Gottfried Keller und Theodor Fontane: Vom Realismus zur Moderne 9783110209327, 9783110196474

Gottfried Keller and Theodor Fontane are among the most important authors in Realism. A comparative reading of the two n

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German Pages 256 Year 2008

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
Wetterleuchten der Moderne
Das Zelluloid des Realismus
Kontingenz als Problem des bürgerlichen Realismus
Todesfiguren
»Excelsior!«
Von Wetterfahnen, Schönheitskuren und Straßenmalern
»Tre giorni son che Nina ...«
»1819 war ein gesegnetes Jahr«
»ein Werk von so eminenter Bedeutung«
Haarrisse im realistischen Firnis
Die Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA)
Theodor Fontanes Notizbücher
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Gottfried Keller und Theodor Fontane: Vom Realismus zur Moderne
 9783110209327, 9783110196474

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Gottfried Keller und Theodor Fontane Vom Realismus zur Moderne



Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft Herausgegeben von der

Theodor Fontane Gesellschaft e.V. Wissenschaftlicher Beirat

Hugo Aust Helen Chambers

Band 6

Walter de Gruyter Berlin · New York

Gottfried Keller und Theodor Fontane Vom Realismus zur Moderne Herausgegeben von

Ursula Amrein Regina Dieterle

Walter de Gruyter Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019647-4 ISSN 1861-4396 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin, unter Verwendung eines Porträts von Theodor Fontane, Deutsches Historisches Museum Bildarchiv

Vorwort Der vorliegende Band versammelt die Beiträge des internationalen Symposiums Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Die Tagung, die vom 25. bis 28. Mai 2006 in Zürich stattfand, wurde angeregt und vorbereitet von der Gottfried Keller-Gesellschaft (Zürich) und der Theodor Fontane Gesellschaft (Neuruppin), die jährlich eine wissenschaftliche Frühjahrstagung durchführt. Den vielen, die zum erfolgreichen Gelingen der Tagung beigetragen haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Besonders danken möchten wir Prof. Dr. Hubertus Fischer (Vorsitzender der Theodor Fontane Gesellschaft), der die internationale Forschungszusammenarbeit entscheidend förderte, und Dr. Rainer Diederichs (Präsident der Gottfried Keller-Gesellschaft), der mit großer Umsicht zur Realisierung vor Ort verhalf. Unseren Dank aussprechen möchten wir auch dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung (Zürich), der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, dem Präsidialdepartement der Stadt Zürich, dem Kulturhaus Helferei (Zürich), der Kantonsschule Enge (Zürich) und der Literarischen Vereinigung Winterthur, ohne deren großzügige Unterstützung die Tagung nicht hätte verwirklicht werden können. Mit dem Band Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne wird die Reihe Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft im Verlag Walter de Gruyter in neuer Gestalt weitergeführt. Für die Aufnahme des Tagungsbandes in diese Reihe sei Verlag und Gesellschaft ebenfalls herzlich gedankt. Ursula Amrein und Regina Dieterle

Zürich, im März 2008

Inhalt Einleitung Ursula Amrein und Regina Dieterle....................................................................1

Ästhetik und Literatur Peter von Matt Wetterleuchten der Moderne. Krisenzeichen des bürgerlichen Erzählens bei Keller und Fontane ...........................................................19 Hugo Aust Das Zelluloid des Realismus oder wie Keller und Fontane das »Gefühl der Wirklichkeit« gewinnen ......................................................31 Michael Andermatt Kontingenz als Problem des bürgerlichen Realismus. Raumgestaltung bei Fontane und Keller .................................................41

Säkularisierung Ursula Amrein Todesfiguren. Zur Begründung des Realismus bei Gottfried Keller .................................................................................63 Rolf Zuberbühler »Excelsior!«. Idealismus und Materialismus in Kellers und Fontanes politischen Altersromanen »Martin Salander« und »Der Stechlin« ..................................................................................87 Margret Walter-Schneider Von Wetterfahnen, Schönheitskuren und Straßenmalern. Über das Moderne in Fontanes »Stechlin« ............................................ 113

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Inhaltsverzeichnis

Korrespondenzen und Kontexte Karl Pestalozzi »Tre giorni son che Nina…«. Zu einem rätselhaften Zitat im 45. Kapitel des »Stechlin« ................................................................. 127 Roland Berbig »1819 war ein gesegnetes Jahr«. Die Theodor-Fontane-Chronik: mit einem Seitenblick auf die ›Gottfried Keller‹-Einträge..................... 147 Regina Dieterle »ein Werk von so eminenter Bedeutung«. Der junge Otto Brahm und sein literaturkritisches Engagement für Keller und Fontane ..................................................... 165

Materialität – Übersetzung – Edition Peter Utz Haarrisse im realistischen Firnis. Keller und Fontane im Licht ihrer französischen Übersetzungen ........................................ 181 Walter Morgenthaler Die Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA). »Der grüne Heinrich«............................................................................ 197 Gabriele Radecke Theodor Fontanes Notizbücher. Überlegungen zu einer notwendigen Edition ............................................................................. 211

Siglenverzeichnis ................................................................................... 235 Bildnachweis .......................................................................................... 237 Personenregister .................................................................................... 239 Werkregister Gottfried Keller ............................................................... 242 Werkregister Theodor Fontane............................................................. 243 Die Autorinnen und Autoren ............................................................... 245

Einleitung Ursula Amrein und Regina Dieterle Gottfried Keller (1819–1890) und Theodor Fontane (1819–1898) gehören zu den großen Autoren des Realismus. Sie haben das literarische Schaffen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich geprägt und entscheidend auch der Moderne vorgearbeitet. Eine vergleichende Lektüre ihrer Werke vermittelt beispielhaft Einblick in die literarischen Verfahren und ästhetischen Positionen, die für den Realismus von epochaler Bedeutung sind. Zugleich vermag eine solche Lektüre die beiden Autoren in den Eigenheiten ihrer Schreibweise, in ihren je besonderen biographischen und politischen Kontexten erkennbar zu machen. Persönlich sind sich Keller und Fontane nicht begegnet, ihre Wege aber haben sich mehrfach gekreuzt und ihre schriftstellerische Laufbahn verläuft bei allen Differenzen in vielem erstaunlich parallel. Unabhängig voneinander, aber zum gleichen Zeitpunkt und am selben Ort, im Berlin der fünfziger Jahre, formulieren sie ein literaturkritisches Programm, das im Kern die Poetik des Realismus enthält. In Abgrenzung von der Romantik und zugleich im Rückgriff auf Positionen der klassisch-idealistischen Ästhetik fordern beide eine der Wirklichkeit zugewandte Literatur. Wirklichkeit indes dürfe nicht bloß abbildend wiedergegeben werden, sie sei vielmehr auf das Menschlich-Wahre hin transparent zu machen.1 Keller verlangt vom Schriftsteller in diesem Sinne die Konzentration auf das »Sinnliche, Sicht- und Greifbare«.2 Gleichzeitig aber habe er das, »was rein menschlich ist« und »ewig sich gleich bleibt […] zur Geltung«3 zu bringen. Ein »Spiegelbild« sei demnach zu schaffen, aber eines, das die Wirklichkeit in »gereinigte[r] und veredelte[r]«4 Form wiedergibt. Nur so könne die Literatur ihrer Aufgabe gerecht werden, »in der gemeinen Wirklichkeit eine schönere Welt wiederherzustellen durch die Schrift«.5 Vergleichbar argumentiert Fontane, wenn er den »Realismus«6 zum Kennzeichen seiner Zeit im Allgemeinen und der Kunst im Besonderen erklärt und ausführt: »Er ist die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst«.7 Präzisierend fügt er an, dass es dem Realismus nicht um »das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten«8 gehe, »Misere« sei nicht »mit

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Realismus« zu verwechseln.9 Das Leben selbst liefere nur den Stoff, der dann einer künstlerischen Bearbeitung bedürfe. Das »Wahre«,10 auf das die Literatur ziele, verdanke sich der »poetische[n] Verklärung«, sei also nicht »der nackte, prosaische Realismus«.11 Veredelung bei Keller, Verklärung bei Fontane sind die Stichworte, mit denen die Autoren ihre Ästhetik umschreiben und darin das Darstellungsprinzip des poetischen Realismus umreißen. Mit ihren programmatischen Forderungen stehen sie in den fünfziger Jahren nicht alleine. Sie argumentieren in Übereinstimmung mit Auffassungen, wie sie prominent von den Zeitgenossen Julian Schmidt, Gustav Freytag, Otto Ludwig oder Friedrich Spielhagen vertreten und auch normativ durchgesetzt werden. Keller und Fontane verorten sich über die zitierten Programmschriften zustimmend im Feld des poetischen Realismus, sie definieren und legitimieren ihre Rolle als Schriftsteller, noch bevor entsprechende Erfolge überhaupt vorliegen, und stecken darin auch das Terrain ihres künftigen Wirkungsfeldes ab. Dabei wird sich zeigen, dass beide Autoren ein je eigenständiges Profil gewinnen. Ausgehend von vergleichbaren poetologischen Prämissen, schaffen sie eine Literatur, die den vorgezeichneten Rahmen sprengt und die in je unterschiedlicher Weise auf Praktiken der Moderne vorausweist. Dennoch geraten beide Autoren gegen Ende des Jahrhunderts in die Defensive. Mit der Moderne sehen sie sich von jüngeren Autoren herausgefordert, die die Postulate des Realismus aufnehmen, diese zuspitzen und zugleich außer Kraft setzen, indem sie radikal mit dem Prinzip der Verklärung brechen und Themen in die Literatur einführen, die der poetische Realismus dem Bereich des Hässlichen zugeordnet und aus dem Reich der Kunst verbannt hatte. Keller beharrt in diesem Kontext auf der Eigengesetzlichkeit der Literatur. Gegenüber Heyse erklärt er 1881: »Im stillen nenne ich dergleichen die Reichsunmittelbarkeit der Poesie, d. h. das Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne weiteres anzuknüpfen, ein Recht, das man sich nach meiner Meinung durch keine Culturwandlung nehmen lassen soll.«12 Fontane seinerseits tritt als Theaterkritiker für den Naturalismus ein, distanziert sich aber gleichzeitig von der Abbildästhetik der jungen Autoren, indem er am Prinzip der Transformation ausdrücklich festhält. Anlässlich seiner Kritik der Uraufführung des gemeinsam von Arno Holz und Johannes Schlaf verfassten naturalistischen Dramas Die Familie Selicke (1890) markiert er die Grenze, wenn er ausführt: »Denn es bleibt nun mal ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Bilde, das das Leben stellt und dem Bilde, das die Kunst stellt; der Durchgangsprozeß, der sich vollzieht, schafft doch eine rätselhafte Modelung und an dieser Modelung haftet die künstlerische Wir-

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kung, die Wirkung überhaupt.«13 Dass Fontane trotz seiner Kritik am Naturalismus Gerhart Hauptmann gelten lässt, hat letztlich mit dieser künstlerischen Wirkung zu tun, die er als Effekt der Verklärung fasst. In seiner Kritik zur Uraufführung von Vor Sonnenaufgang hält Fontane in diesem Sinne fest: »Bleibt diese Wirkung aus, übt der Ton nicht seine heiligende, seine rettende Macht, verklärt er nicht das Häßliche, so hat der Dichter verspielt […]. Gerhart Hauptmann […] hat nicht bloß den rechten Ton, er hat auch den rechten Mut, und zu dem rechten Mute die rechte Kunst. Es ist töricht, in naturalistischen Derbheiten immer Kunstlosigkeit zu vermuten. Im Gegenteil, richtig angewandt (worüber dann freilich zu streiten bleibt) sind sie ein Beweis höchster Kunst.«14 So nahe sich Keller und Fontane in ihren programmatischen Äußerungen stehen, so verschieden präsentieren sich ihre Werke, die sich nicht auf Prämissen des poetischen Realismus reduzieren lassen. Gemeinsamkeiten und Differenzen zeichnen sich auch im Blick auf Kellers und Fontanes schriftstellerische Karrieren ab, die einen vergleichbaren Verlauf nehmen, dabei aber von politischen, konfessionellen und nationalen Unterschieden geprägt sind. Ausgangspunkt beider Karrieren ist die Begeisterung für die Lyrik des Jungen Deutschland. Zu den wichtigen Zentren dieser Bewegung gehörte Zürich. Kellers Vaterstadt hatte sich im Vorfeld der 1848er-Revolution als Treffpunkt der literarischen Emigration angeboten und wurde mit der von Julius Fröbel geleiteten Verlagsbuchhandlung Literarisches Comptoir Zürich und Winterthur auch zur Drehscheibe der in Deutschland verbotenen Literatur. Keller und Fontane zeigen sich vom Programm des Comptoirs gleichermaßen inspiriert. Beide imitieren die hier veröffentlichten Autoren und bemühen sich um die Aufnahme in den Verlag, der mit der Veröffentlichung von Georg Herweghs Gedichten eines Lebendigen (1841) schlagartig ins Zentrum der revolutionären Bewegungen gerückt war. Während Keller dank persönlicher Kontakte Zugang zum renommierten Emigrantenverlag fand, erste Gedichtzyklen im Deutschen Taschenbuch des literarischen Comptoirs veröffentlichen konnte und in der Folge zum lokalen Star des Zürcher Liberalismus im Umfeld Alfred Eschers aufstieg, blieben Fontanes Bemühungen hier erfolglos. Als Mitglied des sogenannten Herwegh-Klubs in Leipzig, dem er seit 1841 angehörte und der eigentlich eine Vereinigung radikaler Burschenschaftler war, bekam er sein Manuskript ungelesen zurück. Lakonisch beschreibt er später in der Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig (1898), wie von »unserm Klub, wie von so vielen andern Stellen in Deutschland, drei stattliche Manuskriptpakete die Wanderung nach Zürich hin antraten, zu Froebel u. Co., wo Herweghs Gedichte erschienen waren. Eins dieser Manuskripte rührte, wie kaum noch gesagt zu werden braucht, von mir her und war von einigen Einleitungs-

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strophen begleitet, die, nicht minder selbstverständlich, die Überschrift ›An Georg Herwegh‹ trugen. […] Wir kriegten unsre Manuskripte zurück, ohne daß die Verlagsbuchhandlung auch nur einen Blick hinein getan hätte. Wie konnte sie auch! Es brach eben damals eine Hochflut über sie herein.«15 Fontanes erste selbständige Publikationen, der Romanzenzyklus Von der schönen Rosamunde sowie Männer und Helden. Acht Preußenlieder, erschienen 1850. Keller seinerseits brachte sein erstes Buch 1846 unter dem Titel Gedichte heraus. In den fünfziger Jahren hielten sich Keller und Fontane für längere Zeit im Ausland auf. Der Zürcher ging nach Deutschland, der Preuße nach Großbritannien. Anlass für Kellers Reise war ein Stipendium der Zürcher Regierung, mit dem die liberale Regierung ihren jungen Poeten fördern wollte. 1848 begab er sich nach Heidelberg und zwei Jahre später nach Berlin. Von hier kehrte er 1855 nach Zürich zurück. Das erklärte Ziel seines Aufenthalts in Deutschland war es, Dramatiker zu werden. Die hochfliegenden Pläne indes ließen sich nicht realisieren. Keller arbeitete in Berlin am Grünen Heinrich (1854/55) und beschäftigte sich mit Stoffen und Themen, die zur Grundlage seiner späteren, vielfach erst in den siebziger und achtziger Jahren realisierten Arbeiten wurden. Gesellschaftlich bewegte er sich teilweise in denselben Kreisen wie Fontane, ohne dass es offenbar zu einer näheren Begegnung kam. Fontane, seit 1850 verheiratet, junger Familienvater und nach der Aufgabe seines Berufs als Apotheker um eine sichere Existenz bemüht, sah sich nach der gescheiterten Revolution zur politischen Anpassung gezwungen und übernahm 1851 eine Anstellung bei der reaktionären regierungseigenen Centralstelle für Preßangelegenheiten. Mit Unterstützung der preußischen Regierung ging er wenig später nach England und übersiedelte 1855 im Auftrag derselben nach London, wo er vier Jahre als Journalist tätig blieb. Zurück in Berlin wurde er 1860 Redakteur bei der konservativen Kreuzzeitung und begann sein großes Projekt der Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Damals beschäftigte ihn auch erstmals ein Roman (Vor dem Sturm). Die Kriege, die Preußen seit Mitte der sechziger Jahre unter Bismarck führte, durchkreuzten alle Pläne, Fontane wurde über eine lange Zeitspanne Kriegsberichterstatter. Erst 1876, fünf Jahre nach der deutschen Einigung, legte er den letzten Teilband seiner drei Kriegsbücher vor und wurde nach einem grotesk anmutenden Zwischenspiel als Erster Sekretär der Akademie der Künste in Berlin freier Schriftsteller. Bei der liberalen Vossischen Zeitung hatte er seit 1870 außerdem das Theaterreferat über die Königlichen Schauspiele inne und schrieb vielbeachtete Kritiken. Als Theaterkritiker blieb er bis 1889 tätig. Auch Keller sah sich zu Beginn der sechziger Jahre zu einer festen Anstellung gezwungen. 1861 wählte ihn die Zürcher Regierung zu ihrem

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ersten Staatsschreiber. Sie übertrug ihm damit die bestbezahlte Beamtenstelle im Kanton. Den Ruf auf eine Professur für Literatur- und Kulturgeschichte am neugegründeten Polytechnikum in Zürich hatte er 1854 abgelehnt. So wie Fontane besaß er als Schriftsteller einen Namen, größere Erfolge indes blieben vorerst aus. Der Durchbruch erfolgte mit der Seldwyler-Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe. Paul Heyse publizierte den Text 1871, fünfzehn Jahre nach dessen Erstveröffentlichung, in der Anthologie Deutscher Novellenschatz, erklärte den Verfasser zum »novellistischen Talent allerersten Ranges«16 und verlieh ihm später den Ehrentitel »Shakespeare der Novelle«.17 Von der unverhofften Anerkennung ermutigt, kehrte Keller mit den bereits in Berlin projektierten Sieben Legenden (1872) in die literarische Öffentlichkeit zurück, veröffentlichte eine erweiterte Auflage der Leute von Seldwyla (1873/74) und trat 1876, zur selben Zeit wie Fontane, von seiner Beamtenstelle zurück. Mit den Züricher Novellen (1877), der Neufassung des Grünen Heinrich (1879/80), dem Sinngedicht (1882) und Martin Salander (1886) festigte sich sein Ansehen als Erzähler. Zum siebzigsten Geburtstag des Autors 1889 gab der Verleger Wilhelm Hertz in Berlin eine zehnbändige Ausgabe seiner Werke unter dem Titel Gesammelte Werke heraus. Fontane beteiligte sich mit einem symbolischen Beitrag von 20 Mark an der Ehrengabe,18 außerdem unterzeichnete er eine Glückwunsch-Adresse der Berliner Freunde.19 Mit Kellers Tod 1890 wurde Hertz’ Ausgabe zum Vermächtnis des Autors. Von Fontane lagen, als Keller starb, eine Reihe von Romanen und Erzählungen vor, die im Wesentlichen erst nach 1876 entstanden sind, darunter Schach von Wuthenow (1883) und die Berliner Gesellschaftsromane L’Adultera (1880), Cécile (1886) und Irrungen, Wirrungen (1888). Der Erfolg stellte sich für ihn erst Ende der achtziger Jahre ein, als eine junge Kritiker-Generation, die dem Naturalismus nahestand, für ihn das Wort ergriff. Symptomatisch ist, dass Wilhelm Hertz, der seit 1861 Fontanes Gedichte und Wanderungen durch die Mark Brandenburg verlegte, die Berliner Gesellschaftsromane ablehnte. Doch wurde auch Fontane zu seinem siebzigsten Geburtstag mit einer Werkausgabe geehrt. Sie erschien bei Emil Dominik (Band 1 bis 9) und beim Sohn Friedrich Fontane (Band 10 bis 12) unter dem Titel Theodor Fontanes Gesammelte Romane und Novellen (1890/91). Anders als bei Keller erwies sich die Werkausgabe aber bald als unzulänglich, schrieb doch Fontane erst im Alter von über siebzig Jahren Unwiederbringlich (1892), Frau Jenny Treibel (1893), Effi Briest (1895), Die Poggenpuhls (1896), Der Stechlin (1898/99), diejenigen Romane also, die heute in erster Linie mit seinem Namen verbunden sind und die seinen künstlerischen Rang begründen. Die neunziger Jahre, die er miterlebte und mitprägte, trennen ihn also von Keller. Als Fontane 1898 stirbt, geht, literarhistorisch gesehen, eine Epoche zu Ende.

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Keller und Fontane, so heißt es, sind sich nie begegnet.20 Die FontaneChronik zeigt allerdings, dass es zumindest einen Anlass gab, wo beide als Dichter, knapp 33 Jahre alt, zugegen waren.21 Es handelt sich um die Sitzung der literarischen Vereinigung Tunnel über der Spree vom Sonntag, den 3. Dezember 1852. Gefeiert wurde an diesem Tag das 25-jährige Bestehen der Vereinigung, von den 120 Teilnehmenden waren mehr als die Hälfte Gäste. Fontane, seit 1844 ordentliches Mitglied des Tunnels, verkehrte hier regelmäßig. Er verfasste das Protokoll zur genannten Sitzung, auf der er selbst die Gedichte Johanna Gray und Der Reiter auf dem Flügelpferde vortrug.22 Keller war im Tunnel als Gast eingeführt worden, erinnerte sich später aber nur an eine einzige Sitzung, die mit dem Jubiläumsanlass indes nicht zwingend identisch sein muss. Paul Heyse, auch Tunnel-Mitglied, erhielt von ihm rund fünfundzwanzig Jahre später folgende ironische Schilderung der Vereinigung: »Zu jener Zeit war ich auch einmal, von Scherenberg eingeführt, in einer Sonntagssitzung der Tunnelgesellschaft, obskur wie eine Schärmaus und ungefähr auch von ihrer Gestalt. Auf dem Präsidentenstuhl saß Franz Kugler und hieß Lessing, ein Gardeoffizier las eine Ballade vor; bei der Umfrage kam ich auch an die Reihe und grunzte: Wrumb! worauf das Wort sofort dem nächsten erteilt wurde.«23 Aus dem Umfeld des Tunnels stammt auch die einzige von Keller überlieferte Bemerkung zu Fontane. An Christian Schad, der über Keller und Scherenberg Zugang zu Fontane gesucht hatte, schrieb er im Juni 1853: »Fontane liegt schwer krank darnieder und ist nichts mit ihm zu verkehren.«24 Tatsächlich litt Fontane zu dieser Zeit an einem hartnäckigen Husten, und weil die Ärzte Anzeichen von Tuberkulose diagnostiziert hatten, lebte er zeitweise außerhalb Berlins, um sich zu kurieren.25 Fontane, das ist mehrfach überliefert, fand Kellers Umgangsformen nachgerade rüpelhaft, allerdings stützte er sich bei diesem Urteil auf die Berichte Dritter. Er selbst äußerte, er sei Keller in der Tat nie begegnet.26 Erst im Alter und Jahre nach Kellers Tod sprach er von einer verpassten Chance: »Mit Gottfr. Keller hätte ich gern Freundschaft geschlossen, denn er ist in meinen Augen der bedeutendste deutsche Erzähler […] seit Goethe. Dennoch wäre, trotz besten Willens auf meiner Seite, wohl nie was daraus geworden; ich fürchte, daß ich ihm gründlich mißfallen hätte.«27 Keller seinerseits schwieg sich über Fontane aus. Selbst auf Fontanes in der Vossischen Zeitung 1883 veröffentlichte Kritik an seinen Sieben Legenden reagierte er mit Stillschweigen.28 Der vorliegende Band richtet den Fokus sowohl auf die beiden Autoren und ihre Werke als auch auf die vielfältigen Kontexte, in denen sich ihre Literatur entfaltet. Im Zentrum stehen Themen und Konflikte, die für die Genese des Realismus sowie für die Herausbildung der Moderne

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von zentraler Bedeutung sind. Sie betreffen das Verhältnis von Ästhetik und Literatur des Realismus am Übergang zur Moderne, Transformationen des Religiösen im Prozess der Säkularisierung sowie die institutionellen und privaten Kontexte, in denen sich Keller und Fontane als Autoren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewegen und die, indem sie die Entstehung ihrer Werke prägen, diesen auch ihre Sinnhaftigkeit verleihen. Fragen der Übersetzung und der Edition stehen in einem letzten Teil zur Diskussion. Sie geben Einblick in die Rezeptionsgeschichte und dokumentieren zugleich den aktuellen Stand der Forschung, die sich mit der Materialität der überlieferten Texte und deren Tradierung befasst.

Ästhetik und Literatur Am Beginn stehen drei Lektüren, die den Spielraum realistischen Erzählens an der Grenze zur Moderne ausloten und dabei nicht nur Keller und Fontane kontrastierend in den Blick nehmen, sondern auch auf Ungleichzeitigkeiten und Inkongruenzen zwischen literarischer Praxis und zeitgenössischer Poetik hinweisen. Diese Differenzierung ist sowohl für die Interpretation als auch die literarhistorische Verortung beider Autoren von zentraler Bedeutung. Denn wie Peter von Matt, Hugo Aust und Michael Andermatt ausführen, zeichnen sich in den Werken Kellers und Fontanes Entwicklungen ab, die das Konzept des poetischen Realismus sprengen. Wer mit geschärfter Aufmerksamkeit für dieses Phänomen liest, erhält einen faszinierenden Einblick in die Entstehungsgeschichte der ästhetischen Moderne, die sich in den literarischen Texten, nicht aber in den Poetiken der großen Realisten ankündigt. Das Neue, das den Realismus an seine Grenzen führt und im Kern jenes Potential enthält, das sich in der Moderne entfaltet, ist, wie Peter von Matt nachweist, erst aus der Perspektive einer Nachträglichkeit benennbar, die mit Praktiken der Moderne und postmodernen Lektüremodellen gleichermaßen vertraut ist. In den Texten Kellers und Fontanes tritt dieses Neue nur punktuell zutage. Es blitzt für kurze Momente auf und erscheint als Verstoß gegen die Gesetze des realistischen Erzählens, das formal auf Geschlossenheit und inhaltlich auf eine Fabel setzt, die der Illustration bürgerlicher Tugenden dient. Die zeitgenössische Kritik vermag einen solchen Verstoß nicht in seiner ästhetischen Innovationskraft zu erkennen, sie qualifiziert die Abweichung als Fehler und reagiert entsprechend ablehnend. Exemplarisch illustriert diesen Sachverhalt Fontanes negatives Urteil über Kellers Sieben Legenden. Stillos seien diese, ein Unding, lautete der Vorwurf. Wie von Matt zeigt, ist es jedoch gerade die Geste der Abwehr, an der sich die neuen Praktiken festmachen

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lassen, ohne dass im zeitgenössischen Verständnis dafür schon ein reflexives Bewusstsein ausgebildet worden wäre. Dass die Arbeiten Fontanes selbst von dieser Ungleichzeitigkeit zeugen, erweist sich im Blick auf seinen Roman Die Poggenpuhls (1896), der keineswegs dem einfachen Modell vormodernen Erzählens folgt. Lassen sich bei Keller die Anfänge einer Poetik des Hybriden, der Transgression erkennen, die das Disparate disparat sein lässt, so artikuliert sich bei Fontane die Grenzüberschreitung in der paradoxen Bewegung der Zurücknahme, im Verzicht auf eine zielgerichtete Handlung. In Umrissen scheint dabei eine neue Anthropologie auf, die mit der vielkritisierten Form des Romans unmittelbar zusammenhängt. Die Metapher vom ›Zelluloid des Realismus‹ dient Hugo Aust zur Kennzeichnung eines Erzählverfahrens, das sich an der Wirklichkeit orientiert, indes nicht den Anspruch erhebt, Wirklichkeit ›an sich‹ abzubilden, den Fokus vielmehr auf die Wahrnehmung richtet, auf das »Gefühl der Wirklichkeit«, so Kellers Formulierung in der Erstfassung des Grünen Heinrich (1854/55).29 Wie in der Erinnerung, im Gedachten oder Geträumten sollen in der Literatur das Wirkliche und das Erfundene ineinander fließen, ununterscheidbar werden. Von dieser gemeinsamen Überzeugung ausgehend, gelangen Keller und Fontane zu ganz unterschiedlichen Formen in der Darstellung von Wirklichkeit. Während Keller solche Differenzen unkommentiert lässt, grenzt sich Fontane ab und hält Keller in unveröffentlicht gebliebenen Notizen Romantizismus und Märchenhaftigkeit vor. Im Effekt zielt diese Kritik auf den Vorwurf, Gesetze der Wahrscheinlichkeit nicht zu beachten und einer Romantik zu verfallen, von der sich der Realismus programmatisch abhebt. Ob und wie sich Kellers und Fontanes Literarisierungen der Wirklichkeit vor diesem Hintergrund unterscheiden, ist die Frage, der Aust in einer vergleichenden Lektüre der Seldwyler-Novelle Dietegen (1873) und Effi Briest (1896) nachgeht. Bei allen Differenzen im Stil und im Stoff ergeben sich dabei überraschende Parallelen in der Tiefenstruktur der Texte, insbesondere in der Inszenierung von Tabus und Regelverstößen, die mit dem Geschlechterverhältnis und der Generationenfolge das für die Imaginationsgeschichte des 19. Jahrhunderts zentrale Thema der Familie zum Gegenstand haben. Erst in der literarischen Moderne werden skandalöse Vorgänge explizit, wie sie Keller und Fontane bloß verdeckt ansprechen und für deren Fixierung sie unterschiedliche Verfahrensweisen entwickelt haben. Dass die Frage nach dem Bezug Kellers und Fontanes zur Moderne nicht unabhängig von einer Diskussion des Begriffs ›Moderne‹ zu klären ist, problematisiert Michael Andermatt und plädiert dafür, den Begriff historisch gemäß dem Selbstverständnis jener Autoren zu verwenden, die

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um 1890 die Moderne proklamierten. Insofern hier mit der emphatischen Ausrichtung auf das Neue auch die kompromisslose Verpflichtung auf das wirkliche Leben, die unerbittliche Wahrheit eingefordert wurde, weist diese Konzeption Berührungspunkte zum Literaturbegriff des Realismus auf. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Übergänge zwischen Realismus und Moderne genauer bezeichnen. Andermatt rückt dazu das Problem der Kontingenzbewältigung ins Zentrum seiner Analyse und zeigt, wie der bürgerliche Realismus Kontingenz aufzuheben sucht, indem er die Darstellung von Wirklichkeit auf eine sinn- und ordnungsstiftende Instanz hin zentriert. Angesprochen ist damit das poetologische Konzept der Verklärung, von dem sich die Moderne explizit distanzierte. In den programmatischen Texten des Realismus und der Moderne zeichnen sich in dieser Weise Differenzen ab, die unterschiedliche Modalitäten der Wirklichkeitszuwendung betreffen. Doch wie sieht es in der literarischen Praxis aus? Am Beispiel des erzählten Raums und damit ausgehend von einer Thematik, die dem Postulat der Wirklichkeitszuwendung beispielhaft entspricht, unterzieht Andermatt die Erzählverfahren Kellers und Fontanes einer textnahen Analyse und arbeitet grundlegende Unterschiede heraus. Zielt Fontanes Raumgestaltung in Stine (1890) auf eine Homogenisierung, so lässt sich in Kellers Die drei gerechten Kammmacher (1856) eine Tendenz zur Auflösung der Ordnung, verbunden mit einer selbstreflexiven Dimension des Erzählten, ausmachen, die den Text in die Nähe der literarischen Moderne rückt.

Säkularisierung Die Entstehungsgeschichte der Moderne ist mit dem Prozess der Säkularisierung untrennbar verbunden. Die Literatur kommentiert und reflektiert den Wandel, der in der Absage an das Jenseits begründet liegt, und sie trägt gleichzeitig zur Herausbildung der säkularen Welt bei, indem sie Bilder und Figuren des Religiösen demontiert, sie auf neue Kontexte überträgt und mit der Diesseitsorientierung auch neue Lebensentwürfe zur Debatte stellt. Wie die Beiträge von Ursula Amrein, Rolf Zuberbühler und Margret Walter-Schneider zeigen, spiegelt sich der kulturhistorisch bedeutsame Wandel sowohl in den Biographien als auch in den Werken Kellers und Fontanes, die den Vorgang aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Keller, in Zürich protestantisch getauft, verstand sich nach seiner Begegnung mit dem Religionsphilosophen Ludwig Feuerbach 1849 in Heidelberg als Atheist. Fontane, Preuße mit hugenottischem Hintergrund, verhielt sich zurückhaltender und distanzierte sich anlässlich seiner scharfen Kritik an Kellers Sieben Legenden explizit vom

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»frivolen Unglauben«30 des Verfassers. Obwohl sich diese Unterschiede in der Biographie nicht direkt auf äußere Lebensumstände zurückführen lassen, korrespondieren sie doch in auffälliger Weise mit politischen und verfassungsrechtlichen Differenzen zwischen der Schweiz und Deutschland. Denn während es in der Schweiz 1848 mit der Gründung des Bundesstaates formell zur Trennung von Kirche und Staat kam, war die Verbindung von Thron und Altar umgekehrt konstituierender Bestandteil im Preußen der Hohenzollern. Die das 19. Jahrhundert umtreibende Frage des Gottesglaubens, die in Nietzsches vielzitierter Formulierung »Gott ist tot!« kulminierte, gewinnt in diesem Kontext Brisanz und betrifft über den engeren Bereich des Religiösen hinaus Kultur und Politik gleichermaßen. Der Atheismus ist vielbesprochener Gegenstand in Kellers Romanen, Novellen und Gedichten. Eine herausragende Bedeutung kommt ihm insbesondere im Bildungsroman Der grüne Heinrich zu. Heinrich Lees Auseinandersetzung mit der Religion, die in der Verabschiedung des Glaubens an Gott und die Idee der Unsterblichkeit mündet, macht den Roman zum Epochenroman schlechthin. Versteckter, aber nicht minder präsent sind Fragen der Religion und der Transformation des Religiösen in Fontanes Werk.31 Ausgangspunkt des Beitrags von Ursula Amrein ist die Beobachtung, dass sich Keller zeitlebens fasziniert zeigte von visuellen und mentalen Bildern und Figuren des Todes. In seinem literarischen Werk, aber auch in den Briefen, Notizen und im zeichnerischen Nachlass finden sich dafür zahlreiche Belege. Die Sichtung dieses breit gestreuten Materials macht deutlich, dass Keller in seiner Problematisierung des Todes immer auch das Verhältnis von Diesseits und Jenseits anspricht und damit verbunden die Frage nach der Existenz Gottes aufwirft. Die Literarisierung des Todes wird so zum Medium und Vehikel seiner atheistischen Weltauffassung. Von hier aus vermisst er seine Position als Autor des poetischen Realismus, und von hier aus begründet er auch seine Anthropologie. Genese und Prägnanz dieser Konfiguration lassen sich ausgehend von Texten nachzeichnen, die weitgehend unbekannt geblieben sind. Dazu gehören Gedichtzyklen, die im Kontext der Zürcher Emigrantenszene Mitte der vierziger Jahre entstanden sind, sowie Kellers Auseinandersetzung mit Heinrich Heine in der Verssatire Der Apotheker von Chamouny oder Der kleine Romanzero (1860). In seinen Romanen und Novellen nimmt Keller Figurationen des Todes auf, reformuliert und differenziert seine Auseinandersetzung mit dem Atheismus und beleuchtet diesen auch im Hinblick auf zentrale Verlusterfahrungen der Moderne, so im Gedicht Tod und Dichter (1879), das das Begehren nach Unsterblichkeit in der säkularen Welt vielschichtig inszeniert und kommentiert.

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Mit Henry Wadsworth Longfellows Gedicht Excelsior (1842) setzt im 19. Jahrhundert die beispiellose Erfolgsgeschichte der titelgebenden Vokabel ein. »Excelsior« steht im Text des amerikanischen Dichters für das idealistische Höherstreben. Der Begriff zielt auf die Glorifizierung des amerikanischen Lebensstils und bezeichnet Werte und Überzeugungen, die im bürgerlich-liberalen Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts innerweltlich gleichsam den Platz des Religiösen besetzen. Rolf Zuberbühler geht dem »Excelsior«-Motiv in Kellers und Fontanes Altersromanen nach und zeigt, wie dieses hier einen zweideutigen Charakter annimmt. Hinter dem zur Schau gestellten Idealismus triumphiert der bloße Materialismus, Aufstieg und Absturz erweisen sich als zwei Seiten derselben Medaille, äußeres Prestige, das Streben nach Geld und Macht werden zu Faktoren, die das Leben sowohl im Privaten wie im Politischen dominieren. Der sich seinem Selbstverständnis nach an inneren Werten orientierende Idealismus verkehrt sich in sein Gegenteil, er dient einzig noch der Kaschierung egoistischer Interessen. Mit Martin Salander (1886) und dem Stechlin (1898) bringt Zuberbühler in dieser Weise zwei Romane zusammen, die sich bei allen Differenzen hinsichtlich der Gegebenheiten in der demokratischen Schweiz und im wilhelminischen Preußen gleichermaßen desillusioniert zeigen angesichts der rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung am Ende des 19. Jahrhunderts. Auch Margret Walter-Schneider liest Fontanes Stechlin im Kontext der Geschichte und Nachgeschichte der Säkularisierung. Ausgangspunkt ihrer Lektüre ist die Feststellung, dass die säkulare Welt nur das Hier und Jetzt, kein Jenseits und kein Außerhalb kenne. An die Stelle des überzeitlich Gültigen und Wahren trete das Periphere, die Nullstelle, die Abstinenz von Festlegungen überhaupt. Diesen Prozess der Ablösung, der Verschiebung und Substituierung, aber auch den mit der Säkularisierung einhergehenden Vorgang der Verzeitlichung und Historisierung rekonstruiert Walter-Schneider an Beispielen, die zugleich die Struktur eines narrativen Verfahrens erhellen, das sich in der Schilderung von Episoden nur scheinbar Nebensächlichem zuwendet. Das seiner konservatorischen Bedeutung entleerte Museum mit der Wetterfahnensammlung des Schlossherrn Dubslav von Stechlin erscheint gleichermaßen als Chiffre für den kulturhistorisch bedeutsamen Wandel wie das British General Post Office in Armgards Kindheitserinnerung. Dieses um das Problem der Nullstelle kreisende Erzählverfahren rückt Theodor Fontane in die Nähe des fünfzig Jahre jüngeren Robert Walser; der alte Dubslav von Stechlin figuriert als ein Vorläufer Jakob von Guntens in Walsers gleichnamigem Berlin-Roman, der zehn Jahre nach dem Stechlin erscheint. Eine Genealogie der Moderne hätte folglich neben Walser entsprechend auch Fontane zu berücksichtigen.

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Korrespondenzen und Kontexte Gottfried Keller und Theodor Fontane haben den Kontakt nicht gesucht, obwohl sie sich in den fünfziger Jahren in Berlin und später, als Fontane auf seiner Schweizer Reise am 17. und 18. September 1865 auch Zürich besuchte, hätten begegnen können. In eine unvermutete Nähe rücken Keller und Fontane indes in ihrer ausgedehnten Korrespondenz. Beide unterhielten umfangreiche Briefwechsel mit vielen gemeinsamen Bekannten. Zu diesen gehörten die Schriftsteller Paul Heyse und Theodor Storm, die Verleger Wilhelm und Hans Hertz, Julius Rodenberg als Herausgeber der Deutschen Rundschau sowie der Kritiker und Theatermann Otto Brahm. Für die Verortung Kellers und Fontanes im Kontext ihrer Zeit sind diese Briefwechsel von zentraler Bedeutung. Das sich in der Korrespondenz abzeichnende Beziehungsnetz weist über das Private hinaus und vermittelt beispielhaft Einblick in die institutionellen Voraussetzungen und Bedingungen, die das Schreiben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägen. Karl Pestalozzi, Roland Berbig und Regina Dieterle befassen sich mit den Kontexten, in denen die Werke von Keller und Fontane stehen, diskutieren an ausgewählten Beispielen die Schnittstellen von Biographie und Werk, von Literatur und zeitgenössischer Wirklichkeit und gehen dabei auch den Ereignissen nach, die Keller und Fontane verbinden. Das dichte Netz verborgener Adressierungen, chiffrierter Mitteilungen und intertextueller Bezüge in Fontanes letztem Roman ist Gegenstand der Ausführungen von Karl Pestalozzi. Ausgangspunkt der Analyse ist ein italienisches Liedzitat im vorletzten Kapitel des Stechlin. Obwohl Fontanes Altersroman zu den am eingehendsten kommentierten Werken der deutschen Literatur gehört, haben Edition und Interpretation das genannte Zitat bislang nur nachlässig und jedenfalls philologisch unpräzise behandelt. Indem Pestalozzi Herkunft und Bedeutung der rätselhaften Liedzeilen rekonstruiert, macht er auf verborgene Strukturen im Roman und auf ein Netz von Beziehungen aufmerksam, die die Romanwelt mit der zeitgenössischen Gegenwart verklammern. Das Zitat erweist sich in diesem Kontext als Träger verschiedenster Botschaften. Als versteckter Gruß an den Freund Paul Heyse und als Teil eines mythischen Kommunikationssystems in der erzählten Welt des Stechlin dient es Fontane zugleich dazu, unterschiedliche Modalitäten der Kommunikation im Zeitalter des Telegramms zu verhandeln. Alte und neue Welt, Tradition und Moderne werden in dieser Weise gegeneinandergesetzt. Der Roman situiert sich darin historisch genau an der Schwelle zur Moderne. Dass den heutigen Leserinnen und Lesern die Verstehensvoraussetzungen fehlen, um die vielschichtigen Bezüge im Roman wahrnehmen

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und deuten zu können, verlangt, so macht Pestalozzi deutlich, nach einer Literaturwissenschaft, die Interpretation, Edition und historisch-biographische Untersuchungen wechselseitig vermittelt. Ganz im Dienst fundierter Wissensvermittlung steht die FontaneChronik, deren Ziel es ist, das verstreute Wissen über Fontane zu sammeln und zugänglich zu machen. Roland Berbig stellt das Projekt vor, erläutert Aufbau sowie Handhabung der Chronik und zeigt die Systematik auf, nach welcher die Quellenmaterialien ausgewertet und die Fakten geordnet werden. Als Nachschlagewerk verzeichnet die Chronik die biographisch und werkgeschichtlich relevanten Daten in kalendarischer Form. Zugleich spezifiziert sie die Einträge nach verschiedenen Rubriken. Erfasst werden hier beispielsweise besondere Ereignisse, Reisen, Gespräche, Lektüren, Arbeiten sowie Briefe von und an Fontane. Diese Kategorisierung dient der raschen und umfassenden Information, und sie eröffnet gleichzeitig neue Zugangsweisen zu Fontane im Kontext seiner Zeit. Die Probe aufs Exempel liefert Berbig, indem er sich auf die Suche nach Beziehungen und möglichen Kontakten zwischen Keller und Fontane begibt. Die Suche fördert eine Reihe neuer und überraschender Erkenntnisse zutage. Hervorzuheben ist beispielsweise der Nachweis, dass Fontane seit Anfang der siebziger Jahre ein zunehmendes Interesse an Keller zeigte. Die anfängliche Abwehr weicht dabei einer Anteilnahme, die von projektiven Urteilen nicht frei ist und die in dieser Form auch in Fontanes Arbeiten einfließt. Deutungen dieser Art liefert die Chronik selbst nicht, sie stellt indes die Fakten bereit, um Fontane im Beziehungsnetz seiner Zeit zu verstehen. Ein solches Beziehungsnetz rekonstruiert Regina Dieterle. Mit Otto Brahm rückt sie jenen Literaturkritiker ins Zentrum, der nicht nur der literarischen Moderne zum Durchbruch verhalf, sondern wesentlich auch zur Anerkennung Kellers und Fontanes in der literarischen Öffentlichkeit beitrug. Der 1856 geborene und mithin um eine Generation jüngere Literaturwissenschaftler und Kritiker aus der Schule Wilhelm Scherers steht so gleichsam am Schnittpunkt zwischen den beiden Autoren, die er persönlich gut kannte und mit denen er freundschaftlichen Umgang pflegte. Zu Beginn der achtziger Jahre legte Brahm die erste umfassende Keller-Monographie vor und verteidigte wenig später Fontanes Irrungen, Wirrungen (1888) gegen die Kritik. Er wird so zum publizistischen Wegbereiter Fontanes, mit dem ihn die gemeinsame Arbeit als Theaterkritiker bei der Vossischen Zeitung verbindet. Fontane seinerseits stützt den Kollegen mit seinem dezidierten Eintreten für die Freie Bühne in Berlin und insbesondere seiner positiven Kritik der Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang (1889), das gleichsam zum Fanal der literarischen Moderne wurde. Otto Brahm schließlich ist indi-

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rekt auch der Anlass für Fontanes heftige Kritik an Kellers Sieben Legenden. Diese nämlich formuliert er in seiner Rezension zur Keller-Monographie, die Brahm 1882 zuerst in der Deutschen Rundschau und ein Jahr später in überarbeiteter Form als selbständige Publikation veröffentlicht hatte. Auch hier bestätigt sich die Beobachtung, dass Keller Fontane als Projektionsfläche für die eigene künstlerische Arbeit diente.

Materialität – Übersetzung – Edition Die Werke Gottfried Kellers und Theodor Fontanes sind in mehreren Ausgaben und auch in Übersetzungen zugänglich. Sie bezeugen das große Interesse an den Autoren des Realismus, das bis in die Gegenwart aktuell geblieben ist und das, wie der Zahl einschlägiger Publikationen zu entnehmen ist, in den letzten Jahren eine zusätzliche Intensivierung erfahren hat. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich auch das Bedürfnis nach einer kritischen Beschäftigung mit der Überlieferungslage ab. Verlässlichkeit der Überlieferung und Transparenz hinsichtlich der Kriterien, nach denen die Werke ediert und verbreitet werden, sind unabdingbare Voraussetzungen der Lektüre und der Interpretation. Hinzu kommt, dass der Begriff des Werks in den letzten Jahren selbst eine kritische Revision erfahren hat, die dazu führt, den Umgang sowohl mit den zu Lebzeiten veröffentlichten Texten als auch den Texten aus dem Nachlass neu zu überdenken. Mit dem hier skizzierten Erkenntnisinteresse verschiebt sich der Fokus der Forschung von der Interpretation hin zu Fragen, die die spezifische Materialität der überlieferten Texte betreffen. Peter Utz, Walter Morgenthaler und Gabriele Radecke geben Einblick in den aktuellen Forschungsstand, machen auf Desiderate aufmerksam und diskutieren textkritische und hermeneutische Probleme, die sich im Umgang mit Editionen und Übersetzungen stellen. Peter Utz unternimmt es, Gottfried Kellers Grünen Heinrich und Theodor Fontanes Effi Briest im Vergleich mit ihren französischen Übersetzungen zu lesen. Fragen des kulturellen Transfers zwischen der Schweiz, Deutschland und Frankreich stehen mit dieser Lektüre ebenso zur Debatte wie sprachtheoretische und poetologische Überlegungen. Produktiv wird ein solches Verfahren, wenn es die Übersetzung nicht als zweitrangig gegenüber dem Original einstuft, sondern der Übersetzung ihren eigenen Status zugesteht, sie gleichsam als Antwort und Kommentar zum Ausgangstext begreift. Übersetzungen schaffen in dieser Weise eine Distanz, die für das Original selbst aussagekräftig werden kann. Der Verzicht auf eine wertende Gegenüberstellung macht die Texte in ihrer konkreten materiellen Beschaffenheit erkennbar und verhilft dazu, die

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Sprache der Realisten kritisch in den Blick zu nehmen, ihre Literarisierung der Wirklichkeit auf das Unausgesprochene hin zu befragen. Strategien der Übersetzung werden schließlich auch im Blick auf die sprachlich-kulturellen Austauschbeziehungen bedeutsam. Während Übersetzungen der Effi Briest ins Französische exemplarisch die deutsch-französischen Beziehungen spiegeln, vergegenwärtigen die in Frankreich und in der Romandie erschienenen Übersetzungen des Grünen Heinrich nicht allein die Beziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich, sondern bringen auch binnenschweizerische Differenzen zum Ausdruck. Sie problematisieren die doppelte Verortung der verschiedensprachigen Schweizer Literaturen, die sich einerseits am nationalen Zusammenhang und andererseits am umfassenderen Kultur- und Sprachraum der angrenzenden Nationen orientieren. Den aktuellen Stand der Keller-Edition dokumentiert Walter Morgenthaler am Beispiel des Grünen Heinrich. Die Entstehungsgeschichte des autobiographisch geprägten Bildungsromans deckt den ganzen Spannungsbogen vom Realismus zur Moderne ab. Die Arbeit an der Erstfassung überlagerte sich mit Kellers Identitätsfindung als Autor des poetischen Realismus, die Zweitfassung entstand im Kontext der sich ausdifferenzierenden Moderne. Hatte Keller die erste Fassung bereits anlässlich ihrer Veröffentlichung aus formalen Gründen verworfen, so suchte er mit der Überarbeitung ein Programm einzulösen, das seinerseits in die Defensive zur Moderne geriet. Bis heute dauern die Kontroversen darüber an, welcher Fassung der Vorzug zu geben sei. Keller selbst hatte die Frage klar entschieden, als er die zweite Fassung in die bei Wilhelm Hertz in Berlin verlegten Gesammelten Werke (1889) aufnahm und sie so autorisierte. Morgenthaler führt aus, welche Probleme sich der editorischen Aufbereitung des Grünen Heinrich angesichts der komplizierten Überlieferungslage stellen, und er gibt zugleich Einblick in die HistorischKritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA), die die Werke Kellers und dessen Nachlass in Buchform und in elektronischer Version auf CD-ROM zugänglich macht. Ziel der HKKA ist es, Kellers Werke im Prozess ihrer Entstehung sichtbar zu machen, nicht jedoch, diesen Prozess kommentierend zu deuten. Diese Arbeit bleibt den Interpretinnen und Interpreten überlassen, denen die HKKA die notwendigen Materialien möglichst umfassend zur Verfügung stellt. Dazu gehören neben der integralen Wiedergabe sämtlicher Textstufen auch Quellentexte, Paralipomena, Korrespondenzen und Rezensionen. Diese Materialien erlauben eine differenzierte Auseinandersetzung mit Kellers Werk, und sie können zugleich zum Ausgangspunkt weitergehender Forschungen werden, die sich mit den institutionellen Bedingungen und Gegebenheiten der literarischen Produktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befassen.

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Auf ein Desiderat der Fontane-Edition macht abschließend Gabriele Radecke aufmerksam. Trotz mehrerer Werkausgaben fehlt bislang eine umfassende Edition der insgesamt in 67 Oktavbändchen überlieferten Notizbücher Fontanes aus der Zeit von etwa 1860 bis in die 1880er-Jahre hinein. Zwar sind die Notizbücher in Teilabdrucken auszugsweise zugänglich, dieses Verfahren indes erscheint heute als unbefriedigend. Die Einträge werden so unweigerlich aus ihren kontextuellen Bezügen gerissen, wobei die Fragmentierung zur Folge hat, dass der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang der Notate verloren geht. Eine systematische Erschließung des gesamten Korpus könnte dieser Situation abhelfen. An zwei Beispielen dokumentiert Radecke das Potential einer Edition, die der Materialität des Überlieferungsträgers Rechnung trägt, und plädiert für eine integrale Wiedergabe mit diplomatischer Umschrift, wie sie die Historisch-Kritische Keller-Ausgabe mit ihrer Edition von Kellers Studienund Notizbüchern beispielhaft vorgelegt hat. Eine solche Edition könnte, so argumentiert Radecke, die unterschiedlichen Facetten Fontanes als Journalist, Kriegsberichterstatter, Wanderer, Briefeschreiber und Theaterkritiker veranschaulichen und auch seine unbekannte Seite als Zeichner zeigen, sie würde Einblick in den Alltag des Schriftstellers gestatten und erlaubte es, seine Schreibprozesse differenzierter als bis anhin zu verfolgen.

Anmerkungen 1

Zum Ort und zur Bedeutung Kellers und Fontanes im Realismus vgl. grundlegend Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch der Germanistik. Stuttgart/Weimar 2006 sowie Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 18481900. Tübingen/Basel 2003.

2

Gottfried Keller: Jeremias Gotthelf. In: Blätter für literarische Unterhaltung, 18.–21. Dezember 1849, 29. und 31. März 1851, 20. November 1852, 4. Mai 1854 und 1. März 1855, DKV 7, S. 58–124, hier S. 120.

3

Ebd., S. 60.

4

Ebd., S. 76.

5

Ebd.

6

Theodor Fontane [anonym]: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: Deutsche Annalen zur Kenntnis der Gegenwart und Erinnerung an die Vergangenheit. Bd. 1. 1853, HFA III/1, S. 236–244, hier S. 238.

7

Ebd., S. 242.

8

Ebd., S. 240.

9

Ebd.

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Ebd., S. 242.

11

Ebd., S. 237.

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12

Gottfried Keller an Paul Heyse, 27. Juli 1881, GB 3.1, S. 57.

13

Theodor Fontane: Arno Holz und Johannes Schlaf: »Die Familie Selicke«. Alexander Kielland: »Auf dem Heimwege«. In: Vossische Zeitung, 8. April 1890, HFA III/2, S. 845–848, hier S. 847.

14

Theodor Fontane: Gerhart Hauptmann: »Vor Sonnenaufgang«. In: Vossische Zeitung, 21. Oktober 1889 (Erste Besprechung) sowie Vossische Zeitung, 22. Oktober 1889 (Zweite Besprechung), HFA III/2, S. 817824, hier S. 818f.

15

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig, HFA III/4, S. 266f.

16

Paul Heyse: Einleitung. In: Deutscher Novellenschatz. Hg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. 3. Bd. München 1871, HKKA/CD (Rezensionen).

17

Paul Heyse: Gottfried Keller. In: Deutsche Rundschau, 1. Februar 1877, HKKA/CD (Rezensionen).

18

Vgl. den Beitrag von Roland Berbig im vorliegenden Band.

19

Abgedruckt in: Gottfried Kellers Lebensraum. 74 Bilder. Eingeleitet von Eduard Korrodi. Zürich/Leipzig 1930, Abb. 61 und 62.

20

Zum Verhältnis von Theodor Fontane und Gottfried Keller vgl. auch Werner Weber: Nachbarn  und fremd. In: Neue Zürcher Zeitung, 14. Dezember 1969, sowie ders.: Fontanes Urteile über Gottfried Keller. In: 50. Jahresbericht der Gottfried Keller-Gesellschaft 1981. Zürich 1982.

21

Vgl. den Beitrag von Roland Berbig im vorliegenden Band.

22

Vgl. Fontanes Tunnelprotokoll vom 3. Dezember 1852, AFA III/1, S. 297302.

23

Gottfried Keller an Paul Heyse, 13. Dezember 1878, GB 3.1, S. 33.

24

Gottfried Keller an Christian Schad, 29. Juni 1853, GB 4, S. 31.

25

Vgl. Theodor Fontane an Wilhelm Wolfsohn, 7. Juli 1853, HFA IV/I, S. 349.

26

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 11. Juni 1894, HFA IV/4, S. 367.

27

Theodor Fontane an Siegmund Schott, 17. August 1898, HFA IV/4, S. 741.

28

Theodor Fontane: Otto Brahm: Gottfried Keller. Ein literarischer Essay, HFA III/1, S. 499– 508. – Einzelheiten in den Beiträgen von Peter von Matt, Regina Dieterle und Ursula Amrein.

29

HKKA 11, S. 17.

30

Theodor Fontane: [Sieben Legenden], HFA III/1, S. 497f., hier S. 497.

31

Vgl. Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer (Hgg.): Religion als Relikt? Christliche Traditionen im Werk Fontanes. Internationales Symposium veranstaltet vom Theodor-Fontane-Archiv und der Theodor Fontane Gesellschaft e. V. zum 70-jährigen Bestehen des Theodor-Fontane-Archivs. Potsdam, 21. bis 25. September 2005. Würzburg 2006 (Fontaneana, Bd. 5).

Wetterleuchten der Moderne Krisenzeichen des bürgerlichen Erzählens bei Keller und Fontane Peter von Matt Es ist dafür gesorgt, dass die Männer zu ihren Frauen kommen und die Frauen zu ihren Männern. Soviel darf als bekannt vorausgesetzt werden. Welche biologischen, soziologischen und psychologischen Prozesse dieses Geschehen steuern, wird von den entsprechenden Wissenschaften mit unterschiedlichen Resultaten abgeklärt. Der Vorgang des erotischen Zusammenfindens ist so universal, dass man ihn als Banalität bezeichnen müsste, wenn die Literatur aller Zeiten nicht den Beweis erbrächte, dass die lesende Menschheit von dem rätselhaften Bedürfnis bewegt ist, immer neue Geschichten darüber zu vernehmen. Auch wie die Frauen und Männer einander wieder loswerden, ist literarisch ertragreich, bleibt aber doch nur eine Abwandlung jenes andern, alles beherrschenden Geschehens. Warum wird die Banalität immerfort zur Sensation? Ein Grund besteht darin, dass sich diese Geschichten unter den Händen der Autorinnen und Autoren mit einer Menge zusätzlicher Bedeutungen anreichern. Das Konkrete wird symbolisch. Die Story wird Philosophie. Werbung und Weigerung, Glück und Unglück, insbesondere aber das große Ja geraten zu einer Zeichenrede, in der die Wahrheit der jeweiligen Epoche ausgesprochen wird. So manifestiert sich in den Liebesgeschichten des vormodernen Erzählens der säkularisierte Heilsweg des bürgerlichen Mannes. Die christlichen Jahrhunderte hatten die ewige Seligkeit zum Ziel des Lebens erklärt; man erlangte sie, je nach konfessioneller Mannschaftszugehörigkeit, durch gute Werke oder durch den reinen Glauben. Das bürgerliche Zeitalter setzte das Ziel in der irdischen Seligkeit einer erfüllten gesellschaftlichen Existenz. Diese wurde erreicht durch eine gestufte Selbstwerdung, von den Lehrjahren über die Wanderjahre zur Meisterschaft. Dabei schmiedete sich der Einzelne sein Schicksal selbst durch Tatkraft und sittliche Konsequenz. Und die bürgerlichen Schriftsteller fanden den

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Sinn und Zweck ihrer Kunst in der Schilderung exemplarischer Fälle dieses weltlichen Heilswegs. Die Romane wurden Bildungsromane, die Novellen wurden Selbstwerdungsgeschichten. Der Dichter als Erzieher löste in der säkularisierten Gesellschaft den Geistlichen ab. Die literarische Moderne aber begann überall dort, wo dieses Modell in die Krise geriet. Alle Erzählungen vom Heilsweg der bürgerlichen Jünglinge in das richtige Leben waren Liebesgeschichten.1 Deren glückliches Ende, das große Ja, besiegelte das erreichte Lebensziel. Kam es zu Irrwegen auf dem Lebensmarsch, waren sie unweigerlich begleitet von bedenklichen Affären mit unpassenden Frauen. Die falsche Frau symbolisierte das falsche Leben, die richtige Frau stand am Schluss. Sie verkörperte die Normen der weiblichen Existenz und diente so zur Erziehung auch der Leserinnen. Das System funktionierte perfekt. Nie war der gesellschaftliche Sinn einer schriftstellerischen Existenz so zweifelsfrei gesichert wie hier, im bürgerlichen Zeitalter nach den christlichen Jahrhunderten und vor der transzendentalen Obdachlosigkeit der Moderne. Auch Gottfried Keller operierte mit dem Modell. Ohne dessen erzieherischen Auftrag hätte er seine Existenz als Autor niemals rechtfertigen können. Allerdings lehnte sich der urtümliche Künstler in ihm gegen die latente Spießigkeit dieser ästhetischen Spielregeln auf, und es kam immer wieder zu unberechenbaren Ausschlägen. Von solcher Unberechenbarkeit geprägt ist eine von Kellers merkwürdigsten Schöpfungen, die Sieben Legenden von 1872. Sie gelten heute als muntere Humoresken; die Zeitgenossen aber waren davon ebenso skandalisiert wie fasziniert. Keller hatte die Arbeit jahrelang unter Verschluss gehalten. Er war ja um 1870 ohnehin halb vergessen. Der Grüne Heinrich und die Leute von Seldwyla lagen nach 15 Jahren noch immer in der ersten Auflage da. Der Dichter galt als ausgebrannt. Da rückte ihn ein Star der damaligen Literaturszene, Paul Heyse, unverhofft ins Scheinwerferlicht des Literaturbetriebs. Zu allgemeiner Verblüffung stellte er den Verfasser von Romeo und Julia auf dem Dorfe als einen der größten »Meister des epischen Stils« an die Seite Goethes, und wenig später erklärte er ihn zum »Shakespeare der Novelle«.2 Die Welt horchte auf. Fast postwendend traf die Anfrage eines neuen Verlegers bei Keller ein.3 Dieser zog die Sieben Legenden aus der Schubladenfinsternis und gab sie aufatmend in Druck. Sie wurden sein erster literarischer Erfolg überhaupt (wenn man von ein paar populären Vaterlandsliedern absieht), begründeten seinen späten Ruhm und beflügelten wundersam das Schreiben des ewigen Zauderers. Die Legenden erregten ebensoviel Entzücken wie Vorbehalte. Selbst Friedrich Theodor Vischer, den Keller vor der Publikation um Rat ge-

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fragt hatte, signalisierte Bedenken. In das entschiedenste Lobpreisen und Verreißen teilten sich zwei große Autoren der Zeit. Gewaltig feierte der liberale Österreicher Ferdinand Kürnberger das schmale Werk; die schärfste Attacke dagegen ritt Theodor Fontane. Er erledigte die Legenden mit einer brutalen Metapher. Keller hatte im Vorwort geschrieben, dass er den alten frommen Geschichten »zuweilen das Antlitz nach einer andern Himmelsgegend hingewendet« habe. Fontane griff den Satz auf, und zwar so: »Richtiger wäre vielleicht die Bemerkung gewesen, ›daß er ihnen, wie eben so vielen Tauben, den Kopf umgedreht habe‹. Denn sie sind tot.«4 Indem Fontane Kellers behutsame Formulierung in einen Killerausdruck verwandelt, beschreibt er auch seine eigene Aktion. Der Satz: »Sie sind tot« ist ein Akt der Vernichtung. Erst jetzt liegen die sieben Legenden als sieben tote Tauben da. Es geht hier nicht darum, mit Fontane zu rechten, und schon gar nicht, den einen Autor gegen den andern auszuspielen. Dringlich aber stellt sich die Frage, wie Fontane sein Verdikt begründet. Diese Begründung ist in der Tat weit aufschlussreicher als das Urteil. Sie formuliert nämlich ein poetologisches Prinzip, gegen das Kellers Legenden unbestreitbar verstoßen. Heute erscheint uns genau dieser Verstoß als ein Signal der Moderne; Fontane aber begriff ihn als Kunstfehler. Er forderte die Einheit des Stils und die Eindeutigkeit der Gattung. Eine Legende ist eine literarische Form, die ihre Regeln und Gesetze hat, genau so wie eine Novelle oder eine Ballade oder eine Komödie. In den Dienst dieser gegebenen Form hat sich ein Autor zu stellen. Spott und schrägen Witz zum Beispiel verträgt eine Legende nicht. Genau das aber flirrt und flimmert überall durch Kellers sieben Exemplare. Damit, meint Fontane, verletze der Autor das Wesen der Gattung; er nennt es »das heilig Naive der Legende«.5 Und er schreibt: »Die Legende, so lange sie sich Legende nennt, verträgt diesen Ton nicht; sie hat vielmehr ihren besonderen Stil, und diesen vermiß’ ich hier.«6 Nun weiß Fontane allerdings sehr wohl, dass es spätestens seit Voltaire auch eine entwickelte Kultur der Parodie und der polemischen Travestierung frommer Texte gibt. Man zieht den Heiligen die wallenden Gewänder aus, und siehe da, es kommen Männlein und Weiblein zum Vorschein, die es treiben wie jedermann. Man schaut sich die Wunder genauer an, und siehe da, es steckt ein Trick dahinter. Die Aufklärung hat solche Destruktion des Sakralen vielfach und innig betrieben. Fontane ist sich darüber im Klaren, und er hat gar nichts dagegen. Er verlangt nur, dass die Legendenparodie ihrerseits eindeutig sein soll. Das nennt er dann einen legitimen »Flaggenwechsel«. Man darf die Fahne der Andacht sehr wohl durch einen frechen Wimpel ersetzen. Aber beides zugleich, das geht nicht. Keller indessen betreibe genau dies: »Was wir hier haben, ist einfach der Corsar unterm Sternen-

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Banner. Und das mißfällt mir.«7 Ein Seeräuber also unter der Flagge eines Rechtsstaates. Ein Zwitter. Ein Unding. Dass Fontane zu so ausgefallenen Vergleichen greift, zeigt, wie sehr ihn die künstlerische Beschaffenheit der Legenden verunsichert. Er hat keinen Begriff für etwas, das gleichzeitig naives Erzählen ist und hohe Artistik. Auf diesem theoretischen Notstand beruht seine Kritik. Er kann nicht anders, als in diesem Erzählen – wörtlich – »etwas Perverses« zu diagnostizieren. Und er wendet sich gegen den Kritiker Otto Brahm, der die Legenden ganz auf den Akt der Verweltlichung festlegte und ihnen so jene formale Einheit zusprach, gegen die sie, wie Fontane richtig sieht, überall verstoßen. Wir müssen ihm also dankbar sein für die Präzision seiner Analyse. Sie zwingt uns, die Frage nach der ästhetischen Identität dieses Werks neu zu stellen. Gottfried Keller selbst hatte auch kein Wort dafür. Er spricht in merkwürdiger Weise vom »Plötzlichen« der Legenden, von ihrer »Plötzlichkeit und Isolirung«.8 Das kann nur heißen, dass er sich bewusst war, die Zeitgenossen mit etwas Unerwartetem zu konfrontieren. Zugleich stellt er die Wahl der Gattung als einen Akt der Freiheit dar gegenüber der »Despotie« und dem »Terrorismus« des »Zeitgemäßen«.9 Er reagiert also auf die ästhetische Kritik mit Trotz. Das lässt den Schluss zu, dass er sich seiner künstlerischen Kühnheit gegenüber im gleichen theoretischen Notstand befindet wie Fontane. Ferdinand Kürnberger hat das, was Fontane das »Perverse« dieses Werks nennt, nicht nur deutlicher gefasst, sondern auch zur singulären künstlerischen Leistung erklärt. Keller sei in den Legenden »satyrisch wie Voltaire, naiv wie Homer, graziös wie Heine, humoristisch wie Jean Paul«.10 Das sind vier gänzlich unvereinbare Positionen. Nach den ästhetischen Normen der Zeit müsste also auch Kürnberger das Werk missbilligen. Aber hingerissen von Kellers Prosa, versucht er, die Widersprüche aufzulösen, und es wird ein Essay daraus, hintergründig-scharfsinnig wie von Walter Benjamin. Entscheidend ist dabei, dass Kürnberger nicht harmonisiert, sondern das Disparate disparat sein lässt, aufgehoben allerdings in einem neuartigen literarischen Spiel. Dieses versucht er dann durch vertrackte Metaphern zu verdeutlichen. Tatsächlich stehen uns erst heute, in den Zeiten der Postmoderne, die Begriffe dafür zur Verfügung. Wir reden von einer Ästhetik des Hybriden und des Crossover, die genau das will, was Fontane das »Perverse« nennt, den Seeräuber unter dem Sternenbanner oder das Handelsschiff unter der Totenkopfflagge. Kellers Legenden sind wahrhaftig fromm in einem christlich einfachen Sinn, und die Wunder sind Wunder, und der Teufel ist der Teufel, und die Jungfrau Maria ist die Jungfrau Maria. Und doch sind sie wieder voltairianisch weltlich und feiern das Leben im

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Diesseits und in einer fröhlichen Sterblichkeit. Die Ästhetik des Hybriden beruht auf der Vereinbarkeit des Unvereinbaren, auf der Verwischung gesetzter Grenzen, auf der Transgression auch dort, wo schlechthin keine möglich scheint. Sie tut dies aus einem tiefen Zweifel heraus an der absoluten Geltung der herkömmlichen Ordnungen. Ordnungen sind nie naturhaft, Ordnungen sind immer gemacht. Selbst die Ordnung der Geschlechter ist im gleichen Maße konstruiert wie biologisch gegeben. Gerade in dieser Hinsicht erscheinen Kellers Legenden von einer verwegenen Modernität. Sie sind durchzogen von Spielen des Geschlechtertauschs. Das gipfelt in der wohl skandalösesten Szene, die im 19. Jahrhundert als Ärgernis nicht einmal benannt werden durfte: Die Jungfrau Maria verwandelt sich in einen jungen Mann und küsst eine schöne Frau mit einem erotisch heißen Kuss. Hier potenzieren sich die Anstößigkeiten. Das Katholisieren des liberalen Protestanten vermischt sich mit tabuisierter Sexualität. Man muss dabei an Walter Benjamins KellerAufsatz denken, etwas vom schlechthin Besten, was je über Keller geschrieben wurde, in dem der Dichter unter die androgyne Chiffre eines Aphroditos gerückt wird, einer bärtigen Aphrodite.11 Obwohl Benjamin die Legenden nicht erwähnt, kann er nicht ohne sie zu diesem Entwurf einer existentiellen Hybride als eines Schlüsselzeichens für Kellers innerste Person gekommen sein. Wenn man das einmal weiß, sieht man in den Legenden die Transgression gesetzter Grenzen, den Pastiche, die Hybridisierung des Unvereinbaren überall. Auch der ursprüngliche Titel, »Auf Goldgrund«, hätte mit einer Hybride gespielt, der Vermischung von Bildbeschreibung (Ekphrasis) und Erzählung. Er hätte die Legenden zu mittelalterlichen Bildern erklärt, die vor den Augen eines Dichters lebendig werden. Als Mise en abyme dieses Vorgangs kann die Gottesmutter in den zwei Legenden Die Jungfrau und der Teufel und Die Jungfrau als Ritter gelten. Sie ziert als schönes Bildwerk den Altar einer Kapelle, steigt von dort zweimal herunter, um den Menschen streitend zu helfen, und steht am Ende wieder »still und heilig«12 oben. Friedrich Theodor Vischer, der etwas Ungehöriges gewittert haben mag, hat Keller diesen Titel leider ausgeredet. Das ist auch insofern zu bedauern, als dadurch die Verwandtschaft von Kellers Legenden mit einem Durchbruchstext der weltliterarischen Moderne verdeckt bleibt, Gustave Flauberts Légende de Saint Julien l’Hospitalier. Gleichzeitig mit Kellers Texten konzipiert, erschien Flauberts Arbeit fünf Jahre nach diesen. Auch wenn Keller an die ungeheuerliche Gewalt, an das vulkanisch Visionäre von Flauberts Legende nicht heranreicht – außer vielleicht im Zweikampf zwischen der Jungfrau und dem Teufel –, ist er doch von einer vergleichbaren ästhetischen Kühnheit in dem, was Benjamin »das ganz Unberechenbare seines Produzierens«

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aus der »Willkürwelt des Innern« heraus nennt.13 Keller wollte die Überblendung von Malerei und Dichtung durch den Titel »Auf Goldgrund« signalisieren; Flaubert tat das Gleiche mit seinem berühmten Schlusssatz, der rückwirkend die ganze Erzählung neu definiert: »Et voilà l’histoire de saint Julien l’Hospitalier, telle à peu près qu’on la trouve, sur un vitrail d’église, dans mon pays.« – »Das also ist die Geschichte von Sankt Julian dem Gastfreien, ungefähr so, wie man sie auf einem Kirchenfenster in meiner Heimat findet.« Wer die Traditionslinie solchen Schreibens ins 20. Jahrhundert hinein weiterzöge, käme zum Thomas Mann der Josephs-Romane, vor allem aber – erneut eine Legende! – zu dessen spätem Werk Der Erwählte. Es ist merkwürdig, dass das altmodischste aller literarischen Genres, die Legende, so oft zum Einfallstor einer neuen Kunst wird. Was aber hat das alles nun mit dem Modell des bürgerlich-pädagogischen Erzählens zu tun? Wir wissen, dass Keller sich prinzipiell an dessen Regeln hielt. So auch in den Sieben Legenden. Doch der geschärfte Blick für Kellers Unberechenbarkeit entdeckt hier bald einmal die Spuren einer geheimen Sabotage jener wackeren Erziehungspoetik. Ein herrliches Beispiel ist der junge Ritter Zendelwald in der Legende Die Jungfrau als Ritter. Auf den ersten Blick erscheint er als der exemplarische Fall eines Jünglings auf dem säkularisierten Heilsweg. Er findet nach einigen Wirren die obligate schöne Frau und wandelt sich dabei vom traumverlorenen Zauderer zum tatkräftigen Mann, der sein Leben regiert. Alles modellkonform. Wenn man die Sache indessen genauer anschaut, zeigt es sich, dass er sein Leben überhaupt nicht in der Hand hat und alles andere ist als seines Schicksals Schmied. Er verspielt sein Glück durch Träumerei und selbstquälerische Resignation. Die Konsequenz seines Handelns wäre ein gründlich verpfuschtes Leben, wenn nicht die Jungfrau Maria persönlich eingriffe. Sie wirbt in Zendelwalds Gestalt um die schöne Frau und küsst sie auf so erfahrene Weise, dass diese die Brautnacht kaum erwarten kann. Zendelwald selbst schläft unterdessen wie ein fauler Kater an der Sonne. Sein Glück wird ihm von der heiligen Jungfrau förmlich aufgehalst; er braucht es nur noch verdutzt anzunehmen. Die vorgebliche Erziehungsnovelle ist also deren Gegenteil. Entsprechend krass wirkt der Kniff, mit dem Keller dem Modell dann doch noch Genüge tut. Als Auctor ex machina erklärt er Zendelwald am Ende kurzerhand für verwandelt: »Von jetzt an verließ aber den Ritter Zendelwald alle seine Trägheit und träumerische Unentschlossenheit; er that und redete alles zur rechten Zeit […] und wurde ein ganzer Mann […].«14 So gelingt dem Erzähler sogar im Kernbereich der bürgerlichen Poetik noch eine verspiegelte Hybride, indem er das abschreckende Beispiel hinüberchangieren lässt ins leuchtende Vorbild.

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Zum bürgerlichen Erzählen gehört die Analogie zwischen der Struktur des Helden und der Struktur des Werks. Wie der typische Held nach allerlei Irrwegen durch Tatkraft und wachsende Reife zu seinem Lebensglück gelangt, so entwickelt sich das Werk in wohlgefügten Teilen zu einem geschlossenen Ganzen, dessen klingendes Ende die erzieherische Botschaft unterstreicht. Nur wenn nichts offenbleibt, ist der Sinn gesichert. Der Heilsweg des Helden und die Komposition des Autors runden sich im Finale gleichzeitig ab. Das gilt auch dann, wenn der Weg scheitert und der Held am Ende die falsche Frau gewinnt und die richtige verpasst. In Fontanes Irrungen, Wirrungen ist dies der Fall. Aber die Belehrung – »Seht her! So vertut man sein Glück!« – steckt in diesem Schluss genauso unverkennbar wie in den Geschichten mit dem guten Ausgang. Gottfried Keller hat den obligaten Erziehungsakt im bürgerlichen Erzählen einmal den »didaktischen Knochen« genannt, der vom Autor »mit novellistischer Petersilie« ausgeschmückt werden müsse.15 Beim späten Fontane nun beginnt sich dieser Knochen aufzulösen. Das faszinierendste Zeugnis dafür ist ein schmaler Roman, der bis heute im Schatten von Effi Briest und dem Stechlin steht: Die Poggenpuhls. Es ist ein Buch fast wie von Tschechow. Man darf es Fontanes Drei Schwestern nennen; Tschechows Stück ist beinahe gleichzeitig entstanden. Eigentlich passiert gar nichts in dem Roman, und das ist das Aufregende. Kein tragisches Ende wie in Effi Briest, keine feierliche Ablösung der Generationen wie im Stechlin, kein Suizid wie in Stine, keine fröhliche Hochzeit wie in Frau Jenny Treibel. Fontane erzählt mit einer schwebenden Leichtigkeit und mirakelhaft präzis. Er schreibt hier quer zu allen Vorstellungen von einem richtigen Roman, schreibt aus jener Freiheit heraus, aus der Gottfried Keller seine Legenden schuf – und dann darüber erschrak. Und wie Keller handelt sich Fontane damit die Kritik der Regelbewussten ein. Paul Heyse, auch 1896 noch eine Instanz, nahm Fontane gegenüber jene strenge Haltung ein, die Fontane selbst einst gegenüber Kellers Legenden eingenommen hatte. In den Poggenpuhls, so Heyse, entwickle sich »aus der Raupe und Puppe durchaus kein Schmetterling«; der Roman verlaufe »wie das berühmte Hornberger Schießen«, und der »liebe Alte«, also Fontane, gehe darin »allem, was nur von fern einem Gedanken ähnlich sieht, aus dem Wege«.16 Andere sahen in dem kleinen Meisterwerk, das uns heute so verblüffend modern anmutet, ein Symptom der Altersschwäche. Man sprach vom »schmerzliche[n] Versagen der Schaffenskraft«.17 Fontane selbst gab alles zu, außer der Altersschwäche. Dem strengen Romantheoretiker Spielhagen gegenüber bekannte er, dass »das Buch, wenn auch sehr ungewollt, fast wie ein Protest gegen die von Ihnen festgestellte Romantechnik wirkt«, und er kroch sogar zu Kreuze, indem er beifügte: »eine Technik, hinsichtlich deren ich […] wieder und

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wieder ausgesprochen habe, daß ich sie für richtig halte.«18 Hier wird das Dilemma inspirierter Autoren gegenüber einer normativen Literaturkritik sichtbar, welche die kühnen Neuerungen nur als Fehler begreifen kann. Bezeichnend für die ästhetische Provokation des Romans ist eine Anekdote, die Fontane selbst erzählt. Auf den Druckfahnen der Poggenpuhls hatte der Drucker unter dem letzten Satz eigenhändig und deutlich das Wort »Ende« hingesetzt, weil er der Meinung war, niemand käme sonst auf den Gedanken, dass das Buch hier aufhören könne. Darin zeigt sich sehr schön die Regel der geschlossenen Form, der Abrundung und Auflösung aller Handlungslinien, welche die vormoderne Ästhetik vom Roman wie vom Drama verlangte, vom Roman bien fait wie von der Pièce bien faite. Ein Kunstwerk, das nicht fertig ist, taugt nichts. Im Aufstand gegen dieses Gesetz sollte die Moderne dann ihre eigentümliche Kultur des Unabgeschlossenen in allen Künsten entwickeln. Tatsächlich kommt in den Poggenpuhls keine Handlung richtig in Fahrt und keine hört richtig auf. Den ganzen Roman lang ist nur von Handlungen die Rede, die vielleicht geschehen könnten. Lauter Möglichkeiten. Diverse Liebesbeziehungen zeichnen sich ab; man denkt: »Aha, da spinnt sich etwas an«, und schon ist alles wieder verflogen. Und geradezu unheimlich mutet es an, wie das Jahrhundertthema vom säkularisierten Heilsweg eines jungen Mannes in diesem Roman zwar angeschlagen, aber gegen alle geltenden Erzählkonventionen durchgeführt wird. Die Poggenpuhls sind eine verarmte Adelsfamilie, vaterlos, drei Schwestern, zwei Brüder, eine kränkliche Mutter. Die Schwestern sind heiratsreif und wären einem einschlägigen Unternehmen keineswegs abgeneigt. Aber die gute Partie, auf die alle warten, würde voraussetzen, dass sie selbst auch eine solche wären, und das sind sie nun ganz und gar nicht. Der eine Bruder ist zwar einigermaßen tüchtig, der andere aber, Leo, der Charmeur, das sorglose Sorgenkind, lässt alles vermissen, was man sich unter zielbewusster Lebensplanung und männlicher Selbstzucht vorstellt. Der junge Offizier hat nie Geld und immer Schulden. Wie die drei Schwestern auf den Bräutigam, wartet er auf das große Glück. »Glück« – das ist sein Wort. Glück als fortune, Glück als das plötzliche Ereignis, das ihn eines Tages reich macht – wenn möglich mit einer Villa im Berliner Tiergarten. Sein zweites Wort dafür ist »Wunder«. Leo ist überzeugt, dass es das gibt. Er bekennt sich begeistert zum Spruch: »Es geschehen noch Zeichen und Wunder«.19 Daher findet er es unnötig, sich anzustrengen. Irgendwann kommt es, das Glück, einmal geschieht es, das Wunder, und bis dahin kann man ruhig etwas Schulden machen und den Tag genießen. »Es ist nun mal was andres«, erklärt er seiner klagenden

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Mutter, »ob man seinen Weg spielend macht oder in ewiger Askese. Die mit Askese haben meistens einen Knacks weg.«20 Für eine Figur, die so eingeführt wird, gibt es im bürgerlichen Erzählen nur zwei Möglichkeiten: Sie scheitert und büßt damit für ihre Frivolität, oder sie wandelt sich und wird zum selbstbeherrschten Subjekt. Leo aber büßt nicht, und er wandelt sich in keiner Weise. Er geht durch keine Schule des Lebens, die ihn in den Senkel stellte. Er wird kein Arnold Salander, sondern bleibt der Sonnyboy, der nichts taugt und dennoch die Sympathie aller besitzt – den Autor inbegriffen. Das bedeutet nun aber, dass Fontane dem Publikum mit dieser zentralen Figur demonstrativ den »didaktischen Knochen« verweigert. Es tritt sogar mehrmals ein winziges »Wunder« ein, das dem jungen Mann aus der schlimmsten Patsche und zu ein paar Markscheinen verhilft. Nicht das große »Glück«, gewiss nicht, aber Leo nimmt es als Beweis, dass sich das Leben in den Tag hinein lohnt und sich der Genuss an Stelle der Askese auszahlt. Mit seinen eigenen Worten: »Ja, Friederike, so muß man leben, immer so die kleinen Freuden aufpicken, bis das große Glück kommt …«21 Man kann natürlich den Roman als ein Sittenbild des niedergehenden preußischen Adels und Leo als den exemplarischen Fall eines aristokratischen Versagers sehen. Dass der Roman auch eine subtile Adelssatire darstellt, ist kaum zu bestreiten. Dennoch verpasst man bei dieser Deutung das Entscheidende und Neue. Denn die These von der Adelssatire schmuggelt den didaktischen Knochen wieder in ein Werk, das diesen in Wahrheit verabschiedet. Für die standesbewusste Schwester ist Leo eine Peinlichkeit. Die karrierebewusste Schwester möchte ihn in neureichen Kreisen verkuppeln, aber er spielt nicht mit. Das ist ihm alles zu anstrengend, und angesichts des kommenden »Wunders« findet er es auch überflüssig. Gleichzeitig ist er aber von einer eigentümlichen Weisheit und sagt Dinge, die man bei Fontane sonst nur aus dem Munde der abgeklärten alten Herren hört.22 Eine Interpretation, die ihn auf die traditionelle Funktion des abschreckenden Beispiels festlegen wollte, müsste wesentliche Züge der Figur ausblenden. In Wahrheit zeichnet sich in diesem Leo von Poggenpuhl der neue Typus einer gegenbürgerlichen Existenz ab. Dieser hat weit mehr mit Robert Walsers Simon Tanner zu tun oder Wedekinds Marquis von Keith als mit den Protagonisten des bürgerlichdidaktischen Romans. Und nun müssen wir sagen, dass genau diese Anlage auch schon in Kellers Ritter Zendelwald steckte, dessen Leben ja ebenfalls, in ganz auffälliger Parallele, unter den Stichworten »Glück« und »Wunder« steht. Aber Keller kann seinen liebenswürdigen Taugenichts, der jedes Glück verschläft, bis ihn die Gottesmutter mit energischer Hand in ein gemachtes Bett setzt – es entspricht in etwa Leos Vision von einer Villa im Tier-

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garten –, Keller kann diesen Zendelwald nicht einfach so, wie er ist, in das weitere Leben entlassen. Er muss ihm denn doch noch einen soliden Charakter verpassen. So stülpt er ihm zum Schluss die vorbildliche Beschaffenheit über wie einen neuen Hut und erklärt ihn zu einem Mann, der am Ziel des diesseitigen Heilswegs angelangt und zum Meister seines Lebens geworden ist. Genauso, wie wir es von Gotthelfs Uli, von Stifters Heinrich Drendorf, von Gustav Freytags Anton Wohlfart kennen. Fontane will mit diesem Leo, der sich nicht verwandelt, sondern ein spielendes Kind bleibt, keine neue Norm setzen. Das wäre ja gerade ein Teil jener Ästhetik, von der er sich löst. Auch die zauberhaft schwebende Offenheit des Romans lässt er einfach zu. Er gestattet sie sich gewissermaßen, ohne sie, mit dem lärmenden Gestus der späteren Avantgarden, zum künstlerischen Durchbruch zu deklarieren. Dennoch darf man nicht übersehen, wie deutlich sich hier die Elemente einer gegenbürgerlichen Moderne abzeichnen. An die Stelle von Tat und Arbeit tritt das Warten, an die Stelle des gesetzten Ziels das phantasierte Glück. Es gibt einen Moment im Roman, wo dieser Umschlag auf kleinstem Raum explizit wird. Der alte General, eine Stechlin-Figur, reagiert auf das Stichwort »Glück« zunächst ganz nach den traditionellen Wertvorstellungen. Er distanziert sich von einer Haltung des bloßen Wartens und Hoffens und setzt das eigenverantwortliche Handeln dagegen. Dann aber fällt er sich selbst ins Wort und plädiert für das Gegenteil. Die Stelle lautet: »Sprich nicht von Glück, Albertine. Mag ich auch nicht hören. Selbst ist der Mann. Aber nein, nein, ich will dies nicht gesagt haben … Sprich nur von Glück … Es ist ganz richtig …«.23 Während der junge Leo gelegentlich redet wie ein alter Weiser, bekennt sich hier ein alter Weiser zu Leos riskanter Philosophie. Und es ist dieser selbe General, der wenig später das Schlüsselwort des Romans ausdrücklich mit Leo verknüpft, wenn er sagt: »Leo […] ist ein Glückskind, und das Beste, was man haben kann, ist doch immer das Glück.«24 Man könnte versucht sein, darin einen Reflex von Fontanes eigenem Fatalismus zu sehen; das wäre aber ein methodischer Kurzschluss. Glück und Warten, im demonstrativen Gegensatz zu Arbeit und Askese, sind mit der innersten Logik dieses Romans zu sehr verknüpft, als dass man sie kurzerhand in die Privatpsychologie des Autors abschieben dürfte. Vielmehr blitzen hier die Umrisse einer neuen Anthropologie durch die Erzählung. Bewusstsein, Wille und Tat waren die konstitutiven Merkmale des bürgerlichen Subjekts. Der populärste Dichter des Jahrhunderts, Friedrich Schiller, hatte dies vielfach formuliert. Die Vabanque-Existenz aber, die alles auf den großen Coup setzt, die das Schicksal als Roulette begreift und das Warten zur Lebensform werden lässt – wie bei Tschechow, bei Walser, bei Kafka, wie in Strindbergs Traumspiel oder Becketts

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Godot –, diese tiefste Erfahrung der Moderne: gesteuert zu sein von unbekannten Instanzen, sie galt vorher für nichts anderes als für ein moralisches Versagen. Die so lebten, hieß es, verpfuschten ihr Leben. Sie machten sich schuldig, und man musste mit dem Finger auf sie zeigen, um die Jugend zu warnen. In dichterischen Spitzenleistungen wie der Zendelwald-Legende oder den Poggenpuhls führen Keller und Fontane diese stramme Anthropologie ihrer Krise entgegen. Sie können es nur tun, indem sie sich ihr eigenes Schreiben passieren lassen, statt es energisch zu setzen. Die spiegelnden Überblendungen in Kellers Legenden und Fontanes Ätherisierung des Erzählens zu einer Kammermusik verwehender Gespräche, sie wurden möglich und gerieten zu Vorspielen der Moderne, ohne dass die Autoren wussten, was sie damit ankündigten. Von Flaubert wird die Äußerung überliefert, er habe sich zur Zeit seiner Julian-Legende »in gewisser Weise einfach dem Fluß eines Werks überlassen« und so »eine neue Kunst« entdeckt.25 Ähnliches gilt vom Keller der Legenden und vom Fontane der Poggenpuhls. Und nicht ohne Nachdenklichkeit stellen wir fest, dass sich damit bei beiden Autoren die ziellose Spielerhaltung ihrer zweifelhaften Helden als die geheime Voraussetzung ihrer eigenen Kunst erweist.

Anmerkungen 1

Den analogen Weg junger Frauen gibt es in der Literatur der bürgerlichen Vormoderne zwar weniger häufig, er bildet indessen ebenfalls ein festes Erzählmuster. Schöne Beispiele sind Corinna in Fontanes Frau Jenny Treibel und Lucie in Kellers Sinngedicht.

2

Vgl. dazu: Fridolin Stähli (Hg.): »Du hast alles, was mir fehlt …«. Gottfried Keller im Briefwechsel mit Paul Heyse. Stäfa 1990, S. 67. – Dort S. 82 auch das Sonett, dessen zweite Strophe den vielzitierten Shakespeare-Vergleich enthält: Der Schönheit Blüt’ und Tod, das tiefste Grauen Umklingelst du mit leiser Torenschelle, Du darfst getrost, ein Shakespeare der Novelle, Dein Herb und Süß zu mischen dich getrauen. Vgl. auch den dortigen Kommentar des Herausgebers.

3

Ferdinand Weibert von der G. J. Goeschen’schen Verlagshandlung in Stuttgart, dem Keller die Legenden zur Publikation überließ, bezog sich in seinem ersten Brief an Keller explizit auf die von Heyse herausgegebene Novellenanthologie. Es war offensichtlich seine erste Begegnung mit einem Werk Kellers. Der Brief vom 2. August 1871 beginnt so:

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Peter von Matt Hochverehrter Herr vor wenigen Tagen habe ich zum ersten Male in Heyse u Kurz’s Novellenbuch »Romeo und Julia auf dem Dorfe« gelesen, und ich bin jetzt noch ganz entzückt von dieser wunderbar schönen Erzählung. Zitiert in: HKKA 23.2, S. 378 (Dokumentation zu den Sieben Legenden).

4

Theodor Fontane: Otto Brahm: Gottfried Keller. Ein literarischer Essay, zitiert in: HKKA 23.2, S. 427 sowie HFA III/1, S. 499–508.

5

HKKA 23.2, S. 428.

6

Ebd., S. 427f.

7

Ebd., S. 428.

8

An Friedrich Theodor Vischer am 1. Oktober 1871 und erneut am 23. März 1872, GB 3.1, S. 128 und S. 132.

9

An Emil Kuh am 3. April 1872 und an Vischer am 19. Mai 1872, GB 3.1, S. 162f. und S. 134.

10

Zitiert in: HKKA 23.3, S. 417ff.

11

Walter Benjamin: Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II/1. Frankfurt am Main 1977, S. 293.

12

HKKA 7, S. 170.

13

Benjamin (wie Anm. 11), S. 290 und 287.

14

HKKA 7, S. 176.

15

Brief an Berthold Auerbach am 25. Juni 1860, GB 3.2, S. 196.

16

Zitiert in: HFA I/4. München 1974, S. 820.

17

Ebd., S. 821.

18

Brief an Friedrich Spielhagen vom 24. November 1896. Zitiert in: HFA I/4, S. 824.

19

Vgl. HFA I/4, S. 490.

20

HFA I/4, S. 501.

21

Ebd., S. 507.

22

Vgl. dazu etwa seine Ausführungen über die soziale Bedeutung eines Namens in: HFA I/4, S. 528f.

23

Ebd., S. 536.

24

Ebd., S. 541.

25

Vgl. dazu Jean de La Varende: Gustave Flaubert. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1991, S. 126.

Das Zelluloid des Realismus oder wie Keller und Fontane das »Gefühl der Wirklichkeit« gewinnen Hugo Aust Die Metapher vom ›Zelluloid des Realismus‹ meint ein für den Realismus wichtiges »Gefühl der Wirklichkeit«, denn was die Realisten trotz ihrer ›Sachlichkeit‹ zu berichten haben, ist nicht so ohne weiteres glaubwürdig. Schließlich erwarten sie – oder zumindest einer ihrer Wortführer, Friedrich Spielhagen, von ihren Figuren, »daß sie, wie ein Porträt Titians oder van Dyks, aus dem Rahmen der Dichtung heraustreten und unter uns wandeln zu können scheinen«.1 Keller bereitet diesen »Austausch« im Grünen Heinrich folgendermaßen vor: So haben Luzern oder Genf ähnliche und doch wieder ganz eigene Reize ihrer Lage an See und Fluß. Die Zahl dieser Städte aber um eine eingebildete zu vermehren, um in diese, wie in einem Blumenscherben, das grüne Reis einer Dichtung zu pflanzen, möchte thunlich sein: indem man durch das angeführte, bestehende Beispiel das Gefühl der Wirklichkeit gewonnen hat, bleibt hinwieder dem Bedürfnisse der Phantasie größerer Spielraum und alles Mißdeuten wird verhütet.2

Das also ist Kellers Pflanzerde für jene »schöpferische Traumwelt«,3 in der es gleichfalls zu einem »Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben« kommt. Fontane hatte einen ähnlichen Übergangseffekt zwischen Traum und Wirklichkeit im Sinn, als er seine Vorstellung von der »Aufgabe des modernen Romans«4 skizzierte. Mit Blick auf Keller hieß es: Eine exakte, natürlich in ihrer Art auch den Meister verrathende Schilderung des wirklichen Lebens, das Auftretenlassen wirklicher Menschen und ihrer Schicksale, scheint mir doch das Höhere zu sein. Ein ächtes, ganzes Kunstwerk kann ohne Wahrheit nicht bestehn, und das Willkürliche, das Launenhafte, so reizvoll, so geistreich, so überlegen es auftreten mag, tritt doch dahinter zurück.5

Fontane verglich das »Gefühl der Wirklichkeit« auftretender Romanfiguren mit bestimmten Erinnerungen, die zwischen »gelebte[n] und gelesene[n] Figuren« – ähnlich wie zwischen geträumter und erlebter Wirk-

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lichkeit – nicht mehr unterscheiden. Dass es sich hierbei um ein »Gefühl« und nicht um »Wirklichkeit« handelt, zeigt eine andere Mitteilung: Eben [...] war eine Dame von sechsundvierzig bei mir, die mir sagte, »sie sei Lene; ich hätte ihre Geschichte geschrieben«. Es war eine furchtbare Szene mit Massenheulerei. Ob sie verrückt oder unglücklich oder eine Schwindlerin war, ist mir nicht klar geworden.6

Gemeinsam ist Keller und Fontane, dass sie von einem »Gefühl der Wirklichkeit« ausgehen,7 und vielleicht auch, dass sie eine »Wunschvorstellung« von der »Umschlägigkeit« aller Menschen und Dinge hegen.8 Beide verfolgen damit weitergehende Ziele, größere Freiheit für Ausdehnung und Zuspitzung dessen, was die Phantasie verlangt, sowie entschiedene Klarheit, um Missverständnisse zu verhindern. Doch unterscheiden sie sich in der Mittelwahl: Der eine behauptet die märchenhafte Lizenz der »Reichsunmittelbarkeit der Poesie«,9 der andere anerkennt trotz Verklärungspoetik das Kräftefeld der historischen, gesellschaftlichen und psychischen Bedingungen. Beiden gemeinsam ist die Neigung, die eigenen »eingebrannten Muster«,10 also ihre gesellschaftlichen Erfahrungen ins Schreiben einzubringen, diesseits und jenseits des »Damms der Objektivität«.11 So kann wohl für beide Kaisers Lapidarsatz gelten: »Gefangen noch im Verfügen«. Doch ziehen sie unterschiedliche Bilanzen. Das macht es unwahrscheinlich, dass sie sich je hätten verstehen können. Fontane hat Keller wegen eines Romantizismus kritisiert, den er für das Gegenteil dessen hielt, was er unter Realismus verstand. Romantizismus (um 1875; 495)12 Phantastik romantische Sentimentalität (um 1875; 495) romantisch willkürlich (1881; 902) Märchenerzähler (um 1875; 494) Düsseldorferei (um 1875; 495) Stillos (um 1875; 494)

Bruch (um 1875; 496) Unwahrheit (um 1875; 494)

Realismus Realistik (1883; 500) mit realistischem Pinsel gemalte Wirklichkeit (um 1875; 495) exakte Schilderung des wirklichen Lebens (1881; 903) objektiver Stil (1883; 501) Adrian von Ostade (um 1875; 495) erzählt aus – einem bestimmten Jahrhundert – einem bestimmten Lande – ständisch gegliederten Verhältnissen – sprachlich verschiedenen Verhältnissen konsequent, »aus einem Guß«, »ein Ton« (um 1875; 496) historisches Wissen

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Fontane gibt vier Beispiele für das, was er an Kellers Werk für verfehlt hält: 1. Obwohl er Das Sinngedicht für »[o]riginell, [...] schön und bedeutend« hält, tadelt er das Werk als »romantisch willkürlich«, ja sogar »unfein«. Das ›Unfeine‹ bezieht sich auf die Geschichte von der Waldhornstochter, die »im Munde einer jungen und klugen Dame beinah häßlich« wirke.13 2. Im zweiten Teil von Romeo und Julia auf dem Dorfe beanstandet er den falschen Gesprächston: »den wirklichen Ton eines sechzehnjährigen Dorfmädchens und eines zwanzigjährigen Bauernburschen zu treffen, ist aber fast unmöglich«.14 3. In der Eugenia-Legende kritisiert er am Beispiel der »zwei Lämmchen in einer Bratpfanne« den witzigen Ton, den er für unangemessen hält; eine Legende »verträgt diesen Ton nicht«. Darin sieht er einen unlauteren Flaggenwechsel, einen »Korsar[en] unterm Sternenbanner«.15 4. Dietegen, Kellers erste historische Erzählung, verstößt »in Kardinalpunkten gegen die Historie«; insbesondere weist Fontane eine Unwahrscheinlichkeit zurück: »Keine Mutter wird einen nach richterlichem Spruch verurteilten und gehängten Knaben, der zufällig wieder ins Leben zurückkehrt, als Spielgefährten für ihr einzig Töchterlein ins Haus nehmen«.16 Im Folgenden möchte ich diese Rüge des mütterlichen Verhaltens genauer betrachten, und zwar unter dem Doppelgesichtspunkt, was Fontane an dieser Unglaubwürdigkeit stört und wie er später, wenn er selbst in die Lage kommen wird, solche Dinge zu schildern, verfährt. Dietegen, ein zum Tode verurteilter schöner Knabe aus dem finsteren Ruechenstein, überlebt dank der Aufmerksamkeit des Seldwyler Mädchens Küngolt seine Hinrichtung, wird von deren Eltern als Pflegekind aufgenommen und wächst neben seiner Retterin auf, bis sich ihr geschwisterliches Verhältnis nach einigen Irrungen und Wirrungen in ein eheliches verwandelt (an die Stelle der den Kindern gewogenen Mutter trat eine hohlherzige ›Stiefmutter‹, die Heranwachsenden entfremdeten sich, ein Krieg brach aus, Küngolt wurde wegen Hexerei verurteilt und beinahe hingerichtet). Hält man sich Kellers historische Liebesgeschichte der Kinder zweier gegensätzlicher (verfeindeter) Städte vor Augen, so fällt auf, dass Fontanes Bedenken, einen Verurteilten »als Spielgefährten für ihr einzig Töchterlein ins Haus zu nehmen«, nur oberflächlich benennt, worum es tatsächlich geht. Fontane argumentiert wie ein eingefleischter Vertreter des Historismus oder wie ein konsequenter Realist, der eben nicht die »Reichs-

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unmittelbarkeit der Poesie« respektiert, oder wie einer, der Emily Brontës Romans Wuthering Heights aufmerksam und mit Beifall gelesen hat (siehe z. B. die Mitteilung: »They entirely refused to have it [Heathcliff] in bed with them, or even in their room«17); darüber hinaus benennt er das tatsächliche Geschehen wie unter Tabu-Zwang, denn die Rede ist von bedeutend mehr, und weit Konkreteres ließe sich beanstanden, nämlich: – – – – – – –

dass die Mutter ihm erlaubt, im selben Bettchen mit Küngolt zu schlafen, dass sie ihn behaglich zudeckt und küsst, dass sie ihm am nächsten Morgen »seine Erholung zu gönnen«18 bereit ist, dass sie ihn als Ersatz für den vom Baum erschlagenen Sohn betrachtet, dass sie selbst eine »hübsche[…] Mutter«19 ist, höchstens 35 Jahre alt,20 dass sie ihn auch später festhält und der Tochter in die Arme gibt, ihn »gefangen« nimmt und die »Aufmunterung zum Kosen« erteilt21 und dass sie sich freilich ›dabei‹ erkältet und infolge einer »Unvorsichtigkeit in der Freude«22 stirbt.

Hinzu kommt, – – – –

dass Küngolt ihrem Dietegen schon in der ersten Nacht das »Eheversprechen« abverlangt, dass er überhaupt die Zuneigung der Frauen besitzt, dass das freundliche Verhalten von Mutter und Tochter vom gegenteiligen Verhalten des Knechts und der Magd absticht und dass es in Kellers Welt zwei Städte gibt, eine, deren Lust das Töten ist, und die andere, deren Lust im Leichtsinn liegt.

So passiert sehr viel zwischen drei Personen, was Fontane unter der Formel: ›Hausaufnahme eines Verurteilten als Spielgefährte der Tochter‹ zusammenfasst: – – – –

die Wiederbelebung eines Toten, die Faszination des schönen Knaben, die sexuelle Initiation von früh an und dicht beieinander, das Spiel mit lebenden Ersatzfiguren für gestorbene.

Fremd ist das alles keineswegs im späteren Werke Fontanes, und gerade auch hinter seinem »Damm der Objektivität« (Vischer) liegen Keller’sche »Phantasiespiele«23: Auch hier begegnet so etwas wie die Verlebendigung eines Toten durch ein Mädchen, das ihn in sein Bett nimmt, und eine Mutter, die ja dazu sagt, mehr noch: dies anrät – ich meine Effi. Schön wie Dietegen ist Schach, der Liebling von Mutter und Tochter, doppelt

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bezogen auf das Bild der verstorbenen eigenen Mutter und das lebendige Gegenbild zur hässlichen Tochter. Auch Fontane inszeniert Einführungen in die Liebe bzw. Ehe unter der mütterlichen Aufsicht und Regie – ich meine Lene und Botho bzw. schon Grete und Valtin oder Corinna und Leopold. Sein bekanntestes Spiel mit Ersatzfiguren ist wohl jenes, das Frau von Briest mit ihrem Innstetten spielt. Keller’sche Mütter, die ihre Söhne »mit Freundlichkeit« lieben (Das verlorene Lachen 24), sind in der Welt Jenny Treibels Märchenfiguren. Wenn Mutter Emilie ihren Theodor zurechtkämmt, spritzt das Blut (Meine Kinderjahre). Das Motiv des Ins-Haus-Kommens oder -Nehmens ist ein Zentralmotiv im Werk Fontanes. Von Anfang bis Ende ist es in unterschiedlichen Variationen präsent, freilich mit der bezeichnenden Abwandlung, dass es selten ›Söhne‹ sind und viel mehr ›Töchter‹, die als Fremde ins Haus genommen werden bzw. genommen werden wollen: Marie in Vor dem Sturm kommt als »Prinzessin« ins Haus, Grete als Fremde stört im Haus und wird als Heimkehrende aus dem Haus ausgeschlossen, Hilde erhält im Haus des verwitweten Heidereiters eine problematische Vielfach-Rolle als Tochter, Schwester, Frau, Mutter und Witwe; Rubehn, Schach, Gordon, Botho, Waldemar und Hugo – sie alle kommen in Häuser, die Betten bergen. Einer von ihnen, Lehnert, ist sogar ein ZumTode-Verurteilter, der vergeblich ein Nachleben in einer amerikanischen »Happy family« zu führen sucht. Auch für Corinna spielt das Ins-HausNehmen eine wichtige Rolle, anders bei Sophie und Manon von Poggenpuhl, anders wieder bei Agnes, der Enkelin der Buschen. Nicht zuletzt wäre wieder an Effi zu denken, die von den genannten Figuren am häufigsten das Haus wechselt und unter den Akten des Ins-HausNehmens, Im-Hause-Haltens und Aus-dem-Haus-Verweisens am meisten leidet. Das Motiv der glückbringenden bzw. unheilstiftenden Adoption hat vor mehr als zwanzig Jahren Patricia Howe in einem mustergültigen Aufsatz analysiert und in den europäischen Kontext des 19. Jahrhunderts eingefügt.25 Sie zeigt, dass die Dramaturgie des Adoptierens das Fundamentalthema des Realismus, die Familie, betrifft, ihre Gründung, Erhaltung und Gefährdung angesichts der Herausforderung durch das begegnende Fremde, das ja notwendigerweise zur Familienbildung gehört, soll sich die Familie nicht im Inzest fortsetzen. Howe unterscheidet zwischen gewollter und hingenommener Adoption und entdeckt in diesem Unterschied die kritische Weichenstellung für scheiternde oder glückende Sozialisation und Individuation. So gesehen dürfte Dietegens Adoption nicht glücklich verlaufen, weil er von Anfang an – sowohl von der Mutter als auch von Küngolt – als Sohnersatz und zukünftiger Ehemann

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›instrumentalisiert‹ wurde. Ein Fontane’scher Hugo (Mathilde Möhring) würde diese Prozedur nicht überstehen. Dass im Falle Dietegens alles glücklich verläuft, ist eine Folge des invertierten Romeo-und-Julia-Prinzips »Tod aus Liebe«.26 Dass umgekehrt »Liebe aus Tod« entstehen kann, ist auch bei Keller nicht selbstverständlich, wie die Geschichte vom Meretlein zeigt, während Kleider machen Leute oder Ursula abermals an der optimistischen Variante fortspinnen. Auffällig ist freilich, dass der Schluss von Dietegen die märchenhafte Glücksaura ein wenig entzaubert. Anders als in Kleider machen Leute tritt zwar nicht behäbige Ruhe ein, die nach dem Ende des ›Liebes-Romans‹ die Prosa der hauswirtschaftlichen Verhältnisse anzeigt, vielmehr erhält sich in Dietegen eine merkwürdige Unruhe, die den schönen Jüngling und werdenden Vater regelmäßig aus dem Hause treibt. Wie Heinrich ist er kein verlässlicher Heimkehrer, anders als Reinhart kennt er keine endgültige (Glücks-)Probe, ähnlich wie Martin Salander fällt er notorisch auf das ›törichte Leben‹ und seine Varianten im Kriege herein. Und Küngolt bringt sich um, sobald sie vom Tod ihres geliebten Mannes hört, während Judith (in der 2. Romanfassung) wenigstens noch zwanzig Jahre durchhält, bevor sie sich in den Tod »stürzte«,27 um weiteren zwanzig Jahren solchen Lebens zu entgehen. Fontanes zurückgelassene Frauen sterben anders, nicht satt wie Küngolt – kugelrund von bärtiger Mannesliebe und dennoch schalkhaft schlank –, sondern ausgezehrt, so Stine, deren fragiles Märchen in häuslicher Nachbarschaft mit Prostitution an einem banalen Wort zerbricht; so schon vor ihr Cécile, die anders als die gefangene Küngolt den ungerechten Verdacht des zurückkehrenden Gordon nicht verkraften und den Zank der Männer nicht überleben kann; so später Christine, die schwermütig versinkt, sobald sich der Ausreißer in das törichte Leben Kopenhagens eines anderen besinnt; so schließlich Effi, deren Heimkehr einlöst, was das Kinderspiel im Todesgarten des Anfangs vorwegnahm. Nur Hunden gewährt Fontane, was Keller seiner feinen Patriziersfrau wie selbstverständlich zubilligt: die Demonstration der Anhänglichkeit über den Tod hinaus. Es gibt bei Fontane natürlich auch Frauen, die zurückgelassen überleben, so schon Renate, dann Victoire, Lene, natürlich Corinna und schließlich Melusine. Melusine könnte eine andere Judith sein und gleichfalls ihrem Woldemar »nahe«28 bleiben, ihm vielleicht sogar ein »Fest« bescheren. Als »Stimme der Natur«29 besiegelt auch sie einen »Pakt«, freilich auf abstrakte Weise, bei der sich keineswegs die Lippen aufeinander weichrunden, wie es im »Bund«30 zwischen Judith und Heinrich geschieht, sondern nur die gesprochenen Worte schreibend in sich selbst wiederholen.

Das Zelluloid des Realismus

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Merkwürdig konvergieren die Schlussbilder der letzten Romane, beides Stätten der Verbindung und des Austausches, aber doch ganz anders: bei Keller der Bahnhof, bei Fontane der – nun ja, wahrscheinlich der See. Der Bahnhof als Ort der Beweglichkeit, des Kommens und Gehens und somit der Veränderung, des Bleibens und Verschwindens; der See, der mit der Welt verkehrt, als Figur des Lebens und Weiterlebens, Figur im wörtlichen Sinn, weil er die Figuren, den vielleicht ausbleibenden Nachwuchs des neuen Paares, wie Dietegen den »verlorenen«31 Sohn ersetzen soll. Die Kinder aus Dietegens und Küngolts Ehe, eigentlich recht früh verwaist, haben sich hingegen als »zahlreiches Geschlecht«32 über Jahrhunderte bis in die Gegenwart erhalten. Diese üppige Fruchtbarkeit leistet sich der Romanabbruch des Martin Salander nicht, fast bricht er fragmentarisch ab, während Fontanes Alterswerk diesmal ganz im Gegenteil die feierliche Rundung über dem kinderlosen Leben inszeniert und sich selbst verewigt, fast wieder so, wie es der Erzähler der Erstfassung mit dem Gras des Grabes und der überlebende Heinrich mit dem Anhang an seine Jugendgeschichte tut. Beide, Keller und Fontane, scheinen wohl als Realisten ihre Werk-Zellulose so lichtempfindlich beschichtet zu haben, dass sie empfindlich bleibt für – – –

die Schattierungen des Ichs, die leuchtenden Bilder der Welt und das Flimmern ihrer eigenen Werke.

Mein ›Zelluloid des Realismus‹ kann natürlich nur ein Bild sein, bestenfalls ein Suchbild, das sich an seinen weiteren Funden erst bewähren muss. Unbestreitbar aber hat der Realismus seine Stoffe, ›Stoff‹ gerade auch in der textilen Bedeutung des Wortes. Einer Behandlung oder meinetwegen Belichtung dieser körpernahen ›Filme‹ möchte ich mich abschließend zuwenden, und bleibe hierfür bei meinem Dietegen. Er, der nach Fontanes starrem Urteil so wider aller Wahrscheinlichkeit im Haus der Mutter Aufnahme findet, erhält im Tausch mit seinem bösen »Galgenhemd«33 – prompt vollzogen, damit die Auferstehung aus dem Sarg nochmals sichtbar wird – das Feiertagskleid des vom Baum erschlagenen Sohnes. Es lohnt sich, dessen Beschreibung in Erinnerung zu bringen, zumal sie – obwohl Keller in keiner Kulturgeschichte der Kleidung fehlt – hier selten zitiert wird: Es war das Feiertagskleid, welches sie mit Leid und Weh aufbewahrt; darum war sie mit der Sonne aufgestanden, um einige bunte Bänder davon abzutrennen, welche dasselbe zierten, und die Schlitze zuzunähen, die das seidene Unterfutter durchschimmern ließen. Ihre Tränen waren über dieser Arbeit wieder geflossen, als sie die rote Seide, welche wie ein verlorener Frühling hervorglänzte, allmälig hinter dem schwarzen Tuche des Wämschens und der kleinen Pumphose ver-

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schwinden sah. Aber ein süßer Trost beschlich sie, da ihr das Schicksal jetzt ein so schönes, dem Tod abgejagtes Menschenkind zusandte, welches sie mit der dunklen Hülle ihres eigenen Kindes bekleiden konnte, und sie ließ nicht nur aus Eile, sondern absichtlich die helle Seide darunter, wie das verborgene Feuer ihres eigenen Herzens; denn sie meinte es viel besser und lieblicher mit allen Wesen, als sie in ihrer Stille zu zeigen vermochte. Wenn der Junge sich gut anließ, so wollte sie die Schlitze wieder auftrennen [...].34

Gibt es so etwas auch bei Fontane, etwas, das wir – dank Gilles Deleuze mit geschärftem Blick – gleichfalls als Spiel mit Schlitzen und Falten erkennen, als Ausdruck für die »Intensität einer [...] Kraft [...], die auf den Körper wirkt, [...] um ihn umzudrehen und das Innere daran zur Geltung zu bringen«35? Hier eine Stelle aus Effi Briest: Sie sprachen noch eine Weile so weiter, wobei sie sich ihrer gemeinschaftlichen Schulstunden und einer ganzen Reihe Holzapfelscher Unpassendheiten mit Empörung und Behagen erinnerten. Ja, man konnte sich nicht genugtun damit, bis Hulda mit einem Male sagte: »Nun aber ist es höchste Zeit, Effi; du siehst ja aus, ja, wie sag ich nur, du siehst ja aus, wie wenn du vom Kirschenpflücken kämst, alles zerknittert und zerknautscht; das Leinenzeug macht immer so viele Falten, und der große, weiße Klappkragen... ja, wahrhaftig, jetzt hab’ ich es, du siehst aus wie ein Schiffsjunge.«36

Auch Luise von Briest wird am Leinenzeug ihrer Tochter »absichtlich«37 nichts verändern, damit sie »so unvorbereitet [...], so gar nicht zurechtgemacht«38 erscheine und jenes »verschollen[e] Jugendglück«39 weitertragen könne, das sich die Mutter vor Jahren selbst verlegte, als sie dem Werben des Ritterschaftsrates den Vorzug gab. Aber Effis »Kittelkleid«40 lässt keinen Frühling hervorglänzen, sondern schleppt nur mit, was sich seit dem »Kirschenpflücken« in den Falten des Zerknitterten verbarg, wohl auch »auf den Körper wirkt[e], [...] um ihn umzudrehen und das Innere daran zur Geltung zu bringen«. Wie Kellers Mutter mag auch Luise beim Blick auf Effis Kleidung das »verborgene Feuer ihres eigenen Herzens« fühlen, doch lässt sie kaum die »helle Seide darunter«, sondern eher die Spuren des Kirschenpflückens darüber schimmern; so betupft und jetzt schon aufgeschlitzt übergibt sie die Tochter als »Schiffsjungen« ihrem ehemaligen Geliebten – auch dies wohl eine Kleiderszene, die wie die Szene mit dem blutbespritzten Musselinkleid der Gräfin Gargazin,41 aber unauffälliger »bis an die äußerste Grenze des ästhetisch Erlaubten«42 geht. Effis ›blau- und weissgestreifter‹ Kittel bleibt eine ›dunkle Hülle‹. Wo Keller auch sonst, z. B. bei der ›künstlich durchgespielten‹ Zusammenführung von Jukundus und Justine das »eigentümliche kindliche Lächeln«43 belichtet, nimmt Fontane »ein nervöses Zittern«44 auf; der eine Muskelreflex und sein Bild, das Lächeln, drohen ›verloren‹ zu gehen, der andere, das Zittern, erhält sich sicher. In Kellers Dietegen stirbt

Das Zelluloid des Realismus

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früh die Mutter, bei Fontane schneller noch die Tochter; bei Keller lebt verträglich nebeneinander (die mannigfaltigen Begehren, Eigenes und Fremdes, Leben und Tod), was bei Fontane aneinander zugrunde geht. So verschieden sind die Stoffe dieses Realismus, so unterschiedlich brennt sein Zelluloid.

Anmerkungen 1

Friedrich Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig 1883, S. 28.

2

HKKA 11, S. 17.

3

Ebd., S. 327.

4

Theodor Fontane: Paul Lindau: Der Zug nach dem Westen, HFA III/1, S. 568.

5

Theodor Fontane: Tagebucheintrag vom 23. Mai 1881. In: Tagebücher 1866–1882, 1884–1898. Hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin 1994 (GBA Tage- und Reisetagebücher, Bd. 2), S. 119.

6

Brief an Paul Schlenther vom 20. September 1887, HFA IV/3, S. 566.

7

Vgl. Hartmut Reinhardt: Die Kunst des Sehens. Goethe und das Realismus-Credo in Gottfried Kellers Roman »Der grüne Heinrich«. In: Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa. Hg. von Bernhard Beutler und Anke Bosse. Köln 2000, S. 285–310, hier S. 299.

8

Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt am Main 1987 (it 1026), S. 227.

9

Keller im Brief an Paul Heyse vom 27. Juli 1881, GB 3.1, S. 57.

10

Kaiser (wie Anm. 8), S. 571.

11

Friedrich Theodor Vischer: Kritik meiner Ästhetik. In: Ders.: Über das Erhabene und Komische und andere Texte zur Ästhetik. Hg. von Willi Oelmüller. Frankfurt am Main 1967, S. 227–233, hier S. 231.

12

Alle Zitatnachweise in der Tabelle nach HFA III/1 (Datum; Seitenzahl).

13

Tagebucheintrag vom 6. Januar 1881 (wie Anm. 5), S. 80.

14

Theodor Fontane: [Die Leute von Seldwyla], HFA III/1, S. 495.

15

Theodor Fontane: Otto Brahm: Gottfried Keller. In: Vossische Zeitung, Nr. 14, 8. April 1883, Sonntagsbeilage, HFA III/1, S. 503.

16

Um 1875; HFA III/1, S. 494f.

17

Emily Brontë: Wuthering Heights. Hg. von David Daiches. Harmondsworth 1965. Kap. 4, S. 78.

18

HKKA 5, S. 199.

19

Ebd., S. 211.

20

Ebd., S. 206f.

21

Ebd., S. 211.

40

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22

Ebd., S. 213.

23

Helmuth Nürnberger: Fontanes Welt. Berlin 1997, S. 43.

24

Vgl. HKKA 5, S. 260.

25

Patricia Howe: Fontane’s »Ellernklipp« and the theme of adoption. In: Modern Language Review 79 (1984), S. 114–130.

26

Kaiser (wie Anm. 8), S. 283.

27 28

HKKA 3, S. 281. Ebd., S. 280.

29

Ebd., S. 281.

30

Ebd., S. 280.

31

HKKA 5, S. 199.

32

Ebd., S. 248.

33

Ebd., S. 200.

34

Ebd., S. 199.

35

Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt am Main 1995, S. 198f. und 142.

36

HFA I/4, S. 15.

37

HKKA 5, S. 199.

38

HFA I/4, S. 17.

39

HKKA 5, S. 264.

40

HFA I/4, S. 278.

41

Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Naunhof/Leipzig 1938, Bd. 2, S. 168.

42

Theodor Fontane: Willibald Alexis, HFA III/1, S. 449.

43

HKKA, S. 264.

44

HFA I/4, S. 18.

Kontingenz als Problem des bürgerlichen Realismus Raumgestaltung bei Fontane und Keller Michael Andermatt Welchen Bezug haben Keller oder Fontane zur Moderne? Ist einer der beiden Autoren moderner als der andere? – Wie man diese Fragen beantwortet, hängt vom Verständnis des Begriffs ›Moderne‹ ab. Das heutige Verständnis von ›Moderne‹ ist keineswegs einheitlich. Umgangssprachlich wird das Adjektiv ›modern‹ oft einfach synonym zu ›modisch‹ oder ›aktuell‹ verwendet. Im wissenschaftlichen Kontext dagegen versteht man unter ›Moderne‹ einen Umbruch in allen Bereichen des individuellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens gegenüber der Tradition. Die genauere Begriffsbestimmung fällt je nach Disziplin anders und auch innerhalb der Disziplinen uneinheitlich aus. Vor allem bestehen verschiedene Vorstellungen davon, wo der Beginn der Moderne anzusetzen sei. Mit guten Gründen hat man ihn unterschiedlich weit zurückdatiert: an den Anfang des 20. Jahrhunderts (klassische Moderne der Kunst- und Literaturgeschichte), zum Naturalismus (Literaturgeschichte, Soziologie), zur Französischen Revolution (Geschichte), zur Reformation (Geschichte), zum Zeitalter der Entdeckungen und dem Beginn der Neuzeit (Geschichte, Soziologie, Politologie), ins alte Rom oder gar nach Ägypten (Geschichte).1 In meinem Beitrag verwende ich den Begriff der ›Moderne‹ literaturgeschichtlich. Ich halte mich an die Begriffsverwendung der jungen Generation um 1890, bei der – im Umfeld des Naturalismus  »die Debatte um die Moderne in der deutschsprachigen Literatur ihren Höhepunkt erreicht«.2 Die jungen Berliner, Münchner und Wiener Autoren haben sich selber emphatisch zur »Moderne« bekannt. Peter Sprengel fasst als die beiden wichtigsten Kennzeichen dieser »selbsternannten Moderne«3 die »Ausrichtung auf das Neue« einerseits und eine »dem wirklichen Leben zugewandte – durch ›unerbittliche Wahrheit‹ ausgezeichnete – zeitgenössische Dichtung«4 andererseits. Ich werde im Folgenden zeigen, wie sich das Selbstverständnis des poetischen Realismus von diesem Verständnis von Moderne in der Theorie zwar noch abgrenzt, dass aber Au-

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toren wie Fontane und Keller in ihrem literarischen Schaffen entgegen dieser Abgrenzung der Moderne durchaus nahestehen können.

I Die Generation der Autoren zwischen 1848 und 1890, die man heute dem bürgerlichen Realismus zuordnet, war von einem Lebensgefühl geprägt, das sich aus der Entwicklung der modernisierten Gesellschaft im 19. Jahrhundert ableitet.5 Anders als die Folgegeneration der jungen Berliner, Münchner und Wiener Autoren aber taten sich die meisten Realisten mit der veränderten zeitgenössischen Wirklichkeit noch schwer. Im Grunde orientierte sich der deutsche Realismus retrospektiv und erlebte die eigene Zeit und die eigene Generation eher negativ. Exemplarisch in dieser Hinsicht ist etwa die Zeitanalyse, die Friedrich Theodor Vischer (1807–1887) 1857 in seiner Ästhetik den Ausführungen zum Roman voranstellte. Vischer definiert die Alltagswirklichkeit mit Hegel als »die schlechthin nicht mehr mythische, die wunderlose Welt« und schreibt dazu erläuternd: Gleichzeitig mit dem Wachstum dieser Anschauung [einer wunderlosen Wirklichkeit, M. A.] hat die Menschheit auch die prosaische Einrichtung der Dinge in die Welt eingeführt: die Lösung der Staatstätigkeiten von der unmittelbaren Individualität, die Amtsnormen, denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Teilung der Arbeit zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der Umfang physischer Übungen aus der lebendigen Vereinigung mit sittlichen Tugenden, die im Heroen lebte, sich scheidet, die Erkältung der Umgangsformen, den allgemeinen Zug zur Mechanisierung der technischen Produkte, des Schmucks u. s. w. [...].6

In Vischers Analyse verdrängen in der »wunderlosen Welt« der Moderne Mechanik und Unpersönlichkeit Individualität und Menschlichkeit. Das ›heroische‹ Subjekt wird substituiert durch ein verwaltetes Funktionieren. Andere Zeitgenossen verbinden diese Diagnose unmittelbar mit der politischen Situation Deutschlands, so etwa Robert Prutz (1816–1872), wenn er im Deutschen Museum 1851 begründet, weshalb keine Dramen mehr geschrieben werden könnten: Schon ganz äußerlich genommen, macht der außerordentliche Rückschlag, welchen die öffentlichen Verhältnisse in Deutschland seit dem Jahre achtundvierzig erlitten haben, sowie die tiefe Abspannung und Verdrossenheit, in welche infolgedessen das Publikum versunken ist, sich für keine andere Gattung der literarischen Produktion in einem solchen Grade geltend, wie gerade für das Drama. [...] wie läßt es sich nur erwarten, nur fordern, daß eine in sich so zerfahrene, zerflatternde, um ihren eigenen Inhalt noch so ringende Zeit wie die unsrige,

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sich zu dieser äußersten Plastik des dramatischen Kunstwerkes zusammenfassen könnte? Wir selbst verschwinden uns zu Schemen, ein tatloses, grübelndes Geschlecht, dessen äußerstes politisches Heldentum sich bis zu der zweideutigen Anstrengung des passiven Widerstandes erhebt.7

Neben der politischen Rückbindung an 1848 sind in diesem Textauszug besonders die Stichworte ›Verdrossenheit‹ und ›Zerfahrenheit‹ aufschlussreich. Sie verweisen auf das zentrale Problem, das die Generation der Realisten mit der modernen, sich rapide verändernden Lebenswirklichkeit hatte: auf die Erfahrung der Kontingenz.8 Man erlebte die Welt des modernisierten 19. Jahrhunderts als zersplittert und unzusammenhängend. Ein zentrierender Sinn fehlte. Das Individuum war desorientiert und reagierte darauf mit Desillusionierung oder Apathie. Orientierungsverlust, Verdrossenheit und Klage über die fehlende Mitte dominierten das Weltbild der meisten Realisten. Entsprechend bedauerte Johann Georg Fischer (1816–1897) 1867 in der Allgemeinen Zeitung, dass Kunst und Literatur, speziell die Gattung Lyrik, »die disparaten Lebens-, Gesellschafts- und Empfindungsinteressen [nicht mehr] in einem zentralen Brennpunkt« zusammenfassen könnten: Diese Bedingnisse kann die Lyrik nicht erfüllen, nicht für die Gesamtheit überzeugend erfüllen in einer Zeit wo Politik und Gesellschaft, Kirche und Naturanschauung so schwankende Proben ihrer Neugestaltung, so wenig begeisternde Versuche der Einigung ihrer Fraktionen und Parteien ablegen.9

Der Kontingenzerfahrung, dem Eindruck, dass »Fraktionen« und »Parteien« ganz den gesellschaftlichen Alltag dominieren, begegnete Fischer mit einem wehmütigen Blick zurück, denn er fährt fort: Die allen Gebildeten der Nation gleich hell und überzeugend aufgegangene einheitliche Strömung der ›Humanitätsidee‹ war es was die Poesie der klassischen Zeit groß und national gemacht hat; unsere Zeit hat eine so allgemeine Erkennungsparole auch nicht auf einem Gebiete der Bestrebungen. Fraktionen im Leben, Fraktionen in der Poesie und im Poesiegeschmack der Kritik!10

An dieser Stelle wird deutlich, wie die Generation der Realisten auf das Problem der Kontingenz reagierte. Obwohl man eigentlich genau wusste, dass die Zeit der »Humanitätsidee« vorbei war, orientierte man sich dennoch retrospektiv. Für die Ästhetik der Epoche bedeutete dies die programmatische Ausrichtung an Klassik und Idealismus. Zwar gab sich der Realismus ausdrücklich antispekulativ und lehnte aus diesem Grund das Denken der Romantik ab. In seiner theoretischen Ausrichtung aber blieb er gleichwohl der idealistischen Ästhetik in der Nachfolge Schellings und Hegels verpflichtet. Der kontingenten Wirklichkeit sollte mit dem Heilmittel der Kunst begegnet werden. »Literatur sollte das Ideale darstellen, das im ›Weltstoff‹ verborgen«11 lag. Gerhard

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Plumpe bezeichnet deshalb den literarischen Realismus als »Kompensation des politischen Realismus«, denn die Literatur hatte die Aufgabe, »gerade angesichts einer als ›undurchsichtig‹, ›abstrakt‹ oder ›diffus‹ erfahrenen Lebenswirklichkeit die Möglichkeit einer harmonischen und in der Realität wiedererkennbaren Ordnung zu vergegenwärtigen«.12

II Die Verbindung zwischen Realismus und idealistischer Ästhetik findet sich im Begriff der Verklärung. ›Verklärung‹ ist für den deutschen Realismus ebenso wichtig wie das vom Epochenbegriff her bekanntere Postulat der Wirklichkeitszuwendung.13 Obwohl es keine einheitliche und geschlossene Theorie des bürgerlichen Realismus gibt, sind sich alle Autoren in diesem Punkt einig. ›Verklärung‹ stellt die Forderung auf, dass sich der ›wahre‹ Realismus nicht nur der Wirklichkeit allein zuwenden dürfe, sondern sich zugleich auch einem zentrierenden Ideal unterzuordnen habe. Emil Homberger (1838–1890) formuliert dies in der Allgemeinen Zeitung 1870 folgendermaßen: Das Ideal ist das einzige Mittel der Erkenntnis des Realen. Das Ideal bringt Ordnung in die Wirrnis der Erscheinungen, macht das Große zum Großen, das Kleine zum Kleinen, verbindet das Zusammenhanglose, und setzt dem Schrankenlosen Schranken. [...] Durch das Ideal wird der Dichter frei von Unklarheit und Unordnung, frei von blindem Zufall und gesetzloser Willkür [...].14

Verklärung der Wirklichkeit über die Ausrichtung am Ideal ist die Art der Kontingenzbewältigung, die der bürgerliche Realismus betreibt. Er versucht hinter oder unter der Oberfläche des »Zusammenhanglosen« die verborgene »Wahrheit der Natur«15 zu finden. In Carl Lemckes (1831– 1913) Populärer Ästhetik von 1865 heißt es deshalb: Wer das Wesentlichste, Bedeutendste einer Erscheinung auszudrücken vermag, wer unbeirrt durch das Zufällige, Kleine, das Hauptsächlichste, Große zu erfassen versteht, ist größer als derjenige, welcher im Kleinen und gleichsam auf der Oberfläche stecken bleibt. Ein solcher ist ein Idealist, ein Künstler, der das Reale bis zum Ideal zu verfolgen versteht. Er schafft das Bleibende, Unvergängliche, nie Alternde.16

Dieser »Ideal-Realismus«, wie man ihn nach Moriz Carriere auch genannt hat,17 grenzt sich dabei dezidiert ab gegenüber der Romantik einerseits – als einem zu einseitigen Idealismus ohne Realitätsbezug – und dem Naturalismus andererseits. Otto Ludwig (1813–1865) führt dazu programmatisch aus:

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Der Begriff des poetischen Realismus fällt keineswegs mit dem des Naturalismus zusammen [...]. Dem Naturalisten ist es mehr um die Mannigfaltigkeit zu tun, dem Idealisten mehr um die Einheit. Diese beiden Richtungen sind einseitig, der künstlerische Realismus vereinigt sie in einer künstlerischen Mitte.18

Dass man am Naturalismus genau das Fehlen einer idealistischen Zentrierung monierte, wird deutlich an der zeitgenössischen Flaubert-Kritik. So meinte Emil Homberger, für den Gustave Flaubert das »vollendete Muster eines materialistischen Dichters« war: Wie der Idealismus welcher den Boden der realen Welt verläßt zu luftiger Phantasterei wird [gemeint ist die Romantik, M. A.], so sinkt der Realismus welcher die Wirklichkeit, den Stoff, nicht durch das Ideal vergeistigt, zum plumpen Materialismus herab. [...] [Flaubert fehlt es] an moralischer Perspektive. Alles, Steine, Pflanzen, Möbel, Kunstwerke, Menschenherzen liegen für den Dichter nebeneinander auf gleicher Fläche, und darum beschreibt er sie alle gleich sorgsam, gleich treu und gleich teilnahmlos. Es gibt nichts Wichtiges in dieser unaufhörlichen Schilderung, welche sich immer auf demselben Plane fortbewegt, und nichts bleibt als zu unwichtig ungeschildert; der Spiegel welcher der Natur vorgehalten wird, hat keinen Brennpunkt, das Bild welches er spiegelt keinen Abschluß. Denn wo will der Realist Grenzen finden wenn das Ideal sie ihm nicht zieht? Und während das Ganze unbegrenzt bleibt, fehlt zwischen dem Einzelnen Zusammenhang und Verhältnis. Denn nur der Geist verbindet die Dinge und weist jedem seine Stelle an.19

Von heute aus formuliert, kultiviert Flaubert gerade das, was der bürgerliche Realismus mit seinem Ideal-Realismus ablehnte: Kontingenz. Homberger wirft Flaubert denn auch vor, dass seine Art der Gleichbehandlung aller Dinge nur den »Eindruck des Zufälligen«20 hervorrufe, und setzt dagegen, dass »nur die Notwendigkeit [...] die Gewissheit der Wahrheit«21 ergäbe. Hombergers Folgerung lautet schließlich: »Und so vermag Flaubert bei aller Genauigkeit des Einzelnen uns nicht die Überzeugung von der Wahrheit des Ganzen einzuflössen.«22 Die »Wahrheit des Ganzen« liegt für den bürgerlichen Realismus in der Kontingenzbewältigung durch die idealistische Perspektive. Sowohl Gottfried Keller als auch Theodor Fontane stimmen mit diesem Verklärungs-Theorem in ihren literaturkritischen Äußerungen überein. Dies lässt sich an zentralen und immer wieder zitierten poetologischen Aussagen Fontanes und Kellers leicht nachweisen.23 Fontane etwa distanzierte sich in seinem programmatischen Realismus-Aufsatz in den Deutschen Annalen 1853 klar von einer rein naturalistischen Wirklichkeitswiedergabe und postulierte dagegen von der Literatur des Realismus die »Läuterung«: Vor allen Dingen verstehen wir nicht [unter Realismus] das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten. [...]

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Diese Richtung [der Kunst] verhält sich zum echten Realismus wie das rohe Erz zum Metall: die Läuterung fehlt.24

Keller, der bekanntlich für die »Reichsunmittelbarkeit der Poesie«25 plädierte, erklärte in seiner ersten Gotthelf-Kritik 1849: [Es ist] die Aufgabe des Dichters [...] allfällige eingeschlichene Roheiten und Mißbräuche im poetischen Spiegelbild abzuschaffen und dem Volk eine gereinigte und veredelte Freude wiederzugeben, da es sich einmal darum handelt, in der gemeinen Wirklichkeit eine schönere Welt wiederherzustellen durch die Schrift.26

Dass Keller bei dieser Auffassung blieb, belegen auch spätere Äußerungen wie etwa die launige Erklärung gegenüber Berthold Auerbach vom 25. Juni 1860: [Ich] halte [...] es für Pflicht eines Poeten, nicht nur das Vergangene zu verklären, sondern das Gegenwärtige, die Keime der Zukunft so weit zu verstärken und zu verschönern, daß die Leute noch glauben können, ja, so seien sie und so gehe es zu! [...] Kurz, man muß, wie man schwangeren Frauen etwa schöne Bildwerke vorhält, dem allezeit trächtigen Nationalgrundstock stets etwas Besseres zeigen, als er schon ist [...].27

III Nach diesen Ausführungen zur ästhetischen Theorie des bürgerlichen Realismus werde ich im Folgenden auf zwei Beispiele aus der literarischen Praxis eingehen, zunächst auf Fontanes Stine und dann auf Kellers Die drei gerechten Kammmacher. In der kontrastiven Gegenüberstellung von Fontane und Keller versuche ich exemplarisch deutlich zu machen, wie – und auch wie unterschiedlich – der bürgerliche Realismus seine Theorie in die Praxis umsetzte. Meine Lektüre fokussiert dabei auf die Frage der Kontingenz. Was leistet Poetisierung/Idealisierung im Blick auf die Kontingenzbewältigung im Medium des realistischen Erzählens? Inwiefern lässt sich dabei von Nähe oder Ferne zur Moderne sprechen? Die Stellen, die ich bespreche, beziehen sich weitgehend auf die literarische Raumgestaltung, da der Raum in seiner Alltäglichkeit als Wohnraum dem Realismus-Postulat der Wirklichkeitszuwendung sehr entgegenkommt. Die Romane des bürgerlichen Realismus sind im spezifischen Sinne Raumromane, da »der Innenraum die eigentliche Bühne des Bürgerlichen und der Entfaltung von Bürgerlichkeit«28 ist. In Fontanes Roman Stine (1890) findet sich zu Beginn des vierten Kapitels die folgende Schilderung von Pauline Pittelkows Wohnzimmer in der Invalidenstraße 98 e:

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[...] die mitten auf dem Sofa stehende Witwe [war] mit Geraderückung dreier Bilder beschäftigt und trat, als sie damit fertig war, vom Sofa her bis an die Türschwelle zurück, um von hier aus noch einmal alles überblicken und sich von dem Gelungensein ihres Arrangements überzeugen zu können. Wegen solcher Dinge gelobt zu werden, war ihr, bei ihrer im Grunde genommen ganz auf Wirtschaftlichkeit und Ordnung gestellten Natur, ein wahres Herzensbedürfnis, und wenn sie je zuvor einen Anspruch auf ein dafür einzuheimsendes Lob gehabt hatte, so sicherlich heute. Alles, was aus dem ihr zur Verfügung stehenden Material gemacht werden konnte, war daraus gemacht worden und ließ wenigstens momentan übersehen, wie sehr und zum Teil auch in wie komischer Weise sich die hier aufgestellten Sachen untereinander widersprachen. Ein Büfett, ein Sofa und ein Pianino, die, hintereinander weg, die von keiner Tür unterbrochene Längswand des Zimmers einnahmen, hätten auch bei »Geheimrats« stehen können; aber die von der Pittelkow eben geradegerückten drei Bilder stellten das im übrigen erstrebte Ensemble wieder stark in Frage. Zwei davon: »Entenjagd« und »Tellskapelle«, waren nichts als schlecht kolorierte Lithographien allerneusten Datums, während das dazwischenhängende dritte Bild, ein riesiges, stark nachgedunkeltes Ölporträt, wenigstens hundert Jahre alt war und einen polnischen oder litauischen Bischof verewigte, hinsichtlich dessen Sarastro [d. i. Graf Haldern, M. A.] schwor, daß die schwarze Pittelkow in direkter Linie von ihm abstamme. Gegensätze wie diese zeigten sich in der gesamten Zimmereinrichtung, ja, schienen mehr gesucht als vermieden zu sein, und während sich an einem der Wandpfeiler ein prächtiger Trumeau mit zwei vorspringenden goldenen Sphinxen breit machte, standen auf dem Bücherschrank zwei jämmerliche Gipsfiguren, eine Polin und ein Pole, beide kokett und in Nationaltracht zum Tanze ansetzend. Am interessantesten aber präsentierte sich der eben erwähnte Bücherschrank selbst, dessen vier Mittelfächer leer waren, während auf seinem obersten Brett zwölf prachtvoll in Leder gebundene Bände von Hume's History of England und achtzehn Bände Oeuvres posthumes de Frédéric le Grand standen und einen wundervollen Gegensatz zu dem »Berliner Pfennigmagazin« bildeten, das, in zwei Haufen übereinandergetürmt, unten im Schrank lag. All dies Einrichtungsmaterial, Kleines und Großes, Kunst und Wissenschaft war an ein und demselben Vormittage gekauft und mittels Handwagen, der ein paarmal fahren mußte, von einem Trödler in der Mauerstraße nach der Invalidenstraße geschafft worden. Auf die vor allem verwunderlichen französischen und englischen Prachtbände hatte der, aus dessen Mitteln dies alles kam, eigens und mit besonderem Nachdruck bestanden, »auf daß«, wie er sich in seiner spöttisch huldigenden Weise auszudrücken liebte, »die Welt erfahre, wer Pauline Pittelkow eigentlich sei«.29

Die Zimmerschilderung, die uns hier vorliegt, erfüllt zuerst einmal das eben erwähnte Realismus-Postulat der Wirklichkeitszuwendung. Über detaillierte Angaben wird ein möglichst spezifisches Raumszenario entwickelt, das den Lebensraum über Alltagsversatzstücke individualisiert und damit für die kommende Handlung die Bühne bildet. Der Detailrealismus der Schilderung dient in diesem Zusammenhang als Beglaubigungsverfahren. Er soll – um es tautologisch zu formulieren – wirkliche

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Realität evozieren, indem er ein soziokulturell identifizierbares Milieu entwirft, das für die erzählte Romanwelt den Rahmen bildet. Wie der letzte Satz der zitierten Passage in ironisch-selbstreflexiver Weise allerdings verrät, geht es dabei um mehr als um Oberflächenmimikry oder bloße Milieuschilderung. Tatsächlich soll die Leserschaft von Fontanes Roman über diese Zimmerschilderung »erfahren, wer Pauline Pittelkow eigentlich sei«. Der geschilderte Wohnraum dient der einführenden Charakterisierung der Protagonistin Pauline Pittelkow. So erfährt man, dass die Pittelkow von ihrem adligen Verehrer Graf Haldern alimentiert wird. Da die Ausstattung von einem Trödler stammt und in einer einmaligen Aktion zusammengekauft wurde, entsteht der Eindruck einer unauthentischen Scheinwelt. Pittelkows Wohnzimmer ist Draperie. Die Witwe lebt offenbar in einer notdürftig zusammengestückelten Pseudowirklichkeit, die sich oberflächlich an Statussymbolen orientiert. Wenn sich »all die Sachen in komischer Weise untereinander widersprechen«, ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass hier etwas nicht stimmt. Der Widerspruch zwischen den gutbürgerlichen Möbelstücken, die auch »hätten […] bei ›Geheimrats‹ stehen können«, und den billigen Lithographien an den Wänden wirkt demaskierend. Und so ist es auch mit den andern Gegenständen im Raum. Fontanes Text betont eigens, dass diese Widersprüchlichkeit »mehr gesucht als vermieden« ist, dass dahinter also keineswegs der Zufall, sondern vielmehr ein Programm steckt. Nicht um Kontingenz geht es somit, sondern um Ordnung – auch wenn diese vorerst verborgen bleibt. Das heimliche Programm der Zimmereinrichtung kultiviert das unvermittelte Aufeinandertreffen zweier Lebensstile oder Geschmacksrichtungen, nämlich von sozialer Hoch- und Alltagskultur, von High und Low. So stehen sich analog zu »Geheimrats«-Möbeln und »schlecht kolorierte[n] Lithographien allerneusten Datums« auch das alte Ölporträt des »polnischen oder litauischen Bischof[s]« und die zwei Lithographien gegenüber, so auch die »goldenen Sphinxen« und die zwei »jämmerliche[n] Gipsfiguren« des tanzenden Paares in polnischer Nationaltracht, und so organisiert sich vor allem auch der ›interessante‹ Bücherschrank mit seinen in Leder gebundenen Standardwerken des englischen Philosophen Hume oder Friedrichs des Großen auf dem obersten und den illustrierten Romanzeitungen des Berliner Pfennigmagazins auf dem untersten Brett: High und Low – und dazwischen nichts. Dass in den Räumlichkeiten der Pittelkow das Miteinander von High und Low, von ansonsten streng Geschiedenem, gefeiert wird, ist unverkennbar. Der Romankontext legt dabei nahe, dass die widersprüchlichen Stile und Kulturen den Protagonisten Pittelkow und ›Sarastro‹ zuzuordnen sind. Die Witwe Pittelkow hat von ihrer Herkunft her sozio-

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kulturell nichts mit der bürgerlich-adligen Hochkultur gemein, der alte Graf Haldern aber sehr wohl. Fontanes Text ist diesbezüglich auffallend differenziert. Er verweist mehrmals darauf, dass der Graf – offensichtlich mit schelmischer Ironie – gerade die Gegenstände der Hochkultur der Pittelkow zuordnet. So leitet er in »seiner spöttisch huldigenden Weise« die Herkunft der Witwe vom litauischen Bischof ab, und so besteht er darauf, dass sich Pauline Pittelkow der Welt über die »französischen und englischen Prachtbände« Humes respektive Friedrichs präsentiere. Der Wohnraum der Pittelkow ist mithin stark durch Graf Haldern bestimmt und charakterisiert somit nicht nur seine Bewohnerin, sondern mindestens ebenso sehr den gräflichen Protagonisten. Dieser macht sich merklich einen Spaß daraus, bei der Witwe die soziokulturellen Gegensätze von klein- und großbürgerlich-adligem Milieu unvermittelt aufeinanderprallen zu lassen. Er ist derjenige, der für das Programm in Pauline Pittelkows Wohnung verantwortlich zeichnet. Doch auch die Pittelkow hat ihren unverkennbaren Anteil an diesem Programm. Dadurch, dass sie die Wohnung ostentativ pflegt und in Ordnung hält, ist sie für deren Funktionstüchtigkeit verantwortlich. Ihr Stolz auf das ›Gelungensein ihres Arrangements‹ verbindet sich mit einer Art Lohnforderung gegenüber Graf Haldern, wenn sie von ihm für die geleistete Arbeit gelobt werden will. Fontanes Raumschilderung – so kann man zusammenfassend festhalten – charakterisiert im Wesentlichen die Protagonisten des Romans und führt über die geschilderten Gegenstände anspielungsreich in die Sozialproblematik ein, die für den weiteren Verlauf des Romans das Zentrum bildet. Über den poetisch gestalteten Raum erhalten Leserinnen und Leser in indirekter Figurencharakterisierung entscheidende Informationen, dank derer sie die Figuren und den Handlungsgang des Romans besser verstehen können. An dieser Stelle kann man nun den Bogen zur realistischen Ästhetik zurückschlagen, denn Fontanes Verfahren der indirekten Figurencharakterisierung mittels Raumgestaltung erfüllt exemplarisch das VerklärungsPostulat des bürgerlichen Realismus. Indem Fontane das geschilderte Interieur mit dem Subcode der Personenschilderung30 unterlegt, begegnet er dem »Zufall« mit »Notwendigkeit«. Er strukturiert die scheinbar beliebige »Oberfläche« der räumlichen Details durch die tiefere »Wahrheit« soziokultureller menschlicher Identität. Fehlte der Subcode der Personenschilderung, könnte man Fontane mit Emil Homberger Naturalismus vorwerfen. Dem in der Flaubert-Kritik monierten »Eindruck des Zufälligen« entgeht Fontane mit seiner Subcodierung des Raumes. Der Subcode also dient Fontane der Kontingenzbewältigung und verschafft

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seinem literarischen Text den von Homberger geforderten »Brennpunkt« gemäß idealistischer Ästhetik. Es gehört zu den subtileren poetischen Verfahren des Realismus, dass Erzähltexte über Anspielungen und Andeutungen die von ihnen praktizierte Kontingenzbewältigung in selbstkritisch-ironischer Weise autoreflexiv zum Thema machen können.31 Dies ist auch in der besprochenen Passage aus Fontanes Stine der Fall. Über die leitmotivische Verwendung von Vokabeln rund um die Thematik von ›Theater‹ und ›Spiel‹ hebt Fontanes Text beiläufig das problematische Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit ins Bewusstsein seiner Leserinnen und Leser.32 So wird unmittelbar vor der besprochenen Raumschilderung von der Schauspielerin Wanda gesagt, ohne sie müsste der geplante Abend »bloß halb« bleiben. Wanda macht mittels der Kunst die Wirklichkeit ›ganz‹, bewältigt die Kontingenz, während die Witwe Pittelkow, wie sie von sich selbst sagt, Letzteres nicht könnte: »Ich möchte mir nicht alle Tage hinstellen un Prinzessin spielen; aber das muß wahr sein, alle vons Theater haben so was un kriegen einen Schick und können reden. Wo’s ihnen eigentlich sitzt, ich weiß es nich, und am wenigsten bei Wanda.«33

Der Text macht dann deutlich, dass auch die Pittelkow entgegen eigener Meinung diesbezüglich doch nicht ganz unbegabt ist. Denn in der folgenden Raumschilderung erweist sich die tatkräftige Witwe recht eigentlich als Kontingenzbewältigerin. Der Alltagsraum wird nämlich über die »Sauberkeit und Ordnung«, die sie überall stiftet, überraschend »verändert«. Die Pittelkow ist entscheidend dafür verantwortlich, dass – wie der Text es benennt – das ›Arrangement‹ stimmt: Alles, was aus dem ihr zur Verfügung stehenden Material gemacht werden konnte, war daraus gemacht worden und ließ wenigstens momentan übersehen, wie sehr und zum Teil auch in wie komischer Weise sich die hier aufgestellten Sachen untereinander widersprachen.34

Nicht nur die Protagonistin Pittelkow ist es, die durch ein »Arrangement des vorhandenen Materials« dazu gelangt, den ›komischen Widerspruch‹ der Wirklichkeit – zumindest vorübergehend – zum Verschwinden zu bringen. Fontane macht als Autor diesbezüglich etwas ganz Ähnliches, wenn nicht sogar dasselbe, nämlich: Kontingenzbewältigung durch ästhetische Verklärung.

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IV Kontingenzbewältigung durch poetische Verklärung des Raumes findet sich auch im Werk Gottfried Kellers. In Die drei gerechten Kammmacher (1856) etwa erwacht der Kammmacher Jobst am Morgen vor dem verhängnisvollen Wettlauf, der über sein künftiges Schicksal entscheidet, in seinem Bette und betrachtet versonnen die morgendliche Schlafkammer. Keller entwirft – gesehen durch die Augen Jobsts – dabei das folgende merkwürdige Szenario: So dürftig das Gemach aussah, so erschien es ihm doch wie ein Paradies, welches er verlassen sollte und zwar so ungerechter Weise. Er ließ seine Augen umhergehen an den Wänden und zählte alle die vertrauten Spuren von den vielen Gesellen, die hier schon gewohnt kürzere oder längere Zeit; hier hatte der seinen Kopf zu reiben gepflegt und einen dunklen Fleck verfertigt, dort hatte jener einen Nagel eingeschlagen, um seine Pfeife daran zu hängen, und das rote Schnürchen hing noch daran. [...] Dann heftete er sein Auge auf die Gegend zunächst seinem Gesichte, und betrachtete da die kleineren Gegenstände, welche er schon tausendmal betrachtet, wenn er des Morgens oder am Abend noch bei Tageshelle im Bette lag und sich eines seligen, kostenfreien Daseins erfreute. Da war eine beschädigte Stelle in dem Bewurf, welche wie ein Land aussah mit Seen und Städten, und ein Häufchen von groben Sandkörnern stellte eine glückselige Inselgruppe vor; weiterhin erstreckte sich eine lange Schweinsborste, welche aus dem Pinsel gefallen und in der blauen Tünche steckengeblieben war; denn Jobst hatte im letzten Herbst einmal ein kleines Restchen solcher Tünche gefunden und damit es nicht umkommen sollte, eine Viertelswandseite damit angestrichen, so weit es reichen wollte, und zwar hatte er die Stelle bemalt, wo er zunächst im Bette lag. Jenseits der Schweinsborste aber ragte eine ganz geringe Erhöhung, wie ein kleines blaues Gebirge, welches einen zarten Schlagschatten über die Borste weg nach den glückseligen Inseln hinüber warf. Ueber dies Gebirge hatte er schon den ganzen Winter gegrübelt, da es ihm dünkte, als ob es früher nicht dagewesen wäre. Wie er nun mit seinem traurigen, duselnden Auge dasselbe suchte und plötzlich vermißte, traute er seinen Sinnen kaum, als er statt desselben einen kleinen kahlen Fleck an der Mauer fand, dagegen sah, wie der winzige blaue Berg nicht weit davon sich bewegte und zu wandeln schien. Erstaunt fuhr Jobst in die Höhe, als ob er ein blaues Wunder sähe, und sah, daß es eine Wanze war, welche er also im vorigen Herbst achtlos mit der Farbe überstrichen, als sie schon in Erstarrung dagesessen hatte. Jetzt aber war sie von der Frühlingswärme neu belebt, hatte sich aufgemacht und stieg eben in diesem Augenblicke mit ihrem blauen Rücken unverdrossen die Wand hinan. Er blickte ihr gerührt und voll Verwunderung nach; so lange sie im Blauen ging, war sie kaum von der Wand zu unterscheiden; als sie aber aus dem bestrichenen Bereich hinaus trat und die letzten vereinzelten Spritze hinter sich hatte, wandelte das gute himmelblaue Tierchen weithin sichtbar seine Bahn durch die dunkleren Bezirke. Wehmütig sank Jobst in den Pfülmen zurück; so wenig er sich sonst aus dergleichen machte, rührte diese Erscheinung doch jetzt ein Gefühl in ihm auf, als ob er doch auch endlich wieder wandern müßte, und es bedünkte ihm ein gu-

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tes Zeichen zu sein, daß er sich in das Unabänderliche ergeben und sich wenigstens mit gutem Willen auf den Weg machen solle. Durch diese ruhigeren Gedanken kehrte seine natürliche Besonnenheit und Weisheit zurück, und indem er die Sache näher überlegte, fand er, daß wenn er sich ergebungsvoll und bescheiden anstelle, sich dem schwierigen Werke unterziehe und dabei sich zusammennehme und klug verhalte, er noch am ehesten über seine Nebenbuhler obsiegen könne.35

Wieder ist zuerst darauf hinzuweisen, dass Keller der Realismuskonvention der Alltagszuwendung entspricht, indem er sein Raumszenario in akribischem Detailrealismus schildert. Diese Detailversessenheit allerdings, die bis zum Sandkorn oder zu jener famosen Schweinsborste geht, ist dabei so pingelig, dass sie übertrieben und in der Übertreibung komisch wirkt. Der für Keller charakteristische Humor übernimmt hier die Funktion der Dekonstruktion.36 Indem Keller das Prinzip der Alltagszuwendung übertreibt, macht er es für die Leserinnen und Leser zum Thema. Realismuskonventionen werden bei Keller somit nicht nur praktiziert, sondern zugleich auch verhandelt und in Frage gestellt. Kellers Text ist bezüglich der realistischen Ästhetik grundsätzlich zweistimmig: Er praktiziert ein poetisches Verfahren und zieht es – indem er es gleichsam vorführt – wieder in Zweifel. Wäre Keller eine Generation älter, müsste man von romantischer Ironie sprechen. Der Text ist – ähnlich wie bei Fontane – selbstreferentiell und autoreflexiv. Auch mit dem zweiten Realismustheorem, dem der Verklärung, verfährt Keller in seinem Text nicht anders. Das dekonstruierende Vorgehen kommt sogar noch deutlicher zum Ausdruck, denn in Jobsts Verklärung der »Wanze« zum »blauen Wunder« führt der Text die Fragwürdigkeit von Kontingenzbewältigung durch Verklärung geradezu exemplarisch vor. Die Einleitung der Szene macht über ihre Lichtregie und das verwendete Vokabular gleich zu Beginn und ein für alle Mal deutlich, dass es um Verklärung geht: Jobst war der erste, welcher in aller Frühe erwachte und sah, daß ein heiterer Frühlingsmorgen in die Kammer schien [...]. So dürftig das Gemach aussah, so erschien es ihm doch wie ein Paradies, welches er verlassen sollte und zwar so ungerechter Weise.37

Das Frühlingslicht verklärt in Jobsts Augen eine »dürftige« Welt zum »Paradies«, eine Welt, die sich über den launischen Willkürentscheid von Jobsts Meister, die drei Kammmacher vor allen Leuten der Stadt einem Karriere-Wettlauf auszusetzen, in grotesker Form als »ungerecht«, zufällig oder eben kontingent erweist. Der Wettlauf, seine Voraussetzungen, seine Durchführung und seine Folgen evozieren geradezu programmatisch eine durch Kontingenz bestimmte Welt. Nicht umsonst verzweifeln die Kammmacher darob, werden schon vor dem Lauf fast verrückt

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und enden dann allesamt unrühmlich: Jobst erhängt sich, Fridolin wird ein »liederlicher Mensch«38 und Dietrich, der mehr oder weniger zufällige Sieger des Wettlaufs, hat das zweifelhafte Vergnügen, unter der Fuchtel von Züs Bünzlin sein freudloses Dasein als Kammmacher endlos weiterführen zu müssen. Gründlicher scheitern als diese Kammmacher, die mit einem klaren Plan angetreten sind, um in einer von wirtschaftlichem Erfolg und Kapital dominierten Welt bestehen zu können, gründlicher scheitern kann man nicht. Im Scheitern aber der Kammmacher an der plan-resistenten Wirklichkeit demonstriert Kellers Text die Übermacht, ja geradezu den Triumph der Kontingenz. Auch die detailrealistische Schilderung von Jobsts Kammer dient unmissverständlich der Kontingenzevokation. Was um Jobst im Raum versammelt ist, sind »Spuren« des Zufalls und der Willkür, die in sich keinerlei sinnvolle Ordnung ergeben. Mancher Geselle, so auch Jobst, hat mit »Flecken«, »Nägeln« und »Schnürchen« seine Spur hinterlassen; Jobst übertünchte – um Farbreste zu verwerten – »achtlos« »eine Viertelwandseite«: beschädigten Bewurf, Sandkörner, eine Wanze. Eine Schweinsborste aus einem Pinsel bleibt an der Wand haften. Wie Keller dann vorführt, dass Jobst mit seinem verklärenden Blick in dieser trostlosen Welt Kohärenz zu stiften versucht und sie damit zum »Paradies« werden lässt, ist in jeder Hinsicht beachtlich und kann als kleines Kabinettstück von Kellers spezifischem Humor angesehen werden. Noch zaghaft zuerst beginnt die Verklärung mit einem ersten Vergleich,39 indem Jobst von der »beschädigten Stelle in dem Bewurf« feststellt, sie sähe »wie ein Land aus mit Seen und Städten«. Das Kleine und Enge wird hier zum Großen und Weiten; die Perspektivenlosigkeit der Schlafkammer wird zum polyglotten Panorama. Im nächsten Schritt wird dann zielstrebig der Bildbereich der Landschaft zur Paradiesvorstellung transformiert und das »Häufchen der Sandkörner« verklärt sich zur »glückseligen Inselgruppe«, die Wanze schließlich zum »blauen Gebirge«. Als sich dann dieses Gebirge noch in Bewegung setzt, erlebt Jobst tatsächlich sein »blaues Wunder«. Spätestens mit den Vokabeln ›blau‹ und ›Wunder‹ rückt Keller den geschilderten Verklärungsvorgang in den Kontext der Romantik. Auch wenn es hier nicht um die ›blaue Blume‹ geht, ist doch die romantisierende Dimension der geschilderten Vorgänge über die Landschaftsvokabeln und vor allem den Begriff des Wunders unverkennbar. Entsprechend der für den Realismus typischen Abwertung alles Romantischen erscheint Jobsts Verklärungsversuch auch sogleich als Fehlverhalten und die Verklärung mündet in Desillusionierung: Von all dem Zauber bleibt allein die übertünchte Wanze übrig.

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Jobst indes lässt sich von dieser Ernüchterung nicht beeindrucken und setzt zu einer weiteren Verklärung an, denn unversehens verleiht er dem Weg der Wanze, der sie aus dem blauen Bereich hinaus in die »dunkleren Bezirke« führt, einen tieferen Sinn: Die Wanze wird Jobst zum Symbol. Als »gutes Zeichen« verkündet sie ihm, »daß er sich in das Unabänderliche ergeben« und sich »mit gutem Willen auf den Weg machen solle«. Über seinen zweiten Verklärungsversuch gelangt Jobst denn auch tatsächlich zu einer eigentümlichen Souveränität seinem Schicksal gegenüber. Er fasst sich, wirkt versöhnt und geht in ›heitersouveränem Darüberstehen‹ hinaus und stellt sich dem Rennen. Jobsts Verhalten lässt sich mit Formulierungen umschreiben, die signifikanterweise Fontanes Humordefinition entsprechen. Fontane erläutert das Verklärungsverfahren des poetischen Realismus über den Humor, den er als »das Darüberstehen, das heitersouveräne Spiel mit den Erscheinungen dieses Lebens, auf die er herabblickt,«40 umschreibt. Spätestens in Jobsts zweitem Verklärungsversuch also, der über die Symboldeutung zu humorvoller Gelassenheit führt, verhandelt Keller neben der romantischen auch das Scheitern der realistischen Verklärung. Denn dass Jobst mit seiner Zeichendeutung scheitert, macht der weitere Verlauf der Handlung mit seinem katastrophalen Ende mehr als klar. Wenn Jobst in abgeklärter Gelassenheit ins Rennen geht, handelt er alles andere als richtig, denn das groteske Rennen bedeutet Jobsts sicheres Ende. Kellers Text lässt somit keinen Zweifel daran, dass die vorgeführten Verfahren der Kontingenzbewältigung – seien sie nun romantisch oder realistisch – versagen. Idealistische Verklärung erweist sich in der besprochenen Passage als Selbstbetrug; der kontingenten Wirklichkeit vermag sie in keiner Weise mehr gerecht zu werden. Macht man im Übrigen den Versuch, Kellers minutiös geschilderten Auszug der Wanze selber symbolisch deuten zu wollen, wird man daran – genau wie Jobst – früher oder später scheitern. Obwohl die Stelle geradezu zur Deutung einlädt, bleibt die Wanze – auch wenn sie blau übertüncht ist – nichts anderes als eine Wanze und liefert in Bezug auf Jobst und die Handlungsentwicklung keinerlei klärenden Sinn. Einzig selbstreferentiell gelesen ist die Stelle aussagekräftig: So wie Jobst mit seinem Verklärungsversuch scheitert, scheitern auch die Leserinnen und Leser, wenn sie über die Symboldeutung vergeblich dem Text die Dimension der Verklärung zuzuschreiben versuchen. Das Scheitern der idealistischen Verklärung wird somit nicht nur erzählend geschildert, sondern für die Leserinnen und Leser zugleich auch im Scheitern ihrer Deutungsversuche erfahrbar. Was sich dabei einstellt, ist die Erfahrung von Kontingenz.

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Sicher kann man Kellers Text – wie das üblich geworden ist – als »gesellschaftskritisch gemeinte Farce«41 lesen, als sarkastischen Kommentar zur Kapitalismusentwicklung im 19. Jahrhundert. Darüber hinaus aber ist er ein beispielloses Dokument für die Kontingenzerfahrung der Epoche des Realismus. Der eigentliche Höhepunkt der Drei gerechten Kammmacher ist diesbezüglich Jungfer Züs Bünzlin. Sowohl ihre famose Lade mit dem geschilderten Sammelsurium von Lebensversatzstücken42 als auch ihre im Text über Seiten hinweg wiedergegebenen Traktate und Reden43 sind Höhepunkte der Kontingenzdarstellung. So sagt Kellers Text von Züs: Wenn sie zufrieden und nicht zu sehr beschäftigt war, so ertönten unaufhörliche Reden aus ihrem Munde und alle Dinge wußte sie heimzuweisen und zu beurteilen [...]; sie sprach zuweilen so viel und so salbungsvoll, wie eine gelehrte Blinde, die nichts von der Welt sieht und deren einziger Genuß ist, sich selbst reden zu hören.44

Kellers Text liefert hier die schiere Karikatur von sinnstiftender Rede und führt darin schließlich zu beispielloser Kontingenzevokation. Die Ordnung, die Züs über ihre Rede stiftet, erfüllt für die Figur und nur für sie das von der Verklärungspoetik geforderte Zentrieren der Wirklichkeit auf einen Sinn hin: »Alle Dinge wußte sie heimzuweisen und zu beurteilen.« Kellers Urteil diesbezüglich ist klar: Züs’ Ordnung ist das Resultat von Blindheit und Selbstverliebtheit und vermag der Wirklichkeit in keiner Weise gerecht zu werden. Was Züs’ Rede produziert, ist – im Tone der Verklärung – höherer Blödsinn. Man lese etwa, was Züs den verzweifelten Kammmachern vor ihrem Wettlauf rät; es sei hier auszugsweise wiedergegeben: »Wisset, meine Freunde, daß nichts ohne Bedeutung geschieht, und so merkwürdig und ungewöhnlich die Zumutung Eures Meisters ist, so müssen wir sie doch als eine Fügung ansehen und uns mit einer höheren Weisheit, von welcher der mutwillige Mann nichts ahnt, dieser jähen Entscheidung unterwerfen. [...] Ich selbst will Euch hinausbegleiten auf dem schweren Wege und zugegen sein [...]. Aber so wie der Sieger sich seines Glückes nicht überheben wird, so sollen die, welche unterliegen, [...] als vergnügte Wanderjünglinge in die weite Welt ziehen; denn die Menschen haben viele Städte gebauet, welche so schön oder noch schöner sind wie Seldwyla; Rom ist eine große merkwürdige Stadt, allwo der heilige Vater wohnt, und Paris ist eine gar mächtige Stadt mit vielen Seelen und herrlichen Palästen, und in Konstantinopel herrscht der Sultan, von türkischem Glauben, und Lissabon, welches einst durch ein Erdbeben verschüttet ward, ist desto schöner wieder aufgebaut worden. Wien ist die Hauptstadt von Oesterreich und die Kaiserstadt genannt, und London ist die reichste Stadt der Welt, in Engelland gelegen, an einem Fluß, der die Themse benannt wird. Zwei Millionen Menschen wohnen da! Petersburg aber ist die Haupt- und Residenzstadt von Rußland, so wie Neapel die Hauptstadt des Königreiches gleichen

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Namens, mit dem feuerspeienden Berg Vesuvius, auf welchem einst einem englischen Schiffshauptmann eine verdammte Seele erschienen ist, wie ich in einer merkwürdigen Reisebeschreibung gelesen habe, welche Seele einem gewissen John Smidt angehöret, der vor hundertundfunfzig Jahren ein gottloser Mann gewesen und nun besagtem Hauptmann einen Auftrag erteilte an seine Nachkommen in England, damit er erlös’t würde; denn der ganze Feuerberg ist ein Aufenthalt der Verdammten, wie auch in des gelehrten Peter Haslers Traktatus über die mutmaßliche Gelegenheit der Hölle zu lesen ist.«45

V Gottfried Keller und Theodor Fontane folgen beide in ihren poetologischen und ästhetischen Überlegungen der Ästhetik des bürgerlichen Realismus, welche über die beiden Theoreme der Wirklichkeitszuwendung und der Verklärung zu fassen ist. Von der Moderne trennt sie somit die radikale Wirklichkeitszuwendung ohne Rückbindung an eine idealistische Ästhetik, wie sie im Umfeld des Naturalismus propagiert werden sollte. Weder Keller noch Fontane wollen den Bruch mit der Vergangenheit. Beide stimmen mit den meisten Realisten damit überein, dass der Kontingenzerfahrung der modernisierten Welt mit einem Festhalten an gefährdeten Idealen zu begegnen sei. Die in der Theorie klar fassbare Position Kellers und Fontanes findet in der literarischen Praxis im Medium des Erzählens weder eine einheitliche noch eine leicht festzulegende Entsprechung. Unsere Untersuchung an zwei exemplarischen Texten führt zum Schluss, dass sowohl Keller wie Fontane in ihren Erzähltexten der realistischen Theorie um einen oder auch zwei Schritte voraus sind. Kontingenzbewältigung durch idealistische Verklärung jedenfalls ist in den besprochenen Texten keineswegs unproblematisch. Es ist vielmehr so, dass Keller und Fontane Kontingenz und deren Bewältigung als Problem des bürgerlichen Realismus kenntlich machen und für ihre Leserinnen und Leser im Erzählprozess zur Diskussion stellen. In der Art, wie sie das tun, unterscheiden sie sich. Fontanes Erzählen bewegt sich näher an der idealistischen Ästhetik als das Erzählen Kellers, denn Fontane begegnet der Oberflächenkontingenz mit zentrierenden Subcodes und unterlegt auf diese Weise den »Zufall« mit »Notwendigkeit«. So konnten wir feststellen, dass Fontanes Räume subcodierte Personenschilderungen sind, über die die scheinbar beliebige »Oberfläche« durch die tiefere »Wahrheit« soziokultureller Identitätsbildung ihren spezifischen Sinn erfährt. Fontane bewältigt Kontingenz über den Subcode und verschafft damit seinem Erzählen den »Brennpunkt«, den die idealistische Ästhetik verlangt. Über autoreflexi-

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ve Elemente im Motivfeld von Theater und Kunst thematisiert und relativiert Fontane allerdings sein Verfahren der Kontingenzbewältigung im Verlaufe seines Erzählens immer wieder, sodass die Grenzen und Bedingtheiten seines Vorgehens den Leserinnen und Lesern ins Bewusstsein treten können. In Kellers Erzählen findet das Problem der Kontingenz keine Lösung mehr, die mit der idealistischen Ästhetik in Übereinstimmung gebracht werden könnte. Eine Tiefenzentrierung, wie wir sie bei Fontane ausmachen konnten, fehlt, oder vielmehr sie erschöpft sich darin, auf die schiere Unlösbarkeit des Kontingenzproblems hinzuweisen. Zwar kennt auch Keller den Subcode der Personencharakterisierung über den Raum, wie sich etwa an Züs Bünzlins Lade leicht zeigen ließe. Anders als bei Fontane aber vermag dabei die Oberflächenkontingenz nicht mehr sinnstiftend zentriert zu werden, denn Kellers indirekte Charakterisierungen bleiben widersprüchlich und rätselhaft. Kontingenzevokation und dekonstruierender Humor bringen bei Keller die Grenzen jeder Verklärungspoetik zum Ausdruck.46 Für die Leserinnen und Leser wird dies vorab darin spürbar, dass ihre Deutungs- und Verstehensprozesse immer wieder ins Leere laufen oder auf Widersprüche und Paradoxien stoßen. Was Keller einem erzählt, mutet öfters dermaßen merkwürdig an, dass man darüber nur lachen oder den Kopf schütteln kann. Dies aber ist nichts anderes als Ausdruck der Kontingenzerfahrung. Mit seinen Skurrilitäten und »Späßen«47 bewegt sich Keller verschiedentlich sehr nahe an gewissen Ausdrucksformen der Moderne. Züs Bünzlins Rede etwa weist voraus auf Dada, Beckett oder auch Robert Walser. Freilich bleibt bei Keller – im Gegensatz zu den Genannten – der Idealismus als Option jederzeit erhalten; aber die Option findet öfters keine Einlösung mehr. Ihr schieres Vorhandensein hindert Keller aber daran, den entscheidenden Schritt in Richtung Moderne zu tun, denn er bleibt am Idealismus orientiert, auch wenn er erzählerisch dessen Prämissen nurmehr sehr bedingt einlöst.48 Nach all diesen Überlegungen dürfte klar geworden sein, dass die eingangs gestellte Frage nach dem Moderne-Bezug von Keller und Fontane keine simple Antwort verträgt. Mit einem gewissen Recht aber kann man abschließend festhalten, dass Keller – zumindest im Blick auf die Verklärungsästhetik – der Moderne doch etwas näher steht als Fontane.

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Anmerkungen 1

Zum Begriff der Moderne vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. In: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hgg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. IV. Stuttgart 1978, S. 93–131. – Gerhard von Graevenitz (Hg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart/Weimar 1999 (DFG-Symposion 1997; Germanistische-Symposion-Berichtsbände, Bd. 20). – Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004.

2

Peter Sprengel: Was heißt Moderne? In: Ders.: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 18701900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. IX/1), S. 55–59, hier S. 55.

3

Ebd., S. 58.

4

Ebd., S. 53f.

5

Vgl. dazu Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart/Weimar 2006, S. 49f.

6

Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen. Tl. 3: Die Kunstlehre. Abschn. 2: Die Künste. H. 5: Die Dichtkunst. Stuttgart/Reutlingen 1857, zitiert nach: Gerhard Plumpe (Hg.): Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Stuttgart 1997, S. 240. Robert Prutz: Das Drama der Gegenwart. In: Deutsches Museum 1 (1851) Hbd. 2, S. 697– 705, zitiert nach Plumpe 1997 (wie Anm. 6), S. 276f.

7 8

Da der Begriff der »Kontingenz« in den letzten Jahren zu einer Art Voodoo-Vokabel wurde, wie der Sozialwissenschaftler Michael Makropoulos formuliert, möchte ich kurz klären, wie er hier Verwendung findet. Der Begriff bezeichnet allgemein in Philosophie und Soziologie die prinzipielle Offenheit und Unbestimmtheit der Realität: Was ist, könnte auch anders sein. Dabei ist Kontingenz »systematisch ambivalent« und lässt sich auf zwei konträre Arten spezifizieren, nämlich als »das VerfügbarDisponible wie das Unverfügbar-Zufällige«. Kontingenzerfahrung kann in der Offenheit der Realität das Zufällige und Sinnlose sehen, sie kann aber auch aus derselben Offenheit die Legitimität willkürlichen Handelns ableiten. Die Differenz zwischen den beiden Realisierungen von Kontingenz ist dabei temporal. Im Rückblick muss das kontingente Ereignis sinnlos erscheinen, im Blick auf die Zukunft ist es innerhalb eines Möglichkeitshorizonts Ermächtigung zu eigenem Handeln. Orientierungslosigkeit und Unsicherheit stehen somit tendenziell schrankenloser Verfügbarkeit gegenüber. Das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis kennzeichnet sich dadurch, dass es jede Ordnung als historisch und deshalb relativ versteht. Dabei werden nicht nur empirische Ordnungen disponibel, sondern auch Ordnungsstrukturen; »Kontingenz wird damit zu einem konstitutiven Moment des neuzeitlichen Selbst- und Weltverständnisses«. Vgl. Michael Makropoulos: Historische Kontingenz und soziale Optimierung. In: Rüdiger Bubner und Walter Mesch (Hgg.): Die Weltgeschichte – das Weltgericht? Stuttgart 2000, S. 77–92; zitiert nach der im Internet verfügbaren PDF-Datei auf der Site: www.kontingenz.net/Texte.html, S. 2, S. 3–5. – Michael Makropoulos: Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts. In: Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard: Kontingenz. München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. 55–79; zitiert nach der im Internet verfügbaren PDF-Datei auf der Site: www.kontingenz.net/ Texte.html, S. 16.

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9

Johann Georg Fischer: Ein Wort über die heutige Lyrik in Deutschland. In: Allgemeine Zeitung, 2. Juli 1867, Beilage, S. 2985f., zitiert nach Plumpe 1997 (wie Anm. 6), S. 312f.

10

Ebd., S. 313.

11

Ebd., S. 16.

12

Gerhard Plumpe: Einleitung. In: Plumpe 1997 (wie Anm. 6), S. 9–40, hier S. 16.

13

Eine kenntnisreiche und detaillierte Einführung in das im bürgerlichen Realismus komplexe Verhältnis von Mimesis und Verklärung gibt Aust 2006 (wie Anm. 5), S. 49–88.

14

Emil Homberger: Der realistische Roman. In: Allgemeine Zeitung, 18. März 1870, Beilage, S. 1189f.; zitiert nach Plumpe 1997 (wie Anm. 6), S. 155.

15

Ebd.

16

Carl Lemcke: Populäre Ästhetik. Leipzig 1865, S. 265–277; zitiert nach Plumpe 1997 (wie Anm. 6), S. 73.

17

Moriz Carriere: Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwicklung und die Ideale der Menschheit. 5 Bde. Leipzig 1863–74, Bd. 5: Das Weltalter des Geistes im Aufgange. Literatur und Kunst im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. 3. Aufl. Leipzig 1886, S. 702. – Den Begriff verwendet auch: Max Schasler: Ästhetik als Philosophie des Schönen und der Kunst. Tl. 1: Grundlegung. Kritische Geschichte der Ästhetik von Plato bis auf die Gegenwart. Abt. 2: Von Fichte bis auf die Gegenwart. Berlin 1872, S. 1125; zitiert nach Plumpe 1997 (wie Anm. 6), S. 89.

18

Otto Ludwig: Shakespeare-Studien. Aus dem Nachlasse des Dichters hg. von M. Heydrich. Leipzig 1872, S. 289; zitiert nach Plumpe 1997 (wie Anm. 6), S. 148f.

19

Homberger 1870 (wie Anm. 14), S. 198f.

20

Ebd., S. 200.

21

Ebd.

22

Ebd.

23

Vgl. dazu Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848–1900. Tübingen/Basel 2003, S. 102f., S. 120ff.

24

Theodor Fontane: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, HFA III/1, S. 236–244, hier S. 240f.

25

Gottfried Keller an Paul Heyse, 27. Juli 1881, GB 3.1, S. 55–59, hier S. 57. – Zu Kellers Poetik vgl.: Ursula Amrein: Verschriftete Bilder. Gottfried Kellers Bildpoetik im Prozess der Säkularisierung. In: Schreibprozesse. Hg. von Peter Hughes et al. Tübingen 2008, S. 51–76.

26

Gottfried Keller: Jeremias Gotthelf. Uli der Knecht. Uli der Pächter. In: Blätter für literarische Unterhaltung, 18.–21. Dezember 1849, Nr. 302–305, DKV 7, S. 58–81, hier S. 76.

27

Gottfried Keller an Berthold Auerbach, 25. Juni 1860, GB 3.2, S. 195–197, hier S. 195.

28

Becker 2003 (wie Anm. 23), S. 166. – Zur Funktion des Raums für Fontanes Erzählen vgl. Michael Andermatt: Haus und Zimmer im Roman. Die Genese des erzählten Raums bei E. Marlitt, Th. Fontane und F. Kafka. Bern/Frankfurt am Main et al. 1987 (Zürcher germanistische Studien, Bd. 8); ders.: »Es rauscht und rauscht immer, aber es ist kein richtiges Leben.« Zur Topographie des Fremden in Fontanes »Effi Briest«. In: Theodor Fontane. Am Ende

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Michael Andermatt

des Jahrhunderts. Im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs hg. von Hanna Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit Helmuth Nürnberger. Bd. 3: Geschichte – Vergessen – Großstadt – Moderne. Würzburg 2000, S. 189–199. 29

Theodor Fontane: Stine, HFA I/2, S. 477–565, hier S. 489f.

30

Vgl. dazu Andermatt 1987 (wie Anm. 28), S. 26ff.

31

Ein Projekt zur Selbsteflexivität des realistischen Erzählens ist bei mir in Vorbereitung.

32

Die hier angesprochene autoreflexive Dimension von Theater und Spiel wäre im Roman natürlich weiter zu verfolgen. So verliert sich die Abendgesellschaft in Kapitel 5 in Theatergesprächen und führt mit der »Kartoffelkomödie« selbst eine Aufführung durch. Auch das Gesellschaftsspiel mit den Spottnamen in Anlehnung an die Zauberflöte gehört in diesen Zusammenhang.

33

HFA I/2, S. 489.

34

Ebd., S. 489f.

35

Gottfried Keller: Die drei gerechten Kammmacher, HKKA 4, S. 215–265, hier S. 244f.

36

Wolfgang Preisendanz’ grundlegende Studie zum Humor im 19. Jahrhundert stellt, dem zeitgenössischen Humor-Verständnis folgend, Humor als »Integrationsform« und damit als Element der realistischen Verklärungsästhetik dar: »Im Humor zeigte sich eine Integrationsform, die eine der poetischen Gestaltung scheinbar entzogene Wirklichkeit darstellbar machte, das humoristische Erzählen bot Gewähr, eine eigengesetzliche objektive Wirklichkeit auf spezifisch poetische Weise zur Sprache zu bringen; vermöge des Humors gewinnt die dargestellte Wirklichkeit das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen Identität und Bedeutung, das dem Respekt vor den Gesetzen der Wirklichkeit und der Souveränität der dichterischen Imagination gleichen Spielraum lässt.« Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. München, 3. Aufl. 1985, S. 272.– Ich stimme Preisendanz’ Analysen in manchem zu, gewichte Humor – zumindest bei Keller – dann aber anders, als ihn die zeitgenössische Ästhetik verstanden haben wollte, indem ich das demaskierende Element von Kellers Humor hervorhebe. Zu Kellers Form der Dekonstruktion vgl. Michael Andermatt: Konfessionalität, Identität, Differenz. Zum historischen Erzählen von Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1/27 (2002), S. 32–53.

37

HKKA 4, S. 244.

38

Ebd., S. 265.

39

»Es liegt auf der Hand, dass der Vergleich ein charakteristisches und bevorzugtes Element der humoristischen Erzählstruktur ist, denn er enthält schon in sich selbst das Moment der Brechung, der Spiegelung, der Doppelsinnigkeit, der Bezüglichkeit überhaupt, das die humoristische Erzählweise kennzeichnet.« Preisendanz 1985 (wie Anm. 36), S. 328.

40

Theodor Fontane: Willibald Alexis, HFA III/1, S. 461.

41

Bernd Neumann: Gottfried Keller. Eine Einführung in sein Werk. Königstein/Ts. 1982, S. 149.

42

Vgl. HKKA 4, S. 228–231.

43

Ebd., S. 231–233, S. 240–243, S. 248–255.

44

Ebd., S. 232.

Kontingenz als Problem des bürgerlichen Realismus

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45

Ebd., S. 241f.

46

Vgl. ähnlich auch Preisendanz 1985 (wie Anm. 36), S. 178: »Wir haben [...] ein Auseinanderfallen von Gestalt und Bedeutung, das nur partiell, durch die angewandte Phantasie des Humors, vermittelt wird, welche partielle Vermittlung die prosaische ›schlechte Unendlichkeit‹ der Realität überwindet, ohne doch die objektive Kontingenz des in Zusammenhang Gebrachten verschwinden zu lassen, ohne das humoristisch Vermittelte als Symbol auszuweisen, das seine Gültigkeit auch außerhalb des subjektiven Reflexes hätte.«

47

Gottfried Keller schrieb anlässlich der Korrektur seines Sinngedichts am 16. August 1881 an Theodor Storm: »Übrigens ist’s jetzt doch zu Ende mit diesen Späßen. Ich gehe jetzt mit einem einbändigen Romane [d. i. Martin Salander, M. A.] um, welcher sich ganz logisch und modern aufführen wird; freilich wird in anderer Beziehung so starker Tabak geraucht werden, daß man die kleinen Späßchen vielleicht zurückwünscht.« GB 3.1, S. 462–465, hier S. 465.

48

Vgl. dazu auch Amrein 2008 (wie Anm. 25), S. 76.

Todesfiguren Zur Begründung des Realismus bei Gottfried Keller Ursula Amrein In der Züricher Novelle mit dem Titel Der Landvogt von Greifensee (1878) erzählt Gottfried Keller die Geschichte des Landvogts Salomon Landolt, den er als »Original«1 und als Grenzgänger zwischen alter und neuer Welt zeigt. Die am Ende des 18. Jahrhunderts spielende Novelle verbindet historische Fakten mit frei erfundenen Szenen und Begebenheiten.2 Zu diesen Begebenheiten gehört auch ein Streit zwischen Landolt und seiner Großmutter, die, nachdem sie von den Heiratsabsichten ihres Lieblingsenkels erfahren hat, dessen Pläne entschieden bekämpft: »Weißt Du, daß ich dich enterbe, wenn Du heiratest?« rief sie, selbst entsetzt über diesen Gedanken; »das fehlte mir, daß so ein scharrendes Huhn einst über meine Kisten und Kasten kommt! Und Du? Wie willst Du denn ein Weib ertragen lernen? Wie willst Du es aushalten, wenn z. B. eine den ganzen Tag lügt? oder eine, die über alle Welt lästert, so daß dein ehrlicher Tisch eine Stätte der Schmähsucht wird, oder eine, die immer etwas ißt, wo sie steht und geht, und dazu klatscht während des Kauens? wie wirst Du dastehen, wenn Du eine hast, die in den Kaufläden mauset, oder die Schulden macht […]?«3

Empört humpelt die alte Frau zu ihrem Schreibtisch, entnimmt diesem einen kleinen Gegenstand und hält ihn triumphierend dem Enkel vor die Augen. Es handelt sich um »eine aus Elfenbein kunstreich und fein« gearbeitete Figur, genauer: ein vier Zoll hohes Skelettchen mit einer silbernen Sense, welches das Tödlein genannt wurde und an dem kein Knöchelchen fehlte. Diesen zierlichen Tod nahm die Alte auf die zitternde Hand und sagte, während das feine Elfenbein kaum hörbar ein wenig klingelte und klapperte: »Sieh her, so sehen Mann und Frau aus, wenn der Spaß vorbei ist! Wer wird den lieben und heiraten wollen!« Salomon nahm das Tödlein auch in die Hand und betrachtete es aufmerksam; ein leichter Schauer durchfuhr ihn, als er sich die schöne Gestalt der Wendelgard von einem solchen Gerüste herunterbröckelnd vorstellte; wie er aber an die schnelle Flucht der Zeit und ihre Unwiederbringlichkeit dachte, klopfte ihm das Herz so stark, daß das Gerippchen merklich zitterte […].4

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Abb. 1: Uhr mit Totenskelett als Stundenzeiger aus dem Besitz der Familien Landolt und von Meiss, 17. Jahrhundert, Schweizerisches Landesmuseum Zürich

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Mit dem »Tödlein«, das die Großmutter hier als letztes Argument gegen Landolt ins Feld führt, zitiert Keller ganz offensichtlich die Tradition des Memento mori. Figuren wie das beschriebene »Skelettchen« hatten im Rahmen dieser Tradition an die Nichtigkeit des Irdischen zu erinnern und sollten zugleich zu einer gottgefälligen Lebensführung ermahnen. Auch im reformierten Zürich gehörten solche Figuren zur Alltagskultur. Stellvertretend dafür kann das als Stundenzeiger figurierende Totengerippe auf einer Uhr aus dem 17. Jahrhundert stehen, das Keller möglicherweise als Vorlage für seine Beschreibung diente (Abb. 1).5 Der Text indes zielt nicht auf die Wiedergabe eines identifizierbaren Objekts, auch geht es ihm nicht um die Bestätigung der mit der genannten Figur verbundenen religiösen Tradition. Die Sache mit dem »Tödlein« verhält sich komplizierter. Die zitierte Szene bringt beispielhaft die Keller häufig attestierte Beschreibungslust zur Darstellung.6 Es sind visuell prägnant erfassbare Dinge und Objekte, die den Autor faszinieren und die Eingang in sein Werk finden, indem sie zum Ausgangspunkt oft ins Groteske verschobener Inszenierungen werden.7 Listenreich und konsequent hintertreibt dieses auf Anhieb spielerisch wirkende Verfahren verfestigte Sehweisen und Denkgewohnheiten. Dies geschieht auch im Landvogt vom Greifensee. Denn während die Großmutter ihrem Enkel mit der Elfenbeinfigur das eitle und nichtige Tun der Welt vor Augen hält – ein Versuch, der sich in Kellers Beschreibung ironischerweise selbst ganz profanen Motiven verdankt –, so wird dem Enkel umgekehrt die Dringlichkeit seines Handelns bewusst. Es ist das Wissen um die durch den Tod begrenzte Endlichkeit des Lebens, das ihn dazu drängt, sein Heiratsprojekt mit umso größerer Eile voranzutreiben. Das »Tödlein« predigt ihm so nicht Verzicht auf irdischen Genuss, sondern fordert ihn gerade umgekehrt dazu heraus, diesen Genuss nicht zu verpassen.

»Knochenromantik« Dass es sehr oft Figuren des Todes sind, die Kellers Kreativität stimulieren, lässt sich anhand zahlreicher Beispiele belegen. Ein erstes stammt aus dem mit Meine Launen betitelten Notizbuch des vierzehnjährigen Schülers. Bereits hier wird auf die Memento-mori-Tradition – von Keller falsch als »Momento mori«8 zitiert – angespielt (Abb. 2). Hervorgehoben durch die lateinische Schrift, die Unterstreichung und die Datierung, kommt dem Eintrag eine besondere Bedeutung zu. Er erscheint als Motto oder Überschrift zu weiteren Notizen, wobei die Anspielung auf die Rhetorik des Todes durch die Zeichnung eines Schädels auf zwei gekreuzten Kno-

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Abb. 2: Auszug aus Gottfried Kellers Notizbuch Meine Launen, 1833, Zentralbibliothek Zürich

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chen zusätzlich betont wird. Strukturanalog zu dieser Verbindung von Wort und Bild verhalten sich der ebenfalls in lateinischer Schrift wiedergegebene Zauberspruch »Hokus pokus«9 sowie das magische Zeichen des Radkreuzes. Ob intendiert oder nicht: Das der Laune des Vierzehnjährigen entsprungene Arrangement macht durchaus Sinn. Die Parallelisierung von christlicher Todessymbolik, Magie und Zauberei bricht das bildungsbeflissene Pathos des Motivs und zieht dieses über die Analogisierung mit magischen Praktiken ins Komische. Die in Kellers Verschreiber begründete Verschiebung des »Memento« zum »Momento mori« hat überdies zur Folge, dass der Appellcharakter in den Hintergrund rückt und stattdessen das singuläre Moment des Todes betont wird. In dieser Verschiebung ist, vergleichbar der Umdeutung des »Tödlein« im Landvogt von Greifensee, eine für das 19. Jahrhundert signifikante Bewegung abgebildet. Ich werde darauf zurückkommen. Keller, der anfänglich Maler werden wollte, beschäftigte sich vielfach auch zeichnerisch mit Schädel- und Skelettdarstellungen. Bekannt ist beispielsweise die um 1839/40 entstandene Zeichnung verschiedener Schädel, überdimensioniert dargestellt als Kopffüßler oder als belebtes Gehäuse (Abb. 3).10 Keller soll nach eigener Angabe im Friedhof Krautgarten einen Schädel entwendet haben, nach dem er oft und gerne zeichnete.11 Ein als Modell zum Zeichnen benutzter Schädel taucht später im autobiographisch geprägten Roman Der grüne Heinrich wieder auf. In der Erstfassung des Romans (1854/55) unternimmt Heinrich noch den »vergeblichen Versuch, einen defecten Todtenschädel, mit welchem er seinem Kämmerchen ein gelehrtes Ansehen zu geben gewußt hatte«, in den Koffer für die Reise nach München einzupacken. »Die Mutter jagte ihn aber mit widerstandsloser Energie von dannen und man behauptet, daß das gräuliche Möbel nicht lange nachher einem ehrlichen Todtengräber bei Nacht und Nebel nebst einem Trinkgelde übergeben worden sei.«12 Bei der Überarbeitung des Romans (1879/80) nimmt Keller an dieser Stelle eine entscheidende Änderung vor. Der Schädel bleibt im Koffer und begleitet Heinrich. Zugleich liefert diese Fassung im Kapitel Der Schädel die Geschichte des Albertus Zwiehahn nach, einer erfundenen Figur, von deren verfehltem Leben der Totenschädel als letzter materieller Rest zeugt. Keller beschreibt diesen Schädel als das von »zwei Glühwürmchen« bewohnte »leere Kopfhäuschen des Albertus Zwiehan«13 und greift darin auf Vorstellungen zurück, die sich bereits in den rund vierzig Jahren zuvor entstandenen Schädel-Zeichnungen finden. Präsent ist der Tod im Grünen Heinrich aber auch dort, wo Keller das Sterben beschreibt. Heinrichs Geschichte etwa stellt sich als eine Entwicklung dar, die zwischen dem Tod des Vaters am Beginn und dem

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Abb. 3: Schädelzeichnungen aus Gottfried Kellers Schreibbuch, um 1839/40, Zentralbibliothek Zürich

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Sterben der Mutter am Ende des Romans verortet ist. In diesen Spannungsbogen eingelagert sind die Geschichte der sterbenden Jugendgeliebten Anna und des Meretlein, eines als Hexe verschrienen Mädchens, das dem Unverstand und der eigensüchtigen Beschränktheit seiner Umgebung zum Opfer fällt. Inspirationsquelle für diese Episode dürfte das Bild eines Kindes mit einem Totenschädel in der Hand gewesen sein, das Keller vermutlich in einem Nachbarhaus am Rindermarkt gesehen hatte (Abb. 4).14 Im Grünen Heinrich (1854/55) erklärt er dieses Bild zum Porträt des Meretlein und beschreibt dieses wie folgt: Es war ein außerordentlich zartgebautes Mädchen in einem blaßgrünen Damastkleide, dessen Saum in einem weiten Kreise starrte und die Füßchen nicht sehen ließ. Um den schlanken feinen Leib war eine goldene Kette geschlungen und hing vorn bis auf den Boden herab. Auf dem Haupte trug es einen kronenartigen Kopfputz aus flimmernden Gold- und Silberblättchen, von seidenen Schnüren und Perlen durchflochten. In seinen Händen hielt das Kind den Todtenschädel eines andern Kindes und eine weiße Rose.15

In Anspielung auf die Bildtradition des Totentanzes schließlich kommentiert Keller seine unglückliche Liebe zu Betty Tendering, der Schwägerin seines Verlegers Ferdinand Duncker in Berlin. Dokumentiert ist diese Geschichte auf der von Keller in den fünfziger Jahren benutzten Schreibunterlage (Abb. 5). Die obsessive Fixierung an eine abweisende und darin auch abwesende Geliebte dokumentiert sich hier in der endlos wiederholten Wortschlaufe, gebildet aus dem Namen Betty, unterbrochen durch Zeichnungen, die den Tod als Sensenmann vergegenwärtigen.16 In dieser Gestalt wird er später im Gedicht Tod und Dichter (1879) wieder auftauchen. Eine wichtige Rolle spielt der Tod überdies in der SeldwylerNovelle Dietegen (1874), die ursprünglich Das Leben aus dem Tode 17 heißen sollte und die, wie der schon sehr früh entstandene und im Band Gedichte 1846 abgedruckte Zyklus Gedanken eines Lebendig-Begrabenen, Motive der Schauerromantik variiert. Die Beispielreihe ließe sich fortsetzen, soll hier aber nicht weitergeführt werden, denn eines ist deutlich geworden: Figuren des Todes – als figürliche Darstellungen, aber auch als visuelle und mentale Bilder im Sinne von Denkfiguren – spielen in Kellers Werk eine herausragende Rolle. Keller bedient sich dabei ausgiebig des kulturell vermittelten Bilderarchivs, wobei es ihm insbesondere die mittelalterliche »Knochenromantik«18 angetan hatte. Seine Todesdarstellungen reflektieren in dieser Weise eine anthropologische Erfahrung schlechthin. Zugleich aber tragen diese Darstellungen immer auch die spezifische Signatur ihrer Zeit. Was Kellers Literarisierung des Todes unter diesem Gesichtspunkt bedeutsam macht, dieser Frage ist im Folgenden nachzugehen.

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Abb. 4: Kinderporträt, anonym, 1623, Zentralbibliothek Zürich

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Abb. 5: Schreibunterlage, um 1855, Zentralbibliothek Zürich

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Der Tod an der Schwelle von Diesseits und Jenseits Zu Kellers ersten Publikationen gehört der bereits erwähnte Gedichtzyklus Gedanken eines Lebendig-Begrabenen. Der 1846 im Band Gedichte erschienene Zyklus ist ganz offensichtlich angeregt durch die Literatur des Vormärz, die in Zürich und Winterthur mit dem Verlag des Literarischen Comptoirs ein wichtiges Zentrum besaß.19 1841 waren hier Georg Herweghs in Deutschland verbotene Gedichte eines Lebendigen erschienen und erreichten sensationelle Auflagen. Keller, der seine Karriere entscheidend dem Kontakt mit der deutschen Emigrantenszene in Zürich verdankt, ließ sich von Herweghs politischer Lyrik ebenso begeistern wie von Gedichten weiterer Autoren, darunter Anastasius Grün und Ludwig Uhland, die beide das Motiv des Scheintoten aufnehmen, um die politische Situation der Gegenwart zu deuten.20 Keller selbst weitet das Motiv ins Existentielle aus. Er zeigt einen lebendig Begrabenen, der mit seinem Schicksal hadert und, geläutert durch die Qual, seinem Ende zuletzt »erwartungsvoll«21 entgegenblickt, im Vertrauen darauf, mit dem Tod in eine höhere Form der Existenz einzutreten. Die Veröffentlichung seiner ersten Gedichte brachte Keller viel Lob. Eine vernichtende Kritik indes hatte er einzustecken. Sie stammte von Arnold Ruge, der ihm im Leipziger Wöchentlichen Literatur- und Kunstbericht vorhielt: Er [Keller, U. A.] will die Welt poetisch erlösen und giebt ihr ein endloses Leichengeleier, ein Sterbegewinsel, ein Auferstehungshoffen, führt sie auf den Kirchhof, ja sargt sie zu »dem Lebendigbegrabenen« ein. Der »Lebendigbegrabene« näselt zwar mit großer Gemütsruhe seine Verse her, findet einen Bleistift und einen Zahnstocher und reflectirt darüber, aber ekelhaft bis zum Moder bleibt die ganze Situation dennoch.22

Die Schärfe dieser Attacke gegen einen jungen und dazu gänzlich unbekannten Poeten erscheint übertrieben und ist denn auch erklärungsbedürftig. Verständlich wird die süffisante Kritik vor dem Hintergrund eines Streits, der die Emigrantenszene in Zürich Mitte der vierziger Jahre in zwei Lager spaltete – in das Lager der Gläubigen einerseits, der Gottesleugner andererseits – und der als »Ichel-Streit« in die Geschichte einging.23 Der Begriff »Ichel« spielt, unter Auslassung des »M«, auf den deutschen Michel an und bezeichnet die Partei der Atheisten.24 Zu den Hauptakteuren in diesem Streit gehörten Arnold Ruge und August Adolf Ludwig Follen. Ruge provozierte in Zürich mit seiner Verspottung des Glaubens an Gott und Unsterblichkeit. Follen, der Ruge innerhalb des Emigrantenkreises anfänglich unterstützt hatte, reagierte auf die Provokation mit der anonym publizierten Schrift An die gottlosen NichtsWütheriche. Fliegendes Blatt von einem Verschollenen. Dieser Schrift folgte ein

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Abb. 6: Karikatur zum »Ichel-Streit«, Wochen-Zeitung, Zürich, 27. Januar 1846; v. l. n. r. Arnold Ruge, August Adolf Ludwig Follen, Karl Heinzen, Wilhelm Schulz, Zentralbiliothek Zürich

verbal ausgetragener Schlagabtausch zwischen den Parteien, der bis in die Neue Zürcher Zeitung hinein reichte und in einer Karikatur der Zürcher Wochen-Zeitung vom 27. Januar 1846 dokumentiert ist (Abb. 6). Die Karikatur zeigt Follen und Ruge mit der Feder duellierend, im Hintergrund die Sekundanten Karl Heinzen (für Ruge) und Wilhelm Schulz (für Follen). Keller war Anhänger dieser zweiten Partei, er wohnte zeitweise bei Schulz, und Follen war sein großer Förderer. Im Sonett Auch an die »Ichel« verteidigte Keller seine Freunde und dichtete in einem eigens für Follen geschriebenen Lied pathetisch: Ruhm dir! der siegreich die Philister schlägt! Heil dir! der frei Gott und Unsterblichkeit Im ewig jugendlichen Herzen trägt!25

Knapp zwei Jahre später vollzieht Keller eine radikale Wende. Hatte er im Ichel-Streit den Atheismus zur »eingefleischte[n] Blasphemie«26 erklärt, so verkündete er im Januar 1849: »Ich werde tabula rasa machen […] mit allen meinen religiösen Vorstellungen.«27

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Wie lässt sich diese Wende erklären? 1848 hatte Keller ein Stipendium der Zürcher Regierung für Studien in Deutschland bekommen. Er ging damit nach Heidelberg und kam hier in Kontakt mit dem Religionsphilosophen Ludwig Feuerbach, den er in einer Rezension zu Ruges Werk noch kurz zuvor angegriffen hatte.28 Jetzt schämte er sich, wie er schreibt, als »einfältiger Lümmel«29 gehandelt zu haben. Mit Begeisterung ließ er sich auf Feuerbach ein, der Gott als eine Projektion des Menschen demontierte und mit der Absage an Gott zugleich die Idee der Unsterblichkeit verwarf.30 Der Tod wird in dieser Figuration nicht mehr als Schwellenfigur, nicht mehr als Übergang zum ewigen Leben verstanden, sondern als ein Ereignis begriffen, das der menschlichen Existenz definitiv ein Ende setzt. Gegenüber seinem Freund, dem Zürcher Musiker Wilhelm Baumgartner, kommentierte Keller im Januar 1849 seinen Wandel wie folgt: Wenigstens für mich waren es sehr feierliche und nachdenkliche Stunden, als ich anfing, mich an den Gedanken des wahrhaften Todes zu gewöhnen. Ich kann Dich versichern, daß man sich zusammennimmt und nicht eben ein schlechterer Mensch wird.31

Diese Umwertung des Todes gibt dem irdischen Leben einen ganz neuen Stellenwert. Wiederum an Baumgartner schrieb Keller im März 1851: Die Welt ist mir unendlich schöner und tiefer geworden, das Leben ist wertvoller und intensiver, der Tod ernster, bedenklicher und fordert mich nun erst mit aller Macht auf, meine Aufgabe zu erfüllen […], da ich keine Aussicht habe, das Versäumte in irgend einem Winkel der Welt nachzuholen.32

Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Feuerbach beginnt Keller das Leben neu in seiner Einmaligkeit zu begreifen, es gibt, so sein Fazit, kein Weiterleben nach dem Tod, keine Wiederholung, keine Belohnung und auch keine Korrektur im Jenseits. Allein von Bedeutung ist das Hier und Jetzt. Es ist genau dieser Umschlag, den die eingangs zitierte Szene aus dem Landvogt von Greifensee gestaltet, wenn Salomon Landolt das Tödlein der Großmutter nicht als Aufruf versteht, sich die Nichtigkeit des Irdischen vor Augen zu halten, sondern die Figur umgekehrt als Ermahnung begreift, sein einziges und wirkliches Leben auf der Erde nicht zu verpassen. Mit der Neubewertung des Todes im Zeichen des Atheismus, der Verabschiedung des Jenseits und der Aufwertung des Diesseits setzte sich Keller auch literarisch auseinander, so in den unmittelbar nach der Begegnung mit Feuerbach verfassten Gedichten, dem Grünen Heinrich oder den von Fontane hart kritisierten Sieben Legenden. Fontane distanzierte sich bezeichnenderweise von Kellers »frivole[m] Unglauben«33 und hielt dem Autor vor, seine Legenden seien stillos, sie würden gegen narrative

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Prinzipien des Genres verstoßen.34 In der Ablehnung erfasste Fontane die Legenden dabei durchaus richtig. Keller nämlich ging es nicht um die Wahrung der Tradition, sondern um eine Weiterschrift, mit der er das religiöse Denken buchstäblich auf den Kopf stellte. Seine Legenden, so der Verfasser, würden ihr »Antlitz nach einer anderen Himmelsgegend« wenden, »als nach welcher sie in der überkommenen Gestalt schauen«.35 Programmatisch ist hier der Blickwechsel vom Jenseits zum Diesseits angesprochen. Kellers Märtyrer und Heilige finden ihr Glück denn auch nicht im Himmel, sondern ganz profan auf der Erde, gleichsam in einem irdischen Paradies. Eine Ausnahme bildet die siebte Legende, das Tanzlegendchen. Sie zeichnet die Geschichte einer Enttäuschung nach. Erzählt wird von der Tänzerin Musa, die um die Verheißung eines himmlischen Lohnes willen dem irdischen Sinnengenuss entsagt und sich zuletzt um ihr Glück im Jenseits betrogen sieht. Musa steht so stellvertretend für alle, die sich im Glauben an das Jenseits um ihr eigentliches und einziges Leben auf der Erde bringen lassen. Die Absage an das Jenseits geht für Keller überdies mit einer Aufwertung der sinnlichen Wahrnehmung einher. Die in dieser Bewegung angelegte Hinwendung zur Wirklichkeit wird dabei nicht nur zum Thema seines literarischen Werks, sondern bestimmt fundamental auch sein Dichtungsverständnis. Basierend auf der Philosophie Feuerbachs entwickelt Keller im Berlin der fünfziger Jahre – zeitgleich wie Theodor Fontane – ein literaturkritisches Konzept, das in Grundzügen die Poetik des Realismus ausformuliert.36 Er verlangt eine am »Sinnliche[n], Sicht- und Greifbare[n]«37 orientierte, aufs Objektive zielende Literatur. Diese Literatur habe unter Verzicht auf eine in der göttlichen Transzendenz begründete Sinnstiftung das menschlich Wahre, das »was rein menschlich« und darin gültig ist, in der Alltagswelt aufzusuchen.38 Im Grünen Heinrich, den Keller in Berlin fertigstellt, wird das künstlerische Unvermögen Heinrichs in diesem Sinne als Folge seines verfehlten Spiritualismus dargestellt und als Verharren in selbstverschuldeter Unmündigkeit, ja als Faulheit gedeutet: Weil Heinrich auf eine unberechtigte und willkürliche Weise an Gott glaubte, so machte er unter anderem auch allegorische Landschaften und geistreiche, magere Bäume; denn wo der wunderthätige Spiritualismus im Blute steckt, da muß er trotz Aufklärung und Protestation irgendwo heraustreten. Der Spiritualismus ist diejenige Arbeitsscheu, welche aus Mangel an Einsicht und Gleichgewicht der Erfahrungen und Ueberzeugungen hervorgeht und den Fleiß des wirklichen Lebens durch Wundertätigkeit ersetzen, aus Steinen Brot backen will, anstatt zu ackern, zu säen, das Wachsthum der Aehren abzuwarten, zu schneiden, dreschen, mahlen und zu backen. Das Herausspinnen einer fingirten, künstlichen, allegorischen Welt aus der Erfindungskraft, mit Umgehung der guten Natur ist eben nichts anderes als jene Arbeitsscheu; und wenn Romantiker und Allego-

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risten aller Art den ganzen Tag schreiben, dichten, malen und operiren, so ist dies alles nur Trägheit gegenüber derjenigen Thätigkeit, welche nichts anderes ist, als das nothwendige und gesetzliche Wachsthum der Dinge.39

Die hier formulierte Kritik ist in doppelter Hinsicht bedeutsam. Denn indem Keller im Grünen Heinrich seine eigene missglückte Laufbahn als Maler reflektiert und im Schreiben darüber faktisch zum Schriftsteller wird, erscheint der Atheismus als eine Zäsur, die seiner Identität als Autor des poetischen Realismus gleich zweifach eingeschrieben ist. Biographisch ist die durch den Atheismus markierte Zäsur an einen Medienwechsel, an den Wechsel vom Malen zum Schreiben gebunden, epochengeschichtlich markiert sie den Übergang von der Romantik zum Realismus.

Heinrich Heines »Heimkehr zu Gott« und das Problem der Unsterblichkeit Wie vehement Keller sich mit seinem an Feuerbach geschulten Dichtungskonzept von einer Romantik abgrenzt, die er des Spiritualismus und der Willkür bezichtigt, belegt ein weiterer, heute kaum noch bekannter Text. Es handelt sich um die ebenfalls in den fünfziger Jahren entstandene Literatursatire mit dem Titel Der Apotheker von Chamouny oder Der kleine Romanzero. Anlass für diese Satire war das Erscheinen von Heinrich Heines Romanzero 1851. Heine sprach im Nachwort zu dieser Gedichtsammlung, die er in der »Matratzengruft zu Paris« buchstäblich selbst als ein lebendig Begrabener verfasst hatte, von seiner »Heimkehr zu Gott«.40 Heine sah sich daraufhin einer Reihe von Verspottungen ausgesetzt, in deren Umfeld auch Kellers Verssatire entstand.41 Diese besteht aus zwei Teilen und verbindet zwei nur lose miteinander verknüpfte Erzählstränge. Im ersten Teil persifliert Keller in Anspielung auf Heines letzten Gedichtband den Duktus der Romantik. Erzählt wird die Geschichte des Apothekers von Chamouny, der seine Geliebte Laura mit Klara betrügt. Als Klara stirbt, ihr Tod erscheint unmotiviert, was der persiflierenden, die Willkürlichkeit der Romantik betonenden Absicht des Textes entspricht, wird sie auf dem Friedhof von Chamouny begraben und anschließend in ein »Purgatorium«42 versetzt. Keller siedelt dieses nicht in der Hitze des Fegefeuers an, sondern verlegt es in die eisig kalte Welt des Montblanc. Eingeschlossen in einen Eiszacken, muss Klara hier die Strafe für ihr Vergehen absitzen. Im zweiten Teil, der zeitlich mit dem Erscheinen von Heines Romanzero – dem »großen Romanzero«43 – einsetzt,

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lässt Keller den verspotteten Dichter selbst agieren. Angesichts des Todes will Heine sich Klarheit über seine Zukunft verschaffen und begibt sich, gehüllt in ein weißes Leinentuch und mit dem Lorbeerkranz auf dem Kopf, als Dichterfürst auf den Weg zu Gott. In Kellers Verssatire liest sich das wie folgt: Heinrich Heine hat den Pips, Und der Tod ist ihm verschrieben; Ohne sich nun zu genieren, Wendet er sich gleich zu Gott, Seine Seele zu versichern; Denn er hat sich nie gezieret, In dergleichen zarten Sachen Nie ein Freund von Resignieren! Und er hebt sich mitternächtig Schwankend von dem Schmerzenslager, Hüllt sich in das weiße Laken, Zieht ein langes Lorbeerreis Aus dem Kissen seines Ruhmes, Schlingt es zierlich ineinander Um den schöngewölbten Scheitel; Auch das Büchlein Romanzero Fromm in schwarzen Samt gebunden Und mit feierlichem Goldschnitt, Nimmt er zwischen beide Hände: Und er macht sich auf zu Gott.44

Sein Weg führt ihn durch die »Dämmerhalle / Schweigender Unsterblichkeit«, wo, wie Keller spottet, »die dämlichsten Gedanken / Bleiben leider nun unsterblich«.45 Der Reihe nach trifft Heine auf alle bedeutenden Schriftsteller, darunter auch seine intimsten Feinde. Mit Börne verwickelt er sich in eine handgreifliche Auseinandersetzung und wird von Lessing dafür zur Strafe ins Tintenmeer geworfen. Heine erwacht, die »Höllenfahrt«46 entpuppt sich als Traum des todkranken Dichters. Nach einer kurzen Gnadenfrist jedoch geht es unwiderruflich ans Sterben. Keller lässt den toten Heine ins Pantheon überführen, wo er vom »Pariser Totenvolk«47 und den versammelten »Nationen«48 gerichtet wird. Verurteilt als Vaterlandsverräter, als »Heuchler« und »Herzverleugner«49 hat er seine Sünden in jener Eiszelle auf dem Montblanc zu büßen, die mit dem Ende von Klaras Purgatorium als »Strafzelle«50 wieder verfügbar ist. Auf dem Weg zu seinem Bußort gelangt der Verurteilte im Übrigen an der bereits für Karl Heinzen, Ruges Parteigänger im Zürcher IchelStreit, reservierten Zelle vorbei. Um die Pointe dieser Satire zu verstehen, muss man sich die im 19. Jahrhundert geführten Debatten über Tod und Unsterblichkeit vor

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Augen halten. Keller benutzt Heine zur Denunziation eines Charakters, der die im Atheismus liegende Konsequenz der menschlichen Endlichkeit nicht zu akzeptieren vermag. Ein halbes Jahrhundert später wird Sigmund Freud die Sterblichkeit als fundamentale narzisstische Kränkung beschreiben und die Unsterblichkeit als Strategie zur Bewältigung eben dieser Kränkung deuten. Freud erklärt die unsterbliche Seele in diesem Sinne zum ersten »Doppelgänger des Leibes«,51 zu einem Konstrukt, mit Hilfe dessen der sterbliche Leib seine Vergänglichkeit kompensiert. Die Säkularisierung macht diese Strategie zunichte. Bedeutsam werden in diesem Kontext andere Formen, die auf die Überwindung und Überschreitung der mit dem Tod gesetzten Grenzen zielen. Es sind dies die Zeugung leiblicher Nachkommen sowie die Schaffung eines Kunstwerks, insofern mit diesem Schöpfungsakt die Vorstellung verbunden ist, dass der Künstler selbst in seinem die Zeiten überdauernden Werk überlebt und in dieser Weise Unsterblichkeit erlangt. Kellers Satire nun problematisiert genau diesen Punkt. Heine, der mit seinem Buch der Lieder (1827) neben Uhland zu den vom jungen Keller am meisten geschätzten Autoren gehörte, erscheint in der genannten Satire als frivole und eitle Figur, einzig bedacht auf ihr Renommee und den Unsterblichkeit verheißenden Dichterruhm. In der als Traum präsentierten Passage des Apothekers von Chamouny inszeniert Keller dabei nicht nur das Streben des Dichters nach Unsterblichkeit, sondern legt auch die Kehrseite dieses Wunschbildes frei. Er präsentiert das Geschehen in der »Dämmerhalle [der] Unsterblichkeit«52 als die Wiederholung des Immergleichen. Gegenüber der Endlichkeit lässt die Ewigkeit keine Veränderung zu, sondern fixiert das mit dem Tod Erreichte in einem unverrückbaren Zustand. Max Frisch wird diese Situation später in seinem Theaterstück Triptychon (1978) konsequent ausgestalten.

Der Dichter, die tote Geliebte und das unsterbliche Werk Nach Heines Tod 1856 verzichtete Keller aus Gründen der Pietät vorerst auf die Veröffentlichung seiner Satire, erst 1883 erschien diese in einer stark überarbeiteten Fassung in den Gesammelten Gedichten.53 Auch wenn der Apotheker von Chamouny nicht zu Kellers großen Dichtungen gehört, so ist der Text doch in der Hinsicht bemerkenswert, dass er die in der Absage an Gott begründete Preisgabe der Unsterblichkeit als eine zu kompensierende Verlusterfahrung reflektiert. Im Spott auf Heine demontiert Keller das Streben des Dichters nach überzeitlichem Ruhm als Strategie, die eigene Endlichkeit und damit die durch den Tod gesetzte Begrenzung zu überwinden. Dichtung und Tod sind in dieser Weise

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unmittelbar aufeinander bezogen. In der Dichtung, in seinem Werk, überlebt der Dichter und erlangt so Unsterblichkeit. Dass die Dichtung dabei nicht nur den Tod überwinden soll, sondern der Tod umgekehrt auch als Voraussetzung für den künstlerischen Schöpfungsakt begriffen wird, stellt in der abendländischen Kulturgeschichte eine zentrale Denkfigur dar. Keller hat sich mit den Implikationen und Konsequenzen dieser Denkfigur immer wieder auseinandergesetzt. Am Beispiel einer Konfiguration, die durch den Dichter und seine tote Geliebte definiert ist, lässt sich dies im Einzelnen nachweisen. Auszugehen ist vom 1845 entstandenen Gedichtzyklus Siebenundzwanzig Liebeslieder.54 Keller versammelt hier Gedichte, die er nach dem Muster einer Liebesgeschichte arrangiert. Organisiert aus der Perspektive eines Sängers, der das erste Gedicht programmatisch An meine Dame adressiert, erzählen die Liebeslieder vom vergeblichen Werben des Sängers um eine Geliebte, die ihn zurückweist und sich ihm im Tod unwiderruflich entzieht. Mit dem Verlust der Geliebten sieht der Sänger sich dazu verurteilt, zu »reimen früh und spat«.55 Er trauert um die Geliebte, beklagt ihren Tod und wird darüber zum Dichter, dessen Werk sich genau dem Verlust verdankt, den es beklagt. Gleichsam als Kommentar zu dieser Konstellation figuriert in der Handschrift zum Zyklus ein Selbstporträt des Autors, der sich als einsam durch die Welt ziehenden Sänger inszeniert. Indem Keller dieses Porträt in einen Totenkopf auslaufen lässt, verweist er unmittelbar auf die verborgene Präsenz des Todes im Tun des Dichters (Abb. 7). Da Keller selbst mehrfach um Frauen warb, die für ihn unerreichbar waren, hat sich im Umgang mit seiner Liebeslyrik eine sentimentalisierende, hauptsächlich an der Biographie des ehelos gebliebenen Autors interessierte Lektüre etabliert. Diese Lektüre indes übergeht, dass Keller in den Siebenundzwanzig Liebesliedern eine genuin poetologische Szene gestaltet. Der Text nämlich führt vor, wie der Dichter seine Dichtkunst einer toten Geliebten verdankt. Er greift darin auf eine kulturgeschichtlich bedeutsame Tradition zurück, die die Entstehung des Kunstwerks an die abwesende Geliebte bindet. Mit den Liebesliedern nun macht Keller diesen Topos zum Thema seiner Dichtung, stilisiert die eigene Biographie ganz nach dem kulturell vorgeprägten Muster und erklärt in Briefen nachträglich die bereits seit sechs Jahren tote Henriette Keller zu seiner Jugendliebe und deren Tod zum Ursprung seines Gedichtzyklus.56 Nicht die tote Jugendliebe indes steht am Beginn seiner Autorschaft, es braucht diese vielmehr zur Beglaubigung der eigenen Dichterexistenz. Indem die tote Geliebte eine zentrale rhetorische Figur im Gründungsmythos der Autorschaft darstellt, ist die Imagination des künstlerischen Prozesses immer auch von Tötungsphantasien begleitet, die auf

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Abb. 7: Handschrift Siebenundzwanzig Liebeslieder, 1845, Zentralbibliothek Zürich

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eine männliche Vervollkommnung hin angelegt sind. Keller gestaltet diese Konstellation in einer an Prägnanz kaum zu überbietenden Passage des Grünen Heinrich, wenn er Heinrichs letzten Blick auf die im Sarg liegende tote Anna beschreibt: Der letzte Sonnenstrahl leuchtete nun durch die Glasscheibe in das bleiche Gesicht, das darunter lag; das Gefühl, das ich jetzt empfand, war so seltsam, daß ich es nicht anders, als mit dem fremden und kalten Worte »objectiv« benennen kann, welches die Philosophie erfunden hat. Ich glaube, die Glasscheibe that es mir an, daß ich das Gut, was sie verschloß, gleich einem hinter Glas und Rahmen gebrachten Theil meiner Erfahrung, meines Lebens, in gehobener und feierlicher Stimmung, aber in vollkommener Ruhe begraben sah; noch heute weiß ich nicht, war es Stärke oder Schwäche, daß ich dies tragische und feierliche Ereigniß viel eher genoß, als erduldete und mich beinahe des nun ernst werdenden Wechsels des Lebens freute.57

»Hinter Glas und Rahmen gebracht«, rückt die Leiche von Heinrich weg und verwandelt sich unter seinem Blick zu einem Bild, über das er allein verfügt und mit dessen Vollendung er zugleich eine wichtige Phase seines Lebens überwunden und abgeschlossen hat. Heinrich zeigt sich denn auch weniger von Schmerz als vielmehr von einer »Art glücklichen Stolzes« über die »so poetisch schöne todte Jugendgeliebte«58 erfüllt, sie verleiht seinem Leben eine besondere Aura und hebt ihn aus der Gewöhnlichkeit seiner Umgebung heraus. Die unverhüllte Inszenierung männlicher Überlegenheits- und Machtphantasien, verbunden mit der Überwindung und Tötung weiblicher Figuren, provoziert. Eine Interpretation indes, die dem Autor vorhält, als Vollstrecker des Patriarchats zu agieren, greift zu kurz. Kellers Inszenierungen verweigern sich einer solchen Vereindeutigung. Das hat mit dem hohen Reflexionspotential seiner Texte zu tun, die kulturelle Deutungsmuster ausstellen, diese in ihren auch tabuisierten Facetten ausleuchten und sie so einer Analyse überhaupt erst zugänglich machen. Das 1879 erstmals veröffentlichte Gedicht Tod und Dichter kann diesen Vorgang der Inszenierung und Kommentierung kultureller Deutungsmuster beispielhaft verdeutlichen. Theodor Storm verurteilte dieses Gedicht als einen zu weit führenden Spaß, Keller dagegen verteidigte sein »Machwerklein mit dem Tod« als »eine harmlose Neckerei gegen das schöne Geschlecht, ein kleines Vexierzeug«, gestand aber zu: »Wollen wir solche Scherze zergliedern, so hört der Spaß natürlich auf.«59 Das Gedicht konfrontiert einen Dichter mit dem Tod in der Gestalt des Sensenmanns aus den mittelalterlichen Totentanzdarstellungen. »Aus ist der Traum«, sagt der Tod zum Dichter, der seinen Widersacher indes auszutricksen weiß mit der Bitte:

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Doch die lieblichste der Dichtersünden Laßt nicht büßen mich, der sie gepflegt: Süße Frauenbilder zu erfinden, Wie die bittre Erde sie nicht hegt!60

Diese Stelle gehört zu den meistzitierten aus Kellers Werk überhaupt und wird immer wieder als Kommentar des Autors zu seiner Biographie als Junggeselle gelesen. Die poetologische Pointe dieser Antwort geht dabei verloren. Der fiktive Dichter in Tod und Dichter nämlich erklärt die literarischen Frauenbilder zu seinen Geschöpfen, setzt sie dadurch an die Stelle seiner leiblichen Nachkommen und hält dem Tod vor: »zu verderben bin ich nicht, eh jene sterben«.61 Der Tod macht sich auf, die Frauen »wegzumähen«,62 wird vom Dichter aber, wie Keller an Storm schreibt, ganz einfach in die »Erdebeeren« geschickt, nämlich dahin, »wo man weiß, daß das Gesuchte nicht zu finden ist«.63 Im Effekt bedeutet dies: Mit den erfundenen Frauenfiguren überlebt der Dichter in einem Werk, das seinerseits die Abwesenheit einer realen Geliebten zur Voraussetzung hat.64 Das Begehren des Dichters nach Unsterblichkeit wird in dieser Weise inszeniert und zugleich hintergründig kommentiert. Figuren des Todes, so ist abschließend festzuhalten, stehen im Zentrum von Kellers literarischem Schaffen und seiner Poetik. Ihre spezifische Bedeutung gewinnen diese Figuren vor dem Hintergrund einer epochalen Umbruchsituation, die im Begriff der »Säkularisierung« zu fassen ist. Keller reflektiert und radikalisiert die in der Absage an Gott und die Unsterblichkeit begründete Hinwendung zum Diesseits und macht den Atheismus zum Fundament einer Dichtungskonzeption, die entscheidend zur Herausbildung des poetischen Realismus beiträgt. Kellers der ›Wirklichkeit‹ verpflichtete Ästhetik definiert sich dabei nicht nur über die Abgrenzung von der Romantik, sondern markiert auch eine wichtige Etappe auf dem Weg zur säkularen Moderne.

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Anmerkungen 1

HKKA 6, S. 143.

2

Als Quelle diente Keller die 1820 von David Heß in Zürich veröffentlichte Biographie Salomon Landolt. Ein Charakterbild nach dem Leben ausgemalt von David Heß.

3

HKKA 6, S. 195.

4

Ebd., S. 196.

5

Das Objekt befand sich ursprünglich im Besitz der Familie Landolt selbst und ging später an die Familie von Meiss über, aus der Gottfried Kellers Pate stammte.

6

Walter Benjamin: Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke [1927]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2/1. Frankfurt am Main 1991, S. 283–295, hier S. 290.

7

Figuren des Grotesken finden sich sowohl in Kellers zeichnerischem als auch literarischem Werk; zur narrativen Ausgestaltung der Groteske vgl. insbesondere Wolfgang Preisendanz: Poetischer Realismus als Spielraum des Grotesken in Gottfried Kellers »Der Schmied seines Glückes«. Konstanz 1989 (Konstanzer Universitätsreden 170).

8

Gottfried Keller: Meine Launen [1833], HKKA 16.2, S. 9–18, hier S. 14.

9

HKKA 16.2, S. 14.

10

Gottfried Keller: [Studienbuch], HKKA 16.1, S. 9–316, hier S. 299. – Das Studienbuch enthält literarische Entwürfe, Zeichnungen und Gedichtabschriften aus der Zeit Mitte der dreißiger Jahre bis zur Reise nach München 1840. Zu Gottfried Kellers malerischem und zeichnerischem Werk vgl. Paul Schaffner: Gottfried Keller als Maler. Zürich 1942.

11

Marie Bluntschli: Erinnerungen an Gottfried Keller [1940], HKKA 29, S. 192.

12

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich [Erste Fassung], HKKA 11 und 12, hier Bd. 11, S. 25.

13

HKKA 2, S. 124.

14

Jakob Baechtold: Gottfried Kellers Leben. Kleine Ausgabe. Dritte Auflage. Stuttgart/Berlin 1913, S. 14f.

15

HKKA 11, S. 97.

16

Peter Villwock: Betty und Gottfried, eine Geschichte in Bildern. In: Der Rabe (2000), S. 150– 162.

17

Vgl. HKKA 21, S. 36–39.

18

Vgl. die Erstfassung des Grünen Heinrich, HKKA 11, S. 40.

19

Zur Geschichte und politischen Bedeutung dieses Verlags vgl. Ursula Amrein und Madeleine Herzog: »Ich glaube, ich träumte von der Winterthurerin«. Gottfried Keller und Winterthur. In: Winterthurer Jahrbuch 1992, S. 109–139.

20

Vgl. Emil Ermatinger: Gottfried Keller. Eine Biographie [1949], Zürich 1990, S. 135–138; SW 14, S. 378.

21

Gottfried Keller: Gedanken eines Lebendig-Begrabenen, DKV 1, S. 100–115, hier S. 115.

22

Arnold Ruges Kritik erschien 1846 in der Leipziger Zeitschrift Wöchentlicher Literaturund Kunstbericht, DKV 1, S. 871; vgl. auch SW 14, S. 374f.

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23

Zu diesem Streit vgl. Ermatinger (wie Anm. 20), S. 148–151; SW 13, S. 419f.; SW 14, S. 341–343; DKV 1, S. 915–918.

24

SW 14, S. 343.

25

SW 13, S. 148.

26

So Kellers Formulierung im vierten Sonett aus dem Zyklus Auch an die »Ichel«, DKV 1, S. 62.

27

Gottfried Keller an Wilhelm Baumgartner, 28. Januar 1849, GB 1, S. 274.

28

Gottfried Keller: Arnold Ruge. In: Blätter für literarische Unterhaltung, 30. und 31. Oktober 1848, DKV 7, S. 47–57. – Ruge sei, so Keller, in Bezug auf den Atheismus »kraß und trivial, wie sein Freund Feuerbach« (DKV 7, S. 48).

29

Gottfried Keller an Wilhelm Baumgartner, 28. Januar 1849, GB 1, S. 273.

30

So in der 1830 anonym erschienenen Schrift Gedanken über Tod und Unsterblichkeit sowie im 1841 veröffentlichten Buch Wesen des Christentums. – Feuerbach war im Wintersemester 1848/49 auf Einladung der Studenten nach Heidelberg gekommen, durfte, da er mit der Negation Gottes folgerichtig auch dem Feudalsystem seine Rechtfertigung entzog, im Jahr der Badischen Revolution indes nicht an der Universität lesen, sondern musste seine Veranstaltungen im Rathaus abhalten. Hier dozierte er vor rund hundert Zuhörern, zu denen auch Gottfried Keller gehörte. Vgl. Erich Thies:

Ludwig Feuerbach zwischen Universität und Rathaus oder die Heidelberger Philosophen und die 48er Revolution. Heidelberg 1990 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Heidelberg, Heft 2).

31

Gottfried Keller an Wilhelm Baumgartner, 28. Januar 1849, GB 1, S. 274.

32

Gottfried Keller an Wilhelm Baumgartner, 27. März 1851, GB 1, S. 290.

33

Theodor Fontane: [Sieben Legenden], HFA III/1, S. 497f., hier S. 497.

34

Theodor Fontane: Otto Brahm: Gottfried Keller, HFA III/1, S. 499–508, hier S. 501f. – Vgl. auch die Beiträge von Peter von Matt und Regina Dieterle in diesem Band sowie Ursula Amrein: »Als ich Gott und Unsterblichkeit entsagte«. Zur Dialektik von Säkularisie-

rung und Sakralisierung in Gottfried Kellers literarischen Projekten aus der Berliner Zeit (1850– 1855). In: Religion als Relikt? Christliche Traditionen im Werk Fontanes. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen und Hubertus Fischer. Würzburg 2006, S. 219–235, hier S. 224– 232. 35

HKKA 7, S. 333.

36

Im Einzelnen dazu Ursula Amrein: Verschriftete Bilder. Gottfried Kellers Bildpoetik im Prozess der Säkularisierung. In: Schreibprozesse. Hg. von Peter Hughes et al., Tübingen 2008, S. 51–76, hier S. 68f.

37

Gottfried Keller: Jeremias Gotthelf. In: Blätter für literarische Unterhaltung, 18.–21. Dezember 1849, 29. und 31. März 1851, 20. November 1852, 4. Mai 1854 und 1. März 1855, DKV 7, S. 58–124, hier S. 120.

38

DKV 7, S. 60.

39

HKKA 12, S. 119f. – Die Zweitfassung formuliert diese Kritik nicht mehr aus der Sicht des Erzählers, sondern vermittelt sie perspektiviert und damit relativiert über die Figur des Ferdinand Lys; vgl. HKKA 2, S. 159.

40

Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Werke. Bd. 3/1. Hg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1992, S. 177.

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41

Zu Heines Auseinandersetzung mit dem Christentum sowie zur judenfeindlich geprägten Diskussion über den Dichter vgl. Wilhelm Gössmann: Die Rückkehr zu einem persönlichen Gott. Der späte Heine. In: Heinrich Heine und die Religion. Ein kritischer Rückblick. Hg. von Ferdinand Schlingensiepen und Manfred Windfuhr. Düsseldorf 1998, S. 205–224; Christoph Bartscherer: »Dem Gott meiner Wahl«. Heine und das Christentum. In: Heinrich Heine. Neue Wege der Forschung. Hg. von Christian Liedtke. Darmstadt 2000, S. 81–93.

42

Gottfried Keller: Der Apotheker von Chamouny oder Der kleine Romanzero [1860], DKV 1, S. 299–379, hier S. 312.

43

Ebd., S. 313.

44

Ebd., S. 319f.

45

Ebd., S. 322f.

46

Ebd., S. 341.

47

Ebd., S. 348.

48

Ebd., S. 353.

49

Ebd., S. 354.

50

Ebd., S. 361.

51

Sigmund Freud: Das Unheimliche [1919]. In: Ders.: Studienausgabe. Bd. 4: Psychologische Schriften. Frankfurt am Main 1970, S. 241–274, hier S. 259.

52

DKV 1, S. 322.

53

Ebd., S. 735–806.

54

SW 14, S. 93–153.

55

Ebd., S. 149.

56

Einzig Jonas Fränkel verweist darauf, dass die genannten Gedichte einem »Phantasieerlebnis« entspringen und insofern nicht biographische Realität, sondern eine literarische Tradition abbilden (SW 14, S. 346–377, hier S. 349). – Keller hatte gegenüber Salomon Hegi in diesem Sinne selbst festgehalten: »Daß meine Liebeslieder Dir gefallen, freut mich sehr; sie haben auch anderwärts so ziemlich gefallen, und das beweist mir, daß ich eine gute Phantasie habe, denn es ist das meiste erdichtet, also wenig Wahres dran. Zwar als ich sie machte, glaubte ich selbst, sie wären so ziemlich erlebt; denn diese Jugendliebe oder erste Liebe etc. war allerdings vorhanden; es ist aber eine ferne, unbestimmte und verblaßte Geschichte, ein verblichenes Bild, dessen Farblosigkeit ich erst bemerkte, als ich mich, nicht lange nach Beendigung der Lieder, wirklich mit aller Macht verliebte und einsah, daß ich eine Menge Gefühle vorher nie gekannt habe.« (Gottfried Keller an Salomon Hegi, 10. Mai 1846, GB 1, S. 210).

57

HKKA 2, S. 83

58

Ebd., S. 76.

59

Gottfried Keller an Theodor Storm, 20. Dezember 1879, GB 3.1, S. 445. – Anlass für Kellers Kommentar ist der Einwand Storms: »Wie kommt der Dichter dazu, den Tod zu bitten, ihn seine Dichtersünden nicht büßen zu lassen? Der ist ja doch nicht der Exekutor. Und wie kann der Dichter sich darüber freuen, wenn der Tod dahin fährt, um seine schönsten Gebilde zu vernichten? Ist die so erkaufte Spanne Leben nicht zu teuer? Oder will der Dichter ihn nur narren, und glaubt er selber nicht an das Leben

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Ursula Amrein seiner Gebilde auf einem andern Sterne? – Es scheint mir das nicht recht herauszukommen.« (Theodor Storm an Gottfried Keller, 20. September 1879, GB 3.1, S. 441).

60

DKV 1, S. 694–696, hier S. 695.

61

Ebd., S. 695.

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Ebd., S. 695.

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Gottfried Keller an Theodor Storm, 20. Dezember 1879, GB 3.1, S. 445.

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Inwiefern der Bilderreichtum literarisch imaginierter Weiblichkeit die Schattenexistenz realer Frauen zur Voraussetzung hat, analysiert Silvia Bovenschen: Die imaginierte

Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt am Main 1979.

»Excelsior!« Idealismus und Materialismus in Kellers und Fontanes politischen Altersromanen »Martin Salander« und »Der Stechlin« Rolf Zuberbühler Excelsior sollte Gottfried Kellers letzter Roman ursprünglich heißen.1 Paul Heyse redete ihm diesen Titel aus, weil er zu prätentiös, zu plagiatorisch, zu wenig »Gottfried Kellerisch« sei.2 Denn der in Aussicht genommene Titel Excelsior – also »aufwärts, empor, immer höher hinauf« – war ein Zitat. Er ging zurück auf ein damals allbekanntes Gedicht des amerikanischen Dichters Longfellow, welches das unbeirrbare idealistische Höherstreben verherrlichte. Der Schiller’sche Einfluss ist unverkennbar.3 Auslöser für Longfellows Gedicht aber war das Siegel des Staates New York mit Staatswappen und Staatsmotto (Abb. 1).4 Der lateinische Komparativ »Excelsior« ist in Longfellows Ideenballade sowohl Titel als auch Refrain; jede der neun Strophen vollzieht, Stufe um Stufe, eine Aufwärtsbewegung, jede mündet am Schluss – immer mit Ausrufezeichen, immer als kategorischer Imperativ formuliert, immer eine ganze Verszeile füllend – in das magische Wort »Excelsior!«.5 Auch in Fontanes Werk hinterlässt dieses Gedicht mit dem idealistischen Imperativ bis hin zum Stechlin unübersehbare Spuren. Im Appell »Excelsior!« kulminiert beispielsweise Fontanes in Versform gehaltene Ansprache beim Taufmahl eines Patenkindes; der Dichter gibt dem Täufling die Devise als Leitspruch auf den Lebensweg mit: Nicht unten liegt der höchste Preis, Nach oben muß es treiben. Verloren, wer in des Lebens Drang Am Boden sich zerraufte, Excelsior gehe deinen Gang, Johannes der Jüngstgetaufte!6

Longfellows Gedicht mit dem befeuernden Imperativ ist zur Losung idealistischen Strebens im 19. Jahrhundert geworden. Auch Nietzsche macht sie sich zu eigen;7 »Excelsior!« ist auch der »Wahlspruch« der Heldin in einem Roman Friedrich Spielhagens, die in ihrem Idealismus

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Rolf Zuberbühler

Abb. 1: Siegel des Staates New York mit dem Motto »Excelsior«, 1778

scheitert, und das Longfellowsche Gedicht bestimmt darin, in Spielhagenscher Adaptation, den Romanausgang.8 Die einstige Popularität des suggestiven Leitworts »Excelsior« bezeugen noch heute zahllose Erstklasshotels dieses Namens; auch in Zürich existierte, wenn auch nur vorübergehend, ein City-Excelsior-Hotel.9 »Excelsior« als Name für ein Luxushotel dokumentiert aber bereits den Paradigmenwechsel, der sich im 19. Jahrhundert vollzog, und damit die Zweideutigkeit des Worts. In der Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs wird die Devise »Excelsior« nämlich zum Kennwort für gesellschaftlichen Aufstieg, für Karriere, Erfolg und Reichtum, zum Markenzeichen auch für höheren Lebensstandard und technischen Fortschritt. »Tragt Excelsior-Unterkleider aus Wagner’s echtem Merino«, lesen wir

»Excelsior!« Excelsior.

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Excelsior.

by Henry Wadsworth Longfellow (1841)

Übersetzung von Ferdinand Freiligrath (1846)

The shades of night were falling fast, As through an Alpine village passed A youth, who bore, ’mid snow and ice, A banner with the strange device Excelsior!

Die Nacht sank auf der Alpen Joch, Da zog durch’s Dorf ein Jüngling noch; Der trug ein Banner in der Hand, Auf dem der fremde Wahlspruch stand:

His brow was sad; his eye beneath, Flashed like a faulchion from its sheath, And like a silver clarion rung The accents of that unknown tongue, Excelsior!

Trüb seine Stirn; sein Aug’ ein Schwert, Das blitzend aus der Scheide fährt; Wie klingend Erz melodisch tief Der Stimme Ton, mit der er rief:

In happy homes he saw the light Of household fires gleam warm and bright; Above, the spectral glaciers shone, And from his lips escaped a groan, Excelsior!

Rings in den stillen Hütten glomm Der Schein des Herdes, traut und fromm; Gespenstisch reckten sich im Kreis Die Gletscher - doch er seufzte leis:

»Try not the Pass!« the old man said; »Dark lowers the tempest overhead, The roaring torrent is deep and wide!« And loud that clarion voice replied Excelsior!

Der alte Dörfner sprach: »O laß! Eng und gefährlich ist der Paß! Schwarz droht der Sturm, der Gießbach schwoll Als Antwort klang es, tief und voll:

»Oh stay« the maiden said, »and rest Thy weary head upon this breast!« A tear stood in his bright blue eye, But still he answered, with a sigh, Excelsior!

Das Mädchen sprach: »Bleib’, müder Gast! In meinen Armen halte Rast!« Sein blaues Auge strahlte feucht; Doch wieder sang er, ungebeugt:

»Beware the pine-tree’s withered branch! Beware the awful avalanche!« This was the peasant’s last Good-night, A voice replied, far up the height, Excelsior!

»Weich’ aus der dürren Kiefer Fall! Flieh’ der Lawine zorn’gen Ball!« Dieß war des Landmanns letztes Wort; Hoch in den Bergen klang es fort:

At break of day, when heavenward The pious monks of Saint Bernard Uttered the oft-repeated prayer, A voice cried through the startled air Excelsior!

Frühmorgens, als zum Herrn um Kraft Flehte Sanct Bernhard’s Brüderschaft, Da tönte, wie aus tiefer Gruft, Ein Rufen durch die bange Luft:

A traveller, by the faithful hound, Half-buried in the snow was found, Still grasping in his hand of ice That banner with the strange device Excelsior!

Und, spürend, unter’m Schnee zur Stund’ Fand einen Wandersmann der Hund; Noch hielt er in der eis’gen Hand Das Banner, drauf der Wahlspruch stand:

There in the twilight cold and gray, Lifeless, but beautiful, he lay, And from the sky, serene and far, A voice fell, like a falling star, Excelsior!10

Dort, in des Zwielichts kaltem Wehn, Dort lag er, leblos, aber schön; Herab vom Himmel, klar und fern, Fiel eine Stimme, wie ein Stern:

Excelsior!

Excelsior!

Excelsior!

Excelsior!

Excelsior!

Excelsior!

Excelsior!

Excelsior!

Excelsior! 11

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in einem Inserat aus den neunziger Jahren;12 »Zeiss’ Copirmaschine ›Excelsior‹ ersetzt die seitherige veraltete Copirpresse« in einem andern;13 mit der Marke »Excelsior« wirbt später auch eine Schuhfabrik für bequemere Absätze aus Gummi.14 »Aber jeder will heutzutage hoch ’raus. Das is, was sie jetzt die ›Signatur der Zeit‹ nennen«, so kommentiert Dubslav von Stechlin den herrschenden Zeitgeist (432). Man hat das damals Materialismus genannt, praktischen Materialismus – Materialismus, weil keine Idee und kein Ideal das Leben mehr leitete, praktischen Materialismus, weil keine philosophische Theorie hinter dieser Lebenshaltung stand. Die allbeherrschende soziale Aufsteigermentalität – meist unter der verlogenen Maske des »Idealen« – wird in Kellers und Fontanes Altersromanen thematisiert und demaskiert und mit dem wahrhaft Idealen konfrontiert; Fontanes Kommerzienrätin Frau Jenny Treibel, die dauernd vom »Höheren« und vom »Idealen« schwärmt, aber im Ernstfall nur die Realitäten, das heißt die Finanzkraft, gelten lässt, ist das exemplarische Beispiel für diese Zeitkritik.15

I An das allgemeine Höher-hinauf-Wollen, so oder so, knüpft Kellers ursprüngliche Romankonzeption an.16 Nur zwei Wochen nach dem Staatsbegräbnis für Alfred Escher, den großen Repräsentanten der schweizerischen Gründerzeit (9. Dezember 1882)17 – es ist auch das Todesjahr Longfellows –, berichtet er Heyse von seinem neuen Projekt, einem »Romänchen, worin Alles im guten und schlimmen Sinne aufwärts strebt und das mit einer wirklichen Bergfahrt vieler Menschen kataströphlich abschließen soll«.18 Anfang und Schluss stehen ihm bereits fest. Es handle sich, »wie bei Longfellow, um ein allgemeines Klettern und Klimmen an sich, wobei wenigstens Einer mit den Seinen in die reinere Luft kommt«19 – gemeint ist der von der Mutter erzogene Salander-Sohn Arnold mit seiner Familie. »Die Mitte des Romans sei noch unbestimmt, dagegen stehe der Schluß fest: alle Personen, Gute und Böse, Pietisten und Anarchisten finden sich schließlich auf einem Berge zusammen. [...] Jetzt müsse eine große elementare Katastrophe eintreten: ein Waldbrand [...] oder eine Wassersnot, durch ein plötzliches Gewitter veranlaßt. Schließlich triumphiere das Kind der ›Mutter‹. Dem falschen Optimismus gehe es schlecht.«20 Dieses Katastrophenszenario sollte, und zwar an Pfingsten21 oder am »Himmelfahrtstag«,22 den »Culminationspunkt«,23 das apokalyptische Finale des geplanten Romans bilden. Die Naturkatastrophe sollte aber

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auch eine »reinigende Wendung«24 bewirken und damit »versöhnliche Perspektiven«25 eröffnen. Die elementare Bedrohung würde tatkräftigen Gemeingeist hervorrufen anstelle des haltlosen Egoismus der Interessengruppen, und dem jungen Arnold Salander war die Demonstration beispielhafter Bewährung zugedacht. Eine großartige Schlussvision – Jüngstes Gericht und Katharsis zugleich. Aber die Ausführung dieses visionären Kernstücks der Keller’schen Konzeption unterblieb – teils als Folge des Zeitdrucks, unter dem der ganze Martin Salander zustande kommen musste, teils auch aus inneren Gründen, infolge der immensen inhaltlichen und erzähltechnischen Schwierigkeiten, die sich hier stellten.26 Das Generalthema indessen – »aufwärts, empor, immer höher hinauf«, und zwar »im guten und schlimmen Sinne« – blieb dasselbe. »Im guten Sinne« zunächst lässt sich in Martin Salanders Biographie der emanzipatorische Zug der Zeit erkennen: Aus bäuerlichen Verhältnissen stammend, wird er Lehrer, erst Primarlehrer, dann Sekundarlehrer, und schließlich steigt er, weil er – seiner innersten Natur gemäß der »Freiheit« und dem »Fortschritt« verpflichtet – auf der Höhe der Zeit stehen will, als freier Unternehmer in den Handel ein und gründet ein eigenes Handelsgeschäft. Zweimal verliert er sein Vermögen, zweimal bringt er sich durch Auslandsgeschäfte in Südamerika wieder in die Höhe. Nach zehnjähriger Landesabwesenheit endlich kehrt er zurück, begeistert vom politischen Umschwung im eidgenössischen Bundesstaat, dessen »Republiken« sich eine »neue Verfassung« gegeben haben (74).27 Im selben historischen »Augenblick«, da sich die deutschen Staaten zum Deutschen Reich zusammenschließen und sich auch im Süden die Einigung der italienischen Klein- und Mittelstaaten zum Königreich Italien vollzieht, die Schweiz sich infolgedessen, zu einem kleinstaatlichen Relikt geworden, plötzlich von vier Großmächten umschlossen sieht, tun die schweizerischen Kantone mit dem Übergang zur direkten Demokratie – wie Salander in seinem politischen Bekenntnisbrief aus Brasilien enthusiastisch formuliert – einen entscheidenden »moralischen Schritt« (74). Aufrichtiger Patriot, der er ist, ist es sein höchstes Ziel, an der politischen Ausgestaltung seiner Heimatrepublik teilzunehmen.28 Aber der an Volk und Fortschritt glaubende radikale Demokrat wird nun dauernd von der real existierenden Schweiz eingeholt und erhält einen Dämpfer nach dem andern. Schon in der Eröffnungsszene des Romans wird denn auch unmissverständlich das pervertierte »Excelsior«-Motiv angeschlagen. »Wir sind hier nicht Volk«, heißt es da aggressiv, »wir sind Leute, die alle das gleiche Recht haben, empor zu kommen! Und alle sind gleich vornehm!« (9). So äußert sich eine Vertreterin des Kleinbürgertums, Frau Amalie

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Weidelich. Und ihr Mann sekundiert, wenn auch zurückhaltender: »Die Gleichheit ist allerdings vorhanden und alle streben wir aufwärts« (11). Die bösartigste Verkehrung des Excelsior-Motivs aber zeigt sich, bereits im zweiten Kapitel, in der Figur des Louis Wohlwend, der, als Bankier in den Sog des modernen kapitalistischen Wirtschaftens geraten, sich dem hemmungslosen Konkurrenzkampf und Gewinnstreben verschrieben hat. Die Lebens- und Familiengeschichten der Salanders, der Weidelichs und des Louis Wohlwend sind es, die in Kellers Roman im Zopfmuster miteinander verflochten werden. Das Rückgrat der Romanhandlung bildet die Familiengeschichte der Salanders: Martin Salanders und seiner Frau Marie mit ihren beiden Töchtern Setti und Netti und ihrem Jüngsten, Arnold – eine Familie, die sich als Urzelle des republikanischen Lebens versteht. Um es vorwegzunehmen: Der ›Held‹ des Romans, Martin Salander, ist ein Idealist, der aber mit seinem Idealismus die schweizerische Realität vom Ende des 19. Jahrhunderts dauernd verfehlt und so zum blinden Toren wird – und doch mit seinem unbeirrbaren Streben wieder ein verpflichtendes Maß abgibt; die ambitiöse Frau Weidelich dagegen wie das Weidelich’sche Sohnespaar, die Zwillinge Isidor und Julian, sind in einem egoistisch-materialistischen Weltbild befangen; Louis Wohlwend schließlich, der Vertreter des modernen Finanzkapitalismus, ist jemand, der sich nach außen heuchlerisch als Idealist gibt, dem es aber in dem, was er tut, rücksichtslos und gewissenlos nur um eines geht: Vorteil und Gewinn. In der Familiengeschichte der Weidelichs wird das dünkelhafte, weil nicht durch Leistung legitimierte Aufsteigertum exemplarisch bestraft. Die Eltern Weidelich, statt ihre beiden Söhne »zur ehrlichen Arbeit« anzuhalten (314), investieren all ihren Erwerbsfleiß und ihren Verdienst in das ›Emporkommen‹ ihrer Söhne. Die treibende Kraft ist hier die Frau, Amalie Weidelich, die sich denn auch nicht mehr Mutter, sondern, wie in den vornehmen Kreisen üblich, »Mama« nennen lässt. VornehmSein wird mit Reich-Sein gleichgesetzt. Für Frau Weidelich haben alle Beziehungen Warencharakter. Schon früh strebt sie deshalb eine Verbindung ihrer Söhne mit den Salander-Töchtern an, die »jedenfalls eine halbe Million wert« seien, »das Stück« (106). Der berufliche und politische Aufstieg der beiden Zwillinge ist, immer mit Blick auf reale Verhältnisse, zu einer bitterbösen Politsatire gestaltet. Um die Zugehörigkeit zu den beiden führenden Parteien, den Demokraten und den Altliberalen, würfeln sie, um sich dadurch »besser in die Hände arbeiten« zu können (134). Mit durchtriebener Taktik schaffen sie den Sprung in das kantonale Parlament, den Großen Rat. Ihr öffentliches Amt, das Notariat, missbrauchen sie für ihre Betrugsgeschäf-

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te. Naturzerstörung, auch wenn sie die Lebensgrundlagen gefährdet, ist ihnen »Wurst« (220), sofern man damit kurzfristigen Gewinn erzielen kann. Die Weidelich-Zwillinge sind der Inbegriff dessen, was man damals als »Strebertum« bezeichnet hat. Das epochale Reizwort »Streber« ist ein Schlüsselwort in Kellers Roman; wir hören von »Strebern« in allen Gesellschaftsschichten, von »erfahrenen Unter-Strebern« (137), von »politischen Ober-, Mittel- und Unterstrebern« (90).29 Das Wort bezeichnet den Karrieristen und Opportunisten, dem es um Erfolg und Aufstieg um jeden Preis geht und der diesem Ziel bedenkenlos Charakter, Gewissen, Gesinnung opfert. Bei den Weidelich-Zwillingen ist der Mangel an Charakter und Persönlichkeit zur Karikatur zugespitzt; die beiden unterscheiden sich voneinander nur noch durch die verschiedene Wickelung eines ihrer Ohrläppchen. Isidor und Julian sind reine Funktionen des materialistisch-egoistischen Zeitgeists. »Es ist nichts mit ihnen! Sie haben keine Seelen!«, lautet das Fazit (217; 277). Ein einziger mildernder Umstand wird dem kriminellen Treiben der beiden jungen Delinquenten zugebilligt: Sie hatten die Absicht, die Gelder, die sie sich unrechtmäßig angeeignet hatten, wieder zurückzuzahlen, nachdem sie im zeitgemäßen »Börsenspiel« Gewinne erzielt hätten (301). Das war, so kommentiert der Erzähler, »der beiden Brüdern gebliebene Anteil am menschlichen Idealismus« (302). Am Ende dieser Familiengeschichte steht jedoch das völlige Scheitern. Die beiden jungen Notare landen im Gefängnis; die trostlose Ehe mit den beiden Salander-Töchtern wird geschieden; Jakob Weidelich ist ein gebrochener Mann; der Mutter Weidelich bringt die Schande ihrer Söhne einen Schlaganfall, dann den Tod – die Familiengeschichte der Weidelichs wird damit tragisch überhöht. Den dritten Erzählstrang bilden die unheimlichen Verwandlungen des Louis Wohlwend, der zu Salanders bösem Dämon, zu seinem »Oelgötzen«, wird (24; 259). Wohlwend und Martin Salander sind alte Schulfreunde; beide haben gemeinsam das Lehrerseminar besucht; beider Lebensläufe verlaufen eine Zeitlang parallel; beide sind sie in der hochgemuten Ära der 1848er Staatsgründung und mit dem GoetheSchiller’schen Humanismus und Idealismus aufgewachsen. Martin Salander bleibt seinen Jugendidealen treu; Louis Wohlwend mutiert zum wendigen Kapitalisten und Bourgeois. Jenny Treibels Zweideutigkeit – sie spricht von Schiller und meint Gerson30 – ist bei Louis Wohlwend ins Schizophrene gesteigert. Wenn Wohlwend beim »Christbaumvergnügen« eines Sängerbundes (19), an dem teilzunehmen er auch Salander gedrängt hat, Schillers Ballade Die Bürgschaft rezitiert – obgleich »mit durchgehend [...] verflucht fal-

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scher Betonung« (20) –, so verfolgt er damit einzig den Zweck, seinen ebenso großherzigen wie unternehmerisch erfolgreichen Jugendfreund zur Leistung einer Bürgschaft zu bewegen. Wohlwends betrügerisches Verhalten in dieser Bürgschaftsangelegenheit dann, durch das er die Salander’sche Familie ein erstes Mal in den finanziellen Ruin stürzt, führt drastisch vor Augen, dass für ihn der ideale Wert Freundschaftstreue, anders als in Schillers Ballade, ein »leerer Wahn« geworden ist, ein »Wahn« jedoch, der sich immerhin noch für kommerzielle Zwecke ausbeuten lässt. Als späterer Inhaber des Bankhauses »Schadenmüller & Co.« gibt sich Wohlwend das Image eines Vaterlands- und Volksfreundes. Die Fassade seines Bankhauses in der vornehmen Winkelriedgasse im »Westend« Münsterburgs (25) lässt er mit einem al fresco-Gemälde des legendären schweizerischen Nationalhelden Arnold von Winkelried schmücken; auch dessen letzte Worte: »Sorget für mein Weib und meine Kinder!« – ein Appell an die soziale Verantwortung – sind da zu lesen, »auf Goldgrund« alles (48). Salander gegenüber erklärt Wohlwend diese Fassadendekoration mit den Worten: »Du weißt, daß ich von jeher einem idealen Zuge nachgehangen bin, und die Wohnhäuser freier Bürger mit edlen Sinnsprüchen historischen oder moralischen Gehaltes zu schmücken und dazu Anregung zu geben, dünkt mich lobenswert!« (52). Im Innern des Bankhauses allerdings herrschen alles andere als »moralische« Gesetze. Hier herrscht das Gesetz des Dschungels. Gerechtfertigt wird das mit Darwins jüngst erschienener Lehre von der Entstehung der Arten (1859); der »Kampf ums Dasein« wird auf die menschliche Gesellschaft übertragen und damit der natürliche Egoismus zum Motor der Entwicklung gemacht. Dieser modernen Ersatzreligion gemäß31 versteht sich Wohlwend nach dem finanziellen Zusammenbruch seiner Bank (während dessen er sich dank seinen brasilianischen Verbindungen zum zweiten Mal mit Salanders Vermögen bereichert hat) »als Opfer des Verkehrs, des Kampfes ums Dasein«; er tritt, wie er voller Selbstmitleid erklärt, »das Martyrium unseres Jahrhunderts« an (64). Obwohl er sich immer wieder damit brüstet, dass er »von jeher einem edeln Idealismus gehuldigt« habe (64), werden von Wohlwend alle idealen Werte instrumentalisiert und in ihr Gegenteil verkehrt. Alles an Wohlwend ist falsch. Auch die Rede von dem, was Keller das Höchste bedeutet – die Natur. Dasselbe wiederholt sich am Schluss mit der Religion – in Wohlwends spinnigem Verfassungsprojekt für eine christlichtheokratische Republik, in dem es ihm, dem scheinheilig-biedermännischen Familienvater und Bourgeois, der er schließlich, nach seiner Geldwäscherei im ungarisch-türkischen Grenzgebiet, geworden ist, angeblich nur auf die »Idealität des Gedankens« (329), auf die »ewigen Ideale« an-

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komme (330). Sein fremdländisch-tartarisches Aussehen (232), das an die einstigen Invasoren unter Dschingis Khan erinnert, entlarvt seine Ansichten und Absichten auf den ersten Blick. Wohlwend heißt im Roman »der böse Geist« (343). Der verräterische »stechende Blick« (49; 244; 250), das »böse Auge« (244), die »bösen Blicke« eignen Wohlwend als stehendes Attribut bis zum letzten Satz des Romans (354); einmal wird er sogar »der alte Hexenmeister« und »der Satan« genannt (259). Wohlwend verkörpert das Böse, wenn auch nicht das Radikal-Böse, sondern das Dummdreist-Böse und das DümmlichBöse, das Böse »in Gestalt eines blöden Gehirnes« (259). Martin Salander hingegen scheint zunächst der Idealbürger in bester liberaler Tradition zu sein. Als Geschäftsmann repräsentiert er die bürgerlich-liberale Geschäftsgesinnung. Geld ist ihm nicht das Höchste; die materielle Sicherung seiner Existenz ist ihm nur die Voraussetzung zu verantwortlicher bürgerlicher Mitgestaltung der res publica. In den zehn Jahren seiner Abwesenheit hat sich jedoch die Schere zwischen dem liberalen Ideal und der eidgenössischen Realität immer weiter aufgetan. Unbarmherzig werden in Kellers Zeitroman die Schattenseiten der demokratischen Umwälzung in den Vordergrund gerückt. Statt sachlich zu argumentieren, wirft man mit den Schlagworten »Republik, republikanisch, Würde des Republikaners u.s.w.« um sich (91). Das Volk ist durch die ständigen Initiativen und Abstimmungen über Sachfragen überfordert. Die Wahlen bekommen inflationären Charakter.32 Auch die Anspruchshaltung der Weidelich-Familie und das allgemeine Strebertum werden im Roman in ursächlichen Zusammenhang mit dem direkt-demokratischen Umschwung gebracht. Dass Salanders aus Trotz geborenes Projekt, die Hochzeit seiner Töchter demonstrativ zu einem demokratisch-politischen Volksfest zu gestalten, unter diesen Umständen zum Zerrbild gerät, ist vorgezeichnet. In seinem unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen findet Martin Salander jedoch stets eine wohlmeinende Entschuldigung für die Missstände, auf die er trifft. Das Desinteresse seiner Landsleute an den demokratischen Errungenschaften und am politischen Leben erklärt er sich als »angeborene Bescheidenheit des Volkes« und Übergangsphase (77). Frau Weidelichs Streben nach ›Vornehmheit‹ empfindet er als »Verfeinerung der Sitte« und freut sich »über die zunehmende Gleichheit der Bürger« (11). Sogar das kriminelle Verhalten Wohlwends sucht er menschlich zu verstehen, statt es, wie Marie das tut, entschieden moralisch zu verurteilen: »Ich weiß nicht, ich schwanke doch zuweilen, ob er nicht eher ein Narr sei als ein schlechter Mensch; freilich ein gefährlicher Narr!« (66).

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Als Mitglied des Großen Rats nimmt Salander selber in rastloser Arbeit teil an den direkt-demokratischen Reformbemühungen. Vor allem widmet er sich, als ehemaliger Lehrer, dem Gebiet der »Volkserziehung« (206). Aber seine idealistischen Entwürfe scheitern schlicht an der Realität. Die Sozial- oder Kulturprojekte sind nicht finanzierbar, und sein Projekt einer radikal-demokratischen Schulreform würde die Jugend überfordern und hätte verheerende Konsequenzen: Salanders kühne Lehrpläne für eine Ausbildung bis ins zwanzigste Altersjahr würden zu einer solchen Verschulung des Volkes führen, dass, wie Marie Salander einwendet, ein »Heer von Arbeitssklaven« eingeführt werden müsste, welche die gewöhnlichen körperlichen Alltagsarbeiten verrichteten (209). So wird immer wieder Salanders Manko offensichtlich: Sein Idealismus schlägt um in Naivität, Realitätsblindheit, sein Optimismus wird zur Leichtgläubigkeit, ja Dummheit. Salander hat, wie es in den Entwurfsmaterialien zum Roman heißt, eine »illusorische Weltanschauung«;33 er »scheitert« dementsprechend »wiederholt an getäuschten Illusionen«.34 Nach einer weiteren Werkstattnotiz ist Salanders »Grundzug« ein »dumpfer« – und das heißt: ein bloß gefühlsmäßiger, unreflektierter – »Idealismus des Glaubens und Handelns«.35 So wird der »alte Idealist«36 zu einem anachronistischen Fremdling in seiner Zeit, am Ende sogar, in seinem eingebildeten »idealen Liebesverhältnis« zur scheinbar klassischschönen Myrrha (265), mit dem er ›pedantisch‹ Goethe kopiert (264; 335), zu einem alten Narren.37 Dennoch – trotz aller Kritik bleibt Salanders Gesinnung, die Gesinnung eines wahren Idealisten, letztlich unangetastet. Salanders Integrität wird nie in Frage gestellt, im Gegenteil, sie wird, gerade auch dann, wenn er in problematische Situationen hineingerät, immer wieder bestätigt. Der selbstlose Einsatz für die Gemeinschaft, den er leistet, die redliche und rechtliche Haltung, die er an den Tag legt, die Humanität, die er beweist, die Werte, die er vertritt – sie liefern trotz allen Irrtümern und Schwächen im Einzelnen das Maß, mit dem die schweizerische Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gemessen wird.38 Martin Salander repräsentiert das Gründungsbürgertum der schweizerischen Eidgenossenschaft in seinem Dilemma zwischen idealem Anspruch und den realen Verhältnissen.39 Im ›Notschluss‹, den Keller für die Buchausgabe geschrieben hat, endet Salanders Schicksal deshalb folgerichtig nicht in einer Katastrophe. Salander muss nicht von der politischen Bühne abtreten. Wohl aber müssen seine Leichtgläubigkeit und sein patriotischer Überschwang durch ein nüchternes Urteil ergänzt werden. Die Rettung bestünde in einem kritischen Idealismus. Denn der blauäugige »Salanderismus«,40 den er prak-

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tiziert, ist ja gerade die Voraussetzung dafür, dass Kreaturen wie Wohlwend obenauf kommen. Salander und sein »alter Freund« Wohlwend, an den er »wie mit eisernen Ketten gebunden« scheint (87), bilden ein zusammengehöriges Paar. Die Wende wird erreicht durch die Ankunft seines nüchtern-kritischen Sohnes Arnold. Mit ihm hält der Realismus in Münsterburg Einzug. Arnold verdankt seine Bildung nicht mehr allein der Weimarer Klassik: Er ist wissenschaftlich gebildet; er hat Geschichte und Rechtswissenschaft studiert und zum Dr. iur. promoviert. Zudem hat er durch seine ausgedehnten Auslandsaufenthalte Weltkenntnis erworben. Auch praktisch hat er sich bewährt. Und überdies ist er, wie auch sein Freundeskreis, mit der ganzen Musterkollektion bürgerlicher Tugenden ausgestattet, deren vorzüglichste das Maß ist. Ein neues, nüchterneres Geschlecht wird die Zukunft meistern. Wie – das hätte der nicht ausgeführte, aber von Keller nie ganz preisgegebene ursprüngliche Schluss41 oder aber ein Fortsetzungsband mit dem Titel Arnold Salander zeigen müssen.42 Vorerst jedoch tritt Arnold als Korrektiv seines Vaters in Erscheinung. Punkt für Punkt bringt er Klärung in die prekären Verhältnisse. Salanders vermeintlicher »später Liebesfrühling«, der, ausgelöst durch Wohlwends gleichermaßen schöne wie schwachsinnige Schwägerin Myrrha, »die Verjüngung seiner politischen Tatkraft herbeiführen sollte« (339), verflüchtigt sich angesichts der jugendlichen Erscheinung des Sohnes augenblicklich zur Chimäre. Dem weitgereisten Salander-Sohn gelingt es auch, die »aktuelle Misere«43 verständlich zu machen und auf eine pointierte Formel zu bringen: »Es ist bei uns, wie überall!« – die Umkehrung des geläufigen Sprichworts »C’est partout comme chez nous« (337f.). Bedrückend für den alten Salander bleibt freilich, dass die demokratische Verfassung seiner Heimat kein Bollwerk gegen die »Zeitkrankheiten« bildete (329), »daß die Uebel der Zeit nicht an den Grenzen der Republik stehen blieben, deren geistigen und sittlichen Ausbau er so getreulich betreiben half« (271), sondern im Gegenteil auch die Fundamente des demokratischen Staates unterspülten. Aber man darf die schweizerischen Verhältnisse nicht isoliert sehen; sie sind Teil einer bereits weitgehend globalisierten Welt. Diese Einsicht, ein schwacher Trost freilich, bewahrt wenigstens vor Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit. Der geschichtliche Überblick schließlich, den Arnold durch sein Geschichtsstudium gewonnen hat, erlaubt es ihm, Distanz zu gewinnen und, da sich der Geschichtsverlauf für den historisch geschulten Blick als ein beständiges Auf und Ab darstellt, sich von der deprimierenden Gegenwart nicht niederdrücken zu lassen und wieder auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Vater und Sohn schließen miteinander ein Bündnis, eine

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Art Erneuerung des Rütlischwurs, indem sie geloben, dem schweizerischen Staatswesen, wie immer es sich entwickeln möge, ihre Kräfte zu leihen (341f.). Juristisch geschult und vertraut mit den Gepflogenheiten der Justiz, vermag Arnold auch den Betrugsfall, in den Wohlwend zusammen mit der Atlantischen Uferbank in Rio de Janeiro verwickelt war, zur abschließenden Klärung zu bringen. Doch will man das Resultat der Untersuchung, das Wohlwend vernichten müsste, einstweilen noch zurückhalten – aus Mitleid mit seiner Frau und der armen Myrrha. Man zeigt Wohlwend jedoch die kalte Schulter und bricht jeden Kontakt mit ihm ab. Infolgedessen büßt er »sein dummes Selbstvertrauen« ein und verschwindet eines Tages »mit einem Blitzzuge«, wie man die damaligen Höchstgeschwindigkeitszüge nannte,44 aus Münsterburg (354). So gelangt die Erzählung, recht forciert freilich, zu ihrem von Anfang an angestrebten versöhnlichen Abschluss.45 Man hat auf die »doppelte Belichtung der Welt« in Kellers Altersroman hingewiesen;46 man hat von Salanders »janusköpfiger Erscheinung« gesprochen, »die einmal reinen Idealismus und ein anderes Mal blinde Torheit zu erkennen gibt«.47 Am Schluss aber übernimmt sogar der auktoriale Erzähler Salanders idealistischen Standpunkt, wenn er den Idealismus zur menschlichen Grundausstattung rechnet und auch den beiden Zwillingen noch einen Rest davon zubilligt, und insbesondere wenn er Wohlwend den Schauplatz räumen und ihn »anderwärts das Nichts [...] finden« lässt, »das ihm beschieden« ist (354). Ja sogar Martin Salanders humane Beurteilung der »Mama« Weidelich – es ist »gewiß eine rohe Muschel; aber auch sie birgt die Perle der Muttertreue!« (105) – bewahrheitet sich am Ende in einem tieferen Sinn, wenn die Frau an der Missratenheit ihrer Söhne zerbricht.

II Fontanes Stechlin erscheint nur zwölf Jahre nach dem Martin Salander. Beide Zeitromane haben, wenn auch aus verschiedener Perspektive und mit verschiedenen Schauplätzen – einem zürcherisch-schweizerischen und einem märkischen sowie berlinischen –, den gleichen Epochenwandel, den gleichen modernen Zeitgeist vor Augen. Verblüffend, dass die Hauptfiguren beider Alterswerke, Martin Salander und Dubslav von Stechlin, anscheinend im gleichen Jahr geboren sind, nämlich 1830. Salander steht am Schluss von Kellers Roman im 55. Altersjahr (263); Dubslav geht »gerad’ ins Siebenundsechzigste« (436). Bei Gottfried Keller sind deshalb vor allem die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts im Visier,

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die hochstaplerischen Gründer- und Krisenjahre und der direkt-demokratische Umschwung in der Schweiz; bei Fontane ist es die Mitte der neunziger Jahre mit der wilhelminischen Kehrtwendung in der »sozialen Frage«, dem Aufruf des jungen Kaisers zum Kampf gegen die Sozialdemokratie im Namen von »Religion, Sitte und Ordnung«48 und seinem rückwärtsgewandten Restaurationsversuch, den er für den Adel unternimmt. Das hat die Reaktions- und Repressionspolitik des »neuesten Kurses« zur Folge. Die ursprüngliche Konzeption des Stechlin, die Konzeption des »kleinen politischen (!) Romans« 49 – »Gegenüberstellung von Adel, wie er bei uns sein sollte und wie er ist« 50 – weitet sich in der Schlussfassung zu einem umfassenden »Zeitbild«. Aber wenn auch die Adelskritik weiterhin im Zentrum steht – die Kriterien der Zeitdiagnose und der Zeitkritik sind bei Keller und Fontane großenteils dieselben. Im Gegensatz zur Vertikale in der ursprünglichen Vision des Martin Salander scheint jedoch die kompositorische Konzeption des Stechlin in der Horizontalen zu liegen: Der stille Stechlinsee, das Zentralsymbol des Romans, reagiert seismographisch auf die Ereignisse in der Welt und ganz besonders auf die großen Revolutionen, auf die Brüche und Umbrüche in der Menschheitsgeschichte, die er der weltabgeschiedenen märkischen Provinz vermittelt. Nicht »oben« und »unten« scheinen im Stechlin die beiden entscheidenden Pole zu sein, sondern »weit draußen in der Welt« und »auch hier« (5). Und weil es dabei um Geschichte und geschichtlichen Fortschritt geht, sind diese Pole gleichbedeutend mit den Polen »neu« und »alt«. Aber neben dieser horizontalen Dialektik gibt es im Stechlin auch eine Bewegung in der Vertikalen. Ermöglicht wird sie durch die neue bürgerlich-liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit ihrer sozialen Mobilität. An ihr, die durch die ererbte ständische Ordnung mit ihren Adelsprivilegien beständig überlagert zu werden droht, wird entschieden festgehalten: Die Überwindung der alten Feudalordnung ist der »Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte« (321). Es gibt infolgedessen im Stechlin freilich auch, genau wie im Martin Salander, ein praktisch-materialistisches Aufsteigertum, ein Drängen nach Geld und Titeln, nach Orden und Macht; aber es gibt auch ein »Excelsior« im menschlichen Bereich, im Bereich der Gesinnung. Und nicht nur der soziale Aufstieg wird in Fontanes »Zeitbild« vorgeführt, sondern auch der soziale Abstieg – vor allem in der Person der Prinzessin Ermyntrud, die, nach ihrer Heirat mit dem Oberförster Katzler, das Gefühl bürgerlicher »Alltäglichkeit« (392) mit einem übersteigerten Pflichtprinzip, mit Extravaganz und überspannter Kirchlichkeit zu kompensieren versucht. Vom sozialen Abstieg gefährdet ist aber auch Dubslav von Stechlin – wie der gesamte Adel überhaupt.

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Die Aufsteigerfamilie par excellence sind im Stechlin die Gundermanns. Mit ihren sieben Sägemühlen (angefangen hat Gundermann mit bloß einer Mühle) verkörpern sie das neureiche Großindustriellentum und die Bourgeoisie. Gundermann, der »Börsenfilou« (222), der »Parvenu« (206), ist kürzlich in den Adelsstand erhoben worden, und problemlos übernimmt er Ideologie und Machtanspruch der herrschenden Klasse. Die soziale Frage ist für ihn eine reine Machtfrage. Als konservativer »Ultra« (206) ist er auch gegen das geltende allgemeine »Wahlrecht« (229). »Sieben Mühlen hat er, aber bloß zwei Redensarten« (222). Dadurch freilich, dass Fontane den damals gängigen Gemeinplatz vom »Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie« einem Wassermüller in den Mund legt (28), gewinnt die Phrase wieder eine humoristische und dadurch poetische Note. Gundermann ist bei all seinem Scharfmachertum, wie die bornierte Tante Adelheid mit ihrem Adelsdünkel, eine komische Figur. Seine Frau, eine etwas ordinäre Dame, fällt durch ihre neureiche Aufmachung, mangelnden gesellschaftlichen Takt und ebenfalls durch mangelnde Bildung auf. »Vollblutberlinerin«, die sie ist (47), erregt sie aber mit ihrer ungebrochenen Vitalität und ihrem unbezähmbaren »Sprechanismus«, gegen den sogar ein so brillanter Sprecher wie Czako kaum ankommt, wieder stille Heiterkeit. Ganz und gar nicht vom zeitgenössischen »Strebertum« infiziert ist Woldemar von Stechlin. Ihm eignet die Tugend der »Bescheidenheit«, vielleicht sogar »zuviel davon« (252). »Er ficht nicht gern unter der Devise ›nur über Leichen‹, hat vielmehr umgekehrt den Zug, sich in die zweite Linie zu stellen.« Die Auszeichnung, die darin liegt, dass er für die militärische Abordnung zur englischen Königin ausgewählt wurde, ist ihm deshalb fast peinlich – »nun sieht es aus, als wär’ er ein Streber« (246). Als »Streber« wird in Fontanes Roman jedoch einer von Woldemars Freunden, der Ministerialassessor von Rex, bezeichnet. Aber was für ein subtiler und sehr menschlicher Fall von »Strebertum« wird hier geschildert. Das preußische Kultusministerium vertritt unter dem »neuesten Kurs« mit Minister Bosse eine ausgesprochen orthodoxe Linie.51 Und weil Rex in Glaubensdingen »nicht recht weiß«, wo er steht – so erklärt Woldemar –, »hat er sozusagen die Auswahl und wählt das, was gerade gilt und nach oben hin empfiehlt. [...] Einige nennen ihn einen ›Streber‹. Aber wenn er es ist, ist er jedenfalls keiner von den schlimmsten. Er hat eigentlich einen guten Charakter, und im cercle intime kann er reizend sein« (25) – also gar nicht spielverderberisch »fromm«, wenn sich die Unterhaltung um pikante Dinge dreht. »Er verändert sich dann«, wie man mit Schmunzeln zur Kenntnis nimmt, »nicht in dem, was er sagt, oder doch nur ganz wenig, aber [...] er verändert sich in der Art, wie er

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zuhört. Czako meint, unser Freund Rex halte sich mit dem Ohr für das schadlos, was er mit dem Munde versäumt. [...] Seine Frömmigkeit ist keine Lüge, bloß Erziehung, Angewohnheit, und so schließlich seine zweite Natur geworden« (25). ›Schlimmere‹ Streber, ehrgeizige und machtbewusste Opportunisten und Karrieristen, sind im Roman der junge Hirschfeld oder Superintendent Koseleger. Der junge Hirschfeld, Isidor Hirschfeld (noch ein Isidor),52 der Sohn des zu etwelchem Reichtum gelangten jüdischen Tuchhändlers Baruch Hirschfeld in Gransee, sympathisiert mit der Sozialdemokratie, aber nicht aus Überzeugung, nicht weil er, »der große Volksfreund«, wie er behauptet, ein Herz für die »Menschheit« hätte (374), sondern um selber an die Macht zu kommen. Der Polizeiwachtmeister Uncke durchschaut ihn: Der Junge »red’t immer ›vons Prinzip‹. Das Prinzip is ihm aber egal. Er will bloß mogeln und den Alten an die Wand drücken. Und das is das, was ich das Zweideutige nenne« (314). Aber auch beim alten Baruch Hirschfeld kommt schließlich der »Pferdefuß« heraus: Schlossbesitz ist ihm wichtiger als alte Freundschaft (376). Auch dem Vertreter der Staatskirche, Superintendent Koseleger, dem Ästheten, dem »Halben« (204f.), geht es nicht um das Entscheidende, nicht um christliche Gesinnung und christliche Nächstenliebe, sondern um seinen Aufstieg auf der Leiter der kirchlich-staatlichen Hierarchie. »Was war für Koseleger diese traurige Gegenwart? Ihn beschäftigte nur die Zukunft, und wenn er in die hineinsah, so sah er einen langen, langen Korridor mit Oberlicht und am Ausgang ein Klingelschild mit der Aufschrift: ›Dr. Koseleger, Generalsuperintendent‹« (207). In den Zusammenhang der zeittypischen »Streberseuche«53 gehört endlich – »ein Fingerknips gegen die Gesellschaft« (342) – Dubslavs Wetterfahnenmuseum; denn »Streber im deutschen Sinne« sind, im Urteil der liberalen Presse, »Männer, die sich bücken und den Mantel nach dem Winde hängen, die nur Orden und Versorgung suchen, die ihre Ansichten mit jeder neuen Regierung wechseln und jedem Herrscher nach dem Munde reden«.54 In einem Brief an Georg Friedlaender stimmt Fontane der pessimistischen Weltsicht seines Brieffreundes zu und bekräftigt dessen Ausspruch: »Die Welt war nie so arm an Idealen.« »Diese Anschauung«, antwortet Fontane, »beherrscht mich seit Jahr und Tag und jeder Tag bringt neue Belege und steigert mein Unbehagen bis zur Angst.« Die wohlhabend gewordene Gegenwart sei »auf halbem Wege stecken geblieben«, im Wohlstandsdenken, »auf der Station ›Aeußerlichkeit‹. [...] Die ganze Welt, man könnte beinah sagen die Sozialdemokratie mit eingerechnet, hat sich durch gesteigerten Besitz und durch gesteigerte Lebensansprüche bis zu einer gewissen Bourgeoishöhe, vielfach von greulichstem Protzentum

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begleitet, entwickelt, aber von der Bewältigung der zweiten Hälfte des Weges, von der Entwicklung bis zur Aristokratie, der echten natürlich, wo das Geld wieder anfängt ganz andren Zwecken zu dienen als dem Bier- und Beefsteaks-Consum, von dieser Entwicklung unsrer Zustände sind wir weiter ab denn je. […] Natürlich kann man eine höhere Idealität der Gemüther ebensowenig wieder herbeizaubern wie die ›Religiosität‹, die der gute alte Wilhelm seinem Volke wiedergeben wollte, [...] aber wenn man auch mit Predigten und Reskripten der Sache nicht beikommen kann, so ist doch, glaub ich, schon viel gewonnen, wenn die moderne Menschheit zur Einsicht der Sachlage kommt, wenn sie sich im Spiegel sieht und einen Schreck kriegt. Und ein bischen davon, wenn mich nicht alles täuscht, ist schon da.«55 Ein solcher Spiegel war, fünf Jahre vor diesem Brief, der »modernen Menschheit« in Gottfried Kellers Martin Salander vorgehalten worden.56 Der Stechlin begnügt sich nicht mit dieser Spiegel- oder Zerrspiegelfunktion. Er entwickelt auch das, was unter der »höheren Idealität der Gemüther« zu verstehen wäre; er vollzieht auch, wenngleich nicht in Nietzsches Sinn, eine »Umwertung der Werte«.57 Als auf der untersten Stufe dieses Weges »nach oben« (318) stehend schätzt sich Gräfin Melusine ein. Wie sie sich, selber »ungläubig«, wenigstens zur Demut bekennt und Pastor Lorenzen einwendet, Demut sei nicht genug, weil ihr keine aktive, schöpferische, weltverändernde Kraft eigne, erwidert Melusine: »Und ist doch mindestens der Anfang zum Bessern, weil sie mit dem Egoismus aufräumt. Wer die Staffel hinauf will, muß eben von unten an dienen« (319). Die abgegriffene Worthülse »Idealist« wird in Fontanes Altersroman zwar vermieden. Als »Excelsior-Mann« jedoch wird im Stechlin einmal Rudolf von Bennigsen gerühmt (435), der große alte Mann in der Politik, der Parteiführer der Nationalliberalen. Bennigsen gilt, all seiner Kompromissbereitschaft ungeachtet, im Gegensatz zu den zentrifugalen Tendenzen in seiner Partei als »von Grund aus liberal«.58 Von ihm stammt das berühmte Wort, »daß die deutsche Einheit und die deutsche Freiheit zu gleicher Zeit und mit denselben Mitteln errungen werden müßten«.59 In der sozialen Frage plädierte Bennigsen für eine Entspannung der Gegensätze auf der Grundlage menschlicher Begegnung,60 und allen konservativen Staatsstreichplänen, wie sie in der Stechlin-Zeit geschmiedet wurden, stellte er sich entschlossen entgegen;61 man könne, so Bennigsen, »einem Volke das einmal gewährte allgemeine gleiche Wahlrecht nicht anders entreißen [...] als nach einer Revolution«.62 Der egoistischen Interessenpolitik der Agrarier, die der neu gegründete »Bund der Landwirte« verfocht, war er neuerdings im Reichstag ebenso energisch entgegengetreten und hatte ihre Forderung nach staatlich garantierten Getreideprei-

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sen »als wahren Umsturz bezeichnet, als gemeingefährlicher als das ganze sozialdemokratische Programm«.63 Für diese Haltung war er von agrarisch-konservativer Seite massiv angegriffen worden. »Wer hierlandes für ein freudiges ›excelsior‹ ist«, lautet der Kommentar dazu im Stechlin, »der ist bei den Ostelbiern [...] von vornherein verdächtig und ein Gegenstand tiefen Mißtrauens. Jedes höher gesteckte Ziel, jedes Wollen, das über den Kartoffelsack hinausgeht, findet kein Verständnis, sicherlich keinen Glauben. Und bringt einer irgendein Opfer, so heißt es bloß, daß er die Wurst nach der Speckseite werfe« (435f.). Als Idealist wird im Stechlin aber vor allem Pastor Lorenzen eingeführt und betont der landesüblichen Aufsteigermentalität entgegengesetzt. »Er ist so recht ein Excelsior-, ein Aufsteigemensch, einer aus der wirklichen Obersphäre, wo alles Hohe zu Haus ist, die Hoffnung und sogar die Liebe« (183). Mit »Hoffnung« und »Liebe« sind die großen Gegenkräfte zum Pessimismus und zur ›Zeitkrankheit‹ Egoismus bezeichnet. Pastor Lorenzen ist ein Vertreter jener ›echten Aristokratie‹, eines Adels des Geistes und der Gesinnung – im Unterschied zur »aufgesteiften, falschen Adelsmacht«,64 die sich überlebt hat, sich aber mit allen Mitteln an der Macht halten will. Den unscheinbaren Landpastor macht der Verfasser des Stechlin zum Sprecher der »Umwertung der Werte«, die der ganze Roman vollzieht – der christlichen wie der politischen. Die menschlich-christlichen Werte würdigt der Stechliner Pastor ergreifend in seiner schlichten Grabrede auf den alten Stechlin. In der Menschlichkeitsskala des Romans, auf deren unterster Stufe sich Melusine sieht, nimmt Dubslavs »tiefe, so recht aus dem Herzen kommende«, wenn auch mit Skepsis gepaarte »Humanität« die schönmenschliche Mitte ein (8), und ganz zuoberst stünden die christlichen Heiligen wie Elisabeth von Thüringen (289) oder auch der portugiesische »Santo«, der selbstlose Dichter, Philanthrop und Pädagoge Joao de Deus (185f.) – Referenzgrößen, verpflichtende Referenzfiguren, gewiss, aber Ausnahmeerscheinungen, wie der unverheiratete Stechliner Pastor selber, der, wie immer wieder betont wird, mit seinem stillen Enthusiasmus »eben in allem [...] ein Ausnahmemensch« ist (181). Die politischen Leitwerte werden in dem großen Weihnachtsgespräch zwischen Gräfin Melusine und Pastor Lorenzen im 29. Kapitel entwickelt; sowohl die Gräfin wie auch der Pastor erweisen sich darin als maßgebende Interpreten des Stechlin-Symbols. Dass zu diesen Leitwerten Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und der Wille zu pragmatischer Sozialreform gehört – Pastor Lorenzen ist ein Anhänger der christlich-sozialen Bewegung –, war schon in einem früheren Bekenntnisgespräch festgehalten worden; zu diesen Werten gehören aber in erster Linie die Haltung der Weltoffenheit und die ebenfalls gegen die reaktio-

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näre Adelsherrschaft gerichteten Postulate »Freiheit« und »Demokratie«.65 Der Stechlin ist aus einer innenpolitischen Situation heraus geschrieben, die die Vossische Zeitung folgendermaßen charakterisiert: »Auf Schritt und Tritt ist der Bürger im Deutschen Reich von der Polizei abhängig; überall droht ihm Entziehung der Konzession, Strafmandat, Disziplinarverfahren; überall herrscht das Bevormundungssystem, und während man wähnt, in einem Rechtsstaat zu leben, steuert man in den Polizeistaat zurück, dessen Hauptgrundsatz das Vertrauen zu der Weisheit und Güte der Obrigkeit ist und dessen oberster Wahlspruch lautet: ›Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.‹«66

III So kommt es zum Paradox, dass Gottfried Keller, der Bürger einer demokratischen Republik, mit dem Gedanken spielt, das degenerierte und korrumpierte Volk sei wieder reif für eine »monarchische Zwangsanstalt«,67 während der in einer solchen »monarchischen Zwangsanstalt« lebende Verfasser des Stechlin seinen Blick auf die freie Schweiz richtet (188)68 und seinen Pastor Lorenzen an entscheidender Stelle bekennen lässt: »Wohl möglich, daß aristokratische Tage mal wiederkehren, vorläufig, wohin wir sehen, stehen wir im Zeichen einer demokratischen Weltanschauung. Eine neue Zeit bricht an. Ich glaube, eine bessere und eine glücklichere. Aber wenn auch nicht eine glücklichere, so doch mindestens eine Zeit mit mehr Sauerstoff in der Luft, eine Zeit, in der wir besser atmen können. Und je freier man atmet, je mehr lebt man« (324). Der alte Fontane sah sich einer nicht minder bedrückenden gesellschaftlichen und politischen Realität gegenüber als der alte Keller. Ein Altersbrief spricht einmal »von der einzigen Berechtigung des Pessimismus«.69 Aber der Imperativ »Excelsior!« gilt auch für den Dichter. Im Stechlin wurde ihm die »Kraft« nochmals geschenkt, das »moderne Unwesen«, das ihn »mit einem gewissen Schauder« erfüllte, »von der heitren Seite« zu nehmen.70 In der Tat: Kein anderes Werk des Dichters durchkostet so wie der Stechlin alle Reize von Esprit, Witz, Komik, Ironie und Humor. Dennoch ist der Stechlin nicht das, was man unter einem humoristischen Roman versteht. Vielmehr herrscht darin ein ausgewogener Wechsel der Töne; wie in Hofprediger Frommels Toast auf das Brautpaar sind darin »Ernst und Scherz, Christlichkeit und Humor in glücklichster Weise verteilt« (346). Das Zusammenspiel dieser Töne ergibt jene unnachahmliche Schwebelage, die man den »Fontane-Ton« genannt hat.71

»Excelsior!«

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Es sind über siebzig Figuren, die in diesem Zeitroman auftreten. In dem weitgefächerten und vielfältigen Personenaufgebot gibt sich Fontanes Passion für Menschen zu erkennen. Seine Gestalten sind, bis hinab zu Nebenfiguren wie Lizzy oder Elfriede, lebendige Menschen, Individualitäten, nicht Typen, oder vielmehr: Typen und Individualitäten, und nur in einigen Randfiguren – der umnachteten alten Triglaff, dem götzenhaften Edlen Herrn von Alten-Friesack, die beide bezeichnenderweise nicht sprechen – haben wir es mit Karikaturen (aber mit symbolträchtigen Karikaturen) zu tun. Die Lebendigkeit der Gestalten jedoch verdankt sich Fontanes virtuoser Kunst der sprechenden Menschendarstellung. Er erreicht damit ein Höchstmaß an Wirklichkeitstreue, so dass man im Rückblick tatsächlich nicht mehr genau weiß, ob es erlebte oder gelesene Figuren waren, mit denen man Umgang hatte.72 Bei aller Breite des personellen Spektrums aber ist das Personenensemble des Stechlin übersichtlich gegliedert: in verschiedene Lebenskreise – Schloss Stechlin, Kloster Wutz, Berlin –, in Vordergrund-, Mittelgrund- und Hintergrundfiguren, in zwei Vordergrund-Familien – die Stechlins und die Barbys –, in Angehörige der alten und der jungen Generation. Auch die tragende Romanhandlung fehlt nicht, unscheinbaralltäglich zwar, aber raffiniert erzählt: die Liebes-, Verlobungs- und Heiratsgeschichte, die sich in aller Stille zwischen Woldemar von Stechlin und Armgard von Barby vollzieht, und, damit verflochten, die Ereignisse von Dubslavs letztem Lebenshalbjahr: seine Reichstagskandidatur, seine Erkrankung und sein Tod. Erzählt wird so nicht nur vom politischen Wandel der Dinge, sondern ebenso von der unabänderlichen Ablösung der alten Generation durch die junge. Die Romanhandlung aber ist wie das gesamte Figurenensemble mit seinen Causerien und Gesprächen bezogen auf den ideellen Mittelpunkt des politischen Romans, den geheimnisvollen See, den Stechlin, das Symbol des geschichtlichen Wandels, der das Neue mit dem Alten vermittelt. Diese ideelle Durchdringung verleiht dem scheinbar so locker gefügten, vordergründig-alltäglichen Romangeschehen Transparenz und künstlerische Geschlossenheit. Die Geschlossenheit wird durch die Ringkomposition unterstrichen. In gleicher Weise bezogen bleibt aber alles auch auf etwas, was hinter allen zeitgeschichtlichen Veränderungen sichtbar wird: das Humane, die humane Gesinnung, die Vertikale des Menschlichen und Christlichen. Das ist das zweite Sinnzentrum des Romans, welches das erste ergänzt und vertieft. In allem sozialen, politischen und kulturellen Wandel gibt es auch etwas Bleibendes, etwas, »was über alles Zeitliche hinaus liegt, was immer gilt und immer gelten wird: ein Herz« (448f.). Es ist das, woraus sich Dubslavs Humanität speist. Die humane

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Gesinnung bildet das immerwährende Maß und Kriterium für alle politischen Systeme in allen Zeiten.73 Man hat von Fontanes Romankunst als von einer »Romankunst der Vielstimmigkeit« gesprochen.74 Gewiss gibt es keine »unanfechtbaren Wahrheiten« für den Menschen (10). Auch Pastor Lorenzens idealistischer Enthusiasmus wird von Dubslavs realistischer Skepsis ausbalanciert; beide Figuren halten sich gegenseitig in der Schwebe. Aber trotz des Reichtums an Figuren und Ansichten und trotz der heiteren Grundstimmung gleitet der Roman nicht in ein ironisches Spiel mit Meinungen ab. Inmitten aller Vielstimmigkeit finden die Vordergrundfiguren im Stechlin doch immer wieder betont zur Gemeinsamkeit der Überzeugungen, so sehr, dass man versucht ist, bei Fontanes »Vermächtnis«-Roman von einer ›Romankunst der Einstimmigkeit‹ zu reden. Und in diesen Übereinstimmungen, die meist noch durch Händereichen ›besiegelt‹ werden, wäre die Meinung des Autors selbst zu fassen.75 Gottfried Kellers Altersroman ist inhaltlich von einer beklemmenden Modernität. Künstlerisch ist er in seiner herben, bisweilen holzschnittartigen Realistik und mit seinen satirischen und allegorischen Zügen zu einer eindringlichen ›Parabel‹76 geworden, eher zu einer Art »Volksbuch« und ernster Predigt im Sinne von Pestalozzis Lienhard und Gertrud als zu dem anfänglich intendierten modern-realistischen Roman. Fontane äußerte sich über den Martin Salander höchst anerkennend.77 Keller selbst empfand ein künstlerisches Ungenügen an seinem Werk: »Es ist nicht schön! Es ist nicht schön! Es ist zu wenig Poesie darin.«78 Fontane dagegen war beglückt über das, was er im Stechlin erreicht hatte. »Es ist das Buch, das ich für mich selber geschrieben habe. Mir gefällt’s. Das ist mir noch bei keinem meiner Bücher passiert. Wenn sie erst gedruckt waren, bin ich immer ängstlich drumrumgegangen.«79

Anmerkungen 1

Zitiert wird Kellers Martin Salander nach HKKA 8, Fontanes Stechlin nach GBA 17, der Nachweis erfolgt mit Angabe der Seitenzahl in Klammern direkt im Text. Weitere Abkürzungen: VZ = Vossische Zeitung, MA = Morgenausgabe, AA = Abendausgabe; Fbl = Fontane Blätter. – Dem germanistischen Lektürekreis am Kantonalen Gymnasium Rychenberg Winterthur – Luisella Collovà, Hansjörg Diener, Hildegund Kastner, Niklaus Vértesi – danke ich für die gemeinsame Lektüre des Martin Salander. Für Anregungen und Kritik zu Dank verpflichtet bin ich weiter Joachim Kleine, Walter Labhart und Klaus-Peter Möller.

2

Paul Heyse an Gottfried Keller, 1. Januar 1883, HKKA 24, S. 458.

»Excelsior!«

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3

Zur Interpretation vgl. Karl Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. Berlin 1970, S. 102–116.

4

Darauf weist Longfellow selber einmal hin, vgl. The Works of Henry Wadsworth Longfellow in fourteen Volumes. Vol. I. Boston/New York 1881, S. 79.

5

Das lateinische Adjektiv steht statt des Adverbs, weil es, als prädikatives Zustandsadjektiv aufgefasst, einen seelischen Zustand ausdrückt.

6

Zur Taufe von Johannes Stockhausen (Pfingstsonntag, 20. Mai 1877), HFA I/6, S. 521. – Im Jahre 1860 hielt Fontane im Rahmen seiner zehn Vorlesungen über englische Themen (darunter auch schottische und amerikanische) ein Referat über Longfellow, das er mit dem Vortrag des Gedichts Excelsior beschloss. Vgl. Helen Chambers (Hg.): Theodor Fontanes Longfellow-Vortrag am 29. 2. 1860 in Berlin. In: Fbl (1989), Heft 47, S. 27–48. – Weitere Nachwirkungen des Excelsior-Gedichts in Fontanes Werk: Aus den Tagen der Okkupation. Eine Osterreise durch Nordfrankreich und Elsaß-Lothringen 1871. Bd. 1. Peter von Amiens. Motto, HFA III/4, S. 806; Cécile, HFA I/2, S. 175.

7

Vgl. Nietzsche an Mathilde Trampedach, 11. April 1876; Nietzsche an Heinrich Romundt: Am Tag nach Charfreitag, 15. April 1876; Nietzsche an Reinhart von Seydlitz, 18. November 1878 (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York 1986, Bd. 5, S. 147, 154 und 364); Die fröhliche Wissenschaft. Nr. 285 (ders: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. München 1966, Bd. 2, 166f.).

8

Friedrich Spielhagen: Angela. Roman. Leipzig 1881, Bd. 2, S. 253ff.

9

Von 1938 bis 1941 nannte sich das City-Hotel im Seidenhof City-Excelsior-Hotel; 1942 wurde es vom Zürcher Frauenverein als alkoholfreier Gasthof unter dem Namen Seidenhof übernommen.

10

Zitiert nach: The poetical Works of Henry W. Longfellow. Authorized Edition. In two Volumes. Vol. I. Leipzig 1856, S. 115f. – Vgl. auch The Works of Henry Wadsworth Longfellow (wie Anm. 4), S. 80–82.

11

Zitiert nach: Ferdinand Freiligrath’s gesammelte Dichtungen. Bd. 5. 5. Aufl., Stuttgart 1886, S. 204f.

12

VZ, 13. Oktober 1895, MA.

13

VZ, 18. November 1895, AA.

14

»Ein Vergnügen ist das Laufen auf Excelsior-Gummi-Absätzen« (1910/16). In: Reklame. Produktwerbung im Plakat 1890–1918. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Digitale Bibliothek.

15

Vgl. Theodor Fontane an seinen Sohn Theodor Fontane jun., 9. Mai 1888, HFA IV/3, S. 600f.

16

Vgl. dazu Rudolf von Passavant: Zeitdarstellung und Zeitkritik in Gottfried Kellers »Martin Salander«. Bern 1978, S. 119ff.

17

Vgl. Joseph Jung: Alfred Escher 1819–1920. Der Aufbruch zur modernen Schweiz. 4 Bde. Zürich 2006.

18

Gottfried Keller an Paul Heyse, 25. Dezember 1882, HKKA 24, S. 457.

19

Gottfried Keller an Paul Heyse, 8. Januar 1883, HKKA 24, S. 459.

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20

Jakob Baechtold: Gottfried Kellers Leben. Seine Briefe und Tagebücher. Bd. 3. Zweite Aufl. Berlin 1897, S. 309f. Laut Baechtold informierte ihn Keller über seinen Plan am Ostersonntag 1883.

21

»Pfingstmontag«: HKKA 24, Paralipomenon 23, S. 383; »Pfingsttag«: Paralipomenon 48, S. 428.

22

HKKA 24, Paralipomenon 25, S. 386; »Auffahrtstag«: Paralipomenon 24, S. 385.

23

HKKA 24, Paralipomenon 23, S. 383.

24

Ebd.

25

Gottfried Keller an Paul Heyse, 30. Januar 1882, HKKA 24, S. 455.

26

Vgl. Tagebuch von Julius Rodenberg, 27. September 1883, HKKA 24, S. 463. – Adolf Muschg macht für das Nicht-Zustandekommen des geplanten Strafgerichts in erster Linie Gewissensgründe geltend; vgl. Adolf Muschg: Gottfried Keller. München 1977, S. 298.

27

HKKA 24, S. 42f. bezieht die Stelle zu Recht auf die Annahme der neuen schweizerischen Bundesverfassung am 19. April 1874. Die Zustimmungsquote betrug im Kanton Zürich 94,6 %. Es gilt aber auch die Vorgeschichte dieser revidierten Bundesverfassung mit ihrem fakultativen Gesetzesreferendum im Blick zu behalten. Im Umwandlungsprozess, der sich damals in der schweizerischen politischen Landschaft vollzog, gewann das zürcherische direkt-demokratische Modell von 1869 Vorbildcharakter. In rascher Folge wurden in mehreren eidgenössischen »Republiken« anstelle der bisherigen Repräsentativsysteme direkt-demokratische Verfassungen eingeführt (vgl. Gordon A. Craig: Geld und Geist. Zürich im Zeitalter des Liberalismus 1830–1869. München 1988, S. 273). Das obligatorische Gesetzesreferendum fand bereits im Jahre 1869 in den Kantonen Bern, Solothurn und Thurgau Eingang, im Jahre darauf auch im Aargau. Die Landsgemeindekantone besaßen mit ihren Landsgemeinden ohnehin solche direkt-demokratischen Einrichtungen. Man berechnete schon im Jahre 1870, »dass nur noch 330’000 Schweizer unter dem repräsentativen Regime lebten, während zehn Jahre vorher (1860) ihre Zahl noch 1’030’000 betragen hatte. Wieder zehn Jahre später (1880) bestand das System der parlamentarischen Souveränität in Gesetzgebung und Wahl der Regierung nur noch in einem Kanton (Freiburg)« (Eduard Fueter: Die Schweiz seit 1848. Geschichte, Politik, Wirtschaft. Zürich/Leipzig 1928, S. 103f.). Gottfried Keller, ursprünglich radikaler Demokrat, stand seit seiner Einbindung als Staatsschreiber in Alfred Eschers liberales ›System‹ der populistischen demokratischen Bewegung ablehnend gegenüber.

28

Vgl. Anton Largiadèr: Geschichte von Stadt und Landschaft Zürich. Bd. 2. ErlenbachZürich 1945, S. 196ff.; Robert Dünki: Verfassungsgeschichte und politische Entwicklung Zürichs 1814–1893. Ein Beitrag des Stadtarchivs Zürich zum Gottfried-Keller-Jahr 1990. Zürich 1990, S. 23ff. – Die zürcherische direkt-demokratische Verfassung von 1869 blieb bis zum 1. Januar 2006 in Kraft.

29

Vgl. Hans Hertz an Wilhelm Hertz, 17. Juni 1884: »Er schreibt jetzt an einem einbändigen Roman, der actuelle Zustände auf schweizerischem Hintergrund behandelt: Streberthum, Materialismus usw.« (HKKA 24, S. 467). »Der schlaue junge Streber«, heißt es im Roman von Isidor, »hatte Amt, Haus und Frau; darüber war seine Persönlichkeit schon zu Ende geraten und konnte sich nur noch im Geräusche von vielen ihres Gleichen geltend machen« (219). Martin Salander dagegen gelobt sich, »wissentlich nie ein gemeiner Streber zu werden« (90); und sein Urteil über Arnold und

»Excelsior!«

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dessen Freunde lautet am Schluss: »Sie sind keine Streber [...] und wissen dennoch, was sie wollen, obgleich oder weil sie nicht davon schwatzen« (351f.). 30

Theodor Fontane an seinen Sohn Theodor Fontane jun., 9. Mai 1888, HFA IV/3, S. 601. – Gerson war das exklusivste Berliner Modehaus, auch »Hoflieferant seiner Majestät des Königs und Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin«.

31

Bernd Neumann weist auf Friedrich Spielhagens Gründerzeit-Roman Sturmflut hin, in welchem der Darwinismus »die Religion des Zeitalters« genannt wird (Bernd Neumann: Gottfried Keller. Eine Einführung in sein Werk. Königstein/Ts. 1982, S. 290).

32

Vgl. Eva Graef: Martin Salander. Politik und Poesie in Gottfried Kellers Gründerzeitroman. Würzburg 1992, S. 57.

33

Vgl. HKKA 24, Paralipomenon 37, S. 409.

34

HKKA 24, Paralipomenon 45, S. 423.

35

HKKA 24, Paralipomenon 16, S. 370.

36

HKKA 24, Paralipomenon 39, S. 412.

37

Zur Interpretation der Myrrha-Episode und zur Omnipräsenz Goethes in Kellers Werk vgl. Jörg E. Zierleyn: Gottfried Keller und das klassische Erbe. Untersuchungen zur Goetherezeption eines Poetischen Realisten. Frankfurt am Main et al. 1989, S. 249–258 und 280.

38

Vgl. Eva Graef (wie Anm. 32), S. 74.

39

Vgl. Rudolf von Passavant (wie Anm. 16), S. 124, 133 und besonders 138f.: »In der Gestalt Martin Salanders wird der unentwegte Gründeroptimismus dargestellt, der mit der Verwirklichung seiner Wirtschaftsinteressen auch den Weg zur Erfüllung der bürgerlichen Ideale gefunden zu haben glaubt.«

40

Gottfried Keller an Josef Viktor Widmann, 5. September 1886, HKKA 24, S. 524.

41

Vgl. Gottfried Keller an Wilhelm Hertz, 23. Oktober 1886, HKKA 24, S. 533. – Noch auf dem Sterbebett phantasierte Gottfried Keller »von einem zweiten Teil des ›Salander‹ [...] und einer Ueberschwemmung, die ihn schließen sollte« (Conrad Ferdinand Meyer in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. Juli 1890. In: Gottfried Keller im Spiegel seiner Zeit. Urteile und Berichte von Zeitgenossen über den Menschen und Dichter. Hg. von Alfred Zäch. Zürich 1952, S. 165).

42

Gottfried Keller an Siegmund Schott, 9. Juni 1888, HKKA 24, S. 557; s. auch Klaus Jeziorkowski (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen. Gottfried Keller. München 1969, S. 532f.

43

Gottfried Keller an Paul Heyse, 30. Januar 1882, HKKA 24, S. 455.

44

Vgl. beispielsweise VZ, 3. Dezember 1895, MA: »Heute früh um 2 Uhr entgleiste der Blitzzug der Delaware- und Lackivanna-Eisenbahn, ehe er bei South Syracuse einlief, und wurde zertrümmert.«

45

Zur Problematik von Kellers späten Erzählschlüssen vgl. Peter Utz: Der Rest ist Bild. Allegorische Erzählschlüsse im Spätwerk Gottfried Kellers. In: Die Kunst zu enden. Hg. von Jürgen Söring. Frankfurt am Main et al. 1990, S. 65–77.

46

Eva Graef (wie Anm. 32), S. 116.

47

Ebd., S. 76.

48

Rede am Festmahl für die Vertreter der Provinz Ostpreußen, 6. September 1894. In: Die Reden Kaiser Wilhelms II. Gesammelt und hg. von Johannes Penzler. Erster Teil. Leipzig o. J., S. 276.

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49

Theodor Fontane an Paul Schlenther, 21. Dezember 1895, HFA IV/4, S. 512.

50

Theodor Fontane an Carl Robert Lessing, 8. Juni 1896, HFA IV/4, S. 562. Auch hier die Charakteristik des Stechlin als eines »politischen Romans«; vgl. auch Theodor Fontane an Ernst Heilborn, 12. Mai 1897: »Ich stecke so drin im Abschluß eines großen, noch dazu politischen (!!) und natürlich märkischen Romans« (HFA IV/4, S 649).

51

»Ueberhaupt liegt ja die Schwierigkeit für die Orthodoxie gar nicht darin, daß sie zu wenig Einfluß hätte. Wie wäre das möglich, wo vom Kultusminister angefangen überall das Bekenntniß zum positiven Glauben der Laufbahn förderlich erscheint« (Der Sturm gegen die theologischen Fakultäten, VZ, 10. Mai 1895, MA).

52

Wie Dietz Bering herausgearbeitet hat, eignet dem unter den jüdischen Bürgern des Deutschen Reichs gängigen Vornamen Isidor eine ausgesprochen »antisemitische Markierung«, ja es ist »der Vorname mit der stärksten antisemitischen Ladung«. Unter den sogenannten »Fluchtnamen«, d. h. denjenigen Namen, die ihren Träger veranlassen, ihn zugunsten eines weniger exponierten aufzugeben, figuriert »Isidor« deswegen, was die Vornamen betrifft, an erster Stelle (vgl. Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933. Stuttgart 1987, bes. S. 232ff.). »Wenn Fontane im ›Stechlin‹ also dem Sohn Baruch Hirschfelds den Vornamen Isidor zuteilt, ist damit für den zeitgenössischen Leser das Urteil gefällt« (Hans Otto Horch: Theodor Fontane, die Juden und der Antisemitismus. In: Fontane-Handbuch. Hg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000, S. 298). Die antisemitisch-negative Konnotation, die dem Namen Isidor eignete, ist zweifellos auch Keller bewusst gewesen.

53

Maximilian Harden: Der neue Reichstag. In: Die Zukunft, 1. Juli 1893, S. 3.

54

Der Parlamentarismus, VZ, 25. Juni 1895, MA.

55

Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 27. Mai 1891, HFA IV/4, S. 121f.

56

»In diesem Roman habe ich ein politisches Spiegelbild der öffentlichen Zustände in meiner engeren Heimat zu entwerfen gesucht. In Frankreich, Deutschland, Russland und dem germanischen Norden haben neuerdings Autoren Aehnliches unternommen; auch ich fühlte mich gedrungen, in dieser Form mit meiner Zeit und meiner Heimat mich auseinanderzusetzen.« (Bericht von Johannes Prölss in der Frankfurter Zeitung vom 28. Juli 1887. In: Gottfried Keller im Spiegel seiner Zeit [wie Anm. 41], S. 100f.).

57

Vgl. Theodor Fontane an Karl Zöllner, 31. August 1895, HFA IV/4, S. 477 u. ö.

58

Der Liberalismus, VZ, 12. Juli 1895, MA.

59

Ebd.

60

VZ, 21. Januar 1896, MA.

61

Von Bennigsen gegen die Diktatur, VZ, 20. März 1897, AA.

62

VZ, 9. April 1895, AA.

63

Staatserhaltend oder staatserhalten?, VZ, 28. Mai 1896, AA u. ö.

64

Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 14. Mai 1894, HFA IV/4, S. 353.

65

Unter »demokratisch« versteht Fontane ein parlamentarisches System nach englischem Vorbild.

66

Aerztliche Ehrengerichte, VZ, 25. März 1896, AA.

»Excelsior!«

111

67

HKKA 24, Paralipomenon 2, S. 352.

68

Vgl. Die Volksvertretung, VZ, 7. Juli 1895, MA: »Hätte man hier zu Lande eine ähnliche Einrichtung wie das schweizerische Referendum, die unmittelbare Volksabstimmung, es ist nicht zu bezweifeln, daß der Gesetzentwurf [...] mit geradezu überwältigender Mehrheit abgelehnt worden wäre.«

69

Theodor Fontane an seinen Sohn Theodor Fontane jun., 9. Mai 1888, HFA IV/3, S. 601.

70

Vgl. Theodor Fontane an Georg Friedlaender, 29. September 1892, HFA IV/4, S. 219.

71

Felix Poppenberg: Die posthume Fontane-Tochter. In: Die neue Rundschau. Dritter Band. 1908, S. 1368; und Thomas Mann: Der alte Fontane. In: Die Zukunft, 1. Oktober 1910, S. 12.

72

Rezension von Paul Lindau: Der Zug nach dem Westen (Fassung aus dem Nachlass, 1886), HFA III/1, S. 568.

73

Zum Begriff »Gesinnung« bei Fontane vgl. Susanne Vitz-Manetti: Jenes alles Beste umschließende Etwas, das Gesinnung heißt. Ein Begriff im Werk Fontanes, Frankfurt am Main et al. 2004. Auch Susanne Vitz-Manetti interpretiert den Stechlin-Roman im Sinne einer allgemeinen »Umwertung der Werte«.

74

Vgl. Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt am Main 1998.

75

Fontanes erzähltechnische Verfahrensweisen zur Leserführung hat Gudrun LosterSchneider überzeugend herausgearbeitet; vgl. dies.: Der Erzähler Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren 1864–1898 und ihre ästhetische Vermittlung. Tübingen 1986, S. 264– 299.

76

Vgl. Gottfried Keller an Paul Heyse, 27. Juli 1881, GB 3.1, S. 57.

77

Fontane las Kellers neuen Roman 1886 in Rodenbergs Deutscher Rundschau: »Wie alles Keller’sche – mit Ausnahme seiner furchtbaren Verse; keiner kann alles – hab ich auch Martin Salander von Heft zu Heft mit größtem künstlerischen Behagen gelesen, er ist einer der Wenigen, die einen nie im Stiche lassen, gleichviel, welche Wege sie gehen, an welchem Ziele sie landen.« (Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 10. Dezember 1886. In: Theodor Fontane: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859–1898. Hg. von Kurt Schreinert, vollendet und mit einer Einführung versehen von Gerhard Hay. Stuttgart 1972 [Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft 29], S. 287f.)

78

Adolf Frey: Erinnerungen an Gottfried Keller. Leipzig 1892, S. 29f.

79

Friedrich Fontane: Wie mein Vater starb. In: Fbl (1978), Bd. 4, Heft 1, S. 317.

Von Wetterfahnen, Schönheitskuren und Straßenmalern Über das Moderne in Fontanes »Stechlin« Margret Walter-Schneider I Die folgenden Ausführungen werden Fontanes letzten Roman (1898) in die Nähe von Robert Walsers drittem Berliner Roman (1909) rücken, den Roman des 78-Jährigen in die Nähe des Romans eines 30-Jährigen, und den alten Dubslav von Stechlin als eine Vorläuferfigur des jungen Jakob von Gunten sehen. Diese Annäherung wird möglich über die Thematik der »Null-Stelle«, der Peter Utz vor sechs Jahren eine vielbeachtete Studie gewidmet hat. Sie versteht die Null als Figur, die eine Peripherie um ein unspezifiziertes, nicht identifiziertes Kreisfeld legt, das dank dieser peripheren Einfassung dem sozialen Zwang widersteht, etwas zu bedeuten.1 In diesem Sinne wird der Roman Jakob von Gunten »Null-Stelle der Literatur« genannt. Die Abstinenz von einer semantischen Festlegung der Kreisfläche bezeichnet Utz als »Poetik der Peripherie«.2 Zur Null-Thematik gehört, so Peter Utz, auch das Wüsten-Motiv: Wüste kann die Erscheinungsform sein, die die »faszinierende Offenheit« der Kreisfläche zum Ausdruck bringt, die Abstinenz von jeder Kultivierung von Bedeutung an dieser Stelle.3 Nicht nur von jener Abstinenz gegenüber semantischer Festlegung, sondern auch von dieser Wüste findet sich, wie zu zeigen sein wird, ein Präludium im Stechlin. Eine Genealogie der Moderne, die das Moment der »Null-Stelle« akzentuiert, wird den Stechlin nicht unbeachtet lassen.

II In privilegierter Lage finden sich in deutschen Romanen museumsartige Räume, in denen Beispielhaftes, Verbindliches sowohl für das Romanpersonal als auch für die Leser zur Schau gestellt wird. Man denke an den

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Saal der Vergangenheit in Goethes Wilhelm Meister, in dem zu sehen ist, wie alles war, ist und sein wird;4 an den kapellenartigen Treppenhausraum in Stifters Nachsommer, wo in Gestalt einer antiken Mädchenstatue das Ideal der Menschlichkeit aufbewahrt wird;5 an Kellers Grünen Heinrich, wo ebenfalls eine antike Statue, der borghesische Fechter, die Aufmerksamkeit des Helden auf sich zieht. In Letzterem ist das Mustergültige zwar nur noch in Gestalt einer Kopie zugänglich, außerdem auf ein Drei-Fuß-Format zusammengeschrumpft, und aus seiner das Sakrale streifenden bisherigen Unterkunft findet es sich in die Trivialität einer dürftigen Studentenkammer ausgelagert. Aber seine Systemstelle im Roman ist doch nicht unbesetzt.6 Gestalten und Ideen, die Anspruch erheben auf ewige Gültigkeit, haben Fontane, der sich immer wieder dazu bekannte, dass nichts ihm feststehe, und der Standhaftigkeit höchstens im Zweifeln bewies,7 mit Widerwillen erfüllt. Mit Blick auf Goethes Saal der Vergangenheit etwa hat er aufatmend festgestellt: »[E]in Glück, daß wir solche Zeit los sind, und daß wir, wenn auch mit schwächeren Kräften, jetzt andere Stoffe bearbeiten.«8 Auch im Stechlin hat Fontane sich mit dem ihm schwer erträglichen Streben nach Unvergänglichem, absolut Gültigem befasst, unter anderem in der »beautifying for ever«-Anekdote, mit der Superintendent Koseleger die weihnächtliche Verlobungsgesellschaft auf Schloss Stechlin beim Souper unterhält (257).9 Von einer englischen Herzogin ist da die Rede, die es nicht ertragen kann, dass ihre Schönheit mit den Jahren schwindet, und sich deshalb von einer »plastischen Künstlerin« durch »Auftrag einer Wachspaste die Jugend wieder« herstellen lässt. Die Rechnung für diese Wiederherstellung und Verewigung nennt eine Summe, »vor der selbst eine Herzogin erschrecken durfte«. Da die Herzogin sie zu zahlen sich weigert, die Künstlerin aber auf ihrer Forderung beharrt, kommt es zu einem Prozess, in dem auch Konkurrentinnen der verklagten Künstlerin bezeugen, dass ihre Honorarforderung erheblich zu hoch sei. Als sich aber herausstellt, dass der Anschein der Jugend, den die Konkurrenz herstellt, höchstens ein Vierteljahr hält, wendet sich die Verklagte an den hohen Gerichtshof und sagt: »[M]eine Mitkünstlerinnen […] helfen auf Zeit; was ich leiste, ist ›beautifying for ever‹«, worauf die Herzogin zur Zahlung der »Riesensumme« verurteilt wird. Die Schönheitskünstlerin tut, was Richard Rorty der alteuropäischen Philosophie nachsagt. Beide brechen aus der »Welt von Zeit« und »Erscheinung« aus und stoßen vor in die Welt der ewigen Wahrheit, der wächsernen Schönheit, der Idee.10 In der Selbstverteidigungsrede der Kosmetikerin (»Meine Mitkünstlerinnen helfen auf Zeit; was ich leiste, ist ›beautifying for ever‹«) haben wir das große Stechlin-Thema, die Zeit,

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durch eine für den Stechlin-Geist allerdings unerträgliche Geringschätzung entstellt. Es verdient Beachtung, dass das hohe Gericht seinen Urteilsspruch nicht besonnen, sondern »hingerissen« fällt – wie neuerdings verführt vom Kindheitstraum von Ewigem, den man, auch zum Vorteil der Gesellschaft, längst ausgeträumt haben sollte. Dass Beschränkung »auf Zeit« in der Stechlin-Welt (anders als für die Schönheitskünstlerin) ganz und gar nichts Minderwertiges ist, gelungene Zeitflucht also auch keine Prämie verdient, deutet sich gleich zu Beginn des Romans an, wenn das »mit ungeheurer Raumverschwendung« angelegte Treppenhaus von Schloss Stechlin vorgestellt wird, das keinem anderen Zweck dient als dem, die Zeit in den Mittelpunkt zu rücken, indem es Zuschauerraum um ein Podest herum schafft, auf welchem sie, »eine Hippe« führend, selber thront (19). Unter den Schlössern und Herrenhäusern der Mark Brandenburg, die Fontanes Vorstellung von Haus Stechlin inspirieren konnten, gab es auch welche mit Hauskapellen.11 Fontane aber stellt keinen Raum mehr zur Verfügung für den Ewigkeitskult.12 Die Zeit hat in seiner Welt die Ewigkeit ersetzt. Die Welt der Stechlin-Gesellschaft ist detranszendentalisiert. Eine höchst ungewöhnliche Inszenierung dessen, was Richard Rorty die Historisierung des Lebens und Denkens nennt,13 findet sich in einer Londoner Kindheitserinnerung Armgards, die unter der beachtenswerten Devise »Kindermund tut Wahrheit kund« (216) mitgeteilt wird. Worin besteht diese »Wahrheit«? In der restlosen Verzeitlichung einer ehemals sakral empfundenen und gedeuteten Welt. Eines Abends wird »little Armgard« von ihrer Kindermuhme Susan aus dem hortus conclusus von Hydepark hinausgeführt in das »immer dichter werdende Straßengewirr« der City, um an ihrer Hand schließlich die domähnliche Haupthalle von Martins le Grand zu betreten, dem in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Stil eines griechischen Tempels erbauten Hauptsitz des British General Post Office. Eine Initiationsfahrt in die Kontingenz der säkularisierten Welt. Im Tiefflug kommen in diesem Pseudotempel die angeli novi des späten 19. Jahrhunderts, die Zeitungsund Briefpakete, knapp über den Köpfen der Besucher dahergeflogen und landen in großen mail boxes, wiederholt »Futterkiste[n]« genannt, die zwei livrierte Postdiener bereitstellen (217f.). Zeitungen sind das neue Manna, von dem die Kommunikationsgesellschaft sich nährt.14 In Martins le Grand wird es in das weltweite postale Kommunikationsnetz eingespeist. Dieses neue Manna kommt nicht von oben und nicht von jenseits, sondern aus denselben nicht erhabenen Diesseitsräumen, aus denen die Besucher ihrerseits in die tempelartige Halle strömen. Kein »wahres«, kein »ewiges« Wort fällt mehr in die »Futterkisten«, weil es gar keine »wahren« Worte mehr gibt (da zu einem Jenseits, aus dem sie

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stammen müssten, kein Zugang besteht),15 bloß noch solche, die man heute gerade benützt, wenn man klug genug ist im Bewusstsein, dass sie morgen bereits durch andere zu ersetzen sind;16 kontingente Worte, die nicht verdienen, dass auch nur eins von ihnen sich Gehör »for ever« verschafft. »The bill« für solche Verewigung wäre zum Erschrecken hoch, auch hier. Sie wäre mit dem Verzicht darauf erkauft, Besseres, Menschlicheres, sozial Gerechteres erst noch und immer wieder neu zu erfinden, mit dem Verzicht auf fort und fort zu leistende Selbstbefreiung des Denkens von kontingenter Autorität. Ein wahrer Luhmann-Ort, dieser entkernte »Tempel« von Martins le Grand im dichtesten Londoner Straßengewirr.17 Von hier aus, vom Herzen der Gesellschaft aus (nicht von einem Drüben, Oben) muss alles, was in die Kommunikation der Gesellschaft eingeht, seinen Ausgang nehmen. Einen anderen Ursprung gibt es nicht. Statt eines Götterbilds steht deshalb in dieser Pseudo-Tempelhalle über allem konsequenterweise wiederum nur eine Uhr, als gälte es, die Verzeitlichung dieser neuen Kultur dem Bewusstsein einzuprägen, das sich von den altvertrauten Vorstellungen des Ewiggültigen vielleicht noch nicht gelöst hat. »Reizend, Komtesse. Natürlich seh’ ich mir das an, und wenn ich ein Rendezvous mit der Königin darüber versäumen müßte« (218), applaudiert Woldemar, der unmittelbar vor dem Aufbruch zu seiner Englandmission steht, der Erzählerin des Martins le Grand-Abenteuers. Das ist nicht bloß Galanterie, darin äußert sich auch die Überzeugung, dass der alles versäumt, der die Zeit verächtlich behandelt, weil er nach Höherem, Ewigem strebt – womit denn der zum Erschrecken hohe Preis nochmals beziffert wäre, den die englische Herzogin zu zahlen hat. Die Anbindung an Höchstes, Ewiges fordert den Preis des Spielerischen, Ironischen, die doch das historische Repertoire alternativer Lebensentwürfe einzig anwachsen lassen, indem sie es unterlassen, für Kontinuität von Kontingentem einzustehen. Dieser Preis aber ist ruinös. Auch die Meditation des Stechliner Schlossherrn über seinen Pastor, der von Berufs wegen dem For-ever-Prinzip ja ebenfalls verpflichtet wäre, lässt die in Koselegers Anekdote triumphierende plastische Künstlerin in einem zweifelhaften Licht erscheinen: »Sonderbar [...], dieser Lorenzen ist eigentlich gar kein richtiger Pastor. Er spricht nicht von Erlösung und auch nicht von Unsterblichkeit [auch eine Art beautifying for ever, M. W.-S.] […], er weiß am Ende selber nicht viel davon«, hilft nur auf Zeit wie die bloß scheinbar minderwertigen Konkurrentinnen der plastischen Künstlerin. »Seit beinah zwanzig Jahren kenn’ ich ihn, und noch hat er mich nicht ein einziges Mal bemogelt. Und daß man das von einem sagen kann, das ist eigentlich die Hauptsache. Das andere ... ja, du lieber Himmel, wo soll es am Ende herkommen? Auf dem Sinai

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hat schon lange keiner mehr gestanden [...].« (365) Namentlich aus der Schlusspassage wird ersichtlich, dass die Systemstelle, die etwa beim 14 Jahre älteren katholischen Stifter noch eine verbindliche Instanz zu besetzen scheint,18 bei Fontane vakant ist und dass er von einer Neubesetzung dieser Stelle entschieden Abstand nimmt. Der dem For-ever-Prinzip abgeneigte Stechlin-Geist weht auch in der Empfehlung des Grafen Barby, Woldemar solle während seines Englandaufenthalts »[w]enig Historisches« und »natürlich keine Kirchen« besichtigen. Statt dessen empfiehlt er seiner Aufmerksamkeit (»stehenbleiben und zusehen«) die linkshändigen »Straßen-Raffaels«, die in zehn Minuten heute etwas aufs Trottoir hinzaubern, das spätestens morgen schon wieder Neuem weichen muss, über das die Zeit, die im Stechlin das Sagen hat, ebenfalls wieder leichtfüßig hinweggehen wird (216). Graf Barby ist nicht zufällig und grundlos der Apologet der Straßenkünstler. Wie kein zweiter im Roman ist er der Apostel der Verzeitlichung, Historisierung des alten Wahren im Stechlin, und er scheint Natur und Geschichte fast wie eine große Straßenkünstler-Unternehmung zu sehen, welche kein einziges Ding davor bewahrt, schon nächstens einem andern weichen zu müssen: »Das moderne Leben räumt erbarmungslos mit all dem Überkommenen auf. Ob es glückt, ein Nilreich aufzurichten, ob Japan ein England im Stillen Ozean wird, ob China mit seinen vierhundert Millionen aus dem Schlaf aufwacht [...] – das alles fällt ganz anders ins Gewicht als die Frage ›Quirinal oder Vatikan‹. Es hat sich überlebt. Und anstaunenswert ist nur das eine, daß es überhaupt noch so weiter geht. Das ist der Wunder größtes« (142f.). Die letzten Sätze lassen aufhorchen. Hört man nicht einen Darwinianer sprechen? Das Kommen, Gehen, Ersetztwerden der Bilder auf den Londoner Gehsteigen, das Barby »anstaunenswert« vorkommt (»stehenbleiben und zusehen«), erinnert an das »Drama des Knospens, Wachsens, Verdrängens und Verdrängtwerdens«19 der Evolutionstheorie Darwins, die sprühende Vielfalt der Straßengemälde an die »sprühende Vielfalt der Evolutionsschritte«,20 die ja ihrerseits in der Geschichte der Naturauffassung das For-ever-Prinzip der Kreationisten und Theisten mindestens jenseits theologischen Denkens verdrängt haben. Das Entstehen neuer Arten und das Absterben alter wird in der Arbeit der Straßenmaler in enormer metaphorischer Konzentration reflektiert, so dass Zeiträume, die Jahrmillionen umfassen, sich im nervösen, kurzatmigen Rhythmus des Tagesgeschehens wiedererkennen können. Kein göttlicher Schöpfungsplan dahinter. »Und anstaunenswert ist nur das eine, daß es überhaupt noch so weiter geht. Das ist der Wunder größtes.«

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III Nun ist aber erstaunlicherweise doch auch Dubslav von Stechlin Museumsbesitzer, scheint also Dinge zu kennen, die er vor der Hippe des Zeitgottes verschont wissen möchte for ever. Sein Museum ist allerdings ein leeres Museum, eine Staubwüste en miniature.21 Diese Leere ist umso augenfälliger, als das Stechliner-Museum ein später Nachkömmling jener barocken Kuriositätenkabinette und Wunderkammern zu sein scheint, in welchen, wie unter der Gehirnschale eines Schöpfergottes oder in der Arche eines Weltenretters, die Schöpfung in ihrer Mannigfaltigkeit gespeichert war.22 »[E]in Glück, daß wir solche Zeit los sind«,23 sagt Fontane mit Blick auf Goethes Saal der Vergangenheit. Dass sich der Stechlin-Erzähler von vergleichbaren Ewigkeitssälen distanziert, zeigt sich allein schon am Portal, das er sich für sein Museum ausgedacht hat und das sich wie eine Travestie24 des Goethe’schen Museumsportals aus dem letzten Buch der Lehrjahre ausnimmt: Aus dessen ägyptisch anmutender Tür, vor der »zwei Sphinxe von Granit« liegen,25 wird eine triviale Saaltür, über welcher eine Holztafel mit der Inschrift »Museum« hängt (19), die sich, wenn das Museum zum zweiten Mal erwähnt wird, in eine noch primitivere, schräghängende Papptafel verwandelt, die eher an kindliche Unternehmungen als an ernstzunehmende Beschäftigungen erinnert (274). Diesem Unernst der äußeren Aufmachung entspricht der Unernst, der die Beziehung Dubslavs zu seinem Museum kennzeichnet: »Ich nehme nicht vieles ernsthaft, und am wenigsten ernsthaft nehm’ ich mein Museum« (281).26 Und doch bezeichnet der Stechliner Schlossherr gerade eine derart nicht ernst genommene Sache als ganz speziell die seine und hält sie für etwas, was gezeigt werden kann, ja sogar muss, wenn Besuch da ist (280). Museen sind Orte des Sammelns, der Konservierung, der Präsentation von Denkmälern und der Bildung durch sie. Der Blick des Museums ist seit 1800 und für lange Zeit der Rückblick auf Gewusstes, Gesichertes, in seinen Mauern etabliert sich ein indiskutabler, verbindlicher Kanon, seine Kritiker werfen ihm einen »abergläubischen Respekt (superstition) für das Alte« vor und protestieren gegen den Schein des zeitlos Gültigen, den es erzeuge.27 Nichts vermag so wie der leere Stechliner Bildungsraum die Abneigung des Ironikers28 Dubslav von Stechlin gegen Feststehendes zum Ausdruck zu bringen. Die Leere von Dubslavs Museum ist die Leere, als die der ironische Geist erscheinen muss, wenn man ihn in ein Raumbild übersetzt. Wenn etwas feststellen auch schon zu weit gehen bedeutet,29 wenn Urteile nicht gefällt werden können, ohne dass bedacht werden muss, dass ihr Gegenteil ebenso richtig ist,30 dann ist Leerraum

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zu konservieren das Gebotene, und es kann kaum mehr etwas darin aufund ausgestellt werden. Das leere Museum ist Dubslavs Museum nicht nur, weil es Dubslav gehört, sondern weil es sich für einen Ironiker so gehört. Lateinisch ›museum‹ bedeutet ›Ort gelehrten Tuns‹. Tatsächlich tut sich etwas auch in Dubslavs Museum. Die Täterinnen sind Spinnen, die sich hier wohl fühlen, da niemand mit der Pflege des Raums beauftragt scheint. Nicht nur vertreibt man sie nicht, sondern sie werden sogar noch gefüttert (276). ›Spinne‹ bezeichnet sowohl das Fäden spinnende und Netze webende Insekt als auch die menschliche Spinnerin.31 Auch die Parzen, die im Mythos über Stirb und Werde gebieten, werden als Spinnen in letzterer Bedeutung vorgestellt. Die Dauerbewohnerinnen von Dubslavs Museum scheinen mit Klotho und Atropos, den Spezialzuständigen für Konstruktion und Destruktion, verwandt zu sein. Indem Krippenstapel, der Stechliner-Lehrer, für die Nahrung der Spinnen sorgt, ermöglicht er, dass sie die »lange[n] graue[n] Gewebe« hervorbringen (279), die sich in Dubslavs Museum wie zarte Leichentücher über alles legen und so verhindern, dass sich etwas for ever zur Geltung bringt. Allein schon die Fragilität ihrer Gewebe gehört zu den Dingen, die den Ironiker entzücken müssen. Am Ende schweben ihm diese Textilien gar als Vorbilder von Texten vor. Mit der Ahnung, dass sie reißen werden, vermitteln sie das Beste, was sein Geist sich denken mag, genügen sie der Fallibilitätspflicht (Popper), der modernes Denken einzig zu genügen hat. Heute auf jeden Fall brauchen sie ihr Wohnrecht an diesem Ort nicht mehr zu verteidigen. Das gelehrte Tun, das Fontane hier anspielungsreich sichtbar werden lässt, scheint mir eine Spielart des Dekonstruktivismus zu antizipieren, den Henning Ritter »eine Art Penelopeprogramm [...] ohne Ausblick auf ein Ende« genannt hat; eine »mit Anmut« zu vollbringende »Arbeit des Aufschubs« beruhigender Sinnfindung.32 Darum vielleicht auch das »gute Gewissen« nicht nur des Schlossherrn (280), sondern auch Fontanes, diesen Ort, wo das gelehrte Tun keine Auskünfte for ever mehr herstellen will, seinen Gästen respektive Lesern gezeigt zu haben: Hier wird das Fundament eines neuen, die Zeit nicht mehr verachtenden Denkens gelegt und ausgestellt. Ein paar wenige Dinge werden nun aber auch in diesem Museum aufbewahrt: Wetterfahnen, Mühlen, Regentraufen und ein Schlossfenster. Ich gehe hier nur auf jenes eine Ding ein, auf welches sich Dubslavs ohnehin schon schmaler Museumsbestand noch einmal reduziert, sobald Romanfiguren untereinander davon sprechen (288): auf die Wetterfahnen. Wenn der Stechliner Schlossherr Wetterfahnen sammelt, so sammelt er den einem Ironiker so lieben Beweis, dass nichts feststeht. Die Wetter-

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fahne soll, muss sich ja ganz leicht nach jedem Winde drehen. Das Kunstding Wetterfahne zeigt wie das Naturding Stechlinsee an, wo sich’s, dass sich’s bewegt. Beide bewegen sich mit dem Bewegenden und sind Provokationen für den, der Feststehendes und Ewigdauerndes reklamiert. Wo sich die Welt detranszendentalisiert hat, wo kein Außerhalb und Jenseits mehr angenommen wird, gibt es keine glaubwürdigere Indicatio mehr als die der Wetterfahne. Sie geht nicht weiter, als man kann und darf, wenn sie zeigt, woher der Wind hier und jetzt gerade weht. Von der Wetterfahne lässt sich sagen, was Rorty von der Ironikerin sagt: »Sie hat die Neigung, zu sagen, wir hätten einen Wechsel vollzogen, nicht eine Tatsache entdeckt, wenn wir eine alte Platitüde aufgeben […].«33 Sie zeigt jetzt und hier etwas, was dort und morgen schon nicht mehr gelten wird. Außer für Leute wie Ermyntrud Katzler, den Maler und Kunstprofessor Cujacius, der für Posaunen und Jüngste Gerichte schwärmt, und Generalsuperintendent Koseleger, der von Amtes wegen die Sache anders sehen muss, gibt es kein Erkennen außer diesem ephemeren und lokal bedingten, keins mehr for ever und für überall. Soll dieses Wenige uns nicht auch noch entgehen, ist Beweglichkeit erforderlich. Ihre Beweglichkeit verdankt auch die Wetterfahne, so wie der Ironiker, einer Leere:34 dem für ihre Funktionstüchtigkeit unentbehrlichen Leerraum zwischen Hülse und Stange. Füllt sich dieser leere Raum mit Rost, so sitzt sie fest und taugt nicht mehr dazu, die aktuelle Windrichtung anzuzeigen. Der barocke Mathematiker und Mechaniker Jacob Leupold hat darum auf die Konservierung dieses Leerraums größte Sorgfalt und mechanischen Scharfsinn verwandt,35 dieselbe Sorgfalt, die Fontane darauf verwandt hat, denselben Aufwand, den er in den Museumspassagen betrieben hat, um die lebensnotwendige Leere im Bilde seines Ironikers Dubslav von Stechlin sichtbar zu machen. Jenem Leerraum, um den Leupold bei der Herstellung der Wetterfahnen besorgt ist, entspricht jenes andere Vakuum, das durch den zunehmenden Widerwillen der Intellektuellen im Laufe der Neuzeit entstanden ist, »die Idee der göttlichen Offenbarung oder die Idee der Metaphysik« noch »ernst zu nehmen«.36 Ihm verdankt moderne Wahrnehmung ihre unarretierbare Beweglichkeit. Der Stechlin ist ein Roman, in dem vor allem das Geräusch des locker in seiner Halterung sitzenden Indikators, der sich unaufhörlich hin- und herdreht, vernehmlich ist (»Gehst du damit nicht zu weit« – »Sie gehen vielleicht zu weit« – »Wissen Sie? – Wir wissen es nicht«37) – »das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht«.38 Lenkt das Interesse fürs Funktionieren der Wetterfahne aber nicht ungehörigerweise vom Bildschmuck der Stechliner Wetterfahnen ab, der in einem Lebuser Bischof, einem »Heiligen oder vielleicht Anachoreten«,

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einem Derfflinger’schen oder Mörner’schen Dragoner besteht (277)? Es dürfte sich hier kaum um Hauptsachen handeln, denn die Reaktion des Grafen Barby, als ihm Armgard vom merkwürdigen Sammlerinteresse ihres künftigen Schwiegervaters berichtet, wird unverständlich, sobald man den Bildnisaspekt der Wetterfahnen betont. Sie lautet: »Aber wer Wetterfahnen sammelt, das will doch was sagen, das ist nicht bloß eine gute Seele, sondern auch eine kluge Seele, denn es ist da so was drin, wie ein Fingerknips gegen die Gesellschaft« (288). In den späten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einer konservativen Umgebung Bildnisse von preußischen Dragonern zu sammeln, kann wohl schwerlich als gesellschaftliche Zumutung verstanden werden. Eine Zumutung ist eher, das Museum, den Ort gelehrten Tuns, als Ausstellungsraum an Zelebranten mangelnder Standfestigkeit, an »Metastabilisten«39 zu verschwenden, es zur Bühne zu machen, auf welcher das Credo der Standpunktlosigkeit inszeniert wird. Wenn Lorenzen Melusine belehrt, dass die primitive Papptafel über dem Museumseingang wohl nur andeute, »daß es sich bei der ganzen Sache mehr um einen Scherz als um etwas Ernsthaftes« handle, »[e]twa wie bei Sammlung von Meerschaumpfeifen und Tabaksdosen« (274), dann verschleiert sein Wort die tiefe Harmonie zwischen der zum Scherzen verpflichtenden Geisteshaltung und den sonderbaren Exponaten dieses Museumsbesitzers. Dubslavs Exponate, anders als Meerschaumpfeifen und Tabaksdosen, vermögen zu erklären, warum sich Ernsthaftigkeit verbietet. Ernst stellt fest und hält fest. Er entspricht dem Rost in der Hülse der Wetterfahne, dessen Entstehen Leupolds mechanische Künste mit Erfolg verhindern. Wo nichts mehr feststeht, weil nichts mehr metaphysisch verankert ist, verbietet sich jede Feststellung. Mit einer kleinen Übertreibung lässt sich sagen, dass die Blechfiguren, die die Wetterfahnen schmücken, auch bloß erwähnt werden, damit sich an ihnen das Leupold’sche Prinzip des leeren Raums, dank welchem sich der Indikator leicht hin und her bewegen können soll, noch einmal am Sonderfall »Derfflinger oder Mörner Dragoner?« demonstrieren lässt. Der Meinungsstreit (wie jeder Meinungsstreit im Stechlin) soll gar nicht im Rost der sogenannten richtigen Auffassung zur Ruhe kommen.40 Es soll gar nicht mehr danach gestrebt werden, der Unentschiedenheit zu entkommen. Der Meister der Standpunktlosigkeit, die Wetterfahne, wird von Dubslav fast wie ein Hausheiliger in seinem Museum gehalten – vielleicht sogar statt eines Kruzifixes? »Solche mit’m Kreuz oben hab’ ich bei uns noch nicht gesehn«, sagt Engelke (276), freilich dabei an die Spinnen im Museum denkend. Woran Fontane hier denkt, kann Engelke nicht wissen.

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Anmerkungen 1

Peter Utz: Robert Walsers »Jakob von Gunten«. Eine »Null«-Stelle der deutschen Literatur. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 488– 512, hier S. 490.

2

Ebd., S. 492. Walser hat diese Poetik später, in seiner Prosa der Berner Zeit, nicht nur wie im Jakob von Gunten praktiziert, sondern auch explizit formuliert, am resonanzreichsten im Prosastück Der heiße Brei: »Besteht nicht Schriftstellern vielleicht vorwiegend darin, daß der Schreibende beständig um die Hauptsächlichkeit herumgeht oder -irrt, als sei es etwas Köstliches, um eine Art heißen Brei herumzugehen?« (Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. von Jochen Greven. Frankfurt am Main 1986, Bd. 19, S. 91). – Die Abstinenz von semantischer Festlegung in Jakob von Gunten wird im Folgenden nicht eigens nachgewiesen. Zu denken ist u. a. an Jakobs Bekenntnis: »Ich schwatze. Wie hasse ich all die treffenden Worte« (Bd. 11 der oben erwähnten Ausgabe, S. 50). Ferner an Jakobs Reflexion über die Lehrer und Schüler des Instituts Benjamenta, die durch Wissensvermittlung respektive Wissenskonsum die Null-Stelle mit Spezifizierung bedrohen könnten: »Man lernt hier sehr wenig« (ebd., S. 7). »Entweder sind die Lehrer unseres Institutes gar nicht vorhanden, oder sie schlafen […], oder sie scheinen ihren Beruf vergessen zu haben« (ebd., S. 58). »Man will uns vielleicht verdummen« (ebd., S. 64). »Sind wir überhaupt dumm? Wir vibrieren« (ebd., S. 92).

3

Utz 2000 (wie Anm. 1), S. 509.

4

Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hg. von Erich Trunz. Bd. 7, 10., neubearb. Aufl., München 1981, S. 539–542.

5

Adalbert Stifter: Der Nachsommmer. Hg. von Fritz Krökel und Magda Gerken. München 1949, u. a. S. 70, 74, 81. Zur Funktion der Statue vgl. Margret Walter-Schneider: Das Licht in der Finsternis. Zu Stifters »Nachsommer«. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 381–404, insbesondere S. 397. Zum Kult des Sammelns im Nachsommer vgl. Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart 1995, S. 332ff.

6

DKV 3, S. 619f. Die verbalen Exponate des Wahren in Gestalt der Vorlesungen, die Heinrich an der Universität hört (S. 623–627), sind ebenfalls in diesem Kontext zu sehen.

7

Erinnert sei nur an zwei diesbezüglich prominente Stellen seiner Korrespondenz: Am 6. November 1851 an Bernhard von Lepel: Was die Welt »Halbheit« und »Unentschiedenheit« nenne, das sollte sie »Weisheit« und »Gerechtigkeit« nennen (HFA IV/1, S. 198). Am 7. November 1893 an Georg Friedlaender: »Personen, denen irgend etwas absolut feststeht, sind keine Genossen für mich; nichts steht fest, auch nicht einmal in Moral- und Gesinnungsfragen und am wenigsten in sogenannten Thatsachen« (HFA IV/4, München 1982, S. 304).

8

HFA III/1, S. 468.

9

Der Stechlin wird zitiert nach HFA I/5, 2. Auflage, München 1980.

10

Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main 1992, S. 61.

11

Etwa Haus Hoppenrade im Kreis Gransee, ein Dreiflügelbau genau wie Haus Stechlin. Vgl. dazu Georg Piltz und Peter Garbe: Schlösser und Gärten in der Mark Branden-

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burg. Stuttgart 1987, S. 130, 146, 148, 79, 197f. – Dass in unmittelbarer Nachbarschaft von Schloss Stechlin ja die Kirche stehe und das Schloss deshalb auf eine Hauskapelle verzichten könne, ist kein Einwand. Denn auch diese Kirche findet keinen rechten Platz im Roman. Wenn Rex und Czako sie anlässlich ihres Herbstbesuches besichtigen, interessiert sich Fontane demonstrativ nicht dafür und wendet sich von den Besuchern ab, sobald sie den Kirchenraum betreten (63). Und anlässlich des Weihnachtsbesuchs von Armgard und Melusine wird auf eine Besichtigung verzichtet mit der fadenscheinigen Begründung, es sei »zu kalt« (267). Dieselbe Kälte ist aber kein Dispensgrund für den Gang zur Strudelstelle im See mit seinen »Weltbeziehungen«. 12

Wenn im 43. Kapitel die Trauerfeier für Dubslav von Stechlin erzählt wird, legt Fontane, wenn er sich der Kirche nähert, Wert auf die Feststellung: »Efeu fehlte [das Grün »for ever«]; nur Holunderbüsche, die zu grünen anfingen, dazwischen Ebereschensträucher« (375). Auch dies ein freilich eher diskretes Detranszendentalisierungs-Signal, ein Zeichen, dass jenseits von Zeit und Geschichte kein Ewiges mehr angenommen wird.

13

Richard Rorty: Philosophie und die Zukunft. Frankfurt am Main 2000, S. 14–25.

14

In Meine Kinderjahre zeigen zwei Passagen, dass der menschliche Offenbarungshunger bei Fontane die Grenzen von Raum und Zeit nicht mehr zu überwinden strebt: die Erzählung, wie Fontane als Knabe mit seinem Vater Tag für Tag am Bollwerk die »Kronprinzessin Elisabeth« erwartet, das Schiff, das die Zeitungen nach Swinemünde bringt, und die anschließende Passage der Zeitungslektüre des Knaben in einer Nische der Swinemünder-Apotheke, die an Andachtsräume altdeutscher Stiche erinnert, in welchen fromme Menschen mit dem Heiligen Geist in Verbindung treten. Auch hier findet, wie in der Martins-le-Grand-Passage, eine Entkernung sakraler Gebilde statt, und neuer Geist fließt ein in das leere Gehäuse (HFA III/4, S. 109f.).

15

Die Anwältin der richtigen, weil wahren Worte im Stechlin, die Oberförsterin Katzler, geb. Prinzessin Ippe-Büchsenstein, wird stark ironisiert. Vgl. S. 328f.: »[A]lle wahre Hilfe fließt aus dem Wort. Aber freilich, das richtige Wort wird nicht überall gesprochen«, sagt sie im Bemühen, den kranken Schlossherrn zum Ewiggültigen zu bekehren. Worauf er entgegnet: »[W]as sind die richtigen Worte? Wo sind sie?« und damit zu verstehen gibt, dass hier kein Raum mehr für sie ist.

16

Die Sensibilität der Stechlin-Gemeinde für sein Verfallsdatum, das jedes Wort unvermeidlich erreichen wird, äußert sich in den refrainartig den Roman durchziehenden Wendungen: »Sagt man noch […]? Kaum, Papa.« (65). »[I]ch glaube nämlich, man nennt es jetzt alles ganz anders« (212). »Immer hieß es: ›es steht wissenschaftlich fest‹. Und das ist jetzt das Höchste. Früher sagte man: ›es steht in den Akten‹« (266). »Früher würd’ ich gesagt haben […], jetzt sagt man […]« (314). Mit Rorty ließe sich feststellen, dass sich in solchen Passagen das Gewicht des Schreibens verlagere auf die »›materialen‹ und ›akzidentiellen‹ Gestalten der Schriftzeichen [marks] und Geräusche, die Menschen machen, um zu bekommen, was sie brauchen […] – auf das, was bis dato als marginal behandelt wurde« (Rorty 1992, wie Anm. 10, S. 216).

17

Diese literarische Modellierung der Martins-le-Grand-Episode, die bewirkt, dass der moderne Kommunikationsbetrieb als Säkularisat eines vormals Sakralen erscheint, fehlt in Die große Post, der Vorstufe unserer Stechlin-Passage (vgl. HFA III/3/I, S. 540– 543). Fontane entschließt sich offenbar erst im Stechlin dazu, wo die Distanzierung vom For-ever-Prinzip Grundzug wird, und eliminiert nun die störenden Theater-

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Margret Walter-Schneider und Spielkasino-Assoziationen, die die Atmosphäre des älteren Londoner-Feuilletons noch bestimmen.

18

Dass auch hier schon Dekonstruktion wirksam ist, zeigt Begemann 1995 (wie Anm. 5), u. a. S. 321 und 400.

19

Horst Bredekamp: Darwins Korallen. Berlin 2005, S. 56.

20

Ebd.

21

Ein »große[r], wüste[r] Raum« wird es genannt (279), und es ist vom »viele[n] Staub, der oben liegt«, die Rede (276).

22

Zu den Wunderkammern vgl. Werner Spies: In der Herzkammer des Surrealismus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Juni 2002, S. 49. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 2000. Der »Pommersche Schrank«, von dem der Kunsthistoriker Julius von Schlosser spricht in Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Braunschweig 1978 (2. Aufl.), S. 188–190, scheint in Miniaturformat die Hochblüte dessen zu repräsentieren, was im Stechliner-Museum nahezu vollständig liquidiert ist.

23

HFA III/1, S. 468.

24

Zur Travestie vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main 1993, S. 82 der hinweist auf das displacement aus der Sphäre des Gravitätischen in die Sphäre des »Familiäre[n], ja Vulgäre[n]«, in dem Travestie besteht.

25

Goethe (wie Anm. 4), S. 539.

26

Später lässt er sogar noch vernehmen: »Alles Sammeln ist überhaupt verrückt, und wenn Woldemar sich nich mehr drum kümmert, so is es eigentlich bloß Wiederherstellung von Sinn und Verstand« (357).

27

Zur Entstehung des Museums, allerdings ausschließlich des Kunstmuseums, vgl. Hans Belting: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst. München 1998. Aus den Seiten 71, 72, 74 wird oben zitiert, um den Hof aus Konnotativem anzudeuten, der »Museum« umgibt.

28

Ich setze den Begriff des Ironikers so ein, wie ihn Richard Rorty in Kontingenz, Ironie und Solidarität definiert: »›Ironikerin‹ werde ich eine Person nennen, die drei Bedingungen erfüllt: (1) sie hegt radikale und unaufhörliche Zweifel an dem abschließenden Vokabular, das sie gerade benutzt, weil sie schon durch andere Vokabulare beeindruckt war, Vokabulare, die Menschen oder Bücher, denen sie begegnet ist, für endgültig nahmen; [...] (3) wenn sie philosophische Überlegungen zu ihrer Lage anstellt, meint sie nicht, ihr Vokabular sei der Realität näher als andere oder habe Kontakt zu einer Macht außerhalb ihrer selbst.« Sie ist »immer im Bewusstsein der Kontingenz und Hinfälligkeit ihrer abschließenden Vokabulare, also ihres eigenen Selbst« (Rorty 1992, wie Anm. 10, S. 127f.).

29

»Sie gehen vielleicht zu weit. Wissen Sie [...]? [...] Wir wissen es nicht« (134). »Gehen Sie darin nicht zu weit?« (153). »Gehst du darin nicht zu weit [...]?« (83). Kehrreimartig ziehen sich solche Zweifelsäußerungen allem Gewissen gegenüber durch den ganzen Stechlin.

30

»Versteht sich, lieber Gundermann. Was ich da gesagt habe ... Wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, wäre es ebenso richtig« (27).

31

Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Zehnten Bandes erste Abteilung. Leipzig 1905, Sp. 2512.

Über das Moderne in Fontanes »Stechlin«

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32

Henning Ritter: Jacques Derrida. Anmut und Würde. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Oktober 2004, S. 29.

33

Rorty 1992 (wie Anm. 10), S. 134.

34

Diese Leere könnte man auch Orientierungslosigkeit nennen, die sich Melusine in einem Stechlin-Entwurf als persönliche Eigenschaft zuschreibt. Lorenzen bezeichnet daraufhin Orientierungslosigkeit als »die schmeichelhafteste von den Gaben, die sich überhaupt nennen lassen«. Zitiert nach dem Kapitel »Überlieferung« der StechlinNeuedition in GBA, Bd. 17, hg. von Klaus-Peter Möller. Berlin 2001, S. 542.

35

Vgl. Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universallexikon. Photomechanischer Nachdruck. Bd. 55. Graz 1962, Sp. 1050f.

36

Richard Rorty: Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys. Hg. von Thomas Schäfer et al. Frankfurt am Main 2001, S. 289.

37

Vgl. Anm. 29.

38

Fontane an Adolf Hoffmann, Mai/Juni 1897, HFA IV/4, S. 650.

39

Rorty 1992 (wie Anm. 10), S. 128: Verzicht auf »abschließende Vokabulare« kann die Verzicht Leistenden »in die Position bringen, die Sartre ›metastabil‹ nennt«.

40

Hans Blumenberg hat dem »small talk« in Fontanes Roman die Kraft attestiert, die Ankunft der Sprache im Endgültigen zu verhindern. Fontanes »small talk« versteht er als den »Vollbesitz der Sprache verbunden mit der trainierten Fähigkeit, sie nichts bedeuten zu lassen« (ders.: Lebensgedichte. In: Akzente, 38. Jahrgang, 1991, S. 7–28, hier S. 17). Der »small talk«, so verstanden, entspricht Leupolds mechanischer Vorrichtung, die verhindert, dass sich in der Hülse der Windfahne jener Rost ansetzt, der sie um ihre Beweglichkeit bringt. An die Nähe zu Jakob von Guntens Bekenntnis: »Ich schwatze. Wie hasse ich all die treffenden Worte«, darf bei dieser Gelegenheit noch einmal erinnert werden (vgl. Anm. 2).

»Tre giorni son che Nina ...« Zu einem rätselhaften Zitat im 45. Kapitel des »Stechlin« Karl Pestalozzi I Im 45. Kapitel von Fontanes Roman Der Stechlin, es ist das vorletzte, wird erzählt, wie Armgard und Woldemar, frisch verheiratet, am Ziel ihrer Hochzeitsreise nach Italien auf Capri ankommen. Wegen Armgards Ermüdung verzichten sie auf den Aufstieg nach Anacapri und bleiben auf mittlerer Höhe, von wo aus sich ihnen die folgende PostkartenAussicht über den Golf von Neapel darbietet: Von Sorrent kamen Fischerboote herüber, die Fischer sangen, und der Himmel war klar und blau; nur drüben aus dem Kegel des Vesuv stieg ein dünner Rauch auf, und von Zeit zu Zeit war es, als vernähme man ein dumpfes Rollen und Grollen. »Hörst du’s ?« fragte Armgard. »Gewiß. Und ich weiß auch, daß man einen Ausbruch erwartet. Vielleicht erleben wir’s noch.« »Das wäre herrlich.« »Und dabei«, fuhr Woldemar fort, »komm ich von der eitlen Vorstellung nicht los, daß, wenn’s da drüben ernstlich anfängt, unser Stechlin mittut, wenn auch bescheiden. Es ist doch eine vornehme Verwandtschaft.« Armgard nickte, und von der Uferstelle her, wo die Sorrenter Fischer eben anlegten, klang es herauf: »Tre giorni son che Nina, che Nina, in letto se ne sta...« 1

Hier beginnen die Probleme. Diese – wie sich zeigen wird richtige – Version des italienischen Liedzitats findet sich nämlich einzig in der hier zitierten Fontane-Ausgabe von Kurt Schreinert (NFA). In allen anderen lautet die zweite Zeile »in letto ne se sta ...«. So vorangestellt, wird »ne« von den Editoren nicht als umgangssprachliche Bekräftigungspartikel verstanden, sondern fälschlicherweise als Negation, wie die Übersetzungen im Anhang zeigen: Einerseits »Drei Tage sind es her, daß Nina, daß Nina nicht in ihrem Bette war« (NFA) respektive »in ihrem Bette nicht war« (HFA). Die andere Tradition, es ist die Mehrheit, versucht offen-

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Abb. 1: Theodor Fontane: Der Stechlin. 45. Kapitel. Manuskriptseite Bl. 3

»Tre giorni son che Nina …«

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sichtlich zu berücksichtigen, dass sich das zuhörende Paar auf der Hochzeitsreise befindet, wenn sie übersetzt: »Drei Tage sind es her, daß Nina, daß Nina nicht bei mir lag« (AFA).2 Einzig Klaus-Peter Möller in den Anmerkungen der GBA übersetzt richtig: »Drei Tage sind es, daß Nina in ihrem Bett geblieben ist«, obwohl auch im edierten Text der GBA das korrupte »ne se sta« steht. Ein erster Blick auf diese Stelle ergibt somit in den verschiedenen Stechlin-Ausgaben das verwirrende Bild von drei Versionen von Text und Übersetzung: a) Stillschweigend berichtigter italienischer Text, aber falsche Übersetzung in der Anmerkung (NFA) b) Stillschweigend beibehaltener falscher italienischer Text, aber richtige Übersetzung in der Anmerkung (GBA) c) Stillschweigend beibehaltener falscher italienischer Text und unterschiedlich falsche Übersetzung in der Anmerkung (HFA, AFA)3 Die Kombination von sprachlich korrektem respektive ausdrücklich berichtigtem italienischem Text und richtiger deutscher Übersetzung in den Anmerkungen steht noch aus.4 Wie konnte es zu dieser textphilologisch misslichen Situation kommen? Fontanes Handschrift des Stechlin hat sich erhalten. Man erkennt trotz der schweren Lesbarkeit der wie immer mit dem Federkiel geschriebenen Schriftzüge:5 Fontane hat das italienische Zitat noch nicht eingefügt, er hat dafür Platz offen gelassen; offenbar sollte es später eingesetzt werden (Abb. 1). Die Handschrift hilft somit nicht weiter. Das Druckmanuskript, das wie üblich seine Frau Emilie, wenn auch lustlos und resigniert, wie man weiß,6 herstellte, hat sich nicht erhalten. So wissen wir nicht, wer was in den freigelassenen Raum hineingeschrieben hat, sie oder Fontane selbst; denn auch andere redaktionelle Änderungen, so etwa die Bezeichnung der Fischer als »Sorrenter«, kamen erst zwischen Handschrift und Erstdruck hinzu. In Letzterem, in der illustrierten Wochenschrift Über Land und Meer (Oktober 1897 bis März 1898), steht nun »ne se sta« und ebenfalls in der ersten Buchausgabe von 1898. Zwischen Handschrift und Erstdruck also muss es zu dieser Textverderbnis gekommen sein. Da jedoch in der Editionsphilologie heute die eiserne Doktrin herrscht, der Erstdruck sei sakrosankt, auch wo er offensichtliche Fehler hat, und da alle Stechlin-Ausgaben erklärtermaßen den Text des Erstdrucks bzw. der Erstausgabe zugrunde legen, erbte sich die Korruptele von Ausgabe zu Ausgabe fort. Wie gesagt, stellte einzig NFA die korrekte italienische Form her, aber leider stillschweigend und, wie die falsche Übersetzung in den Anmerkungen vermuten lässt, ohne sich des Bedeutungsunterschieds zwischen korrigiertem italienischem Text und deutscher Version bewusst zu sein.

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II Das Problem wurde offensichtlich auch deshalb nicht als solches erkannt, weil sich, mit einer Ausnahme, niemand dafür interessierte, woher denn genau die beiden italienischen Zeilen stammen. Die Herausgeber begnügen sich fast ausnahmslos mit der pauschalen, wie sich zeigen wird, ebenfalls unrichtigen Feststellung: »italienisches Volkslied« bzw. »altes italienisches Volkslied«. Wiederum ist Kurt Schreinert in NFA etwas ausführlicher: »Altes italienisches Volkslied, dessen Melodie im 18. Jahrhundert in die Kunstmusik einging.«7 Genaueres sagt er nicht. Einzig Gotthard Erler ist bereits der im Folgenden erwähnten Herkunft des Liedes auf die Spur gekommen.8 – Heute liefert uns die Suchmaschine »Google« mit wenigen Maus-Klicks die Information, dass es sich um ein Kunstlied handelt, das lange Giovanni Battista Pergolesi (1710–1736) zugeschrieben wurde. Unter seinem Namen steht es in seiner Gesamtausgabe, gehörte es noch im 20. Jahrhundert zum Repertoire vieler großer italienischer Sängerinnen und Sänger und ist es noch heute im Handel.9 Weitere Nachforschungen haben ergeben, dass nach einer längeren musikhistorischen Kontroverse heute nicht mehr Pergolesi als Komponist von »Tre giorni son che Nina« angenommen wird, sondern sein Zeitgenosse Vincenzo Legrenzio Ciampi (1719–1762), der in Italien und zeitweise auch in England tätig war. Von ihm heißt es im neuen MGG: »Am Kings Theater ließ er neben anderm die Oper ›Gli tre cicisbei ridicoli‹ von N(atale) Resta aufführen, in die er die berühmte Siciliana ›Tre giorni son che Nina‹ einfügte.«10 Es handelt sich dabei also um eine Einlage Ciampis in eine fremde Oper, eine sogenannte »Kuckucksarie«,11 die später zum volkstümlichen Schlager wurde. Wie und weshalb es zu dieser Popularität kam, ließ sich nicht eruieren. So nützlich »Google« zur ersten Identifikation der beiden Liedzeilen aus dem Stechlin ist, die Suchmaschine lässt uns im Stich, wenn wir wissen wollen, woher Theodor Fontane das Lied »Tre giorni son che Nina« kennen konnte. Es steht, in deutscher Übersetzung und im Original, im Italienischen Liederbuch, das Paul Heyse 1860 im Berliner Verlag von Wilhelm Hertz herausgab (Abb. 2 und 3),12 dem später übrigens Hugo Wolf die Texte für seinen gleichnamigen Liedzyklus (1890/91) entnommen hat. Das war vermutlich Fontanes Quelle. Fontane, dessen Freundschaft mit Heyse sein Leben lang dauerte, erhielt das Italienische Liederbuch bald nach Erscheinen in Heyses Auftrag vom Verleger Hertz zugeschickt13 und veröffentlichte am 20. November 1860 in der Kreuzzeitung eine als vorläufige Anzeige gedachte Besprechung.14 Unter den Beispielen, die er darin zitiert, findet sich »Tre giorni son che Nina« allerdings nicht.

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Heyse hat seinem Italienischen Liederbuch eine ausführliche Vorrede vorangestellt, die an Jacob Burckhardt adressiert ist. Darin erinnert er daran, wie Burckhardt und er seinerzeit in Berlin mit dem Kunsthistoriker Franz Kugler, seinem künftigen Schwiegervater, »in jenem wohlbekannten Zimmer des kleinen Hauses am Ende der Friedrichstraße« diese Lieder gesungen hätten: »Noch klingt es mir im Ohr, wie Dein Liebling, die Luvisella, dem berühmten Te voglio bene assai fast den Rang ablief und die zierliche Serenade Buona notte amata bene gegen Pergoleses muthwilliges Morgenständchen [das ist unser Lied] einen schweren Stand hatte ...«.15 Burckhardt bedankte sich am 16. November 1860 ausführlich bei Heyse. Zwar zeigte er sich leicht geniert: »Ach, Paul welchem Spott setzest Du mich aus mit dem Mythos von meinem Gesang! Bei unsern moquanten Leuten, die mich nie haben singen hören, ausgenommen, wenn alle Welt singt ...«, sah aber auch, dass Heyses Sammlung seine im gleichen Jahr erschienene Kultur der Renaissance in Italien in wertvoller Weise ergänzte: »Mir ist, ich müsste jetzt viele Stellen meines Buches ausmerzen und umschreiben; ich muss blind gewesen sein, um die ganz spezielle Verschmelzung von Geist und Leidenschaft nirgends in meinen bisherigen Studien so zu erkennen wie diese Liedersammlung sie handgreiflich offenbart.«16 Heyses Italienisches Liederbuch speiste sich offensichtlich nicht nur aus eigenen Italienerfahrungen, sondern auch aus dem im Hause Kugler gesungenen Repertoire. »Handschriftlich bei F. Kugler« hat Heyse als Quelle des Morgenständchens notiert, was wohl der Angabe zum übernächsten Lied »In Kugler’s handschriftlichem Volksliederbuch« entspricht.17 Diesem konnte übrigens auch Fontane begegnet sein, der, wie er in Von Zwanzig bis Dreißig erzählt, etwas später als Burckhardt auch dort verkehrte und von Kuglers Sangesfreude beeindruckt war.18 Heyse gibt im Italienischen Liederbuch Pergolesis sogenanntes Morgenständchen im Anhang im italienischen Original wieder, samt der Notierung der Singstimme in c-moll: 1. Tre giorni son che Nina, che Nina In letto se ne sta, in letto se ne sta. 2. Il sonno l’assassina, l’assassina, svegliatela per pietà, svegliatela per pietà.

Auf jede Strophe folgt als Refrain: E timpani, cimbali, chitari Svegliate mia Ninetta, Svegliate mia Ninetta, Acciò non dorma più,

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Abb. 2: Tre giorni son che Nina. In: Paul Heyse: Italienisches Liederbuch. Berlin 1860, S. 279

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Abb. 3: Tre giorni son che Nina. In: Paul Heyse: Italienisches Liederbuch. Berlin 1860, S. 280

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Acciò non dorma più! Svegliate mia Ninetta, Ninetta Accio non dorma più, Ninetta, Ninetta, Acciò non dorma più! Svegliatela per pietà Svegliatela per pietà!19

Heyses Übersetzung unter dem Titel Morgenständchen (nach Pergolese) lautet: Drei Tage schon im Bette, Liegt Nina frisch und roth. Erweckt sie um die Wette, Sie schläft sich sonst zu Tod. Mit Pauken- und Cymbel- und Citherklang Erweckt mir doch Ninetta, O helft mir aus der Noth! Ninetta, Ninetta! Sie schläft sich sonst zu Tod.20

Indem Fontane im Stechlin dieses Lied im Original anzitiert, lässt er einen Hauch von Italianità aufkommen, und zwar einen, von dem er annehmen konnte, dass er seiner deutschen Leserschaft, die für Italien schwärmte, vertraut war. Darauf deuten auch die auslaufenden Punkte. Das italienische Zitat kann auch als versteckter Gruß an Paul Heyse in München gelten. Ein Besuch Heyses bei Fontane, während dieser am Abschluss des Stechlin arbeitete, war nicht zustande gekommen.21 Bei dieser Stechlin-Stelle an Heyse zu denken, erlaubt auch der scheinbar geringfügige Umstand, dass die Fischerboote von Sorrent herüberkommen und das Lied von Sorrenter Fischern22 gesungen wird. Heyse hatte sich länger in Sorrent aufgehalten und 1853 Idyllen von Sorrent veröffentlicht, auch ein Gedicht Lied von Sorrent. Im Berliner Literatenzirkel »Rütli«, in dem Fontane und Heyse verkehrten, war Heyse deshalb so mit Sorrent assoziiert worden wie Storm mit Husum, gemäß einem Gelegenheitsgedicht Fontanes von 1854 auf den Freundeskreis des »Rütli«, in dem eine Strophe heißt: So zogen sie aus in guter Ruh, – hurra, Da stießen noch zwei Gesellen dazu, – Der eine von Husum, der zweit von Sorrent Und stellten ein prächtiges Kontingent ... 23

Der versteckte Gruß an den Freund Paul Heyse im Stechlin wäre Fontanes letzter vor seinem Tod gewesen. Heyse scheint ihn verstanden zu haben. Als seine Antwort darauf kann gelten, dass er in seinem sieben Jahre nach Fontanes Tod erschienenen Roman Crone Stäudlin (1905, 2 Auflagen), der heute zu Recht ver-

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schollen und vergessen ist, obwohl Heyse fünf Jahre darauf den Nobelpreis erhielt, im 20. Kapitel dasselbe Zitat verwendet und kommentiert.24 Die Titelheldin Crone Stäudlin, halb Italienerin und halb Schweizerin – sie redet ihren Vater mit »Aetti« an und er sie mit »Meitli« –, kann wundervoll Geige spielen. Sie lässt sich dafür gewinnen, an einem Wohltätigkeitskonzert aufzutreten, was so beschrieben wird: Mit einem kaum sichtbaren Neigen des Kopfes grüßte sie das Publikum und begann dann die Geige zu stimmen nach dem Ton, den der Vater ihr angab. Dann setzte sie sie gegen die Schulter und that den ersten Strich des reizenden alten Ständchens von Pergolese: Tre giorni son che Nina Al letto se ne sta. Während andere Sänger und Spieler das kleine Stück meist tragisch aufzufassen pflegen, als ob die Musik eine Todte aufwecken sollte, die schon drei Tage lang regungslos auf ihrem Lager ruht, hatte sie begriffen, daß sichs um eine schalkhafte Aufforderung des Liebenden handelt, der Guitarren, Cymbeln und Pauken auffordert, sich kräftig hören zu lassen, um das Mädchen endlich herauszulocken, das sich sonst zu Tode schlafen möchte. Die Munterkeit dieser Serenade kündigte sie schon durch das Tempo ihres Spieles an und durch einen süßen Uebermuth des Vortrags, der natürlich am Verständnis dieses Publikums verloren ging.25

Diese Stelle ist auch deshalb besonders kostbar, weil sie die längst fällige Frage aufwirft, wie denn eigentlich das kleine italienische Lied zu verstehen sei. Der Erzähler in Heyses spätem Roman unterstellt Crone Stäudlins Spiel die Auffassung, es handle sich um ein schalkhaftes Ständchen. Darauf tendiert bereits Heyses deutsche Übersetzung im Italienischen Liederbuch. Die in seinem Roman abgewehrte gegenteilige Deutung, Nina liege schon drei Tage im Bett, weil sie tot sei, alle Instrumente vermöchten sie nicht wieder aufzuwecken, könnte, wie noch zu zeigen sein wird, auf die Verwendung des Liedes in Fontanes Stechlin gemünzt sein. Das kurze, harmlose Liedchen rückt damit plötzlich ins Zwielicht, wird zweideutig: Handelt es sich um einen Klagegesang oder um ein Morgenständchen? Ist Nina eine so extreme Langschläferin, dass ihr Liebhaber ungeduldig wird, oder ist sie tatsächlich gestorben? Geht es um den Schlaf oder um dessen Bruder, den Tod?

III Es war offensichtlich gerade diese Ambivalenz in »Tre giorni son che Nina ...«, die auch das Interesse C. F. Meyers auf sich zog. 1889, neun Jahre vor dem Erstdruck des Stechlin, erschien in der ihm gewidmeten

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Oktober-Nummer der Zeitschrift Deutsche Dichtung erstmals sein Gedicht Pergoleses Ständchen, das er später in die vorletzte, »Genie« betitelte Abteilung seiner Gedichtsammlung aufnahm. C. F. Meyers Gedicht Pergoleses Ständchen lautet: Nina, laß den Schlummer fahren! Bist du denn gestorben, ach? Bist du tot in jungen Jahren? Horch, die Liebe ruft! Erwach! Aus dem Schlummer sie zu wecken, Der vor Tod und Sterben graut, Mischt der Meister einen Schrecken In den süßen Liebeslaut. Willst du schweigen! Hauchts im Düster, Ich bin blühend, bin gesund! Küsse mich, sagt das Geflüster, Fühle meinen frischen Mund! Und der Wohllaut des Gesanges Ward von Stadt und Land belobt, Und die Macht des Liebeszwanges Ward vom jungen Volk erprobt: Nina laß den Schlummer fahren! Bist du denn gestorben, ach? Bist du tot in jungen Jahren? Horch, die Liebe ruft! Erwach! Da geschahs, daß eine schwarze Wolke über Napel glitt Und der Tod sich eine volle Garbe blühnder Jugend schnitt. Sant’Agnese flammt von Kerzen, Nina schlummert am Altar, Pergolese spielt das Requiem Auf der Orgel wunderbar. In das Hallen der Posaunen, In das Rufen, in das Drohn, In das Zürnen mischt der Meister Einen süßen Liebeston: Nina, laß den Schlummer fahren! Bist du denn gestorben, ach? Bist du tot in jungen Jahren? Horch, die Liebe ruft! Erwach! 26

Die in Heyses Roman Crone Stäudlin aufgeworfene Frage, ob es sich bei diesem Lied um ein Ständchen oder eine Totenklage handle, wird in

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C. F. Meyers Gedicht so beantwortet, dass es für beides genommen wird. Zunächst ist »Nina, laß den Schlummer fahren!« eine Liebesaufforderung, auf die die Angesprochene verschmitzt und schalkhaft reagiert, dann aber, nach dem Tod des Mädchens im Aschenregen des Vesuv, macht Pergolesi daraus im Requiem für Nina eine Totenklage. Das entspricht ganz Meyers dichterischem Lieblingsthema, der Engführung von Liebe und Tod, zu der auch viele andere seiner Gedichte tendieren.27 Tatsächlich scheint allein aufgrund des italienischen Textes die Frage, ob es sich bei »Tre giorni son che Nina« um ein neckisches Liebeslied oder um eine Totenklage handelt, nicht eindeutig entschieden werden zu können. Musikalisch scheint es eher eine Totenklage zu sein; denn in der Musik des 18. Jahrhunderts sei es undenkbar, dass ein Liebeslied in eine Moll-Tonart, gar in c-moll, gesetzt werde wie in Heyses Italienischem Liederbuch.28

IV Von Meyers Gedicht Pergoleses Ständchen her ergibt sich nun auch ein intertextueller Bezug zurück zur fraglichen Stechlin-Stelle. Auch an dieser wird ja, wie im zweiten Teil von Meyers Gedicht, »Tre giorni son che Nina« mit einem, wenn auch nur als bevorstehend erwogenen, Ausbruch des Vesuv in Verbindung gebracht. Das verstärkt die Vermutung, zwar sei es das frisch verheiratete, sich in Liebe zugetane Paar Armgard und Woldemar, das das Lied der Sorrenter Fischer höre, aber es könnte zugleich etwas mit dem Tod zu tun haben. Damit kommt endlich das eigentliche Rätsel dieser Stelle in den Blick, die Frage nämlich, welche Bedeutung denn dem Zitat »Tre giorni son che Nina, che Nina/In letto se ne sta ...« im vorletzten Kapitel von Fontanes Stechlin zukomme. Dieses Rätsel ergibt sich nicht aus dem historischen Schwund einstmals geläufiger Text- beziehungsweise Verstehensvoraussetzungen, sondern aus dem Roman selbst. Wer beim Lesen des Stechlin so weit gekommen ist, dem hat sich längst die Erfahrung aufgedrängt, die die intensive Fontane-Leserin Renate Böschenstein-Schäfer in ihrem reichen Aufsatz zu Fontanes Namengebung treffend so formuliert hat: »Die genaue Lektüre hat in den letzten Jahren immer mehr gezeigt, wie komplex jeder Fontanetext beschaffen ist, wie der manifeste Text durch Subtexte ergänzt wird, in denen – zumindest in den späteren Romanen – kein Detail mehr ohne Bedeutung für das Ganze ist.«29 Im Aufspüren und Aufdecken solch unausgesprochener Tiefenschichten war Renate Böschenstein Meisterin, wie ihre Fontane-Aufsätze zeigen, die kürzlich (postum) erstmals ge-

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sammelt erschienen sind. Unter »Subtexten« werden von ihr verborgene Sinnschichten verstanden, die jenseits dessen liegen, was ausdrücklich dasteht. Rezeptionsästhetisch gewendet heißt das, dass Fontanes späte Romane, und vor allem der Stechlin, in hohem Maße mit der kombinierenden Mitarbeit des Lesers / der Leserin rechnen, das heißt, dass der Autor eine solche Mitarbeit, mit Umberto Eco gesprochen, »reguliert und stimuliert«.30 Diese Mitarbeit besteht einerseits darin, Hinweise auf unterschwellige Verbindungen innerhalb des Romans zu erkennen und auszugestalten. Andrerseits geht es darum, vom Erzählten beziehungsweise Ergänzten aus Verbindungen zur zeitgenössischen Wirklichkeit und allenfalls auch zur eigenen der Lesenden herzustellen. Ob solches ergänzende Lesen nicht überhaupt für das realistische Erzählen allgemein gilt, sei hier nur als Frage gestellt. Was also könnte die subtextuelle Bedeutung des Zitats »Tre giorni son che Nina ...« sein, an dieser Stelle, für das Ganze des Romans und für den Zeitbezug? Dazu soll im Folgenden ein Vorschlag gemacht werden. Der Amsterdamer Germanist Herman Meyer hat seinerzeit in seinem anregenden Buch Das Zitat in der Erzählkunst 31 auch Fontane ein Kapitel gewidmet, speziell L’Adultera und dem Stechlin. Darin kommt er zu folgendem Ergebnis: »In noch ausschließlicherem Sinne als in Fontanes erstem Gesellschaftsroman geht die Bedeutung des Zitats in seinem spätesten Roman völlig in seiner Funktion als Gesprächselement auf.«32 Das ist zwar insgesamt einleuchtend, trifft aber gerade auf unser Liedzitat nicht zu. Woldemar und Armgard scheinen es zwar zu hören, gehen aber mit keinem Wort darauf ein. Sein Adressat ist nicht das junge Paar. Fontanes knappes Zitat rechnete offensichtlich damit, dass die Leser des Stechlin »Tre giorni son che Nina ...« erkannten. Tatsächlich haben uns die Recherchen nach seiner Herkunft und Verbreitung zu vielen prominenten Namen des 19. Jahrhunderts geführt.33 So kann man die Hypothese wagen, das Lied sei fester Bestandteil der Belesenheit, des literarischen Bildungswissens, nicht nur der Genannten, sondern einer breiten zeitgenössischen bildungsbürgerlichen Leserschaft gewesen, mit dem Terminus von Umberto Eco gesprochen, Teil ihrer »Enzyklopädie«. Als »Enzyklopädie« bezeichnet Eco das »Destillat anderer Texte«,34 das der Leser mitbringt, wenn er einen für ihn neuen Text liest, und das der Text im Leser abruft, um von ihm verstanden zu werden. Das italienische Liedzitat ließ somit eine Gemeinschaft zwischen Fontanes Roman und der zeitgenössischen italienbegeisterten Leserschaft entstehen, über die Köpfe der Romanfiguren Armgard und Woldemar hinweg. Die früher erwogene Hommage an Paul Heyse mit der Erwähnung von Sorrent wäre davon ebenfalls ein Teil.

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Nun ertönt dieses Lied im Stechlin in einem auffallenden Erzählkontext: Aus dem Vesuv steigt Rauch auf, es macht den Eindruck, als stehe, wie Armgard naiverweise hofft, ein Ausbruch bevor. Woldemar ruft den Stechlin-Mythos in Erinnerung, wonach eine unterschwellige Verbindung zwischen dem Stechlinsee und weit entfernten Vulkanausbrüchen wie diesem bestehe. Damit wird ein Bogen geschlagen zurück zur ersten Seite des Romans, wo es vom Stechlinsee heißt: »Alles still hier. Und doch, von Zeit zu Zeit wird es an eben dieser Stelle lebendig. Das ist, wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt oder gar der Aschenregen der hawaiischen Vulkane bis weit auf die Südsee hinausgetrieben wird. Dann regt sich’s auch hier, und ein Wasserstrahl springt auf und sinkt wieder in die Tiefe.«35 Der Anklang an diesen Anfang ist an unserer Stelle teilweise wörtlich: »... von Zeit zu Zeit war es ... Rollen und Grollen.«36 Offensichtlich ist die unterschwellige vulkanische Verbindung realiter und sprachlich aktiv. Doch was ist es, das sie dazu veranlasst? Eine Antwort ergibt sich aus dem Mehrwissen, das wir als Leserinnen und Leser den beiden Romanfiguren voraus haben. In den beiden vorangegangenen Kapiteln wird nämlich ausführlich erzählt, dass zu Hause der alte Dubslav von Stechlin gestorben und in der Familiengruft beigesetzt worden ist. Das lässt uns die Aktivität des Vesuv als alarmierende Mitteilung davon an das Hochzeitspaar deuten, eben im Sinne des Stechlin-Mythos, nur dass der unterschwellige Zusammenhang diesmal in umgekehrter Richtung wirkt, vom kleinen Stechlin zum großen Vesuv. Und es bleibt nicht bei dessen Rauchzeichen. In unseren beiden Liedzeilen »Tre giorni son che Nina, che Nina,/In letto se ne sta ...« wird die via Vesuv übermittelte wortlose Botschaft vom Tod des alten Stechlin verbalisiert, wenn auch doppelt verschlüsselt, einerseits in italienischer Sprache, und andrerseits ist statt von Dubslav von Nina die Rede. Von den beiden erwogenen Verstehensmöglichkeiten des Liedes ist damit die als Totenklage aktualisiert. So gesehen passen Botschaft und Realität exakt zueinander: »Tre giorni son che Nina in letto se ne sta ...«. Seit drei Tagen – von Mittwoch bis Samstag – liegt nämlich der tote Dubslav schon zu Hause aufgebahrt. Die in der nicht mehr zitierten Fortsetzung aufgerufenen »timpani, cimbali, chitari« entsprechen der »Militärmusik«, die bei Dubslavs Beerdigung spielt. Der Text regt uns somit an zu kombinieren, dass Vesuvausbruch und »Tre giorni son che Nina ...« zusammen dem Paar den Tod des Vaters nach Capri melden wollen. Doch – tragische Ironie – anders als wir Leser und Leserinnen können Woldemar und Armgard die ihnen so übermittelte Todesnachricht nicht decodieren. Das Lied verhallt unkommentiert. Erst am folgenden Tag erreicht sie dann Melusines »Brief mit der Todesanzeige des Alten«.37 Doch stel-

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len sie auch jetzt keinen Zusammenhang mit Vesuvausbruch und Lied her. Was aber kann der Sinn dieser merkwürdigen Verständigung des Textes mit den Lesenden über die Köpfe der beiden Romanfiguren hinweg sein? Kurz vorher ist im Roman auffallend viel von Briefen die Rede: Von Rom aus hat Armgard ihrer Familie nach Berlin geschrieben, sie reisten nun südwärts und seien fortan für acht Tage postalisch nicht erreichbar, erwarteten aber dann in Capri einen Brief von Melusine. Wie Armgards Brief in Berlin bei Barbys ankommt, ist dort gleichzeitig ein zweiter eingetroffen mit der Anzeige, der alte Dubslav sei am Tag zuvor gestorben. Man überlegt noch, das Paar in Italien telegraphisch zu benachrichtigen, unterlässt es dann aber über den Vorbereitungen der Fahrt zu Dubslavs Begräbnis. In Capri angekommen, ist Armgard darüber leicht verstimmt, keinen Brief von Melusine vorzufinden. Er trifft wie gesagt »mit der Todesanzeige« erst am andern Tag ein. Das so auffällig hervorgehobene Aussetzen der postalischen Kommunikation zwischen dem jungen Paar und zu Hause just im entscheidenden Moment von Dubslavs Tod bekommt an dieser Stelle des Romans offensichtlich die Funktion, stattdessen das archaische, geheimnisvoll-unterirdische Meldewesen in Aktion treten zu lassen, das übrigens an früherer Stelle von Woldemars Freund Rex, wenn auch im Scherz, einmal als »telefonieren«38 bezeichnet wird. Es stehen hier somit zwei Telekommunikationsmedien neben- beziehungsweise gegeneinander. Zum einen das archaisch-mythische, geheimnisvoll-unterirdische, vulkanische und das damals moderne technische Meldewesen per Brief und Telegramm. Mit dem Eintreffen eines Telegramms beginnt übrigens die Romanhandlung, was den alten Dubslav zur Bemerkung veranlasst: »Ich kann Telegramms nicht leiden. Immer is einer dot, oder es kommt wer, der besser zu Hause geblieben wäre.«39 Darin kommt gleich zu Beginn – und bereits mit Bezug auf den Tod – das für Dusblav bezeichnende Hängen am Alten und seine Skepsis gegenüber allem Technisch-Neuen zum Ausdruck. Andrerseits überrascht es nicht, dass Dubslavs Sohn Woldemar, dessen Neuerungsdrang den Vater kurz vor seinem Tod heftig bekümmert, und Woldemars junge Frau in Italien nur noch empfangen können, was ihnen die Briefpost meldet. Beide sind Englandfans. Man erinnert sich, wie begeistert Armgard – übrigens unter Verwendung eines Feuilletons von Fontane aus London zu diesem Thema40 – an früherer Stelle von der Faszination erzählt hat, die das Londoner General Post Office auf sie als Kind ausgeübt hatte.41 Sie ist bereits im postalischen Zeitalter groß geworden. So dient unsere kurze Szene mit den rätselhaften Liedzeilen »Tre giorni son che Nina« auch dazu, am Beispiel der beiden Formen von Fernverbindungen nochmals eines der zentralen

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Themen des Romans zu demonstrieren: das Verhältnis von Alt und Neu, Tradition und Moderne, Konservativismus und Zukunftsorientierung und den allenthalben, besonders in der Generationenablösung der Stechline feststellbaren Vormarsch des Neuen, den der Roman darstellt, ohne Partei zu nehmen. Ein solches verallgemeinerndes Verständnis unserer Stelle lässt noch außer Acht, dass es sich bei »Tre giorni son che Nina« um ein von Sorrenter Fischern gesungenes Lied handelt. Schiffer, die singen, sind ein fester Topos deutscher Italienerfahrung, spätestens seit Goethes Beobachtungen dazu in der Italienischen Reise.42 Man mag auch an das VenedigGedicht des damals wohl berühmtesten Zeitgenossen denken, in dem es von der Reaktion des Zuhörenden heißt: »Meine Seele, ein Saitenspiel, / sang sich, unsichtbar berührt, / heimlich ein Gondellied dazu, / zitternd vor bunter Seligkeit. / – Hörte jemand ihr zu? ...«43 Bei Woldemar und Armgard wartet man allerdings vergebens auf eine entsprechende Resonanz des Liedes der Sorrenter Fischer. Nicht nur verstehen sie die Botschaft nicht, die ihnen darin chiffriert übermittelt wird, auch für die Poesie des italienischen Liedes in klassischer Umgebung haben sie offensichtlich kein Ohr, und dies, obwohl ihre Namen Armgard und Woldemar von prominenter literarischer Herkunft – Schiller und Friedrich Heinrich Jacobi – sind. Dass ihr Interesse in Italien nicht mehr der Kunst gilt, deutet sich kurz zuvor in Armgards Brief an Melusine an: »Wir werden [auf Capri] nicht bei Pagano wohnen, wo, bei allem Respekt vor der Kunst, zuviel Künstler sind, sondern weiter abwärts, etwa auf halber Höhe.«44 Armgards Ablehnung der Kunst bei Pagano, was ja »der Heide« heißt, steht das neufromme Interesse für Monte Cassino gegenüber: »Ich liebe Klöster, wenn auch nicht für mich persönlich.«45 Überhaupt absolviert das Paar seine Italienreise ohne jenes enthusiastische Kunst- und Bildungsinteresse der nachgoetheschen Generationen, dem wir Burckhardts Cicerone und Die Kultur der Renaissance in Italien und eben auch Heyses Italienisches Liederbuch verdanken. Alles das zeigt, dass beide als junge Stechlin-Generation auch in dieser Hinsicht einer neuen, prosaischeren Zeit angehören. Schließlich kommt der Szene, die in unser Lied mündet, innerhalb des Romans auch eine kompositorische Bedeutung zu. Hier, im vorletzten Kapitel, taucht in der erzählten Realität und in Woldemars Kommentar zum letzten Mal jenes allen Realismus hinter sich lassende »Leitmotiv« auf, wonach zwischen dem, was vom engen Raum des Stechlin und seinen Bewohnern erzählt wird, und dem, was draußen in der großen Welt geschieht, ein untergründiger Zusammenhang bestehe. Indem das Leitmotiv umgekehrt eingesetzt ist, von innen nach außen wirkend, schließt sich die auf den ersten Seiten eröffnete mythische Klammer.

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Karl Pestalozzi

Wichtiger aber ist der Umstand, dass an unserer Stelle das erste und einzige Mal im Roman von dieser mythischen Verbindung nicht nur gesprochen wird, sondern dass sie auch tatsächlich in Aktion tritt, was beweist, dass es sich nicht nur um eine ferne Sage handelt. Das Leitmotiv verabschiedet sich gewissermaßen mit dieser realen Aktualisierung und kündigt damit den Schluss des Romans an. So konnte Fontane im Druck den abschließenden Ausspruch »Les jours de fête sont passé«, den er in der Handschrift als Woldemars Reaktion auf die briefliche Todesnachricht vorgesehen hatte, als wohl allzu deutlichen Hinweis auf das nahe Ende des Romans weglassen. Es wäre jedoch unbefriedigend, wäre der Stechlin-Mythos einzig im Hinblick auf diese eine Stelle kurz vor Schluss eingeführt und den ganzen Roman hindurch immer wieder in Erinnerung gerufen worden. Tatsächlich hat dieses Leitmotiv durchgängig auch die Funktion einer Rezeptionsanleitung für das Lesen des ganzen Romans. Sie besagt, man solle das, was aus der kleinen, abgeschiedenen Stechlin-Welt und überhaupt im Stechlin-Roman erzählt wird, auf die große Welt außerhalb, mindestens des zeitgenössischen Deutschlands, extrapolieren, anders gesagt: den Lokalroman aus der Mark Brandenburg immer auch als deutschen Zeitroman verstehen. Wie Melusine zu Pastor Lorenzen sagt: »Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen.«46 Dass der Vesuv raucht und die Sorrenter Fischer »Tre giorni son che Nina ...« singen, weil in Stechlin der alte Dubslav gestorben ist, setzt eine solche Extrapolation fast am Schluss einmal in Handlung um. Das suggeriert, dass mit diesem Ereignis zwar nicht gerade Pompeji, aber doch eine alte, kostbare Kulturwelt untergegangen ist. – Unser Zitat »Tre giorni son che Nina ...« ist auch, das versuchte ich zu zeigen, eines der vielen kleinen Scharniere zwischen der erfundenen, begrenzten Stechlin-Welt und dem »großen Zusammenhang« von Fontanes zeitgenössischer Realität. Oder umgekehrt: In den beiden Liedzeilen konnten zeitgenössische, literarisch gebildete, vom Nachvollzug Goethe’scher Italiensehnsucht geprägte Leser und Leserinnen ein kleines Stück ihrer eigenen Lebenswelt im Roman wiederfinden, im Zeichen ihres Endes. Natürlich wurde hier den beiden italienischen Liedzeilen etwas viel aufgebürdet. Aber an ihnen lässt sich beispielhaft demonstrieren, wie Fontane im Stechlin erzählt, nämlich eben so, dass sein Text beim Lesen dazu anregt, von auffallenden, oft rätselhaften Details aus Fäden in vielerlei Richtungen zu spinnen, auch weit über das hinaus, was ausdrücklich dasteht, – und wie lustvoll eine solche Lektüre sein kann. – Die bisherige Vernachlässigung dieser Stelle zeigt aber auch, wie einem großen literarischen Werk im Laufe der Zeit gewisse Verstehensvoraussetzungen

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abhanden kommen können, und dass es zu den lohnenden Aufgaben der Editionsphilologie und der interpretierenden Literaturwissenschaft gehört, sie lebendig zu erhalten respektive zurückzugewinnen.

Anmerkungen 1

NFA VIII, S. 357.

2

Ebenso in folgenden Stechlin-Ausgaben: Goldmann Klassiker, S. 495; Stechlin-Ausgabe im List-Verlag (1967), S. 557; ferner in Reclam-Erläuterungen, S. 68.

3

Bettina Machner vom Berliner Stadtmuseum in Spandau hat mich noch aufmerksam gemacht auf die von Hans-Heinrich Reuter 1964 herausgegebene Stechlin-Ausgabe des Aufbau-Verlages in der »Bibliothek deutscher Klassiker«, in deren Anmerkungen unsere Stelle übersetzt ist: »Drei Tage ist es her, daß Nina, daß Nina in (meinem) Bett war.« – Für diesen und viele andere wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich ihr sehr herzlich.

4

Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman. Kritische Ausgabe. Hg. von Peter Staengle und Roland Reuss. Frankfurt/Basel: Stroemfeld 1998. Im noch ausstehenden Apparatband könnte die Problematik dieser Stelle erörtert werden.

5

Das Berliner Stadtmuseum hat mir freundlicherweise eine Abbildung der entsprechenden Seite aus Fontanes Manuskript beschafft. Für die Genehmigung sie hier abzudrucken sei herzlich gedankt.

6

Vgl. Fontanes Brief an seine Tochter Martha vom 13. Juli 1897, HFA IV/4, S. 656f.

7

NFA VIII, S. 392.

8

Darauf hat mich freundlicherweise Frau Erika Seidner, Konstanz, in der Diskussion nach meinem Vortrag in Zürich und anschließend auch schriftlich hingewiesen. Wie Gotthard Erler zu dieser Kenntnis gelangte, ließ sich nicht mehr eruieren.

9

Mir liegt eine neue Einzelausgabe für Soprano/Tenore, canto e pianoforte der BMG ricordi music publishing, Milano vor.

10

Francesco Bussi: MGG – Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. Aufl. Hg. von Ludwig Finscher. Personenteil Bd. 4. Stuttgart 2000, Sp. 1085–1087. Unumstritten scheint diese Zuschreibung nicht zu sein, vgl. den Artikel »Ciampi« in: The New Grove Dictionary of Music und Musiciens, 2. Auflage. Hg. von Stanley Sadio. Vol. 5. 2001.

11

Diesen Terminus verdanke ich Sylvia Bodenheimer, Arlesheim.

12

Paul Heyse: Italienisches Liederbuch. Berlin 1860. – Unter dem Titel »Volksgesang« hat Heyse das Italienische Liederbuch in seine Gesammelten Werke (Reihe V, Bd. 4). Berlin 1889 aufgenommen, allerdings ohne Melodien und die italienischen Originale (Neudruck, hg. von Markus Bernauer und Norbert Miller, Hildesheim/Zürich/New York 1999).

13

Vgl. Fontane an Paul Heyse am 7. November 1860. In: Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse. Hg. von Gotthard Erler. Berlin/Weimar 1972, S. 90f.

14

NFA XXI/2, S. 17–20, dazu die Anmerkungen S. 750ff.

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15

Heyse 1860 (wie Anm. 12), S. V/VI; Neudruck (S. 175).

16

Erich Petzet (Hg.): Der Briefwechsel von Jacob Burckhardt und Paul Heyse. München 1916, S. 99–102.

17

Neudruck S. 346. Ich danke Markus Bernauer, dem einen Herausgeber des Neudrucks, herzlich für den Hinweis darauf und weitere Quellen-Recherchen.

18

»...klangen in bunter Reihenfolge deutsche und dänische, venezianische und neapolitanische Lieder durch das Zimmer« (NFA XV, S. 176). Kugler wohnte »nahe beim Belle Alliance-Platz« (ebd., S. 174), wo übrigens im Stechlin Melusine für das junge Paar dessen erste Wohnung vorbereitet hat: »Das war am Belle-Allianceplatz« (NFA VIII, S. 360).

19

Heyse 1860 (wie Anm. 12), S. 279–80.

20

Ebd., S. 192. – Neudruck S. 303.

21

Heyse war im November 1897, als Fontane am Stechlin arbeitete, in Berlin gewesen, hatte Fontane aber nicht besuchen können, wie er diesen am 29. November wissen ließ. Fontane antwortete umgehend am 1. Dezember 1897 im resignierten Ton des alten Dubslav. Vgl. Erler 1972 (wie Anm. 13), S. 224ff.

22

Die »Sorrenter Fischer« fehlen in der Handschrift. Stattdessen ist von »Booten von Neapel« die Rede.

23

Roland Berbig (Hg.): Theodor Fontane und Friedrich Eggers. Der Briefwechsel. Berlin 1997 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 2), S. 402.

24

Den Hinweis auf diese wichtige, weiterführende Stelle verdanke ich ebenfalls Bettina Machner.

25

Paul Heyse: Crone Stäudlin. Roman. Stuttgart/Berlin 1905, S. 225.

26

Conrad Ferdinand Meyer: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. von Hans Zeller und Alfred Zäch. Bd. 1. Bern 1963, S. 352; der Apparat dazu ebd., Bd. 5/1, S. 166– 170. Zellers wie immer ebenso gründlicher wie umfassender Kommentar zu »Pergoleses Ständchen« verweist auf Heyses Italienisches Liederbuch als Quelle, zitiert dessen deutschen und italienischen Text und erwähnt bereits die Zuschreibung zu Vincenzo Legrenzio Ciampi. Er gibt auch ein Facsimile des Erstdrucks. – Meine jahrelange Suche nach der Herkunft von Fontanes Zitat war beim zufälligen Blättern in Zellers Kommentarband endlich von Erfolg gekrönt.

27

Vgl. Heinrich Henel: The poetry of Conrad Ferdinand Meyer. Madison 1954, S. 87; dazu Anm. 42, S. 290. Der Hinweis auf Heyse als Quelle findet sich schon bei Heinrich Krüger: Conrad Ferdinand Meyer. Quellen und Wandlungen seiner Gedichte. Berlin 1901, S. 366.

28

Auch diesen Hinweis verdanke ich Sylvia Bodenheimer.

29

Renate Böschenstein: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan. Würzburg 2006 (Fontaneana, Bd. 3), S. 331.

30

Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Aus dem Italienischen von Heinz-Georg Held. München 1987, S. 5.

31

Herman Meyer: Das Zitat in der Erzählkunst. 2. Aufl. Stuttgart 1967.

32

Ebd., S. 184.

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Franz Kugler, Jacob Buckhardt, Paul Heyse, C. F. Meyer, Hugo Wolf. Auch Gottfried Keller hätte Pergolesis Lied kennen können, weil Heyse seine Übersetzung davon in den Band seiner Gedichte aufgenommen hatte, den er Keller 1880 übersandte. Keller nahm an Heyses Werdegang regen Anteil und stand mit ihm in wenn auch diskontinuierlichem Briefkontakt. Vgl. Fridolin Stähli (Hg.): »Du hast alles was mir fehlt …«. Gottfried Keller im Briefwechsel mit Paul Heyse. Stäfa 1990.

34

Eco 1987 (wie Anm. 30), S. 28.

35

NFA VIII, S. 5.

36

Ebd., S. 357.

37

Ebd., S. 358.

38

Ebd., S. 51.

39

Ebd., S. 12.

40

Die große Post (General Post Office), NFA XVIII, S. 179–181. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Margret Walter-Schneider im vorliegenden Band.

41

Ebd., S. 202.

42

Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. Hg. von Andreas Beyer und Norbert Miller. München 1992, S. 99–100.

43

Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6. Berlin 1980, S. 291.

44

NFA VIII, S. 348.

45

Ebd., S. 348.

46

Ebd., S. 251.

»1819 war ein gesegnetes Jahr«1 Die Theodor-Fontane-Chronik: mit einem Seitenblick auf die ›Gottfried Keller‹-Einträge Roland Berbig [I]ch habe Keller, Gott sei Dank, nicht kennen gelernt, war aber, einen Augenblick lang, ganz ernsthaft unter der Vorstellung, ich kennte ihn so genau wie meine Rocktasche. Begreiflich; erst seine Werke, nun Baechtold, und dazwischen Schilderungen von Brahm und Victor Meyer […]. Fontane an Wilhelm Hertz, 11. Juni 1894

I Dass die Tage jedes Menschen gezählt sind, wir müssen es lernen. In das Licht des Anfangs fällt der Schatten des Endes. Von allen Lebenslektionen, die uns aufgegeben sind, ist dies die schwierigste. Tage zählen – das birgt in sich eine Doppeldeutigkeit, aus der wir auch Trost beziehen. Dem Mathematischen wird ein anderes Maß zur Seite gestellt. Es wägt den Tag in seiner Einzigartigkeit und glaubt an ein Ganzes, das ohne diesen einen Tag nicht wäre. Das Zählen und Wägen eines Tages ist ein ernstes Geschäft, und nur seine tiefe Verwandtschaft mit dem Erzählen nimmt die Last, die auf ihm bürdet. Diese Entlastung bietet die Chronik nicht. Ihr ist aufgegeben, Begebenheiten in zeitlicher Folge aneinanderzureihen. Streng und unbeirrt. Die Flucht in Erzählung ist ihr versagt. Ursächliche Zusammenhänge werden durchaus kenntlich, und wo sie unkenntlich bleiben, muss sie sich nicht sorgen. Sie fügt Teil an Teil, Mosaikstein an Mosaikstein und riskiert sich selbst, folgt sie dabei einem vorab entworfenen Bild. Ob überhaupt ein Bild entsteht, ist ihr so gleichgültig wie das Bild, das aus ihr konstruiert wird. Über dessen Bestand und Wert befindet sie nicht. Sie zählt allein Tag für Tag und ermit-

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telt, was ihn prägte. Ist sie mit ihm befasst, gibt es nichts Wichtigeres als eben diesen einen Tag. Den ethischen Grund, auf dem sie wächst und der ihr zuwächst, muss sie vergessen, besitzt er doch manipulierende Kraft. Chronik – das heißt Zeitbuch. Es ist ein Buch, egal, was seinen genauen Anlass gab, über Zeit. Sie wird gemessen, in dem gewogen wird, was sie ausfüllte. Dass Chronos als personifizierte Zeit in der orphischen Kosmogonie die Rolle eines Urgrundes aller Dinge spielte, zeugt von der Weisheit derer, die vor uns waren. Mit jenem Titanen Kronos, Sohn des Uranus und der Gäa, der seinen Vater entmannt, mit dessen Geschlecht die Erde befruchtet und der eigenen prophezeiten Entmachtung entgehen will, indem er seine Kinder verschlingt, ist jener Chronos nicht verwandt – so verführerisch jenes »Goldene Zeitalter« lockt, das der Titan in Italien stiftet und in dem die Menschen nicht altern, Arbeit nicht vonnöten ist und das Sterben nichts als ein Hinüberschlummern in ein anderes Dasein ist. Es ist Inbegriff von Wunschzeit und nivelliert, was jedes Chronoskop ermittelt: die genaue Bestimmung des Eintritts einer Erscheinung in das Dasein und die Dauer dieses Vorgangs. Dass wir begreifen, ist der Fortschritt. Die Chronik ist keinen Chronogrammen auf der Spur, deren Schriftzeichen verborgene Datierungen liefern, und so sehr sie sich ihrer fernen Herkunft bewusst bleibt, so sorglich hat sie jene Züge zu meiden, die ihr einmal Gattungsmerkmal waren: Tatbestände einer Idee zu opfern, statt der Kultur des Faktischen zu dienen, in den Dienst des Kultes zu treten.

II Fontane hat Vorzüge von Chroniken zu schätzen gewusst. Wie hätte er nicht! Wer durch die Mark Brandenburg wandert und wissen will, was geschah vor Zeiten, war angewiesen auf Quellen – je detaillierter, umso besser. Dem waren Dorfchroniken, verfasst von Pastor oder Schulmann, oder vergleichbare Aufzeichnungen eine Seelenfreude. Tag, Jahr und Umstände von Historie in verwertbarer Form präsentiert zu bekommen, entschied über den Erfolg des eigenen Unternehmens. Und wer beständig auf der Suche nach Erzählstoff war, wie konnte er nicht begierig darauf sein, was Chroniken vergangener oder jüngster Zeit dahingehend verhießen? »Jedes Blatt ein Klageschrei«, heißt es im Wanderungen-Kapitel über Küstrin: Fehden, Überschwemmungen, Feuerbrünste, Missernten und der schwarze Tod, die Pest also. Und doch verklinge der Schrei an unserem Ohr, weil der statistisch-trockenen Aufzählung aller dieser Notstände die menschlich-erschütternden Züge fehlen. Und nur sie haben Wert, nur sie

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stimmen uns zu Lust oder Schmerz, und der scherzhaft zugespitzte Satz: ›daß ein rauhes Wort Reinharts an Lorle uns mehr rühre als der Untergang einer Dynastie‹, birgt einen Kern ernster und tiefer Wahrheit.2

Der Trockenheit statistischer Aufzählung wird die beherzte überlieferte Lebensäußerung zur Seite gestellt. Sie vermag, worauf es ankommt, den Lebenden »zu Lust und Schmerz« zu stimmen. Jener Goethe’sche Satz, nachdem eine Chronik nur schreibt, »dem die Gegenwart wichtig ist«,3 wird erweitert, so scheint es, um den Zusatz: Wichtig ist jede Chronik, die ihren Leser bewegt. Wie wenig eine solche Umkehrung zu verwechseln ist mit der Begier nach einer Chronique scandaleuse, hat der Erzähler Fontane im Stechlin Armgard von Barby in den Mund gelegt, als er sie sagen lässt: »Unsre teure Baronin [Berchtesgaden] findet unser Leben langweilig und solche Chronik interessant. Ich, umgekehrt«, so lässt er sie fortfahren, »finde solche Chronik langweilig und unser alltägliches Leben interessant.«4 Alltägliches Leben interessant zu finden, in seiner Unaufgeregtheit das Aufregende des Daseins zu spüren, dazu bedarf es eines philosophischen Sinns. Fontane pendelte bei einer Chronik zwischen Nutzen und Neigung und wusste Nachteil mit Vorteil auszuwiegen. Dass diese Gattung einmal seine Person als Gegenstand haben könnte, geriet ihm nicht in den Sinn. So wichtig er sich zeitlebens war, historisch nahm er sich selbst am Ende seiner Tage nicht – und wichtig nur ironisch. Als er Paul Linsemann im August 1898 für dessen wenig erfolgversprechendes Bemühen dankte, ihn »bei den Donaubrüdern« eingeführt zu haben, meinte er, alle Eroberungen dieser Art hätten von einem »festen Punkt« auszugehen. »[W]enn es denkbar wäre, daß mich die Rixdorfer morgen zu ihrem Nationalheiligen machten und zu mir wallfahrteten, so würde ich, nach 10 Jahren, von Rixdorf aus die Welt erobert haben.«5 Ganz ähnlich klingt die Bemerkung beim Eintreffen eines Spendenaufrufes im Todesjahr: Nun beginne für ihn »die Epoche der ›Royalty‹«. Auch der Journalist Fritz Mauthner, schreibt Fontane aufgeräumt, habe tags zuvor schon den »alten Fontane« »neben dem ›alten Fritzen‹ und dem ›alten Wilhelm‹ aufmarschieren«6 lassen. Da ließ er sich denn nicht lumpen und zückte die Geldbörse … Die Anfänge also des eigenen Historisch-Werdens hat Fontane noch miterlebt, ihren biographischen, wenn nicht gar chronikhaften Auswüchsen begegnete er indes nicht viel mehr als belustigt. Einen Artikel aus der Feder von Otto von Leixner, ihm gewidmet und in der Täglichen Rundschau gedruckt,7 fand er stellenweise »zum todtlachen« – und er teilte seinem Sohn Friedrich auch gleich mit, welcher Art diese Stellen waren: »er (Th. F.) mußte 5 Jahre auf sein Bräutchen warten«. Der Verfasser müsse ein Sachse sein Ŧ »Gemüthlichkeit ist gut«, resümierte Fontane, »aber

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es darf nicht zu viel werden.«8 Hätte die erste Chronik, verfasst von Hermann Fricke und 1960 veröffentlicht, Fontane behagt? Wohl kaum, denn ihm wäre umgehend das Fehlerhafte ins Auge gefallen, und zwar, wie er angesichts der 11. Auflage des Konversationslexikons gegenüber Friedrich August Brockhaus betont hatte, »nur das Alleräußerlichste: Namen und Zahlen«, also ganz abgesehen vom Verzeichnen »beständiger kleiner Unzutreffendheiten«.9 In jedem Fall hätte es sich Fontane angelegen sein lassen, dem Chronisten über die Schulter zu sehen, kopfschüttelnd zwar über dessen Aufwand, aber angetan davon, dass ein Leben, bevor es in die Klauen der Exegeten gerät, auf Faktenfüße zu stellen ist – bevor es also erzählt wird, sich erst einmal ein Zählen gefallen lassen muss.

III Wie hatte Fontane geschrieben? Gemütlichkeit sei gut, aber es dürfe nicht zu viel werden. Die Chronik seines Lebens, die seit 1999 am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin erarbeitet wird, wird gewiss Vorwürfe kassieren, nur einer vorhandenen »Gemütlichkeit« gewiss nicht. Sie hat sich als eine Art Credo auf Strenge verpflichtet. Es hat sich, beim erschrockenen Anblick einer schier unüberschaubaren Faktenfülle, im Kreis der Chronisten sogar eine spartanische Fraktion herausgebildet, die zeitweilig den Ton angab Ŧ zum Glück des Ganzen. Inwiefern? Erlauben Sie eine kurze Chronik zur Chronik, versehen mit wenigen Kommentaren: Nachdem die biographischen und werkgeschichtlichen Forschungen zum sogenannten ›mittleren‹ Fontane, angeregt und aufs Schönste befördert durch Peter Wruck, und die Edition weiterer Briefausgaben und der Tagebücher in den neunziger Jahren so überaus ertragreich ausfielen, gehörte einige Energie dazu, nicht auf den Gedanken einer aktualisierten Chronik des Dichters zu kommen. Diese Energie fehlte. Zu faszinierend war der Gedanke, die neue Datendichte zu bändigen, sie zu ordnen und so herzurichten, dass, wer den Zugriff auf sie wünscht, ihn umstandsund problemlos bekommt. Im Herbst 1998 wurde ein Antrag an die DFG gestellt, der im Frühjahr 1999 für zwei Jahre bewilligt wurde. Freundliche Förderung erfuhr die Chronik besonders in der Anfangsphase durch Gotthard Erler und Magdalena Frank vom Aufbau Verlag Berlin. 2001 erfolgte der erste Nachfolgeantrag, erneut auf zwei Jahre bemessen, 2003 schließlich der zweite Nachfolgeantrag, beantragt für ein Jahr, bewilligt für ein halbes. Im Juli 2004 endete die Förderung. Seitdem

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wird die Chronik ausschließlich unterstützt durch das Institut für deutsche Literatur und getragen vom unbedingten Willen der Herausgeber, Begonnenes zu einem wenn nicht guten, so doch Ende zu bringen. Ende 2005 signalisierte der Verlag Walter de Gruyter konkretes Interesse, die Chronik neben der Fontane-Bibliographie und anderen FontaneEditionen der letzten Jahre in sein Programm zu nehmen. Er ist dabei bereit, die schwierige Endredaktion, vor der wir stehen, zweckgerichtet zu fördern und wird sich zudem bemühen, liegt die Buchpublikation erst vor, die Chronik im Internet zugänglich zu machen.

IV Ein Wort zum Vorgehen der Chronisten: Die Datenmenge und die Methode ihrer Verwaltung verlangten nach einem Ordnungssinn. Seine Mängel wären Mängel des Ganzen. Ein Gerüst, dessen Streben falsch gezogen sind und dessen Statik instabil ist, bringt jedes Haus, mag es mit den kostbarsten Steinen und dem besten Material gebaut sein, zum Einsturz oder doch zum Schwanken. Fritz Mende, der 1970 eine bis heute viel benutzte und nach wie vor geschätzte Heine-Chronik veröffentlicht hat, formulierte in seiner »Vorbemerkung« ihr Anliegen: Der Verfasser ging bei der Ordnung und Auswertung der vorliegenden Quellenmaterialien von der Zielsetzung aus, sämtliche das Leben und Werk Heinrich Heines betreffenden Fakten, die in seinen Werken und Briefen, in den an ihn gerichteten Briefen sowie in zeitgenössischen Urteilen und Gesprächen überliefert sind, in einer umfassend angelegten und erschöpfend informierenden chronikalischen Darstellung übersichtlich zusammenzufassen.10

Unter vergleichbaren Maßgaben und Zielsetzungen begann die FontaneChronik im Juni 1999 ihre Arbeit. Vor der Erfassung irgendeines Faktes stand eine schwierige Frage, vielleicht die schwierigste: Wie muss die Gesamtstruktur beschaffen sein, damit alle gesammelten Daten zu Fontanes Leben und Werk in ihr, und zwar über einen langen Zeitraum, den angemessenen Platz finden? Das Gesamtkorpus musste beinhalten: 1. die Jahre 1819 bis 1898 (inkl. Feiertage etc.) 2. die Gliederung der Einzeljahre in Monate, der Monate in Tage, der Tage in Einzelrubriken 3. Einzelrubriken für den Tag, die die Fakten sinnfällig ordnen I. – –

Unternehmungen, Begegnungen, Ereignisse Reisen, Vereinssitzungen, Ausstellungs- und Theaterbesuche

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– –

Gespräche, deren Anlass und Gegenstand Feierlichkeiten und deren Profil

II. – Lektüre [L] – Arbeit [A] – Publikationen [D] (auch Publikationen über Fontane, dann [[D]]) III. – Briefe von Fontane [B an] – Briefe an Fontane [B von] 4. Zuweisungsplätze für Informationen, die sich nicht rubrizieren und nicht verlässlich datieren lassen 5. ein Siglen- und Abkürzungsverzeichnis, das von Beginn an weitgehend festzustehen hatte Das oberste Gebot dieses Grundgerüstes war systematische und visuelle Transparenz. Alles was aus der Wissensflut gefischt und von dem Faktenberge abgetragen wurde, musste dort sachgerecht platziert werden. Wie war Systematik zu erreichen? Welche Daten- und Informationsquellen sollten in welcher Reihenfolge ausgewertet werden? Womit am besten beginnen, was durfte am Schluss stehen? Zu unterscheiden waren obligatorische und fakultative Quellen: 1. Gedruckte Quellen  Briefeditionen (Briefe und Briefwechsel Fontanes, Briefe an Fontane)  Tagebücher  Erinnerungen Fontanes  Erinnerungen aus Fontanes Lebenswelt  Monographien und Aufsätze zu ausgewählten Lebensabschnitten Fontanes 2. Ungedruckte Quellen  ungedruckte Briefe Fontanes  ungedruckte Briefe an Fontane  ungedruckte Tagebücher und Aufzeichnungen aus Fontanes Lebenswelt (z. B. Friedrich Eggers Wochenzettel oder Friedrich Wittes Tagebücher) Erster Schritt war die Einrichtung eines Jahreskalenders über Fontanes Lebenszeit, jeder Wochentag eine eigene Zeile. Als zweites folgte die vollständige Übertragung der im Fontane-Briefverzeichnis nachgewiesenen Briefe und ihr schloss sich die systematische Sichtung aller gedruck-

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ten Briefsammlungen an. Zu den Grundprämissen gehörte es, naheliegend, bei den materialreichen Editionen zu beginnen und sich durchzuarbeiten bis zu den kleinen, wenn nicht abgelegenen. Das Bestreben, möglichst rasch und in möglichst kurzer Zeit eine kompakte BasisChronik zu haben, erwies sich als praktikable Vorgabe. Zwei ungeschriebene Regeln hatten sich die Chronisten dafür neben den Bildschirm geklebt: 1. Prüfe, ob das ein Chronik-Fakt ist! und 2. Lass Dich von Fontane nicht verzaubern! Vieles wird von ihm auf wunderschönste Weise erzählt – zählt es aber für die Chronik? Pointiert zusammengefasst: Diese so konzipierte und realisierte Fontane-Chronik unterscheidet sich von ihren Vorgängerinnen durch: a) den Umfang und die Menge der ausgewerteten Dokumente (der veröffentlichten wie der unveröffentlichten) b) die streng gegliederte Anordnung der Einträge c) den präzisen Quellennachweis jeder biographischen und bibliographischen Information11 d) die möglichst vollständige Auflistung der gedruckten und ungedruckten Briefe von und an Fontane (Postausgang und Posteingang) e) die Lektüre-Rubrik, die detailliert Auskunft über alles von Fontane Gelesene gibt (in der Regel versehen mit einem kurzen Werturteil Fontanes)12 f) die digitalisierte Form der Daten, die es erlaubt, die Chronik ständig zu aktualisieren und über das Internet der internationalen FontaneForschung zur Verfügung zu stellen Wie nun sieht, was vorgenommen wurde und beabsichtigt war, in der Wirklichkeit aus? Eine Chronik will benutzt werden. Erst die Probe aufs Exempel entscheidet über ihre Tauglichkeit. Was liegt näher, als sich Folgendes vorzustellen: Im Übermut hat ein Fontane-Forscher spontan auf ein Call for papers zu einer Keller-Fontane-Konferenz reagiert. Weiß er auch viel, so weiß er doch nichts Rechtes über die Beziehung der beiden Schriftsteller zueinander. Er beginnt seine Recherche – und beginnt sie natürlich, indem er sich unsere Fontane-Chronik greift. Mit welchem Erfolg?

V Die Suchaktion über Register oder PC-Suchbefehl tilgt die schwelende Sorge, möglicherweise einen Griff ins Leere getan zu haben: 26 Einträge, der erste unter dem 3. Dezember 1852, der letzte am 17. August 1898. Das klingt verheißungsvoll. Der etwas genauere Blick ergibt verkürzt Folgendes:13

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Abb. 1: »Juni 1889« – Theodor-Fontane-Chronik (Arbeitsstand Mai 2006)

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3.12.1852: Stiftungsfest zum 25-jährigen Bestehen des Tunnel über der Spree; Fontane ist Protokollant, sein Gedicht Johanna Gray wird mit »Sehr gut« bewertet und ein zweites  Der Reiter auf dem Flügelpferde  trägt zur Geselligkeit bei; Gottfried Keller ist unter den Gästen 20.5.1853: Fontane liest begeistert Rudolf Gottschalls Artikel Die neue deutsche Lyrik, in dem auch Kellers Gedichte besprochen werden 19.10.1872: Fontane schickt den von Ludwig Pietsch geliehenen Keller-Roman Der grüne Heinrich zurück 6.1.1881: Emilie Fontane liest ihrem Mann den Anfang von Kellers Sinngedicht vor 10.5.1881: weitere Lektüre von Kellers Sinngedicht, über das Fontane am 23.5.1881: ein kurzes Urteil im Tagebuch notiert 2.6.1882: Emilie liest Fontane den Deutsche Rundschau-Keller-Artikel von Otto Brahm vor  Fontanes Kommentar: »das Eigentliche wird nicht gesagt« 8.4.1883: die Vossische Zeitung druckt Fontanes Artikel über Brahms Studie Gottfried Keller. Ein literarischer Essay (1883) …14 vor dem 4.11.1883: Wilhelm Hertz schickt Fontane die zweite Auflage der Keller’schen Gedichte am 23.12.1885 äußert sich Fontane gegenüber Pietsch zu Keller, Storm und Heyse zw. Mai und September 1886 liest er Martin Salander – »von Heft zu Heft mit größtem künstlerischen Behagen«, wie »alles Keller’sche – mit Ausnahme seiner furchtbaren Verse; keiner kann alles […]«15 13.5.1889: Fontane lässt sich nicht lumpen und steuert seinen Obolus »für die Hertzsche Festgabe zu Kellers 70.« bei – »Bei Keller liegt es so, daß […] der Dichter für alles aufkommt.«16 5.6.1889: Fontane liest Kellers Gedichte 8.9.1889: Fontane erwägt, ein ihm von Hertz zugesandtes KellerBild, eine Zeichnung von Arnold Böcklin, in sein Exemplar von dessen Gedichte zu kleben 28.11.1892: Fontane hat, von Hertz zugesandt, Kellers Nachgelassene Schriften in der Hand am 16.8.1893 ist ihm während des Kuraufenthaltes in Karlsbad der Chemiker Victor Meyer ein geschätzter Gesprächspartner, kann er doch mit ihm über Keller plaudern – woran er sich später noch gerne erinnern wird

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vor dem 3.12.1893: beginnt sich Fontane mit Kellers Person und Leben zu befassen, veranlasst durch Jakob Baechtolds KellerBiographie  Teile erscheinen als Vorabdruck in der Deutschen Rundschau –, die ihn auch vor dem 9.4. und vor dem 11.6.1894 beschäftigt, offenbar so sehr, dass im Winter 1894/95 das Ehepaar Fontane erneut Der grüne Heinrich auf seine abendliche Lektüreliste setzt (man muss sich den Roman allerdings bei Schlenther leihen und sendet ihn am 12.2.1895 zurück)  kein Wunder, dass Fontane, als ihm im Februar 1895 ein KellerBüchlein ins Haus geschickt wird, am 8.2.1895 mit der Lektüre von Adolf Freys Erinnerungen an Gottfried Keller beginnt um den 11.12.1896 liegen endlich zwei (der drei) Keller-Bände von Baechtold vor, so dass Fontane seine Frau zur täglichen Lesung ermuntern kann

Der (vorläufig) letzte Eintrag schließlich lautet: 

17.8.1898: Brief an Siegmund Schott (Literaturkritiker in Erfurt), in dem Fontane ausführlich auf sein Verhältnis zu Keller eingeht.17

Darf sich der Übereilige nun zufrieden zurücklehnen? Hat er in der Tasche, was er sich dort wünscht: einen Kongressstürmer, geeignet, die Fachwelt zu frappieren? Das wohl nicht, aber Fakten aller Art und Gewichtung. Er kann die Ordnung übernehmen – zum Biographischen gesellt sich der Lektürebeleg, zum Lektürebeleg das literarische Urteil und endlich zum literarischen das persönliche Urteil. Eine Keller-Linie lässt sich ziehen. Sie umschließt Fontanes eigenes schriftstellerisches Leben. Erkennbar wird, wie langsam Fontanes Interesse an Keller wuchs, bis es im Alter an Nachdruck gewann. Unser Themensucher ist erfreut. Hier zeichnet sich eine Merkwürdigkeit ab. Lange Jahre, so fällt ihm auf, schätzte Fontane allein den Künstler Keller, nicht die Person. Keine Zeile habe er gelesen, teilt ein Fontane-Zitat unter dem 13. Mai 1889 mit, die ihn nicht entzückt hätte. Der Mensch Keller jedoch, heißt es noch in einer zitierten FontaneWendung im Chronik-Jahr 1894, sei »befangen, fragwürdig und gesellschaftlich ungenießbar«18 gewesen. Das Lächeln hat sich auf den Lippen unseres Forschers noch nicht recht eingerichtet, da entdeckt er, dass das keineswegs das letzte Wort in Sachen Keller war. Mit der überaus kritisch begonnenen Lektüre von Baechtolds Keller-Biographie kippte, was Fontanes festes Urteil schien: »Meine Abneigung gegen den Menschen

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Keller läßt doch allmälig nach«,19 heißt es im Dezember 1896. Und endlich, einen guten Monat vor Fontanes Tod, bietet die Chronik ein bemerkenswertes Zitat: Mit Gottfried Keller, ist zu lesen, »hätte ich gern Freundschaft geschlossen, denn er ist in meinen Augen der bedeutendste deutsche Erzähler, wie Storm der bedeutendste Liebeslyriker seit Goethe. Dennoch wäre, trotz besten Willens auf meiner Seite, wohl nie was daraus geworden; ich fürchte, daß ich ihm gründlich mißfallen hätte«.20 Aus dem realen Blick auf Keller war der imaginierte Kellers auf ihn selbst geworden. Was hatte sich da getan? Eine Frage, die der Forscher, nicht die Chronik beantworten kann.

VI Aber unser Referatfahnder, nunmehr einigermaßen im Bilde, will nicht den großen Bogen. Wirkungsvoll, das weiß er, ist eher das überraschende Detail. Ist Hilfe auch hier zu finden? Während er in der Chronik blättert, fällt ihm eine Sonderbarkeit auf: die ›Umgebung‹ der jeweiligen Keller-Einträge. Die chronikalische Landschaft, in die die Keller-Verweise zufällig geraten sind, schiebt sich in den suchenden Blick. Sie gewinnt Realität. Es ist, als habe sie etwas zu sagen, als stehe ihr ein Mitspracherecht über den Befund des konkreten Eintrags zu. Das ließe sich auf nachgerade jeder Seite demonstrieren. Das Auge jedoch bleibt auf der Seite hängen, die Fontanes Lebensbegebenheiten Anfang Juni 1889 spiegelt (Abb. 1). Die Rubrik »Lektüre« am 5. Juni, einem Mittwoch, nennt Kellers 1883-er Gedichte-Ausgabe und am folgenden Tag teilt der Vermerk mit, dass Fontane das Manuskript für die 3. Auflage seiner Gedichte fertiggestellt habe. Am 19. April 1889 war in Fontane »wieder der Wunsch […] lebendig geworden, die mir gütigst zugestandene neue Auflage meiner Gedichte, zu Weihnachten, bez. zu meinem 70. Geburtstag, erscheinen zu sehn«.21 Zügig hatte er sich an die Arbeit gesetzt und nicht nur Eigenes aufgemöbelt und zueinander gefügt, sondern auch fremde Verse gelesen: die des von ihm als Lyriker keineswegs geschätzten Keller! Sie, die ihm »wegen absoluten Mangels an Tonzauber fremd«22 geblieben waren, begleiteten ihn also bei dem eigenen poetischen Geschäft. Offenbar hatte er den Band Keller’scher Gedichte neben sich auf dem Schreibtisch liegen, während er in Portionen das Manuskript seiner dritten Auflage an den Verlag auf den Weg brachte. Nahm er Maß an ihm? War er ihm Maß? Die Forscheraugen funkeln. Sie sind aber gut beraten, noch ein wenig weiter Ausschau zu halten. Denn die poetische Kraft Kellers überzeugte Fontane auch bei diesem Gang durch die eignen lyrischen

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Wälder nicht. Mit dem gegenüber Hertz geäußerten Bedauern, seinen Namen »als ein Hauptverehrer (und wahrscheinlich als einer, der des Mannes Bedeutung mit am besten begreift)«23 nicht unter das geburtstägliche »G. Keller-Blatt« setzen zu können, kann Fontane nicht unterdrücken, geklammert hinzuzufügen »(nur Verse machen kann er nicht)«.24 Dass Kellers Gedichte jedoch ein Maß abgaben, wird deutlich, stößt der Chronikleser am 8. Juni 1889 auf die Rubrik »Briefe an«. Er findet dort den Brief von Hertz verzeichnet, in dem der ihm vorschlägt, für seine Gedichte ebenfalls als Schrifttyp gotische Fraktur zu verwenden – wie bei der Keller’schen Ausgabe.25 So unterschiedlich also das Profil des poetischen Inhalts, so ähnlich sollte die buchhändlerische Gewandung sein: Kopfgoldschnitt mit zwei goldgeprägten Rückenschildchen. Hatte Fontane auch kleinere Schönheitskorrekturen an der Druckprobe zu unterbreiten, war er aufs Ganze hin »dankbarst mit allem einverstanden«.26

VII Bei seiner Suche nach Themen ist unser Zürich-Referent weit gekommen. Freilich steht es ihm frei, einmal neugierig geworden, weiter Umschau zu halten. Vielleicht irritiert ihn seine Beobachtung, dass Fontanes Aufmerksamkeit für die Person Gottfried Keller im Alter zunahm. Sie ist reizvoll, weil man durch sie auf einen Wahrnehmungswandel Fontanes stößt, dessen Ursachen und Folgen geheimnisvoll erscheinen. Als er sich vollzog, war Keller nicht mehr unter den Lebenden. Der Umstand, dass Keller sein literarhistorisches Lebensbild bei dem ordentlichen Professor für Literaturgeschichte an der Züricher Universität, Jakob Baechtold, ›bestellt‹ hatte, ließ Fontane den Kopf schütteln. Aber fast scheint es, je mehr er über dieses verunglückte Unternehmen, als das er es ansah (»diese Breittreterei, diese Papier- und Zeitvergeudung«),27 den Kopf schüttelte, umso kräftiger zog es ihn in seinen Bann. Doch merkwürdig, nicht Baechtold billigte er das Verdienst seines geweckten Interesses zu, sondern: »mir und Keller«.28 Hier darf der sich leichtsinnig für Zürich angemeldete Referent erneut aufatmen. Die beiden Namen, die ihn sorgen, sind dank der Chronik nah aneinandergerückt. Kaum passt ein Blatt Papier zwischen sie. Nachdenklich ohne Nervosität blickt er von diesem Punkt aus auf die Februartage 1895, in denen ihm die Chronik ein intensives Lebensgemisch bietet (Abb. 2). Fontane hatte von dem 1855 in Aarau geborenen Adolf Frey Erinnerungen an Gottfried Keller zugeschickt bekommen. Frey, der 1898 Baechtold auf den Züricher Lehrstuhl für Literaturgeschichte folgen sollte, war mit Keller gut bekannt gewesen. Dessen Keller-Büchlein las Fontane, und er

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Abb. 2: »Februar 1895« – Theodor-Fontane-Chronik (Arbeitsstand Mai 2006)

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las es offenbar mit Anteilnahme. Ein weiteres Indiz für die magnetische Kraft, die von Keller nun auf Fontane ausging. Sie zu erklären ist die Chronik entlastet, nicht unser Zürich-Beiträger. Die Chronikseite vor Augen, muss er bedenken, warum Fontane sich nicht nur mit Keller befasst, sondern zeitgleich auch mit der Lyrik Conrad Ferdinand Meyers.29 Er ist veranlasst, sich der Tatsache von Fontanes erneuter, allem Anschein nach besonders gründlicher und genießender Lektüre des Romans Der grüne Heinrich zu stellen, und schließlich tut er gut daran, Fontanes Reaktion auf Freys Buch nicht zu übersehen. Frey nämlich hatte sich in seinem Büchlein nah an ein Tabu herangeschrieben, als er Kellers Kremierung beschrieb: Unter den Klängen des Mendelssohn’schen »Es ist bestimmt in Gottes Rath« fuhr der Leichenwagen, an Kinkel’s Büste vorbei, bis zum Verbrennungsgebäude, und die Leiche wurde, nach kurzer Ansprache des Stadtpräsidenten an die Versammlung, in’s Crematorium getragen. Eine Klingel ertönte in der dämmerigen Halle des kleinen Tempels, und der von Blumen überdeckte Sarg glitt, von unsichtbarer Kraft geschoben, leise vor eine eiserne Thüre. Eine sonnenähnliche Gluth umlohte ihn, als die dunkle Pforte sich öffnete, und dann ward zu Asche, was an Gottfried Keller Sterbliches gewesen.30

Fontane, dem Gleichaltrigen, war die Lektüre nicht leicht gefallen, das Bild blieb. Im Brief an Paula Schlenther-Conrad übersetzte er es. Anknüpfend an ein plauderndes Nachsinnen über »Ruhm und Größe«, ließ er Bilder aus der Zeit der Patriarchen heraufsteigen, die er doch als die schönste ansah  bis zum Grab im Felsen. »Jetzt«, schloss er, sich dabei auf die frische Lektüre der Frey’schen Schilderung berufend, »wird man in einen Backofen hineingeschoben. Das mag ich nicht. Da bin ich doch mehr für Winter und Schneeflocken […]«.31 Fontane bedachte ein Ende, das an das eigene gemahnte. Wie in den zahllosen Friedhof-Beschreibungen der Wanderungen gab er zu erkennen, dass ihm der Griff der Moderne nach den letzten Dingen  bei allem Hang zu Nüchternheit und Ungeschminktheit  suspekt war. »Das mag ich nicht.« Soweit gelangt, könnten wir unseren recherchierenden Forscher zurücklassen. Er mag, wenn er und wie er will, sich festbeißen. Die Fragen, die sich nun stellen, sind kein Geschäft der Chronik mehr. Sein Schwanken zwischen Themen und Titeln ist nun Luxus, nicht Leid: »Gestaltung ja, Gestalt nein. Zur Parallelität der Gedichtausgaben von Keller und Fontane 1889«, »Eine späte Entdeckung. Fontanes Gottfried KellerLektüre nach 1870«, »Korrektur eines Vorurteils. Der Einfluss der Gottfried-Keller Biographie von Jakob Baechtold auf Fontane« oder gar »Sterbliche Reste. Fontanes Verhältnis zu Kremierungsverfahren Ende des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Bestattung Gottfried Kellers«. Für

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Allgemeines oder Lebensphilosophisches des Chronisten wird er kein Ohr mehr haben.

VIII Kommen wir zum Schluss: Die Ordnung der Chronik birgt viele Ordnungen. Nicht eine Plattform spiegelt sich in ihr, sondern es sind verschiedenartige. Ihre flächenartige Anlage suggeriert dabei ein Gleichmaß des Gelebten. Sie ebnet ein, was stufenförmig ist, und zieht eine biographisch gerade Linie, wo die lebenswirkliche im Zickzack verlief. Im selben Zuge macht sie Gleichzeitigkeit wieder sichtbar, wo das zeitliche Nebeneinander durch Forschungsvorlieben so sehr in die Ferne gerückt ist, dass es zum Nacheinander mutierte. Vor diesen Sonderbarkeiten ist zu warnen: Je feiner die Lebensfäden aus den Quellen gewoben werden, umso gefahrvoller die Hybris, man begreife eines anderen Dasein. Überschaubar erscheint, was nicht überschaut werden kann. So reizvoll wie riskant ist es, Verknüpfungen eines vergangenen Lebens aus Verschüttungen zu ›erlösen‹ oder, im Leichtsinn, der Nachgeborenen eignet, neue herzustellen. »Chro|no… […]: Wortbildungselement mit der Bedeutung ›Zeit, die Zeit betreffend‹«,32 so hieß es zu Beginn. Von den praktizierten chronographischen Verfahren ist betroffen nicht allein die Zeit jenes vergangenen Lebens, sondern auch die des Chronisten. Nicht blind ist er für das, was Fontane ihm warnend ins Logbuch schreibt – ohne von seiner Existenz auch nur geahnt zu haben und Kellers Biograph Baechtold vor Augen: Ich respektire seinen Fleiß, freue mich seiner Huldigung und Liebe, kann aber das Gefühl nicht los werden, daß er, vielleicht aus ›zu viel Liebe‹ was immer schlimm ist, die Sache falsch angefaßt hat. Mit dieser bis auf den letzten i Punkt gehenden Gründlichkeit, dürfen, in ihrem eignen Interesse, wie in dem der Leser und der Literatur, nur die ganz Großen behandelt werden, die, von denen Schlegel mal sagte »den Vorhang von einer neuen Welt wegziehen«. Das ist bei Keller […] nicht der Fall.33

Und bei Fontane? Seinem Chronisten, weit entfernt, zum Chronologen34 zu generieren, ist es verwehrt, hier den Schiedsspruch zu fällen. Was er in Rechnung stellt, schließt ihn aus. Anders gewendet: Er allein und für sich ausschließlich spricht das letzte Wort – und nur für das eigene Ohr.

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Anmerkungen 1

Wilhelm Petersen an Gottfried Keller, 5. Januar 1889. In: Mein lieber Herr und bester Freund. Gottfried Keller im Briefwechsel mit Wilhelm Petersen. Hg. von Irmgard Smidt. Stäfa (Zürich) 1984, S. 329.

2

Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Zweiter Teil. Das Oderland. Barnim-Lebus. Hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. Berlin/Weimar 1991, S. 279–280.

3

Johann Wolfgang Goethe: Maximen und Reflexionen (296). In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Bd. 17: Wilhelm Meisters Wanderjahre. Maximen und Reflexionen. Hg. von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John, S. 773.

4

Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman. In: AFA 8, 31984, S. 245.

5

Theodor Fontane an Paul Linsemann, 17. August 1898, HFA IV/4, S. 740. Linsemann hatte einen Artikel in Hermann Bahrs Zeit veröffentlicht.

6

Theodor Fontane an Emilie Fontane, 12. September 1898, HFA IV/4, S. 751.

7

Otto von Leixners Artikel erschien in der Täglichen Rundschau in zwei Teilen am 21. und 23. August 1898.

8

Theodor Fontane an Friedrich Fontane, 4. September 1898, HFA IV/4, S. 745.

9

Theodor Fontane an Friedrich A. Brockhaus, 25. März 1883. In: Fontane Blätter 61 (1996), S. 35.

10

Fritz Mende: Heinrich Heine. Chronik seines Lebens und Werkes. Berlin 1970, S. [VII].

11

Die bibliographischen Nachweise der Publikationen waren ein schwieriges Problem, das die Chronik zu überfordern drohte. Wie hätte sie, was für die Erschließungstiefe nicht nur wünschenswert, sondern zu fordern gewesen wäre, mit Autopsie jede Einzelveröffentlichung (z. B. die sich über Wochen und Monate erstreckenden Vorveröffentlichungen seiner Romane oder der Wanderungen) nachweisen können? Hier ist ein Kompromiss mit der parallel entstandenen Fontane-Bibliographie, die Wolfgang Rasch erarbeitet hat, möglich und ein reiner Glücksfall gewesen. Die exakte und detaillierte bibliographische Notierung dort war die entscheidende Entlastung für den jeweiligen und zusammenfassenden Beleg in der Chronik.

12

Diese Rubrik reizt förmlich dazu, weiter verfolgt zu werden – in Buchform oder in einer Ausstellung, die Fontanes Lektüre-Welt visuell vor Augen führt.

13

Die Chronik (Stand Mai 2006) als work in progress verzeichnet die postum erschienenen Keller-Aufsätze Fontanes (noch) nicht. Vgl. hierzu aber den Aufsatz von Regina Dieterle im vorliegenden Band, dort besonders Anm. 32.

14

Vgl. Dieterle (wie Anm. 13).

15

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 10. Dezember 1886. In: Theodor Fontane: Briefe an Wilhelm und Hans Hertz 1859–1898. Hg. von Kurt Schreinert, vollendet und mit einer Einführung versehen von Gerhard Hay. Stuttgart 1972 (Veröffentlichungen der deutschen Schillergesellschaft, Bd. 29), S. 287 (im Weiteren: FaH).

16

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 13. Mai 1889, FaH (wie Anm. 15), S. 312.

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17

Theodor Fontane an Siegmund Schott, 17. August 1898, HFA IV/4, S. 741.

18

Theodor Fontane an Moritz Necker, 9. April 1894, HFA IV/4, S. 339f.

19

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 11. Dezember 1896, HFA IV/4, S. 620; FaH (wie Anm. 15), S. 365.

20

Theodor Fontane an Siegmund Schott, 17. August 1898, HFA IV/4, S. 741.

21

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 19. April 1889, HFA IV/3, S. 683.

22

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 13. Mai 1889, HFA IV/3, S. 689–690.

23

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 1. Juli 1889, FaH (wie Anm. 15), S. 315.

24

Ebd.

25

Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar (=DLA) Sign. Cotta Fontane Fasz. 3,92; Fontane Blätter 68 (1999), 36 (erw.); DLA Sign. Cotta Vertr. 4b Fontane; FaH (wie Anm. 15), S. 542.

26

Theodor Fontane an Hans Hertz, 9. Juni 1889, FaH (wie Anm. 15), S. 314.

27

Theodor Fontane an Moritz Necker, 9. April 1894, HFA IV/4, S. 339–340.

28

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 11. Juni 1894, HFA IV/4, S. 367; FaH (wie Anm. 15), S. 353ff.

29

Theodor Fontane an Hanns Fechner, 12. Februar 1895, HFA IV/4, S. 422–423.

30

Adolf Frey: Erinnerungen an Gottfried Keller. Zweite, erweiterte Auflage. Mit Gottfried Keller’s Bild und zwei facsimilirten Compositionen Baumgartner’s. Leipzig: H. Haesel 1893, S. 170. Bei Ermatinger lautet diese Stelle: »[…] In der dämmrigen Halle des Krematoriums stand der kleine weiße Tannensarg mit Blumen überdeckt. Eine Klingel ertönte. Von unsichtbarer Kraft geschoben, glitt er leise vor eine eiserne Türe. Sie öffnete sich. Eine sonnenähnliche Glut umlohte die Umrisse des Sarges. Einen Augenblick, und unhörbar schloß sich die Pforte wieder. Ein kurzes Flammenbad, und alle Schauer der Vernichtung waren aufgehoben.« In: Gottfried Kellers Leben. Mit Benutzung von Jakob Baechtolds Biographie dargestellt von Emil Ermatinger. Vierte und fünfte Auflage. Stuttgart/Berlin 1920, Erster Band, S. 677.

31

Theodor Fontane an Paula Schlenther-Conrad, 12. Februar 1895, HFA IV/4, S. 422.

32

Duden. Das Große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Hg. und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion. Mannheim/Leipzig et al. 1994, S. 267.

33

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 11. Juni 1894, HFA IV/4, S. 367.

34

Vgl. Duden. Das Große Fremdwörterbuch (wie Anm. 32), S. 267.

»ein Werk von so eminenter Bedeutung« Der junge Otto Brahm und sein literaturkritisches Engagement für Keller und Fontane Regina Dieterle 1912, im Alter von 56 Jahren, war der Germanist und Theatermann Otto Brahm plötzlich an Darmkrebs erkrankt und der Krankheit innerhalb weniger Monate erlegen. Zwei Jahre später schreibt Paul Schlenther,1 sein langjähriger Freund, Fachkollege und Mitstreiter: »Ein Menschenalter und länger bin ich neben ihm Seite an Seite gegangen. Es fügt sich, daß ich der Überlebende bin. Ich fühlte das Recht und die Pflicht, von ihm zu sammeln, was ihn überleben wird.«2 Schlenther legte damals, 1914, im S. Fischer Verlag einen Band vor, der die wichtigsten literaturkritischen Essays und Feuilletons von Otto Brahm enthält, darunter auch die Arbeiten zu Gottfried Keller und Theodor Fontane. Zugeeignet ist der Band »Gerhart Hauptmann«.3 Für ihn haben sich Paul Schlenther und Otto Brahm besonders eingesetzt, aber auch für andere große Dramatiker der Jahrhundertwende wie Henrik Ibsen und Arthur Schnitzler.

Von Abrahamsohn zu Brahm Brahm war zwei Jahre jünger als Schlenther, aber offenbar der Bestimmendere der beiden.4 Von Anfang an trat er hervor als scharfer Rezensent, schuf sich früh seine Feinde und galt, wie Schlenther schreibt, bei »Stümpern und Spekulanten als schlimmer Verneiner«.5 Eines der bekannteren Berliner Theater soll dem jungen Kritiker kurzerhand Hausverbot erteilt haben. Er sei ruf- und kassenschädigend, empörte sich der damalige Theaterbesitzer. Zeitlebens hatte Brahm ein sicheres Gespür für bedeutende Literatur und Kunst. Schon als junger Kritiker bewunderte er den Erzähler Gottfried Keller und entdeckte die Bedeutung Fontanes als Romancier; beide Autoren waren mehr als eine Generation älter als er. Kaum 28 Jahre alt, legte Brahm die erste umfassende Keller-Monographie vor, wenige Jahre

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später machte er sich zum dezidierten Verteidiger von Fontanes Roman Irrungen, Wirrungen (1888). Über ihn selber ist eine hübsche Anekdote berühmt geworden. Ein Schlagfertiger soll, als Otto Brahm und Johannes Brahms sich in Berlin zum ersten Mal begegneten, zum jüngeren Brahm gesagt haben: »Lieber Nominativ, darf ich Ihnen Ihren Genitiv vorstellen?«6 Mit seinem Namen aber verhielt es sich so: Er wurde am 5. Februar 1856 als Otto Abrahamsohn in Hamburg geboren und wie der Komponist Johannes Brahms in der Hansestadt am Elbufer groß. Sein Vater Julius Abrahamsohn, ein jüdischer Kaufmann »von bescheidenen Mitteln«,7 schickte den Jungen im Alter von dreizehn Jahren auf ein jüdisches Knabeninstitut in Perleberg (Prignitz), damals preußische Garnisonsstadt. Von hier zogen 1870 die Truppen unter Musik und Glokkenspiel in den Deutsch-Französischen Krieg, hierher kehrten sie, von der Bevölkerung jubelnd begrüßt, siegreich zurück. 1871, im Jahr der Reichsgründung, schloss Otto Abrahamsohn, wie er damals noch hieß, seine Perleberger Schulzeit mit dem Einjährigenexamen ab. Auf Wunsch des Vaters wechselte der 15-Jährige ins Bankfach und begann eine Lehre im Hamburger Bankhaus Frege & Sohn. Er war aber nicht glücklich mit dieser Berufsrichtung, denn sein Entschluss war längst gefasst: Er wollte Schriftsteller werden. Gegen den väterlichen Willen brach er die Banklehre Ostern 1875 ab. Die Entschiedenheit, mit der dies geschah, ließ den Vater schließlich nachgeben, doch verlangte er, bevor er ein Studium bewilligen wollte, von seinem Sohn eine Talentprobe. Niemand geringerer als Julius Rodenberg, der Herausgeber der renommierten Deutschen Rundschau, wurde angefragt, sein Urteil zu einer Arbeit des 19-Jährigen abzugeben. Rodenberg zögerte nicht und attestierte dem jungen Mann auch wirklich Talent, zum Schreiben wie zum Studieren. Und so ermöglichte der Vater dem Sohn ein Germanistikstudium in Berlin. 1879, nach Zwischenstationen in Heidelberg (wo er Freundschaft schloss mit Paul Schlenther), Straßburg und Jena, promovierte Otto Abrahamsohn im Alter von 23 Jahren. Auch sein Hochschullehrer, der einflussreiche Berliner Germanistikprofessor Wilhelm Scherer (1841– 1886), hatte rasch die besondere Begabung seines Schülers erkannt, fürchtete aber, der jüdische Name würde ihm zum beruflichen Handicap. Die antisemitische Stimmung wurde damals, im sogenannten Antisemitismusstreit, von prominenter Seite öffentlich geschürt und bedrohte die politisch-rechtlichen Errungenschaften der jüdischen Emanzipation.8 In dieser Situation empfahl Scherer dem jungen Abrahamsohn, seinen Namen zu ändern. Der promovierte Germanist entschied sich für das vieldeutige Pseudonym Otto Anders. Sein Lehrer aber schlug vor: Otto Brahm. Und dabei blieb es denn auch. Von 1880 an unterzeichnete er seine

Otto Brahms Engagement für Keller und Fontane

Abb. 1: Die Zwanglosen. Radierung von Karl Stauffer-Bern. Berlin 1886: Otto Brahm mit seiner Büste à la Schiller (u. r.), Paul Schlenther (u. l.), Verleger Hans Hertz, Sohn von Wilhelm Hertz (o. l.), Sänger Stange (o. r.).

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Aufsätze und Kritiken mit diesem neuen Namen. Doch trotz Namensanpassung und obwohl Brahm später (um 1889) aus der jüdischen Gemeinde austrat und konfessionslos blieb,9 galt er im Bewusstsein seiner Zeit als jüdischer Intellektueller. Auch Keller hat nach der ersten Begegnung mit dem jungen Brahm festgehalten: »Dieser Otto Brahm ist […] ein feines und gescheites Jüdchen und voll reinen Wohlwollens, wie die berühmten Juden des vorigen [18.] Jahrhunderts.«10

Otto Brahms Freundschaft mit Gottfried Keller Als Brahm eben sein Germanistikstudium abgeschlossen hatte, erschien im Stuttgarter Verlag Göschen die zweite Fassung des Grünen Heinrich (1879/80). Wilhelm Scherer hatte sich kurz zuvor verpflichtet, für die Deutsche Rundschau eine Besprechung zu schreiben. In diesem Zusammenhang richtete sich Herausgeber Julius Rodenberg, der einstige Fürsprecher des Hamburger Lehrlings, an Gottfried Keller in Zürich. Am 14. Juli 1880 ließ er ihn wissen, Professor Scherer sei leider erkrankt und könne die Kritik zum Oktober nicht liefern, doch werde ihn ein exzellenter Schüler vertreten, der Schüler heiße: »Dr. Otto Brahm«.11 Brahms Besprechung des Grünen Heinrich erschien im selben Jahr im Dezemberheft (1880) der Deutschen Rundschau. Außerdem brachte Rodenberg auch im Juni 1882 einen langen Keller-Essay von Brahm. Diese zweite Keller-Arbeit hatte der junge Germanist wiederum an Scherers statt übernommen. Das Werk des Schweizers war ihm allerdings auch unabhängig von seinem Lehrer ein großes Anliegen. Innert kurzer Frist überarbeitete er seinen Rundschau-Artikel und publizierte ihn in Buchform im Berliner Verlag von A. B. Auerbach unter dem Titel Gottfried Keller. Ein literarischer Essay (1883). Hier wie dort findet sich die bewundernde, urteilssichere Wendung: »ein Werk von so eminenter Bedeutung«.12 Der Essay über Gottfried Keller steht am Anfang einer Reihe gewichtiger Publikationen, die Otto Brahm innerhalb von zehn Jahren vorlegte, darunter auch sein Stauffer-Buch, erschienen 1893. Karl Stauffer-Bern (1857–1891) ist neben Keller der zweite bedeutende Schweizer Künstler, mit dem sich Brahm intensiv befasst hat. Stauffer, der nicht nur die gültigsten Porträts von Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898), sondern auch von Brahm und Schlenther schuf, gehörte während seiner Berliner Zeit zum Freundeskreis um Otto Brahm (Abb. 1). Die Tragödie des Künstlers, die ihren Ausgang in Zürich nahm, im Hause Welti-Escher, wo auch Gottfried Keller verkehrte, erschütterte Brahm zutiefst. Alle beruflichen Vorhaben behandelte er

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damals als nachrangig, bis er sein Stauffer-Buch, das den Künstler rehabilitieren sollte, geschrieben hatte.13 Als im Juni 1882 Brahms Essay über Gottfried Keller in der Deutschen Rundschau erschien, war der engagierte Berliner Kritiker noch nicht persönlich mit »Meister Gottfried« bekannt. Seine Studie war der SchererMethode verpflichtet, war also streng positivistisch: Dazu gehörte die Charakterisierung des Autors, die Periodisierung des Gesamtwerks, das Wörterzählen und das Vergleichen verschiedener Fassungen. So hatte Brahm die erste und die zweite Fassung des Grünen Heinrich nebeneinandergelegt und war zum Schluss gekommen, der Roman sei in jedem Fall »ein Werk von erstem Range«,14 die erste Fassung aber die literarisch gelungenere. Besonders verteidigte er in seinem Essay den tragischen Schluss, und zwar mit der psychologischen Begründung, der Autor habe seine Figur als eine tragische angelegt – ähnlich wie Goethe seinen Werther. Gottfried Keller las, was Otto Brahm in der Deutschen Rundschau schrieb, mit großem Interesse, freute sich über die Würdigung, ärgerte sich aber gleichwohl.15 Die philologische Methode fand er ganz verfehlt, das Wörterzählen abstrus, die Auffassung vom Künstler höchst befremdlich. Aber neugierig war er, wer dieser junge Kritiker sei. »Im Sommer 1882«, so erzählt Brahm, »fuhr ich nach Zürich, um Keller’s Bekanntschaft zu machen.«16 Keller wohnte damals mit seiner Schwester Regula in Zürich-Enge, im Haus Oberes Bürgli. Und während Brahm sich den Weg von einem Zürcher Polizisten zeigen ließ und mit ihm nun hügelan ging, kam ihnen der Dichter unversehens selbst entgegen: ein kleiner Herr, wie Brahm schreibt, mit wohlgerundetem Körper, einem Schlapphut auf dem Kopf und einer Brille auf der Nase. Dem Besucher aus Berlin war, als man sich gegenseitig vorstellte, als entdecke er im Gesicht seines Gegenübers Züge des verträumten und zaudernden grünen Heinrich, als sehe er leibhaftig Pankraz, den Schmoller.17 »Gleich an jenem ersten Tage der Bekanntschaft hat mich Keller in die ›Meise‹ geführt«, fährt Brahm fort, »wo ich viele unvergeßliche Stunden dann mit ihm verlebt habe: in dem alten Zunfthaus an der Limmat, in dessen erstem Stock man seit mehr als einem Jahrhundert ›einen Guten schenkt‹. […] Junge und alte Weine, Burgunder und Champagner habe ich hier mit Keller durchprobiren dürfen, und zu höherer Ehre deutscher Literatur ward wohl auch ein Glas über den Durst einmal getrunken.«18 (Abb. 2) Als das Zunfthaus zur Meisen 1886 seinen Restaurationsbetrieb aufgab, erhielt Brahm von Keller eine Postkarte, worin dieser ihm »ganz traurig« meldete: dass ihr altes Lokal nicht mehr zugänglich sei und man sich nun beim »Saffran«, auf der anderen Seite der Limmat, treffe. Jetzt saß auch der Maler Arnold Böcklin mit am Tisch.19 Aber »Meister

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Abb. 2: Zunfthaus zur Meisen mit Restaurant im ersten Stock, Zürich um 1885

Böcklin, des Bieres froh, lockte in andere Gefilde der Seligen«, schreibt Brahm, »und durch winklige Gassen ging es zum ›Weisshaar‹ hin. Wenn man dann Abschied nahm, am alterthümlichen Brunnen, unter sternefunkelndem Himmel, zog Keller langsam, doch erhobenen Hauptes, seinen Berg hinan;20 und ich sehe ihn noch vor mir«, so Brahm, »den breiten Mann in der schmalen Straße, wie sich seine Silhouette an der Mauer abzeichnet, mählig höher steigend und höher. Seldwylerstreiche und Märchen und Schnurren kamen Einem in den Sinn.«21 (Abb. 3) Damals trug man sich in Zürich bereits viele Anekdoten zu, auch viel Klatsch über Kellers nächtliches Leben und Treiben. Otto Brahm hielt dem allem entgegen, er habe Keller weder als großen Schweiger noch je als jähzornigen Mann erlebt: »[M]an brauchte nur ruhig zu warten«, so versichert Brahm glaubwürdig, »bis er aus seinen Träumen allmälig frei ward, man brauchte nur gleichmäßig mitzuhalten beim guten Glase, und dann und wann vorsichtig ein Wort zu wagen, ein Thema anzuschlagen – und plötzlich war die Redelust da und das charmanteste

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Plaudern.«22 Brahm erlebte einen Gottfried Keller, der sich in einen großartigen Mimen verwandeln konnte, andere nachahmte, »kichernd«, »piepsend«, »mit zusammengezogener Nase« oder »in tiefem Baß, mit langsam ausholenden Gebärden«.23 Nach Otto Brahm hätte man es »nur niederzuschreiben brauchen und eine Keller’sche Novelle war fertig«.24

Otto Brahms Freundschaft mit Theodor Fontane Zur selben Zeit, als er sich mit Keller befreundete, schloss Otto Brahm, dessen Wahlheimat Berlin geworden war, auch Freundschaft mit Theodor Fontane. Denn 1881 wurde er sein Kollege bei der Vossischen Zeitung und übernahm, während Fontane das Theaterreferat über die Königlichen Schauspiele hatte, die Berichterstattung für die Berliner Privattheater. Die beiden nach Herkunft, Alter, Gestalt und Charakter so ungleichen Theaterkritiker – der kleine, etwas rundliche, eher kühl wirkende 25-jährige Intellektuelle und der hochgewachsene 62-jährige Kritiker, Schriftsteller und Causeur, sie verstanden sich auf Anhieb und entwickelten rasch eine große Vorliebe füreinander. Bald verkehrte Brahm, der wie die Fontanes im Zentrum Berlins wohnte, regelmäßig in der Potsdamerstraße 134 c, brachte Neuigkeiten aus der Theater- und Zeitungswelt und verplauderte sich nachmittags beim Kaffee oder abends als gern gesehener Gast beim Diner. So befreundete er sich mit der ganzen Familie, insbesondere mit Fontanes Frau Emilie und der kapriziösen Tochter Martha (geb. 1860). Aber auch mit den drei Söhnen George (geb. 1851, Offizier), Theodor jun. (geb. 1856, Jurist) und Friedrich (geb. 1864, Buchhändler und Verleger) verstand Brahm sich gut. Denn sie alle verband ein leidenschaftliches Interesse für die Literatur und vor allem für das aktuelle Theater. Der erste Besuch Otto Brahms, den Fontane in seinem Tagebuch notierte, findet sich unter dem 23. April 1882. Das Gespräch, das ein vergnügliches gewesen sein muss, drehte sich offenbar um »bornirte Berühmtheiten«.25 Ein Hauptgesprächsgegenstand war außerdem die Kritik und wie sie zu handhaben sei. Brahm, kurzgesagt, hatte die objektive, Fontane die subjektive Methode. Auf dem Gebiet der Kritik ließ sich also gut streiten. Fontane schätzte die Gespräche mit Brahm, denn sie waren inspirierend und klärend. »Sie sind wie zum Kritiker geboren«, schrieb er ihm gleich zu Beginn ihrer Freundschaft »scharf, klar, fein und, was bei dieser glücklichen Dreiheit kaum ausbleiben kann, ein brillanter Stilist. Alles, was Sie schreiben, les ich mit Vergnügen, wie man einen klugen Menschen gern sprechen hört.«26

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Abb. 3: Restaurant Weisshaar (1937 abgetragen), Spiegelgasse 19, Zürich; von unbekannter Hand

Otto Brahms Engagement für Keller und Fontane

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Einen Kritiker wie Brahm – den hätte sich Fontane auch für die eigenen Werke, vor allem für die eben entstehenden Berliner Romane gewünscht. Und fast glaubte er, dieser Wunsch sei in Erfüllung gegangen, als Brahm ihm im Juni 1882 eine hervorragende Kritik zu L‘Adultera (1882) übersandte. Nur der Name des Rezensenten machte ihn stutzig. »Hochgeehrter Herr Doktor«, wandte sich Fontane daher an Brahm, »Sind Sie selbst P. Schlenther […] oder aber ist er ein selbständiges Ich, das leibhaftig als ein allerwirklichster Paul Schlenther neben Ihnen wandelt – gleichviel, ich bin, so oder so, dem Träger dieses Namens sehr zu Danke verpflichtet. Das nenn ich kritisiren!«27 Er fühle sich, so gesteht Fontane dem um viele Jahre Jüngeren, in seinem Künstlertum zum ersten Mal wirklich verstanden. Der Germanist und Kritiker Paul Schlenther, seit 1879 eng mit Brahm befreundet, wurde nun ebenfalls ein häufiger und gern gesehener Gast der Familie Fontane.28 Schlenther und Brahm aber, das Dioskurenpaar, sprachen mit einer Stimme. Beide wurden die publizistischen Wegbereiter des späten Fontane. Brahms Kritik zu Irrungen, Wirrungen, die aus heutiger Sicht gewiss etwas »einäugig«29 wirken mag, macht deutlich, worum es den jungen Modernen damals ging. Fontane sei, so Brahm, ein moderner Autor, weil sein Berliner Roman bestürzend realistisch und in der Figurengestaltung von tiefer psychologischer Wahrheit sei. »Jeder, der so viel Kraft und Tiefe, so viel reifes Können und modernes Wollen mitbringt«,30 so begründete Brahm sein Plädoyer für den ›Alten‹, sei seiner Richtung willkommen. Fontanes Berliner Roman, so wünschte er, möge Schule machen, weil dieser Roman sich ganz der Gegenwart zuwende und zugleich von höchster künstlerischer Meisterschaft zeuge. Wie die Brahm-Schlenther-Partei für Fontane warb, so wiederum unterstützte Fontane wachen Sinnes auch deren Bestrebungen. Besonders wichtig wurde dies, als 1889 unter Brahms Federführung der Verein Freie Bühne31 gegründet wurde und die Uraufführung von Gerhart Hauptmanns dramatischem Erstling Vor Sonnenaufgang am 20. Oktober 1889 eine laute Protestwelle auslöste. Denn da stand der 70-jährige Fontane, der das Stück geradezu leidenschaftlich begrüßte, auf der Seite der Jungen und der jungen dramatischen Kunst. Brahm dankte es ihm zeitlebens.

Otto Brahm entlockt Fontane ein Wort zu Keller Es war Otto Brahms Keller-Buch von 1883, das Fontane zum ersten und einzigen Mal veranlasste, öffentlich und grundsätzlich Stellung zu nehmen zu einem Dichter, den er längst wahrgenommen, von dem er praktisch alles gelesen und zu dessen Werk er drei Kritiken verfasst hatte, die

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er aber aus unbekannten Gründen zu Lebzeiten nicht veröffentlichte.32 Offenbar hatte Otto Brahm ihm seine literaturwissenschaftliche Studie Gottfried Keller. Ein literarischer Essay (1883) überreicht und Fontane rezensierte jetzt die Arbeit des jüngeren Kollegen im eigenen Blatt. Die Kritik erschien in der Vossischen Zeitung am 8. April 1883.33 Was Brahm über Keller sage, so erklärt Fontane als Rezensent, sei alles »trefflich, durchaus zutreffend und wie aus der Seele gesprochen«.34 Die Keller’sche Dichtung finde, wie Brahm erkenne, Töne für »das Höchste und das Tiefste, das Keuscheste und das Allerderbste, das Herb’ und Süße, das Erhabene und das Launige«.35 Einig gehe er auch mit Brahms Urteil, Keller sei ein schweizerischer und ein deutscher Dichter. Das Schweizerische bei Keller, so hatte es Brahm gefasst, sei »das Tüchtige und Gerade, das Praktische und Verständige, das Maßvolle und Realistische, das Trockne und Derbe«.36 Schweizerisch sei, so Brahm und so auch Fontane, nicht zuletzt der pädagogische Zug. Keller stehe in der Tradition von Pestalozzi und Gotthelf. Und so seien die Menschen, die er schildere, zwar an allerlei Narrheiten erkrankt, doch würden ihre Narrheiten mittels der richtigen Kur zuletzt immer geheilt. Ein deutscher Dichter aber sei Keller, weil er – und auch hier stimmte Fontane Brahm zu – deutsche »Bildungseinflüss[e]«37 genossen habe, er habe Jean Paul und die Romantiker gelesen und sei bewusst nach Deutschland gegangen, in das Land seiner Dichter, in die Welt seiner Phantasie. Diese Doppelnatur von Kellers Dichtung mache seine Besonderheit aus: sie verbinde das Schweizerische, also Realistische, ModernGegenwärtige mit dem Deutschen, das heißt – im Sinne des Dichters – mit dem Phantastischen, Traumhaften und Poetischen. Diese Mischung, so Brahm, sei die »Dichtung der Zukunft«.38 An dieser Stelle protestierte Fontane: »Keller, wenn er’s trifft, trifft es besser als andre. Zugegeben. Seine Schüsse gehen aber auch häufig total vorbei […]. Und warum vorbei?« Es folgt das berühmte Urteil, Keller fehle der »Stil«, Keller sei »der Mann des Märchens«, »der Märchenton« sei »seine Tugend und seine Schuld«. »Er gibt eben all und jedem einen ganz bestimmten allerpersönlichsten Ton«, so erregt sich der Kritiker (dem später dasselbe nachgesagt werden wird), und dieser Ton passe mal und mal passe er eben nicht. »Paßt er, so werden, ich wiederhol’ es, allergrößte Wirkungen geboren, paßt er aber nicht, so haben wir Dissonanzen, die sich gelegentlich bis zu schreienden steigern. Er kennt kein Suum cuique, verstößt vielmehr beständig gegen den Satz: ›Gebet dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott was Gottes ist.‹ Erbarmungslos überliefert er die ganze Gotteswelt seinem Keller-Ton.«39

Otto Brahms Engagement für Keller und Fontane

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Im zweiten Teil der Kritik, die der philologischen Methode gewidmet ist, urteilt Fontane noch schärfer. Brahms Keller-Monographie sei zwar eine überdurchschnittliche Leistung, so erfahren die Leserinnen und Leser der Vossischen Zeitung, aber der Aufwand verlohne seinen Gegenstand nicht, denn Keller sei keiner der ganz Großen. Gewiss sei er »ein ausgezeichneter Schriftsteller« und »bedeutender Künstler«,40 aber er erfinde eben die Welt nicht neu. »Alles was er bringt, war nach Form und Inhalt schon vorher da: das Zyklische, das Realistische, das märchenhaft Romantische, selbst die Verquickung beider. Er produziert einen vorzüglichen Wein, und die Sorgfalt, erst in Beackerung und dann in Behandlung, erhebt sein Gewächs bis zur Höhe berühmtester Jahrgänge, ja gelegentlich darüber hinaus; aber der Berg selbst war längst vorher da und die Rebenart auch.«41 So folgert Fontane, das Werk Gottfried Kellers verdiene die Brahm’sche Methode, die exakte philologische Untersuchung nicht. Der Kritiker, der bei dieser Auseinandersetzung offenbar auch um eigene künstlerische Positionen rang, wagte sich mit seinem leidenschaftlichen öffentlichen Urteil weit vor. Von Keller ist keine Reaktion auf diese Kritik bekannt, keine Reaktion auf Fontane überhaupt.42 Hingegen ist ein Brief von C. F. Meyer überliefert, der zum selben Gegenstand in großer Ruhe spricht. Meyer schreibt am 16. Februar 1883 an Gottfried Keller: »O[tto] Brahm in seinem Büchlein zieht allerdings etwas harte Linien durch das lebendige Leben, aber zur Bewältigung Ihres Reichtums sind seine Rubriken doch sehr dienlich. Mir wenigstens und wohl vielen andern war ein Hilfsbüchlein willkommen.«43 Fontanes Kritik von 1883 blieb nicht sein letztes Wort zu Keller. In den Jahren bis zu seinem Tod äußerte er sich, wenngleich nicht mehr öffentlich, so doch in seinen Briefen, immer wieder neu und mit wachsender Sympathie über den Zürcher Schriftstellerkollegen.44 Der Wandel ist gewiss auch Otto Brahms Verdienst. Brahm, der Keller in den 1880er-Jahren regelmäßig in Zürich besuchte, erzählte in der Potsdamerstraße 134 c viel und lebendig von den Stunden in der »Meise«, im »Saffran« oder im »Weisshaar« und von den gelegentlichen Ausflügen entlang des Zürichseeufers. Solche Erzählungen interessierten die Fontanes. Martha zum Beispiel erklärte Gottfried Keller 1890 zu ihrem Lieblingsschriftsteller.45 Auch ihr Vater zählte ihn um diese Zeit zu den Autoren, die ihm besonders wichtig waren. Gefragt nach den »besten Büchern«, nannte er neben einer Reihe anderer auch: »Gottfried Keller, alles«, leicht süffisant hinzufügend: »mit Ausnahme der Gedichte«.46 Ob umgekehrt Keller Fontanes Werk etwas abgewinnen konnte, ist schwer zu sagen. Keller hat sich ja nicht vernehmlich dazu geäußert, zudem das Erscheinen der Effi Briest (1895) oder des Stechlin (1898) nicht mehr erlebt. Das einzige FontaneBuch, das sich nachweislich in Kellers Privatbibliothek befand, ist die

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Monographie Christian Friedrich Scherenberg und das literarische Berlin von 1840–1860 (erschienen 1885 im Verlag Wilhelm Hertz).47 Vermutlich hat der gemeinsame Berliner Verleger – am 9. März 1885 übernahm Wilhelm Hertz alle Rechte an Kellers Werk – ihm diesen Band unaufgefordert überreicht in der Annahme, sein Schweizer Autor habe ein Interesse daran. Es hat dies auch etwas Berührendes, sich vorzustellen: Der alte Gottfried Keller liest sich mit einem Fontane in der Hand in das preußische Berlin zurück, in die Zeit, als er dort zu Hause war (1850–1855) und seinen Grünen Heinrich schrieb.

Nach Kellers und Fontanes Tod Als Keller am 15. Juli 1890 starb, hatte Otto Brahm in Berlin die Freie Bühne sowie die Zeitschrift gleichen Namens – Freie Bühne für modernes Leben – gegründet. In dieser Zeitschrift, die Rodenbergs Deutscher Rundschau bald den Rang ablaufen sollte, erschien Brahms große Würdigung des Dichters, in der er auch dessen letzte schwere Lebenszeit nicht verhehlte: »einen der Besten der Zeit, so greisenhaft auslöschen zu sehen – fürchterlicher Anblick, den ich nie mehr vergessen kann«.48 In der Literatur, auf dem Theater brach jetzt eine neue Zeit an. 1894 übernahm Otto Brahm die Leitung des Deutschen Theaters (Berlin) und setzte hier neben Ibsen auch Hauptmann und Schnitzler durch. Keller aber blieb als Dichter und Persönlichkeit unvergessen. Für Fontane unter anderem deshalb, weil die »Schilderungen von Brahm«49 so lebendig waren, dass er zeitweise versucht war zu glauben, er habe Keller persönlich gekannt. Für Brahm, weil er, um die Theaterkämpfe durchzustehen, gelegentlich »zum alten Gottfried« zurückkehrte und dann feststellte, dass seine »Liebe zu ihm ganz unvermindert«50 war. Brahm blieb in gleicher Weise auch Fontane treu. Als ihn am 21. September 1898 die Nachricht erreichte, Theodor Fontane sei am Vorabend gestorben, begab er sich um die Mittagsstunde in die Potsdamerstraße und ließ sich von Martha, der Tochter, ans Totenlager führen: er fand, wie er später erzählt hat, den Verstorbenen »[ohne] Spur von Kampf oder Schmerz in der Miene, Philosoph noch im Tode«.51 An der Trauerfeier auf dem Französischen Friedhof in der Liesenstraße fiel auf, wie still Otto Brahm war, wie zurückhaltend – es war seine Art zu trauern. Erst Wochen später lud er zu einer großen Gedenkfeier ins Berliner Lessing-Theater. Auf seine Mitinitiative hin wurde dem Dichter im Tiergarten schließlich ein Denkmal gesetzt. Als es am 7. Mai 1910 enthüllt wurde, vermeldete noch gleichentags der Berliner Börsenkurier : Zwar hätten dunkle Wolken und Regengüsse die Feier begleitet und von den Re-

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den sei wenig zu verstehen gewesen. Doch trotz Sturm und Wind hätten recht viele ausgeharrt, auch eine Anzahl Schauspielerinnen »von ehedem«, und mitten unter ihnen, unter einem schwarzen Regenschirm, sei auch gesehen worden: »Dr. Otto Brahm«.

Anmerkungen 1

Zu Paul Schlenther vgl. unten Anm. 28.

2

Otto Brahm. Kritische Schriften. Hg. von Paul Schlenther. Bd. 2: Literarische Persönlichkeiten aus dem neunzehnten Jahrhundert. S. Fischer Verlag. Berlin 1915 [vordatiert; erste Buchausgabe November 1914], S. XIV. Zu Gottfried Keller, S. 135–235; zu Theodor Fontane, S. 266–279.

3

Ebd.

4

Ausführlichere Lebensbeschreibungen von Otto Brahm finden sich bei Georg Hirschfeld: Otto Brahm. Briefe und Erinnerungen. Berlin 1925, sowie bei den Germanisten Oskar Koplowitz [d. i. Oskar Seidlin] und Fritz Martini. Vgl. Oskar Seidlin: Der Theaterkritiker Otto Brahm. 2. Aufl. Bonn 1978 (Studien zur Literatur der Moderne, Bd. 6) [Das Werk erschien erstmals 1936 unter dem Autornamen Oskar Koplowitz u. d. T.: Otto Brahm als Theaterkritiker], S. 8–23. Vgl. auch Otto Brahm: Kritiken und Essays. Ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Fritz Martini. Zürich 1964 (Klassiker der Kritik), S. 7–78. – Oskar Seidlin (1911–1984) und später Fritz Martini haben große Verdienste um Otto Brahm und sein Werk. Seidlin wurde in den 1930er-Jahren als jüdischer Intellektueller vom nationalsozialistischen Regime ins Exil getrieben. Er emigrierte zuerst in die Schweiz, wo er 1936 an der Universität Basel über Otto Brahm promovierte, 1938 ging er in die USA. 1953 edierte er den Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm. Als 1978 seine Dissertation im Bouvier-Verlag neu erschien und damit erstmals wirklich rezipiert werden konnte, schrieb der Herausgeber Helmut Koopmann über das Buch: »[E]s lag an den Umständen einer barbarisch gewordenen Zeit, dass ihm, der Arbeit eines Juden über einen Juden, eine Verbreitungs- und Wirkungsmöglichkeit nahezu völlig versagt war« (vgl. das Vorwort zu Oskar Seidlin: Der Theaterkritiker Otto Brahm, o. S.). Verdient gemacht um die Otto Brahm-Rezeption hat sich in jüngerer Zeit besonders auch Peter Sprengel, unter anderem mit seiner Briefausgabe Otto Brahm – Gerhart Hauptmann: Briefwechsel 1889–1912. Erstausgabe mit Materialien. Tübingen 1985 (Deutsche Text Bibliothek, Bd. 6).

5

Otto Brahm. Hg. von Paul Schlenther (wie Anm. 2), S. XII.

6

Vgl. auch Hirschfeld 1925 (wie Anm. 4), S. 18.

7

Der Briefwechsel Arthur Schnitzler – Otto Brahm. Hg. und eingel. von Oskar Seidlin. Berlin 1953 (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte, Bd. 57), S. 9.

8

1878 hatte der Berliner Hofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) die konservativrechte Christlich-soziale Partei gegründet, die den Antisemitismus zum Programm erhob. Eine Rede des Hofpredigers am 16. September 1879 und ein Artikel von Heinrich von Treitschke (Unsere Aussichten im November-Heft 1879 der Preußischen Jahrbücher) hatte eine breite Diskussion der »Judenfrage« in der Öffentlichkeit ausge-

178

Regina Dieterle löst. Am 20. November 1880 widersetzte sich Graf Otto von Stolberg-Wernigerode (1837–1896), Vizepräsident des Ministeriums, von staatlicher Seite her der Forderung nach Ausschluss der Juden aus Regierungs- und Verwaltungsämtern und betonte erneut die gesetzlich verankerte religiöse Gleichberechtigung.

9

Vgl. den Lexikonartikel Otto Brahm von Sascha Kiefer, in: Internationales GermanistenLexikon. Bd. 1. Hg. und eingel. von Christoph König. Berlin/New York 2003, S. 258f., sowie den Eintrag Otto Brahm von John Osborne, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 2. Hg. von Walther Killy. Gütersloh/München 1988, S. 138ff.

10

Gottfried Keller an Marie Frisch, 13. August 1882, GB 2, S. 289.

11

Julius Rodenberg an Gottfried Keller, 14. Juli 1880, HKKA/CD.

12

Das Urteil bezieht sich auf Kellers Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe, vgl. Otto Brahm: Gottfried Keller. In: Deutsche Rundschau, Juni 1882, S. 403435, hier S. 415, sowie ders.: Gottfried Keller. Ein literarischer Essay. Berlin 1883, 150 S., hier S. 67. – Gottfried Kellers Bibliothek befindet sich heute in der Zentralbibliothek Zürich (ZB). Der genannte Keller-Essay ist nicht in diesem Bestand. Das einzige Buch von Otto Brahm aus Kellers Besitz, das die ZB aufbewahrt, ist dessen Schiller-Biographie (Teil I; Teil 2 ist nie erschienen). Vgl. Otto Brahm: Schiller. Verlag von Wilhelm Hertz (= Bessersche Buchhandlung). Berlin 1888. Der Band aus der Keller-Bibliothek trägt die Signatur ZB 43.431. Vgl. auch Peter Villwock: Was stand in Kellers Bibliothek? In: Text 4 (1998), S. 99–118.

13

Näheres dazu vgl. Regina Dieterle: Lydia Escher. Theodor Fontane und die Zürcher Tragödie. Zürich 2006. – Die Karl Stauffer-Radierung (Abb. 1) hat mir freundlicherweise HansPeter Krähenbühl zur Verfügung gestellt. Für die Erlaubnis, sie hier abzubilden, sei ihm herzlich gedankt.

Otto Brahm. Hg. von Paul Schlenther (wie Anm. 2), S. 159. 15 Zur kritischen Wertung des Grünen Heinrich vgl. auch den Aufsatz von Walter Morgenthaler: Die Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA). »Der grüne Heinrich«,

14

im vorliegenden Band. 16

Otto Brahm: Gottfried Keller. Persönliche Erinnerungen. In: Freie Bühne für modernes Leben. 1. Jg., Heft 26, 30. Juli 1890, S. 681; der Artikel ist wiederabgedruckt in: Otto Brahm. Hg. von Paul Schlenther (wie Anm. 2), S. 223–232.

17

Brahm, 30. Juli 1890 (wie Anm. 16), S. 682.

18

Ebd.

19

Arnold Böcklin (1827–1901) lebte und arbeitete seit 1884 in Zürich und hatte sich eng mit Gottfried Keller befreundet.

20

Keller wohnte jetzt im Haus Thaleck am Zeltweg in Hottingen-Zürich.

21

Brahm, 30. Juli 1890 (wie Anm. 16), S. 682.

22

Ebd., S. 683.

23

Ebd.

24

Ebd.

25

Tagebucheintrag vom 23. April 1882. In: Theodor Fontane: Tagebücher 1866–1882, 1884–1898. Hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin 1994 (GBA Tage- und Reisetagebücher. Bd. 2), S. 169.

Otto Brahms Engagement für Keller und Fontane 26

179

Theodor Fontane an Otto Brahm, 29. Oktober 1882, HFA IV/3, S. 212.

27

Theodor Fontane an Otto Brahm, 23. Juni 1882, HFA IV/3, S. 193.

28

Als die Vossische Zeitung (VZ) den unbequemen Brahm 1885 entließ, wurde mit Hilfe Fontanes Paul Schlenther (1854–1916) sein Nachfolger als Theaterrezensent. Schlenther stammte aus dem ostpreußischen Insterburg. Er hatte 1881 bereits Fontanes Roman Ellernklipp rezensiert. 1884 gründete er mit Otto Brahm die Berliner literarische Gesellschaft der »Zwanglosen«, wurde mit diesem ein Vorkämpfer des deutschen Naturalismus und war Mitinitiant des Vereins Freie Bühne. Nach 1889 wurde er Fontanes Nachfolger bei der VZ, 1898 ging er als Direktor des Burgtheaters für zehn Jahre nach Wien. Er war Mitglied der von Fontane bestimmten Nachlass-Kommission und betreute eine Reihe von Publikationen, die kurz nach dessen Tod erschienen. 1905 gab er selber eine Auswahl von Fontanes Theaterkritiken heraus unter dem Titel Causerien über Theater, 1910 edierte er zusammen mit Otto Pniower eine Auswahl von Fontanes Briefen an seine Freunde. Paul Schlenther zeichnete außerdem verantwortlich für die 1915 bei S. Fischer (Berlin) erschienene fünfbändige Ausgabe von Fontanes erzählerischem Werk. Er war verheiratet mit der Schauspielerin Paula Conrad (1862–1938), beide waren zeitlebens enge Freunde der Familie Fontane (vgl. auch Helmuth Nürnberger und Dietmar Storch: Fontane Lexikon. München 2007, S. 398).

29

Vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1890. München 1998, S. 356.

30

Otto Brahm: Theodor Fontane’s Berliner Romane. In: Frankfurter Zeitung, 20. April 1888, Nr. 111.

31

Vgl. Fontane Lexikon (wie Anm. 28), S. 153 (Eintrag ›Freie Bühne für modernes Leben‹). Am 29. April 1890 schrieb Fontane: »Das literar. Leben des Winters gruppirte sich um die ›Freie Bühne‹, sowohl um das Theater wie um das Blatt dieses Namens. Ich verfolge all diese Erscheinungen mit dem größten Interesse […].« (An Georg Friedlaender, 29. April 1990; zitiert nach Fontane Lexikon, S. 153).

32

Es handelt sich um die Aufsätze zu Die Leute von Seldwyla; niedergeschrieben etwa 1875, erstmals veröffentlicht in: Theodor Fontane: Aus dem Nachlass. Hg. von Josef Ettlinger. Berlin 1908, S. 250–253; HFA III/1, S. 493ff.; Züricher Novellen; niedergeschrieben 1877, erstmals veröffentlicht in Theodor Fontane: Aus dem Nachlass. Hg. von Josef Ettlinger, S. 253–254; HFA III/1, S. 496f.; und Sieben Legenden; Datum der Niederschrift unbekannt [März 1883?], erstmals veröffentlicht in: Neue Schweizer Rundschau 1 (1950), S. 31f., HFA III/1, S. 497f. Eine längere Kritik zu den Sieben Legenden ist auch in der Rezension des Otto Brahm-Buches (HFA III/1, S. 499–508, besonders 502f.) enthalten. Die beiden Kritiken sind im Wortlaut nicht identisch. – Außerdem hat sich Fontane 1881 in zwei Tagebucheinträgen zum Sinngedicht geäußert (6. Januar 1881, 23. Mai 1881), HFA III/1, S. 902f. Vgl. auch Wolfgang Rasch: Theodor Fontane Bibliographie. Werk und Forschung. 3 Bde. Berlin/New York 2006. – Siehe zu Fontanes Auseinandersetzung mit Keller zudem den Aufsatz von Roland Berbig im vorliegenden Band.

33

Theodor Fontane: Gottfried Keller. Ein literarischer Essay von O. Brahm, HFA III/1, S. 499–508. Auszüge der Kritik auch in HKKA 23.2., Sieben Legenden, S. 426–428.

34

Zitiert wird im Folgenden nach HFA III/1, S. 499–508, hier S. 500.

35

Ebd., S. 499.

180 36

Regina Dieterle Ebd.

37

Ebd., S. 500.

38

Ebd., S. 501. Zu diesem Topos der Keller-Rezeption vgl. Ursula Amrein: Phantasma Moderne. Die Literarische Schweiz 1880–1950. Zürich 2007, S. 12f.

39

Ebd., S. 501f.

40

Ebd., S. 505.

41

Ebd.

42

Eine interessante Beobachtung aber ist folgende: Am 16. Juli 1883 nahm Keller für die 3. Auflage der Sieben Legenden die letzte eigenhändige Revision vor und korrigierte dabei nicht nur nach der neuen Orthographie, sondern änderte auch den Schluss von Eugenia. Möglich, dass der Anlass zur Umarbeitung Fontanes Kritik war. Sie war nur gerade drei Monate zuvor in der VZ erschienen. Vgl. HKKA 23.2., Sieben Legenden, S. 10 u. S. 365.

43

Conrad Ferdinand Meyer an Gottfried Keller, 16. Februar 1883, GB 3.1, S. 335.

44

Vgl. Dieterle 2006 (wie Anm. 13), besonders S. 57–60.

45

Vgl. Regina Dieterle: Die Tochter. Das Leben der Martha Fontane. München 2006, S. 261.

46

NFA XXI/1, 1963, S. 499 (»Die Besten Bücher«, Umfrage von 1889).

47

Kellers Handexemplar, aufbewahrt in der Zentralbibliothek Zürich unter der Signatur ZB 43.354 (vgl. Anm. 12), trägt eine Anzahl signifikanter Bleistiftanstreichungen am Textrand. Meine Annahme, sie stammten von Kellers Hand, lässt sich gegenwärtig weder sicher belegen noch eindeutig widerlegen. Ich danke den Keller-Experten Dr. Bruno Weber (Zürich) und Dr. Peter Villwock (Zürich, Berlin) für ihre differenzierten Auskünfte in dieser Frage.

48

Brahm, 30. Juli 1890 (wie Anm. 16), S. 685.

49

Theodor Fontane an Wilhelm Hertz, 11. Juni 1894, HFA IV/4, S. 367.

50

Otto Brahm an Georg Hirschfeld, 10. Januar 1894. In: Hirschfeld 1925 (wie Anm. 4), S. 57.

51

Otto Brahm: Theodor Fontane. Litterarisches und Persönliches. In: Neue Deutsche Rundschau [Freie Bühne] 10 (1899), S. 42–52, hier S. 52.

Haarrisse im realistischen Firnis Keller und Fontane im Licht ihrer französischen Übersetzungen Peter Utz In seinem überoffenen Blick auf die Fülle der Realität versagt dem literarischen Realismus zwar selten die Sprache, dafür aber häufig die Sprachreflexion. Staunend verharrt er vor der Wirklichkeit und scheint zu vergessen, dass all das, was sich ihm darstellt, nicht die Welt ist, sondern erst in der Kunst zur Welt kommt. Es geht ihm wie dem jungen grünen Heinrich, als dieser zum ersten Mal eine Gemäldeausstellung betritt und gleich überwältigt wird: Der erste Eindruck war ganz traumhaft; große klare Landschaften tauchten von allen Seiten, ohne daß ich sie vorerst einzeln besah, auf und schwammen vor meinen Blicken mit zauberhaften Lüften und Baumwipfeln; Abendröthen brannten, Kinderköpfe, liebliche Studien guckten dazwischen hervor und Alles entschwand wieder vor neuen Gebilden, so daß ich mich ernstlich umsehen mußte, wo denn dieser herrliche Lindenhain oder jenes mächtige Gebirge hingekommen seien, die ich im Augenblicke noch zu sehen geglaubt? Dazu verbreiteten die frischen Firnisse der Bilder einen sonntäglichen Duft, der mir angenehmer dünkte, als der Weihrauch einer katholischen Kirche. (DKV 3, 241f.)1

Zwar wird der grüne Heinrich lernen, solch traumhafte Bilder nicht mehr einfach für die Realität zu nehmen. Doch umso mehr können sie mit ihrem »sonntäglichen Duft« jenen ästhetischen Vorsprung der Kunst vor der platten Realität behaupten, den ihr die realistische Poetik unter dem Begriff der »Verklärung« zuspricht – so etwa Fontane in seiner Abgrenzungspolemik gegen Zola.2 Diesen Eintrag der ästhetischen Darstellung in die »Verklärung« reflektieren die realistischen Schriftsteller, auch wenn sie sich selbst nicht mit dem Pinsel versucht haben, vorzüglich im Medium der Malerei, die man bereits auch der fotografierenden Konkurrenz entgegenhält. Dagegen bleibt die direkte oder indirekte Reflexion auf die Sprache erstaunlich blass, obwohl nur sie den ästhetischen Mehrwert des »realistischen« Kunstwerks bilden kann. Gerhard Kaiser nennt dies eine »Leerstelle des Realismus«.3 Höchstens in ihren Grenzli-

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nien und Bruchstellen werde die Sprache selbst in der Schrift des Romans sichtbar, als »Craquelé des Textes«, wie Kaiser wiederum in malerischer Metaphorik formuliert.4 Dagegen sind jene Bilder im Text, welche der noch ganz grüne Heinrich an der zitierten Stelle in sich einsaugt, ›frisch gefirnisst‹, und sie verbreiten den »Duft« der Verklärung. Der Firnis riecht besser als Weihrauch, Kunst wird zur Alternativreligion. Auch wenn die Bilder nicht nur Sonntägliches darstellen, erliegt Heinrich ihrer sonntäglichen Suggestion. Zwar durchschaut Kellers Roman dies als jugendliche Naivität seines Helden, doch setzt er selbst als realistisches Sprachkunstwerk ein Stück Urvertrauen ins eigene Medium voraus, will er sich an das große Fresko eines ganzen Lebens heranwagen. Je älter dieses Fresko, desto auratischer sein nachdunkelnder Firnis, und desto weniger rückt seine Sprachlichkeit selbst ins Licht. Ohnehin lässt sie sich in der eigenen Sprache nur schwer erkennen. Besser ist es deshalb, die sprachliche Oberfläche von außen zu beleuchten, mit dem Licht fremder Sprachen, sie zu konfrontieren mit der Übersetzung auf andere sprachkulturelle Leinwände. Auf dem Hintergrund eines größeren Projekts, das dieses Vorgehen erprobt, möchte ich deshalb zwei Hauptwerke des deutschen Realismus, Kellers Grünen Heinrich und Fontanes Effi Briest, mit ihren französischen Übersetzungen konstellieren.5 Sie sind beide mehrfach ins Französische übersetzt worden, was zusätzliches Relief verspricht. Denn dort, wo die fremden Leser den Originaltext unterschiedlich wahrnehmen, liegen Mehrdeutigkeiten und Bruchstellen, die wir mit unseren deutschsprachigen Augen möglicherweise übersehen. Mit diesem Verfahren einer vergleichenden Übersetzungslektüre hoffe ich hier also an einigen wenigen Stellen den sprachlichen »Firnis« des Textes in den Blick zu bekommen, mitsamt jenen Haarrissen, in denen sich das sprachliche Medium in seiner eigenen Materialität zeigt. Dabei sind gerade die Differenzen heuristisch produktiv: Erst die Transformation des Originals auf die fremde Leinwand, der fremde Farbauftrag und der fremde Firnis lassen, wenn man sie neben das Original hält, dessen eigene Farbvaleurs erkennen. Das ist der Nutzen jeder Kopie, und in diesem Fall ist es von Vorteil, wenn sie sich durch ihre Unterschiede deutlich als solche profiliert. Diese Differenzen, welche das deutsche Original von seinen französischen Kopien trennen, sind jedoch auch sprachsystematisch, kulturell und historisch bedingt. Die Übersetzungen sind Teil der fremdkulturellen Rezeptionsgeschichte und bestimmen diese maßgeblich mit. Auch dies kommt bei einer vergleichenden Übersetzungslektüre mit in den Blick. Dabei zeigt sich ein spezifisches Handicap, dem der deutsche Realismus besonders in Frankreich ausgesetzt ist: Gegenüber so dominanten Figuren wie Balzac oder Flaubert erscheint die deutsche Literatur, wie

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die deutsche Nation, als »verspätet« und literarisch hoffnungslos rückständig. Solche Vorurteile wirken ins zwanzigste Jahrhundert weiter und überlagern sich dort mit den neuen deutsch-französischen Konfliktfeldern. Im Falle von Gottfried Keller wird sich dabei noch eine zusätzliche kulturelle Spannung zeigen, die seinen Texten eingeschrieben ist. Denn einerseits werden sie von ihrem Stoff her als »schweizerische« Literatur verstanden, was ihre Rezeption auch in den Fremdsprachen maßgeblich steuert. Andererseits insistiert Keller bekanntlich darauf, dass sein Werk der gesamten deutschsprachigen Literatur zugerechnet werde, und er lehnt die Vorstellung einer »schweizerischen Nationalliteratur« generell ab.6 Diese Spannung in der kulturellen Zuordnung von Kellers Werk wird in der französischen Rezeption von Anfang an greifbar: In Frankreich wird als erstes Werk überhaupt 1858 Roméo et Juliette au village publiziert, zu dem der universelle Shakespeare-Bezug einlädt. In der Westschweiz dagegen eröffnet 1864 unter sehr »helvetischem« Vorzeichen Le Drapeau des sept champions, also Das Fähnlein der sieben Aufrechten die Reihe der Keller-Übersetzungen.7 Es sind denn auch Die Leute von Seldwyla, welche Keller international bekannt machen, besonders im englischen Sprachraum, und nicht etwa die Romane. Denn diese scheinen auch Keller selbst in der Konkurrenz zur großen realistischen Erzählkunst in Frankreich und England handicapiert. So rät er 1887 Käthe KroeckerFreiligrath brieflich davon ab, den Martin Salander ins Englische übersetzen zu wollen: Es wurde nicht einmal in Deutschland verstanden, weil es nicht breit ausgeführt ist. […] Die Engländer, welche an den Reichtum eines Dickens etc. gewöhnt sind, würden die Beziehungen vollends nicht herausfinden.8

Keller behält recht: Dem Salander wird seine schweizkritische Dimension als »Zeitroman« überall im Weg stehen, im Ausland, weil man sie nicht versteht, und in der Schweiz, weil man sie sehr wohl versteht. Aber auch der Grüne Heinrich kann sowohl in England, wo er erst 1960 übersetzt wird, wie auch im französischen Sprachraum nur schwer aus dem Schatten der großen einheimischen Realisten treten. Erschwerend wirkt zudem seine Zuordnung zur spezifisch deutschen Tradition des »Bildungsromans«, die in der französischen und englischen Literatur keine direkte Entsprechung findet. Und schließlich stellt die zweite Fassung des Romans, die mit ihrer narrativen Integration aller Teile aus französischer und englischer Sicht als die allein gültige und damit übersetzenswürdige erscheinen muss, die Übersetzer vor die gleichen Herausforderungen wie der Salander. Denn durch ihre Wendung zum »Lob des Herkommens«, das sich in eine kritische Auseinandersetzung mit der Schweiz auswächst,

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verstärkt sie die konkreten Schwierigkeiten kulturellen Verstehens. Das alles Gründe, weshalb der Grüne Heinrich bis heute im französischen und englischen Sprachraum nur wenig gewirkt hat. Im französischen Sprachraum spaltet sich die Rezeption zudem noch auf zwischen der Suisse Romande und Frankreich. Zwar propagiert André Gide 1927 in Paris in der prominenten Nouvelle Revue Française mit einer kurzen Kostprobe aus der Jugendgeschichte eine integrale Übersetzung des Romans.9 Doch Gehör findet er zunächst nur in der Westschweiz, in den Kreisen der Quinzaine littéraire et artistique, in der 1928 ein erster Abschnitt aus der Hand des jurassischen Gymnasiallehrers JeanPaul Zimmermann erscheint. Eine Buchpublikation der Übersetzung in Kooperation mit einem französischen Verlag scheitert vorerst. Doch mit Hilfe der Schweizerischen Schiller-Stiftung gelingt es schließlich 1932 und 1933, eine zweibändige, integrale Ausgabe in Lausanne zu verlegen, die vom Zürcher Romanisten Charly Clerc eingeleitet wird. Der wenig erfahrene Übersetzer Zimmermann muss sich während seiner Arbeit durch den Schriftsteller, Übersetzer und Publizisten Edmond Gilliard beaufsichtigen lassen. In ihrer Korrespondenz spiegeln sich zwei unterschiedliche Konzeptionen des Übersetzens, welche repräsentativ sind für das Spannungsfeld, in dem sich das Übersetzen insbesondere im französischen Sprachraum bewegt. Denn Gilliard wirft Zimmermann vor, er habe zu oft »épousé la construction ›allemande‹«, seine Übersetzung sei »dépendante«, nicht »équivalente« zum Original. Dieser klassischen französischen Übersetzungskonzeption der kulturellen Appropriation des Fremden hält Zimmermann entgegen: »Mais vous voulez que jamais le lecteur français moyen ne soit dépaysé par un tour un peu brusque et insolite.«10 Zimmermann möchte also dem französischen Leser auch die Fremdheit des deutschen Originals mitgeben und schreckt deshalb nicht davor zurück, ihn mit ungewohnten Wendungen zu befremden. In der Schweiz, die im Zeichen der helvetischen Selbstbesinnung Keller in den Rang eines Nationaldichters hochstemmt, findet Zimmermanns Übersetzung denn auch breite und positive Resonanz – ein Rezensent findet in der Neuen Zürcher Zeitung sogar, diese sei ihm noch lieber als das deutschsprachige Original.11 In Frankreich dagegen wird sie zunächst praktisch ignoriert. Erst zehn Jahre später, unter der deutschen Besetzung im Krieg, meldet sich dort Interesse: Gallimard möchte diese Übersetzung 1942 nachdrucken, und für Payot France überarbeitet Zimmermann im gleichen Jahr seine Erstübersetzung. Doch Zensur und Papiermangel verhindern die Publikation. Erst 1946 erscheint bei Aubier in Paris eine neue französische Übersetzung durch Georges La Flize. Wiederum wird die zweite Fassung von Kellers Roman publiziert. Eingeleitet wird diese Ausgabe durch den französischen Germanisten Ernest

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Tonnelat, der nirgends erwähnt, dass diese Übersetzung nicht die erste ist – obwohl sich der Zweitübersetzer nicht selten manifest an Zimmermanns Version inspiriert. Dieser Pariser Henri le Vert entspricht nun viel stärker jenem französischen Stilideal, wie es schon ein Gilliard stark gemacht hatte, doch setzt sich auch diese Version beim französischen Publikum nicht nachhaltig durch. Trotzig wird in der Schweiz 1987 nochmals die Version Zimmermanns in der Collection Poche Suisse publiziert, während in Paris 1981 die Version von La Flize erneut aufgelegt wird. Bis heute spricht der grüne Heinrich mit zwei französischen Zungen. Das mag seiner konkreten Wirkung nicht förderlich sein. Doch für eine kontrastive Übersetzungslektüre öffnet diese gespaltene schweizerisch-französische Rezeption interessante Perspektiven. Denn in ihr spiegelt sich die doppelte kulturelle Zugehörigkeit von Kellers Roman, zwischen seinem Anspruch auf universelle Geltung, vermittelt über die Tradition des deutschen Bildungsromans, und seiner konkreten, in der zweiten Fassung kritisch zugespitzten Bezogenheit auf den politischen und kulturellen Schweizer Kontext. Die eine Dimension gerät über die französisch-universalisierende Übersetzung in den Blick, die andere in der Übersetzung Zimmermanns, die in den dreißiger Jahren diese schweizerischen Bezüge besonders akzentuiert. Naheliegend, aber dem deutschen Text selbst zunächst nicht abzulesen, steckt diese doppelte Orientierung von Kellers Text beispielsweise im Begriff der »Heimat«. Denn für diesen im Deutschen so aufgeladenen Begriff gibt es im Französischen kein direktes Äquivalent. Zimmermann setzt dafür an sehr vielen Stellen »patrie«, Flize dagegen fast obstinat das weniger emotionale »pays«. So zum Beispiel, als der grüne Heinrich sich in München entschließt, zurück »nach der Heimat zu gehen« (DKV 3, 723). Zimmermanns Heinrich will, verstärkt durch das Possessivpronomen, »retourner dans ma patrie« (Zi 2, 306), sein Pariser Kollege dagegen bloß »revenir au pays« (Fli 475). Die Doppelübersetzung legt so den Riss frei, der durch den Begriff der »Heimat« hindurchläuft: Meint er eine emotionale oder eine juristische Zugehörigkeit, meint er das Vaterlandsgefühl oder den Reisepass? – Dieser Riss weitet sich ins ganze zugehörige Wortfeld hinaus. Beim »Heimatdorf« der Mutter, das bei Keller in einem »äußersten Winkel des Landes« liegt (DKV 3, 160), setzt Zimmermann, in Kenntnis des politischen Systems der Schweiz, »mon lieu d’origine« für »Heimatort«, wiederum mit Possessivpronomen, und »canton« für »Land« (Zi 1, 134). Der französische Übersetzer wählt stattdessen »le village de ma famille«, übernimmt aber den »canton« (Fli 113). Wer jedoch kein Heimatrecht hat, wird in der Schweiz zum »Heimatlosen«, wie jene Bande, die man im Roman sucht, »um sie über die Grenze zu

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bringen« (DKV 3, 228). Zimmermann setzt dafür unkommentiert »une bande de heimatloses«, auch wenn dieses Wort nicht zum französischen Wortschatz gehört. Damit indiziert er sie jedoch als ein spezifisch deutsches Phänomen und stellt ihre Heimatlosigkeit als sprachliche Fremdheit aus. Flize dagegen nennt sie mit dem französischen Begriff für Zigeuner, »une bande de romanichels« (Fli 155); als »roma« sind sie hier deutlich ausgegrenzt, aber sprachlich ins Französische integriert. So wird das ganze Wortfeld des deutschen »Heimat«-Begriffs im französischen Doppellicht als originär mehrdeutig erkennbar: Es verrät sich als Begriff zugeschriebener Zugehörigkeit, der Zugehörigkeit im Roman und der Zugehörigkeit des Romans. Denn so wie sein Held hat auch der Roman einen »doppelten Ort« – und ist insofern ein Modellfall für die Literatur aus der Schweiz.12 Dabei optiert der Roman selbst jedoch für das »pays«, wenn dieses durch die deutsche Sprache definiert ist. Das sagt er selbst auf Französisch: Als der grüne Heinrich mit der aus dem Welschland zurückgekehrten Anna französisch spricht, lobt er die deutsche Sprache als »la bonne et vénérable langue de mon pays, qui est heureusement la langue allemande« (DKV 3, 274).13 Seine Sprache ist also die »de mon pays«, nicht »de ma patrie«. Auf dem Hintergrund der Ambivalenz des »Heimat«-Begriffs, der beides meinen kann, zeigt sich darin eine subtile kulturelle Selbstverortung des Romans: Er fühlt sich der deutschen Sprache zugehörig, bindet sich aber an sie nicht so emotional wie an eine politische »patrie«. Mit der unterschiedlichen Akzentuierung der »Heimat« muss auch die Kritik an dieser Heimat, die sich in der zweiten Romanfassung verstärkt, in den beiden Übersetzungen unterschiedlich ausfallen. Dabei zeigt sich, dass die Pariser Übersetzung generell diese Kritik akzentuiert, während die schweizerische Übersetzung sie abmildert. Eine kleine Beispielpassage muss dafür als Beleg genügen: Bei den »Tischgesprächen« im Tellspiel versucht der Wirt, der gleichzeitig der Telldarsteller ist, seine Eigeninteressen am Bau einer neuen Straße gegenüber einem Holzhändler durchzusetzen. Heinrich, der Zeuge dieser Unterredung wird, erfährt ein erstes Mal, wie ökonomische Interessen die Demokratie unterminieren. Die erste Romanfassung formuliert seine Enttäuschung mit den Worten: besonders am Wirt hatte mich dies unverhohlene Verfechten des eigenen Vorteiles, an diesem Tage und in solchem Gewande gekränkt (DKV 2, 417).14

Die zweite Romanfassung verstärkt Heinrichs Enttäuschung als »Verletzung« und akzentuiert den Widerspruch zwischen dem »bedeutungsvollen« Tell-Kostüm des Wirtes und dessen Eigennutz:

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besonders am Wirt verletzte mich dies unverhohlene Verfechten des eigenen Vorteiles, an diesem Tage und in so bedeutungsvollem Gewande (DKV 3, 345).

Diese zweite Fassung wird von den beiden Übersetzern unterschiedlich gelesen, wobei sich die von Keller neu gesetzten Akzente als besonders interpretierbar erweisen: l’aubergiste, surtout, m’avait déçu, en défendant si ouvertement ses propres intérêts, en un jour pareil et dans un costume si imposant (Zi 1, 300). L’aubergiste surtout m’avait blessé en défendant de façon si patente son profit particulier, dans un jour pareil et sous ce costume symbolique (Fli 231).

Zimmermann reduziert Heinrichs ›Verletzung‹ auf eine ›Enttäuschung‹, den »eigenen Vorteil‹ des Wirts auf dessen ›Eigeninteressen‹, und sein ›Gewand‹ bedeutet höchstens Prestige, jedoch keine moralische Verpflichtung. Flize dagegen stellt die ›symbolische‹ ›Bedeutung‹ dieses TellKleides heraus, und der ›Vorteil‹ wird ihm zum ökonomischen ›Profit‹. Entsprechend tiefer ist sein Heinrich ›verletzt‹. Auch an späteren Stellen des Romans zeigen sich die Risse im Schweiz-Bild der zweiten Romanfassung als Differenzen zwischen den Übersetzungen. So etwa bei Heinrichs »Heimatträumen«, die mit dem Tellspiel korrespondieren. Wie dort die »Identität der Nation« durch ihren Goldhunger entstellt und zerrissen wird, wäre an beiden Übersetzungen im Einzelnen zu verfolgen.15 Auch für dieses Fresko der Heimat greift der französische Kopist zu grelleren Farben als der schweizerische. Das lässt sich historisch leicht begründen: Mit der schweizerischen Übersetzung zu Beginn der dreißiger Jahre soll Keller als Dichter der mehrsprachigen Schweizer Nation inthronisiert werden. Der Pariser Übersetzer dagegen muss sich 1946 bezüglich der Schweiz-Kritik nicht mehr zurückhalten; im Hinblick auf die Rolle der Schweiz während des Weltkrieges erhält Kellers Einspruch gegen das ökonomischen Profitstreben der Schweiz sogar heimlich noch eine aktuelle Spitze. Dass diese Risse in der ökonomisierten »Heimat« Heinrich nicht nur ›verletzen‹, sondern sich in seine Person hinein verlängern, wird am Schluss des Romans deutlich. Als er nach dem Tode seiner Mutter zu spät in der Heimatstadt ankommt, erfährt er in der Zweitfassung, dass sie zuvor von Spekulanten aus ihrem Haus getrieben worden ist. Doch dies kann ihn nicht entlasten: Der Gedanke, daß unglücklicher Zufall und die Arglist Gewinnsüchtiger die Hand im Spiele gehabt, erleichterte keineswegs die Last, welche jählings auf mein Gewis-

sen fiel mit einem Gewichte, gegen welches der Druck von Dorotheas eisernem Bilde leicht wie eine Flaumfeder schien; oder auch umgekehrt: ich möchte sagen, daß die Schwere in ein Gefühl der Leerheit überging, wie der höchste Kältegrad

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einem Brennen gleicht. Es war fast, wie wenn meine eigene Person aus mir wegzöge. (DKV 3, 840)16

Die französischen Übersetzungen können hier nochmals Eigenheiten des deutschsprachigen Originals sichtbar machen. Diese liegen nicht nur auf der Ebene mehrdeutiger Wortsemantik, wie beim Begriff der »Heimat«, sondern auch auf der Ebene von Syntax und Stil. Zimmermann folgt der deutschen Vorlage diesbezüglich sehr eng: La pensée qu’un malheureux hasard, et l’astuce de gens avides, étaient pour quelque chose dans cette affaire, n’allégeait nullement le fardeau qui pesa brusquement sur

ma conscience et d’un poids auprès duquel celui de l’image de fer de Dorothée semblait aussi léger que de la plume; ou inversement: je veux dire que cette pesanteur se transformait en un sentiment de vide, comme l’extrême degré de froid ressemble à une brûlure. C’était presque comme si ma propre personne s’éloignait de moi. (Zi 2, 410f.)

Dagegen formuliert der Pariser Übersetzer die Passage syntaktisch fast neu, indem er sie anders in zwei Sätze aufteilt: La pensée qu’un malheureux hasard et l’astuce de gens rapaces conduisaient tout le jeu n’allégeait en aucune façon le fardeau qui pesa brusquement sur ma conscience, d’un poids auprès duquel celui de l’image de fer de Dorothée semblait aussi léger qu’une plume. Je dirais plutôt à l’inverse que cette pesanteur se traduisait par un sentiment de vide, comme l’extrême degré de froid ressemble à une brûlure: c’était presque comme si ma propre personnalité s’enfuyait de moi. (Fli 553)

Inhaltlich bestätigt sich hier nochmals die Tendenz des Pariser Übersetzers zur Akzentuierung der Kritik, beispielsweise in der Steigerung von »avides« zu »rapaces« für die ›Gewinnsüchtigen‹. Entsprechend scheint ihm Heinrichs ›Person‹ buchstäblich auf der Flucht. Dem Westschweizer Heinrich dagegen ›entfernt‹ sie sich nur; die Rechnung des Bildungsromans soll hier möglichst ohne Rest aufgehen, denn dieser Rest würde sowohl zulasten der Gesellschaft wie auch zulasten des Individuums fallen.17 Trotzdem verrät Zimmermanns Übersetzung etwas von diesem Rest, in ihrer sprachlichen Gestalt. Dies zeigt sich in der Gegenüberstellung mit der Übersetzung aus Paris. Denn diese gibt ihrem erzählendreflektierenden Heinrich eine große rhetorische Souveränität. Totalisierend fasst Flize etwa »die Hand im Spiele« zusammen als: »conduisaient tout le jeu«, wogegen Zimmermann eine leicht holprige, mündlichkolloquiale Ausdrucksweise wählt: »étaient pour quelque chose dans cette affaire«. Souverän wendet Flize auch das Sprachproblem, mit dem Heinrich hier ringt: Während sich Zimmermanns Heinrich ins Wort fällt: »je veux dire«, macht dies Flize zur rhetorischen Geste am Anfang eines neuen Satzes: »je dirais plutôt«, mit der sich sein Heinrich sprachlich gerade affirmiert. Ihm steht die Sprache zur Verfügung; so kann er

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auch das anschließende »überging« als »se traduisait« ausdrücken. Dies liest sich wie eine versteckte Signatur des souveränen Pariser Übersetzers, während der Westschweizer Übersetzer, mehr dem Original verpflichtet, an dieser Stelle bloß ›umzuformen‹ wagt. Damit rückt die Sprachoberfläche des Romans in den Blick. Germanistische Interpretationen schenken ihr nur selten Aufmerksamkeit und reproduzieren damit die Betriebsblindheit der »realistischen« Literatur für ihr eigenes Medium. Die Übersetzungen dagegen machen sie sichtbar, zumindest wenn man sie kontrastiv gegeneinanderhält. Plötzlich wird man hier aufmerksam auf die tastende, unsichere sprachliche Gangart des erzählenden Heinrich.18 Das ist eine Sprache, die nicht mehr durch eine »eigene Person« gedeckt ist, sondern aus einer schmerzhaften Leere herausklingt. Die Pariser Übersetzung füllt sie durch eine sprachliche Souveränität, welche sie schon im Vorwort Keller nachrühmt, auch wenn sie gleichzeitig inhaltlich Kellers Kritik unterstreicht. Die Übersetzung Zimmermanns hingegen, die diese Kritik inhaltlich möglichst zurücknimmt, lässt die sprachliche Gestalt des Originals durchscheinen. Auf einen verkürzenden Nenner gebracht: Der Pariser Übersetzer folgt Keller im Inhalt, der Schweizer Übersetzer in der sprachlichen Form, auch wenn er dabei bewusst riskiert, den französischen Leser zu befremden, mit seinem Begriff: »dépayser«. In diesem Widerspruch zeigen die beiden Übersetzungen eine Gegenläufigkeit auf, die Kellers Text prägt. Denn indem Heinrich heimkehrt, ohne in der Heimat heimisch zu werden, zieht seine »eigene Person« aus ihm fort. Der Text ist die Spur dieser Doppelbewegung; als seine innere Spannung trägt er sie sprachlich in sich aus, ohne als »Bildungsroman« Individuum und Gesellschaft zusammenführen und als realistischer Roman beides als eine Totalität ganz umgreifen zu können. Spannungen und Risse in seiner sprachlichen Oberfläche sind ihr konsequenter Ausdruck: Weil Keller sowohl Individuum wie auch Gesellschaft in ihrem Anspruch ernst nimmt, kann er beides auch in der kunstvollsten Sprache nicht bruchlos vermitteln, sondern er muss sein Medium bis an den Grenzwert, bis zum Zerreißen beanspruchen. Dies gilt auch für Fontanes große Gesellschaftsgemälde. Zwar ist hinlänglich bekannt, wie Fontane in ihnen die Gesellschaft durch ihre Sprache thematisiert. Doch auch hier kann der Übersetzungsvergleich noch unvermutete Spannungen anzeigen, die auf die Schwierigkeit zurückgehen, im Sinne der Verklärungspoetik den Bruch zwischen Individuum und Gesellschaft sprachlich zu überfirnissen. Zudem werden im Falle Fontanes in der Übersetzungsgeschichte jene kulturellen Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich sichtbar, welche das zwanzigste Jahrhundert prägen. Dabei glaubte Fontane, seine hugenottische Her-

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kunft würde ihm den Sprung nach Frankreich erleichtern. 1890 meint er zu Paul Schlenther, er sei nie netter charakterisiert worden als mit dessen Worten »Neu-Ruppiner und Alt-Franzos«, und der »Franzos« komme immer mehr heraus, je älter er werde.19 Und um 1895 schreibt er an Anna St. Cère: In Frankreich bekannt zu werden, ein Publikum, vielleicht auch nur ein ganz kleines zu finden, – wer sehnte sich nicht danach? Welchem Ehrgeiz erschiene dies nicht begehrenswert?20

Während Keller sich für seine Resonanz in Frankreich kaum engagiert, scheint Fontane konkret darauf zu setzen. Nicht umsonst gibt er seiner Effi Briest 1894 Initialen, die an Flauberts »Emma Bovary« anklingen. Doch genau damit scheint er auch den Vergleich herauszufordern, und sein Roman wird sich in Frankreich nie ganz aus diesem Schatten lösen können.21 Schon der erste französische Übersetzer, Michel Delines, empfiehlt in seinem Vorwort Fontanes Roman wegen seiner Verwandtschaft mit Madame Bovary. Allerdings kürzt er ihn massiv, vor allem um seine Bezüge auf den preußischen Kontext. Doch das hilft ihm nicht zum Erfolg. Denn die Übersetzung erscheint 1902 in Berlin im Verlag von Fontanes Sohn, der es nicht schafft, sie auch in Frankreich zu verkaufen. Darum bleibt diese erste französische »Effi« praktisch unbeachtet. Unter noch belasteteren Umständen erscheint die zweite Übersetzung durch den renommierten französischen Übersetzer André Coeuroy: Der Leipziger Tauchnitz-Verlag versucht 1942, mitten im Krieg, das französische Publikum für deutsche Literatur zu interessieren. Offensichtlich folgt auf die militärische eine deutsche Kulturoffensive nach Frankreich. Auch der Grüne Heinrich soll ja in diesem Jahr nach Paris geholt werden. Doch auch auf diesem fremden Boden verpassen sich Keller und Fontane, einmal mehr: Der Henri le vert ist nicht zur Stelle, als die französische Effi Briest im Bagagewagen der deutschen Besatzungsarmee nach Frankreich einfährt. Das hat jedoch seinen Preis, wenn etwa eine ganze Passage mit Anspielungen auf Lessings »Ring-Parabel« in Coeuroys Übersetzung unterdrückt wird.22 Trotzdem hat diese Übersetzung ein langdauerndes editorisches Leben: Sie wird nach dem Krieg von französischen Verlagen übernommen und von Gallimard mehrfach neu aufgelegt, ohne dass der heutige Leser allerdings etwas über den prekären Entstehungskontext dieser Übersetzung erfährt. Nochmals vierzig Jahre später legt Pierre Villain 1981 eine philologisch genaue Übersetzung vor, welche dem Leser den Roman mit über fünfhundert Fußnoten erklärend aufzuschlüsseln versucht. Auf diese Weise markiert er die doppelte historische und kulturelle Distanz, welche den heutigen französischen Leser von Fontanes Preußen trennt. Damit scheint er seiner Effi jedoch den Weg zum

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Publikum eher verstellt zu haben – jedenfalls ist gegenwärtig nur wieder die Übersetzung von Coeuroy auf dem französischen Buchmarkt greifbar. In der dreifachen französischen Effi irrlichtert also die deutschfranzösische Beziehungsgeschichte nach. Sie verschärft die unterschiedliche Wahrnehmung des Romans durch die Übersetzungen, die deshalb auch an scheinbar »eindeutigen« Stellen auseinanderdriften. Dies erlaubt es, in ihnen sprachliche Spannungsformationen zu entdecken, die ihrerseits interpretierbar werden. Das kann ich hier nur an einer Passage ausführen, die inhaltlich mit dem zuletzt zitierten Keller-Abschnitt verwandt ist. Denn auch hier geht es um den Ort des Individuums in der Gesellschaft und um die Frage, ob Sprache zwischen beidem noch vermitteln, ja gar »versöhnen« könnte. Doch diese Fontane-Passage ist die unversöhnlichste des ganzen Romans. In ihr »wetterleuchtet« schon die Moderne, wie Peter von Matt sagen würde, und in ihr kreischen die Wetterfahnen aus dem Stechlin, um Margret Walter-Schneiders Bild aufzugreifen.23 Denn nachdem Effi sich von Innstetten getrennt hat, muss sie ihren Weg allein suchen. Sie schafft es, dass sie ihre Tochter Annie zu Besuch empfangen darf, doch Innstetten hat diese zum stereotypen Satz »Oh gewiß, wenn ich darf« abgerichtet. Alleingelassen reißt Effi in einer Gebärde sprachlosen Protestes ihr Kleid auf. Sie greift zum Bücherbord mit Bibel und Gesangbuch, macht sich dann aber in einer verzweifelten Monolog-Revolte Luft. Diese gipfelt in den Sätzen: Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. Ich muß leben, aber ewig wird es ja wohl nicht dauern. (HFA 1/4, 275)

Im knappen »Weg mit euch«, ohne Ausrufezeichen, steckt Effis aufblitzende Erkenntnis, dass sich ihr eigenes Leben und diese Gesellschaft nicht vereinbaren lassen. Dieser Bescheid scheint von provokativer Eindeutigkeit. Doch im Licht der drei französischen Übersetzungen beginnt der Satz mehrdeutig zu irisieren. Der Erstübersetzer Delines formuliert 1902: Ce que j’ai fait me dégoûte, mais ce qui me dégoûte encore plus, c’est votre vertu. Arrière de moi, je ne veux plus de vous. Je dois vivre, mais cela ne durera pas longtemps. (De 261)

Für das »Weg mit euch« greift Delines mit »arrière de moi« zu einem biblischen Ton – er wäre etwa mit ›hebt Euch weg, ich will nichts mehr von Euch‹ zurückzuübersetzen.24 Auch wenn diese Effi sich von der Gesellschaft lossagt, scheint sie doch angesteckt von jenem Tugenddiskurs, den sie verweigern will. Denn er hallt in ihrem Tonfall, der tief aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, überlaut nach.

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Vierzig Jahre später ändert sich dies in der zweiten französischen Übersetzung radikal. Bei Coeuroy sagt Effi nun, viel entschiedener: Je me dégoûte de ce que j’ai fait, mais votre vertu me dégoûte encore plus. Dispa-

raissez. Je veux vivre, mais cela ne durera pas éternellement. (Coe 316)

Im imperativen Ausruf »disparaissez«, ›verschwindet‹, manifestiert sich Effis unabhängiger Lebenswillen, den Coeuroy im folgenden Satz mit »je veux vivre« unterstreicht, während Effi bei Fontane und bei Delines nur noch leben ›muss‹. Coeuroys Effi möchte sich autonom gegen die Gesellschaft behaupten, auch wenn ihre Kräfte dazu nicht ewig reichen werden. Diese emanzipatorische Kraft scheint in der dritten Übersetzung durch Villain wieder zurückgebunden: Ce que j’ai fait me dégoûte; mais ce qui me dégoûte bien plus encore, c’est votre vertu à vous autres. Otez-vous de mon chemin. Il me faut vivre encore, mais cela ne durera certainement plus longtemps. (Vi 810)

Zwar will auch diese Effi einen eigenen ›Weg‹ suchen, den ihr die ›anderen‹ nicht verstellen sollen. Auch sie ist von der »Tugend« angeekelt. Doch Villain betont, dies sei die ›Tugend von Euch anderen‹, die scheinheilige Moral der bürgerlichen Gesellschaft, und nicht die Moral schlechthin. Um ja sicherzustellen, dass hier keine Missverständnisse aufkommen, expliziert er diese Deutung sogar noch in einer Fußnote.25 Denn er will seiner Effi eine eigene Tugend erhalten. Mit der Formel »Otez-vous de mon chemin« greift Villains Effi jedoch in ein literarisierendes Register, das leicht ins pathetische Klischee abgleiten kann. Sie wählt eine Tonlage wie für einen Auftritt in einer klassischen Tragödie. Trotzdem ist Villains Effi im letzten Satz mit »il me faut vivre encore« nicht einmal mehr das grammatische Subjekt ihres sich erschöpfenden Lebenswillens. Auch dieser Übersetzer, wie der erste, traut damit Effi die Kraft zur eigenen Formulierung nicht ganz zu. Beide geben sie Effis Ausdrucksweise einen biblischen oder literarischen Anstrich, der sie historisierend ins neunzehnte Jahrhundert zurückversetzt. Wie Effi am Anfang der Szene greifen sie zum »Bücherbrett« (HFA 1/4, 274), von dem sich Fontanes Effi an der Stelle gerade zu lösen versucht. So wird Effi gewissermaßen in den hohen Ton hinein entmündigt. In diesen Übersetzungslektüren stecken unterschiedliche historische und kulturelle Ortsbestimmungen von Fontanes Original: Delines hebt Effis Rede in ein biblisches Register, wie es dem zeit- und gesellschaftsfernen traurigen Märchen entspricht, das er seinem französischen Leser 1902 erzählt. Villain taucht seinen Pinsel in die Palette der französischen Literatursprache, doch ruft er mit seinen zahllosen erklärenden Fußnoten dem Leser ständig jenen historischen und kulturellen Abstand ins

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Bewusstsein, der ihn vom Original trennt. Auch scheint er es darauf anzulegen, dass man diese Effi nicht mit Fontane verwechselt. Nur Coeuroy akzentuiert und aktualisiert an dieser Stelle das emanzipatorische Potential des Romans mit seinem harten, knappen »Disparaissez«, in dem ein französischer Leser die Revolte der Emma Bovary mithören mag. In seinem identifikatorischen Gestus könnte dieser Fontane-Übersetzer wie Flaubert behaupten: »Effi Briest, c’est moi«. Sogar das scheinbar so simple »Weg mit euch« erweist sich im Licht der Übersetzungen also als mehrdeutig und interpretierbar. Sie zeigen damit eine Konsequenz auf, die Fontanes Roman enthält, ohne sie direkt zu ziehen: Wenn Effi für einmal zum eigenen Wort kommt und nicht sprachlos hinter jenem »Gesellschafts-Etwas« (HFA 1/4, 236) verschwindet, das im Roman dominiert, dann liefert sie sich gleich wieder der Mehrdeutigkeit der Sprache aus. Selbst wenn sie sich monologisch von der Gesellschaft lossagt, bindet sie sich sprachlich an diese zurück. Die Übersetzer verdeutlichen dies, indem sie ihrer Heldin mit biblischen oder literarischen Anklängen sprachlich aushelfen, selbst dort, wo sie solche Hilfe gerade verweigert. Auch Kellers Ich-Erzähler findet an der vorher untersuchten Stelle kaum die Worte, um jene Leere zu formulieren, in die der grüne Heinrich bei seiner verpassten Heimkehr abstürzt. Wenn ihm die Übersetzer an dieser Stelle interpretierend und interpolierend beispringen, dann um ihn trotz allem in ihre Zielkultur hinüberzuhissen. So schaffen die Übersetzungen Differenzen zum Ausgangstext, die für diesen selbst aussagekräftig werden. Denn sie verdeutlichen, wie sich der Roman als Sprachkunstwerk zunächst auf die Seite einer sprachlich konstituierten Gesellschaft schlagen muss, auch wenn er inhaltlich für das Individuum Partei ergreift. Dessen Anspruch sowohl auf eine »eigene Person« wie auf eine »Heimat« lässt sich – wie in der Altersfassung des Grünen Heinrich – höchstens ex negativo anmelden. Auch Fontanes Effi äußert am Schluss des Romans ihren Wunsch nach einer »Heimat«. Doch am offenen Fenster sehnt sie sich nur noch nach einer Rückkehr in »unsere himmlische Heimat« (HFA 1/4, 292), als habe sie den Anspruch auf irdische Heimatlichkeit schon aufgegeben. Doch selbst diese »himmlische Heimat« zeigt sich im Licht der Übersetzungen von irdischer Mehrdeutigkeit: Delines wagt noch ein »notre patrie céleste« (De 285). Villain dagegen nimmt ihr, als »notre pays céleste« (Vi 826) die emotionale Aura. Und Coeuroy schließlich behandelt sie schon fast wie einen diesseitigen Landstrich: »cette contrée céleste« (Coe 335). Sogar dieser letzte Anspruch Effis, sprachlich artikuliert, zeigt sich in den Übersetzungen als interpretierbar und mehrdeutig. Im tiefstehenden westlichen Licht der französischen Übersetzungen nimmt selbst der Himmel irdische Lokalfarben an.

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Denn für die Übersetzer ist die »himmlische Heimat« zunächst nur ein Wort, und ein besonders kniffliges dazu. Sie wissen, was der realistische Roman zunächst nicht wissen möchte: dass sein Ort allein die Sprache ist, die Sprache des Subjekts und die Sprache der Gesellschaft. Weil sie sich vornimmt, beides zu vermitteln, nimmt die Sprache des Textes den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft in sich auf.26 Im Anspruch auf »Versöhnung« wird sie zum Firnis, mit dem sie das Kunstwerk subtil von der Alltagssprache abgrenzt und es gleichzeitig haltbar macht, resistent über die Zeit hinaus, die sie darstellt. Im Anspruch auf »Versöhnung« wird dieser sprachliche Firnis jedoch auch überdehnt. Im mehrfachen, schief einfallenden Licht der Übersetzungen zeigt sich ein »Craquelé«, erscheinen haarfeine Risse an der Oberfläche. Hier kann und muss die Interpretation des Ausgangstextes neu ansetzen, auch wenn sie – gleich wie die Übersetzung – von der eigenen Zeit und von ihrem eigenen Standort bestimmt ist. Denn nur in der interpretierenden Vertiefung wird erkennbar, dass solche Risse in der sprachlichen Oberfläche immer auch Spannungen ausdrücken, für die der Roman selbst keine Sprache haben kann. Für eine möglichst »oberflächliche« Interpretation des realististischen Romans, wie sie die Übersetzer betreiben, muss also plädieren, wer seinen im Falle Fontanes schon sprichwörtlich gewordenen »Finessen« auf die Spur kommen will.27 Denn als »duftender Firnis«, als seine äußerste Haut, entwickelt der realistische Roman seine Sprache zu einem dialektischen Medium, das selbst jene Widersprüche ausdrücken kann, für die es noch keine Sprache und keinen Pinsel gibt.

Anmerkungen 1

Neben Kellers und Fontanes Werken (vgl. das Siglenverzeichnis in diesem Band) werden auch die zugehörigen Übersetzungen mit Siglen nachgewiesen. Es sind dies: Zi Gottfried Keller: Henri le vert. Trad. par Jean-Paul Zimmermann. Préface par Charly Clerc. Lausanne: Société »Les lettres de Lausanne«, 1932/33, 2 vol. Fli Gottfried Keller: Henri le vert. Trad. par Georges La Flize, introduit p. Ernest Tonnelat. Paris: Aubier 1946. De Theodor Fontane: Effi Briest. Traduit de l’allemand par Michel Delines. Berlin: Verlag Friedrich Fontane 1902. Coe Theodor Fontane: Effi Briest. Traduit de l’allemand par André Coeuroy. Leipzig: Tauchnitz 1942. Hier zitierte Ausgabe: Paris: Gallimard 2001, coll. l’imaginaire. Effi Briest. Traduit de l’allemand par Pierre Villain. In: Theodor Fontane: RoVi mans. Edition dirigée par Michel-François Demet. Paris: Laffont 1981.

Keller und Fontane im Licht ihrer französischen Übersetzungen 2

195

Theodor Fontane an Emilie Fontane, 14. Juni 1883. In: Emilie und Theodor Fontane: Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles. Der Ehebriefwechsel 1873–1898. Hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin 1998 (GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 3), S. 308ff.

3

Gerhard Kaiser: Gottfried Keller: Das gedichtete Leben. Frankfurt am Main 1987, S. 560ff.

4

Ebd., S. 174.

5

Zur kulturwissenschaftlichen und methodologischen Rechtfertigung dieses Verfahrens und zu den Übersetzungen von Fontane ins Französische und Englische vgl. ausführlich vom Verf.: Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München: Hanser 2007.

6

Keller schreibt, übrigens aus Anlass der Zusendung einiger fragmentarischer Übersetzungen ins Englische, die ihm zugeschickt worden waren, an Ida Freiligrath, 20. Dezember 1880: »Jener Aufsatz ist sehr wohlwollend geschrieben und hat nur den Fehler […], daß er meine Wenigkeit als eine spezifisch schweizerische Literatursache behandelt, während ich mich gegen die Auffassung, als ob es eine schweizerische Nationalliteratur gäbe, immer auflehne. Denn bei allem Patriotismus verstehe ich hierin keinen Spaß und bin der Meinung, wenn etwas herauskommen soll, so habe sich jeder an das große Sprachgebiet zu halten, dem er angehört« (GB 2, S. 357). – Vgl. dazu Dominik Müller: »Wo, ungestört und ungekannt, ich Schweizer darf und Deutscher sein!« Gottfried Keller im Spannungsraum zwischen der Schweiz und Deutschland. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 24 (1997), Heft 1, S. 85–104.

7

Zur frühen Übersetzungsgeschichte Kellers vgl. den Kommentar in: HKKA 21, S. 60–76. Zur frühen Übersetzung und Rezeption in der Romandie vgl. Roger Françillon: Gottfried Keller et la littérature romande de la fin du XIXè siècle. Une réception partielle et partiale. In: Forum des écrivains 4 (1991), S. 35–41.

8

Keller an Käte Kroecker-Freiligrath, 8. August 1887, GB 2, S. 370.

9

André Gide: L’enfant qui accuse. In: NRF XXIX, sept. 1927, S. 302–305.

10

Vgl. dazu die eingehende und materialreiche Recherche von Françoise Frey-Béguin: Jean-Paul Zimmermann et Henri le Vert: Histoire d’une traduction. In: Librarium 33 (1990), S. 2–22, hier S. 8.

11

Arnold Burgauer in: Neue Zürcher Zeitung vom 10. April 1932, abgedr. ebd., S. 21f.

12

Zur kulturtopographischen Verortung der Literatur aus der Schweiz vgl. Michael Böhler: Vom Umgang der Literaturwissenschaft mit kulturtopographischen Aspekten der deutschsprachigen Literatur. In: Michael Böhler und Hans Otto Horch (Hgg.): Kulturtopographie

deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Tübingen 2002, S. 11–44. – Ursula Amrein: Der doppelte Ort. Die deutschsprachige Literatur der Schweiz 1880–1930. In: Itinera 25 (2004), S. 71–88. 13

Bei der Überarbeitung für die zweite Fassung retouchiert Keller die ganze Passage noch leicht, um sie einem eleganteren Französisch anzunähern, obwohl er dieses gleichzeitig als Errungenschaft der »orateurs vaudois« ironisiert (DKV 2, S. 337 / DKV 3, S. 274).

14

Kursivsetzungen in den Zitaten im Folgenden immer vom Verf.

15

Vgl. DKV 3, S. 716f., übersetzt bei Zi 2, S. 301 und Fli, S. 471.

196

Peter Utz

16

Text nach der 2. Auflage der Neufassung von 1884, die später verbindlich wird; der Text der 1. Auflage 1879/80 hat an der Stelle noch »wegging«.

17

Entsprechend kündigt Charly Clerc in der Einleitung zu Zimmermanns Übersetzung einen Helden an, der gereift und im Einklang mit sich und der Welt in seine Heimat heimkehren werde: »Le poète ne vient-il pas de nous le montrer mûri, assagi, libéré du souci matériel, d’accord avec lui-même, avec l’ordre du monde?« (Zi 1, S. XV).

18

Dies deckt sich mit den narratologischen Beobachtungen zum Erzähler der zweiten Fassung bei Dominik Müller: Wiederlesen und weiterschreiben. Gottfried Kellers Neugestaltung des »Grünen Heinrich«. Bern/Frankfurt am Main 1988, S. 22ff.

19

Fontane an Paul Schlenther, 21. Dezember 1890, HFA IV/4, S. 79.

20

Fontane an Anna St. Cère, um 1895, HFA IV/4, S. 516.

21

Zur französischen Rezeptionsgeschichte vgl. Marc Thuret: Fontane en France et en français. In: Theodor Fontane, 1819–1898, un promeneur dans le siècle. Hg. von Marc Thuret, Gilbert Krebs, Eva Carstanjen. Paris 1999, S. 251–276. Ferner: Marc Thuret: Fontane in Frankreich: Geistesverwandtschaft und Rezeption. In: Fontane Blätter 70 (2000), S. 108–121.

22

Ausführlicher auf die drei Übersetzungen und ihre kulturellen Implikationen gehe ich ein in: Anders gesagt – autrement dit – in other words (wie Anm. 5).

23

Vgl. die Beiträge von Peter von Matt und von Margret Walter-Schneider im vorliegenden Band.

24

Christus: »Arrière de moi, Satan!« (Matth. 16, 23, Version der Bibel von Louis Segond, 1910).

25

»[…] pas la vertu tout court, mais la morale hypocrite de la société bourgeoise. Jusqu’à un certain point, le même dégoût est éprouvé par Innstetten et par le père Briest« (Vi, S. 900).

26

Diese Ebene entgeht der thematisch ausgerichteten, auf dem Hintergrund von Hegel argumentierenden Studie von Yun-Young Zhang: Verschwiegene und schweigende Individuen im realistischen Roman: eine Untersuchung zum »Grünen Heinrich« und zur »Effi Briest«. Pfaffenweiler 1996.

27

Vgl. Renate Böschenstein: Fontanes ›Finessen‹. Zu einem Methodenproblem der Analyse ›realistischer‹ Texte. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 532–535. Wiederabgedruckt in: Renate Böschenstein: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Hg. von Hanna Delf von Wolzogen, Christine Hehle und Ingolf Schwan. Würzburg 2006 (Fontaneana, Bd. 3), S. 85–90.

Die Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA) »Der grüne Heinrich« Walter Morgenthaler Im Oktober 2006 sind die beiden Apparatbände der HKKA zum Grünen Heinrich (Bde. 19/20) erschienen. Damit ist die Edition von Kellers großem Roman abgeschlossen.1 Die folgenden Ausführungen greifen einige Problemstellungen auf, die sich bei der editorischen Erarbeitung und Darstellung des Romankomplexes ergeben haben und die zugleich einen Einblick in das Gesamtkonzept der Ausgabe ermöglichen.

Zwei Romanfassungen Im Dezember 1853 sind drei Bände des ursprünglich nur auf einen Band geplanten Romans erschienen, der vierte folgte weitere eineinhalb Jahre später nach. Die desolate und sich über mindestens fünf Jahre hinziehende Geschichte der Textentstehung (vor allem das aufreibende Hin und Her zwischen Keller und seinem Verleger Eduard Vieweg) kann im Apparatband 19 Brief für Brief nachgelesen werden.2 Das Endprodukt ist – in editorischer Hinsicht – einfach und klar: ein publizierter Text, mit Druckfehlern und einigen Problemstellen, wie sie jeder Text aufweist. Man kann ihn nachdrucken, ziemlich genau so, wie er da steht; und das wurde in den Bänden 11 und 12 der HKKA – abgesehen von der Beseitigung einfacher Druckfehler – auch gemacht. Die zum Teil stark uneinheitliche Orthographie und die Interpunktion wurden selbstverständlich nicht angetastet. So erscheint zum Beispiel im Grünen Heinrich von 1854/ 55 der »Kaffee« auch als »Kaffe« oder »Caffe«, »Brot« auch als »Brod«, der »Italiener« auch als »Italiäner« und »Goethe« als »Göthe«.3 Keller selbst störten an der ersten Fassung des Grünen Heinrich nicht orthographische, sondern kompositorische Mängel, deren Behebung die Neufassung von 1879/80 vor allem galt. Das Hauptproblem war die Disproportionalität zwischen der im vierten Kapitel des ersten Bandes ein-

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Walter Morgenthaler

setzenden und sich bis zur Mitte des dritten Bandes erstreckenden »Jugendgeschichte« und dem »eigentlichen Roman«.4 Sie konnte durch den Verzicht auf die der Jugendgeschichte vorangehenden Kapitel (Heinrichs Abschied und Reise nach Deutschland) sowie die neue durchgängige IchPerspektive abgemildert werden.5 Der Abschwächung der »Unförmlichkeit« diente auch die feinmaschigere Untergliederung der zum Teil äußerst ungleichmäßigen Kapitel, die nun zusätzlich mit inhaltlich charakterisierenden Überschriften ergänzt wurden. Überlange reflektierende oder als anstößig empfundene Passagen wurden getilgt und stilistische Unebenheiten geglättet. Vor allem aber änderte Keller den von Freunden und Kritikern vielfach beanstandeten Schluss: Heinrich stirbt nicht mehr seiner Mutter nach, sondern lebt als Beamter weiter, in entsagender Freundschaft mit seiner aus Amerika zurückgekehrten Jugendgeliebten Judith. Es gibt Freunde der ersten, es gibt Verfechter der zweiten Fassung (heute überwiegen, aus unterschiedlichen Gründen, eher die ersteren). Keller selbst aber wollte die (in seinen Augen unförmige) erste durch die reifere zweite Fassung ersetzt haben und ärgerte sich über die Liebhaber und Philologen, welche die frühe Fassung hervorholten und mit der späteren verglichen oder sie gar gegen diese ausspielten.6 Als es 1889, ein Jahr vor seinem Tod, darum ging, den lang gehegten Plan einer Gesamtausgabe zu realisieren, war klar, dass in dieser Ausgabe nur das enthalten sein sollte, was vor Kellers eigenem strengen Urteil Bestand hatte. Zu diesem literarischen Vermächtnis gehörten weder die erste Fassung des Grünen Heinrich noch etwa die zwei frühen Gedichtsammlungen7 oder die Zeitschriften-Aufsätze. Dementsprechend erhielt die Ausgabe denn auch – nach einem Vorschlag des Verlegers Wilhelm Hertz – den Titel Gesammelte Werke.8 Sie umfasste genau zehn Bände mit insgesamt sieben Werken (heilige Zahlen!): – – – – – –

die zweite Fassung des Grünen Heinrich (Bde. 1–3) den zweiteiligen Erzählzyklus Die Leute von Seldwyla (Bde. 4/5) die Züricher Novellen (Bd. 6) den Novellenzyklus Das Sinngedicht und die Sieben Legenden (Bd. 7) den Altersroman Martin Salander (Bd. 8) zwei Bände mit den Gesammelten Gedichten (Bde. 9/10)

In den Gesammelten Werken ist zusammengeführt und (bis hin zur Orthographie) in einheitliche Gestalt gebracht, was in jahrzehntelangem Hin und Her zwischen dem Autor und den wechselnden Verlegern entstanden und mit unterschiedlichem Engagement vermarktet worden war. Der Erstlingsroman und der Altersroman (Martin Salander) flankieren (als Bde. 1–3 und Bd. 8) die vier Erzählzyklen; die Gesammelten Gedichte ma-

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chen, als eine lyrische Werkausgabe in der Werkausgabe, den Abschluss. Dass das Sinngedicht und die Sieben Legenden in einem Band (Bd. 7) vereint werden, ist insofern sinnig, als beide Zyklen ganz am Anfang als Einheit konzipiert worden waren. Man kann mit gutem Recht die Gesammelten Werke als Kellers letztes, übergreifendes Werk verstehen, auch wenn der Autor selbst dabei kaum mehr Hand angelegt hat.9 Etwas schief ist allerdings ausgerechnet der Grüne Heinrich herausgekommen. Die vier Romanbände wurden nämlich auf drei Buchbände verteilt, sicherlich um die gewünschte Zehnbändigkeit des Ganzen beizubehalten.10

Die Anlage der HKKA Die HKKA hat sich Kellers Konzeption zueigen gemacht. Die zehn Bände der Gesammelten Werke bilden die Grundlage der ganzen Ausgabe, die Abteilung A. Die Bände dieser Abteilung folgen genau der gleichen Anordnung, und sie enthalten die gleichen Texte, mit gleichem Seiten- und Zeilenumbruch.11 Demgegenüber erscheint alles, was Keller zwar einmal publiziert, später aber von den Gesammelten Werken ausgeschlossen hat, in Abteilung B. Hierher gehören vor allem die frühen Gedichtbändchen (Bd. 13) und die erste Fassung des Grünen Heinrich (Bde. 11/12). Die Einrichtung der Abteilung B verhilft somit den vom späten Keller verdrängten Werken zu einer Art Einspruchs-Recht gegen das Verdikt ihres Autors. Wer jemals versucht hat, die beiden Fassungen des Romans miteinander zu vergleichen, weiß, wie mühsam es sein kann, die jeweiligen Parallelstellen aufzusuchen. Die Buchausgabe der HKKA bietet hier, soweit möglich, einige Erleichterungen. Am rechten Rand beider Fassungen wird auf die jeweils andere Fassung verwiesen. Im Bereich der Jugendgeschichte, wo die Textähnlichkeiten beider Fassungen die Unterschiede bei weitem überwiegen, geschieht dies durch die Angabe der jeweiligen Seitenwechsel (also eine Art Seitenkonkordanz). Außerdem bezeichnen hier Striche am Textrand der ersten Fassung, wenn der Text in der zweiten Fassung fehlt oder stark geändert wurde. In den restlichen Romanteilen, wo nur partielle Übereinstimmungen vorkommen, wird jeweils auf inhaltlich vergleichbare Passagen verwiesen, auch wenn sie nicht oder nur teilweise den gleichen Wortlaut haben.12 Abteilung C umfasst die nachgelassenen Schriften: die unveröffentlichten, insbesondere in Schreibbüchern notierten Gedichte, Prosa wie das Tagebuch und das Traumbuch, die Dramenfragmente, Studien- und Notizbücher. Sämtliche Nachlassschriften werden vollständig reproduziert und mit einer parallelen diplomatischen Umschrift versehen. Auf die

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Herstellung eines ›bereinigten‹ Lesetextes wird verzichtet. Hinsichtlich des Grünen Heinrich ist hier vor allem ein Notizbuch von Interesse, das Eintragungen unterschiedlichster Art aus dem Zeitraum von 1845 bis 1851 enthält.13 Darin finden sich ab 1849 auch Konzepte zur Romanhandlung und Charakteristiken einzelner Personen (Heinrich, Vater, Mutter, Graf),14 die eine grundsätzliche Neuorientierung Kellers nach seiner Hinwendung zur Immanenzphilosophie Ludwig Feuerbachs verraten.15 Der Inhalt der Heidelberger Notizbucheintragungen lässt außerdem annehmen, dass Keller zu dieser Zeit noch nicht an die Einschaltung einer die ganze Romanstruktur bestimmenden Jugendgeschichte dachte.16 Dagegen sollte der Roman mit dem Selbstmord Heinrichs enden.17 Die den Grünen Heinrich betreffenden Notate werden auch als Paralipomena im Apparatband HKKA 20 (S. 473–483) versammelt. Der Unterschied ist evident: Was hier (als Paralipomenon) teleologisch auf das publizierte Werk hin fokussiert ist, erscheint dort (im Kontext des Notizbuches) weit offener und kann unabhängiger von der Vorgabe der Herausgeber interpretiert werden. Bleibt noch Abteilung D mit den Apparatbänden zu den Abteilungen A bis C. Band 19 enthält die Entstehungsgeschichte beider Fassungen des Grünen Heinrich mit einer umfangreichen Dokumentation der begleitenden Briefwechsel,18 Band 20 hauptsächlich die Beschreibung der Textzeugen, das Verzeichnis sämtlicher Varianten und die Paralipomena. Den Apparatbänden beigelegt ist jeweils eine eigens für die HKKA entwickelte elektronische Edition auf CD-ROM. Sie enthält alle bis zum jeweiligen Erscheinungszeitpunkt edierten Texte, die Varianten und (ungekürzten) Dokumente, darüber hinaus auch Quellentexte und die zeitgenössischen Rezensionen – nicht als gleichartige Wiederholung der Buchausgabe, sondern als deren Ergänzung, welche sich die technischen Vorzüge des Mediums zunutze macht: insbesondere die Suchfunktionen und die Möglichkeit, verschiedene Fassungen eines Textes anzuzeigen. Von besonderem Interesse ist die Darstellung von Handschriften mit integrierter Transkription und direkten Suchmöglichkeiten.19

Textkonstituierung Abteilung A orientiert sich nicht nur in der Anordnung der Bände, sondern auch in der Textdarbietung an den Gesammelten Werken von 1889.20 Das ist nicht unumstritten geblieben. Die Frage nach der richtigen Textvorlage und der adäquaten Aufbereitung des edierten Textes beschäftigt die Editionstheoretiker seit Jahrzehnten. Einig ist man sich eigentlich nur darin, dass es den Text nicht gibt und dass jede konkrete Wahl ihre

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Vor- und Nachteile mit sich bringt. Die generelle Unlösbarkeit des Problems widerspiegeln auch die wissenschaftlich ernstzunehmenden KellerAusgaben. Jonas Fränkel, der Herausgeber der ersten kritischen Gesamtausgabe Sämtliche Werke (SW),21 versuchte das Problem dadurch zu umgehen, dass er eine Art Mischtexte herstellte: in Berufung auf die eigene Intuition und unter Einbezug aller Textzeugen. Was Keller selbst – verhindert durch das Unverständnis der Setzer, aber auch durch eigene Nachlässigkeit und andere Umstände – nicht gelungen war, wollte Fränkel an seiner Stelle (und in seinem Namen) vollenden. Resultat sind Textfassungen, die so nie existiert haben und für den Leser weitgehend unkontrollierbar bleiben, somit aber trotz ihrer Kongenialität heutigen Ansprüchen an eine kritische Edition nicht genügen. Demgegenüber hält sich die 1996 abgeschlossene siebenbändige Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (DKV) programmatisch an eine einzige, historisch überlieferte Textvorlage: und zwar an die jeweils letzte von Keller selbst vollständig durchgesehene Auflage. Im Falle des Grünen Heinrich (zweite Fassung) ist dies die dritte Auflage von 1884.22 Das bringt Probleme mit sich, denn wenn Keller auch später den Roman nicht mehr von vorn bis hinten durchgearbeitet hat, nahm er doch bei der Bereitstellung der ersten Bände für die Gesammelten Werke nochmals Korrekturen, und zwar eine ganze Reihe von stilistisch motivierten Änderungen vor. Mit Sicherheit nachweisbar ist vor allem die Ausmerzung des Wörtchens »derselbe«, veranlasst durch eine kleine schulmeisternde Stilfibel.23 Dazu ein Beispiel (aus einem Gespräch Judiths mit Heinrich). Bis hin zur dritten Auflage heißt es: Der Nebel wird sich wenigstens eine Woche lang täglich mehrere Stunden auf dieselbe Weise zeigen. Wenn Du jeden Tag während desselben zu mir kommst, so will ich Dich für die Nacht Deiner Pflicht entbinden […].24

Aus den Gesammelten Werken ist das umständliche »während desselben« verschwunden: Wenn du jeden Tag zu mir kommst, so will ich […].25

Dass die Änderung von Keller selbst stammt, steht kaum in Frage. Selbst Jonas Fränkel geht davon aus und folgt in diesen Fällen den Gesammelten Werken. Hingegen hält sich die Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags strikt an die gewählte Vorlage (die dritte Auflage) und lässt keine so genannten Kontaminationen (Vermischung verschiedener Textstufen) zu. Damit nimmt sie den stilistisch schlechteren Text in Kauf. – Für die HKKA entsteht hier kein Problem, da sie ohnehin der Version der Gesammelten Werke folgt.

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Schwieriger scheint es sich jedoch mit Stellen zu verhalten, wo die Gesammelten Werke von der vorangegangenen dritten Auflage abweichen, ohne dass Keller selbst dies veranlasst oder auch nur bemerkt haben dürfte. Auch hierzu ein Beispiel: Wenn meine Mutter von Gott und den heiligen Dingen sprach, so fuhr sie fort, vorzüglich im alten Testamente zu verweilen, bei der Geschichte der Kinder Israel in der Wüste, oder bei den Kornhändlern Josephs und seiner Brüder […].26

So steht es in Band 1 der Gesammelten Werke. Stattdessen war von der ersten bis zur dritten Auflage des Romans nicht von den »Kornhändlern« Josephs und seiner Brüder, sondern von »Kornhändeln« die Rede: Das ist plausibler und entspricht auch der biblischen Quelle (1. Mose 42–45). Wie verfährt die HKKA? Durch die Herausgeber eingegriffen wird in publizierte Texte grundsätzlich nur bei einfachen Druckfehlern (Buchstabenvertauschung u. ä.) und bei Textfehlern, sofern sich im Rahmen des Kontextes kein irgend möglicher Sinn ergibt. So bleibt es im diskutierten Fall bei der Version der Gesammelten Werke, also bei der weniger plausiblen Variante »Kornhändlern«. Doch gibt es in der HKKA für solche Fälle eine flankierende Maßnahme: die Verwendung sogenannter kritischer Lesarten. In Form von Fußnoten werden bei problematischen Stellen die eventuell sinnvolleren Varianten früherer Textzeugen mitgeteilt: Kornhändlern] Kornhändeln E1–E3

Ein Kringel vor dem problematischen Ausdruck (»°Kornhändlern«) macht im Text auf die Lesart aufmerksam. Dieses einfache Verfahren erlaubt es, Herausgebereingriffe zu vermeiden, ohne die Problematik der fragwürdigen Stelle zu verdecken. Damit ist auch die Wahl der ›richtigen‹ Textvorlage nicht mehr das alles Entscheidende: Wichtiger ist, dass der Leser weiß, welchen Text er vor sich hat und welche Alternativen notfalls in Betracht zu ziehen sind. Im Übrigen liegt das Hauptproblem der Textkonstituierung nicht bei den (meist eindeutig zu beurteilenden) Abweichungen der Gesammelten Werke, sondern dort, wo bereits die noch von Keller selbst vollständig durchgesehene dritte Auflage (E3) unmotivierte Varianten gegenüber früheren Textzeugen aufweist. Dies ist z. B. der Fall bei der Szene, wo der in der Krypta versteckte Heinrich Dortchen und ihre Gefährtin in Schrecken versetzt. Von der dritten Auflage an ist zu lesen: Mit einem Doppelschrei flogen die Mädchen aus der Krypta […].27

In der vorangehenden zweiten Auflage und im Druckmanuskript heißt es hingegen »flohen« statt »flogen«. Die Variante »flogen« ist also erst bei Erstellung der dritten Auflage, wohl durch den Setzer, hinzugekommen. Dennoch lässt sich nicht völlig ausschließen, dass Keller die Änderung

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gesehen und eventuell stillschweigend akzeptiert haben könnte, denn immerhin wird dadurch das impulsive Moment des Bildes von den aufgeschreckten Mädchen verstärkt. Während Jonas Fränkel ohne Bedenken zu »flohen« emendiert, hält sich die Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags ihren Prinzipien gemäß an die dritte Auflage. Von der Problematik der je unterschiedlichen Entscheidung erfährt der Leser in beiden Ausgaben nichts. Die HKKA folgt auch hier den Gesammelten Werken, die übereinstimmend mit der dritten Auflage »flogen« setzen. Im Unterschied zur DKV-Ausgabe wird aber durch eine kritische Lesart auf das Problem aufmerksam gemacht: flogen] flohen H2–E2

Die Zeugen der Überarbeitung Von besonderem editorischen Interesse sind jene Textzeugen, welche den Vorgang der Überarbeitung und Neufassung in direkter Weise dokumentieren. Zum Glück ist die Textvorlage für die Erstellung der zweiten Fassung vollständig überliefert, so dass sich die vom Autor vorgenommenen Änderungen im Detail verfolgen lassen. Am wenigsten Änderungen erfuhr die Jugendgeschichte. Hier nahm Keller vor allem Kürzungen und stilistische Verbesserungen vor, die er in eines seiner Privatexemplare der ersten Fassung eintrug. An den Rändern notierte er die meist kleineren Änderungen; im Textbereich nahm er vorwiegend Streichungen vor, die häufig ganze Absätze, manchmal auch mehrere Seiten umfassen.28 Der übrige Teil (der alte Er-Roman) verlangte so viele und eingreifende Änderungen, dass das bei der Jugendgeschichte praktizierte Streichund Ersetzungsverfahren nicht mehr ausreichte. Keller erstellte hier ein vollständig neues Manuskript, eine Handschrift von rund 300 großformatigen Seiten. Das Ganze zusammen aber ergab sosehr ein neues Werk, dass von Fassungen zu reden letztlich fragwürdig ist. Ein Auszug aus der Textvorlage soll einen kleinen Eindruck vermitteln (Abb. 1).29 Die Vorlage (e1) beginnt direkt mit der ehemaligen Jugendgeschichte auf Seite 91. Die vorangehenden 90 Seiten, mit Heinrichs Abschied von der Heimatstadt, wurden entfernt. Die obere Hälfte der Seite ist mit einem Zettel überklebt, der den bisherigen Anfang der Jugendgeschichte zum Romananfang umformuliert und neu auch eine Kapitelbezeichnung (Erstes Kapitel) mit Überschrift (Lob des Herkommens) einfügt. Typischer für Kellers Revision sind allerdings die Korrekturen im unteren Bereich: Streichungen meist geringen Umfangs mit Hinweisen und Ersatzausdrücken am Seitenrand. Das »halbe Dutzend Familienna-

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men« wird, den historischen Fakten angepasst, zu »ein par Dutzend Zunamen«; der Gottesacker »legt« (statt früherem »schmiegt«) sich zurückhaltender an die nur mehr »weiß« (statt »schneeweiß«) geputzte Kirche. Die weit mehr als tausend Varianten dieser Art geben in ihrer Gesamtheit der Jugendgeschichte ein neues Gepräge. Sie alle sind im Variantenverzeichnis des Apparatbandes HKKA 20 erfasst, das Auskunft über rund 30’000 Varianten gibt. Auf den handschriftlich überarbeiteten Erstdruck (für den Bereich der Jugendgeschichte) folgt – mitten im dritten Band – das vollständig neu geschriebene Manuskript (H2) für den restlichen Teil des Romans, beginnend mit zwei neuen, überleitenden und den alten Eingang ersetzenden Kapiteln.30 Da die Differenzen zwischen dem neuen Manuskript und der vorherigen Fassung größer sind als die Übereinstimmungen, lassen sich die Abweichungen nicht mehr sinnvoll im Variantenverzeichnis auflisten. Verzeichnet werden deshalb nur mehr die Unterschiede zwischen Druckmanuskript und Drucken der »neuen Ausgabe«.31 Besonders auffallend ist, dass das Manuskript den Anschein erweckt, als ob es nochmals überarbeitet worden wäre: und zwar mittels eingeklebter und mit Korrekturen versehener Zettelchen (die sich übrigens auch in der Druckvorlage für die Jugendgeschichte finden). Aufschluss darüber gibt ein Notat in der rechten oberen Ecke der ersten Manuskriptseite, angebracht von Kellers Verleger Ferdinand Weibert: Die eingefügten Verbesserungen sind des Dichters eigene Verbesserungen während des Druckes. Sie sind von mir aus den Correcturbogen ausgeschnitten u. hier eingeklebt worden. F. W. 32

Ferdinand Weibert (»F. W.«) hat tatsächlich sämtliche Korrekturen, die der Autor am Rand der Korrekturbogen anbrachte, eigenhändig ausgeschnitten und zuhanden seiner eigenen Erinnerung in die Druckvorlage eingeklebt: und sei es auch nur ein einzelnes Komma oder ein Tilgungszeichen. Dieses denkwürdige Dokument alter Verlegersorgfalt hat er aufbewahrt und dadurch glücklicherweise für die Nachwelt gerettet. Somit wird es möglich, den Verlauf der Änderungen zwischen Kellers Vorlage (e1/H2) und dem Druck der zweiten Fassung (E2) genau zu verfolgen und kritisch zu beurteilen.33 Weibert ist gleichsam zu Kellers erstem historisch-kritischen Editor geworden.34 Ein besonders anschauliches Beispiel liefert der Romanschluss. Die erste Fassung endete, nach 1693 Textseiten, nicht viel weniger abrupt als das Leben Heinrichs:

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Abb. 1: Druckvorlage für die 2. Fassung des Grünen Heinrich (1879/80) unter Verwendung eines Exemplars der 1. Fassung von 1854/55 (Anfang Jugendgeschichte)

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So ging denn der todte grüne Heinrich auch den Weg hinauf in den alten Kirchhof, wo sein Vater und seine Mutter lagen. Es war ein schöner freundlicher Sommerabend, als man ihn mit Verwunderung und Theilnahme begrub, und es ist auf seinem Grabe ein recht frisches und grünes Gras gewachsen.35

Der Roman endet mit dem gleichen Bild, mit dem die Jugendgeschichte begonnen hat: Schon dort ist auf den Gräbern des Kirchhofs »das grünste Gras« gewachsen.36 Ganz anders der neue Schluss 25 Jahre später. Hier stirbt nicht Heinrich, sondern, an seiner Stelle, Judith, mit der er zwei Jahrzehnte in entsagender Freundschaft gelebt hat. Der letzte Absatz der zweiten Fassung lautet: Ich hatte ihr einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend geschenkt. Ihrem Willen gemäß habe ich es aus dem Nachlaß wieder erhalten und den andern Teil dazu gefügt, um noch ein Mal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln.37

An die Stelle des früheren Naturkreislaufs mit dem ewig frisch wachsenden »grünen Gras« ist der »grüne Pfad der Erinnerung« getreten. Ihm entsprießt nicht das neue Leben, sondern der Roman, der vor uns liegt. Aufschlussreich ist die Variante, die das Druckmanuskript aufweist (Abb. 2):38 Ich hatte ihr einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend geschenkt. Ihrem Willen gemäß habe ich es aus ihrem Nachlaß wieder erhalten und, um zu prüfen, wie alt ich geworden sei, den andern Theil dazu gefügt.

Es handelt sich um eine jener Stellen, die Keller nachträglich während des Drucks nochmals korrigierte und deren Korrektur Weibert dann in das Manuskript übertragen hat. Die glückliche Idee mit den »alten grünen Pfaden« kam Keller also offenbar erst nach Vollendung des Manuskripts. Sie steht nun, für uns Nachgeborene, auf dem von Weibert ausgeschnittenen und eingeklebten Zettelchen – gleichsam als eine geheime Erinnerung an jenes andere Zettelchen mit dem Liebes- und Hoffnungsliedchen, das die Leiche des ersten grünen Heinrich »fest in der Hand« hielt.39

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Abb. 2: Druckmanuskript für die 2. Fassung des Grünen Heinrich (1879/80) mit Rückübertragungen aus den Korrekturbogen (letzte Seite)

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Anmerkungen 1

Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler. Frankfurt am Main/Zürich 1996ff. [HKKA]. Bde. 1–3: Der grüne Heinrich. Hg. von Karl Grob et al. (2006); Bde. 11/12: Der grüne Heinrich 1854/55. Hg. von Karl Grob et al. (2005); Bde. 19/20: Der grüne Heinrich. Apparat. Hg. von Peter Stocker et al. (2006).

2

Vgl. HKKA 19, S. 141–317.

3

Man vergleiche dagegen die Winkelzüge des Deutschen Klassiker Verlags zur Begründung der Modernisierung der Schreibweisen: Gottfried Keller: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning, Gerhard Kaiser et al. Frankfurt am Main 1985–1996. Bd. 1: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. Frankfurt am Main 1985, S. 1037f.

4

Keller hatte sich dazu bereits bei Auslieferung der ersten drei Bände im Vorwort geäußert: »Besagte Unförmlichkeit hat ihren Grund hauptsächlich in der Art, wie der Roman in zwei verschiedene Bestandtheile auseinander fällt, nämlich in eine Selbstbiographie des Helden, nachdem er eingeführt ist, und in den eigentlichen Roman, worin sein weiteres Schicksal erzählt und die in der Selbstbiographie gestellte Frage gewissermaßen gelöst wird.« (HKKA 11, S. 14).

5

Der alternde Heinrich selbst ist es, der in der zweiten Fassung seine Jugendgeschichte durch die Erzählung des übrigen Teils seines Lebens ergänzt (vgl. HKKA 3, S. 281). Auch das Niederschreiben der Jugendgeschichte wird an einer neuen Stelle platziert: Geschieht dies in der ersten Fassung in der Zeit vor Heinrichs Abreise (vgl. HKKA 11, S. 62), so hingegen in der zweiten Fassung erst zur Zeit der Not im Ausland (HKKA 3, S. 59).

6

Vgl. HKKA 19, S. 66f.

7

Gottfried Keller: Gedichte. Heidelberg 1846; Gottfried Keller: Neuere Gedichte. Braunschweig 1851 (2. Aufl. 1854).

8

Gottfried Keller: Gesammelte Werke. 10 Bde. Berlin 1889.

9

Vgl. dazu Walter Morgenthaler: Die Gesammelten und die Sämtlichen Werke. Anmerkungen zu zwei unterschätzten Werktypen. In: Text 10 (2005), S. 13–26.

10

Der erste Band der Gesammelten Werke enthält den ersten und den zweiten Band des Grünen Heinrich.

11

In den ersten drei Bänden der HKKA findet man also die zweite Fassung des Grünen Heinrich mit gleichem Wortlaut, gleicher Orthographie und gleicher Bandaufteilung wie in den Gesammelten Werken. – Vgl. auch unten Anm. 20.

12

Vgl. auch die Gottfried Keller-Homepage ›www.gottfriedkeller.ch‹. Eine Paralleldarstellung der beiden Romanfassungen ermöglicht es hier auf einfache Weise, Textstellen zu suchen und zu vergleichen.

13

Das Notizbuch mit der Signatur ZB: Ms. GK 67 befindet sich – wie Kellers gesamter Nachlass – in der Zentralbibliothek Zürich.

14

Vgl. HKKA 16.2 (Notizbücher), S. 92–95, 107f., 114–123, 134–159.

15

Kellers Neuorientierung während der Heidelberger Zeit hatte zur Folge, dass der Roman »von Anfang bis zum Ende […] umgeschrieben« werden musste (Keller an

Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe

209

Wilhelm Baumgartner, 10. März 1849, HKKA 19, S. 161), und zwar unabhängig davon, ob er bisher auf Papier oder nur im Kopf des Autors existiert hatte. 16

Die Jugendgeschichte wird erstmals in einer wohl in die Berliner Zeit fallenden Notiz erwähnt: »Jugendgeschichte H’s. Die Verläumdungs u Lügenperiode.« (HKKA 16.2, S. 123).

17

Vgl. beispielsweise die Notiz über Heinrich vom Januar 1850: »Er hat keine Vergangenheit und verliert eben deswegen das Recht auf die Zukunft. Er gibt sich mit dem vollsten Bewußtsein dieses Unglückes den Tod.« (HKKA 16.2, S. 115).

18

Es sind dies Korrespondenzen mit den Verlegern Eduard Vieweg und Wilhelm Hertz, mit Theodor Storm, Paul Heyse, Wilhelm Petersen und vielen andern.

19

Inbegriffen sind bisher die frühe Handschrift der Sieben Legenden, das Manuskript des Fähnleins der sieben Aufrechten, die Paralipomena zu Martin Salander, sämtliche Studienund Notizbücher sowie die nachgelassenen Prosatexte und Dramenfragmente.

20

Sämtliche Texte der Abteilung A sind band-, seiten- und zeichengetreu wiedergegeben. Das hat – diesseits aller theoretischen Legitimierung – den praktischen Vorteil, dass von Anfang an für jedes Wort aller in den Gesammelten Werken vereinten Texte die Seite, Zeile und Position innerhalb der Zeile feststand, so dass es auf einfache Weise referenzierbar war.

21

Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Hg. von Jonas Fränkel (1926–1939) und Carl Helbling (1942–1949). 22 in 24 Bdn. Erlenbach-Zürich/München 1926–1927, Bern/Leipzig 1931–1944, Bern 1945–1949; Der grüne Heinrich in den Bdn. 3–6 (zweite Fassung) und 16–19 (erste Fassung).

22

Vgl. DKV 2: Der grüne Heinrich. Zweite Fassung. Hg. von Peter Villwock. Frankfurt am Main 1996.

23

Otto Schröder. Vom papiernen Stil. Berlin 1889. – In Kap. II (Derselbe) wird unter anderen auch Keller – allerdings mit Zurückhaltung – angeprangert (S. 62f.): »… so gewährt hier Gottfried Keller kaum ein andres Bild als etwa Spielhagen. ›Derselbe‹ ist unbetont, ist Lückenbüßer für unbehagliche Genetive, ist bequemliches Differenzierungsmittel und dient auch sichtlich und absichtlich zur bloßen Verschnörkelung der Rede; daher die zahllosen Nominative und Akkusative. Indes bei Keller möcht ichs gar nicht missen. Seinem Stil steht das Krause wohl an […]«.

24

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. Roman. Neue Ausgabe in vier Bänden. Bd. 3. Stuttgart 1879, S. 47 (Hervorhebung von W. M.).

25

HKKA 2, S. 42.

26

HKKA 1, S. 57 (Hervorhebung von W. M.).

27

HKKA 3, S. 231 (Hervorhebung von W. M.).

28

Betroffen sind vor allem ausschweifende Reflexionen, aber auch etwa die von einigen Lesern beanstandete Szene mit der nackt badenden Judith (HKKA 12, S. 81f.). – Auf der buchbegleitenden CD-ROM ist die ganze Druckvorlage der Jugendgeschichte reproduziert.

29

Vgl. auch die Reproduktion in HKKA 20, S. 22; Original in der Zentralbibliothek Zürich (Ms. GK 28).

30

Kap. 9 (Das Pergamentlein) und Kap. 10 (Der Schädel); HKKA 2, S. 93–136.

210 31

Walter Morgenthaler Natürlich lassen sich die Fassungsunterschiede hier nach wie vor der integralen Textwiedergabe beider Fassungen entnehmen, erleichtert durch die Referenzverweise am rechten Rand.

32

Reproduktion in HKKA 20, S. 33.

33

Vgl. die Textzeugenbeschreibung zu *k2 in HKKA 20, S. 39f. – In der elektronischen Edition lassen sich die Varianten der Korrekturbogen *k2 (wie diejenigen aller sonstigen Textzeugen) ausfiltern und dadurch leicht auffinden.

34

Auf dieselbe akribische Weise verfuhr Ferdinand Weibert auch bei den Leuten von Seldwyla (vgl. HKKA 21, S. 119f.) und den Züricher Novellen (vgl. HKKA 22, S. 126f. und 133f.).

35

HKKA 12, S. 470 (Hervorhebung von W. M.).

36

Vgl. HKKA 11, S. 64.

37

HKKA 3, S. 281 (Hervorhebung von W. M.).

38

Reproduktion in HKKA 20, S. 462; Original in der Zentralbibliothek Zürich (ZB: Ms. GK 13).

39

Vgl. HKKA 12, S. 469f.: »Seine Leiche hielt jenes Zettelchen von Dortchen fest in der Hand, worauf das Liedchen von der Hoffnung geschrieben war. Er hatte es in der letzten Zeit nicht einen Augenblick aus der Hand gelassen […]«.

Theodor Fontanes Notizbücher Überlegungen zu einer notwendigen Edition Gabriele Radecke I Theodor Fontanes Notizbücher sind im kulturellen Gedächtnis nicht präsent. Obwohl insgesamt 67 Oktavbändchen überliefert sind, in denen Fontane über Jahrzehnte hinweg unterschiedliche Aufzeichnungen festgehalten hat, sind die Notizbücher von der Literaturwissenschaft nicht als »echte« Notizbücher rezipiert worden. Es gibt wenige Teilveröffentlichungen, beispielsweise die von Jørgen Hendriksen besorgte Herausgabe der Reisebriefe aus Jütland1 oder die von Sonja Wüsten verantworteten Editionen der Notizen der Rheinreise2 und der Reise nach Thüringen3 sowie der Reisenotizen aus Schleswig-Holstein;4 die bisher unveröffentlicht gebliebenen Notizbuchinhalte haben nur gelegentlich Eingang in die wissenschaftliche Arbeit gefunden.5 Was bei vielen Autoren der Weltliteratur inzwischen selbstverständlich geworden ist, die Erschließung, Dokumentation und Edition von Notizbuchaufzeichnungen, gilt nicht für Theodor Fontane, obwohl gerade seine privaten Niederschriften wichtige biographische Informationen enthalten, wesentliche Aufschlüsse über die vielfältigen Schreibprozesse, die Text- und Werkgenesen geben sowie Grundlagen für die Textinterpretation bieten. Die Ursachen dafür sind vielschichtig. Ein nicht zu unterschätzender Grund mag wohl sein, dass Fontane, im Unterschied zu anderen Schriftstellern, keine Theorie des Schreibens entwickelte,6 sich in seinen Briefen und Tagebüchern nur gelegentlich über den Schreibprozess äußerte und seine Notizbücher auch dort nur am Rande erwähnt hat.7 Da Informationen über Autoren und ihre Texte durch Editionen vermittelt rezipiert werden, liegt es nahe, die historische und die gegenwärtige Fontane-Editorik für die Vernachlässigung der Notizbücher verantwortlich zu machen. Der von der Editionswissenschaft inzwischen erarbeitete Standard für wissenschaftliche Editionen literarischer Texte, die eine systematische Sichtung der handschriftlichen Textzeugen, die

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Gabriele Radecke

Transkription, die genetische Dokumentation und Edition, die Kommentierung und eine elektronische Aufbereitung der Texte umfasst,8 ist innerhalb der Fontane-Forschung nicht einmal annähernd erreicht worden. Obwohl Fontanes poetisches und journalistisches Werk insgesamt in einer dichten und disparaten handschriftlichen Überlieferung vorliegt, gibt es zwar vier Studienausgaben, aber keine umfassende Edition, die das handschriftliche Material, also auch Fontanes Notizbücher, adäquat präsentiert. Auch Wolfgang Rosts Studie von 1931, Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken,9 und Jutta Fürstenaus zehn Jahre später vorgelegte Dissertation Fontane und die märkische Heimat,10 in denen wichtige Ergebnisse hinsichtlich der Arbeitsweise, der Entstehung und der Genese von Fontanes poetischem Werk und der Wanderungen zusammengetragen wurden, haben nicht zu einer Notizbuch-Edition geführt. Bis heute fehlt in allen Fontane-Studienausgaben eine Abteilung »Notizbücher«, die der Materialität des Überlieferungsträgers – der sukzessiven Beschriftung der Seiten, dem Schreibmaterial, dem äußeren Erscheinungsbild der Autorhandschrift und den eingeklebten »Beilagen« – angemessen Rechnung getragen und die Aufzeichnungen innerhalb ihres Überlieferungskontextes geschlossen dargeboten hätte. Allein diese makroeditorische Entscheidung für eine Abteilung »Notizbücher« hätte dazu geführt, dass der Benutzer wenigstens auf die Existenz der Notizbücher aufmerksam gemacht worden wäre. In der Nymphenburger Ausgabe findet man ausgewählte Notizbuchaufzeichnungen der verschiedenen Reisen Fontanes im Kommentarteil versteckt abgedruckt.11 Die Hanser Ausgabe bietet unter dem missverständlichen Titel »Tagebücher« Kostproben der in den Notizbüchern enthaltenen Reisetagebücher und stellt Fontanes Notizbuchaufzeichnungen neben die »echten«, in einem Tagebuch festgehaltenen Niederschriften.12 Die Ausgaben des Aufbau-Verlags13 belegen, dass die Herausgeber die Notizbücher hin und wieder für die Stellenkommentierung genutzt haben. So werden in den Wanderungen Informationen über Fontanes Notizen während seiner Exkursionen durch die Mark Brandenburg gegeben und in den Gedichten Entwürfe aus den Notizbüchern mitgeteilt. Die Abteilung »Das erzählerische Werk« innerhalb der Großen Brandenburger Ausgabe stellt schließlich im Überlieferungskapitel ausgewählte Notizbuchseiten vor. Mit allen Fontane-Studienausgaben liegen also bei weitem keine Notizbuch-Editionen vor; es werden entweder einzelne Abschnitte von Notizbuchtexten wiedergegeben oder lediglich für die Kommentierung aufbereitet. Diese editorische Vorgehensweise ist wegen ihres eingeschränkten Blickfeldes aus methodischen Gründen fragwürdig und hat auch Folgen für die Literaturwissenschaft. Da die Notizbücher nur in Ausnahmefällen und aufgrund von Zufallsfunden für die Editionen und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen hin-

Theodor Fontanes Notizbücher

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zugezogen wurden, ist zu erwarten, dass eine umfassende Erschließung und Edition aller Notizbücher eine Korrektur oder zumindest eine Differenzierung der bisher vorgelegten entstehungsgeschichtlichen Erkenntnisse, der Textdatierungen und der Kenntnisse über Fontanes Arbeitsweise zur Folge haben wird. Das gilt besonders für einzelne Kapitel aus Fontanes Wanderungen, für die Theaterkritiken und die Gedichte, aber auch für seine Romane und Erzählungen. Hinzu kommen möglicherweise Aufschlüsse über Fontanes »Realismuskonzept« und seine Schreibweisen, die erstmals nicht abstrakt diskutiert, sondern auf der Grundlage der konkreten handschriftlichen Überlieferung rekonstruiert werden könnten.14 Die beschriebenen Mängel der Fontane-Editorik lassen sich zum Teil aus der politischen Situation des geteilten Deutschlands erklären. Die Existenz zweier deutscher Staaten verhinderte sowohl in der DDR als auch in der (alten) Bundesrepublik die Arbeit an einer historischkritischen Fontane-Ausgabe, die auch Fontanes Notizbücher umfassen sollte. So war westdeutschen Forschern der freie Zugang zu ostdeutschen Archiven gar nicht oder nur mit einem großen bürokratischen Aufwand möglich.15 Hinzu kamen rechtliche Gründe, die einen Wiederabdruck einzelner bereits veröffentlichter Notizbuchaufzeichnungen nach den Originalhandschriften verhinderten.16 Ostdeutsche Philologen hingegen bemühten sich ihrerseits in den sechziger Jahren um die Sichtung und Aufbereitung der handschriftlichen Überlieferung im Hinblick auf eine zukünftige historisch-kritische Fontane-Gesamtausgabe. Über eine grundlegende Diskussion der editorischen Prinzipien ist man allerdings nicht hinausgekommen, denn die große Anzahl wissenschaftlicher Editionsprojekte in der DDR und die fehlende Kooperation zwischen den einzelnen Institutionen hatten zur Folge, dass »historisch-kritische Editionen [...] eingestellt wurden« und »daß vorbereitete Projekte nicht [mehr] realisiert werden konnten«.17 Auch die Kulturpolitik der DDR förderte seit den 1960er-Jahren grundsätzlich keine historisch-kritischen Editionen mehr, weil diese »eine angemessene Vermittlung der Werke der deutschen Nationalliteratur an alle Interessentengruppen« angeblich nicht gewährleisteten.18 Aber inzwischen sind mehr als achtzehn Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung vergangen, und die Notwendigkeit einer historisch-kritischen oder genetischen Herausgabe von Fontanes Werk oder ausgewählter Werke ist immer noch nicht erkannt worden. Seit den 1970er-Jahren hat die »Critique génétique« erreicht, dass den literarischen Handschriften endgültig der Status eines »autonomen Forschungsgegenstandes«19 verliehen worden ist.20 Am Beispiel von Heinrich Heines Handschriften und Autographen anderer Autoren rekonstruierten französische Wissenschaftler anhand der »überlieferte[n]

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Schreibspuren den schriftlichen Entstehungsprozess literarischer Werke«.21 Diese Untersuchungen beeinflussten die deutsche Editionswissenschaft und führten zu enormen Veränderungen innerhalb der Editionstypen. So gibt es inzwischen ein buntes Nebeneinander unterschiedlicher Editionen: Neben den historisch-kritischen Ausgaben wurden FaksimileAusgaben und genetische Editionen erarbeitet, die statt »gesicherter« Texte den Textentstehungsprozess und die individuelle Schaffensweise des Autors in den Mittelpunkt stellen. Dieser paradigmatische Wechsel innerhalb der deutschen Editionswissenschaft ist an der Fontane-Editorik bisher allerdings spurlos vorübergegangen. Seit Helene Herrmanns 1911 erschienenem Aufsatz Theodor Fontanes Effi Briest 22 hat es zwar immer wieder Ansätze gegeben, die sich mit Fontanes Handschriften aus literaturwissenschaftlichem Interesse beschäftigt haben; auch wurden seitdem immer wieder genetische Editionsmodelle erprobt,23 die Ende der achtziger Jahre sogar in eine kleine Diskussion über eine historisch-kritische Fontane-Ausgabe in den Fontane Blättern mündeten.24 Alle diese Bemühungen haben sich jedoch nicht durchgesetzt und führten nur dazu, dass mit der zuletzt begonnenen Großen Brandenburger Ausgabe nun insgesamt vier Studienausgaben vorliegen, die sich zwar hinsichtlich der Textqualität, der Kommentierung und des Umfangs unterscheiden, nicht aber in Bezug auf ihre Zielsetzung und ihre editorische Konzeption. Vor diesem Hintergrund entstand der Plan einer Notizbuch-Edition, die im Folgenden vorgestellt wird.25

II Die Überlegungen beschränken sich auf diejenigen Notizbücher Fontanes, die so genannt werden, weil sie sich in ihrer Materialität und ihrer Funktion von den anderen Fontane-Handschriften unterscheiden. Überliefert sind 67 fadengebundene Oktavbändchen mit festem Einband, die jeweils zwischen fünfzig und siebzig Blatt umfassen. Jedes Notizbuch enthält eine Fülle unterschiedlicher Aufzeichnungen, die nicht immer chronologisch angeordnet sind, sondern eher willkürlich über die Seiten eines Notizbuches verteilt sind.26 Fontane benutzte in der Regel den Bleistift. Der unregelmäßige Duktus, die vielen Buchstabenverschleifungen und die häufige Verwendung von Abkürzungen und Kurzschrift zeigen, dass die meisten Notizen in Eile und unterwegs geschrieben wurden. Die Überlieferungslage könnte für ein editorisches Projekt nicht besser sein. Seit ihrer ersten Verzeichnung im Katalog der Firma Hellmut Meyer & Ernst in Berlin, die alle Notizbücher am 9. Oktober 1933 auf einer Auktion aus dem Fontaneschen Familienbesitz angeboten hatte,

Theodor Fontanes Notizbücher

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gibt es keine Verluste zu beklagen.27 Die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin hatte neben anderen zahlreichen Fontane-Autographen auch die Notizbücher erworben und diese am 18. Dezember 1965 dem TheodorFontane-Archiv als Leihgabe übergeben. Die Notizbücher dokumentieren als materielle Textträger die Produktivität und Vielfalt der schriftstellerischen Tätigkeit Fontanes auf kleinem Raum. Die Aura des »ganzen« Fontane ist gewissermaßen in allen Notizbüchern präsent: Fontane im Alltag, als Wanderer, als Journalist, als Kriegsberichterstatter, als Theaterkritiker, als Dichter und Schriftsteller, als Briefschreiber, als Zeichner und – worüber bisher nichts bekannt war – als Vortragsbesucher. Im Unterschied zu den meisten anderen Fontane-Handschriften, die als einzelne Blätter in losen Konvoluten aufbewahrt werden, dokumentieren die Notizbücher als Ganzes betrachtet durch ihre Geschlossenheit die parallele Entstehung unterschiedlicher Texte und Textsorten. Vermutlich hat Fontane spätestens mit seinen ersten Exkursionen in die Mark Brandenburg im Jahre 1860 begonnen, Notizbücher zu führen; die Notizbücher benutzte er dann mindestens bis in die 1880er-Jahre hinein. Viele Notizbuchniederschriften entstanden während seiner Reisen, auf denen er erste Eindrücke und Skizzen festgehalten sowie Kartenmaterial und Zeitungsausschnitte eingeklebt hat. Die Notizbücher waren der ständige Begleiter auf seinen Ausflügen in die Mark Brandenburg sowie auf den Fahrten durch Deutschland, in die Schweiz, nach Schlesien und nach Italien. Weitere Schwerpunkte bilden die Notizbuchaufzeichnungen während der Reisen zu den Schlachtfeldern in Dänemark, Böhmen und Frankreich von 1864, 1866 und 1870/71, aus denen die Kriegsbücher hervorgegangen waren, oder die zahlreichen Notate während seiner Theaterbesuche zwischen 1870 und 1890. Sie fungierten als Basis für die wenige Tage nach der Aufführung veröffentlichten Rezensionen in der Vossischen Zeitung. Gelegentlich findet man auch Tagebuchaufzeichnungen und Briefentwürfe. Die Einträge sind nicht in einem einzigen, nach Themen oder Textsorten angelegten Notizbuch festgehalten, sondern verteilen sich auf mehrere Notizbücher, was die Suche nach zusammenhängenden Werkkomplexen und die Rekonstruktion der Schreibchronologie erschwert. Schließlich existieren, auf verschiedene Bändchen verstreut, Entwürfe, Dispositionen und erste Niederschriften zu seinen Romanen, Erzählungen und Gedichten. Die Notizbücher dienten Fontane vorwiegend für schnelle Notizen, flüchtige Zeichnungen, knappe Exzerpte und als Grundlage für Mitschriften. Die heterogenen Aufzeichnungen waren als Gedächtnisspeicher und Rohmaterialdepot für die journalistische und poetische Arbeit angelegt, wobei aber vermutlich nicht alles zu einem späteren Zeitpunkt wieder vorgenommen und weiterverarbeitet wurde. Eine genaue Einschätzung hin-

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sichtlich der Funktion, des Inhalts und der Angaben über die Jahre der Benutzung kann erst nach einer systematischen Erschließung gegeben werden.28

III Die folgenden beiden Beispiele sind aus dem Notizbuch C329 entnommen und geben einen kleinen Eindruck von der Materialität der Handschrift. Sie belegen darüber hinaus verschiedene Arbeitstechniken Fontanes und zeigen schließlich, dass für das Verständnis von Fontanes Notizbuchaufzeichnungen neben der Textkonstitution eine anspruchsvolle Kommentierungsarbeit aufgrund historischer Quellen geleistet werden muss. Fontane benutzte das Notizbuch C3 während seiner zweiten Reise nach Schlesien im Spätsommer 1869 und auf mehreren Exkursionen durch die Mark Brandenburg im Jahre 1870. Es umfasst 74 Blatt, wovon 43 Vorderseiten und 58 Rückseiten unbeschriftet blieben. Auf dem Außendeckel hat Fontane den Inhalt mit schwarzer Tinte festgehalten:30 1869 und 70. Hermsdorf 1869. (Tom Jones) Belvedere in Charlottenb Pfaueninsel 1870. Demoiselle Rachel. Frau Friedrich.

Die Durchsicht ergab, dass das Notizbuch über Fontanes Angaben hinaus noch weitere Notizen enthält: die Aufzeichnungen über »Die Rathnower«, »Oranienburg, Glindow, Ziegelerde« und »Petzow«. Auf den Vorder- und Rückseiten von Blatt 3 bis 5 hat Fontane fortlaufende Tagebuchaufzeichnungen festgehalten. Sie beginnen am 25. August, enden am 5. September und beziehen sich auf Fontanes Aufenthalt in Hermsdorf in Schlesien zwischen dem 25. August und Mitte September 1869. Fontane schrieb mit Bleistift; der regelmäßige Duktus lässt darauf schließen, dass eine feste Schreibunterlage benutzt wurde und dass es sich – im Unterschied zu den meisten anderen Notizbuchaufzeichnungen – um keine flüchtigen, sondern um sorgfältige Einträge handelt. Die genaue Datierung und die stichpunktartigen Aufzählungen der verschiedenen Begegnungen und Unternehmungen deuten darauf hin, dass Fontane seine Notizen schon kurz nach dem erlebten Tag in Hermsdorf eingetragen hat (vgl. Transkription und Abb. 1 im Anhang, Beispiel 1).31 Sie dienten Fontane offenbar als Grundlage für das später und mit zeitlicher Distanz

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geschriebene Tagebuch, das er vermutlich auf seine Reise nach Schlesien nicht mitgenommen hatte: Ende August reise ich [...] auf 3 Wochen nach Hermsdorf. Ich wohne bei Frau Seifert und bin bei Tietze’s Hotel zu Tisch. Wangenheims sind fast die ganze Zeit über mit mir da und tragen erheblich dazu bei, mir den Aufenthalt angenehm zu machen; ebenso Geh. R. Lecoq, Herr Hertz nebst Tochter (Frl. Fanny) und Hofrath Herrlich. Viele Ausflüge gemacht. Gearbeitet (die ersten 5 Kapitel zum dritten Theil meiner Wanderungen) und viel gelesen: Fieldings Tom Jones und die Gedichte der Droste-Hülshoff. Mitte September wieder zurück.32

Bemerkenswert ist, dass die ersten Tagebucheinträge im Notizbuch ausführlicher und genauer über Fontanes Tagesablauf, seine Personenbekanntschaften, Buchlektüren und über die geschriebenen und eingegangenen Briefe informieren als die retrospektiven Aufzeichnungen im Tagebuch, die keine Tagesdatierungen mehr enthalten und die Erlebnisse nicht chronikartig, sondern erzählend darstellen. Auch der in den Notizbuchaufzeichnungen vom 25. August 1869 erwähnte Brief an Emilie Fontane ist im Tagebuch nicht mehr genannt. Das Schreiben ist nicht überliefert, und es findet sich kein Herausgeberhinweis in den Editionen des Ehebriefwechsels und der Tagebücher.33 Dort fehlt auch jede Information über Fontanes tagebuchartige Notizbuchaufzeichnungen. Das nächste Beispiel gehört zum Wanderungen-Komplex, Kapitel »Pfaueninsel«; Fontanes Niederschriften stehen im Notizbuch C3, Blatt 15 bis 21 recto (»Pfaueninsel«, »Frau Friedrichs Haus«), Blatt 22–24 recto (die Rosensammlung Friedrich Wilhelms III.) und Blatt 25–27 recto (das Gastspiel der Schauspielerin Rachel Félix [1820/21–1858]). Die Arbeit am »Pfaueninsel«-Kapitel hatte Fontane schon in den 1860er-Jahren mit ersten Ausflügen auf die in der Nähe von Potsdam gelegene Insel begonnen. Ein letzter Besuch ist im Jahre 1870 belegt, bei dem die Notizbuchaufzeichnungen entstanden sind. Im Juni 1872 erschien der zweiteilige Beitrag unter dem Titel Pfaueninsel in den Sonntagsbeilagen der Vossischen Zeitung, im Herbst 1873 wurde das Kapitel in den dritten Band der Wanderungen, Osthavelland, integriert.34 Die Aufzeichnungen von Blatt 22 bis 24 (vgl. Transkription und Abb. 2 bis 4 im Anhang, Beispiel 2) unterscheiden sich zunächst durch das äußere Erscheinungsbild – etwa den unregelmäßigen Duktus, die Häufung der Jahreszahlen und die Buchstabenverschleifungen am Wortende – von den Notizbuchaufzeichnungen aus Hermsdorf. Es könnte sich um einen Entwurf zu einem poetischen Text handeln, in dem Fontane wie gewöhnlich nur Stichpunkte festgehalten und noch keine Erzähler- oder Figurenrede eingebaut hat. Möglicherweise hat Fontane mit diesen Niederschriften aber vielmehr ein Exzerpt aus einem Sachbuch angefertigt, denn die Fakten, Zahlen und Namen häufen sich. Schließlich könnte der unruhige Duktus, der an

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Fontanes Aufzeichnungen während der Theateraufführungen im Königlichen Schauspielhaus erinnert, darauf hinweisen, dass es sich um Mitschriften handelt. Genauere Auskunft über die Textsorte der Aufzeichnungen gibt ein Aufsatz des Hof-Garten-Direktors Ferdinand Jühlke (1815–1893), Der Rosengarten auf der Pfaueninsel, der in den Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams im Jahre 1872 erschienen war.35 Jühlke hatte den Beitrag auf der Grundlage eines Vortrags geschrieben, den er auf Einladung des Vereins für die Geschichte Potsdams zwei Jahre zuvor während der 90. Versammlung am 29. Juni 1870 auf der Pfaueninsel gehalten hatte. Zusammen mit den Mitgliedern des Berliner Geschichtsvereins und ihren Gästen fuhren insgesamt 123 Personen in Schiffen, von einem Musikchor begleitet, auf die Pfaueninsel. Dort zerstreuten sich die Besucher zunächst zu Spaziergängen und Besichtigungen und kamen um 19 Uhr vor dem Schloss, gegenüber der Statuette der Schauspielerin Rachel Félix, zusammen. Der Vorsitzende, Louis Schneider, eröffnete die Versammlung, und es folgten Jühlkes Vortrag über den Rosengarten Friedrich Wilhelms III. und Schneiders Bericht über die Veranlassung zur Aufstellung der von Bernhard Afinger (1813–1882) geschaffenen Rachel-Statuette im Juli 1852. Abschließend las Schneider eine Kostprobe aus seinen wenige Jahre später veröffentlichten Aufzeichnungen aus meinem Leben.36 Jühlkes Referat enthielt nicht nur allgemeine, in den Geschichtsbüchern nachzulesende Informationen, sondern beinhaltete vor allem unbekannte Umstände, die zu dem Ankauf der Rosensammlung führten. Der Vergleich zwischen dem gedruckten Vortragstext und Fontanes Notizen bestätigt die oben formulierte dritte Vermutung: Fontane hat den Vortrag des Hof-Garten-Direktors Jühlke offensichtlich in seinem Notizbuch mitgeschrieben. Die Anordnung der sachlichen Hinweise, die Jahreszahlen, die Angaben über die Anzahl der Rosen (»2100«, »9000« und »200 verschiedene Sorten«), die Geldsummen (»8800 rth« und »5000 rth.«) und die Namen (»Dr. Boehm«, »Dr. Seidler« und »Mr. Humphrey«), die Fontane festgehalten hat, gleichen denjenigen Jühlkes. Neben diesen strukturellen und inhaltlichen Übereinstimmungen fallen auch wörtliche Übernahmen der individuellen Vortragssprache in Fontanes Niederschriften auf, etwa Jühlkes Formulierungen: »Gerieth in Geldverlegenheit«, »Der Transport erfolgte [...] in 4 großen Kähnen«, »Schöpfungen« sowie »Maschin[en]meister und akademischer Künstler Friedrich« und »Geschenke«. Das Schriftbild und die Tatsache, dass Fontane die Namen »Böhm« und »Seydler« nicht wie Jühlke, sondern nach dem Gehör als »Boehm« und »Seidler« wiedergibt, belegen, dass es sich hierbei nicht um ein Exzerpt des gedruckten Vortrags handelt, sondern vielmehr um eine Mitschrift des mündlichen Referates. Diese Annahme bestätigt noch ein letztes Argument: Die Wanderversammlung auf der Pfaueninsel wurde

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mit Schneiders Bericht über das Gastspiel der Rachel Félix im Juni 1852 auf der Pfaueninsel beendet. Der Vortragstext ist nicht überliefert, wohl aber Fontanes Aufzeichnungen, die sich in seinem Notizbuch direkt an die Mitschriften über die königliche Rosensammlung anschließen (Blatt 25–27 recto). Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Fontane am 29. Juni 1870 auf der Pfaueninsel gewesen ist und die beiden Vorträge angehört und mitgeschrieben hat. In seinem »Pfaueninsel«-Kapitel im dritten Band der Wanderungen nennt Fontane die von ihm konsultierten Quellen, darunter auch Schneiders Vortrag über die Schauspielerin Rachel Félix, der später in Schneiders Lebenserinnerungen Eingang fand. Durch die Notizbuchfunde ist es nun möglich, Schneiders Vortrag auf den 29. Juni 1870 zu datieren. Jühlkes Referat über die »Rosensammlung« aber hat Fontane weder in seinen Wanderungen noch in seinen Briefen und Tagebüchern erwähnt; dort findet man auch keine Hinweise auf Fontanes Pfaueninsel-Ausflug im Sommer 1870. In den Kommentaren aller Neueditionen der Wanderungen fehlen Informationen über Jühlkes Vortrag und über Fontanes Mitschriften in seinem Notizbuch C3, obwohl diese nicht nur Aufschlüsse über die zugrundegelegten Quellen und die Entstehung des »Pfaueninsel«Kapitels geben, sondern bisher nicht bekannte biographische Informationen enthalten, etwa über den Vortragsbesucher Theodor Fontane.

IV Aus all dem ergeben sich nun einige Konsequenzen für eine Edition der Notizbücher Fontanes. Geplant ist, Fontanes Notizbücher als Buchedition zu veröffentlichen, die im Unterschied zu allen bisherigen Teilpublikationen nicht inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern vielmehr der Materialität des Überlieferungsträgers verpflichtet ist. Da sich Fontanes Notizbücher durch ihre Materialität von den anderen Fontane-Autographen unterscheiden, sollte vor einer inhaltlichen, chronologischen und genetischen Erschließung eine Dokumentation aller Aufzeichnungen in der in den Notizbüchern vorgegebenen Reihenfolge vorgelegt werden. In einem ersten Teil würden alle beschrifteten Notizbuchseiten faksimiliert, um die Topographie der Originale und die Position der Seite möglichst überlieferungsgetreu wiederzugeben. Da die leeren Seiten Signalfunktion haben und Schreibabbrüche sowie das Ende bzw. den Beginn eines neuen Schreibprozesses markieren, sollten sie entweder – bei vereinzelten leeren Seiten – ganz im Textteil erfasst oder bei einer Anhäufung wie in Notizbuch C3 wenigstens im Anhang diskursiv beschrieben und ausgewertet werden. Den Handschriftenfaksimiles sollten dann streng diplo-

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matische Transkriptionen als Lese- und Orientierungshilfe gegenübergestellt werden. Bei der Transkription müssten alle Zeichen des Originals so weit wie möglich in ein entsprechendes Druckbild überführt werden (das heißt eine zeilen-, zeichen-, positions- und seitengetreue Darstellung sowie die Differenzierung des Schreibwerkzeuges und der Schriftarten). Eine besondere Herausforderung wird es sein, die eingeklebten Beilagen, etwa die Zeitungsausschnitte oder Karten sowie Fontanes Zeichnungen in das Druckbild zu integrieren. Erst nach einer exakten Dokumentation würden inhaltliche Kriterien für die Erschließung berücksichtigt: In einem zweiten Teil der Edition sollten alle Notizbücher in einem Überblickskommentar zunächst als ganze Objekte beschrieben und der Benutzungszeitraum festgestellt werden. Hier ist auch der Ort, um Fontanes vielfältige Arbeitsweisen und Produktionstechniken zu erläutern sowie die Entstehung der einzelnen Textteile zu rekonstruieren. Ein großes Problem bilden diejenigen beschrifteten Seiten, die Fontane aus einigen Notizbüchern herausgeschnitten und auf größere lose Blätter geklebt hat, um diese dann für die Arbeit an poetischen Texten, etwa an seinem Roman L’Adultera,37 weiterzuverwenden. Für die Rekonstruktion der nunmehr nicht mehr vollständigen Notizbücher wäre es hilfreich, alle Manuskriptkonvolute nach solchen herausgelösten und aufgeklebten Notizbuchblättern zu durchsuchen; das Ergebnis könnte dann zumindest bei der Notizbuchbeschreibung berücksichtigt werden. Anschließend würden die einzelnen Texte und Textteile aufgelistet, datiert und idealerweise einem zusammenhängenden Werk, einem Werkkomplex oder zumindest einer Werkidee zugeordnet. Zuletzt soll ein Einzelstellenkommentar erarbeitet werden, denn schon die hier vorgeführten Beispiele dürften verdeutlicht haben, dass über die Notizbücher und die bisherigen Fontane-Editionen hinaus weiteres Quellenmaterial gesichtet werden muss, um die Texte überhaupt identifizieren und die zahlreichen Anspielungen auflösen zu können. Es ist geplant, für die Einzelstellenkommentierung auch Kunstwissenschaftler, Theaterwissenschaftler sowie Historiker hinzuzuziehen und einen interdisziplinär fundierten Kommentar zu erstellen. Annotierte Werk-, Personen- und Ortsregister, eventuell eine Auflistung der von Fontane benutzten Quellen, Zeitungslektüren und Literaturhinweise sollen dann eine wichtige Ergänzung für die Erschließung der Notizbuchinhalte bilden und eine Verbindung zum kommentierenden Anhang aller Notizbücher schaffen. Diejenigen Notizbucheinträge, die zum Zeitpunkt der Edition nicht eindeutig oder gar nicht einem bestimmten Werk oder einer Textsorte zugeordnet werden können, dürften nicht unberücksichtigt bleiben, son-

Theodor Fontanes Notizbücher

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dern müssten wenigstens als bisher nicht identifizierte Aufzeichnungen dokumentiert und im Anhang zur Diskussion gestellt werden. Ob die Buchedition alle Faksimiles präsentieren kann und wie eine elektronische Aufbereitung aller Notizbuchaufzeichnungen ergänzend erarbeitet werden soll, ist noch zu überlegen. Hilfreich wäre es, ähnlich wie bei der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe 38 zu verfahren und die Faksimiles mit den Transkriptionen wenigstens in digitalisierter Form als Benutzerhilfen beizugeben. Darüber hinaus wäre es denkbar, das entlegene und für die Kommentierung nur verkürzt zitierte und aus dem Zusammenhang gerissene Quellenmaterial, z.B. Jühlkes Vortrag über die Rosensammlung, komplett auf einer CD-ROM zu archivieren. Schließlich könnte man alle eingeklebten umfangreichen Beilagen ein zweites Mal digitalisiert darbieten. Das elektronische Medium würde somit nicht die Buchedition ersetzen, sondern wäre besonders dort, wo man an die Grenzen editorischer Arbeit im Medium Buch stößt, einzusetzen. Der Verzicht auf eine gedruckte Edition ist nicht ratsam, denn nur eine Buchedition könnte erreichen, dass Fontanes Notizbücher mit ihren charakteristischen Merkmalen endlich auch als »echte« Notizbücher und damit als Werk eines Autors der Weltliteratur in das literarischkulturelle Lese-Gedächtnis aufgenommen werden. Mit einer Erstedition von Theodor Fontanes Notizbüchern in dieser hier vorgestellten komplementären Ausstattung, die die vollständige Erschließung, Dokumentation und Kommentierung beinhaltet, würde sich erst die jetzt noch offengebliebene Frage beantworten lassen, nämlich inwieweit eine Gesamtveröffentlichung der Notizbücher neue Interpretationswege zum erzählerischen und journalistischen Werk Fontanes eröffnet.

Anmerkungen 1

Theodor Fontane: Tagebücher 9. September – 27. September 1864. In: Jørgen Hendriksen: Theodor Fontane og Norden. Et Kapitel af »Det Nordiske« i tysk Opfattelse. Kopenhagen 1935, S. 115–136. [Notizbuch D2].

2

Theodor Fontane: Rheinreise 1865. Hg. und kommentiert von Sonja Wüsten. In: Fontane Blätter 2 (1971), Heft 4, S. 225–251. [Notizbuch C1].

3

Theodor Fontane: Reisen in Thüringen. Notiz- und Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1867 und 1873. Hg. und kommentiert von Sonja Wüsten. Potsdam 1973 (Fontane Blätter, Sonderheft 3). [Notizbücher A18 und C5–7].

4

Theodor Fontane: Reisenotizen aus Schleswig-Holstein 1864. Hg. und kommentiert von Sonja Wüsten. In: Fontane Blätter 4 (1979), Heft 5, S. 356–392. [Notizbücher D1 und D2].

222

Gabriele Radecke

5

So in Claude Keisch: Aus der Werkstatt des Kunstkritikers. Fontanes Notizen aus Berliner Kunstausstellungen. In: Fontane und die bildende Kunst. Hg. von Claude Keisch, Peter-Klaus Schuster et al. Berlin 1998, S. 279291, und zuletzt in: Jan Pacholski: »Das ganze Schlachtfeld – ein zauberhaftes Schauspiel«. Theodor Fontane als Kriegsberichterstatter. Wrocđaw

6

Fontanes eigene Einschätzungen der Entstehung seiner literarischen Werke sind ungenau. Sie konzentrieren sich nur auf wenige Abschnitte des Schreibprozesses und stehen oft im Gegensatz zu dem Erscheinungsbild der überlieferten Handschriften. Vgl. Gabriele Radecke: Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Theodor Fontanes »L’Adultera«. Würzburg 2002 (Epistemata, Bd. 358), S. 64–90.

7

So erwähnt Fontane beispielsweise die Notizbücher, die er während seiner beiden Italienreisen 1874 und 1875 geführt hatte; vgl. Theodor Fontane: Tagebücher 1866– 1882, 1884–1898. Hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin 1994 (GBA Tage- und Reisetagebücher, Bd. 2), S. 55 und 57.

und Görlitz 2005 (Dissertationes inaugurales selectae, Bd. 14).

8

Vgl. zuletzt die Beiträge in dem Sammelband Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth et al. Berlin 2000. 9 Wolfgang E. Rost: Örtlichkeit und Schauplatz in Fontanes Werken. Berlin und Leipzig 1931 (Germanisch und Deutsch, Bd. 6). In seinem Aufsatz Theodor Fontane und die Lutherstätten veröffentlichte Rost dann zwei Jahre später Auszüge aus Fontanes Reisenotizen von 1873 in: Atlantis 5 (1933), Heft 11, S. 685–688. 10 Vgl. Jutta Fürstenau: Fontane und die märkische Heimat. Berlin 1941. 11 NFA XVIIIa: Unterwegs und wieder daheim. Reisebriefe aus Jütland (S. 917–931; Nachdruck der Erstveröffentlichung von Hendriksen, wie Anm. 1), Die Rheinreise (S. 1135–1161; hg. von Sonja Wüsten, Nachdruck der Erstveröffentlichung, wie Anm. 2); NFA XXIII/2: Aufsätze zur bildenden Kunst. Teil 2. Reisen nach Italien 1874 und 1875 (S. 7127; Erstdruck der Notizbuchaufzeichnungen C 8–14). 12

HFA III/3/II: Erinnerungen, Ausgewählte Schriften und Kritiken. Dritter Band: Reiseberichte und Tagebücher. Zweiter Teilband: Tagebücher. Dort wurden Fontanes Notizbuchaufzeichnungen aus Dänemark (1864, Notizbuch D2), der Rheinreise (1865, Notizbuch C1), der Thüringenreisen (1867 und 1873, Notizbücher A18 und C5–7) und der Italienreisen (1874 und 1875, Notizbücher C8–10, 11–14) veröffentlicht.

13

Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg 1–5. Hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau. Berlin/Weimar 1976–1987 und Theodor Fontane: Gedichte 1–3. Hg. von Joachim Krueger und Anita Golz. Berlin/Weimar 1989. Theodor Fontane: GBA. Abteilung 1: Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Abteilung 2: Gedichte, und Abteilung 5: Das erzählerische Werk.

14

Vgl. den ersten umfassenden Versuch einer genetischen Rekonstruktion von Fontanes poetischem Werk am Beispiel von L’Adultera in Radecke 2002 (wie Anm. 6).

15

Helmuth Nürnberger zum Beispiel war gezwungen, eine geplante Arbeit über die Handschriften von Vor dem Sturm in den 1960er-Jahren wegen der erschwerten Arbeitsbedingungen im geteilten Deutschland einzustellen. Vgl. Helmuth Nürnberger: Der frühe Fontane. Politik, Poesie, Geschichte 1840 bis 1860. Frankfurt am Main 1975, S. 435.

16

So war es den Herausgebern der Nymphenburger Ausgabe nicht gestattet, die Reisebriefe aus Jütland und Fontanes Aufzeichnungen der Rheinreise nach den Notizbüchern zu

Theodor Fontanes Notizbücher

223

veröffentlichen (Band XVIIIa, wie Anm. 11). Sie griffen stattdessen auf die Erstdrucke zurück; vgl. Hendriksen 1935 (wie Anm. 1) und Wüsten 1971 (wie Anm. 24). 17

Siegfried Scheibe: Aufgaben der germanistischen Textologie in der DDR. In: Zeitschrift für Germanistik 2 (1981), S. 453–463, hier S. 454.

18

Vgl. Waltraud Hagen: Die Berliner Ausgabe von Goethes Werken – Vorzüge und Grenzen eines Editionstyps. In: Zeitschrift für Germanistik 3 (1982), S. 203–210, hier S. 203. Vgl. zur Absage an historisch-kritische Ausgaben in der DDR: Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der Neueren Deutschen Literatur. In: forschen und bilden (1966), Heft 1, S. 2–22.

19

Almuth Grésillon: »Critique Génétique«. Gedanken zu ihrer Entstehung, Methode und Theorie. In: Quarto (1996), Heft 10, S. 14–24, hier S. 14.

20

Hinzu kommt, dass die »Critique génétique« in der materialen Analyse der Textträger eine bis dahin nicht erreichte Exaktheit und terminologische Differenziertheit entwickelt hat, die sich auch für andere und vor allem auch für Fontanes Handschriften nutzen lässt. Zur Geschichte der »Critique génétique« vgl. Almuth Grésillon: Li-

teraturarchiv und Edition. Das »Institut des Textes et Manuskrits Modernes« (Paris): Zwischen Archiv und Literaturwissenschaft. In: Christoph König und Siegfried Seifert (Hgg.): Literaturarchiv und Literaturforschung. Aspekte neuer Zusammenarbeit. München et al. 1996 (Literatur und Archiv, Bd. 8), S. 49–62, hier S. 50ff.

21

Grésillon 1996 (wie Anm. 19), S. 14, und Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die »critique génétique«. Bern et al. 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft, Bd. 4).

22

Helene Herrmann: Theodor Fontanes Effi Briest. Die Geschichte eines Romans. In: Die Frau 19 (1911/12), S. 543–554, 610–625 und 677–694.

23

Vgl. z. B. Fritz Behrend: Aus Theodor Fontanes Werkstatt. (Zu Effi Briest). Berlin 1924.

24

Vgl. Fontane Blätter 43 und 44 (1987) und den editionsgeschichtlichen Überblick in Radecke 2002 (wie Anm. 6), S. 17–32.

25

Erste Überlegungen zu einer Notizbuch-Edition entstanden in den 1990er-Jahren während der Arbeit an meiner Dissertation (wie Anm. 6); ich habe diese auf dem Symposion »Paralipomena, Entwürfe, Notizbücher – Bedeutung und Funktion in der Textgenese« des Germanistischen Instituts der Universität Salzburg am 8. Oktober 2004 erstmals vorgetragen. – Für die Unterstützung des Editionsplans danke ich Frau Dr. Jutta Weber, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Es gibt schon konkrete Pläne für ein größeres Forschungsprojekt.

26

Vgl. z. B. die Rekonstruktion der Beschriftung des Notizbuchs B2 in Radecke 2002 (wie Anm. 6), S. 292ff.

27

Vgl. Hellmut Meyer & Ernst: Autographenhandlung und Antiquariat. Berlin. Versteige-

rungskatalog 35. Theodor Fontane – August von Kotzebue. Zwei Deutsche Dichternachlässe. Manuskripte und Briefe sowie ausgewählte Autographen. Versteigerung 9. Oktober 1933. Berlin

1933, Nr. 507–511. 28

1976 wurde eine Notizbuchübersicht in den Fontane Blättern veröffentlicht (vgl. Sonderheft 4 [1976], S. 64–66). Stichproben ergaben, dass aber keine vollständige Erfassung aller Einträge durch Autopsie vorliegt, sondern nur die von Theodor Fontane und seinem Sohn Friedrich auf den Notizbuchdeckeln grob angelegten Inhaltsverzeichnisse veröffentlicht wurden.

224

Gabriele Radecke

29

Theodor-Fontane-Archiv.

30

Die hier und im Anhang stehenden diplomatischen und positionsgetreuen Transkriptionen geben die Notizbuchaufzeichnungen folgendermaßen wieder: deutsche Schrift in Times New Roman, lateinische Buchstaben in Arial. Die Unterstreichungen im Original werden unterstrichen ausgezeichnet, und der Geminationsstrich über den Konsonanten »m« und »n« wird aufgelöst.

31

Für die Zitier- und Abbildungserlaubnis ist der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, ganz herzlich zu danken. Die Scans für die Abbildungen stellte das Theodor-Fontane-Archiv zur Verfügung, wofür ebenfalls herzlich gedankt sei.

32

Vgl. Fontane: Tagebücher (wie Anm. 7), S. 34f. – Es ist anzunehmen, dass die Notizbuchaufzeichnungen auch als Gedächtnisstütze für Fontanes Briefe an seine Frau Emilie fungierten. So führt beispielsweise der Brief vom 1. September 1869 die Notizen weiter aus; vgl. Emilie und Theodor Fontane: Geliebte Ungeduld. Der Ehebriefwechsel 1857–1871. Hg. von Gotthard Erler unter Mitarbeit von Therese Erler. Berlin 1998 (GBA Der Ehebriefwechsel, Bd. 2), Nr. 382.

33

Dort wird nur im Kommentar allgemein auf das Reisetagebuch von 1869 hingewiesen. Die weiteren Notizbuchaufzeichnungen aus Hermsdorf enthalten ebenfalls Hinweise auf nicht überlieferte Fontane-Briefe (an Emilie, 28. August, an Herrn Wagener und Frl. Armanda von Besser, 30. August 1869) oder auch Briefe anderer Personen an Fontane (von Emilie und George Fontane, 4. September, von Emilie, 5. September 1869, und ein Paket von Decker, 3. September 1869).

34

Vgl. zur Textgenese des »Pfaueninsel«-Kapitels ausführlich Gabriele Radecke: Vom

Reisen zum Schreiben. Eine textgenetische Betrachtung der Wanderungen am Beispiel des »Pfaueninsel«-Kapitels. In: »Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg«. Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg im Kontext der europäischen Reiseliteratur. Hg. von Hanna Delf

von Wolzogen. Würzburg 2003 (Fontaneana, Bd. 1), S. 231–252. 35

Vgl. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams. 5. Teil (1872), S. 239–245.

36

Louis Schneider: Aufzeichnungen aus meinem Leben. Zweiter Band. Berlin 1879. Schneiders Vortrag wurde offensichtlich nicht separat veröffentlicht. – Vgl. die Zusammenfassung der Wanderversammlung auf der Pfaueninsel in den Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams. 5. Teil (1872), S. 14.

37

Vgl. Radecke 2002 (wie Anm. 6), S. 229–231.

38

HKKA 16.2: Notizbücher; HKKA 29: Studien- und Notizbücher. Apparat zu 16.1 und 16.2.

Anhang

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Gabriele Radecke

Abb. 1: Fontane: Notizbuch C3, Blatt 3 recto

Theodor Fontanes Notizbücher

227

Theodor Fontane: Notizbuch C3 Beispiel 1: Tagebuchaufzeichnungen »Hermsdorf« (1869), Blatt 3 recto

Hermsdorf.

Mittwoch 25. Ankunft 8 Uhr Morgens. Tietze’s Hôtel. Hofrath Herrlich. Besuch bei Wangenheims. An Emilie geschrieben. Parthie über Giersdorf, Seidorf nach Krummhübel und Kirche Wang mit Wangenheims und Exc. Lecocq. Donnerstag 26. Gefrühstückt mit Hofrath Herrlich. – Um 11 Uhr mit Wangenheims große Parthie nach Erdmannsdorf, Buchwald und Fischbach. Besuch bei Brey. In Fischbach

228

Gabriele Radecke

Abb. 2: Fontane: Notizbuch C3, Blatt 22 recto

Theodor Fontanes Notizbücher

Beispiel 2: Vortragsmitschrift, 29. Juni 1870, Jühlke: Der Rosengarten auf der Pfaueninsel, Blatt 22 recto

Weiß und Gold und W mit Krone.

Meierei 1799, dann unterbrochn 1821 Rosensammlug. Dr. Boehm, Rosensammlug aus Holland u Frankreich 200 verschiedene Sorten

2100 Hochstämme (sehr bedeutend) (Rosenbäume)

9000 Strauchrosen Berühmte Sammlug in seiner Wohnug in der Behrenstraße. Gerieth in Geldverlegenheit

8800 rth ŇDr Seidler.Ň

229

230

Gabriele Radecke

Abb. 3: Fontane: Notizbuch C3, Blatt 23 recto

Theodor Fontanes Notizbücher

Beispiel 2: Vortragsmitschrift, 29. Juni 1870, Jühlke: Der Rosengarten auf der Pfaueninsel, Blatt 23 recto

1821

dem Köge

durch ihn angeboten; Fr. W. III kauft die Sammlug für 5000 rth. und Pfaueninsel wird als Platz angewiesen. Der Transport erfolgte durch den April hin in 4 großen Kähnen. Sie wurden zu einem

Rosengarten vereinigt. Nun folgten die Schöpfungen auf der

231

232

Gabriele Radecke

Abb. 4: Fontane: Notizbuch C3, Blatt 24 recto

Theodor Fontanes Notizbücher

Beispiel 2: Vortragsmitschrift, 29. Juni 1870, Jühlke: Der Rosengarten auf der Pfaueninsel, Blatt 24 recto

Pfaueninsel schnell. Mr.ʼn

1822

Humphrey

Maschinenhaus und Aufstellug der Maschin. Maschinmeister und akademischer Künstler Friedrich schon damals eingesetzt,

1822 Fasanerie. ziemlich um dieselbe Zeit die fremdländischen Thiere, aus Brasilien herbeigeführt, außerdem Geschenke. Sie bildeten später den Stock zu dem zoologischen Garten.

233

Siglenverzeichnis Theodor Fontane AFA GBA HFA NFA

Aufbau Fontane-Ausgabe. Hg. von Peter Goldammer, Gotthard Erler, Anita Golz und Jürgen Jahn. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1969– 1993. Große Brandenburger Ausgabe. Hg. von Gotthard Erler. Berlin: AufbauVerlag 1994ff. Werke, Schriften und Briefe [zuerst unter dem Titel Sämtliche Werke]. Hg. von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München: Hanser 1962–1997 (Hanser Fontane-Ausgabe). Sämtliche Werke. Hg. von Edgar Groß, Kurt Schreinert et al. München: Nymphenburger 1959–1975 (Nymphenburger FontaneAusgabe).

Gottfried Keller DKV

Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. von Thomas Böning, Gerhard Kaiser et al. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1985– 1996 (Deutscher Klassiker Verlag). GB Gesammelte Briefe in vier Bänden. Hg. von Carl Helbling. 4 Bde. Bern: Benteli 1950–1954 (Gesammelte Briefe). HKKA Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. 32 Bde. Hg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler. Frankfurt am Main/Zürich: Stroemfeld/Neue Zürcher Zeitung, 1996ff. (Historisch-Kritische Keller-Ausgabe). SW Sämtliche Werke. Hg. von Jonas Fränkel (1926–1939) und Carl Helbling (1942–1949). 24 Bde. Erlenbach-Zürich/München: Rentsch 1926–1927; Bern/Leipzig: Benteli 1931–1944; Bern: Benteli, 1945– 1949 (Sämtliche Werke).

Bildnachweis S. 64

Uhr mit Totenskelett als Stundenzeiger aus dem Besitz der Familien Landolt und von Meiss in Zürich, 17. Jahrhundert ¤ Schweizerisches Landesmuseum, Zürich: LM 80300

S. 66

Gottfried Keller, Notizbuch Meine Launen, 1833, loses Blatt, S. 1 ¤ Zentralbibliothek Zürich: Ms. GK 66

S. 68

Gottfried Keller, Schädelzeichnungen, Schreibbuch um 1839/40, S. 169 ¤ Zentralbibliothek Zürich: Ms. GK 1

S. 70

Kinderporträt, anonym, 1623 ¤ Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung

S. 71

Gottfried Keller, Berliner Schreibmappe, 1855 ¤ Zentralbibliothek Zürich: Ms. GK 8b

S. 73

Karikatur zum »Ichel-Streit«, Wochen-Zeitung, Zürich, 27. Januar 1846 ¤ Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung

S. 80

Gottfried Keller, Handschrift zum Gedichtzyklus Siebenundzwanzig Liebeslieder, 1845, S. 73 ¤ Zentralbibliothek Zürich: Ms. GK 22f

S. 88

Siegel des Staates New York mit dem Motto »Excelsior«, 1778

S. 128

Theodor Fontane, Der Stechlin, 45. Kapitel, Manuskriptseite Bl. 3 ¤ Stadtmuseum Berlin: Inv.-Nr. V-67/865

S. 132

Tre giorni son che Nina. In: Paul Heyse: Italienisches Liederbuch. Verlag Wilhelm Hertz. Berlin 1860, S. 279.

S. 133

Tre giorni son che Nina. In: Paul Heyse: Italienisches Liederbuch. Verlag Wilhelm Hertz. Berlin 1860, S. 280.

S. 167

Karl Stauffer-Bern, Die Zwanglosen, Radierung, Berlin 1886 ¤ Privatbesitz Hans-Peter Krähenbühl, Winterthur-Stadel

S. 170

Zunfthaus zur Meisen, Zürich um 1885 ¤ Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

238

Bildnachweis

S. 172

Restaurant Weisshaar, Zürich um 1885 ¤ Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

S. 205

Gottfried Keller, Druckvorlage für die 2. Fassung des Grünen Heinrich (1879/80) e1, Anfang Jugendgeschichte ¤ Zentralbibliothek Zürich: Ms. GK 28

S. 207

Gottfried Keller, Druckmanuskript für die 2. Fassung des Grünen Heinrich (1879/80) H2, letzte Seite ¤ Zentralbibliothek Zürich: Ms. GK 13

S. 226

Theodor Fontane, Notizbuch C3, »Hermsdorf« (1869), Blatt 3 recto ¤ Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, z.Zt. Leihgabe im Theodor-Fontane-Archiv Potsdam Foto: Theodor-Fontane-Archiv

S. 228

Theodor Fontane, Notizbuch C3, Vortragsmitschrift (29. Juni 1870), Jühlke: Der Rosengarten auf der Pfaueninsel, Blatt 22 recto ¤ Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, z.Zt. Leihgabe im Theodor-Fontane-Archiv Potsdam Foto: Theodor-Fontane-Archiv

S. 230

Theodor Fontane, Notizbuch C3, Vortragsmitschrift (29. Juni 1870), Jühlke: Der Rosengarten auf der Pfaueninsel, Blatt 23 recto ¤ Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, z.Zt. Leihgabe im Theodor-Fontane-Archiv Potsdam Foto: Theodor-Fontane-Archiv

S. 232

Theodor Fontane, Notizbuch C3, Vortragsmitschrift (29. Juni 1870), Jühlke: Der Rosengarten auf der Pfaueninsel, Blatt 24 recto ¤ Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, z.Zt. Leihgabe im Theodor-Fontane-Archiv Potsdam Foto: Theodor-Fontane-Archiv

Personenregister Das Register erfasst alle Personen, die in der Einleitung, in den einzelnen Beiträgen sowie in den Anmerkungen genannt werden. Ausgenommen sind i. d. R. Personen, die im Zusammenhang mit Editionen, Übersetzungen und Forschungsliteratur erwähnt werden und deren Arbeiten im Anmerkungsteil vollständig bibliographiert sind. – Gottfried Keller und Theodor Fontane sind nicht im Personenregister aufgeführt (s. Werkregister). Abrahamson, Julius 166 Abrahamson, Otto s. a. Brahm, Otto 165f. Afinger, Bernhard 218 Alexis, Willibald 39 Anders, Otto s. a. Brahm, Otto 166 Auerbach, Berthold 30, 46, 59 Baechtold, Jakob 83, 108, 147, 156, 158, 160f., 163 Bahr, Hermann 162 Balzac, Honoré de 182 Baumgartner, Wilhelm 74, 84, 209 Beckett, Samuel 28, 57 Benjamin, Walter 22–24, 30, 83 Bennigsen, Rudolf von 102, 110 Besser, Amanda von 224 Bluntschli, Marie 83 Böcklin, Arnold 155, 169f., 178 Boehm, [Dr.] 218, 229 Börne, Ludwig 77 Bosse, Robert 100 Brahm, Otto 12, 13f., 22, 147, 155, 165–180 Brahms, Johannes 166 Brockhaus, Friedrich August 150, 162 Brontë, Emily 34, 39 Burckhardt, Jacob 131, 141, 144f. Carriere, Moriz 44, 59 Ciampi, Vincenzo Legrenzio 130, 144

Clerc, Charly 184, 196 Coeuroy, André 190–193 Conrad, Paula s. Schlenther-Conrad, Paula Darwin, Charles 94, 117 Decker, Rudolf von 224 Delines, Michel 190–193 Dickens, Charles 183 Dominik, Emil 5 Droste-Hülshoff, Annette von 217 Duncker, Ferdinand 69 Egger, Friedrich 152 Ermatinger, Emil 83, 163 Escher, Alfred 3, 90, 107f. Fechner, Hanns 163 Félix, Rachel 216–219 Feuerbach, Ludwig 9, 74f., 84, 200 Fielding, Henry 216f. Fischer, Georg Johann 43, 59 Flaubert, Gustave 23f., 29, 45, 49, 182, 190, 193 Flize, Georges La 184–188 Follen, August Adolf Ludwig 72f. Fontane jun., Theodor 107, 109, 111, 171 Fontane, Emilie geb. RouanetKummer 155f., 162, 171, 173, 175, 179, 195, 217, 224, 227

240

Personenregister

Fontane, Friedrich 5, 111, 149, 162, 171, 190, 223 Fontane, George 171, 224 Fontane, Martha 143, 171, 175f., 180 Freiligrath, Ferdinand 89, 107 Freiligrath, Ida 195 Freud, Sigmund 78, 85 Frey, Adolf 111, 156, 158, 160, 163 Freytag, Gustav 2, 28 Friedlaender, Georg 101, 110f., 122, 179 Friedrich, [Frau] 216f. Friedrich, [Künstler] 218, 233 Friedrich II. [der Große], König von Preußen 47f., 149 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 217f., 231 Frisch, Marie 178 Frisch, Max 78 Fröbel, Julius 3 Gide, André 184 Gilliard, Edmond 184f. Goethe, Johann Wolfgang 20, 96, 114, 118, 124, 141f., 149, 157, 169 Gotthelf, Jeremias 1, 28, 46, 174 Gottschall, Rudolf 155 Grün, Anastasius 72 Harden, Maximilian 110 Hauptmann, Gerhart 3, 13, 165, 173, 176f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 42f. Hegi, Salomon 85 Heine, Heinrich 10, 22, 76–78, 84, 151, 213 Heinzen, Karl 73, 77 Herrlich, Karl 217, 227 Hertz, Fanny 217 Hertz, Hans 12, 108, 163, 167 Hertz, Wilhelm 5, 12, 15, 17, 108f., 111, 130, 147, 155, 158, 161–163, 167, 176, 180, 198, 209, 217 Herwegh, Georg 3, 72 Heß, David 83 Heyse, Paul 5f., 12, 17, 20, 25, 29f., 39, 59, 87, 90, 106–109, 111, 130–138, 141, 143–145, 155, 209 Hirschfeld, Georg 177, 180

Hoffmann, Adolf 125 Holz, Arno 17 Homberger, Emil 44f., 49, 59 Homer 22 Hume, David 47f. Humphrey, [Mr.] 218, 233 Ibsen, Henrik 165, 176 Jacobi, Friedrich Heinrich 141 Jean Paul 22, 174 Jühlke, Ferdinand 218f., 229, 231 Kafka, Franz 29 Keller, Regula 169 Kielland, Alexander 17 Korrodi, Eduard 17 Kroecker-Freiligrath, Käthe 183, 195 Kugler, Franz 6, 131, 144, 145 Kuh, Emil 30 Kürnberger, Ferdinand 21f. Kurz, Hermann 17, 30 Lecoq, von [Geheimrat] 217, 227 Leixner, Otto von 149, 162 Lemcke, Carl 44, 59 Lepel, Bernhard von 122 Lessing, Carl Robert 109 Lessing, Gotthold Ephraim 77, 190 Leupold, Jacob 120f., 125 Lindau, Paul 111 Linsemann, Paul 149, 162 Longfellow, Henry Wadsworth 11, 87, 89f., 107 Ludwig, Otto 2, 44, 59 Mann, Thomas 24, 111 Martini, Fritz 177 Mauthner, Fritz 149 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 160 Meyer, Conrad Ferdinand 109, 135– 137, 145, 160, 168, 175, 180 Meyer, Victor 147, 155 Necker, Moritz 163 Nietzsche, Friedrich 10, 87, 107

Personenregister

241

Pergolesi, Giovanni Battista 130–132, 134, 136, 144f. Pestalozzi, Johann Heinrich 106, 174 Petersen, Wilhelm 162, 209 Pietsch, Ludwig 155 Pniower, Otto 179 Poppenberg, Felix 111 Prölss, Johannes 110 Prutz, Robert 42, 58

St. Cère, Anna 190, 196 Stange, [Oratoriensänger] 167 Stauffer-Bern, Karl 167–169, 178 Stifter, Adalbert 28, 114, 117 Stoecker, Adolf 177 Stolberg-Wernigerode, Otto von 178 Storm, Theodor 12, 61, 81, 85f., 155, 157, 209 Strindberg, August 29

Resta, Natale 130 Rodenberg, Julius 12, 108, 166, 168, 176, 178 Romundt, Heinrich 107 Ruge, Arnold 72–74, 77, 83f.

Tendering, Betty 69, 71 Tonnelat, Ernest 185 Trampedach, Mathilde 107 Treitschke, Heinrich von 177 Tschechow, Anton 25, 29

Schad, Christian 6, 17 Schasler, Max 59 Schelling, Friedrich Wilhelm 43 Scherenberg, Christian Friedrich 6, 176 Scherer, Wilhelm 13, 166, 168f. Schiller, Friedrich 28, 87, 93f., 141, 167, 178, 184 Schlaf, Johannes 17 Schlenther, Paul 39, 110, 156, 165–168, 173, 177–179, 190, 196 Schlenther-Conrad, Paula 160, 163, 173, 179 Schmidt, Julian 2 Schneider, Louis 218f. Schnitzler, Arthur 165, 176f. Schott, Siegmund 17, 109, 156, 163 Schröder, Otto 209 Schulz, Wilhelm 73 Seidlin, Oskar 177 Seifert, [Frau] 217 Seydler, [Dr.] 218, 229 Seydlitz, Reinhart von 107 Shakespeare, William 5, 20, 29, 183 Spielhagen, Friedrich 2, 25, 31, 33, 39, 88, 107, 109

Uhland, Ludwig 72, 78 Vieweg, Eduard 209 Vischer, Friedrich Theodor 21, 23, 30, 34, 39, 42, 58 Voltaire 21–23 Wagener, [Herr] 224 Walser, Robert 11, 27, 29, 57, 113, 122 Wangenheim, von [Familie] 217, 227 Weber, Werner 17 Wedekind, Frank 27 Weibert, Ferdinand 29, 204, 206, 209 Welti jun., Friedrich Emil 168 Welti, Lydia geb. Escher 168 Widmann, Josef Viktor 109 Wilhelm II., Deutscher Kaiser 109, 149 Witte, Friedrich 152 Wolf, Hugo 130, 145 Wolfsohn, Wilhelm 17 Zimmermann, Jean-Paul 184–189, 196 Zola, Emile 181 Zöllner, Karl 110

Werkregister Gottfried Keller Arnold Ruge 84 Auch an die »Ichel« 73, 84 Das Fähnlein der sieben Aufrechten 183, 209 Das Sinngedicht 5, 29, 33, 61, 155, 179, 198f. Das verlorene Lachen 35 Der Apotheker von Chamouny oder Der kleine Romanzero 10, 76–78, 85 Der grüne Heinrich 4f., 8, 10, 14f., 20, 31, 36, 67, 74, 76, 81, 114, 155f., 159f., 168f., 176, 178, 181–190, 193, 195, 197–210, 238 Der Landvogt von Greifensee 63, 65, 67, 74 Deutsches Taschenbuch 3, 10, 198 Die drei gerechten Kammmacher 9, 46, 51–56, 60 Die Jungfrau als Ritter 23f., 27, 29 Die Jungfrau und der Teufel 23 Die Leute von Seldwyla 5, 8, 20, 69, 179, 183, 198, 210 Dietegen 8, 33, 35–37, 39, 69 Eugenia 33, 180 Gedanken eines LebendigBegrabenen 69, 72, 83 Gedichte 4, 10, 69, 72, 160, 199, 208

Gesammelte Gedichte 78, 154f., 157f., 160, 175, 198 Gesammelte Werke 5, 15, 155, 198– 203, 208f. Jeremias Gotthelf 1, 16, 46, 59, 75, 84 Kleider machen Leute 36 Martin Salander 5, 11, 36f., 61, 87, 90–99, 102, 106, 111, 155, 183, 198, 209 Nachgelassene Schrifen 155, 199 Neuere Gedichte 155, 199, 208 Pankraz, der Schmoller 169 Prosa und Dramenfragmente [aus dem Nachlass] 155, 199, 209 Romeo und Julia auf dem Dorfe 5, 20, 30, 33, 178, 183 Sieben Legenden 5–7, 9, 14, 17, 20–25, 29f., 74, 84, 179f., 198f., 209 Siebenundzwanzig Liebeslieder 79f. Studien- und Notizbücher [aus dem Nachlass] 16, 65f., 68, 83, 155, 199, 208f., 237 Tagebuch [aus dem Nachlass] 199 Tanzlegendchen 75 Tod und Dichter 10, 69, 81f. Traumbuch [aus dem Nachlass] 199 Ursula 36 Züricher Novellen 5, 63, 179, 198, 210

Werkregister Theodor Fontane An Georg Herwegh s.a. Mein Leipzig lob’ ich mir 4 Alexander Kielland: »Auf dem Heimwege« 17 Arno Holz und Johannes Schlaf: »Die Familie Selicke« 2f., 17 Aus den Tagen der Okkupation 107 Cécile 5, 35f. Christian Friedrich Scherenberg und das literarische Berlin von 1840– 1860 176 Das Oderland 107, 148f. Der Reiter auf dem Flügelpferde 6, 155 Der Stechlin 5, 11–13, 25, 35–37, 87, 98–106, 110f., 113–125, 127–145, 149, 175, 191, 237 Die große Post s. Von der Weltstadt Straßen Die Poggenpuhls 5, 8, 25–29, 35 Effi Briest 5, 8, 14f., 25, 35f., 38f., 175, 182, 190, 214 Ellernklipp 179 Frau Jenny Treibel 5, 25, 29, 35f., 90, 93 Gedichte 157f., 212f., 215 Gerhart Hauptmann: »Vor Sonnenaufgang« 3, 13, 17, 173 Gottfried Keller: »Die Leute von Seldwyla« [aus dem Nachlass, um 1875] 32–34, 173f., 179 Gottfried Keller: »Sieben Legenden« [aus dem Nachlass, um 1883] s.a. Otto Brahm: »Gottfried Keller. Ein literarischer Essay« 10f., 74f., 84, 173f., 179 Gottfried Keller: »Züricher Novellen« [aus dem Nachlass, 1877] 173f., 179 Grete Minde 35 Havelland s. Osthavelland Irrungen, Wirrungen 5, 13, 25, 35f., 166, 173

Johanna Gray 6, 155 L’Adultera 5, 35f., 138, 173, 220, 222 Männer und Helden. Acht Preußenlieder 4 Mathilde Möhring 35f. Mein Leipzig lob ich mir s. Von Zwanzig bis Dreißig Meine Kinderjahre 35, 123 Nachgelassene Schriften 179 Notizbücher 16, 211–233 Osthavelland 217 Otto Brahm: »Gottfried Keller. Ein literarischer Essay« s.a. Gottfried Keller: »Sieben Legenden« 6f., 9f., 14, 17, 21f., 30, 32f., 39, 74f., 84, 155, 174f., 179f. Paul Lindau: »Der Zug nach dem Westen« [aus dem Nachlass, 1886] 31f., 39, 105, 111 Quitt 35 Reisen in Thüringen. Notiz- und Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1867 und 1873 221 Reisenotizen aus Schleswig-Holstein 1864 221 Rheinreise 1865 221 Schach von Wuthenow 5, 35f. Stine 9, 25, 35f., 46–50, 60 Tagebücher 39, 152, 155, 178f., 211f., 217, 219, 221, 224 Theodor Fontanes Gesammelte Romane und Novellen 5 Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 1f., 16, 45f., 59 Unwiederbringlich 5, 36 Von der schönen Rosamunde 4 Von der Weltstadt Straßen. 3. Die große Post 123, 145 Von Zwanzig bis Dreißig 3, 131 Vor dem Sturm 4, 35f., 222

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Werkregister Theodor Fontane

Vortrag über »Henry Wadsworth Longfellow« 107 Wanderungen durch die Mark Brandenburg s. a. Das Oderland 4f., 148f., 160, 162, 212f., 217, 219, 224

Willibald Alexis 38, 54, 60 Zur Taufe von Johannes Stockhausen 87, 107

Autorinnen und Autoren URSULA AMREIN Prof. Dr. phil., geboren 1960. Studium der Germanistik, Allgemeinen Geschichte und Literaturkritik in Zürich. Titularprofessorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Stellvertretende Projektleiterin und Mitherausgeberin der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe (1994–1997). Publikationen: Augenkur und Brautschau. Zur diskursiven Logik der Geschlechterdifferenz in Gottfried Kellers »Sinngedicht«. 1994. – »Los von Berlin!« Die Literatur- und Theaterpolitik der Schweiz und das »Dritte Reich«. 2004. – Phantasma Moderne. Die literarische Schweiz 1880 bis 1950. 2007. – (Hg.) Das Authentische. 2008. – (Mithg.) Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA). 1996ff. – Aufsätze zur Geschichte der Ästhetik, zum Verhältnis von Literatur und Religion sowie zur Kulturtheorie der Moderne.

MICHAEL ANDERMATT Prof. Dr. phil., geboren 1956. Studium der Germanistik, Allgemeinen Geschichte und Kunstgeschichte in Zürich. Titularprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Publikationen: Haus und Zimmer im Roman. Die Genese des erzählten Raums bei E. Marlitt, Th. Fontane und F. Kafka. 1987. – Verkümmertes Leben, Glück und Apotheose. Die Ordnung der Motive in Achim von Arnims Erzählwerk. 1996. – (Hg.) Grenzgänge. Studien zu L. Achim von Arnim. 1994.– (Hg.) Geschichte der Margaretha von Valois, Gemahlin Heinrichs IV. 1996, 2. Aufl. 1998. – Aufsätze zu L. Achim von Arnim, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff, E.T.A. Hoffmann, Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck, Theodor Fontane, Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer, Gustav Meyrink.

HUGO AUST Prof. Dr. phil., geboren 1947. Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie. Professor für Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Universität zu Köln. Publikationen: Theodor Fontane. »Verklärung«. Eine Untersuchung zum Ideengehalt seiner Werke. 1974. – Literatur des Realismus. 1977, 3. Aufl. 2000. – Lesen. Überlegungen zum sprachlichen Verstehen. 1983. – Novelle. 1990, 4. Aufl. 2006. – Der historische Roman. 1994. – Theodor Fontane. Ein Studienbuch. 1998. – Realismus. 2006. – (Mitverf.) Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart. 1989. – (Mithg.) Fontane, Kleist, Hölderlin. Literarisch-historische Begegnungen zwischen Hessen-Homburg und Preußen-Brandenburg. 2005. – (Mithg.) Boccaccio und die Folgen. Fontane, Storm, Keller, Ebner-Eschenbach und die Novellenkunst des 19. Jahrhunderts. 2006. – (Mithg.) Fontane und Polen, Fontane in Polen. 2008. – Editionen und Aufsätze zur Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Beiträge zur Leseforschung und Interpretationstheorie.

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Autorinnen und Autoren

ROLAND BERBIG Prof. Dr. phil., geboren 1954. Studium der Germanistik und Anglistik in Berlin. Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mitherausgeber der »Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens«. Mitglied des Redaktionskollegiums der »Fontane Blätter«. Publikationen: Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. 2000. – (Hg.) Theodor Fontane und Friedrich Eggers. Der Briefwechsel. Mit Briefen an Karl Eggers und der Korrespondenz von Friedrich Eggers mit Emilie Fontane. 1997. – (Hg.) Die Rundschau-Debatte 1877. Paul Lindaus Zeitschrift »Nord und Süd« und Julius Rodenbergs »Deutsche Rundschau«. 1998. – (Hg.) Theodorus victor: Theodor Fontane, der Schriftsteller des 19. am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Sammlung von Beiträgen. 1999.– (Hg.) Stille Post. Inoffizielle Schriftstellerkontakte zwischen West und Ost. Von Christa Wolf über Günter Grass bis Wolf Biermann. 2005. – (Hg.) Theodor Fontane Chronik. 3 Bde. In Vorbereitung. – (Mithg.) Paul Heyse. Ein Schriftsteller zwischen Deutschland und Italien. 2001. – (Mithg.) Uwe Johnson. Befreundungen. Gespräche, Dokumente, Essays. 2002. – Editionen und Aufsätze zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.

REGINA DIETERLE Dr. phil., geboren 1958. Studium der Germanistik, Psychologie und Publizistik sowie der Pädagogik in Zürich. Lehrbeauftragte an der Kantonsschule Enge Zürich. Publikationen: Vater und Tochter. Erkundung einer erotisierten Beziehung in Leben und Werk Theodor Fontanes. 1996. – Die Tochter. Das Leben der Martha Fontane. 2006. – Lydia Escher. Theodor Fontane und die Zürcher Tragödie. 2006. – (Hg.) Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. 2002. – (Hg.) Theodor Fontane: Briefe an Karl Emil Otto Fritsch und Klara Fritsch-Köhne. 1882–1898. Mit 12 Lithographien von Willi-Peter Hummel. 2006. – (Mithg.) Annemarie Schwarzenbach: Auf der Schattenseite. Reportagen und Fotografien. 1990. 2. Aufl. 1995. – Aufsätze zu Annemarie Schwarzenbach, Theodor Fontane, Arnold Böcklin, Martha Fontane, Karl Stauffer-Bern und Lydia Escher.

PETER VON MATT Prof. Dr. phil., geboren 1937. Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich, Nottingham und London. Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich (1976–2002). Gastprofessur in Stanford (1980). Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin (1992/93). Fellow der Carl Friedrich SiemensStiftung in München (2001/02). Publikationen: Der Grundriss von Grillparzers Bühnenkunst. 1965. – Die Augen der Automaten. E. T. A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst. 1971. – Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. 1972, Neuausgabe 2001. – »…fertig ist das Angesicht«. Zur Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts. 1983. – Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. 1989. – Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. 1995. – Die verdächtige Pracht. Über Dichter und Gedichte. 1998. – Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. 2001. – Öffentliche Verehrung der Luftgeister. Reden über die Literatur. 2003. – Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. 2006. – Das Wilde und die Ordnung. Zur deutschen Literatur. 2007. – Aufsätze, Essays und Reden zur Literatur und zur Kulturtheorie.

Autorinnen und Autoren

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WALTER MORGENTHALER Dr. phil., geboren 1946. Studium der Germanistik, Philosophie und Pädagogik in Zürich. Projektleiter der Historisch-Kritischen Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA). Mitglied des Instituts für Textkritik e. V. Heidelberg. Publikationen: Bedrängte Positivität. Untersuchungen zu Immermann, Keller, Fontane. 1979. – (Hg.) Karoline von Günderode. Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Historisch-Kritische Ausgabe. 1990/91. – (Hg.) Gottfried Keller. Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe (HKKA). 1996ff. – (Hg.) Gottfried Keller. Romane und Erzählungen. Interpretationen. 2007. – (Mithg.) Text:Kritische Beiträge. 1995ff. – Aufsätze zu Gottfried Keller, Karoline von Günderode, zur Editionstheorie und zur Computerphilologie.

KARL PESTALOZZI Prof. Dr. phil., geboren 1929. Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich. Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Basel (1968–1999). Rektor der Universität Basel (1990–1992). Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken (KGW). Präsident der Stiftung für eine Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe (HKKA). Publikationen: Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal. 1958. – Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik. 1970. – Editionen und Aufsätze zu Johann Caspar Lavater, Ulrich Bräker, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Ludwig Tieck, Johann Peter Hebel, Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer, Friedrich Nietzsche, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Robert Musil, Robert Walser, Friedrich Dürrenmatt.

GABRIELE RADECKE Dr. phil., geboren 1967. Studium der Germanistik, Politik- und Rechtswissenschaften in Mainz und München. Postdoktorandin am Graduiertenkolleg Textkritik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mitarbeiterin der Großen Brandenburger [Fontane-]Ausgabe des Aufbau-Verlags (GBA). Publikationen: Vom Schreiben zum Erzählen. Eine textgenetische Studie zu Fontanes »L’Adultera«. 2002. – (Hg.) Theodor Fontane: »L’Adultera«. 1998. – (Hg.) »Die Décadence ist da«. Theodor Fontane und die Literatur der Jahrhundertwende. 2002. – (Hg.) Theodor Fontane – Bernhard von Lepel: Der Briefwechsel. 2006. – (Hg.) Theodor Fontane: »Die Poggenpuhls«. 2006. – (Hg.) August von Goethe: »Wir waren sehr heiter«. Reisetagebuch 1819. 2007. – (Hg.) Theodor Fontane: »Mathilde Möhring«. 2008. – (Mithg.) Theodor Fontane: Von vor und nach der Reise. 2007. – Aufsätze zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zur Theorie und Geschichte der Edition.

PETER UTZ Prof. Dr. phil., geboren 1954. Studium der Germanistik und Geschichtswissenschaft in Bern und München. Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin (2004/05). Mitherausgeber der Reihe »Schweizer Texte, Neue Folge«. Publikationen: Die ausgehöhlte Gasse. Stationen der Wirkungsgeschichte von Schillers »Wilhelm Tell«. 1984. – Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. 1990. – Tanz auf

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Autorinnen und Autoren

den Rändern. Robert Walsers ›Jetztzeitstil‹. 1998, in französischer Übersetzung 2001. – Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. 2007. – (Hg.) Wärmende Fremde. Robert Walser und seine Übersetzer im Gespräch. 1994. – (Mithg.) Robert Walsers ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge zur Forschung. 2007. – Aufsätze zu Theodor Fontane, Gottfried Keller, Robert Walser sowie zur deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, zur deutschsprachigen Schweizer Literatur und zur literarischen Übersetzung.

MARGRET WALTER-SCHNEIDER Prof. Dr. phil., geboren 1941. Studium der Germanistik und Romanistik in Zürich und Paris. Titularprofessorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich (1988–2007). Publikationen: Denken als Verdacht. Untersuchungen zum Problem der Wahrnehmung im Werk Franz Kafkas. 1980. – Aufsätze zu Jean Paul, Heinrich von Kleist, Jeremias Gotthelf, Adalbert Stifter, Gottfried Keller, Theodor Fontane, Franz Kafka, Robert Walser, Friedrich Dürrenmatt sowie zur Narratologie, Säkularisierung, Kreativitätstheorie und zur Problematik literarischer Vaterbilder.

ROLF ZUBERBÜHLER Dr. phil., geboren 1936. Studium der Germanistik und Altphilologie. Lehraufträge an der Universität Zürich und Gymnasiallehrer in Winterthur. Publikationen: Hölderlins Erneuerung der Sprache aus ihren etymologischen Ursprüngen. 1969. – Die Sprache des Herzens. Hölderlins Widmungsgedichte. 1982. – »Ja, Luise, die Kreatur.« Zur Bedeutung der Neufundländer in Fontanes Romanen. 1991. – Fontane und Hölderlin. Romantik-Auffassung und Hölderlin-Bild in »Vor dem Sturm«. 1997. – Aufsätze zu Theodor Fontanes Werk im Kontext seiner Zeit.