmal S 2 *) Sultan, j’ai penctrc ton ame,

]’en ai dcmclc les resforts.

L76 Hamburgische Dramaturgie.

ganz ander-; die Kokette verschwindet, und ein lieber, eben so vernünftiger als drolliges Mädchen -eht vor uns; Soliman hört auf, uns verächtlich zu scheinen, denn diese bessere Rvxelane ist seiner Liebe würdig; wir sangen sogar in dem Augen­ blicke an zu fürchten, er mbchre die nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu sehr zu lieben schien, er möchte sie bey ihrem Worte fassen, der Liebhaber möchte den Despoten wieder annehmen, sobald sich die Liebhaberin in die Sklavin schickt; eine kalte Danksagung, daß sie ihn noch zu rechter Zeit von einem so bedenklichen Schritt- zurückhal­ ten wolle», möchte anstatt einer feurige« Bestäti­ gung seines Entschlusses erfolge«; das gute Kind möchte durch ihre Großmuth wieder auf einmal verlieren, was sie durch muthwillige Vermeffenhei, len so mühsam gewonnen: doch diese Furcht ist Elle est grande, eile eft fiere, et la gloire l’enflamme, Tant de vertus excitent mes Transports. A ton tour, tu vas fne connoitre:

Je taime,

Soliman;

Reprends tes droits,

mais tu Pas merite.

reprends ma liberte;

Sois mon Sultan, mon Heros et mon Maitre, Tu me foupqonnerois d’injuste vanite.

Va,

ne fais rien, que cs loi n'autorife;

II est de prejuges qu’on ne doit point trahir, Et je veux un amanr, qui n’ait point ä rougir.’

Ta vois dans Roxelane une csrlave foumife.

Erster Theil.

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277

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vergebens: und da» Stück schließt sich zu unserer völlige» Zufriedenheit. Und nun, wa- bewog den Favart zu dieser Veränderung? Ist sie bloß willkührlich, oder sand er sich durch die besondern Regel» der Gattung, in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmonrel seiner Erzählung diese» vergnügender» Au-gang? Ist da- Gegentheil vo« den:, was dort eine Schönheit ist, hier ein Fehler? Ich ermner« mich, bereit- an einem andern Or* te «»gemerkt zu haben, welcher Unterschied sich zwischen der Handlung der äsopischen Fabel und dem Drama findet. Was von jener gilt, gilt vo« jeder moralischen Erzählung, welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur Intui­ tion zu bringe«. Wir sind zufrieden, wenn diese Absicht erreicht wird, und es ist uns gleichviel, ob es durch eine vollständige Handlung, die für sich ein wohlgeründetes Ganze ausmacht, geschieht oder nicht; der Dichter kann sie abbrechen, wo er will, sobald er sich an seinem Ziele sieht; wegen des An­ theils, den wir an dem Schicksale der Personen nehmen, durch welche er sie ausführen läßt, ist er unbekümmert; er hat uns nicht interefsire», er hat uns unterrichten wollen; er hat es lediglich mit unserm Verstände, nicht mit unserm Herze« zu thu«; dieser mag befriediget werden, oder nicht, S?

L78 Hamburgische Dramaturgie.

wenn jener nur erleuchtet wird. Das Drama hinge, gen macht auf eine einzige, bestimmte, aus seiner Fabel fließende Lehre, keinen Anspruch; es geht enh weder auf die Leidenschaften, welche der Verlauf und die Glück-veränderungen seiner Fabel anzufachen, und zu unterhalten vermögend sind, oder aus -aö Vergnügen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und Charaktere gewahrt; und beydes erfordert eine gewisse Vollständigkeit der Handlung, eiu gewisses befriedigendes Ende, welche- wir bey der moralischen Erzählung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall derselben ein so einleuchtendes Bey, spiel giebt. Wenn eö also wahr ist, daß Marmvntel durch seine Erzählung lehren wollte, die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie müsse durch Nachsicht und Ge­ fälligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhal, teil werden: so hatte er Recht so aufzuhören, wie er aufhkrt. Die unbändige Roxelane wird durch nicht- al- Nachgeben gewonnen; was wir dabey von ihrem und de- Sultans Charakter denken, ist ihm ganz gleichgültig, mögen wir sie doch immer für eine Närrin, und ihn für nicht- besser- halten. Auch hat er gar nicht Ursache, uns wegen der Fol­ ge iu beunruhige«; eS mag uns immer noch so wahr,

Erster Theil.

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scheinlich seyn, daß den Sultan seine blinde Gefalligkeit bald gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die Gefälligkeit über das Frauenzimmer überhaupt vermag; er nahm also eins der wildesten; unbekümmert, ob eS einer solchen Gefälligkeit werth sey, oder nicht. Allein, als Favart diese Erzählung auf das Theater bringen wellte, so empfand er bald, daß durch die dramatische Form die Intuition des mo, ralischen Satzes größrentheils verloren gehe, und daß, wenn sie auch vollkommen erhalten werden könne, das daraus erwachsende Vergnügen doch nicht so groß und lebhart sey, daß man dabey ein anderes, welches dem Drama wesentlicher ist, ent­ behren könne. Ich meyne das Vergnügen, welches uns eben so rein gedachte, als richtig gezeichnete Charaktere gewähren. Nichts beleidigt uns aber, von Seiten dieser, mehr, als der Widerspruch, in welchem wir ihren moralischen Werth, oder Un­ werth mit der Behandlung des Dichters finden; wenn wir finden, daß sich dieser entweder selbst da­ mit betrogen hat, oder uns wenigstens damit be­ trügen will, indem er da- Kleine auf Stelzen hebt, muthwilligen Thorheiten den Anstrich heiterer Weisheit giebt, und Laster und Ungereimtheiten mit allen betrügerischen Reitzen der Mode, deguten Ton-, der feinen Lebensart, der großen Welt S4

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triumphitt. Nun ist Dgisth unfehlbar der Mör­ der ihres Sohnes, und nicdts soll ihn vor ihrer Rache schützen. Sie erfahrt mit eindrechender Nacht, daß er in -em Vorsaale sey, wo er eingeschlafen/ und kommt mit einer Axt, ihm den Kopf zu spalten; und schon hat sie die Axt zu dem Streiche erhoben, als ihr Polyder, der sich kurz zuvor in eben den Vorsaal eingeschlichen, und den schlafenden Aegisth erkannt hatte, in die Arme fällt Aegisth erwacht und flieht, und Poly/ dor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem vermeynten Mörder ihres Sohnes. Sie will ihm nach, und würde ihn leicht durch ihre stürmische Zärtlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn sie der Alte nicht auch hiervon zurück gehalten hätte. Mit frühem Morgen soll ihre Vermahlung mit dem Könige vollzogen werden; sie muß zu dem Altare,, aber sie will eher sterben, als ihre Einwilligung ertheilen. Indeß hat Polydor auch den Aegisth sich kennen gelehrt; Aegisth eilet in den Tempel, drängt sich durch das Volk, und — das Uebrige wie bey dem Hyginus.

Erster Theil,

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XLI. Dm i8ten September, 1767. nSt schlechter es, zu Anfänge dieses Jahrhunderts, mit dem italiänischen Theater überhaupt anssah, desto größer war der Beyfall und das Zujauchzen, womit die Merope des Maffei ausgenommen wurde. Cedite Romani fcriptores, ceditc Graii, Nefcio quid majus nafcitur Oedipode:

schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwey Akte in Rom davon gesehen hatte. In Ve, nedig ward 1714# das ganze Karneval hindurch, fast kein anderes Stück gespielt, als Merove; die ganze Welt wollte die neue Tragödie sehen und wieder sehen; und selbst die Opernbühnen sande« sich darüber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in sechszehn Jahren (von 1714 bis 1730.) sind mehr als dreyßig Ausgaben, in und außer Italien, zu Wien, zu Paris, zu Lon­ don davon gemacht worden- Sie ward in’# Fran­ zösische , in'# Englische, i»'S Deutsche übersetzt; und man hatte vor, sie mit allen diesen Uebersetzungen zugleich drucken zu lasse». Jn's Französi­ sche war sie bereit# zweymal übersetzt, al# der Herr von Voltaire sich nochmals darüber mache« X»

3 »4 Hamburgische Dramaturgie.

wollte, um sie auch wirklich auf die französisch« Bühne t» bringen. Doch er fand bald, daß die, seS durch eine eigentliche Uebersetzung nicht gesche­ hen könnte, wovon er die Ursache» in dem Schrei­ be» an den Marquis, welches er nachher seiner eigenen Mcrope vorsetzte, umständlich angiebt. „Der Ton, sagt er, sey in der italiänische» Mcrope viel zu naiv und bürgerlich, und der Ge, schwach des französischen Partcrrs viel zu sein, viel zu verzärtelt, als daß ihm die bloße simple Natur gefallen könne. ES wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zügen der Kunst sehen; und diese Züge müßte» zu Paris weit anders als zu Verona sey».!' Das ganze Schreibe» ist mit der äußersten Politesse abgefaßt; Maffei hat nirgends gefehlt; alle seine Nachlässigkeiten und Mängel werden auf di« Rechnung seines Nativiialgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schönheiten, aber leider nur Schönheiten für Italien. Gewiß, man kann nicht höflicher kritjsiren! Aber die ver­ zweifelte Höflichkeit! Auch einem Franzosen wird sie gar bald zur Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten dabey leidet. Die Höflichkeit macht, daß wir liebenswürdig scheine», aber nicht groß; und der Franzose will eben so groß, als liebenswürdig scheinen. Was folgt also auf die galante Zueignungs­ schrift des Herr» von Voltaire? Ein Schreibe«

Erster Theil.

Z25

einet gewissen de la Lindelle, -Welcher dem guten Maffei eben so viel Grobheiten sagt, alt ihm Voltaire Verbindliches gesagt batte. Der Styl dieses de la Lindelle iß riemlich der Dvllairische Styl; et ist Schade, daß eint so gute Feder nicht mehr geschrieben hat, und übrigens so unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sey Voltaire, oder sey wirklich Lindelle: wer eine» französische« Ja, nuskopf sehen will, der vorn auf die einschmei, chelndste Weise lächelt, und hinten dir hämischsten Grimassen schneidet, der lese beyde Briefe in ei« nem Inge. Ich möchte keinen geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Ans Höflichkeit bleibt Voltaire diesseits der Wahrheit stehe«, und anDerkleinernngssucht schweift Lindelle bit jenseits derselben. Jener hatte freymüthiger, und dieser gerechter seyn müssen, wenn man nicht auf de« Verdacht gerathen sollte, da-der nehmliche Schrift, steller sich hier unter einem fremden Namen wie, der einbringe» wollen, was er sich dort unter sei, nem eigenen vergeben habe. Voltaire rechne eS dem Marquis immer so hoch an, als er will, daß er einer der erste« unter den Jtaliäner« sey, welcher Muth und Kraft ge­ nug gehabt, eine Tragödie ohne Galanterie r« schreibe», i« welcher die ganze Intrigue auf der Liebe einer Mutter beruhe, und da- zärtlichste X;

326 Hamburgische Dramaturgie.

Interesse aus der reinsten Lugend entspringe. Er beklage es, s» sehr als ihm beliebt, daß die falsche Delikatesse seiner Nation ihm nicht erlaube» «ol­ len, von de» leichtesten natürlichsten Mittel», wel­ che die Umstände zur Verwickelung darbieten, von den unstudirten wahre» Rebe», welche die Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Da- Pariser Parterre hat unstreitig sehr Unrecht, wenn es seit dem kiniglichen Ringe, über den Boileau in seinen Satyr«» spottet, durchaus von kei­ nem Ringe auf dem Theater mehr höre« will *); wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu je­ dem andern, auch dem allerunschicklichsten Mittel der Erkennung, sein« Zuflucht zu nehme», als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welk, t» allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der Person, verbunden hat. Cs hat sehr Unrecht, wenn es nicht will, daß ei» jun­ ger Mensch, der sich für den Sohn gemeiner Aeltern halt, und in dem Lande auf Abentheuer ganz allein herum schweiß, nachdem er eine« Mord ver­ übt, dem ungeachtet nicht soll für einen Räuber gehalten werde« dürfe», weil es voraus sieht, daß *) Je n'ri pu me servir, comme Mr. Maffei, d*un anneau, parceque depuis sanneau royal, dont Boileau fe moque . dans fes fatyres, cela femblcrait trop pecit für notre th£etre.

Erster Theil. >frj.

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er der Held de« Stückes «erde» müsse'); wenn es be, leidigk wird, daß man einem solchen Mensche» keine» kostbaren Ring »utraue» will, da doch kein Fähn­ rich in des Königs Armee sey, der nicht des hel­ les nippe? besitze. Da« Pariser Parterre, sage ich, hat in diesen und ähnlichen Fällen Unrecht: aber warum muß Voltaire auch in andern Fällen, wo es gewiß nicht Unrecht hat, dennoch lieber ihm, als den» Maffei Unrecht tu -eben scheine» wolle»? Wenn die französische Höflichkeit gegen Ausländer darin besteht, daß man ihnen auch in solche« Stücken Recht giebt, wo sie fich schäme» müßte», Recht zu haben, so weiß ich nicht, was beleidigen­ der und einem freyen Menschen unanständiger seyn kann, al« diese französische Höflichkeit. Da« Geschwätz, welches Maffei seinem alten Pvlydor von lustige» Hochzeiten, von prächtigen Krönungen, denen er vor diesem beygewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in den Mund legt, wen» das Interesse aufs Höchste gestiegen und die Ein« bildungskrast der Zuschauer mit ganz andern Din­ gen beschäftigt ist: dieses Nestorische, aber am X 4 9 Je n’oferais hasarder de faire prendre un heros pour u® voleur, quoique la drconftance > oü il fe crouve, autorife cccte mcprise. ,

Z28 Hamburgische Dramaturgie.

unrechten Orte Nestorische, Geschwätz kann durch keine Verschiedenheit des Geschmacks unter ver­ schiedenen kultivirten Volker», entschuldigt wer­ den; hier muß der Geschmack überall der nehm» licht seyn, und der Jtalianer hat nicht seinen ei­ genen, sondern hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht eben so wohl dabey gähnt und darüber unwillig wird, als der Franzose. „Sie haben, sagt Voltaire zu dem Marquis, in Ihrer Tragödie jene schöne und rührende Vergleichung des Virgil: Qyalis populea moerens Philomela fub umbra Amiflbs queritur foetus übersetzen und anbringen dürfen. Wenn ich mir so eine Freyheit nehme« wollte, so würde man mich damit in die Epopöe verweisen. Den» sie glauben nicht, wie streng der Herr ist, dem wir zu gefallen suchen müssen; ich meine unser Publikum. Dieses verlangt, daß in der Tragödie überall der Held, und nirgends der Dichter sprechen soll, und meint, daß bey kritischen Vorfällen, in Raths­ versammlungen, bey einer heftige» Leidenschaft, bey einer dringenden Gefahr, kein König, kein Minister, poetische Vergleichungen zu machen pflege." Aber verlangt denn diese- Publikum et­ wa- Unrechtes? meint e- nicht, was die Wahr­ heit ist? Sollte nicht jede- Publikum eben dieses

Erster Theil.

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verlangen? eben dieses meinen? Ein Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muß Voltaire daS ganze italiänische Publikum zu so einem Publikum machen wollen, weil er nicht Freymüthigkeit genug hat, dem Dichter gerade heraus $u sagen, daß er hier und an mehrer» Stelle» luxurirte, und seinen eigenen Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, daß au-führ« liehe Gleichnisse überhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem Trauerspiele finden könne», hätte er anmerken solle», daß jenes virgilische von dem Maffei äußerst gemißbraucht worbe». Bey de« Virgil vermehrt es das Mitleiden, und dazu ist eS eigentlich geschickt; bey dem Maffei aber ist es i» dem Munde desjenigen, der über das Unglück, wovon e» das Bild seyn soll, triumphirt, und müßte nach der Gesinnung beS Polyphvnts, mehr Hohn a!S Mitleid erwecke». Auch noch wichtigere, und auf das Gan;e noch größer» Einfluß habend« Fehlet scheuet sich Voltaire nicht, lieber dem Ger schmacke der Italiäner überhaupt, als einem ei», reinen Dichter au« ihnen, rur Last zu legen; und dünkt sich von der -llerfeinsten Lebensart, wenn er den Maffei damit tröstet, daß es seine ganze Na, tion nicht besser verstehe, als er; daß feine Fehler die Fehler seiner Nation wären; daß aber Fehler einer ganien Nation eigentlich keine Fehler wären,

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330 Hamburgische Dramaturgie.

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weit es ja eben nicht darauf ankomme, waS an und für sich gut oder schlecht sey, sondern was die Nation dafür reelle gelten lassen. „Wie hatte ich es wagen dürfen," fahrt er mit einem riefen Bück­ linge , aber auch zugleich mit einem Schnippchen in der Tasche, gegen den Marquis sott, „bloße Nebenpersonen so oft mit einander sprechen zu las­ sen, als Sie gethan haben? Sie dienen bey I'hnen, die interessanten Scenen zwischen den Haupt­ personen vorzubereiten; es sind die Zugänge zu einem schLuen PaliaKe; aber unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in diesem Pallaste befinden. Wir müssen uns also schon »ach t«;n Geschmacke eines Volkes richten, welche- sich au Meisterstücken satt gesehen hat, und also äußerst verwöhnt ist." Was heißt diese- anders, als: „Mein Herr Marquis, Ihr Stück hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnütze Scenen. Aber esey fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurs daraus machen sollte! Behüte der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weift zu leben;, ich werde niemanden etwas Unangenehmes unter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben Sie diese kalten, langweiligen, unnützen Scenen mit Vorbedacht, mit allem Fleiße gemacht; weil sie gerade so sind, wie fle Ihre Nation braucht. Ich wünschte, daß ich auch so wohlfeil davon kommen konnte; aber

Erster Theis.

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leider ist meine Nation so weit, so weit, daß ich »och viel weiter sey» muß, um meine Nation tu befriedigen. Ich will mit darum eben nicht viel mehr einbilden, als Sie; aber da jedoch mein» Nation, die Ihre Nation so sehr übersieht" — Weiter darf ich meine Paraphrase wohl nicht fvrtsetze»; denn sonst, Definit in pifcem mulier formofa fuperne: aus der Höflichkeit wird Persifflage, (ich brauche diese» französische Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen) und aus der Persifflage, dummer Stolr.

XI.II. Den 22sten September, 1767,

Es ist nicht zu leugnen, daß ein guter Theil der Fehler, welche Voltairs als Eigenthümlichkeiten des italiänischen Geschmacks nur deswegen an seinem Vorgänger zu entschuldigen scheint, um sie der italiänischen Nation überhaupt rur Last »u legen, daß, sage ich, diese und noch mehrere, und noch größere, sich in der Merope des Maffei be­ finden. Maffei hatte in seiner Jugend viel Nei,

ZZ2 Hamburgische Dramaturgie.

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fluitg jur Poesie; er machte mit vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stylen der berühm­ testen Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen für das eigentliche Genie, welches tur Tragödie erfordert wird, we­ nig oder nichts. Hernach legte er sich auf die Ge­ schichte, auf Kritik und Alterthümer; uud ich tweifie, ob diese Studien die rechte Nahrung für das tragische Genie sind. Er war unter Kir­ chenvätern und Diplome» vergrabe», und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf ge­ sellschaftliche Veranlassung, seine Merope vor die Hand nahm, und sie in weniger al« zwey Mona­ te» in Stande brachte. Wenn dieser Mann, un­ ter solche« Beschäftigungen, in so kurrer Zeit, ei» Meisterstück gemacht hätte, so müßte er der ausserordenrlichste Kopf gewesen sey»; oder eine Tragödie überhaupt ist ein sehr geringfügiges Ding. Was indeß ein Gelehrter, von gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr für eine Erholung als für eine Arbeit ansieht, die seiner würdig wäre, leisten kann, das leistete auch er. Seine Anlage ist gesuchter und ausgedrechselter, als glücklich; seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder nach bekann­ ten Vorbildern in Bücher», als nach dem Leben geschildert; sein Ausdruck reigt von mehr Phan-

Erster Theis.

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taste als Gefühl; der Litterator und der Verststcateur laßt sich überall spüren, aber nur selten das Genie und der Dichter. - Als Versificateur lauft er den Beschreibungen und Gleichnisse» zu sehr nach. Er hat verschiedene ganz vortreffliche wahre Gemählde, die in seinem Munde nicht genug bewundert werden könnten, aber in dem Munde seiner Personen unerträglich sind, und in die lächerlichsten Ungereimtheiten aus­ arten. So ist es z. E. zwar sehr schicklich, daß Aegisth seinen Kampf mit dem Räuber, den er umgebracht, umständlich beschreibt: denn auf die­ sen Umständen beruht seine Vertheidigung; daß er aber auch, wenn er den Leichnam in den Nuß ge­ worfen zu haben bekennet, alle, selbst die aller­ kleinsten, Phänomen« mahlet, die den Fall eines schweren Körpers ins Wasser begleiten, wie er hin­ einschießt, mit welchem Geräusche er das Wasser zertheilet, das hoch in die Lust spritzt, und wie sich die Fluth wieder über ihn zuschließt *): da*) Atto I. St. III. — — — In cuore Pero mi venne* di lanciar nel fiume II mortoi 6 femivivo; e con fatica (Ch' inutil* era per riuscire, e vana) L’alzai da terra, e in terra rimaneva Una pozza di sanguc ; a mezo il ponct Portailo »p frctta, di vermiglia ftriscia

334 Hamburgische Dramaturgie. [i.

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würde «au auch nicht einmal einem kalten ge< schwätzigeu Advokaten, der für ihn spräche, ver­ zeihe» , geschweige ihm selbst. Wer vor seinem Richter steht, und sein Leben zu vertheidigen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, al« daß er in sein« Erzählung so kindisch genau seyn konnte. Als Litterator hat er zu viel Achtung für die Simplicität der alte» griechischen Sitten, und für da« Kostüme bezeigt, mit welchem wir sie bey -em Homer und Euripides geschildert finden, daaber allerdings um etwas, ich will nicht sagen veredelt, sondern unserm Kostüme naher gebracht werden muß, wen» es der Rührung im Trauer­ spiele nicht mehr schädlich, als zuträglich sey« soll. Auch hat er zu geflissentlich schone Stellen aus den Alten nachzuahmen gesucht, ohne zu un­ terscheiden, aus was für einer Art von Werken er sie entlehnt, und in was für eine Art von Werke» er sie überträgt. Nestor ist in der Epo­ pöe em gesprächiger freundlicher Alter; aber der nach ihm gebildete Polydvr wird in der Tragödie «in alter ekler Saalbader. Wen» Maffei dem verSempre rigando il fuol; quinci cadere Col capo in giu jl iafciai: piombd, e gran tonfo S’udi nel profondarfi: in alto lalle Le spruzzo, e 1‘onda sopra lui si chinse«

Erster Theil.

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meintlichen Plane des Euripides hätte folge» iuol# le»: so würde uns der Litterator vollends etwas ru lachen gemacht habe». Er hätte es sodann für seine Schuldigkeit geachtet, alle die kleinen Frag» mente, die »ns von dem Kresphontes übrig sind, tu nutzen, und seinem Werke getreulich einiuflechten *). Wo er also geglaubt hätte, daß fie sich hinpaßten, hätte er sie als Pfähle anfgerichtet, nach welche« sich der Weg seines Dialogs richten und schlingen müssen. Welcher pedantische Zwang! Und wozu? Sind es nicht diese Sittensprüche, womit man seine Lücke» füllt, so sind es andere. Deniungeachtet möchten sich wiederum Stellen finde», wo man wünschen dürste, daß sich der Litterator weniger vergessen hätte. I E. Nach« dem die Erkennung vorgegangen, und Mervpe einfieht, in welcher Gefahr sie rweymal gewesen sey, ihren eigene« Sohn umjubringe», so läßt er die Ismen« voller Erstaunen auSrufen: „Welche wunderbare Begebenheit, wunderbarer, als sie jemals auf einer Bühne erdichtet worden! “ *) Non eiTendo dunque stato mio penfiero di feguir la Tragedia d’Euripide * non ho cercato per confequenza di porre nella mia que’ sencimenti di essa, ehe Ton rimasti qua, e lä; avendone rradorti ein» que versi Cicerone e recati tre passi Plutarco, e due verG Gellio, e alcuni trovandofene ancota, se la memoria non m’inganna, presso Stobeo.

zz6 Hamburgische Dramaturgie. .................

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zu übersetzen; er konnte leichter einen Uebersetzer bezahlen, als sein Stück verbessern." Go wie es selten Complimente giebt, ohne alle Lügen, so finden sich auch selten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stücken wi­ der den Maffei Recht; und möchte er doch höüicb oder grob seyn, wenn er sich begnügte, ihn bloß zu tadeln. Aber er will ihn unter die Füße treten, vernichten, und geht mit ihm so blind, als treu, los zu Werke. Er schämt sich nicht, offenbare Lü­ gen zu sagen, augenscheinliche Verfälschungen zu begehen, um nur ein recht hämisches Gelächter auf­ schlagen zu können. Unter drey Streichen, die er thut, geht immer einer in die Luft, und von den andern zweyen, die seinen Gegner streifen oder treffen, trifft einer unfehlbar den zugleich mit, dem seine Klopf­ fechterey Platz machen soll, Doltairen selbst. Vol, taire scheint dieses auch zum Theil gefühlt zu ha­ ben, und ist daher nicht saumselig, in der Ant­ wort von Lindellen, dem Maffei in allen deu Stükken zu vertheidigen, in welchen er sich zugleich mit vertheidigen zu müssen glaubt. Dieser ganzen Correspvndenz mit sich selbst, dünkt mich, fehlt das interessanteste Stück: die Antwort des Maffei. Wenn uns doch auch diese der Herr von Voltaire hätte mittheilen wollen. Oder war sie etwa so nicht, wie er sie durch seine Schmeicheley zu er-

Erster Theil.

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schleichen hoffte? Nahm sich Maffei etwa die Freyheit, ihm hinwiederum die Eigenthümlichkeiten des ftaiiivsische« Geschmacks in'S Licht ,u fallen ? ihm tu reizen, warum die französische Merope eben so wenig in Italien, als die italiänische in Frankreich gefallen könne? —

XLIII.

Den rrzsten September, 1767.

So etwas laßt sich vermuthen. Doch ich will lieber beweisen, was ich selbst gesagt habe, als ver­ muthen, was Andere gesagt haben könnten. Lindern, fütf erste, ließe sich der Tadel des Lindelle fast in allen Punkten. Menn Maffei ge­ fehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump ge­ fehlt, als uns Lindelle will glauben mache». Er sagt, i. Aegjsth, wenn ihn Merope nunmehr erstechen wolle, rufe aus: „O mein alter Vater!" und die Königin werde durch dieses Wort, alter Vater, so gerührt, daß sie von ihrem Vorsatze ab­ lasse und auf die Vermuthung komme, Aegjsth könne wohl ihr Sohn seyn. Ist das nicht, setzt er

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340 Hamburgische Dramaturgie.

höhnisch biiiiu, eine sehr -«gründete Vermuthung! Denn freylich ist es ganz etwas Sonderbares, daß ein lunger Mensch einen alten Vater hat! „Maf­ fei, fährt er fort, hat mit diesem Fehler, diesem Mangel von Kunst und Genie, einen andern Feh, ler verbessern wollen, den er in der ersten Ausga­ be seines Stückes begangen hatte. Aegisth rief da: „Ach, Polydor, mein Vater!" Und dieser Polydor war eben der Mann, dem Merope ihren Sohn an­ vertrauet hatte. Bey dem Namen Polybor hatte die Königin gar nicht mehr zweifeln müssen, daß Aegisth ihr Sohn sey; und das Stück wäre aus gewesen. Nun ist dieser Fehler zwar weggeschafft; aber seine Stelle hat ein noch weit gröberer ein­ genommen." Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegith den Polydor seinen Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar reinem Va­ ter mehr die Rede. Die Königin stutzt bloß bey dem Namen Polydor, der den Aegisth gewarnet habe, ja keinen Fuß in das Mcssenische Gebiet zu setzen. Sie giebt auch ihr Vorhaben darum nicht auf; sie fordert bloß nähere Erklärung; und ehe sie diese erhalten kann, kommt der König dazu. Der König laßt den Aegisth wieder losbinden, und da er die That, weswegen Aegisth eingebracht worden, billigt und rühmt, und sie als eine wah­ re Heldenthat zu belohnen verspricht: so muß wohl

Erster Theis. .

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. Egu Mia fc do in pegno> e dovc gir dovrei? —*

346 Hamburgische Dramaturgie.

in deiner, noch in irgend eines Sterblichen Ge­ walt: mir zu gewähren, daß mir die meiner Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert wür­ de, u. s. w." *) Heißt das: erleichtere Du mir diese Last? gieb Du mir Stärke und Jugend wie­ der? Ich will gar nicht sagen, daß eine solche Klage über die Uttgemächlichkeiten des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon voll­ kommen in dem Charakter des Polydor ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit Wahnwitz? Und muß­ ten nicht Polydor und sein Dichter int eigentlich­ sten Verstände wahnwitzig seyn, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in dem Mund legte, die Lindelle ihnen anlügt. — Anlügt? Lügen? Verdienen sol­ che Kleinigkeiten wohl so harte Morte? — Klei­ nigkeiten? Mas dem Lindelle wichtig genug war, darum |u lügen, soll das einem dritten nickt wich­ tig genug seyn, ihm zu sagen, daß er gelogen hat? — *) Atto IV. Sc. VH.

Mtr. Ma quäle, o mio fedel, quäl potro io Darti gia mai mercc , ehe i merü agguagli ? P«l. 11 mio llcflo servir fu premio; ed ora M*e, il vederti contenra, ampia mercede. Che vuoi tu darmi ? io nul'.a bramo: caro Sol mi saria cio, ch’ altndar non puoto. Che scemato mi solle n grave incarco De- gli anm, ehe mt fta 5Ü’I uapo, e a terra II curva, e preme si, ehe parmi un monte —

Erster Theil.

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XLIV. Den saften September, 1767. (V

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«och komme auf de» Tadel des Lindelle, welcher den Voltaire so gut als den Maffei trifft, dem er doch nur allein rugedacht war. Ich übergehe die beyden Punkte, bey welchen es Voltaire selbst suhlte, daß der Wurf auf ihn zurückoralle. — Lindelle hatte gesagt, daß es sehr schwache und unedle Merkmale wären, aus welchen Merope bey dem Maffei schließe, daß Negisth der Mörder ihres Sohnes sey. Voltaire antwortet: „Ich kann es Ihnen nicht bergen; ich finde, daß Maffei es viel künstlicher angelegt hat, als ich, Meroven glauben zu machen, daß ihr Sohn der Mörder ihres Sohnes sey. Er konnte sich eines Ringes dg;u bedienen, und das durste ich nicht; denn seit dem königlichen Ringe, über den Boi, leau in seinen Satiren spottet, wurde das auf un­ serm Theater sehr klein scheinen." Aber mußte denn Voltaire ehe» eine alte Rüstung anstatt des Ringes wählen? Als Varbas das Kind mit sich nahm, was bewog ihn denn, auch die Rüstung des ermordeten Vaters mitjunehmen? Damit Aegisth, wenn er erwachsen wäre,, sich keine neue Rüstung kaufen dürfe, und sich mit der alten seines Vaters

348 Hamburgische Dramaturgie.

behelfen könne? Der vorsichtige Alte! Ließ er sich nicht auch ein Paar alte Kleider von der Mutt ter mitgeben? Oder geschah es, damit Acgisth einmal an dieser Rüstung erkannt werden könnte? so eine Rüstung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Familienrüstung, die Vulkan selbst dem Großgroßvater gemacht hatte? Eine undurch, dringliche Rüstung? Oder wenigstens mit schönen Figuren und Sinnbildern versehen, an welchen sis Eurikles und Merope nach fünfzehn Jahren sogleich wieder erkannten? Wenn das ist, so mußte sie der Alte freylich mitnehmen; und Herr von Voltaire hat Ursache, ihm verbunden zu seyn, daß er unter den blutigen Verwirrungen, bey welchen ein Anderer nur an das Kind gedacht hatte^ auch zugleich an eine so nützliche Möbel dachte. Wenn Aegisth schon das Reich seines Vaters verlor, so mußte er doch nicht auch die Rüstung seines Va­ ters verlieren, in der er jenes wieder erobern konn­ te. — Iweytens batte sich Lindelle über den Polyphont des Maffei aufgehalten, der die Merope mit aller Gewalt heirathen will. Als ob der Voltairische das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher: ,;Wede? Maffei, noch ich, haben die Ursachen dringend genug gemacht, wa­ rum Polyphone durchaus Meropen zu seiner Ge­ mahlin verlangt. Das ist vielleicht ein Fehler

Erster Theis.

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des Stoffes; aber ich bekenne Ihnen, M ich eine» solchen Fehler für sehr gering halte, wenn das Interesse, welches er hervorbringt, beträchtlich ist." Nein, der Fehler liegt nicht in den: Stoffe. Denn in diesem Umstande eben hat Maffei den Stoff verändert. Was brauchte Voltaire diese Veränderung anzunehmen, wenn er seinen Vortheil nicht dabey sahe? — Der Punkte sind mehrere, bey welchen Voltaire eine ähnliche Rücksicht aus sich selbst hätte nehmen können: aber welcher Vater sieht alle Fehler sei­ nes Kindes? Der Fremde, dem sie in die Augen fallen, braucht darum gar nicht scharfsichtiger zu seyn, als der Vater; genug, daß er nicht der Vater ist. Gesetzt also, ich wäre dieser Fremde! Lindelle wirst dem Maffei vor, daß er seine Scenen oft nicht verbinde, daß er das Theater oft leer lasse, daß seine Personen oft ohne Ursache aus, träten und abgingen; alles wesentliche Fehler, die man heut zu Tage auch dem armseligsten Porten nicht mehr verzeihe. - Wesentliche Fehler dieses? Doch das ist die Sprache der sranzösischen Kunst­ richter überhaupt; die mutz ich ihm schon lassen, wenn ich nicht ganz von vorn mit ihm anfangen will. So wesentlich oder unwesentlich sie aber auch seyn mögen; wollen wir es Lindellen auf sein Wort glauben, daß sie bey den Dichtern seines

z;o Hamburgische Dramaturgie.

Volks so selten sind? Es ist wahr, fit sind es, die sich der größten Regelmäßigkeit rühmen; aber fie sind es auch, die entweder diesen Regel« eine solche Ausdehnung geben, daß es sich kaum mehr der Mühe belohnt, sie als Regeln vorrutrageu, oder sie auf eine solche linke und gezwungene Art beob­ achten, daß es weit mehr beleidigt, sie so beob, achtet ru sehen, als gar nicht*). Besonders ist Vol*) Dleses war, jiint Theil, schon daS Urtheil unsers SchlegelS. „Die Wahrheit zu gestehen, sagt er in sei­ nen Gedanken rnr Aufnahme des dänischen Theaters, beobachten die Engländer, die sich keiner Einheit deS Orts rühmen, dieselbe großentheilS viel besser, alS die Franzosen, die sich damit viel wissen, daß sie die Re­ geln des Aristoteles so genau beobachten. Daraus kommt gerade am allerwenigsten an, daß das Gemälde der Scenen nicht verändert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden ist, warum die auftretenden Perso­ nen sich an dem angezeigten Orte befinden, und nicht viel mehr an demjenigen geblieben sind, wo sie vorhin waren; wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben des Zimmers anfführr, wo kurz vorher eine an­ dere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause wäre, in aller Gelassenheit mit sich selbst, oder mlt einem Ver­ trauten gesprochen, ohne daß dieser Umstand auf eine wahrscheinliche Weise entschuldigt wird; kurz, wenn die Personen nur deswegen in den angezeigten Saal oder Garren kommen, nm auf die Schaubühne zu treten: so würde der Verfasser des Schauspiels am besten gethan haben, anstatt der Worte, „der Schau­ platz ist ein Saal. in Climenens Hause," unter daL

Erster Theil. *■■■

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taire ein Meister, sich die Fesseln der Kunst so leicht, so weit tu mache», daß er alle Freyheit behalt, sich zu bewegen, wie et will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer, und macht so ängst­ liche Verdrehungen, daß man meinen sollte, jedes Glied von ihm sey an einem besondern Klotz ge­ schmiedet. ES kostet mir Ueberwindung, ein Werk des Genies aus diesem Gesichtspunkte zu betrach­ ten ; doch da es, bey der gemeine» Klasse von Kunstlichtern, »och so sehr Mode ist, eS säst aus keinem ander», als aus diesem, zu betrachten; da e- der istl, aus welchem die Bewunderer bes französischen Theaters, das lauteste Geschrey er# heben: so will ich doch erst genauer Hinsehen, ehr ich in ihr Geschrey mit einstimme. 1. Die Scene ist zu Meffene, in dem Pallaste der Merope. Das ist, gleich Ansangs, die strenge Einheit des Orrs nicht, welche, nach den Grund­ sätze» und Beyspiele» der Alten, ein Hedelin verVerzeichniß seiner Personen zu setzen: »der Schauplatz ist auf dem Theater." Over im Ernste zu reden, eS würde weit besser gewesen seyn, wenn der Verfasser, nach dem Gebrauche der Engländer, die Scene auS dem Hanse deS einen in daS Haus eines andern ver­ legt, und also den Zuschauer seinem Helden nachge­ führt hätte; alS daß er seinem Helden die Mühe macht, den Zuschauern zu gefallen, an einem Platz zu kommen, wo er nichts zu thun har. “

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Hamburgische Dramaturgie.

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langen zu können glaubte. Die Scene muß kein ganzer Palla-, sondern nur ein Theil des Palla, -es seyn, wie ihn das Auge aus einem und eben demselben Standorte zu übersehen fain'g ist. Ob sie ein ganzer Pallast, oder eine ganze Smdt, oder eine ganze Provinz ist, das macht im Grunde ei, nerley Ungereimtheit. Doch schon Corneille gab diesem Gesetze, von dem sich ohnedies kein aus­ drückliches Gebot bey den Alten findet, die weitere Ausdehnung, und wollte, daß eins einzige Stadt zur Einheit des Orts hinreichend sey. Wenn er seine besten Stücke von dieser Seite rechtfertigen wollte, so mußte er wohl so nachgebend seyn. Was Corneillen aber erlaubt war, das muß Voltaire» Recht seyn. Ich sage also nichts dagegen, daß eigentlich die Scene bald in dem Zimmer der Königin, bald in dem oder jenem Saale, bald in dem Vorhofe, bald nach dieser bald nach einer andern Aussicht, muß gedacht werden. Nur hatte er bey diesen Abwechselungen auch die Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabey empfahl: sie müssen nicht in dem nehmlichen Akte, am wenig, sten in der nehmlichen Scene angebracht werden. Der Ort, welcher zu Anfänge des Akts ist, muß durch diesen ganzen Akt dauern ; und ihn vollends in eben derselben Scene abändern, oder auch nur erweitern oder verengern, ist die äußerste Unge, reimt-

Erster Theil«

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reimtheit von der Welt. Der dritte Akt der Merope mag auf einem freyen Platze, unter voglio col denti Lacerarlo, e sbranarlo —

Dramatursie. ivO.

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370 Hamburgische Dramaturgie.

wohl Recht haben. Merope, die sich kn der Un, gewißheit, in welcher sie von dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer überlast/ die immer das Schrecklichste besorgt/ und in der Vor, Peilung/ wie unglücklich ihr abwesender Sohn viel­ leicht sey, ihr Mitleid über alle Unglückliche er­ streckt: ist das schöne Ideal einer Mutter. Me­ rope/ die in dem Augenblicke, da^sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zärtlichkeit erfährt, von ihrem Schmerze betäubt dahin sinkt, und plötzlich, sobald sie den Mörder in ihrer Gewalt hört, wie­ der aussprinat, und tobt und wüthet, und die blu­ tigste schrecklichsteRache an ihm zu vollziehen droht, und wirklich vollziehen würde, wenn er sich eben unter ihren Händen befände: ist eben dieses Ide­ al, nur in dem Stande einer gewaltsamen Hand­ lung, in welchem es an Ausdruck und Kraft ge­ winnt, was eö an Schönheit und Rührung verloren hat. Aber Merope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt, Anstalten dazu vorkehrt, Feyerlichkciteu dazu anordnet, und selbst die Henkerin seyn, nicht todten, sondern martern," nicht strafen, sondern ih­ re Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freylich wohl; aber eine Mut­ ter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen den­ ken ; eine Mutter, wie eS jede Darin ist. — Diese Handlung der Merope gefalle, wem sie will; mir

Erster Theis.

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sage er es nur nicht, daß sie ihm gefalle, wenn ich ihn nicht eben so sehr verachten, als verabscheuen soll. Vielleicht dürste der Herr von Voltaire auch dieses zu einem Fehler des Stoffes machen; vielleicht dürste er sagen, Merope muffe ja wohl den Aegisth Wit eigner Hand umbriugen wollen, oder der ganze Coup de Thcatre, den Aristoteles so sehr anpreise, der die empfindlichen Arhenienser ehedem so sehr entzückt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire würde sich wiederum irren, und die willkührlichen Abweichungen des Maffei abermals für den Stoff selbst nehmen. Der Stoff erfordert zwar, daß Merope den Aegisth mit eigner Hand ermordeu will; allein er erfordert nicht, daß sie cs mit aller Ueberlegung thun muß. Und so scheint sie es auch bey dem Euripides nicht ge­ than zu haben, wenn wir anders die Fabel des Hyginus für den Auszug seines Stücks annehmen dürfen. Der Alte kommt und sagt der Königin weinend, daß ihm ihr Sohn weggekvmmen; eben hatte sie gehört, daß ein Fremder angelangt sey, der sich rühme, ihn umgebracht zu haben, und daß dieser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe: sie ergreift das erste das beste, waö ihr in die Hände fällt, eilt voller Wuth nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Er­ kennung geschieht in dem Augenblicke, da das Aa 2

372 Hamburgische Dramaturgie.

Verbrechen geschehe» sollte. war sehr sin-pel und natürlich, sehr rührend und menschlich! Die Athenienser zitterten für den Aegisrh, ohne Me, rvpen veiabi'cheuen zu dürfen. Eie zitterten für Meropen selbst, die durch die gutartigste Uefcereü lunq Gefahr lief, die Mörderin ihres Sohnes zir werden. Maffei und Voltaire aber machen mickbloß für den Aegisih zittern; denn auf ihre Merope bin ich so ungehalten, daß ich es ihr ast gönnen möchte, sie vollführte den Streich Möchte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache neh­ men, so hätte sie sich auch Feit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie so eine blutdürstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache in der ersten Hitze mit dem Mörder, was sie will, ich verzeihe ihr, sie ist Mensch und Mut/ ter; auch will ich gern mit ihr jammern und verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze zu verwünschen habe Aber, Ma­ dame, einen jungen Menschen, der Sie kurz zuvor so sehr interessirte, an dem Sie so viele Merkmah­ le der Aufrichtigkeit und Unschuld erkannten, weit man eine alte Rüstung bey ihm findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Mörder Ihres Sohnes, an dem Grabmal seines Vaters, mit eig­ ner Hand abschlachten zu wollen, Leibwache und Priester dazu zu Hülfe zu nehmen — O pfuy,

Elster Theil.

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Madame! ich mußte mich sehr irren, oder Sie wi/ reu in Athen ausgepfissen worden. Daß die UnfcbicFiicbfeit, mit welcher Polyphone nach fünfzehn Jahren die veraltete Merope zur Ge^ mahlin verlangt, eben so wenig ein Fehler-M Stosses ist, habe ich schon berührt *). Denn nach der Fabel des Hyginus hatte Polyphont Meropeu gleich nach der Ermordung des Kresphont geheirathet; und es ist sehr glaublich, daß selbst Euripi' des diesen Umstand so angenommen hatte. Wa, rum sollte er auch nicht? Eben die Gründe, mit welchen Eurikles, beym Voltaire, Meropen jetzt nach fünfzehn Jahren bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu gehen **)/ hatten sie auch vor fünf'

Aa; ♦) Oben, S. 349« **) Acte 11. Sc. i. ------ Mer. Non, mon AIs ne le souffrirait pas. L’exil, oü fon enfance a langui condamnee, Lui seraic moins affreux que ce lache hymcne. Euv. II le condamnerait, fi, paifible en fon rang, 11 n’en croyaic ici que les droits de fon fang; Msic fi par les malheurs fon ame ctaic instruite, Sur fes vrais interets s*il rcglait fa conduite, De fes trilles amis s’il confultait la voix, Ec la neceslite fouveraine des loix, II verrait que jamais fa malheureufe mere Ne lui donna d’amour une marque plus chere, Mir. Ah, que me dites - vous ? Eur. De dures verites, Qui m’arrachenr mon zcle rt vos calamitcs, -

374 Hamburgische Dramaturgie.'

zehn Jahren dazu vermögen können. ES war sehr in der Denkungsart der alten griechischen Frauen, daß sie ihren Abscheu gegen die Mörder ihrer Manner überwanden und sie zu ihren zweyten Männern annahmen, wenn sie sahen, daß den Kindern ihrer ersten Ehe Vortheil daraus erwachsen könne. Ich erinnere mich etwas ähnliches in dem griechischen Roman des Charitons, den d'Orville herausgege­ ben, ehedem gelesen zu haben, wo eine Mutter das Kind selbst, welches sie noch unter ihrem Herzen tragt, auf eine sehr rührende Art darüber zum Rich, ter nimmt. Ich glaube, die Stelle verdiente ange, führt zu werden; aber ich habe das Buch nicht bey der Hand. Genug, daß das, was dem EurikleS Voltaire selbst in den Mund legt, hinreichend gewesen wäre, die Aufführung seiner Merope zu recht, fertigen, wenn er sie als die Gemahlin des Poly, phont eingesührt hatte. Die kalten Scenen einer politischen Liebe waren dadurch weggefallen; und ich sehe mehr als Einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch weit lebhafter, und die Situationen noch weit intriguanter hätten werden können. Mer. Quoi! Vous me demandez. que sinteret surmonte Cette invincible horreur que j'ai pour Polifonte ! Vous qui me l’ävez peint de fi noires couleurs! Ewv. Je Cai peint dangereux, je connais fes fureurs; Mais il eft tout - puifiant: mais rien ne lui relistc; II eft fans heritier , et vous aimez Egifte. —

Erster Theil.

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Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei gebahnt hatte, und weil eö ihm gar nicht einmal einfiel, daß eS einen beff fern geben könne, daß dieser bessere eben der sey, der schon vor Alters befahren worden, so begnügte er sich, auf jenem ein Paar Sandsteine aus dem Gleise zu raumen, über die er meint, daß sein Dorganger fast umgeworfen hatte. Würde er wohl sonst auch dieses von ihm beybehalten haben, daAegisth, unbekannt mit sich selbst, von ungefähr nach Messene gerathen, und daselbst durch kleine rwkydeutige Merkmahle in den Verdacht kommen muß, daß er der Mörder seiner selbst sey? Bey dem Euripides kannte sich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdrücklichen Vorsatze, sich zu rächen, nach Messene, und gab sich selbst für den Mörder des Aegisth aus; nur daß er sich seiner Mutter nicht entdeckte, es sey aus Vorsicht, oder aus Mißtrauen, oder aus was sonst für Ursache, an der eS ihm der Dichter gewiß nicht wird haben mangeln lassen. Ich habe zwar obeni*)dem Masfei einige Gründe zu allen den Veränderungen, die er mit dem Plane des Euripides gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich bin weit ent­ fernt, die Gründe für wichtig, und die Verändee rungen für glücklich genug auszugeben. Vielmehr Aa 4 *) S. zl«.

376 Hamburgische Dramaturgie. *

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behaupte ich, daß jeder Tritt, den er aus den Fuß, stapfen des Griechen zu thun gewagt, ein Fehltritt geworden. Daß sich Aegisth nicht kennt, daß er von ungefähr nach Messens kommt, und per combinazione d’accidcnti (wie Maffei es ausdrückt) für den Mörder des Aegisth gehalten wird, giebt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr verwirr­ tes, zweydeutiges und romanhaftes Ansehen, son­ dern schmacht auch das Interesse ungemein. Bey dem Euripides wußte es der Zuschauer von dem Aegisth selbst, daß er AegiSth sey, und je gewisser er eS wußte, daß Merope ihren eignen Sohn um, zubringen kommt, desto grösser mußte nothwendig das Schrecken seyn, daß ihn darüber befiel, desto quälender das Mitleid, welches er voraus sahe, falls Merope an der Vollziehung nicht zu rechter Zeit verhindert würde. Bey dem Maffei und Voltaire hingegen vermuthen wir eS nur, daß der ver­ meinte Mörder des Sohnes der Sohn wohl selbst seyn könne, und unser größtes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick verspätt, in welchem es Schrecken zu seyn aufhöret. Das Schlimmste da­ bey ist noch dieses, daß die Gründe, die uns in dem jungen Fremdlinge den Sohn der Merope vermuthen lassen, eben die Gründe sind, aus wel­ chen es Merope selbst vermuthen sollte; und daß wir ihn, besonders bey Voltaire», nicht in dem

allergerinasten Stücke naher und zuverlässiger ken, neu, als sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gründen entweder eben so viel, als ih­ nen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen wir ihnen eben so viel, so halten wir den Jüngling mit ihr sür einen Betrüger, und das Schicksal, das sie ihm zngedacht, kann uns nicht sehr rühren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, daß sie nicht besser darauf merkt, und sich von weit leichtern Gründen hinreißen laßt. Beydes aber taugt nicht.

XLVIII. Den izten Oktober, 1767.

E- ist wahr, unsere Ueberraschung ist größer, wenn wir es nicht eher mit völliger Gewißheit er­ fahren, daß Aegisth Aegisth ist, als bis eö Merope selbst erfahrt. Aber das armselige Vergnügen einer Ueberraschung! Und was braucht der Dichter uns zu überraschen? Er überrasche seine Personen, so viel er will; wir werden unser Theil schon da­ von zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermuthet treffen muß, auch noch so lange vor­ ausgesehen haben. Ja, unser Antheil wird um so

378 Hamburgische Dramaturgie. »ii

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lebhafter und stärker sey«, je länger und zuverläsi figer wir es vorausgesehen habe». Ich will, über diese» Punkt, den besten sran« tisischen Kunstrichter für mich spreche» lassen. „In den verwickelten Stücken, sagt Diderot •), ist das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Rede«; in den einfachen Stücken hinge» gen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des PlanS. Allein worauf muß sich das Interesse be< ziehen? Auf die Personen? oder auf die Zu» schauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welche» man nicht- weiß. Folglich sind «< die Personen, die man vor Auge« habe« muß. Unstreitig! Diese'lasse man den Knote» schurren, ohne daß sie eS wissen; für diese sey alles un» durchdringlich; diese bringe man, ohne daß sie es merken, der Auflösung immer naher und näher. Sind diese nur in Bewegung, so werden wir Zu» schauer den nehmlichen Bewegungen schon auch «achgeben, sie schon auch empfinden müsse«. — Weit gefehlt, daß ich mit den meisten, die von der dramatische« Dichtkunst geschrieben haben, glauben sollte, man müsse die Entwickelung vor dem Zuschauer verberge». Ich dächte vielmehr, es sollte meine Kräfte nicht übersteige», wen» ich mir ein Werk tu machen vorsetzte, wo die Ent» ♦) In seiner dramatischen Dichtkunst, hinter dem HauStatet S. zr?- d. Uebers.

Erster Theil. -»

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Wicklung gleich in der ersten Scene verrathen wür­ de, und aus diesem Umstande selbst das allerstärkste Interesse entspränge. — Für den Zuschauer muß alles klar seyn. Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles, was vorgeht, alles, was vorgcgangen ist; und es giebt hundert Augenblicke, wo man nichts besserS thun kann, als datz man ihm gerade voraussagt, was noch vorgeheu soll. —. O, ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ibr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie übertre­ ten kann, so oft eS ihm beliebt! — Meine Gedan­ ken mögen so paradox scheinen, als sie wollen; so viel weiß ich gewiß, daß für Eine Gelegenheit, wo es nützlich ist, dem Zuschauer einen wichtigen Vor, fall so lange zu verhehlen, bis er sich ereignet, es immer zehn und mehrere giebt, wo das Interesse gerade das Gegentheil erfordert. — Der Dichter bewerkstelligt durch sein Geheimniß eine kurze Ue, berraschung; und in welche anhaltende Unruhe hätte er uns stürzen können, wenn er uns kein Ge­ heimniß daraus gemacht hätte! — Wer in Einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch nur Einen Augenblick bedauern. Aber wie steht es alsdann mit mir, wenn ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, daß sich das Urr,

38o Hamburgische Dramaturgie. csr-r

gewltter über meinem oder eines andern Hauvte zusammeuzieht, und lange 3>it darüber ver* weilt? — Meinc!wegen mögen die Personen alle ein/ ander nicht keinen; wenn sie nur der Zuschauer alle kennt. — Ja, ich wollte fast behaupten, daß der Stoss, bey welchem die Verschweigungen noth/ wendig sind, ein undankbarer Stoff ist; das; der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie hätte entübrigen können. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben. Immer werden wir uns mit Vorbereitungen beschäftigen müssen, die entweder allzu dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorzubrün gen vermag. Iß hingegen alles, was die Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle der allerhestigsten Bewegungen.— Warum haben gewisse Monologen eine so große Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen An­ schläge einer Person vertrauen, und diese Vertrau­ lichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder Hoff-' irung erfüllt. — Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann sich der Zuschauer für die Handlung nicht starker interessiren, als die Perso­ nen. Das Interesse aber wird sich für den Zu-

Erster Theis.

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schauer verdoppel», wenn er Licht qenilg hat, und es fühlt, daß Handlungen und Reden ganz mv ders seyn würden, wenn sich die Personen kennten. Alsdann nur werde ich es fan:u erwarten können, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie wirklich sind, mit dem, was sie thun oder thun wollen, vergleichen kann." Dieses auf den Aegisth attgewendet, ist es klar, für welchen von beyden Planen sich Diderot erklä­ ren würde: ob für den alten des Euripides, wo die Zuschauer gleich vom Anfänge den Aegisth eben sv gut kennen, als er sich selbst; oder für den neuern des Massei, den Voltaire so blindlings an­ genommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Räthsel ist, und dadurch das ganze Stuck „zu einem Zusammenhänge von fieinen Kunstgriffen" macht- die weiter nichts als eine kurze Ueberraschung hcrvorbringen. Diderot hat auch nicht ganz Unrecht, seine Gedanken über die Entbehrlichkeit und Geringfügig­ keit aller ungewissen Erwartungen und plötzlichen Ueberraschungen, die sich aus den Zuschauer bezie­ hen, für eben so neu als gegründet auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer Abstraktion, aber sehr alt in Ansehung der Muster, aus welchen sie abstrahirt worden. Sie sind neu, in Betrachtung, daß seine Vorgänger nur immer auf das Gegen-

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theil gedrungen; aber unter diese Vorgänger ge/ hört weder Aristoteles noch Horaz, welchen durch/ aus nichts entfahren ist, was ihre Ausleger und Nachfolger in ihrer Prabilektiott für dieses ©cgeiv theil hätte bestärken können, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch den besten Stücken der Alten abgesehen hatten. Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiß,, daß er fast immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie führen wollte. Ja, ich wäre sehr^geneigt, aus diesem Ge, fichtspunkte die Vertheidigung seiner Prologen zu übernehmen, die den neuern Kritikern so sehr miss, fallen. Nicht genug, sagt Hedelin, daß er rneü Aentheils alles, was vor der Handlung des Stucks vorhergegangen, durch eine von seinen Hauptpersonen den Zuhörern geradezu erzählen (56t, um ih­ nen auf diese Weise das Folgende verständlich zu machen: er nimmt auch wohl öfters einen Gott herzu, von dem wir annehmen müssen, daß der ab les weiß, und durch den er nicht allein was gesche/ hen ist, sondern auch alles, was noch geschehen soll, uns kund macht. Wir erfahren sonach gleich Ansangs die Entwickelung und die ganze Katastrophe, und sehen jeden Zufall schon von weitem kommen. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der Ungewißheit und Erwartung, die auf dem

Erster Theis.

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Theater beständig herrschen sollen, gänzlich zuwi­ der ist, und alle Annehmlichkeiten des Stücks ver­ nichtet, die fast einzig und allein auf der Neuheit und Ueoerraschunz beruhen *)." Nein: der tra­ gischste von allen tragischen Dichtern dachte so ge­ ringschätzig von seiner Kunst nicht; er wußte, daß sie einer weit höher» Vollkommenheit fähig wäre, und daß die Ergötzung einer kindischen Neugierde das geringste sey, worauf sie Anspruch mache. Er ließ seine Inhörer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung eben so viel wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und ver­ sprach sich die Nahrung, die er hervorbringen woll­ te, nicht sowohl von dem, was geschehen sollte, alvon der Art, wie es geschehen sollte. Folglich müß­ te den Kuustrichtern hier eigentlich weiter nichtanstößig Npn, als nur dieses, daß er uns die nöthi­ ge Kenntniß des Vergangenen und des Zukünfti­ gen nicht durch einen feinern Kunstgriff beyzubringen gesucht; daß er ein höheres Wesen, welchewohl noch dazu an der Handlung keinen Antheil nimmt, dazu gebraucht; und daß er dieses höhere Wesen sich geradezu an die Zuschauer wenden las­ sen, wodurch die dramatische Gattung mit der er­ zählenden vermischt werLe. Wenn sie aber ihren Tadel sodann bloß hierauf ernschränkten, was wä-

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re d-iin ihr Tadel? Ist uns das Nützliche und Nothwendige niemals willkommen, als enn es uns verstohlner Meise zugeschanzt wird? Giebt eS nicht Diuqe, besonders in der Zukunft/ die durchs aus niema d anders als ein Gott wissen kann? Und wenn das Interesse auf solchen Dingen beruht, ist rs nicht besser, dass wir sie durch die Dazwischenfünft eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht? Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen überhaupt? In den Lehrbüchern sondre man sie so genau von einander ab, als möalrch; aber wenn ein Genie, höherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und eben demselben Werke zusamrrrenfließen lüßt, so vergesse man daS Lehrbuch, und untersuche bloß, ob es diese höheren Absichten erreicht hat. Was geht-mich es an, ob so ein Stück des Euripides weder gan; Erzöhlm g, noch ganz Drama ist. Nennt es immerhin einest Zwitter; genug, daß mich dieser Zwrtter mehr vergnügt, mehr erbauet, als die gesetzmäßigsten Ge, bürten eurer korrekten Raciuen, oder wie sie sonst heißen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eins von den nutzbarsten lasttragenden Thieren? —

XLIX/

Erster Theil.

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XIJX. Den i6tea Oktober, 1767. Einem Morte: wo die Tadler des Euripi­ des nichts als den Dichter zu sehen glauben, der sich aus Unvermögen oder aus Gemächlichkeit, oder aus beiden Ursachen, seine Arbeit so leicht machte, als möglich; wo sie die dramatische Kunst in ihrer Wiege zu finden vermeinen: da glaube ich diese in ihrer Vollkommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der im Grunde eben so re­ gelmäßig ist, als sie ihn zu seyn verlangen, und es nur dadurch weniger zu seyn scheint, weil er sei­ nen Stücken eine Schönheit mehr hat ertheilen wollen von der sie keinen Begriff haben. Denn es ist klar, daß alle die Stücke, deren Prologe ihnen so viel Aergerniß machen, auch oh­ ne diese Prologe, vollkommen ganz, und vollkom­ men verständlich sind. Streicht z. E. vor dem Jon den Prolog des Merkurs, vor der Hekuba den Prolog des Polydors weg; laßt jenen sogleich mit der Morgenandacht des Jon, und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind beide da­ rum im geringsten verstümmelt? Woher würdet ihr, was ihr weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da wäre? Behält nicht alles den nehmDramaturgie, rr Th. Bb

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tieften Gang, den nehmlichen Zusammenhang? Be» kennt sogar, daß die Stücke nach eurer Art zu denken, desto schöner seyn würden, wenn wir aus den Prologen nicht wüßten, daß der Ion, wel­ chen Kreusa will vergiften lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; daß die Kreusa, welche Jon von dem Altar ru einem schmählichen Lode reißen will, die Mutter dieses Jon ist; wenn wir nicht wüßten, daß an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum Opfer hingeben muß, die alte unglückliche Frau auch den Tod ihres letzten einzigen Sohnes erfahren soll. Denn alles dieses würde die treff­ lichsten Ueberraschungen geben, und diese Ueberraschungen würden noch dazu vorbereitet genug seyn: ohne daß ihr sagen könntet, sie brächen auf einmal gleich einem Blitze aus der Hellesten Wolke hervor; sie erfolgten nicht, sondern sie entständen; man wolle euch nicht auf einlnal etwas entdecken, sondern etwas aufheften. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Mangel der Kunst vor? Vergebt ihm doch immer einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu machen ist. Einen wol­ lüstigen Schößling schneidet der Gärtner in der Stille ab, ohne auf den gesunden Baum zu schel­ ten, der ihn getrieben hat. Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen, — es ist wahr, er heißt

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sehr viel annehmen, — daß Euripides vielleicht eben so viel Einsicht, eben so viel Geschmack könne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um so viel mehr, wie er bey dieser großen Einsicht, bey diesem feinen Geschmacke, dennoch einen so groben Fehler begehen können: so tretet ru mir her, und betrachtet, Mas ihr Fehler nennt, auS meinem Standorte. Euripides sah es so gut, als wir, daß z. B. sein Ion ohne den Prolog bestehe» könne; daß er, ohne denselben, ein Stück sey, welches die Ungewißheit und Erwartung des Zu­ schauers bis an das Ende unterhalte; aber eben an dieser Ungewißheit und Erwartung war ihm uichrs gelegen. Denn erfuhr es der Zuschauer erst in dem fünften Akte, daß Ion der Sohn der Kreusa sey: so ist es für ihn nicht ihr Sohn, son­ dern ein Fremder, ein Feind, den sie in dem drit­ ten Akte aus dem Wege räumen will; so ist es für ihn nicht die Mutter des Ion, an welcher ftch Ion in dem vierten Akte rächen will, sondern bloß die Meuchelmörderin. Wo sollten aber al-dann Schrekken und Mitleid Herkommen? Die bloße Vermu­ thung, die sich etwa aus übereintreffenden Um­ ständen hatte riehen lassen, daß Jon und Kreusa einander wohl naher angehen könnten, als sie meinen, würden dazu nicht hinreichend gewesen seyn. Diese Vermuthung mußte rur Gewißheit Bb a

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werden; und wenn der Zuhörer diese Gewißheit nur von außen erhalten konnte, wenn eti nicht möglich war, daß er sie einer ton den handeln, den Personen selbst zu danken haben konnte: war es nicht immer besser, daß der Dichter si ihm auf die einzige mögliche Weise ertheilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise, was ihr wollt: genug, sie hat ihm sein Ziel erreichen Helsen; seine Tragödie ist dadurch, was eine Tragödie seyn soll: und wenn ihr noch unwillig seyd, daß er die Form dem Wesen nachgesetzt hat, so versorgt euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stücken, wo das We, feu der Form aufgeopsert ist, und ihr seyd belohnt! Immerhin gefalle euch Whiteheads Kreusa, wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr allevon einem alten plauderhasten Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerin ausfragt; immer, hin gefalle sie euch besser, als des Euripides Ion: und ich werde euch nie beneiden! Wenn Aristoteles den Euripides den tragischsten von allen tragischen Dichtern nennet, so sah er nicht bloß darauf, daß die meisten seiner Stücke eine unglückliche Katastrophe haben; ob ich schon weiß, daß viele den Stagyriten so verstehen. Denn das Kunststück wäre ihm ja wohl bald abgelernt; und der Stümper, der brav würgen und morden, und keine von seinen Personen gesund oder leben,

Erster Theis.

,— Alle meineFreunde find mir zuwider — und «er« „dächtig; die ich sonst nicht oft genug um mich ha„den konnte, sehe ich jetzt lieber gehen als kommen. „WaS Haden fie auch in meinem Haus« zu suchen? „Was wollen di« Müßiggänger? Wozu alle die «Schmeicheleien, die fie meiner Frau sagen? Der »ein« lobt ihren Verstand; der andere erhebt ihr ge­ fälliges Wesen bi« in den Himmel. Den entzücke« „ihre himmlischen Augen, und den ihre schönen Zäh„ne. Alle finden fie höchst reizend, alle anbetens, „würdig; und immer schließt sich ihr verdammte„Geschwätz mit der verwünschten Betrachtung, was „für ein glücklicher, was für eil» beneidenswürdiger ».Mann ich bin. „Dubois. Ja, ja, es ist wahr, so geht «S zu. „Doranr. O, fie treiben ihre unverschämte «Kühnheit wohl noch weiter! Kaum ist fie ans dem „Bette, so find fie um ihre Toilette, Da solltest „du erst sehen und hören! Jeder will da seine Auft »merksamkeit und seinen Witz mit dem andern um „die Wette zeigen. Ein abgeschmackter Einfall jagt „den andern, eine boshafte Spötterey die andere, » ein kitzelndes Histörchen das ander«. Und das al„les mit Zeichen, mit Mienen, mit Liebäugeleyen, «die meine Frau so leutselig annimmt, so verbindlich „erwiedert, daß — mich der Schlag ost rühre»

Erster Theis. ❖====== ***eni Leben; solche Müßiagärmer, sol­ che in ihre Kinder vernarrte Mütter, solche schaalwitzige Besuche, uud solche dumme PeLzhändler sehen wir alle Tage. So : denkt, so lebt, so handelt der Mittelstand unter den Deutschen. Der Dichter hat seine Pflicht gethan; er hat uns geschildert, wie wir find.. Allein ich gähnte vor Langeweile. — Ich las darauf den Triumpf der guten Frauen. Melcher Unterschied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren Handlungen, achten Witz in ihren Ge, sprächen, und den Ton einer feinen Lebensart in ih­ rem ganzen Umgänge " Der vornehmste Fehler, den eben derselbe Kunst­ richter daran bemerkt hat, ist der, daß die Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und leider, muß man dieses zugestehen. Wir sind aber in unsern Lustspie­ len schon zu sehr an fremde, und besonders an fran­ zösische, Sitten gewöhnt, als daß es eine besonder­ üble Wirkung auf uns -haben könnte. „Nikander, heißt es, ist ein französischer Abentheurer, der auf Eroberungen ausgeht, allen Frau­ enzimmern nachstellt, keinem im Ernste gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu stürzen, aller Frau») Briefe, die neueste Litteratur betreffend, Theil xxi. S. 13?.

Erster Theil.

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en Verführer und aller Manner Schrecken zu werden sucht, und der bey allem diesen kein schlechtes Herr hat. Die herrschende Verderblich der Sitten und Grundsätze scheint ihn mit fottgeriffen |u haben. Gottlob! tafi ein Deutscher, der so leben will, das verderbteste Herr von derWelt habenmuß. — Hilaria, Nikanders Frau, die er vier..Wochen nach der Hochzeit verlassen, und nunmehr in zehn Jahren nicht gesehen hat, kömmt auf den Einfall ihrrauhusuchen. Sie kleidet sich als eine Mannsperson, und folgt ihm, unter dem Namen Philint, in alle Häuser nach, wo er Avantüren sucht. Philint ist witziger, flatterhaft ter und unverschämter alö Nikander. Die grauen' zimmer sind dem Philint mehr gewogen, und sobald er mit seinem frechen aber doch artigen Wesen sich sehen laßt, steht Nikander da wie verstummt. Die' ses giebt Gelegenheit zu sehr lebhaften Situationen. Dle Erfindung ist artig, der zwiefache Charakter wohlgezeichnet, Und glücklich in Bewegung gesetzt; aber das Original zu diesem nachgeahmten Petit, maitre ist gewiß kein Deutscher." „Was mir, fahrt er fort, sonst an diesem Lust, spiele mißfallt, ist der Charakter des Aaenors. Den Triumph der guten Frauen vollkommen zu machen, zeigt dieser Agenor den Ehemann von einer gar zu häßlichen Seite. Er lyrannifirt seine unschuldige Ju­ liane auf das unwürdigste, und hat recht feine Lnst daran, sie tu quälen. Grämlich, so-fterfichselMläßt,

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spöttisch M beit Lhranen seiner gekränkten Frau, argwöhnisch bey ihren Liebkosungen, boshaft genug, ihre unschuldigsten Reden und Handlungen durch eine falsche Wendung zu ihrem Nachtheile auszulegev, eirersüchtlg, hart, unempfindlich, und, wie Sie flch leicht etnb'.lden können, in seiner F au KammermLd, chen verliebt — Ein solcher Mann- LA gar ;u ver­ derbt, als daß wir ihm eine schleunige Besserung Zutrauen könnten. Der Dichter giebt ihm eine Ne, b'mrolle, in welcher sich die Falten seines nichtswür« diqen Merzens nicht genug entwickeln können. Er tobt, Und weder Juliane noch die Leser wissen recht, was er will. Eben so wenig hat der D chter Raum gehabt, seine Besserung gehörig vorzubereitett und zu veranstalten. Er mußte sich begnügen, diesegleichsam im Vorbeigehen ru thun, weil die HanptHandlung mit Nikander und Philintett zu schaffen hat­ te. Karhritte, diese-edelmüthige Kammermädchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte, sagt gar recht am Ende des Lustspiels: „die geschwindesten Bekehrungen sind nicht allemal die aufrichtigsten! “ Wenigsten- so lange diese- Mädchen im Hause ist, möchte ich nicht für die Aufrichtigkeit stehen Ich freue mich, dass die beste deutsche Komö< die r em richtigsten deutschen Beurtheiler in die Hande gefallen ist. Und doch war eS vielleicht die erste Komödie, die dieser Mann beurtheilte.