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German Pages 344 [341] Year 2015
Ulrich Beck • Natan Sznaider • Rainer Winter (Hg.) Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung
Ein Schloss Elmau Symposion
CULTURAL STUDIES • HERAUSGEGEBEN VON RAINER WINTER • BAND 4
2003-09-11 11-38-58 --- Projekt: transcript.cult.global america.beck / Dokument: FAX ID 019831500998250|(S.
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Ulrich Beck • Natan Sznaider • Rainer Winter (Hg.)
Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung Aus dem Englischen von Henning Thies
CULTURAL STUDIES
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Die englische Ausgabe des Bandes erschien 2003 unter dem Titel Global America? The Cultural Consequences of Globalization bei Liverpool University Press. Publikation zur internationalen Konferenz »Global America?«, die im Oktober 2000 auf Schloss Elmau bei Mittenwald stattfand.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2003 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-172-8
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Inhalt Einleitung Natan Sznaider und Rainer Winter | 7
I. Theoretische Perspektiven Verwurzelter Kosmopolitismus: Entwicklung eines Konzepts aus rivalisierenden Begriffsoppositionen Ulrich Beck | 25 McDonaldisierung, Amerikanisierung und Globalisierung: Eine vergleichende Analyse George Ritzer und Todd Stillman | 44 Kultur, Moderne und Unmittelbarkeit John Tomlinson | 69
II. Nationale Fallstudien Die Ausnahmestellung der Supermacht: Globalisierung auf Amerikanisch Jan Nederveen Pieterse | 93 Die Amerikanisierungsdebatte am Beispiel Frankreichs Richard Kuisel | 133 Konsum, Moderne und die kulturelle Identität Japans: Grenzen der Amerikanisierung? Gerard Delanty | 158
III. Transnationale Prozesse Techno-Migranten in der Netzwerkökonomie Aihwa Ong | 189
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Die Amerikanisierung des Holocaust Natan Sznaider | 219 Vom Erdbeben in Lissabon zu Oprah Winfrey: Leiden als Identität im Zeitalter der Globalisierung Eva Illouz | 239 Globale Medien, kultureller Wandel und die Transformation des Lokalen: Der Beitrag der Cultural Studies zu einer Soziologie hybrider Formationen Rainer Winter | 263 »Alles Rock«: Vielfalt und Ähnlichkeit im Bereich der globalen Popmusik Motti Regev | 284 »Das Internet: Instrument der Amerikanisierung? Rob Kroes | 300
Epilog Was heißt nun Amerikanisierung? Roland Robertson | 327 Die Autoren dieses Bandes | 337
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Einleitung Natan Sznaider und Rainer Winter
»Achtung: Die Objekte in diesem Spiegel sind vielleicht näher als es den Anschein hat.« Diese Warnung steht am Beginn von Jean Baudrillards Buch America (1988: 1), einer Art Reisetagebuch, in dem der Autor die USA als Mittelpunkt der Welt definiert. Seiner Meinung nach stellen die Vereinigten Staaten die erste wirklich moderne Gesellschaft dar, die durch ihre Radikalität und Indifferenz zum Vorbild für den Rest der Welt geworden ist, auch für Europa. Baudrillard analysiert die Prägung des Alltagslebens durch Film und Fernsehen, die zentrale Bedeutung von Oberfläche und Schnelligkeit, das inspirierende Erlebnis der amerikanischen Landschaft, zumal der Leere in den Wüstengegenden, sowie die kulturellen und sozialen Eigenheiten des Großstadtlebens. Diese Analyse mündet in seine Diagnose vom »Tod des Sozialen«. Nach seinen Amerikareisen denkt auch Wim Wenders kritisch über die US-amerikanischen Ikonen und Mythen nach sowie über die bedrohlichen Auswirkungen Hollywoods und der Werbung auf die Erlebnis- und Vorstellungswelt. Das zeigt sich nicht zuletzt in seinen Filmen, zum Beispiel im Roadmovie Paris Texas (1984). Doch wird in seinen faszinierenden Bildern der Landschaft im Südwesten der USA, der Skylines von Los Angeles und Houston sowie in seinen Symbolen der amerikanischen Populärkultur auch die Ambivalenz seiner Ansichten deutlich. Die Wirkung ist deshalb nicht so pessimistisch wie bei Baudrillard. Während Wenders in seinen theoretischen Schriften vor einer Kolonisierung der Phantasie durch die Produkte der amerikanischen Kulturindustrie warnt (Wenders 2001), porträtieren Paris Texas und einige andere Filme des Regisseurs die amerikanische Gesellschaft als komplexes, facettenreiches Gebilde. Ergänzend ermöglichte ihm die Rockmusik eine oppositionelle Haltung zur deutschen Nachkriegskultur. Zusammen mit Comics, den Filmen von John Ford oder den Romanen von Dashiell Hammett und Raymond
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Chandler vermittelte sie ihm die Vorstellung eines imaginären Amerikas, das persönliche Phantasien, Wünsche und Utopien positiv prägt. Vor Wenders hatte bereits im 19. Jahrhundert Alexis de Tocqueville eine europäische Tradition begründet: Amerika zu bereisen und durch das Prisma der Vereinigten Staaten kritisch über sich selbst, Amerika und Europa nachzudenken. Tocqueville hob die Gleichheit als fundamentales kulturelles Prinzip des Landes hervor – trotz Sklaverei und manifester Ungleichheiten. Er war auch einer der Ersten, die sich über die potenziell destruktiven Kräfte des Individualismus in einer zunehmend demokratischen Gesellschaft ausließen, und wurde so zum Mentor vieler Kritiker der so genannten »Massengesellschaft«. Ferner betonte Tocqueville die Religiosität der modernen Gesellschaft, weil hier Individualismus und Freiheit die Qualität von Glaubensgrundsätzen angenommen hätten. Tocqueville wusste, dass es auch dem Despotismus nicht am Glauben mangelt, doch die Freiheit benötigt die Aura des Glaubens mehr als alles andere. Amerikanisierung könnte der Schlüsselbegriff zum Verständnis diese Dinge sein. Viele Europäer, aber auch Nichteuropäer, etwa in Israel, die der »alten Linken« oder der »alten Rechten« angehören (beide Formationen verlieren allerdings rasch an Boden und verblassen), neigen wie eh und je dazu, für den Verfall von Tugend, Kultur, Tradition und bürgerlichen Werten die Amerikanisierung verantwortlich zu machen. Zwar tut sich Amerika – leider – in allen Spielarten des Massenkonsums besonders hervor, doch wird bei dieser Denkfigur impliziert, die Konsumkultur sei so etwas wie eine importierte ansteckende Krankheit – während sie in Wahrheit mit dem Phänomen des Massenwohlstands verknüpft ist. Diese unterschiedlichen, gleichwohl miteinander verbundenen Perspektiven der europäischen Intellektuellen bilden einen guten Ausgangspunkt für die Betrachtung der schwierigen Themen, um die es im vorliegenden Buch geht. Dessen Beiträge beschäftigen sich mit den kulturellen Folgen der Globalisierung, wobei das Phänomen der Amerikanisierung nur als Ausgangspunkt dient. Bislang hat diese Debatte meistens in gespannter Atmosphäre stattgefunden, in einem Klima scharfer Kritik und pessimistischer Urteile einerseits und ambivalenter, bisweilen sogar positiver Wertungen andererseits. Anders als bei Wim Wenders konnte man in manchen Fällen sogar von einer Billigung des Phänomens sprechen. Indes, wenn Standpunkte derart unversöhnlich miteinander in Konflikt liegen, gibt es keinen Raum für Kompromisse, und so geht die Debatte immer wieder von neuem los. Die Kontroverse beherrscht die öffentliche Diskussion, weil darin persönliche Zukunftshoffnungen und -ängste zum Ausdruck kommen, aber auch Hoffnungen und Ängste bezüglich sozialer Entwicklungen. Vor diesem Hintergrund bemüht sich unser Buch, differen-
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zierte und substanzielle Beiträge zur Debatte über die Frage zu liefern, ob amerikanische Verhältnisse ein globales Phänomen sind. Theoretische Analysen und empirische Untersuchungen verhindern vorschnelle Urteile; sie tragen zur Klärung der Gedanken und zur differenzierten Beurteilung der Fakten bei. Neben dem (scheinbar) vertrauten Phänomen der Amerikanisierung gibt es zahlreiche damit verbundene Fragen und Probleme, die analytisch verstanden, empirisch untersucht und kritisch erörtert werden sollten. Die Beiträge in diesem Band belegen, dass dies möglich ist, dass man eine präzise, unparteiische Definition des Globalisierungsprozesses finden kann, die überdies die kulturellen Konsequenzen dieses Vorgangs deutlicher ins Blickfeld rückt. Die wachsende Popularität des Globalisierungsgedankens in der Soziologie hat mit der Tatsache zu tun, dass man viele der heutigen Probleme auf der Ebene der Nationalstaaten nicht mehr angemessen erfassen kann, sondern dass dies nur noch in Analysen globaler (transnationaler) Prozesse möglich ist. So erschließen sich die Einflüsse von Hollywood, McDonald’s- oder Burger-King-Schnellrestaurants und Nike-Turnschuhen oder -Sportausrüstung nicht zuletzt im Kontext globaler kultureller Produktions-, Distributions- und Rezeptionsprozesse. Auf diesen Feldern dominieren zweifellos Produkte aus Amerika. In einer kritischen Interpretation solcher Zusammenhänge wurde eine »Kulturideologie des Konsumententums« diagnostiziert (Sklair 1998), die sich das Ziel setzt, weltweit so viele gesellschaftliche Gruppen und kulturelle Identitäten wie möglich einzubeziehen. Die Teilnahme am Konsum findet nicht in einem – durch Massenproduktion und Standardisierung geprägten – fordistischen Szenario statt. Anders als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer berühmten Theorie der Kulturindustrie glaubten (1969), werden darum die Kulturen auch nicht immer uniformer und standardisierter. Vielmehr erfordert der (globale) Markt Unterschiede und Differenzierungen als Grundlage für die Entwicklung erfolgreicher Marketingstrategien. Wie manche Autoren meinen, stellen flexible und mobile Organisationen jeder gesellschaftlichen Gruppe im Westen genau jene Konsumgüter zur Verfügung, nach denen diese Gruppen verlangen, um ihre eigene Identität im Rahmen der »Identitätspolitik« (Hardt und Negri 2000: 152 ff.) herauszubilden und zum Ausdruck zu bringen. Selbst Gegenkulturen sind fest in die transnationale Konsumwelt integriert, die unser Alltagsleben durchdringt. Laut Fredric Jameson (1998: 64) bilden sich in dieser Konsumwelt »Entwicklungskräfte« heraus, »die nordamerikanischen Ursprungs sind und die aus der konkurrenzlosen Vormachtstellung resultieren, die die Vereinigten Staaten heute innehaben, folglich auch aus dem ›American way of life‹ und aus der amerikanischen Kultur der Massenmedien«. Jamesons
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Interpretation kommt zu dem Schluss, dass die »neue Weltkultur« von den USA beherrscht werde. Die heute durch die Globalisierung hervorgerufenen Ängste sind eine Neuauflage ähnlicher Amerikanisierungsängste vor hundert Jahren; geändert haben sich nur die Begriffe und die Akteure. Damals wie heute wurde das Thema einer globalen Kultur zum Gegenstand politischer, ideologischer und akademischer Kontroversen. Viele dieser Debatten bedienen sich dualistischer Denkweisen und Terminologien; dichotomisch werden nationale und postnationale Modelle einander gegenübergestellt. Aus nationaler Perspektive erscheint die Globalisierung als wenig substanzieller Ersatz für nationale Werte. In postnationalen Zeiten werden diese so genannten »nationalen Werte« oft auch »authentisch« genannt. Ähnlich operieren auch frühere Modernisierungsforscher und neuerdings Postnationalisten mit Begriffskategorien, die sich wechselseitig ausschließen. Die Erstgenannten hielten lokale, regionale und ethnische Bindungen für urtümliche Relikte, die im Zeichen der Nationalisierung der Massen recht bald verschwinden würden. Man kann jedoch überzeugend argumentieren, dass das Globale gar nicht an die Stelle des Nationalen (oder des Lokalen) tritt, sondern in einer dialektischen Beziehung dazu steht. Zur Globalisierung gehören Gleichzeitigkeit und wechselseitige Durchdringung dessen, was man konventionell »global« und »lokal« nennt – oder, abstrakter gesagt, des Universalen und des Partikularen (oder, wenn man so will, des »Amerikanischen« und des »Lokalen«). Werden Konsumprozesse nicht mehr vom Standpunkt der Produktion oder des Marketing aus analysiert, dann zeigt sich schnell, dass kulturelle Güter bei der Rezeption und Aneignung Prozessen der Kontextualisierung und zugleich der Lokalisierung unterliegen – Prozessen, die durchaus ein Eigengewicht entwickeln können (Robertson 1995). Das gilt, wie anthropologische Studien belegen (Miller 1994), auch für weltweit etablierte Produkte wie Coca-Cola, Hamburger von McDonald’s oder Barbie-Puppen. Man würde es sich aber zu leicht machen, wenn man diese Gegenstände im Unterschied zu »großen« Themen wie globale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Mitleid etc. als banal oder trivial abqualifizierte. Trotzdem ist zunehmend deutlich geworden, dass diese Kontextualisierungs- und Lokalisierungsprozesse auch dann wirksam werden, wenn es um die Entstehung einer globalen Ethik oder gar einer globalen Erinnerung geht (Levy und Sznaider 2001). Während Diversifizierung und das korrespondierende Produktmarketing darauf abzielen, im globalen Maßstab unterschiedliche Wünsche zu berücksichtigen, entwickeln sich bei Lokalisierungsprozessen unterschiedliche, kreative Formen der Aneignung. Solche kreativen Aneignungsprozesse verleihen weltweit verbreiteten – ideellen
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wie materiellen – Kulturgütern spezifische Bedeutungen. Es findet eine affektive Anverwandlung dieser Güter statt, und sie werden dabei zu Ressourcen für die Schaffung und Entwicklung einer persönlichen Identität. Gleichzeitig kann man »Taktiken« für die Umgestaltung und kreative Nutzung dieser Ressourcen erkennen (de Certau 1984), welche die Produzenten nicht vorhergesehen hatten. In optimistischen Interpretationen dieser Phänomene ist von einer »Vielfalt von unten« (Fiske 1996), die auf Prozessen der »Exkorporation« basiere, die Rede (Grossberg 1997), aber auch von der Usurpation globaler Produkte für unabhängige Zwecke. Auf diese Weise können sich Menschen aus Ressourcen, die im globalen Umlauf zur Verfügung stehen, ihre eigene Kultur schaffen (Winter 2001). Vor allem Néstor García Canclini (1995) hat am Beispiel Lateinamerikas gezeigt, dass der eklektische, spielerische und kreative Umgang mit globalen Produkten zur Entwicklung und Verbreitung neuer Kulturen führen kann, die durch »Unreinheit«, Synkretismus und Hybridität charakterisiert sind. Laut James Lull (2001: 157) ist die Kraft des Hybriden tatsächlich das wesentliche Merkmal zeitgenössischer kultureller Aktivitäten. Im globalen Zeitalter der Kommunikation, das durch eine zunehmend »komplexe Vernetzung« (Tomlinson 1999) und durch den anscheinend unbegrenzten Zugang zu kulturellen Ressourcen – aus manchmal sehr entlegenen Orten – geprägt ist, konstruieren wir uns eigene »Superkulturen«. Diese ermöglichen Orientierung, Identitätsbildung und Handlungsmächtigkeit. Sie nehmen unterschiedliche Formen an, begünstigen offen den Wandel und können zur Bildung neuer Gemeinschaften führen, zum Beispiel unter Verwendung elektronischer Netzwerke. Das Internet ist dafür das perfekte Beispiel. Nach Lull (2001: 144 ff.) war es ursprünglich ein typisch amerikanisches Kulturphänomen, doch inzwischen wird es weltweit von allen möglichen, sprachlich und kulturell unterschiedlichen Gruppen genutzt. Die kommunikative Kraft des Internets bietet (scheinbar) endlose kulturelle Möglichkeiten (Poster 2001). Selbst wenn wir skeptisch bleiben und diese positive Einschätzung nicht teilen, kann offenkundig eine differenzierte theoretische und empirische Analyse in lokalen Kontexten ein tieferes Verständnis der Amerikanisierungsprozesse fördern. Der Gedanke einer homogenen globalen Kultur erweist sich also als Trugbild. Globalisierung und Lokalisierung gehen immer Hand in Hand, und sie müssen auch zusammen betrachtet werden. Beide sind Bestandteil jener massiven und radikalen Prozesse, die Roland Robertson (1992: 10) als »wechselseitige Durchdringung« beschrieben hat, als »Universalisierung des Partikularismus und Partikularisierung des Universalismus«. Zugleich müssen wir nicht nur die globalen Ströme von Kapital, Technologien und Bildern beobachten, sondern auch, wie Arjun Appadurai
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(1996) gezeigt hat, die Ströme von Migranten, für die die Bilder von Amerika auch ein kosmopolitisches Versprechen beinhalten können. Ist dieser Kosmopolitismus vorwiegend ästhetisch definiert, indem er sich auf eine Vergnügen bereitende Erkundung und Erprobung kultureller Welten konzentriert (Lash und Urry 1994: 256), oder kann er auch kognitive und ethische Orientierung bieten? John Tomlinson (1999: 202) weist darauf hin, dass die Entwicklung semiotischer Fertigkeiten und eine hermeneutische Reflexivität nicht notwendigerweise zu einer »Verantwortung für die globale Totalität« führen. Gleichwohl gibt es Anzeichen für ein »globales Weltbürgertum« (Held 1995), das sich durch seine potenzielle Offenheit und Sensibilität für Gruppen, Kulturen und Probleme auf der ganzen Welt auszeichnet. Es widersetzt sich den Interessen globaler Unternehmungen, die »denationalisiert« sind und grenzenlos operieren. Verschiedene Formen des Austauschs und der Interaktion führen zu einer »kulturellen und sozialen Vernetzung«, die nicht im Einklang mit dem Homogenisierungs-Szenario steht, das einige Autoren entworfen haben. Welche Konsequenzen das hat, bleibt offen und führt zur »kulturellen Komplexität« der Gegenwart (Hannerz 1992). Gleichzeitig zeichnen sich offenbar die Umrisse einer globalen Zivilgesellschaft ab. Wichtiger noch ist in diesem Zusammenhang ein Aspekt, den Appadurai betont: die (neue) Rolle der Vorstellungskraft und ihre Bedeutung als sozialer Machtfaktor (Castoriadis 1975). Einerseits wird die Imagination durch den Einfluss von Staaten, Märkten, Medien und Konsum definiert und diszipliniert. Doch andererseits ist die Phantasie auch Grundlage für die Entwicklung von Protest, Dissens und neuen Formen kollektiven Lebens (Appadurai 2000: 6). Sie ist Voraussetzung für aktive politische Teilhabe und für die Herausbildung neuer Formen sozialer Aktivität. Zugleich betont Appadurai aber »die Mobilität und Formbarkeit jener kreativen Formen des sozialen Lebens, die lokalisierte Übergangspunkte für mobile globale Formen des bürgerlichen Engagements und des zivilen Lebens sind« (2000: 6). Appadurais Perspektive verdeutlicht, dass ein Prozess wie die Amerikanisierung weder uniform abläuft noch von oben oktroyiert werden kann. Ein solcher Prozess führt zu heterogenen Antworten und unterschiedlichen Akzentuierungen. Sogar die Fähigkeit, sich ein persönliches Bild von Amerika zu machen und die dafür stehende Bilderwelt zu übernehmen, ist inzwischen zum globalen Phänomen geworden. Durch vielheitliche Konstruktion ist das Amerikabild inzwischen auch reflexiv geworden. Dabei wird klar, dass selbst die Idee von US-Amerika ein Konstrukt ist, dass sie auf vielerlei Weise durch ethnische Gruppen, beispielsweise Amerikaner asiatischer oder hispanischer Herkunft, verändert werden kann. Appadurai (2000: 15) ist der Meinung, dass eine Soziologie benö-
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tigt wird, die auf der Grundlage dieses neuen Ansatzes die sozialen Formen untersucht, die mit diesen Entwicklungen verbunden sind (transnationale Netzwerke, Organisationen, Bewegungen etc.). Er plädiert für eine Untersuchung der Globalisierung »von unten«; dabei müssten auch die »Grassroots«-Organisationen untersucht werden, die gegen die Globalisierung kämpfen. Dieser Ansatz befürwortet den Blick auf neue subpolitische Felder (Beck 1993) und zeigt, dass Globalisierung und Amerikanisierung nicht in nur eine Richtung laufen, sondern dass es auch Um- und Abwege, Fluchtlinien und Gegenbewegungen gibt, die im vorliegenden Band ebenfalls behandelt werden. Die Globalisierungsprozesse werden zweifellos durch ein neues Zeitgefühl und eine neue zeitliche Struktur beeinflusst, die sich seit einiger Zeit herausbilden – zum einen durch die Beschleunigung des Alltagslebens und zum anderen durch die Beschleunigung der Bilder und Informationen in den Medien. Geschwindigkeit zerstört den Raum, es gibt keine zeitliche Distanz mehr. Im Denken des 19. Jahrhunderts war Geschwindigkeit immer mit Degeneration, mit dem Niedergang der Tradition, mit Metropolen verbunden, die – wie Werner Sombart, einer der führenden Soziologen des frühen 20. Jahrhunderts, 1911 sagte – nichts anderes seien als die natürliche Fortsetzung der Wüste. Es war wiederum Baudrillard (1988) in seiner anregenden Analyse Amerikas, der Amerika als Wüste in den Blickpunkt rückte – als einen Raum, der ein hohes Tempo ermöglicht und eine besondere Form der Erinnerung hervorbringt, nämlich das Vergessen. Ist dieses Argument wirklich stichhaltig? Altmodische Modernisten gehen von der Annahme aus, dass Identität auf Kontinuität und Langsamkeit basiere, also auf Prinzipien, die geradezu das Gegenbild Amerikas verkörpern. Kollektive kulturelle Identität wird dabei mit jenen Empfindungen und Werten identifiziert, die ein Gefühl dauerhafter Kontinuität vermitteln, wozu gemeinsame Erinnerungen und ein Gespür für das gemeinsame Schicksal der Gruppe gehören, die gemeinsame Erlebnisse hinter sich hat und kulturelle Attribute ihr Eigen nennt. Nach Meinung seiner Gegner besitzt das »geschichtslose« Amerika jedoch gar keine Identität. Nach Baudrillard, der diese Worte als Kompliment verstand, sind »die Amerikaner das einzige wahrhaft primitive Volk«. Die Verachtung für Amerika und die philiströse Qualität seines kulturellen Lebens wurde Mitte des 19. Jahrhundert bei der entpolitisierten Avantgarde populär – für sie war Amerikanisierung gleichbedeutend mit einer Vulgarisierung des Lebens. Diesen Ansatz teilte auch die Frankfurter Schule. Gleichwohl wurde durch die Unterscheidung zwischen Avantgarde-Kultur und populärer Kultur, zwischen hoher und niederer Kultur, auch die alte Unterscheidung zwischen aristokratischer und bäuerlicher Kultur perpetuiert. Eine Gesellschaft ohne Nationalstaat und ohne die alten kulturellen Hierarchien
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galt, und gilt immer noch, als eine Gesellschaft ohne Kultur als Ordnungsprinzip. Darum kann andererseits Amerika auch für die Befreiung der Massen von der kulturellen Bevormundung durch die Eliten stehen – jene Eliten, die diktieren, was als »guter« und was als »schlechter« Geschmack zu gelten habe, und die über die Einhaltung eines solchen Kanons wachen. Vorrangig ist in der postkolonialen Diskussion jedoch betont worden, wie die Kolonisierungsstrategien der Westmächte mitsamt ihren Versuchen, die Welt »ontologisch« zu ordnen, auf vielerlei Weise unterminiert wurden. Diverse Praktiken führen zu Unterschieden und Differenzierungen, die ihrerseits Wesensidentitäten, statische Kulturbegriffe und homogene Weltanschauungen in Frage stellen. Die postkoloniale Situation zwingt dazu, vertraute und altbekannte Positionen in Frage zu stellen, zu überdenken und anders auszudrücken. Wie Iain Chambers (2001) zeigt, stellt sie der westlichen Kultur auch die Aufgabe, ihre Vorstellungen von Wissenschaft und ihre Konzeption von Humanismus zu überdenken. In gewisser Weise ist dies ein Symptom der Zweiten Moderne, in der selbstverständliche Wahrheiten verschwinden, weil die Modernisierung und die damit verbundenen Prozesse reflexiv geworden sind (Beck u.a. 1994). In unserem Zusammenhang bedeutet dies, dass eine Analyse der kulturellen Folgen der Globalisierung nicht von der Überzeugung ausgehen darf, Kulturen seien organische Gebilde. Vielmehr basieren Kulturen auf der (politischen) Artikulation von historischen Verbindungen und Begrenzungen, also auf dem Zusammenfügen oder Entknüpfen von Elementen. Man kann Kultur als einen kontinuierlichen, offenen und unvollendeten Prozess verstehen, der sich im Verlauf der Globalisierung intensiviert und der sich in zunehmendem Maße reflexiv gestaltet. Der Titel des vorliegenden Bandes, »Globales Amerika? Die kulturellen Folgen der Globalisierung«, formuliert eine offene Frage der Forschung, die im ersten Teil des Buches unter dem Aspekt theoretischer Begriffsbildung genauer untersucht wird. Ulrich Beck vertritt die These, dass das gedankliche Konzept der Amerikanisierung auf ein nationales Verständnis von Globalisierung schließen lässt, das nicht gut zur transnationalen Welt der Zweiten Moderne passt. Stattdessen spricht er sich für einen »verwurzelten Kosmopolitismus« aus, einen Kosmopolitismus, der sich gleichermaßen aus dem Globalen wie aus dem Lokalen speist. Auf diese Weise wird binäres Denken vermieden, das die Diskussionen über den Postkolonialismus noch immer weitgehend bestimmt. Das Anderssein der Anderen wird anerkannt, und auf diese Weise kann sich zugleich die soziologische Imagination von ihrem methodologischen Nationalismus befreien und einer kosmopo-
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litischen Perspektive folgen – mit allen Konsequenzen, die das für dieses Forschungsgebiet nach sich zieht. Nicht nur Becks Beitrag, sondern auch die meisten anderen Beiträge dieses Bandes zielen methodologisch in die Richtung eines neuen Kosmopolitismus. George Ritzer und Todd Stillman, die ebenfalls eine theoretische Grundlegung der Begriffe »Amerikanisierung« und »Globalisierung« versuchen, beziehen sich dabei auf die McDonaldisierung. Gemeint ist damit die zunehmende Durchrationalisierung der Gesellschaft. Überall auf der ganzen Welt assoziiert man Schnellrestaurants mit dem amerikanischen Lebensstil. Der mit diesem Lebensstil verbundene McDonaldisierungsprozess wird durch erhöhte Effizienz definiert – durch die Möglichkeit, den Produktionsprozess genau vorherzusagen und zu kalkulieren. Dabei handelt es sich jedoch nicht notwendigerweise um einen Amerikanisierungsprozess, sondern um eine – für das spätmoderne Zeitalter, in dem wir gegenwärtig leben, typische – Form der Standardisierung, die auch den Konsumbereich charakterisiert. In den Augen von Ritzer und Stillman sind Amerikanisierung und McDonaldisierung spezifische, aber nicht identische Ausdrucksformen der Globalisierung; sie betonen den homogenisierenden Effekt der Amerikanisierung. John Tomlinson konzentriert sich auf das Verhältnis von Kultur, Moderne und Unmittelbarkeit. In seiner Begriffsanalyse zu den kulturellen Folgen der Globalisierung setzt er kulturelle Phänomene in Beziehung zur globalisierten Textur der Moderne. Das Schlüsselelement ist für ihn die durch Schnelligkeit und direkten Zugang charakterisierte »Unmittelbarkeit«. Sie ist für Tomlinson das entscheidende Merkmal der global-modernen Kulturerfahrung. Der Autor plädiert für eine kulturkritisch sensible Vorstellungskraft, die in der Lage ist, Globalisierungsprozesse unvoreingenommen zu untersuchen. Im zweiten Teil des Bandes werden diese theoretischen Erläuterungen am Beispiel nationaler Fallstudien überprüft. Jan Nederveen Pieterse analysiert, um den Begriff »Globalisierung« besser fassen zu können, Amerikas »Ausnahmestellung« und die Rolle dieses Denkmusters in der Hegemonie der Vereinigten Staaten. Dieses Denken hat nicht nur Auswirkungen im Konsumbereich und in der Populärkultur, sondern auch einen entscheidenden Einfluss auf die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, auf die internationale Politik und auf Sicherheitsfragen. Nederveen Pieterse glaubt, dass eine Koalition der fortschrittlichen Kräfte in Europa, Asien und Amerika gebildet werden muss, um die Entwicklungsrichtung der Globalisierung und deren kulturelle Folgen zu beeinflussen. Am Beispiel Frankreichs analysiert Richard Kuisel den dortigen Amerikanisierungsprozess, der zum Teil darin besteht, dass Nicht-
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amerikaner »amerikanische« Produkte, Bilderwelten, Technologien und Praktiken importieren. Obgleich Kuisel die These vom amerikanischen Kulturimperialismus zurückweist, die beispielsweise Pierre Bourdieu und Loïc Wacquant (1999) vertreten, hält er es wie Ritzer und Stillman für selbstverständlich, dass Amerikanisierung gleichbedeutend mit einer Umformung der heutigen Welt in Richtung einer Homogenisierung ist. Seine Beispiele zeigen, dass Frankreich heute zweifellos amerikanischer ist als in den 1930er-Jahren. Demgegenüber zeigt Gerard Delanty die Grenzen der Amerikanisierung am Beispiel Japans auf. Innerhalb der Strukturen der japanischen Kultur verläuft die Amerikanisierung erfolgreich, doch trägt sie paradoxerweise gerade dazu bei, die japanische Kultur zu stärken. Die Einführung des »demonstrativen Konsums« führte beispielsweise zur Stärkung von Gruppenidentitäten und zur Begründung einer eigenen Identität innerhalb der jeweiligen Gruppe. Laut Delanty trägt die Amerikanisierung zu einer Erweiterung der verfügbaren kulturellen Ressourcen (zum Beispiel im Bereich der Populärkultur) bei – als Mittel zur Schaffung von Bedeutung im Rahmen der vorhandenen kognitiven, symbolischen und normativen Strukturen. Im dritten Teil des Bandes wird das Thema »Globales Amerika?« aus einer transnationalen Perspektive behandelt. Aihwa Ong untersucht die Rolle der asiatischen Techno-Migranten in der Netzwerkökonomie der IT-Branche, besonders in Kalifornien und Vancouver. Die Vision der Freiheit und die Hoffnung auf ein gutes Leben haben Generationen asiatischer Migranten nach Amerika geführt. Ong zeigt auf, wie heutzutage eine neoliberale »Migrationssteuerung« die Ströme solcher Migranten leitet: Investoren, Manager und Hightech-Experten werden bei der Gewährung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnissen bevorzugt. Kritisch widersetzt sich die Autorin den demokratischen Visionen und dem Optimismus, den manche Kommentatoren mit dem Projekt des Kosmopolitismus verbinden. Am Beispiel der Amerikanisierung des Holocaust zeigt Natan Sznaider, wie sich eine globale Erinnerung herausgebildet hat, die auf Kommunikationsformen basiert, die durch die Massenmedien vermittelt wurden und die territoriale wie sprachliche Grenzen überwinden. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Erinnerung uniform strukturiert wäre. Weil die globale Kultur durch Prozesse der Hybridisierung und Individualisierung gekennzeichnet ist, wird auch die Zeit heterogen, fragmentiert und vielheitlich erlebt. Ethnische Minderheiten in den USA, zum Beispiel Afroamerikaner, Juden und andere, haben – über die Erscheinungsformen des Nationalstaates hinaus – ihre eigenen Formen der Erinnerung entwickelt, in denen kollektive Identitäten
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ihren Ausdruck finden. Selbst hier zeigen sich die Umrisse eines kosmopolitischen globalen Projekts. Eva Illouz diskutiert Leid als eine Form der kollektiven Identität. Eine transnationale Kultur enthält nicht nur, wie Appadurai zeigt, utopische Möglichkeiten, sondern sie macht auch aus privatem und öffentlichem Schmerz ein Spektakel. In einer Analyse der Oprah Winfrey Show illustriert sie, wie amerikanische Formen von Leid und Mitleid erfolgreich in den Rest der Welt exportiert werden und wie dabei transnationale »Schicksalsgemeinschaften« (David Held) entstehen. Illouz sieht in diesem Prozess eine »Globalisierung von innen«, wie sie Ulrich Beck definiert hat. Doch ist sie skeptisch, ob sich auf diese Weise, durch Individualisierung und Standardisierung des Leidens, eine kosmopolitische Solidarität entwickeln kann, die das »Glokale« im Sinn hat und die eine Ausdrucksform der »Globalisierung von unten« wäre. Rainer Winter untersucht die Prozesse der »Glokalisierung« (Robertson 1995) bei der Rezeption und Anverwandlung von Produkten der amerikanischen Popmedien. Anhand zahlreicher Beispiele, darunter auch einer ethnographischen Untersuchung der Hiphop-Kultur in Deutschland, zeigt er, wie Hybridbildungen entstehen. Die transnationale Hiphop-Kultur belegt auch, dass eine global verankerte kulturelle Identität und eine lokale Identifikation einander nicht ausschließen, sondern dass es sich um zwei Seiten desselben Vorgangs handelt. Motti Regev analysiert den Einfluss der angloamerikanisch definierten Rock-Ästhetik auf die »weltweite Popmusik«. Deren eklektischer Charakter ermöglicht es, sie mit verschiedenen Musikstilen in Verbindung zu bringen. Regev erläutert, dass diese amerikanische Kulturform weltweit zum dominanten Habitus geworden ist, um in lokal produzierter Musik Rebellion gegen Traditionen und autoritäre Regime zum Ausdruck zu bringen. Dabei entsteht eine duale Identität, die zugleich lokal und kosmopolitisch ist. Rob Kroes untersucht, ob das Internet als Instrument der Amerikanisierung funktioniert, indem es kulturelle Werte und die mentale Verfassung Amerikas verbreitet. Es gelingt ihm zu zeigen, dass eine Wahlverwandtschaft zwischen der Logik des Internets und amerikanischen Werten besteht, die es den einzelnen Konsumenten ermöglicht, kohärente Einheiten aufzubrechen und deren Teile kreativ zu neuen Einheiten zu verbinden. In seinem Epilog untersucht Roland Robertson eingehend Definitionen von »Amerikanisierung« und »Antiamerikanismus«. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass »Antiamerikanismus« die Tatsache reflektiert, dass die Vereinigten Staaten im Begriff stehen, eine transnatio-
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nale Gesellschaft zu werden. Robertson plädiert für Umsicht und analytische Präzision bei der Beschäftigung mit dem zentralen Thema der Amerikanisierung. Der vorliegende Band wurde zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, als Amerika und die globale Welt in eine tiefe Krise gerieten – durch die Terroranschläge auf New York und Washington, DC am 11. September 2001. Zielte dieser Angriff auf Amerikas Vormachtstellung oder auf die globale Kultur? Oder auf beides? Die USA entschlossen sich, den Angriff als gegen ihre nationale Sicherheit gerichtet zu definieren. Die Reaktion bestand, wie der Angriff auf den Irak im Frühjahr 2003 zeigte, in einer aggressiven Hervorkehrung der eigenen Souveränität. Hätte man den Angriff allerdings in dem Zusammenhang definiert, der im vorliegenden Band dargestellt wird, also als einen Angriff auf die globale Kultur und als Verbrechen gegen die Menschheit, dann wäre wohl auch die Reaktion global erfolgt. Als Vorbild für solche Reaktionen können internationale Tribunale dienen. Letztlich wird es auch ein Testfall für die Amerikanisierung der Welt sein, ob sich Amerika bereit erklärt, sich neuen Regeln in einem geordneten Globalisierungsprozess zu unterwerfen. Der Terroranschlag vom 11. September und der Irak-Krieg korrespondieren mit den Unsicherheiten in unserer eigenen Welt, speziell mit den Diskontinuitäten beim Übergang zur globalen Modernität. Es ist ja gerade das abstrakte Wesen von »Gut und Böse«, das diese neue globale Welt symbolisiert und das zur extraterritorialen Qualität der kosmopolitischen Erinnerung und des kosmopolitischen Lebens beiträgt. Alle Beiträge dieses Bandes außer dem Epilog wurden vor dem Terroranschlag vom 11. September und vor dem Entschluss der USA, in den Krieg zu ziehen, verfasst. In letzter Zeit haben wir nun die Verschiebung von einer »globalen Kultur« zu einer nur begrenzt globalen Politik erlebt, einer Politik, mit der die USA ihre Hegemonialansprüche untermauerten und weiterhin untermauern. Ist dies der Grenzfall für ein globales Amerika? Und zeigen die weltpolitischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit überdies, dass die Kultur der Politik letztlich doch nicht ebenbürtig ist und dass die kulturelle Globalisierung nicht das »Ende der Geschichte« herbeigeführt hat? Offen bleibt vorerst, ob es nun zum Kulturkrieg, zum so genannten »Zusammenstoß der Kulturen« (clash of civilizations), kommt.
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Danksagung Auf den folgenden Seiten präsentieren wir neue Forschungsperspektiven zum Phänomen der Amerikanisierung und zu den kulturellen Folgen der Globalisierung. Die Beiträge zu diesem Band sind aus einer Konferenz zum Thema »Global America?« hervorgegangen, die im Oktober 2000 auf Schloss Elmau bei Mittenwald stattfand. Wir danken dem Direktor der Tagungsstätte Schloss Elmau, Dietmar Müller-Elmau, für seine großzügige Unterstützung, ohne die diese Konferenz nicht hätte stattfinden können und die Übersetzung nicht möglich gewesen wäre.
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I. Theoretische Perspektiven
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Verwurzelter Kosmopolitismus: Entwicklung eines Konzepts aus rivalisierenden Begriffsoppositionen Ulrich Beck
Die Präsidenten der Vereinigten Staaten, auch Bill Clinton und George W. Bush, erklären gern, dass die USA das Leitlicht der Welt seien. Dabei beziehen sie sich auf eine lange Tradition. Denn es war Abraham Lincoln, der einst Amerika als »letzte große Hoffnung der Erde« bezeichnete. Doch es gibt viele Menschen, auch in den USA, die eine genau gegenteilige Meinung vertreten. Während Clinton in Amerika einen Vektor für die weltweite Ausbreitung des freien Marktes und der Demokratie sah, können andere nur eine globale Welt der Großunternehmen erkennen – mit dem Resultat, dass überall McDonald’s-Filialen aus dem Boden schießen und überall im Fernsehen Disney-Filme zu sehen sind. Neuerdings versammeln sich alle paar Monate massenhaft Demonstranten auf der Straße, um gegen jenes System zu protestieren, das sie in der Welthandelsorganisation (WTO), im Internationalen Währungsfond (IWF, engl. IMF) und in der Weltbank verkörpert sehen. Jedes Mal von neuem sagen die Kommentatoren dann, die Protestierenden verträten eine verwirrende Vielfalt von Forderungen. Trotzdem stellt es keine unzulässige Vereinfachung dar, wenn man sagt, dass all ihre Forderungen sich in gewisser Weise gegen drei Facetten der amerikanischen Hegemonie richten: gegen Amerikas Militärmacht, Marktmacht und die Macht, sowohl die politische Tagesordnung als auch die kulturellen Ideen anderer Länder zu beeinflussen. Darum ist das globale Amerika in der Tat so umstritten. Europäische Intellektuelle haben tiefschürfende Kritik an diesem Amerika geübt (vgl. Bohrer/Scheel [Hg.] 2000 oder Bourdieu und Wacquant 1999). Doch ist die Frage zu stellen, ob Europa wirklich eine Einheit mit einer konkurrierenden Vision ist. Krasser formuliert: hat Europa überhaupt eine Vision? Wollen die EU-Europäer beispielsweise bei
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ihrer Expansion Osteuropa und Russland einbeziehen? Oder wollen sie eine Grenzlinie ziehen und die osteuropäischen Länder »lateinamerikanisieren«? Haben die Europäer überhaupt irgendwelche starken Gefühle, die nicht von Angst bestimmt sind – Angst vor dem Verlust ihrer nationalen Souveränität, vor einem Absinken ihrer Lebensqualität, einem Nachlassen ihrer globalen Schlagkraft? Man kann durchaus mit einiger Berechtigung sagen, dass erst Europas Mangel an positiven Visionen den Vereinigten Staaten zu einem weltweiten Monopol auf diesem Gebiet verhilft, obwohl gewiss eine starke Ironie in der Tatsache liegt, dass ausgerechnet die Vereinigten Staaten – eine Republik, deren einzelne Bürger relativ frei sind von Fremdenfeindlichkeit und Arroganz – sich in einer Missionarsrolle gefallen, als müssten sie Heiden zum Glauben bekehren. In diesem Beitrag möchte ich gern einige Begriffsoppositionen klären. Meine These lautet, dass der Begriff »Amerikanisierung« auf einem nationalen Verständnis von Globalisierung beruht. Dagegen entspringt der Begriff »Kosmopolitisierung« dem ausdrücklichen Versuch, diesen »methodologischen Nationalismus« zu überwinden und Denkweisen hervorzubringen, die eine neue transnationale Welt reflektieren. Kompliziert werden die Dinge freilich dadurch, dass es sehr schwer ist, diese Begriffe klar gegeneinander abzugrenzen. Ebendarum ist das Thema des vorliegenden Bandes so heikel, aber auch so anregend.
Warum »kosmopolitisch«? Ich beginne meinen Überblick mit einer scheinbar nebensächlichen Frage, nämlich der nach dem Wesen des Begriffs »kosmopolitisch«. Aus nationaler Sicht erscheinen »kosmopolitisch« und »Kosmopolitismus« als pejorative Begriffe, geradezu als Feindbild. »Kosmopolitisch« wird dann mit Schlagwörtern wie »global player«, »imperialistischer Kapitalismus« oder »entwurzelte bürgerliche Intellektuelle« in Verbindung gebracht. Es handelt sich also um einen aufgeladenen Begriff. Seine lange Geschichte in den Sozialwissenschaften geht sowohl auf die griechische Philosophie (Diogenes) als auch auf die Aufklärung zurück (Kant und andere). Doch heute liegt ein »neuer Kosmopolitismus« in der Luft; Kritiker, Wissenschaftler und Autoren haben das Konzept wiederentdeckt und neu erfunden. Seit den späten 1990er-Jahren ist ein starker Anstieg von Publikationen zu verzeichnen, in denen versucht wird, den (kulturellen wie politischen) Globalisierungsdiskurs auf eine Neudefinition des Begriffes »Kosmopolitismus« zu beziehen – auf einen Kosmopolitismus für das globale Zeitalter.
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Darum lohnt ein kurzer Hinweis, dass »kosmopolitisch« etymologisch aus den griechischen Begriffen »kosmos« und »polis« zusammengesetzt ist. Interessanterweise bezieht sich »Kosmopolitismus« also auf eine vormoderne Ambivalenz, eine duale Identität und Loyalität. Jedes menschliche Wesen ist durch seine Geburt in zwei Welten, in zwei Gemeinschaften beheimatet: im Kosmos (also in der Natur) und in der Polis (also im Staat oder in der Stadt). Genauer gesagt ist jedes Individuum in dem einen Kosmos beheimatet, aber zugleich auch in verschiedenen Städten, Territorien, Ethnien, Hierarchien, Nationen, Religionen, und so weiter. Es handelt sich dabei nicht um Zugehörigkeiten, die sich wechselseitig ausschließen, sondern um eine inklusive Mehrfach-Mitgliedschaft (um unterschiedliche »Heimaten«). Als Teil des Kosmos (der Natur) ist jeder Mensch (ob Mann oder Frau) gleich; doch als Angehörige verschiedener, in Territorialeinheiten organisierter Staaten (Polis) sind die Menschen unterschiedlich (wobei übrigens zu bedenken ist, dass im alten Griechenland Frauen und Sklaven vom Bürgerrecht der Polis ausgeschlossen waren). Wenn wir den letztgenannten Punkt einen Augenblick beiseite lassen, schließt der Begriff »Kosmopolitismus« im Wortsinn also alles ein, was später durch die Logik der Ausschließung getrennt wurde. »Kosmopolitismus« ignoriert das Prinzip des Entweder-oder und verkörpert das Sowohl-als-auch-Denken. Es handelt sich um ein uraltes Hybridkonzept der fließenden Übergänge, das jedoch immer noch stärker strukturiert ist als seine neuen Ableger im Rahmen des Globalisierungsdiskurses. Der Kosmopolitismus generiert eine inklusive Logik der Gegensätze, die einander nicht ausschließen, und er ermöglicht es, in zwei Welten, die gleich und zugleich unterschiedlich sind, »Patriot« zu sein. Was den Kosmopolitismus für die Sozialtheorie der »Zweiten Moderne« so interessant macht, ist, dass sein Denken und Leben von inklusiven Gegensätzen bestimmt wird. Hier ist die Natur mit der Gesellschaft verbunden, das Objekt Teil der Subjektivität, die Alterität des Anderen in der eigenen Identität und Selbstdefinition eingeschlossen; eine Logik der exklusiven Gegensätze hat hier keine Daseinsberechtigung. Die Natur ist nicht mehr von der nationalen oder internationalen Gesellschaft getrennt, weder als Subjekt noch als Objekt; es gibt keinen Gegensatz mehr zwischen »uns« und »ihnen«, und so weiter. Letzteres war die vorherrschende Art der sozialen und politischen Theoriebildung und des politischen Handelns in den nationalstaatlichen Gesellschaften der »Ersten Moderne« und in der dazu gehörigen Soziologie. Kant definierte Kosmopolitismus als eine Art Kombination von Universalem und Partikularem, von »Nation und Weltbürger«. Im Hinblick auf den Begriff der »Globalität« (vgl. Robertson 1992, Albrow
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1996) meint »Kosmopolitismus« einen verwurzelten Kosmopolitismus, der nicht nur »Wurzeln«, sondern auch »Flügel« hat. Diese Definition überwindet die gängige Opposition zwischen Kosmopoliten und lokalen Bürgern, denn es gibt keinen Kosmopolitismus ohne lokale Verankerung. In den Sozialwissenschaften steht ein methodologischer Kosmopolitismus einem methodologischen Nationalismus gegenüber, denn Ersterer widersetzt sich der auf den Staat zentrierten Perspektive und der soziologischen Phantasie (beziehungsweise dem Mangel daran). Er versucht, den naiven Universalismus der frühen westlichen Soziologie zu überwinden (der trotzdem recht produktiv war, weil er eurozentristische Bezugsfelder geschaffen hat, die bislang die globalen Realitäten nachhaltig definieren konnten). Der methodologische Kosmopolitismus impliziert, dass man sich öffnet und ein Gespür entwickelt für die vielen Universalismen, die es gibt – zum Beispiel für die Universalismen in den konkurrierenden Kontexten der postkolonialen Erfahrung, Kritik und Imagination. Der methodologische Kosmopolitismus impliziert auch die Einbeziehung anderer (»eingeborener«) Soziologien in die europäische Perspektive – jener Soziologien, die auf den afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Erfahrungen mit »verflochtenen Modernitäten« (entangled modernities, Randeria 2002) beruhen. Dabei ersetzt der Begriff der »verflochtenen Modernitäten« den Dualismus von »modern« und »traditional«; er verweist auf das Bild einer entterritorialisierten Melange aus je nach Kontext widersprüchlichen Modernitäten in ihren ökonomischen, kulturellen und politischen Dimensionen, und lässt dieses Bild jedes Mal neu erstehen. Aber das ist natürlich noch keine Antwort auf die grundlegende Frage, ob »Kosmopolitismus« nur ein freundlicheres Wort für »Amerikanisierung« und für einen neuen ökonomischen Imperialismus ist.
Nationalität, Internationalität, Transnationalität Jede Diskussion über die Amerikanisierung sollte auch die Frage beinhalten, was oder wer oder wo »Amerika« ist. Eine Lateinamerikanisierung der Welt würde zum Beispiel etwas völlig Anderes bedeuten. Es ist, gelinde gesagt, schon seltsam, dass dieser Unterschied von denselben Leuten übersehen wird, die die Amerikanisierung beklagen. Doch selbst wenn wir den Begriff präzisieren und von US-Amerikanisierung der Welt sprechen, bleibt ein dorniges Problem: Sind wir uns hinreichend sicher, was es heißt, »US-amerikanisch« zu sein? Oder sind nicht auch die Vereinigten Staaten ein Land, das von innen heraus gründlich kosmopolitisiert worden ist? Und wenn dies so ist, was
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ergibt sich daraus für einen Bezugsrahmen, in dem dieses Land als Bezugspunkt dient? Die Anthropologin Louisa Schein hat eine plausible Antwort auf diese Frage vorgeschlagen (1998). Sie untersuchte ein Symposium der Hmong in St. Paul, Minnesota, einer Stadt, die im Mittleren Westen der USA in der Nähe der kanadischen Grenze liegt. Verstreut auf der ganzen Welt gibt es schätzungsweise 25 Millionen Angehörige der Volksgruppe der Hmong. Der Kongressort war festlich mit Flaggen geschmückt: Auf der einen Seite des Konferenztisches standen vier – die Fahnen Chinas, der Vereinigten Staaten, Vietnams und Kanadas –, auf der anderen fünf: Argentinien, Australien, Frankreich, Thailand und Laos. Scheins ursprüngliches Ziel bestand darin, zu beobachten, wie der Versuch, eine transnationale Hmong-Identität herauszubilden, durch die Rivalität zwischen den USA und China beeinflusst würde. Um Scheins Analyse zu verstehen, müssen wir zum einen zwischen Nationalität und Internationalität unterscheiden, zum anderen zwischen Transnationalität und Kosmopolitismus. Nationalität und Internationalität widersprechen einander nicht; im Gegenteil, sie setzen einander voraus. Eine einzelne Nation, deren Grenzen und Souveränität nicht von anderen Nationen anerkannt werden, ist genauso undenkbar wie ein die ganze Welt umfassender Nationalstaat. In beiden Fällen fehlt das charakteristische Definitionsmerkmal eines Nationalstaats – im ersten Fall von außen, im zweiten von innen her. Nationen gibt es nur im Plural. Internationalität und Nationalität sind lediglich zwei Seiten derselben Medaille, eines Staatensystems. Transnationalität und Kosmopolitismus hingegen unterminieren dieses System und führen eine »kopernikanische Wende« im politischen und sozialwissenschaftlichen Denken herbei. Lassen Sie mich das Gemeinte kurz mit Begriffen von Kant erläutern. Kant glaubte, dass im Europa des 18. Jahrhunderts aus einer Universalisierung des Handels und aus der Verbreitung republikanischer Grundsätze mächtige kosmopolitische Gefühle erwachsen würden. Wenn diese Gedanken und Gefühle stark genug geworden seien, um die Tendenz der Staaten zu konterkarieren, als selbstbezogene autonome Einheiten zu handeln, würde man alle Individuen betrachten, »als ob« sie Mit-Gesetzgeber in einem einzigen moralischen Gemeinwesen seien. Kant nahm an, um es mit Habermas zu sagen, dass die entscheidende politische Inspiration zukünftiger Jahrhunderte die Entwicklung einer universalen Kommunikationsgemeinschaft sein werde. Der Eurozentrismus, der Kants Universalismus färbt, lässt diesen im Lichte postmoderner und postkolonialer Kritiken ein wenig antiquiert erscheinen. Doch ein Teil seines Denkens ist immer noch zeitgemäß, nämlich seine Theorie, wie kulturelle und politische Gemeinschaften ge-
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staltet werden können, um ein höheres Niveau des Respekts vor kulturellen Unterschieden zu erreichen. So schließt nationales Denken also den national Anderen und das national Andersartige aus – im Kontext der politischen Philosophie wie in der Erfahrungswelt –, während transnationales Denken sie einschließt. Transnationalität bezieht sich letztlich auf eine Revolution der Loyalitäten. Aus transnationaler Sicht verlaufen die Ausschließungsprozesse nationaler Gesellschaften entlang dreier Koordinaten (vgl. Linklater 1998). Die erste Koordinate ist die »Distribution der Mitgliedschaft« (Walzer 1983), also die Prinzipien, nach denen darüber entschieden wird, wer dazugehört und wer nicht. Die zweite Koordinate ist die »flexible Mitgliedschaft« (Ong 1999): Wer bestimmt unter den Bedingungen der Transnationalität, welche Rechte der Einzelne hat? Die dritte Achse schließlich betrifft die Verteilung der Verantwortlichkeiten und Identitäten über nationale Grenzen hinweg. Natan Sznaider hat sich zu diesem Thema im Oktober 2001 in der Süddeutschen Zeitung geäußert, als er die Frage stellte, warum die Fernsehbilder von der Ermordung des palästinensischen Jungen Muhammad Al-Durrah in den Armen seines Vaters in der israelischen Öffentlichkeit nicht zu einer Politik des Mitleids führten. Was also ist Transnationalität? Ein allgemeiner Begriff für Lebensweisen und Verantwortlichkeiten, die das nationale Entwederoder durch ein multinationales Sowohl-als-auch ersetzen (ausführlicher dazu Beck 1993). Wenn wir nun zu Louisa Scheins Analyse zurückkehren, so haben sich die Hmong genau dieses Ziel gesetzt – ihre Gruppenidentität zu stärken und diese über alle Unterschiede zu stellen, die das Leben in unterschiedlichen Nationalstaaten nach sich zieht. Scheins Frage lautete, wie viel Raum wohl angesichts der Großmachtrivalitäten zwischen China und den USA für seinen solchen Versuch gegeben sei. Würden nicht am Ende doch nationale Interessen die Tagesordnung auf dem Kongress beherrschen, wie das während des Kalten Krieges schon bei verschiedenen ähnlichen Gelegenheiten der Fall gewesen war? Überraschenderweise war jedoch genau das Gegenteil der Fall. Statt die Konferenz zur Förderung ihrer nationalen Interessenpolitik zu nutzen, benutzten sowohl China als auch die USA diese asiatische Diaspora, um ihre eigenen nationalen Identitäten neu zu definieren. Anders gesagt, beide Staaten kamen zu dem Schluss, dass Transnationalität in diesem Fall ihren Interessen diente. Für die Chinesen war die Unterstützung der Konferenzziele eine Möglichkeit, ihre Offenheit zu demonstrieren und ihrem Ziel, dem Ausbau der wirtschaftlichen Verflechtung mit dem Westen, näher zu kommen. Den USA diente die Konferenz als Mittel, eine Globalisierung zu feiern, die ihnen als einer ihrer größten Erfolge gilt – und zugleich zu betonen, dass der »Amerikanische Traum« auch ein
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asiatischer Traum sei. Indes, der viel zitierte »amerikanische Traum« – die Vorstellung von einem Land, in das Immigranten kommen können, um dort heimisch zu werden – ist möglicherweise eher ein Ideal als die Realität. Im Kontext moderner Kommunikations- und Verkehrsmittel, die es Immigranten gestatten, ständigen Kontakt zu ihren Landsleuten rund um den Globus zu halten, ergibt sich als Ideal und Praxis eher ein radikaler Transnationalismus. Wenn es eine US-Amerikanisierung Asiens und Europas gibt, gibt es dann auch so etwas wie eine Asiatisierung der USA? Oder kann man zumindest untersuchen, wie die Entterritorialisierung der asiatischen Identitäten die US-Identität im Kern verändert? Denn war nicht letztlich die US-Amerikanisierung Europas eine Folge der Europäisierung Amerikas? Als die Vereinigten Staaten Europa von den Nazis befreiten, haben sie da Deutschland amerikanisiert – oder haben sie es europäisiert? Ist nicht Amerika überall – und dafür nirgendwo spezifisch? Hat sich die Amerikanisierung als Strategie nicht in eine unkoordinierte, unbewusste Selbstkosmopolitisierung der Welt verwandelt? Und ist nicht die Alternative – die Kosmopolitisierung von Staat und Nation im Widerspruch zu nationalen Strukturen und einem (ethnisch-)nationalen Bewusstsein – überall eine sehr gefährliche Situation? Solche Fragen ergeben sich aus einer kosmopolitischen Perspektive. Doch all unsere politischen Kategorien gehen vom Nationalstaat als letztgültiger politischer Realität aus, und dieser methodologische Nationalismus zeigt sich eindeutig auch in unserer Überzeugung, dass der gängige Weg zur Klärung jedweder Vermischung darin bestehe herauszufinden, welche Nation dabei die Rolle des Beeinflussenden, und welche die des Beeinflussten spiele. In derartigen Fällen bringen solche Analysen nur Unsinn hervor, weil Einflüsse voneinander getrennt werden, die zusammen betrachtet mehr Sinn ergeben würden. Die Welt bringt eine immer größere Zahl solcher Mischphänomene hervor, die, nach den Regeln der Entweder-oder-Logik nationaler Sichtweisen betrachtet, weniger Sinn ergeben, als wenn man die Sowohl-als-auch-Logik der Transnationalität zugrunde legen würde. Unser am Nationalstaat orientierter intellektueller Bezugsrahmen ist so tief verankert, dass die transnationale Denkweise noch ziemlich unterentwickelt ist. Eine weitere Eigenheit, die in Scheins Untersuchung des Hmong-Kongresses deutlich wird, ist die Tatsache, dass sich beide Paradigmen – einerseits Nationalität/Internationalität und andererseits Transnationalität – nicht wechselseitig ausschließen. Natürlich wissen wir bereits, dass sich hinter der Fassade der Nationalität allenthalben eine Kosmopolitisierung vollzieht. Die Ausweitung staatlicher Macht in das Gebiet des Transnationalen hat zu einer weiteren Neude-
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finition der Nation geführt. Das wird besonders deutlich in Europa, wo viele Politiker ein doppeltes Spiel betreiben, indem sie einerseits transnationale Institutionen auf- und ausbauen, andererseits aber Festveranstaltungen nationaler Macht und Zusammengehörigkeit inszenieren. Die Tatsache, dass sich beides nicht gegenseitig ausschließt, ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass Transnationalität die Natürlichkeit der ethnischen Zugehörigkeit unterminiert – sowohl auf der Ebene des Nationalstaats als auch auf der Ebene der kulturellen Identität. Und genau dies kann Raum schaffen für eine Einwanderungspolitik, die über das Ideal der Integration der Einwanderer hinausgeht. So gut sie gemeint sein mag, auch die Integrationspolitik richtet sich an der Logik des Entweder-oder aus. Groucho Marx hat einmal im Scherz gesagt, er weigere sich, irgendeinem Club anzugehören, der ihn als Mitglied aufnehmen würde. Eine kosmopolitische Einwanderungspolitik könnte diesen Witz genau umkehren und sagen: »Ausländer, die nur genauso werden wollen wie wir, die brauchen wir nicht.«
Kosmopolitisierung Die Zweite Moderne wird durch Lebensstile charakterisiert, welche die früher einmal vorhandene Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen Sprache, Geburtsort, Staatsbürgerschaft, Nationalität und äußerem Erscheinungsbild durcheinander bringen. Heute sind in pluralistischen, multiethnischen Komplexen Elemente kombiniert, die früher durch nationale und kulturelle Schranken auseinander gehalten worden wären. Die unterschiedslose Vermischung nationaler Identitäten ist kein nationalistischer Albtraum oder utopischer Wunschtraum mehr, sie ist eine alltägliche Tatsache und ein Trend, der noch weiter zunehmen wird. Dies war auch die ursprüngliche Definition von »Kosmopolitisierung« (innerer Globalisierung, Globalisierung von innen): die Verwischung der Nationalitätsgrundlagen durch Migration, Telekommunikation und Verkehrverbindungen. Die zugrunde liegende Ursache des Ganzen ist der Wettbewerb auf dem Weltmarkt, besonders auf dem der Arbeitskräfte. Die Konflikte, die aus dem Zusammenstoß inkommensurabler Weltanschauungen resultieren, und die Kreativität, die sich aus dem damit zusammenhängenden Versuch ergibt, eine Synthese zu finden, sind im menschlichen Leben ein Alltagsphänomen geworden. Es gibt mindestens zwei Möglichkeiten, die Globalisierung auf den Begriff zu bringen. Da ist zum einen, was David Held (1995) »Vernetzung« nennt (interconnectedness). Dieser Ansatz beleuchtet
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wechselseitige Abhängigkeiten, Netzwerke, Kapital- und Warenströme, welche die moderne Welt in zunehmendem Maße prägen. Doch diese Sicht geht immer noch davon aus, dass die nationalen Einheiten, die da miteinander vernetzt werden, die letztgültige Realität sind – es handelt sich also um das zentrale Prinzip dessen, was ich als »methodologischen Nationalismus« bezeichne. Die »Kosmopolitisierung« dagegen, die Tradition, der ich selbst nahe stehe, beleuchtet methodisch, bis zu welchem Grad Sozialstrukturen und gesellschaftliche Institutionen transnationalisiert werden. Hier lautet die Prämisse, dass das Nationale aufhört, das Nationale zu sein. Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, benötigen wir eine systematische Unterscheidung zwischen nationalen Manifestationen und der kosmopolitischen Realität der »globalen Ströme«: der Ströme von Informationen, Symbolen, Kapital, Bildung, Risiken und Menschen. Der britische Soziologe Michael Billig (1995) hat das Konzept des »banalen Nationalismus« entwickelt. Er meint, dass wir ständig unbewusst unsere nationalen Identitäten definieren und bestätigen, wenn wir alltäglichen Beschäftigungen nachgehen. Doch das Gegenteil ist ebenfalls wahr, denn wir erleben oft auch einen »banalen Kosmopolitismus«. Das scheint sich von selbst zu verstehen, wenn wir Popmusik oder Modewellen betrachten. Doch die Jugendkultur ist eine trickreiche Angelegenheit. Darum wollen wir mit John Tomlinson (1999) lieber den Blick auf etwas Elementareres richten: auf die Essgewohnheiten. Gibt es heute überhaupt noch so etwas wie rein nationale Nahrungsmittel? Von Joghurt über das Fleisch bis zu Obst und Gemüse, ganz zu schweigen vom globalen Mischmasch der Wurstsorten, ist unser Konsum die Vollendung eines globalen Prozesses der Nahrungsmittelproduktion. Die Arbeiter der Welt sind immer noch nicht vereint, doch ihre Nahrungsmittel sind es zweifellos. Die Lebensmittel, die man heute im Supermarkt um die Ecke nebeneinander im Regal findet, waren früher durch große Entfernungen voneinander getrennt. Sie stellen einen »banalen Kosmopolitismus« in nuce dar. Die Ausdrucksformen und Mittel des kulinarischen Eklektizismus werden heute in Kochbüchern gefeiert und gelten in Kochsendungen im Fernsehen als die selbstverständlichste Sache der Welt. Hier kommt die Weltgesellschaft buchstäblich in die Küche und wird in einen Topf geworfen. Wer über dem Küchentisch die Nationalflagge hissen will, der muss sich auf Nationalgerichte beschränken, die zugegebenermaßen ständig neu erfunden und wiederentdeckt werden. Doch sie sind die Inseln im breiten Strom des banalen Kosmopolitismus, und es gäbe tausendfach ähnlich Beispiele. Ein gängiger Einwand gegen all dies lautet, dass viele Völker nach wie vor sesshaft und darum vom Prozess der Kosmopolitisierung unberührt seien. Doch wie John Tomlinson (1999) und John Urry
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(2000) so schön gezeigt haben, ist zu Hause zu bleiben nur eine andere Form, in der Welt herumzukommen. Das Fernsehen ist dafür nur ein Beispiel. Wie schon die Wortbedeutung besagt, sieht man im Fernsehen wie in einem Fernrohr Dinge in und aus der Ferne. Entfernungen spielen keine Rolle mehr, und man kann sogar durch die Wände sehen. Filmstars, Abgeordnete und die Leute aus der Eckkneipe, Drogenbosse, Pornostars und der Präsident der Vereinigten Staaten – sie alle sind bei uns im Wohnzimmer zu Gast, wann immer wir das Fernsehgerät einschalten. Ein Alltagsleben, in dem das Fernsehen ein fester Bestandteil ist – und bald vielleicht auch eines, in dem das Internet genauso fest integriert ist –, ist kein Leben, in dem Mauern oder physische Entfernungen viel dazu beitragen, jemanden zu isolieren – nicht einmal jemanden, der wirklich sesshaft ist. Gewissermaßen nehmen dabei alle individuellen Monaden simultan denselben ungeteilten Raum ein und konsumieren gemeinsam die Weltnachrichten. Wenn dies lange genug anhält, dann werden auch unsere Bekannten aus den Nachrichten allmählich Bestandteil unseres Lebens – wie die Geister, die in einem Haus herumspuken. Am Ende gleichen selbst immobile Individuen, die in derselben simultanen, globalen Gegenwart leben, Leibnizschen Monaden, in denen sich die Komplexität der Welt widerspiegelt. Der banale Nationalismus wird durch die starke Strömung des banalen Kosmopolitismus beständig ausgehöhlt. Vielleicht am überraschendsten ist, dass sich dieser Vorgang der inneren Globalisierung auch bei Militärorganisationen beobachten lässt. Ich kann niemandem einen Vorwurf machen, dessen instinktive Reaktion auf die gegenwärtigen Bemühungen der NATO, sich kosmopolitisch zu erneuern, in einem Misstrauen besteht. Schließlich wissen wir alle, dass jedes Land mit seinem nationalen Sicherheitsapparat umgeht, als würde es sich dabei um das Allerheiligste handeln. Und doch treibt die Führung der NATO den Prozess der Denationalisierung wirklich voran. Besonders auffällig ist die Transnationalisierung der Waffenproduktion, etwa bei Schützenpanzern, neuen Kampf- und Transportflugzeugen, neuen Informationssystemen, und so weiter. Dazu müssen Betriebsgeheimnisse der Waffenproduktion ausgetauscht werden, obwohl es gerade erst ein Jahrzehnt her ist, dass Geheimwaffen das nationale Analogon zu Heiligenreliquien waren – Gegenständen, welche die zu ihrem Schutz errichteten Grenzen heiligten. Diese Verhältnisse haben sich ziemlich schnell in ihr Gegenteil verkehrt, und niemand hält dies anscheinend für erwähnenswert. Das Resultat ist, dass nationale Sicherheit und nationale Macht inzwischen von internationaler Zusammenarbeit abhängig sind. Die nationale Souveränität musste selber transnational werden, um erhalten zu bleiben. Die wichtigste Schlussfolgerung, die aus all diesen Beispielen für
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einen banalen Kosmopolitismus zu ziehen ist, lautet, dass Erfahrungsraum und Erwartungshorizont1 der Ersten Moderne – also das Modell gegeneinander abgegrenzter nationaler Gesellschaften mit jeweils eigener Sprache, Identität und Politik – immer schneller zu einem Mythos werden. Ebenjene Institutionen, die am besten geeignet zu sein schienen, die Nation zu definieren, werden zunehmend transnational und kosmopolitisch. Und das bedeutet, dass unsere grundlegendsten Kategorien für das Verstehen der sozialen Welt geändert und angepasst werden müssen. Gesellschaft und Politik werfen ihre nationale Form bereits ab, während die neuen Organisationsformen des Kosmopolitischen noch in den Geburtswehen stecken. Aus diesem ontologischen Wandel müssen epistemologische Konsequenzen gezogen werden. Dabei dürfen wir freilich nicht von einer Täuschung in eine andere, gegenteilige verfallen – von einer imaginären Homogenität des Nationalstaates zu einer imaginären Homogenität des Kosmopolitismus. Empirisch scheint der Prozess der inneren Kosmopolitisierung an ziemlich offensichtliche Grenzen zu stoßen. Einerseits ist ein transnationaler Erfahrungsraum und Erfahrungshorizont in das scheinbar geschlossene System des Nationalstaats eingedrungen und hat dem sozialen Leben eine neue Mitte gegeben. Andererseits werden soziale Akte noch immer durch die Institutionen des Nationalstaats konkret – etwa durch alltägliche Dinge wie die Ausstellung von Pässen, durch Arbeitsmärkte, Einwanderungspolitik und politische Parteien. In dem Maße, wie sich die Menschen der Denationalisierung bewusst wurden, haben viele von ihnen auf diese seltsame Lage mit Angst und Fremdenfeindlichkeit reagiert (wie es gegenwärtig in Deutschland zu beobachten ist, aber nicht nur dort). Die sich daraus ergebende Situation ist also höchst widersprüchlich. Die entscheidende Frage könnte sein, ob diese untergründige Kosmopolitisierung schließlich etwas wird, dessen sich die Menschen bewusst werden und das sie trotzdem befürworten, oder ob letztlich doch nur nationale Abwehrreflexe ausgelöst werden. Wie dem auch sei, wir wollen uns jetzt einer eher technischen Frage zuwenden: Warum lässt sich dieser Vorgang unter dem Stichwort »banale Kosmopolitisierung« besser verstehen als unter Begriffen wie »banale Amerikanisierung«, »banaler Multikulturalismus« oder »banaler Universalismus«?
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Universalismus und Kosmopolitismus Die Frage, die wirklich zur Unterscheidung der einen Doktrin von der anderen führt, lautet, wie sie zum Anderssein, zur Alterität, des Anderen steht. Hier scheint die Antwort recht einfach zu sein: Der Kosmopolitismus bejaht und bestätigt die Alterität, während Neoliberalismus, Globalisierung und Amerikanisierung das Anderssein leugnen. Doch diese scheinbar einfache Antwort muss erst noch genauer unter die Lupe genommen werden. Der Diskurs über die Modernisierung und Entwicklung der Welt hat viel Kritik erfahren, besonders durch Denker aus der Dritten Welt. Etliche Autoren, vor allem Postkolonialisten, haben gezeigt, dass die Doktrin der universal gültigen Werte durch Interpretationen durchlöchert wird, in denen geregelt wird, wie sich Europäer gegenüber Menschen verhalten sollen, die kulturell als andersartig definiert werden. Die Entdeckung der »Menschheit« als einer empirisch einlösbaren sozialen Einheit erfolgte historisch zum selben Zeitpunkt wie die Entdeckung der »Wilden«. Kaum hatten die Fortschritte von Navigation und Handel das Versprechen einer Weltgesellschaft aufkommen lassen – Jean Bodin sprach von einer res publica mundana –, da wurde die Menschheit, die gens humana, auch schon gemäß der Antithese aufgespalten, dass »gleich« auch »gleichwertig« heiße, »anders« aber »minderwertig«. Meine These, die einer intensiven Lektüre der Postkolonialisten viel verdankt, lautet, dass die Schaffung von Wissen über das Andere und die Anderen eine notwendige Vorbereitung und immer auch ein Begleitumstand der Kolonialherrschaft ist. Aus dieser Perspektive gesehen ist die europäische Lehre von den universal gültigen Maßstäben und Forderungen noch heute eine Strategie der Macht. Jedes Konzept einer Modernisierung impliziert einen Traditionalismus, an dem es sich messen lassen muss, und jede Behauptung, dass Modernisierung gut sei, beinhaltet auch die Behauptung, dass der zu ersetzende Traditionalismus schlechter sei. Wer in diesem Zusammenhang behauptet, die moderne Wissenschaft und die moderne Ökonomie seien wertfreie Zugänge zu einem universal gültigen Wissen, und wer diese Ansätze überdies mit der modernen Gesellschaft gleichsetzt, der erhebt die Behauptung, dass traditionale Gesellschaften minderwertig seien, zum unwiderlegbaren Dogma. In diesem Sinne unterscheiden sich die diskursiven Strategien der Gegenwart nur im Grad ihrer Verfeinerung von jenen vor 500 Jahren, trotz der Tatsache, dass sich die institutionelle Landschaft seither völlig verändert hat. Der finnische Politologe Teivo Tievainen (1999) beschäftigt sich im Detail mit einer Konferenz, die 1550 in Valladolid stattfand, um eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Indianer anders – und
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darum auch weniger wert – seien als Europäer. Er verweist auf interessante Parallelen zwischen den dort entwickelten Positionen und den Postulaten, nach denen sich heute der Weltwährungsfond (IMF) und die Welthandelsorganisation (WTO) richten. Die beiden wichtigsten in Valladolid vorgetragenen Standpunkte vertraten Bartolome de Las Casas, ein Dominikanerpriester, der den größten Teil seines Lebens der Sache der Indianer widmete, und der aristotelische Philosoph Juan Ginés de Sepúlvida. Tzvetan Todorov (1984) hat die These vertreten, dass die Polarität zwischen der Zivilisation und dem Anderen, ihrem Gegenbild, die dort zum Ausdruck kam, seither das europäische Denken bestimmt hat. Der Philosoph ging von der Annahme aus, dass die Gesellschaft von Natur aus hierarchisch sei, der Priester hingegen von der Prämisse, dass alle Menschen von Natur aus gleich seien. Der Philosoph betonte die Unterschiede zwischen Spaniern und Indianern – zum Beispiel, dass die Indianer nackt herumliefen, Menschenopfer darbrächten und noch nie von Geld, vom Christentum oder von Lasttieren gehört hätten. Daraus leitete er eine große Kette des Seins bei den Menschen ab; die Menschheit lebe gleichzeitig auf mehreren kulturellen Ebenen. In diesem Schema war »anders« offenkundig gleichbedeutend mit »schlechter«. Es ergaben sich zwei Folgerungen: Erstens, die Unterschiede zwischen Barbaren und Europäern, und der darin zum Ausdruck kommende Abstand zwischen ihnen, schienen Sepúlvida nicht nur so groß zu sein wie die Distanz zwischen den Europäern und Gott, sondern auch auf gleiche Weise gottgewollt. Darum bestand die Erziehungsaufgabe darin, den Eingeborenen beizubringen, dass sie Gottes Willen erfüllten, wenn sie den höher stehenden Gesellschaften zu Diensten wären – mit anderen Worten: wenn sie sich in Ausbeutung und Unterdrückung fügten. Der Dominikanerpriester verteidigte seine Indianer eloquent. Er argumentierte, dass die Indianer den Europäern auf überraschende Weise ähnlich seien. Sie lebten de facto nach den Idealen der christlichen Religion, die keine Unterschiede nach Hautfarbe oder Geburtsort kenne. Er sagte, die Indianer seien freundlich und bescheiden und sie befolgten die Regeln, die zwischen verschiedenen Gesellschaften gelten sollten. Sie kümmerten sich um ihre Familien und ihre Traditionen. Zusammenfassend sagte der Priester, die Indianer seien insgesamt viel besser als die meisten anderen Gesellschaften geeignet, das Wort Gottes zu vernehmen und seine Lehren in die Tat umzusetzen. Für den Priester waren die Indianer von den Europäern wesensmäßig nicht unterschieden – und darum auch nicht weniger wert. Seither sind sowohl der Rassismus des Philosophen als auch der Fortschrittsglaube des Priesters häufig kritisiert worden. Vom kosmopolitischen Standpunkt am interessantesten ist allerdings, was beide gemeinsam haben: Keiner der Disputanten zog die Möglichkeit in
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Erwägung, dass Indianer anders und trotzdem gleichwertig sein könnten. Beide Positionen setzen somit eine universal gültige Werteskala voraus, nach der Unterschiedlichkeit sich notwendigerweise in Überoder Unterlegenheit verwandelt. Selbst der gute Dominikanerpater Las Casas akzeptiert die Gleichheit/Gleichwertigkeit der Indianer nur, weil sie in seinen Augen fähig sind, die universale Wahrheit des Christentums zu akzeptieren. Er glaubt, dass die Kluft zwischen Christen und Heiden beseitigt werden könne, weil sie überwindbar sei. Die Barbaren könnten durch die Taufe der wahren Religion teilhaftig werden. Das ist gar nicht so weit von der Aussage entfernt, »unterentwickelte Länder« und »traditionale Gesellschaften« könnten »modernisiert« werden – auch sie könnten durch eine Art »Taufe« der Wahrheit von Demokratie und Marktwirtschaft teilhaftig werden und somit durch den westlichen Universalismus »gerettet« werden. Zwei Arten von Macht werden hier wirksam. Im ersten Fall, wenn im Zeichen des Universalismus Unterschiedlichkeit mit Minderwertigkeit, Ähnlichkeit mit Gleichwertigkeit gleichgesetzt werden, wird am Ende, wie die Geschichte lehrt, meistens der Einsatz physischer Gewalt gerechtfertigt. Im zweiten Fall macht die Missionarsperspektive, die in Begriffen wie »Modernisierung« und »Entwicklungspolitik« immer noch mitschwingt, aus der Autoritätsausübung ein gerechtfertigtes pädagogisches Unternehmen. Auf diesen pädagogischen Aspekt zielte Gramsci ab, als er schrieb, dass Hegemonie immer wenigstens zum Teil durch den Erziehungsprozess gerechtfertigt sei und dass dies nicht nur für die häusliche Autorität gelte, sondern auch für das Verhältnis zwischen Nationen und zwischen Weltkulturen. Das von Michel Foucault (1973) so genannte »Ritual der Wahrheit« erwächst aus der inhärenten Pflicht, die Wahrheit zum Normalfall zu machen, das heißt, die Alterität des Anderen zu leugnen und die Anderen zu Konvertiten der universalen Wahrheit zu machen – einer Wahrheit, in deren Besitz sich zufällig nur Europa und die USA befinden. Es sollte hervorgehoben werden, dass beide in Valladolid vorgetragenen Positionen (dass die Menschheit in eine Hierarchie unterschiedlicher Rassen von unterschiedlichem Wert eingeteilt sei, und dass alle Menschen von Natur aus gleich seien) Beispiele für einen metaphysischen Realismus sind. Beide Seiten gehen von der grundlegenden Prämisse aus, dass ihre Charakterisierungen der Menschheit ahistorisch sind und für alle Gesellschaften in Vergangenheit und Zukunft gelten. Am Anfang dieses Abschnitts habe ich gesagt, dass im Zentrum des Kosmopolitismus die Anerkennung der Andersartigkeit, der Alterität, des Anderen stehe. Ich kann diese Aussage jetzt präzisieren. Der Kosmopolitismus unterstreicht genau das, was die beiden in Vallado-
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lid erörterten Positionen ausgeschlossen haben: dass das Andere anders und trotzdem gleichwertig ist. Der Kosmopolitismus setzt sich darum sowohl vom Rassismus als auch vom Universalismus ab. Er ist Ausdruck des Bestrebens, den scheinbar zeitlosen Rassismus daran zu hindern, auch die Zukunft zu überdauern. Dazu gehört, dass das ganze Ausmaß verdeutlicht werden muss, in dem der ethnozentrische Universalismus des Westens ein überwindbarer Anachronismus ist. Der Kosmopolitismus ist ein Gegenmittel zum Ethnozentrismus und zum Nationalismus. Man sollte ihn nicht mit einer multikulturellen Euphorie verwechseln. Ganz im Gegenteil, der Ausgangspunkt des Kosmopolitismus ist die mühsam gewonnene Einsicht, dass zwischen Ethnozentrismus und Fremdenhass eine unauflösliche Verbindung besteht. Der Kosmopolitismus bemüht sich, über diese Art von »gesundem Menschenverstand« hinauszukommen. Aus ähnlichen Gründen ist der Kosmopolitismus auch ein Fortschritt gegenüber dem Konzept der »Hybridisierung«, weil im kosmopolitischen Denken die Fallstricke vermieden werden, die mit biologischer Metaphorik zur Bezeichnung menschlicher Unterschiede verbunden sind.
Internationalität und Transnationalität Ich fasse zusammen. Der Dualismus, der dem Begriff »Kosmopolitismus« zugrunde liegt, wird von den konkurrierenden Begriffssystemen der »Internationalität« und »Transnationalität« ganz anders gefasst. Zwischen diesen beiden Denkweisen gewinnt eine neue Art der Existenz Gestalt. Die Welt der Ersten Moderne war eine nationale Welt. Es gab eine klare Trennung zwischen Innen und Außen, Heimat und Ausland, Innen- und Außenpolitik. In dieser Welt war der Nationalstaat das Ordnungsprinzip. Die Politik war nationale Politik, die Kultur nationale Kultur, selbst die Formierung der Arbeiterklasse und der Klassenkampf waren weitgehend Merkmale des Nationalstaats. Internationale Politik fand zwischen einer Vielzahl von Nationalstaaten statt, von denen jeder seine Grenzen zu den Nachbarstaaten definierte und selbst die wesentlichen Kategorien anderer Staaten reflektierte. »National« und »international« waren lediglich zwei Seiten eines größeren dialektischen Ganzen. Es war genauso unmöglich, sich einen isolierten Nationalstaat vorzustellen, wie sich ein Innen ohne ein Außen denken ließ. Nach dieser sozialen Ontologie wurden Territorien, Identitäten und weitgehend auch die Geschichte definiert – Geschichte als (oft blutiger) Zusammenstoß nationaler Projekte. Die Realität der Transnationalität krempelt in aller Stille diese gesamte Bedeutungsstruktur um. Wenn wir die Welt aus einer trans-
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nationalen Perspektive untersuchen, so lassen sich ganz offenkundig das Nationale und das Internationale immer schwerer voneinander unterscheiden. Die Definitionsmerkmale einer Nation werden zunehmend denationalisiert. Das Nationale wird immer mehr zu einer »Zombie-Kategorie«, zum Musterbeispiel für einen lebenden Toten. Nachdem unser politisches Koordinatensystem bislang alles räumlich und zeitlich in der Nation verortet hat, rechtfertigt es die Auflösung dieser Koordinaten, vom Beginn einer neuen Epoche zu sprechen. Die Erste Moderne war eine nationale, die Zweite Moderne ist eine transnationale oder kosmopolitische Moderne. In der Zweiten Moderne hört die Gesellschaft auf, Synonym für den Nationalstaat zu sein; alle gesellschaftlichen Entwicklungen, seien sie nun ökonomischer, kultureller, politischer oder technologischer Art, erhalten vorrangig und grundlegend einen transnationalen Charakter. Je bedeutungsloser die Staatsgrenzen werden, weil die Menschen grenzüberschreitend einkaufen, sich transnational lieben, transnational (nämlich zweisprachig) erzogen werden und transnational leben (indem sie multiple Loyalitäten und Identitäten kombinieren), desto mehr verliert das Paradigma der nationalstaatlich organisierten Gesellschaften den Kontakt mit der Realität. An diesem Punkt ist eine Warnung vor einem möglichen kosmopolitischen Trugschluss angebracht. Die fundamentale Tatsache, dass der Erfahrungsraum des Individuums sich nicht länger mit dem der Nation deckt, könnte zu dem Eindruck führen, dass wir schon alle dabei wären, Kosmopoliten zu werden. Doch die faktische Kosmopolitisierung zieht nicht automatisch ein kosmopolitisches Denken und Empfinden nach sich. Genauso gut könnte auch die gegenteilige Denkweise Auftrieb erhalten und zu einer Wiedergeburt des ethnischen Nationalismus, zum Aufstieg des »hässlichen Bürgers« führen. Dies kann durchaus zur selben Zeit geschehen wie die Erweiterung der kulturellen Horizonte und die Zunahme der Sensibilität für unterschiedliche Lebensstile. Keine dieser Entwicklungen führt notwendigerweise zu einer Zunahme des kosmopolitischen Verantwortungsgefühls. Wer die Kosmopolitisierung untersucht, untersucht immer auch eine Dialektik des Konflikts zwischen der Kosmopolitisierung und ihren Gegnern. Somit ist der Gegensatz zwischen »transnational« und »international« weder logisch noch zeitlich exklusiv. Stattdessen kommt es zu einer heiklen Koexistenz zwischen beiden Realitäten und Denkweisen. Überdies handelt es sich bei ihrer Kombination nicht um ein Nullsummenspiel. Beide können gleichzeitig zunehmen. Und während dieser Übergangsperiode entsteht auch der verwurzelte Kosmopolitismus. Ein verwurzelter Kosmopolitismus grenzt sich immer gegen zwei
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Extreme ab: entweder überall oder nirgendwo zu Hause zu sein. »Verwurzelter Kosmopolitismus« bezieht sich im Sinne von Roland Robertson (1992) und John Tomlinson (1999) auf einen »ethischen Glokalismus« (eine Wortzusammenziehung aus »Globalismus« und »Lokalismus«), das heißt, auf ein gleichzeitig lokales und globales Engagement. »Glokalismus« ist ein Gegenbegriff sowohl zu »Ethnozentrismus« als auch zu »Universalismus«, unabhängig von politischen Richtungen wie links oder rechts. Weil das Konzept des verwurzelten Kosmopolitismus mit den gewalttätigen Realitäten vertraut ist, die sich ergeben, wenn Gewissheiten regieren, die sich wechselseitig ausschließen, ist der verwurzelte Kosmopolitismus auch misstrauisch gegenüber der falschen Euphorie und verdeckten Ontologie des Multikulturalismus. Im Kontext der Imperialismuskritik verweist der verwurzelte Kosmopolitismus darauf, dass es in einer postkolonialen Welt keine reinen, vorkolonialen Nationen mehr gibt, auf die man zurückkommen könnte. Der einzige Weg nach vorn führt in eine kosmopolitische Welt jenseits von Nationalismus und Imperialismus. Ähnliches gilt auch für die Auseinandersetzungen über Klassenoder Geschlechtszugehörigkeit, Ethnizität und sexuelle Vorlieben. Sie haben alle als Auseinandersetzungen innerhalb von Nationen begonnen, sind jedoch sämtlich über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg geschwappt und haben sich kosmopolitisch vernetzt. Die Kosmopolitisierung sozialer Bewegungen ist eine der auffälligsten Entwicklungen der letzten Jahre. Es ist wohl auch klar, dass diese Bewegungen inzwischen Forderungen und Konflikte verkörpern, die mehr Sinn ergeben, wenn man sie transnational fasst – nicht zuletzt, weil nur die kosmopolitische Perspektive sie davor bewahren kann, in einen postmodernen Ethnozentrismus und ethnischen Nationalismus zurückzufallen. Das also sind die Realitäten, die das moderne Denken herausfordern. Wie können sich die Sozialwissenschaften – Soziologie, Politologie, Geschichte, Anthropologie und Geographie – über die nationale Perspektive erheben, wie können sie ihren methodologischen Nationalismus überwinden und eine kosmopolitische Perspektive entwickeln? Wie sieht eine kosmopolitische Sozialwissenschaft aus? Was wird es bedeuten, wenn wir all unsere Grundbegriffe und Vergleichsmethoden auf eine kosmopolitische Grundlage stellen? Und wie können wir auf dieser neuen Grundlage soziale, historische und politische Analysen durchführen?2
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Anmerkungen 1 Zwischen diesen beiden Begriffen unterscheidet systematisch Koselleck 1979. 2 Vgl. auch Beck 1986, 1997, 2000, 2002; Beck und Willms.
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McDonaldisierung, Amerikanisierung und Globalisierung: Eine vergleichende Analyse George Ritzer und Todd Stillman
Die Globalisierungsdebatte Neue oder sich wandelnde Kulturphänomene stacheln die Konkurrenz unter den verschiedenen Traditionen der Gesellschaftstheorie an, und solche Wettbewerbe enden oft mit einer Vielzahl von Beschreibungen für die kennzeichnenden Merkmale der Gegenwart. Neuerdings gibt es zur Globalisierungsdebatte konkurrierende Perspektiven, deren Widersprüche unauflösbar erscheinen. Die Makrophänomenologie der Globalisierung ist bei den Zeitgenossen auf außerordentliche Resonanz gestoßen.1 Globalisierung ist ein veritables Schlagwort geworden, das sich in vielen Fällen auf die Vermischung von Kulturen auf dem globalen Markt und in den transnationalen Medien bezieht.2 Auch der Gedanke der McDonaldisierung ist auf eine breite kulturelle Resonanz gestoßen. Studenten, Aktivisten und die breitere Öffentlichkeit, ganz zu schweigen von den Sozialwissenschaftlern (vgl. Smart 1999, Alfino u.a. 1998), sahen in diesem Begriff eine nützliche Beschreibungskategorie für so gut wie alles – von der Religion (Drane 2000) über die Universität (Parker und Jary 1995) bis hin zu Museen (Kirchberg 2000). Schließlich hat auch noch der Begriff Amerikanisierung in Europa, Asien und Südamerika Debatten und Widerstand mobilisiert (Kuisel 1993). Im vorliegenden Essay wollen wir das Verhältnis dieser drei Begriffe und Perspektiven zueinander erörtern und analysieren, bis zu welchem Grad sie sich auf einen Nenner bringen lassen. »McDonaldisierung« und »Amerikanisierung« stimmen zu einem Gutteil nicht mit den Definitionen von »Globalisierung« überein, die heute am verbreitetsten sind. Zwischen denen, die als Folge des globa-
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len Kapitalismus eine zunehmend amerikanisierte und/oder rationalisierte Welt sehen, und denen, die die gegenwärtige Gesellschaft lieber als pluralistisch und unbestimmt charakterisieren, besteht eine Kluft. Denn für Letztere sind Rationalisierung und die amerikanische Kultur nur zwei Trends unter vielen anderen. Auch auf die Gefahr hin, die Dinge allzu sehr zu vereinfachen, kann man sagen, dass diese Scheidelinie auf einem Unterschied der Weltsichten beruht – einerseits die Vision einer Welt, die zunehmend amerikanischer, rationalisierter, kodifizierter und restringierter wird, und andererseits die Vision einer Welt, die immer vielfältiger, überschäumender und freier wird. Alle drei Begriffe, um die es in diesem Essay geht, wurzeln in konkurrierenden Visionen der Moderne. Insbesondere »McDonaldisierung« erinnert an die deduktiv argumentierende »Eisenkäfig«-Version der modernen Sozialtheorie. Die Wurzeln der These, dass der bestimmende Einfluss rationalisierungsbedingter, struktureller Einschränkungen auf die Handlungsträger speziell in der Sphäre des Konsums immer stärker werde, liegen in der Weber’schen Tradition. »Amerikanisierung« gehört in die Nähe einer neomarxistischen Auffassung von wirtschaftlichem Imperialismus und kultureller Hegemonie. Aus dieser Sicht läuft Amerikas aggressiver Export von Medien und Konsumgütern auf einen versteckten Imperialismus, einen Angriff auf nationale Souveränitäten hinaus. Die meisten Globalisierungstheorien schließlich fußen in der postmodernen Betonung von Vielfalt, Mischformen (Hybridität), Geschwindigkeit und individueller Handlungsmacht. Staatsbürgerschaft, Tradition und Statushierarchien – sie alle verlieren an relativer Bedeutung gegenüber der Fähigkeit des Individuums, sich aus einem Sammelsurium von Waren und Medien eine eigene Identität zurechtzubasteln (bricolage).3 Ziel unseres Dialogs ist die Integration der drei genannten Theorien. Einleitend sind, zum besseren Verständnis von McDonaldisierung und Amerikanisierung, einige Lehren aus der Literatur zum Thema Globalisierung zu ziehen. George Ritzer hat in der einschlägigen Literatur bereits die Meinung vertreten, dass unser Verständnis der Globalisierung gefördert würde, wenn wir das Ausmaß der McDonaldisierung verstünden (Ritzer 1998, Ritzer und Malone 2000). Wir werden als Autorentandem im Folgenden zeigen, dass umgekehrt auch Erkenntnisse über die Globalisierung zu neuen Einsichten über die Ausbreitung der McDonaldisierung führen. Eine zweite Aufgabe unseres Essays besteht darin, die Begriffe »McDonaldisierung« und »Amerikanisierung« durch Herausarbeitung ihrer unterschiedlichen Herkunftsbereiche zu entkoppeln: »McDonaldisierung« wurzelt in der Weber’schen Theorie, während »Amerikanisierung« an ein marxistisches Erbe gebunden ist. Ein solches Unterfangen kann allerdings nur teilweise gelingen, weil zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt
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McDonaldisierung und Amerikanisierung noch Hand in Hand gehen. Drittens werden Globalisierungsperspektive und Amerikanisierungsperspektive kontrastiert, bevor wir abschließend ein hierarchisches Modell des Verhältnisses von Globalisierung, Amerikanisierung und McDonaldisierung vorstellen.
Globalisierung Wenn von Globalisierung die Rede ist, geht es meistens um die Zunahme transnationaler Politik, um die Integration der Weltwirtschaft und um eine daran anschließende Vermischung von Kulturen auf der ganzen Welt. Auch wenn es vielleicht abgelegene Gegenden gibt, die von Freihandel, Fernsehen oder Migration noch unberührt sind, ist das Ausmaß der Globalisierung per definitionem global. Nur sehr wenige Regionen der Welt sind von globalen Investitions- und Touristenströmen, von Umweltverschmutzung, Bevölkerungsströmen und der Globalisierung des Verbrechens nicht betroffen. Die Globalisierungstheorie geht weitgehend davon aus, dass globale Kräfte letztlich auch die entferntesten »Ecken« des Globus beeinflussen werden. Die Regenwälder Südamerikas, um nur ein nicht gerade naheliegendes Beispiel herauszugreifen, sind bereits zum Touristenziel, zu natürlichen Ressourcen der Holz- und Pharmaindustrie, zum Einwanderungsland für Menschen aus dichter bevölkerten Regionen und zu einem Hauptgebiet der Drogenproduktion geworden. Im Zeichen zunehmenden Landbedarfs werden die Regenwaldregionen zweifellos durch globale Einflüsse noch weiter umgestaltet werden. Als Hauptantriebskraft der Globalisierung führt der Kapitalismus zu Bevölkerungsbewegungen, zur Ausbeutung von Ressourcen, zur Öffnung von Märkten und zur Verbreitung von Technologien. Er umspannt auf der Suche nach den niedrigsten Löhnen, der größten Erfahrung, den billigsten Materialien und den größten Märkten den Planeten mit ganzen Warenketten (McMichael 1996). Eine Globalisierungskraft ist der Kapitalismus jedoch schon seit Jahrhunderten (Frank 1978, Wallerstein 1974). Neu sind in der gegenwärtigen Erfahrung der Globalisierung die technologischen Fortschritte bei Medien und Verkehrsverbindungen, die zu einem höheren Bewusstheitsgrad der Weltwahrnehmung führen, gefiltert durch die internationale Medien- und Warenkultur (Gray 1998). Mehr Menschen an mehr Orten als je zuvor sehen Filme mit Julia Roberts, Spiele um die Fußballweltmeisterschaft und Reportagen von Papstbesuchen und Guerillakriegen. Die internationalen Medien lenken die Aufmerksamkeit auch auf die AIDS-Epidemie im Afrika südlich der Sahara, auf BSE in Großbritannien, Menschenrechtsverletzungen in China, das Ozonloch
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über der Antarktis und die Stimmauszählungsprobleme in Florida. Große Teile der Welt tragen Turnschuhe, trinken Coca-Cola, essen Pizza oder Frühlingsrollen und fahren Honda-Autos. Große Teile der Welt, aber nicht die ganze Welt, nehmen den Geist der Globalisierung in sich auf, ganz zu schweigen von den global verbreiteten Waren. Manuel Castells (1996) erinnert daran, dass es bei den Globalisierungserfahrungen Unterschiede gibt zwischen Kosmopoliten, die in der Lage sind, an der Globalisierung aktiv teilzunehmen, und Provinzlern, die ignoriert werden oder nur den Aspekt der Ausbeutung mitbekommen. Diejenigen, die aus der Globalisierung den größten Vorteil ziehen können, leben in den städtischen Ballungsgebieten und arbeiten in der New Economy, aber auch andere – Arbeiter, Militärpersonal, Studenten – erleben die Globalisierung aus erster Hand mit. Was bedeutet die Globalisierung für jene, die sie miterleben? Kommentatoren haben immer wieder behauptet, die Globalisierung schaffe vor allem kulturelle Möglichkeiten, die im Zeitalter der Moderne, als Staat, Wirtschaft, Kultur und Volk noch enger miteinander verbunden waren, wahrscheinlich unmöglich gewesen wären. Die Globalisierung hat den Effekt, dass die Handlungsträger ein solches Ausmaß an Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten haben, dass »[m]ultiple Identitäten und die Dezentrierung des sozialen Subjekts […] auf der Fähigkeit der Individuen [beruhen], mehrere Organisationsmöglichkeiten gleichzeitig zu nutzen« (Nederveen Pieterse 1998: 99). Mit anderen Worten, die Globalisierung schafft eine Fülle neuer Organisationsformen, welche die Optionen für lokale Akteure vermehren, statt die traditionellen Formen zu beschädigen oder zu ersetzen. Dieser Argumentation folgend haben einige Beobachter die Schlussfolgerung gezogen, dass die globale Kultur additiv zur lokalen hinzukomme. Nach dieser Logik werden die Akteure weltweit letztlich bi- oder polykulturell. Der Globalisierungsgedanke hat in überdurchschnittlichem Maße zur Theoriebildung geführt. Thomas Friedman (1999) sieht in der Globalisierung die erträumte Gelegenheit zur wirtschaftlichen Entwicklung und politischen Liberalisierung rückständiger Völker auf der ganzen Welt. Postkolonial orientierte Forscher hingegen wittern in der Ausbeutung subalterner Arbeitsmärkte und natürlicher Ressourcen verdeckte imperialistische Motive (Antonio und Bonanno 2000). Arjun Appadurai (1996) erkennt in der Globalisierung den Zerfall des Zentralprojekts der Moderne, des Aufbaus von Nationalstaaten; durch eine Vielzahl hybrider Identitäten und Kulturen werde der Nationalstaat unterminiert. Zu fragen ist also immer, welche Globalisierung gemeint ist. Die Antwort lautet nach Roland Robertson (1992), dass man »Globalisie-
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rung« stets im Kontext des intellektuellen und praktischen Terrains betrachten sollte, auf dem Akteure ihre Schlussfolgerungen über die Globalisierung ziehen. Auf diese Weise sind auch multiple Vorstellungen von Globalisierung nicht ausgeschlossen. Dabei räumt Robertson, aus unserer Sicht zu Recht, ein, dass in der zeitgenössischen Gesellschaft unterschiedliche Weltordnungsvorstellungen Widerhall finden. Gleichwohl ist es trotz vieler unterschiedlicher Globalisierungstheorien möglich, einige Schlüsselpositionen zur zeitgenössischen globalen Kultur herauszudestillieren: • Die Welt ist pluralistischer, als es die an Hegemonie orientierten Weltsichten der modernen Sozialtheorie bisher wahrhaben wollten. Die Globalisierungstheorie ist außerordentlich sensibel für Binnendifferenzierungen und für Unterschiede zwischen ihren analytischen Kategorien. • Individuen haben in einer globalisierten Welt mehr Möglichkeiten, sich anzupassen, innovativ zu sein und zu manövrieren, als es die von oben nach unten gerichteten Perspektiven der modernen Gesellschaftstheorie bislang vorsahen. Die Globalisierungstheorie zieht Individuen, die sich selbstschöpferisch definieren, als Handlungsträger in Betracht. • Soziale Prozesse sind in Relation zu sehen und kontingent. Die kulturelle Globalisierung provoziert eine Vielfalt von Reaktionen – vom nationalistischen Grabenkampf bis zur kosmopolitischen Emphase –, die reflexiv sind und die Globalisierung ihrerseits transformieren. • Die zentralen kulturellen Veränderungen des späten 20. Jahrhunderts sind die zunehmende Verdinglichung des sozialen Lebens sowie die zunehmende Geschwindigkeit und Zentralität der Medien. Waren und Medien wurden zum Material individueller Selbstschöpfung und zum legitimen Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen.
McDonaldisierung im Grossen Die McDonaldisierung erscheint als ein neuer Prozess, obgleich die Rationalisierung als solche, wie schon bei Max Weber nachzulesen ist, historisch tiefe Wurzeln hat. Die McDonaldisierung hat profunde Auswirkungen darauf, wie Individuen ihre Welt erfahren. Der Begriff beschreibt am Paradigma des Schnellrestaurants die Durchrationalisierung der Gesellschaft – der Orte und Räume, in denen die Menschen leben, arbeiten und konsumieren. Dieser Prozess ist eine direkte Folge des Aufstiegs von vier miteinander verbundenen Faktoren: einem Streben nach größerer Effizienz, besserer Vorhersagbarkeit
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und Kalkulierbarkeit sowie der Ersetzung einer am Menschen orientierten durch eine vom Menschen unabhängige Technologie (Ritzer 2000a). Bei mcdonaldisierten Verfahren stehen demnach die Standardisierung der Produkte und die Betonung von Quantität statt Qualität im Vordergrund. Diese Praktiken und Werte verleihen der McDonaldisierung einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Organisationsmodellen; sie ermöglichen es, eine große Zahl von Menschen (als Beschäftigte wie als Kunden) effizient zu handhaben. Eine fünfte Folge der McDonaldisierung ist die Irrationalität dieser Rationalität, denn zu den Resultaten gehört unter anderem, dass Konsumenten und Mitarbeiter abgewertet werden. Die Wurzeln dieser Entwicklung liegen zwar in der Schnellrestaurant-Industrie, aber die McDonaldisierung impliziert weit mehr als Veränderungen in der Küche und bei den Essgewohnheiten. Zum Beispiel sind auch Hotels/Motels mit lokalem, individuellem Flair vom Verschwinden bedroht; sie weichen mcdonaldisierten Hotelketten wie Holiday Inn. Im System der höheren Bildung tendieren Colleges und Universitäten dazu, örtliche Eigenheiten aufzugeben und zunehmend im Modell der »McUniversität« aufzugehen. Dasselbe ließe sich weitgehend auch über Wahlkämpfe sagen, die immer mehr von Meinungsumfragen, Medienwerbung, Redeversatzstücken und Ähnlichem dominiert werden. So ist also eine McDonaldisierung nicht nur in weiten Bereichen der Konsumlandschaft zu verzeichnen, sondern auch in einem weiten Spektrum anderer sozialer Kontexte. Die McDonaldisierungsthese lautet, dass rationalisierte Systeme das gesamte gesellschaftliche Leben durchdringen und dabei fundamental zu Veränderungen in der Art und Weise beitragen, wie Menschen arbeiten, konsumieren und in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen interagieren. Zwar ist Rationalisierung schon sehr lange ein bestimmender Faktor des modernen Lebens, doch ihre neueste Ausformung, die McDonaldisierung, ist erst seit den 1960erJahren in Amerika wie im Ausland tief in die Konsumkultur eingedrungen. International hat McDonald’s heute 30.000 Filialen in 130 Ländern – vor einem Jahrzehnt waren es noch 3000. Das besagt aber noch nichts über den Erfolg des Modells der McDonaldisierung, das sich auch bei anderen erfolgreichen amerikanischen Fast-Food-Ketten (wie Kentucky Fried Chicken oder Pizza Hut) verbreitet hat, überdies auch bei einheimischen Versionen mcdonaldisierten Konsums (zum Beispiel Russkoje Bistro in Russland oder Nirulas in Indien). Diese weltweite Zunahme hat einen nicht zu bestreitenden Einfluss auf traditionelle Lebensweisen gehabt, oft zum Schaden lokaler Gewohnheiten, und der Einfluss rationalisierter Lebensweisen wird in Zukunft wahrscheinlich noch weiter zunehmen, weil sich immer mehr Menschen an effiziente, vorhersehbare Umgebungen und Kontexte ge-
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wöhnen. Und doch sind viele Gebiete der Welt noch nicht mcdonaldisiert. Sie nutzen weiterhin traditionellere, weniger rationalisierte Konsum-, Produktions- und Interaktionsweisen. Man kann wohl einen langfristigen Trend prognostizieren, dem zufolge auch in diesen Gegenden die McDonaldisierung zunehmen wird, aber es könnte sehr lange dauern, bevor viele von ihnen auch nur die ersten Anzeichen einer solchen Entwicklung sehen. Klar ist jedoch, dass dem Phänomen der McDonaldisierung in jeder gründlichen Untersuchung der Globalisierung ein fester Platz gebührt. Es ist kaum zu bezweifeln, dass die Logik der McDonaldisierung zur Herausbildung einer Gruppe von Werten und Praktiken führt, die gegenüber anderen Konsummöglichkeiten einen Wettbewerbsvorteil erzielt. Das Modell der McDonaldisierung ist nicht nur effizienter, es lässt sich auch leichter als andere Konsummodelle reproduzieren. Der Erfolg der McDonaldisierung in den USA im letzten halben Jahrhundert legt, verbunden mit den internationalen Ambitionen von McDonald’s und ähnlichen Ketten, einschließlich indigener Kopien des Modells, die Annahme nahe, dass die McDonaldisierung weiterhin die globalen Märkte erobern wird – nicht nur durch die Bemühungen bereits vorhandener Firmen, sondern auch über die Verbreitung des Paradigmas. Schnell, preiswert und sauber – das ist ein Gewinnrezept, das jetzt und in Zukunft weithin nachgeahmt werden wird. Man sollte jedoch bedenken, dass der Wettbewerbsvorteil von effizienter Produktion und effizientem Service nicht unter allen Bedingungen unüberwindlich ist. Auch das McDonald’s-Konzept hat seine Grenzen, je nach den Wünschen und Erwartungen der Konsumenten. Einerseits hält McDonald’s die Kosten niedrig, sodass mcdonaldisierte Geschäfte einer breiten Konsumentenschicht das Geld aus der Tasche ziehen können. Ein Essen für drei Euro im Schnellrestaurant können sich viele noch leisten, denen ein Steak in einem feineren Restaurant zu teuer ist. Andererseits wird die Konsumentenbasis durch die Tatsache begrenzt, dass manche, die sich Fast Food leisten könnten, es trotzdem nur gelegentlich oder gar nicht zu sich nehmen. Sie finden vielleicht, dass effiziente Mahlzeiten nicht alle (substanziell vernünftigen) Erwartungen an das Essen befriedigen können, vielleicht auch nur, dass ihnen Fast Food nicht schmeckt. Aus diesem Grund hat der Aufstieg der Schnellrestaurantketten selbst in den Vereinigten Staaten der Beliebtheit traditionellerer Restaurants mit vollem Service keinen Abbruch getan (Nelson 2001).
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Amerikanisierung Amerikanisierung lässt sich als ein mächtiger, nur einseitig verlaufender Prozess definieren, der zur Überwältigung konkurrierender Prozesse (etwa einer Japanisierung) wie auch lokaler Kräfte neigt, die sich widersetzen und amerikanische Vorbilder modifizieren und/oder hybridisieren könnten. Überdies ist der Begriff »Amerikanisierung« natürlich an eine spezielle Nation gebunden, die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber er hat auch einen differenzierenden Einfluss auf viele spezifische Nationen. Amerikanisierung schließt bis zu einem gewissen Grad die McDonaldisierung ein, aber auch andere Formen des amerikanischen Kultur-, Politik- und Wirtschaftsimperialismus. Unter der Überschrift Amerikanisierung lassen sich ebenfalls erfassen: die weltweite Ausbreitung des amerikanischen Industriemodells nach dem Zweiten Weltkrieg; die weltweite Ausbreitung des amerikanischen Konsummodells in den 1990er-Jahren; die Vermarktung der amerikanischen Medien (Hollywood-Filme, Popmusik und NBA-Basketballspiele) im Ausland; die weltweite Vermarktung amerikanischer Waren wie Coca-Cola, Bluejeans und Computerbetriebssysteme; ein extensives diplomatisches und militärisches Engagement in Europa, Asien und Südamerika, einschließlich der Bemühungen zur Stärkung demokratischer Entwicklungen; die Ausbildung militärischer, politischer und wissenschaftlicher Eliten an amerikanischen Universitäten; sowie die Entwicklung und Nutzung des internationalen Arbeitsmarkts und der natürlichen Ressourcen durch amerikanische Konzerne. Die Reichweite der Amerikanisierung ist groß. Greifen wir nur einen Aspekt heraus: die globale Reichweite von Hollywood-Filmen. Die amerikanische Filmindustrie hat viele nationale Filmindustrien in Europa und anderswo an den Rand gedrängt, zum Schaden nationaler künstlerischer Ausdrucksmöglichkeiten. Die Erfolgsfilme von Julia Roberts und Harrison Ford, echte »Blockbuster«, nehmen ihren Weg nicht nur über die offiziellen Verleihkanäle, sondern es werden auch Raubkopien hergestellt und in den Städten der Dritten Welt auf den Straßen verkauft. Während etliche Nationen, darunter auch China und Indien, weiterhin eine große Zahl kommerzieller Filme produzieren, laufen selbst in diesen Ländern häufig amerikanische Filme in den Kinos. Filme, die in Amerika weniger erfolgreich sind, darunter künstlerisch wertvolle Streifen ebenso wie Action-Filme, finden nicht selten einen globalen Markt (Kael 1985). Das Ergebnis ist nicht einfach eine allgemeine Vertrautheit mit amerikanischen Kulturerzeugnissen (jene Art sekundärer Identität, wie sie Nederveen Pieterse beschrieben hat); nein, amerikanische Filme haben andere nationalen Filmindustrien gelähmt.
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Doch ist dies nur die eine Seite der zeitgenössischen Film- und Kinoproblematik. Die andere ist, dass die ästhetische Grammatik der Filmproduktionen aus anderen Nationen für den Vertrieb in den USA transformiert wird. Die Chinesen beklagen zum Beispiel, dass ihre führenden Regisseure (darunter auch Zhang Yimo und Chen Kaige) Filme machen, in denen die chinesische Kultur und Geschichte für westliche Zuschauer exotisiert oder, in Edward Saids Terminologie, »orientalisiert« werden (Said 1978). Ein neueres Beispiel ist Ang Lees Welterfolg Tiger & Dragon (2000) – ein Film, der viele internationale Preise gewonnen hat, in China selbst aber angeblich keinen Erfolg hatte. Kurz gesagt, chinesische Filme werden auf die amerikanische Gefühlswelt zugeschnitten, um Prestige zu gewinnen und besser verkäuflich zu sein. Das Resultat ist, dass die amerikanische Filmkultur gewissermaßen zur Welt-Filmkultur geworden ist. Das heißt nicht, dass das amerikanische Filmschaffen nicht auch, je nach kulturellem Kontext, in dem man es betrachtet, unterschiedlich interpretiert werden könnte, aber so viel lässt sich sagen: Kulturelle Artefakte aus den USA sind ein zunehmend zentrales Element der globalen Kultur. Tabelle: Die charakteristischen Merkmale von Globalisierung, Amerikanisierung und McDonaldisierung Globalisierung
Amerikanisierung McDonaldisierung
Definition
»Verdichtung der Welt und Intensivierung des Bewusstseins, dass die Welt ein Ganzes ist« (Robertson 1992: 8)
Verbreitung von amerikanischen Ideen, Sitten, Sozialmustern, Industrien und Kapital auf der ganzen Welt (Williams 1962)
»Der Prozess, durch den die Prinzipien des Schnellrestaurants in immer mehr Bereichen der amerikanischen Gesellschaft und der restlichen Welt dominieren« (Ritzer 2000a: 1)
Weltsicht
Zirkulation von Personen, Informationen, Ressourcen und Waren in vielen Richtungen
Amerikanische Ausbeutung der Weltmärkte und Weltressourcen
Betonung von Effizienz, Vorhersagbarkeit und Kalkulierbarkeit sowie Ersatz einer am Menschen orientierten durch eine nichtmenschliche Technologie
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Wirtschaft
Ausdehnung und Vorherrschaft des Intensivierung des amerikanischen Welthandels Wirtschaftsmodells, Hegemonie amerikanischer Konzerninteressen
Forcierte Rationalisierung in Produktion und Service, zunehmende Kontrolle und Entmenschlichung von Mitarbeitern und Konsumenten
Politik
Zunahme transnationaler Regierungsformen und Wachstum sozialer Bewegungen
Zunehmende unilaterale politische Aktionen durch die USA und ihre Verbündeten
Auf KostenNutzen-Analysen gründendes staatliches Handeln; politisches Engagement zunehmend in Routineformen – McBürger (Turner 1999)
Kultur
Mehr Möglichkeiten zur Selbstverwandlung und zur Selbstdefinition durch Waren und Medien (bricolage)
Vorherrschaft der amerikanischen Konsum- und Medienkultur in der Welt
Zunehmende Standardisierung vor allem der Konsumkultur, aber auch von Religion, Erziehung, Justizund Gesundheitswesen
McDonaldisierung und die Lektionen der Globalisierungstheorie Die These von der McDonaldisierung ist in mancher Hinsicht die Antithese zu einer globalen Kulturperspektive. Globalisierungstheoretiker neigen, wie wir gesehen haben, einer zunehmend pluralistischen Weltsicht zu. Dabei beinhaltet die Globalisierungsperspektive auch eine zunehmende Vielfalt von Organisationsmöglichkeiten. Die McDonaldisierung hingegen ist hauptsächlich ein Homogenisierungsprozess, der zur Reduktion der Konsumvielfalt tendiert, sofern diese mit Effizienz, Vorhersagbarkeit, Kalkulierbarkeit und dem Einsatz einer vom Menschen unabhängigen Technologie nicht in Einklang zu bringen ist. Darum tendiert eine mcdonaldisierte Gesellschaft zum »organisatorischen Isomorphismus« (DiMaggio und Powell 1983). Wie DiMaggio und Powell zeigen, führen drei miteinander zusammenhängende Prozesse dazu, dass konkurrierende Organisationsstrukturen einander immer ähnlicher werden: Erstens werden Organisationen durch kulturelle Erwartungen in ihren Möglichkeiten eingeschränkt. Zweitens neigen Organisationen in einem Umfeld »symbolischer Unsicherheit« dazu, sich an anderen Organisationen auszu-
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richten. Drittens bilden sich im Zeichen zunehmender Professionalisierung bei Studienabschlüssen und Leistungsbewertungen der Manager formale Systeme heraus, die zur Entstehung starker Normen im Management führen. Noch ein weiterer, von DiMaggio und Powell in ihrer Darstellung allerdings nicht beachteter Grund spielt bei der McDonaldisierung eine wichtige Rolle: der Wettbewerbsvorteil rationalisierter Systeme gegenüber anderen, konkurrierenden Organisationsmodellen. Im gegenwärtigen transnationalen Milieu tragen alle vier Prozesse zu einer allgemeinen Konvergenz von Organisationen rund um das mcdonaldisierte Modell bei. McDonald’s zwingt auch seine Zulieferer praktisch zur Rationalisierung ihrer Produktions- und Geschäftsvorgänge (Schlosser 2001). Was den Aspekt der Nachahmung betrifft, so könnte das Hereinströmen sehr unterschiedlicher Konsumgüter und materieller Kulturgüter jene symbolische Unsicherheit schaffen, die Konsumenten dazu bringt, sich eng an das Vertraute zu halten. Diese Lage würde die Wettbewerbsvorteile, die mcdonaldisierte Systeme ohnehin schon besitzen, nochmals verstärken. Auch die zunehmende Zahl internationaler Absolventen mit ähnlichen Lebensläufen, die ihr Studium mit dem MBA (Master of Business Administration) abschließen, trägt zum Isomorphismus der Organisationsformen bei. Und schließlich übertreffen, was am wichtigsten ist, mcdonaldisierte Systeme die traditionellen Organisationsmodelle beim Ertrag, weil Arbeits- und Ausbildungskosten gesenkt werden. Der theoretische Konflikt zwischen Globalisierung und McDonaldisierung bei der relativen Betonung individueller Handlungsmacht ist ebenfalls evident. Die Theorie der McDonaldisierung sieht in Individuen eher Wesen, die durch die formale Rationalität ihres Konsums manipuliert werden; die Konsumenten neigen dazu, sich so zu verhalten, wie sie sich in den Planungen dieses Konsummodells verhalten sollen: In einem Schnellrestaurant stellen sie sich ordentlich in Schlangen an, dann essen sie schnell und räumen anschließend ihren Tisch ab.4 Demgegenüber hebt die Globalisierungstheorie stärker die Handlungsmacht der Konsumenten hinsichtlich ihrer Konsummittel hervor. Bei der Betrachtung der Globalisierung aus kultureller Sicht ergeben sich jedoch wichtige Fragen zu den Grenzen der McDonaldisierung, die bei Zugrundelegung der These von der globalen Handlungsmächtigkeit der Konsumenten keine angemessene Antwort finden: Wie umfassend durchdringt die Ideologie der McDonaldisierung Leben und Wertewelt der Menschen, die in und zwischen mcdonaldisierten Strukturen operieren? Wie gründlich verändert die McDonaldisierung die Kulturen, mit denen sie in Kontakt kommt? Ist sie ein endgültiger, unumkehrbarer Prozess oder bleiben alternative Kon-
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sumlogiken weiterhin praktikabel (beziehungsweise entstehen sie überhaupt erst auf diese Weise)? Diese Fragen sind von grundlegender Bedeutung, wenn man die Grenzen der McDonaldisierung – als Perspektive wie als Prozess – verstehen will. Wenn wir die Lehren der Globalisierungstheorie auf die McDonaldisierung anwenden, stoßen wir in der Tat auf solche Grenzen. Aus der Perspektive der McDonaldisierung wird der Handlungsmacht des Individuums nur eine sehr begrenzte Rolle zugestanden; auch gegenüber exzessiven Ansprüchen des Pluralismus bleibt die McDonaldisierungstheorie skeptisch und betont, dass die Rationalisierung in der Konsumwelt und anderswo wahrscheinlich weitergehen oder sich sogar noch beschleunigen werde – alles Ansichten, die von der Globalisierungstheorie infrage gestellt werden. Trotzdem ist die zentrale McDonaldisierungsthese unbestritten: dass Effizienz, Kalkulierbarkeit, Vorhersagbarkeit und die Ersetzung einer am Menschen orientierten durch eine vom Menschen unabhängige Technologie die neuen Konsumstrukturen auf der Produzenten- wie auf der Konsumentenseite definieren. Die Auswirkungen dieser Strukturen auf die Konsumenten, die globale Reichweite dieses Modells und die zielgerichteten Implikationen dieser Art von Rationalisierungstheorie sind dabei nur sekundäre Erwägungen. Mögen solche Fragen für das Verständnis der globalen Operationsweise der McDonaldisierung auch von zentraler Bedeutung sein – sie gehen eindeutig über das Projekt einer Beschreibung der rationalisierten Konturen der neuen Konsummittel hinaus. (Das gilt auch für andere Bereiche der Rationalisierung.) Die McDonaldisierung ist kein striktes Analogon zur Globalisierung, denn die Globalisierungstheorie hat einen viel weiteren Horizont als die These von der McDonaldisierung. Der Begriff der Globalisierung zielt darauf ab, die zunehmende wechselseitige Durchdringung einer globalen Kultur über eine Vielfalt von Nationen, Regionen und Sphären hin zu erfassen. Die Globalisierungstheorie kann sich mit dem Einfluss mcdonaldisierter Konsummittel oder amerikanischer Konsumgüter auf die Welt befassen, aber genauso gut auch mit dem Einfluss der japanischen Kultur auf das zeitgenössische Asien oder mit den Auswirkungen der deutschen Philosophie auf die russische Politik. Trotz dieser Unterschiede kann die McDonaldisierungstheorie im Lichte der Globalisierungstheorie noch weiter präzisiert werden. Denn die McDonaldisierung ist den Kräften des Pluralismus in wenigstens dreierlei Hinsicht unterworfen. Erstens müssen mcdonaldisierte Modelle, wenn sie exportiert werden, immer bis zu einem gewissen Grade an die unterschiedlichen Umstände vor Ort angepasst werden (Watson 1997). Zweitens können sich mcdonaldisierte Modelle auch
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in einem Nachahmungsprozess vor Ort entwickeln; dabei herrscht eine Tendenz zum Isomorphismus vor. Drittens kann ein mcdonaldisiertes Modell einer Vielfalt von Zielen dienen. Um dies zu erkennen, muss man sich nur die Vielfalt unterschiedlicher Kontexte anschauen, die bereits mcdonaldisiert wurden. Während sich also die strukturelle Vielfalt der Mittel immer weiter verengt, bleibt die reale wie kosmetische Vielfalt der Ziele und Einsatzmöglichkeiten erhalten. Mcdonaldisierte Modelle können zwar so entworfen sein, dass sie die Handelnden (Konsumenten) kontrollieren und konditionieren, doch hat diese Kontrolle der Handlungsmacht auch ihre Grenzen. Individuen behalten nämlich ihre Fähigkeit, über das Terrain, in dem mcdonaldisierte Verfahren zum Einsatz kommen sollen, zu verhandeln, mcdonaldisierten Prozessen einen Sinn zu geben und aus Elementen mcdonaldisierter Organisationen etwas Eigenes zu machen, sich eine Identität zu schaffen. Die Homogenisierungsmacht der McDonaldisierung ist also begrenzt. Reaktionen auf die McDonaldisierung führen ebenso wie ihre unbeabsichtigten Folgen zu Kontingenzen, die jede mcdonaldisierte Organisation zu einer kontinuierlichen Anpassung zwingen. Die Grundprinzipien bleiben konstant, aber mcdonaldisierte Organisationen befinden sich ansonsten in einem ständigen Anpassungs- und Evolutionsprozess.
McDonaldisierung und Amerikanisierung Ungeachtet der analytischen Unterscheidungen, die wir in diesem Essay angewandt haben, ist und bleibt McDonald’s eine amerikanische Ikone. Darum haben in Europa, China und anderen Ländern auf der ganzen Welt Demonstranten McDonald’s-Filialen als ein Symbol Amerikas und des amerikanischen Kulturimperialismus angegriffen (Daley 2000, Watson 2000). Kurz gesagt: die McDonaldisierung als Prozess und McDonald’s als Ikone haben US-amerikanische Konnotationen. Im ersten Fall geht es um den Export eines typisch amerikanischen Organisations-, Service- und Konsumstils, im zweiten dient die Firma als Symbol des wirtschaftlichen Reichtums (und der politischen Macht) der Vereinigten Staaten auf der ganzen Welt. Schnellrestaurants sind Embleme des amerikanischen Lebensstils. Die enge Verbindung von McDonaldisierung und Amerikanisierung ist für die Ausbreitung der McDonaldisierung sowohl förderlich als auch hinderlich. Mcdonaldisierte Konsumartikel können als exotischer Import angesehen werden, an dem Neureiche und Jüngere die Neuartigkeit schätzen, überdies die Möglichkeit, ihre kosmopolitische Identität oder einen hohen Sozialstatus unter Beweis zu stellen. So gese-
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hen fördert die enge Assoziation von McDonald’s mit Amerika wahrscheinlich die Ausbreitung des Modells, denn so wird die inhärente Tendenz rationalisierter Modelle, die Kunden zu desillusionieren, minimiert (Ritzer 1999). Hat sich der Reiz der Neuheit jedoch abgenutzt, so unterliegen mcdonaldisierte Konsumartikel in aller Welt wahrscheinlich der Notwendigkeit, den rationalisierten Kern mit neuem Zauber zu umgeben, um die Konsumenten zur Wiederholung zu reizen. Wenn die Erfahrungen in den USA als Indikator dafür taugen, wie dieser Prozess weitergehen wird, dann steht zu erwarten, dass mcdonaldisierte Konsumartikel weltweit Kapital aus der nostalgischen Sehnsucht der Konsumenten nach ebenjenen Welten schlagen werden, die durch die McDonaldisierung erst verdrängt wurden: Man wird versuchen, lokale Traditionen nachzuahmen. Es wird ein Zeichen scharfer Ironie sein, wenn irgendwann in der Zukunft eine mcdonaldisierte Einrichtung in Paris oder Beijing (Peking) ebenjene Stile des Essens und Lebens neu zu erschaffen versucht, die zuvor verdrängt und ersetzt wurden. Die enge Assoziation von McDonaldisierung und Amerikanisierung kann die Rezeption der mcdonaldisierten Konsummodelle aber auch behindern. Dann meiden die Konsumenten mcdonaldisierte Systeme nicht etwa, weil sie Schnelligkeit, Effizienz und Vorhersagbarkeit besonders desillusionierend oder geschmacklos fänden, sondern weil McDonaldisierung für Kulturimperialismus steht. Derartiges ist beispielsweise der Fall, wenn Protestaktivisten in Frankreich, Indien und vielen anderen Ländern sich McDonald’s-Filialen als Zielscheibe auswählen. Solange die Assoziation von McDonaldisierung und Amerikanisierung stark bleibt, ist zu erwarten, dass die Bemühungen, sich an die lokale Praxis anzupassen, in Gegenden mit starken antiamerikanischen Ressentiments nur begrenzte Wirksamkeit entfalten werden. In dem Maße jedoch, wie man im einheimischen Konsumbereich lernt, mcdonaldisierten Systemen nachzueifern, wird auch die enge assoziative Verbindung von McDonaldisierung und Amerikanisierung schwächer werden. Effizienz, Vorhersagbarkeit, Kalkulierbarkeit und die Favorisierung einer vom Menschen unabhängigen Technik werden gegenüber anderen Organisationsprinzipien auch weiterhin einen Wettbewerbsvorteil besitzen – lange nachdem die Assoziationen mit Amerika verschwunden sind. Die Wettbewerbsvorteile mcdonaldisierter Systeme in den USA lassen sich nicht zur Gänze auf die weltweite Ausbreitung dieses Modells übertragen. In manchen internationalen Zusammenhängen kann der Preis zum Beispiel ein geringerer Wettbewerbsvorteil sein als im amerikanischen Inland, weil die vor Ort produzierten Güter oft billiger sind als die exotischen Importe. Überdies bleiben Geschmackskriterien bei der internationalen Nachfrage nach Fast Food immer
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ein signifikanter Limitierungsfaktor. Das wird etwa bei den Zugeständnissen deutlich, die McDonald’s und andere an die Unwägbarkeiten des lokalen Geschmacks machen mussten (zum Beispiel Curry-Burger in Neu-Delhi oder Teriyaki-Burger in Tokio). Das Potenzial der McDonaldisierung, den Konsum weltweit zu homogenisieren, wird also in den USA wie anderswo durch die Fähigkeit (Preisgestaltung) und den Willen (Geschmackskriterien) der Konsumenten eingeschränkt, sich mit rationalisierten Konsummitteln abzufinden. Anzumerken ist auch, dass »Amerikanisierung« einen Prozess impliziert, in dessen Verlauf Amerikanisches immer größere Teile der Welt dominiert. Die McDonaldisierung macht sich aber nicht nur außerhalb der USA bemerkbar, sie nimmt auch innerhalb der USA zu. Auf diese Weise verschwinden auch innerhalb der Vereinigten Staaten regionale Unterschiede, was zu einer größeren Homogenisierung des Landes führt – ein Prozess, der sich allerdings kaum als Amerikanisierung beschreiben lässt. Der Gedanke einer Amerikanisierung Amerikas klingt zumindest seltsam; der Gedanke einer McDonaldisierung Amerikas hingegen ist terminologisch unproblematisch. In der McDonaldisierung Amerikas könnte man geradezu eine »Entamerikanisierung Amerikas« sehen. Während Amerika – als »Schmelztiegel der Nationen« – lange mit einer Melange kultureller und regionaler Traditionen assoziiert wurde, stellt die McDonaldisierung geradezu einen Verdrängungsprozess dar: Kulturelle und regionale Traditionen werden durch ein einziges homogenes System ersetzt. Potenziell verschwinden dabei die örtlichen Delikatessengeschäfte, die italienische Pizzeria, der Seafood-Imbiss, der Taco-Stand, und so weiter, ersetzt durch McDonald’s und andere Schnellrestaurant-Ketten. Oder aber diese kulturellen und regionalen Traditionen werden selbst mcdonaldisiert und in Ketten verwandelt: wie Nathan’s Hotdogs, Pizza Hut, Red Lobster und Taco Bell. Diese Ketten haben kaum noch Ähnlichkeit mit ihren Ursprüngen in lokalen und regionalen Enklaven, und das Essen, das sie servieren, ist so weit nivelliert worden, dass es den geschmacklichen Vorlieben einer großen Vielfalt von Kunden entspricht. Amerikanisierung und McDonaldisierung haben also miteinander zu tun, aber sie sind nicht fest miteinander verbunden. Möglicherweise ist die McDonaldisierung nur vorübergehend ein Unteraspekt der Amerikanisierung. Schon heute entstehen überall auf der Welt mcdonaldisierte Systeme; einige davon werden sogar in die USA zurück exportiert (zum Beispiel aus Großbritannien Body Shop). Es ist bereits klar, dass die McDonaldisierung nicht nur ein Amerikanisierungsprozess ist. Wenn immer mehr Länder ihre eigenen mcdonaldisierten Systeme entwickeln und exportieren, wird McDonaldisierung vielleicht bald mit Globalisierung assoziiert (und weniger mit Amerikani-
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sierung) – in dem Sinne, dass ein Prozess daraus geworden ist, der nicht mehr nur in eine, sondern in viele Richtungen weist, wobei die am besten angepassten und neuartigsten Formen im Weltmaßstab erfolgreich miteinander konkurrieren. Wahrscheinlich wird die McDonaldisierung auch so allgegenwärtig und kodifiziert werden, dass sie als Prozess unabhängig von jeglicher Nation existieren wird. Man könnte sogar argumentieren, dass sich die McDonaldisierung schnell zu einer unabhängigen Kraft entwickelt, je mehr Modelle für effizienten und rationellen Konsum sich in neuen Gegenden ausbreiten. Eine solche Situation würde uns dann zwingen, erneut darüber nachzudenken, ob die McDonaldisierung ein globaler oder ein amerikanischer Prozess ist.5
Amerikanisierung und Globalisierung Die begriffliche Differenzierung zwischen Amerikanisierung und Globalisierung betrifft die Bereiche der Weltwirtschaft, der globalen Kultur und der transnationalen Politik. Niemand, der die Globalisierungsperspektive vertritt, käme je auf den Gedanken zu bestreiten, dass die Vereinigten Staaten in der Welt eine dominante Rolle spielen. So geht es bei diesem Thema zunächst um eine Frage der relativen Gewichtung und dann um Fragen der Auswirkung. Das Gros der Globalisierungstheorien betont, dass die Amerikanisierung nur eine von vielen global wirksamen Kräften sei. Überdies stelle sie, selbst wenn ein Großteil der transnationalen Aktivitäten US-Aktivitäten seien, für lokale und nationale Kulturen eine viel geringere Gefahr dar, als viele dächten. Denn ein fundamentaler Fehler vieler Amerikanisierungsvorstellungen besteht aus dieser Sicht in der mangelnden Berücksichtigung der Tatsache, dass es lokalen Akteuren immer freisteht, amerikanische Einflüsse selektiv anzupassen. Es findet eine individuelle Anverwandlung statt, ohne dass die kulturelle, politische und wirtschaftliche Autonomie aufgegeben werden müsste. In der ökonomischen Sphäre ist die Frage der Amerikanisierung wohl weitgehend empirischer Natur. Wenn eine große Zahl von Volkswirtschaften durch die Aktivitäten amerikanischer Konzerne in stärkerem Maße ausgebeutet werden als durch Firmen und Konzerne anderer Länder, ist die Amerikanisierung dieser Volkswirtschaften einfach eine Tatsache. Allerdings ist zu bedenken, dass Konzerne, die man früher mit den USA identifizierte, heutzutage oft von ausländischen Eigentümern und Interessen gelenkt werden (zum Beispiel Chrysler, Seagram’s oder Burger King). Außerdem haben auch international operierende Konzerne sowie nationale Konzerne aus anderen Ländern großen Einfluss auf amerikanischen Märkten (etwa bei
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Automobilen, Mobiltelefonen und im Bereich der Unterhaltungselektronik, wo mächtige Wettbewerber aus anderen Ländern erhebliche Marktanteile in den USA erobert haben). Trotzdem hat Amerika die bei weitem größte Volkswirtschaft der Welt, mit einer außerordentlich starken Reichweite, Wirtschaftskraft und großem Einfluss. Im Bereich der Konsumkultur ist die Perspektive der Amerikanisierung eindeutiger zu verifizieren. Die Welt wird geradezu überschwemmt von amerikanischen Produkten und Marken, deren kollektive Wirkung einem Kulturimperialismus gleichkommt (Klein 2000, Tomlinson 1991). Nike, Levi’s, Coca-Cola und McDonald’s sind weltweit leicht erkennbare Symbole. Gleichwohl verweisen Rick Fantasia (1995) und Richard Kuisel (1993) darauf, dass viele Nationen – in ihrem Fall: Frankreich – ein ambivalentes Verhältnis zu amerikanischen Produkten haben. Wenn Waren ausdrücklich als amerikanische Produkte wahrgenommen werden, werden sie anders behandelt, als wenn sie nur als überall verbreitete Waren angesehen würden. Als Coca-Cola zum weltweit beliebten Soft Drink wurde, verlor die Marke allmählich das Unterscheidungsmerkmal, amerikanischer Herkunft zu sein. Doch bis es so weit war, wurde Coca-Cola hauptsächlich als exotischer Import betrachtet und behandelt. Die mit diesem Getränk verbundene Exotik verhalf ihm zu Akzeptanz und marktbeherrschender Stellung – um eine solche hegemoniale Position zu erreichen, muss etwas zugleich vertraut und natürlich sein. Diesen Status hat Coca-Cola mancherorts inzwischen erreicht, doch viele amerikanische Produkte sind immer noch zu sehr umstritten, als dass sie die Märkte in einem solchen Ausmaß hätten erobern können. Im Bereich der Politik bedeutet Amerikanisierung eine kritische Sicht des verstärkten internationalen Einflusses der USA, während die Globalisierungsperspektive den dominanten Trend einer Zunahme transnationaler Regierungsformen und eines Verblassens der Nationalstaaten im Blick hat. Hier hat die Globalisierungsperspektive die Trends der Zukunft vielleicht richtig im Blick, die gegenwärtige Situation aber hat sie übertrieben dargestellt. Denn die Nationalstaaten stehen mit Sicherheit nicht schon kurz vor ihrer Auflösung. Vielmehr kämpfen in fast fünfzig Regionen der Welt Separatistengruppen noch um die Errichtung neuer Nationalstaaten. Die einflussreichsten transnationalen Organisationen – darunter auch die Welthandelsorganisation und die UNO – sind Organisationen von Staaten, die dazu dienen sollen, die Zusammenarbeit enger zu gestalten, aber nicht dazu, territoriale Machtstrukturen zu ersetzen. Andererseits ist die Amerikanisierung aber politische Realität. Militärisch sind die Vereinigten Staaten in Europa, im Mittleren Osten, in Lateinamerika und in Südostasien aktiv. Es scheint, als würde kaum ein Monat vergehen, ohne dass amerikanische Streitkräfte an
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irgendeinem entfernten Ort in Zwischenfälle verwickelt würden. Diplomatisch haben die Vereinigten Staaten eine Schlüsselrolle als Vermittler (oder Interessenvertreter) in diversen Konflikten auf der ganzen Welt übernommen: zwischen Irland und Großbritannien, Israel und den Palästinensern, China und Taiwan, Nord- und Südkorea. Entwicklungspolitisch gesehen bieten die USA anderen Nationen Wirtschaftshilfe, technische Hilfe und Studentenaustausch an. Bei einer ganzen Reihe politischer Themen haben aber auch andere Nationen von den USA die Führung übernommen. (In einigen Schlüsselfragen, zum Beispiel beim Verbot von Landminen oder beim globalen Umweltschutz, wird die amerikanische Position in internationalen Kreisen sogar zurückgewiesen und heftig kritisiert.) Dass die Vereinigten Staaten gleichwohl in der Weltpolitik eine einflussreiche, teils dominante Rolle spielen, steht außer Frage. Man kann also durchaus die These vertreten, dass die Amerikanisierung eine wichtige Form der Globalisierung sei. Die Divergenzen zwischen beiden Perspektiven konzentrieren sich auf die Frage, bis zu welchem Grad der amerikanische Einfluss hegemoniale Züge trägt oder nur einer von vielen gleichartigen Einflüssen ist. In diesem Kontext ist das Modell der McDonaldisierung von speziellem Interesse. Wenn sich immer mehr Nationen in diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen um Hilfestellung der USA bemühen oder den Austausch suchen, könnten sich diese Nationen auch gezwungen sehen, kompatible (mcdonaldisierte) Organisationsmodelle zu entwickeln, die überdies hegemoniale Züge haben. Das heißt, diese Organisationsmodelle werden oft als »natürliche« Mittel und Wege angesehen, um den Konsum, die Produktion und das gesellschaftliche Zusammenleben zu organisieren – und nicht mehr als spezielle Importe aus Amerika.
Ein Beziehungsmodell der drei Prozesse – Bilden sie eine Hierarchie? Beim Vergleich der semantischen Geltungsbereiche von Globalisierung, Amerikanisierung und McDonaldisierung (vgl. Tabelle) fällt unmittelbar ins Auge, dass »Globalisierung« die größte Reichweite hat – schon allein deshalb, weil dieser Begriff eine größere Vielfalt transnationaler und internationaler Austauschbeziehungen umfasst. Trotzdem sind auch McDonaldisierung und Amerikanisierung Phänomene, die großen Einfluss in der westlichen Welt haben und deren Einfluss im Weltmaßstab eher noch zunimmt. Der vorliegende Essay stellt nicht nur einen Versuch dar, Begriffe einander gegenüberzustellen, um ihre semantische Spannungen auszuloten. Vielmehr ist die
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Untersuchung, ob bestimmte Begriffe und Vorstellungen »zusammenpassen«, der erste Schritt zu einer inhaltlichen Integration. Für uns ist dieser Abschnitt darum der Beginn eines Versuches, das Verhältnis von Globalisierung, Amerikanisierung und McDonaldisierung neu zu bewerten. Wir heben jetzt nicht Widersprüche und Unvereinbarkeiten hervor, sondern wollen zu zeigen versuchen, wie Globalisierung, Amerikanisierung und McDonaldisierung sich wechselseitig ergänzen. Am Anfang steht die Frage, ob die drei Begriffe möglicherweise eine Hierarchie bilden, wobei »Globalisierung« die beiden anderen wenigstens zum Teil einschließt. Wenn die Globalisierung sämtliche Prozesse umfasst, die weite Teile der Welt betreffen, dann kann man in Amerikanisierung und McDonaldisierung spezifische Fälle der Globalisierung sehen. Demnach wäre Globalisierung der umfassendste Prozess, Amerikanisierung eine spezifische, mächtige Globalisierungskraft und McDonaldisierung (wenigstens zum Teil) ein Element der Amerikanisierung. Der Gedanke, dass Globalisierung, Amerikanisierung und McDonaldisierung eine Hierarchie zusammengehöriger Prozesse bilden, ist insofern attraktiv, als auf diese Weise die Paradigmenkonflikte vermieden werden können, die andere soziologische Debatten geprägt haben, auch die Debatten über Moderne/Postmoderne und Makro/ Mikro (Ritzer 2000b). Eine solche Hierarchie würde sowohl der Idee, dass es sich bei der Globalisierung um eine Vermischung von Ökonomien, Kulturen und Völkern handelt, Glaubwürdigkeit verleihen als auch spezifischen Beispielen von verstecktem Imperialismus und Homogenisierung, die ansonsten eine Herausforderung für die Ideale globaler Hybridität bilden würden. Die Hierarchisierung der Begriffe bestätigt, dass es sich bei Amerikanisierung und McDonaldisierung, so mächtig sie für sich genommen auch sein mögen, nicht um allumfassende Globalisierungsprozesse handelt, sondern um signifikante, wirkungsmächtige und weltweit wirksame Unteraspekte der Globalisierung. Beide haben wahrscheinlich einen stärkeren Einfluss auf andere Regionen der Welt, als diese Regionen mit ihren kulturellen Einflüssen in umgekehrter Richtung ausüben können. Doch ist diese Vorstellung einer Hierarchie globaler Prozesse nicht unproblematisch. Denn erstens beinhaltet »Globalisierung« eine wenigstens teilweise Zurückweisung der Perspektiven von Amerikanisierung und McDonaldisierung. Selbst wenn Waren aus der materiellen Kultur der Amerikaner die internationalen Märkte überfluten, hält die Globalisierungstheorie daran fest, dass diese Waren die einheimischen Produkte eher ergänzen als verdrängen. Zweitens sieht man in der Globalisierung meisten einen multidirektionalen, aus einer großen Vielfalt von Quellen gespeisten Prozess – mit Folgen, die auf dem
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ganzen Planeten spürbar sind. Mit anderen Worten, die Globalisierung schließt nicht nur die Amerikanisierung ein, sondern auch die Japanisierung, Brasilianisierung, und so weiter. Möglicherweise schließen sich Globalisierung und Amerikanisierung als Weltordnungsvorstellungen auch wechselseitig aus. Überdies gehört zu einem differenzierten Verständnis von Globalisierung auch die Erkenntnis, dass nicht nur globale Kräfte, sondern auch lokales Input zur Herausbildung hybrider Kulturen beitragen – das Resultat bezeichnet Roland Robertson (1992) als »Glokalisierung«. Eine solche Vorstellung ist vielleicht mit dem Gedanken der Amerikanisierung nicht kompatibel. Das Ganze läuft letztlich auf ein subjektives Urteil über die Frage hinaus, ob Hybridität aus der Anpassung eines bereits vorhandenen Modells beziehungsweise einer vorhandenen Kultur hervorgegangen ist oder aber aus etwas Neuartigerem. Wenn zum Beispiel eine Mischung aus amerikanischen Produktionstechniken, japanischer Mentalität und japanischer Arbeitswelt die japanische Autoindustrie hervorgebracht hat, sollte man diesen Vorgang dann als Amerikanisierung bezeichnen, oder lässt sich das Ganze besser als eine neuartige Produktionsmethode verstehen? Wollte man in diesem Kontext unbedingt von Amerikanisierung sprechen, dann müsste die imperialistische Wertigkeit dieses Begriffes radikal modifiziert werden. Auch die Behauptung, dass die McDonaldisierung ein Bestandteil der Amerikanisierung sei, ist nicht problemlos. Manche Elemente der McDonaldisierung sind zwar vom amerikanischen Kontext nicht zu trennen (etwa die Betonung von Schnelligkeit und Effizienz), aber die Kernprozesse der Rationalisierung überschreiten nationale Festlegungen und Charakteristika. Zugegeben, die McDonaldisierung ist im Wesentlichen amerikanisch, weil der Prozess in den USA geschaffen wurde und weil seine vorherrschenden Manifestationen weiterhin amerikanisch bleiben. Doch während die Resultate und Rückwirkungen der Amerikanisierung eigentlich immer zum Vorteil der USA ausschlagen, ist das bei der McDonaldisierung durchaus nicht immer so. Tatsächlich werden wohl schon bald andere Nationen den Vereinigten Staaten den Prozess der McDonaldisierung entwinden (so wie auch Amerikas führende Stellung auf dem Gebiet der Fließbandproduktion schon lange dahin ist). Irgendwann könnte der stärkste Anstoß zur weiteren McDonaldisierung der amerikanischen Gesellschaft vielleicht vom Import von Nachfolgemodellen ausgehen, die sich aus Ketten wie Russkoje Bistro oder Nirulas entwickelt haben. Schon jetzt kommt die Expansion von Burger King in den USA den englischen Eigentümern der Kette zugute. So vielversprechend also eine Begriffshierarchie globaler Prozesse auch erscheinen mag, zunächst müsste die Tatsache außer Kraft ge-
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setzt werden, dass sich Globalisierung, Amerikanisierung und McDonaldisierung bis zu einem gewissen Grade wechselseitig ausschließen.
Zusammenfassung und Ausblick Wir haben unsere Erörterungen mit dem Vorschlag begonnen, die Tatsache, dass »Globalisierung«, »McDonaldisierung« und »Amerikanisierung« trotz begrifflicher Antinomien zum Teil ähnliche Vorstellungen evozieren, zum Anlass einer Simultanuntersuchung zu nehmen. Wir haben sodann das begriffliche Terrain der drei Perspektiven sondiert (zusammengefasst in der Tabelle), Übereinstimmungen und Differenzen festgestellt. Und schließlich haben wir überlegt, ob nicht die drei Grundgedanken hinter diesen Begriffen kompatibler gemacht werden könnten, wenn man darin nicht so sehr konkurrierende Perspektiven als vielmehr eine Begriffshierarchie sähe. So mag es vielleicht unangemessen sein, McDonaldisierung und Globalisierung als welthistorische Prozesse auf eine Stufe zu stellen, aber die McDonaldisierung wird weiterhin auf der ganzen Welt ihre Spuren hinterlassen. Die Tatsache, dass zur McDonaldisierung ein Prinzipienkomplex formaler Rationalisierung gehört, durch den nicht nur Konkurrenten auf dem Markt ausgestochen werden, sondern auch der Respekt für grundlegende menschliche Werte untergraben wird, macht aus der McDonaldisierung eine homogenisierende, aber auch zersetzende Kraft. Man kann so gut wie alles effizienter, besser kalkulierbar und genauer vorhersagbar machen – aber nur auf Kosten individueller schöpferischer Energien und traditioneller Lebenskunst. Dennoch werden immer mehr Aspekte unseres Lebens der McDonaldisierung unterworfen. Ähnliches könnte man auch über die Gefahren der Amerikanisierung sagen. Indes, obgleich die Reichweite amerikanischer kultureller Produkte zweifellos sehr groß ist, gibt es, wie die Untersuchungen zur Globalisierung gezeigt haben, nützliche Gegengewichte: zu nennen sind eine Vielfalt anderer »globaler Strömungen« sowie die Fähigkeit der Handelnden, die Bedeutungen amerikanischer Produkte zu manipulieren und sie eigenen Bedürfnissen anzupassen. Trotzdem hat auch die Amerikanisierung unter dem Strich homogenisierende Auswirkungen auf die Weltkultur, indem sie lokale Erzeugnisse verdrängt und amerikanischer Produkte zum Maßstab erhebt, ihre Nachahmung ermutigt. Im Endeffekt können sich auf diese Weise die Wahlmöglichkeiten der lokalen Individuen bei ihrer Identitätssuche vorübergehend zwar vergrößern, langfristig wird die isomorphe Kulturkonvergenz im Zeichen amerikanischen Geschmacks und amerikani-
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scher Verfahren jedoch einen negativen Einfluss auf das kulturelle Erbe ausüben. Wir betonen abschließend, dass diese Urteile zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt gefällt werden – zu einem Zeitpunkt, da sich die McDonaldisierung noch auf dem Vormarsch befindet und Amerika eine globale Hegemoniestellung innehat. Im weiteren Verlauf der Zeit werden sich andere Modelle für die Organisation des gesellschaftlichen Lebens herausbilden, die sich an neuen Bedürfnissen und Zwängen ausrichten, doch auch sie werden wahrscheinlich an einem Übermaß formaler Rationalität leiden. Irgendwann werden Nationen auf der ganzen Welt vielleicht ungeduldig und mit amerikanischen Verhältnissen unzufrieden werden; sie werden ihre Aufmerksamkeit dann erneut ihren eigenen Traditionen widmen oder aber aus wechselnden Elementen der globalen Melange ganz neue Modelle und geschmackliche Vorlieben herausbilden.
Anmerkungen 1 Als Gegengewicht werden oft prononciert realistische Analysen von Politik und Wirtschaft vorgetragen (vgl. etwa Chase-Dunn 1989). 2 Globalisierung bezieht sich auch auf die zunehmende, durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik gestützte Macht des Kapitalismus im Weltmaßstab. Ebenso kann sich der Begriff auf eine Zunahme transnationaler Regierungsformen beziehen. Im vorliegenden Essay konzentrieren wir uns jedoch auf die Kultur der Globalisierung. 3 Bricolage (»Bastelei«) wurde 1962 von Claude Lévi-Strauss als Terminus in die Kulturtheorie eingeführt. In La pensée sauvage (dt. Das wilde Denken, 1968) vergleicht er das mythische Denken der Naturvölker mit der Arbeitsweise eines Bastlers (bricoleur) und stellt ihr die Denk- und Arbeitsweise eines rational und zielgerichtet arbeitenden Ingenieurs gegenüber. »Die Eigenart des mythischen Denkens besteht […] darin, sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muss es sich ihrer bedienen, […] denn es hat nichts anderes zur Hand« (1968: 29). A.d.Ü. 4 Eine nuanciertere Darstellung des Konsumentenverhaltens in mcdonaldisierten Kontexten findet sich bei Ritzer und Ovadia 2001. 5 Die McDonaldisierung ist zwar gegenwärtig das dominante Rationalisierungsmodell, doch zu anderen Zeiten waren andere Modelle aus anderen Nationen einflussreich. Zum Beispiel beschäftigten im 18. Jahrhundert die Mandarin-Bürokratien der Ching-Dynastie die Phantasie europäischer Staatsschöpfer. Ein weiteres Beispiel für
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Durchrationalisierung, das auch Max Weber mit Sicherheit vor Augen hatte, waren die preußischen Militärreformen, die zum Vorbild für alle modernen bewaffneten Streitkräfte wurden.
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Kultur, Moderne und Unmittelbarkeit John Tomlinson
Kulturelle Globalisierung – eine begriffliche Neuorientierung Im Folgenden werde ich versuchen, ziemlich radikal von einer Form des Diskurses abzuweichen, die inzwischen meiner Meinung nach das Reden und Denken über die kulturellen Implikationen der Globalisierung eher einengt als fördert. Besagter Diskurs bewegt sich im Umfeld einer Annahme, die, auf das Wesentliche reduziert, lautet, die kulturelle Globalisierung finde unweigerlich in Form einer Ausbreitung kultureller Praktiken, Gewohnheiten, Werte, Produkte, Erfahrungen und Lebensstile von bestimmten dominanten Orten aus statt. Man könnte dieses allgemeine Denkmuster als »geopolitische Konzeption des kulturellen Einflusses« bezeichnen. Konkrete Gestalt gewinnt es in den Ideen der Amerikanisierung oder der Verwestlichung, Ideen, die oft miteinander verschmolzen sind – und beide wiederum mit der Vorstellung, dass die Ausbreitung des globalen Kapitalismus eine Form des Kulturimperialismus sei. Das soll freilich nicht heißen, dass diese Art zu denken in jedem Einzelfall unbedingt fehlgeleitet oder verbohrt wäre oder dass die dabei in den Vordergrund gerückten Themen unwichtig wären.1 Doch werden wir auf diese Weise immer wieder dazu verleitet, uns allein im ziemlich vertrauten Umfeld bestimmter kritischer Fragestellungen zu bewegen und überdies in einem Bezugsrahmen zu denken, der unseren Verständnishorizont für neu auftauchende kulturelle Phänomene eher begrenzt. Selbst wenn wir die massiveren Ausdrucksformen der These vom Kulturimperialismus kritisieren oder wenigstens radikal modifizieren wollen, ertappen wir uns bei der Reproduktion einer Denkweise, welche die Kultur hauptsächlich mit den suggestiven Metaphern von Raum und Macht zu erfassen und zu beschreiben sucht: Metaphern von Territorien und Grenzen, Strömen
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und deren Regulierung, Invasion und Schutz (bzw. Protektionismus). Noch die differenziertesten kulturkritischen Diskurse, die sich mit kultureller Hybridität oder Transkulturation beschäftigen, vollziehen keinen radikalen Bruch mit der dominanten Metaphorik von kulturellen Territorien, Schwellen, grenzüberschreitenden Strömungen, Fusionen etc. – selbst wenn die betreffenden Kritiker die in solchen Metaphern implizierte enge Verbindung von Kultur und Nation explizit infrage stellen. So gelang es in neueren kulturtheoretischen Arbeiten zwar, die Kultur aus der untergeordneten, instrumentalen Rolle zu befreien, die ihr in traditionellen politisch-ökonomischen Darstellungen zugewiesen wird (wobei die politisch-ökonomische Betrachtungsweise noch immer die bei weitem häufigste ist, wenn es um Globalisierungsfragen geht). Überdies konnte der Kulturbegriff aus seiner Verankerung in der (empirisch immer weniger plausiblen) Vorstellungswelt vom ethnisch integrierten, klar umgrenzten, souveränen Nationalstaat gelöst werden. Nicht gelungen ist es dagegen, das Reden und Denken über Kultur ausreichend von einer im Wesentlichen territorialen Imagination zu entkoppeln. Wenn wir den Gedanken ernst nehmen, dass zur Globalisierung auch eine Entterritorialisierung gehört – dass also, wie Néstor García Canclini meint, nicht mehr von einer »›natürlichen‹ Beziehung zwischen Kultur und geographischen oder sozialen Territorien« gesprochen werden könne (1995: 229) –, dann müssen wir ernsthaft versuchen, eine neue Begrifflichkeit für kulturelle Prozesse zu entwickeln, damit die kulturellen Erfahrungen im Kontext globalmoderner Gesellschaften adäquater beschrieben werden können. Ulrich Beck hat die wundervoll beziehungsreiche Formulierung von den »Zombie-Kategorien« geprägt, um die zunehmende Unzulänglichkeit etablierter sozialwissenschaftlicher Begriffe bei der Beschreibung eines rapiden Wandels der globalisierenden Moderne zu charakterisieren – denn Empirie und »normale« Beschreibungskategorien driften in der »Zweiten Moderne« immer weiter auseinander. Im Anschluss an ein Kant-Zitat (»Anschauung ohne Begriffe ist blind; Begriff ohne Anschauung ist leer«) schreibt Beck: »Normale sozialwissenschaftliche Kategorien werden zu Zombie-Kategorien, leeren Begriffen im Kantschen Sinne. Zombie-Kategorien sind lebend-tote Kategorien, die die Sozialwissenschaften blind machen für die sich rasch wandelnden Realitäten innerhalb und außerhalb des nationalstaatlichen Containers« (Beck 2002: 24). Ausgehend von Becks Diagnose möchte ich im Folgenden eine neue Denkweise für die kulturellen Implikationen der Globalisierung erkunden – eine, die kulturelle Phänomene weniger mit territorialen Einflüssen assoziiert als mit jenen Verschiebungen in der Textur der Moderne, die globale Ausmaße angenommen haben. Zu fragen ist
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also: Gibt es bereits kulturelle Phänomene, die sich – zumal wenn sie durch neue Kommunikationstechnologien vermittelt sind – besser als unabweisbare Folgen einer generalisierten globalen Moderne verstehen lassen denn als Hegemonieprojekte dominanter Nationalkulturen oder als Homogenisierungseffekte eines gewinnsüchtigen Warenkapitalismus? Solche Phänomene können wir, wie ich meine, in den Verbindungen zwischen einem global-modernen institutionellen/technologischen Kontext zunehmender »Vernetzung« einerseits und neuen kulturellen Stilen, Phantasien, Sensibilitäten, Praktiken und Werten andererseits erkennen. Ich werde jedoch keine allgemeine Erörterung liefern, wie solche Phänomene durch globale Vernetzung entstehen, sondern mich bescheiden darauf beschränken, ein illustrierendes Beispiel für diese mir vorschwebenden neuen Phänomene an- und auszuführen. Denn es soll vor allem ein Alternativansatz für die Erforschung der kulturellen Globalisierung deutlich werden. Das von mir ausgewählte Beispiel ist das Prinzip der Unmittelbarkeit, das sich meiner Meinung nach als Merkmal einer umfassenden global-modernen Kulturerfahrung immer weiter ausbreitet – mit Sicherheit im hochentwickelten Westen, aber wahrscheinlich zunehmend auch in nichtwestlichen Gesellschaften. Ganz dezidiert werde ich den Aspekt der territorialen Herkunft und Ausbreitung aussparen. Stattdessen wird sich meine Argumentation an folgenden Thesen ausrichten: 1. Unmittelbarkeit als kulturelles Prinzip verhält sich zu den technologischen, speziell den kommunikationstechnologischen Grundlagen unseres spezifischen Zeitalters der globalen Moderne wie »mechanische Geschwindigkeit« zu den Grundlagen der vorangehenden Ära. 2. Unmittelbarkeit kann in diesem Sinne als »Ende« der konventionellen Geschwindigkeit verstanden werden – und zwar in mehrfacher Hinsicht, wobei der technologische Wandel, speziell der Wandel in den neuen globalisierenden Medien und Kommunikationstechnologien, mit einer eigenen kulturell-imaginären Bedeutung assoziiert ist, die sich neu herausbildet und schon weit verbreitet ist.2 3. Damit die kulturell-imaginäre Bedeutung von Unmittelbarkeit erfasst werden kann, muss sie mit einem Vokabular begrifflich gefasst werden, das die intuitiven Verbindungen zu den Geschwindigkeits- und Mobilitätsvorstellungen der frühen Moderne kappt. Man sollte bei »unmittelbaren« Ereignissen nicht nur in strikt temporalen Kategorien denken – also nicht nur, dass etwas »sofort«, ohne Verzögerung, geschieht –, sondern in weiteren Zusammenhängen, in denen der temporale Aspekt nur einer von
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vielen ist. Die Kernidee ist die der fehlenden oder redundanten Vermittlungsinstanz. In diesem weiteren Sinne wird ein wichtiger Aspekt der kulturellen Erfahrung und Sensibilität unseres gegenwärtigen Zeitalters der Moderne erfasst. All dies ist eng, aber nicht ausschließlich, mit der schnellen Verbreitung von grenzüberschreitenden, entterritorialisierenden Technologien verbunden. 4. Wenn wir das kulturell-imaginäre Prinzip der Unmittelbarkeit untersuchen, können wir die Verbindung zwischen kulturellen Werten und dem schnellen sozialen und technologischen Wandel besser verstehen lernen – ein Zusammenhang, der allzu oft nur kulturpathologisch verstanden und aus einer explizit oder implizit kulturkonservativen Perspektive gesehen wird. Wenn wir dem Hang zum Konservatismus widerstehen, könnte uns dies wiederum helfen, den kulturellen Prozess der Globalisierung auf neue Weise zu sehen, indem wir uns von der geopolitischen Konzeption kulturellen Einflusses lösen.
Unmittelbarkeit, Kommunikation und Geschwindigkeit Ich fange mit einem Beispiel für »Unmittelbarkeit« an, das vielleicht ein wenig extrem ist. Forscher von Roke Manor Research, einer Technologie-Tochter von Siemens, haben prognostiziert, innerhalb der nächsten zehn Jahre werde eine Technik zu kommerzieller Reife entwickelt werden, mit der man Mikrosensoren in die Sehnerven von Fernsehjournalisten einsetzen könne – auf diese Weise könnten Journalisten alles, was sie sehen, live auf unsere Fernsehschirme »übertragen«. Die Technologie dafür existiere bereits (Radford 2000). Unverkennbar liegt das Provokante derartiger Forschungen in ihren »Cyborg«-Assoziationen – in den Besorgnis erregenden Implikationen einer körperlichen Modifizierung zu instrumentellen, nein, schlimmer noch, zu kommerziellen Zwecken. Mich als altmodischen Humanisten beruhigt es persönlich ein wenig, dass eine solche Technologie wahrscheinlich am Markt nicht unbedingt auf gesteigertes Interesse treffen wird. Es sieht nicht gerade so aus, als stünde im Journalistenverband ein Run auf solche radikalen chirurgischen Eingriffe bevor, um sich bessere Karriereaussichten zu verschaffen. Doch dieser Aspekt des Beispiels ist für meine Zwecke nicht der bedeutsamste. Denn ein solches Implantat lässt sich – obwohl hier bedenklicherweise die Körperoberfläche, in unserer humanistischen Kultur eine wichtige natürliche Grenze, durchbrochen wird – gewissermaßen als eine höher entwickelte Form kommunikativer »Prothesen« verstehen, vergleichbar mit Kopfhörern oder Ansteckmikrophonen. Die Medientechnologien sind also, wie es Marshall McLuhan in
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seiner berühmten biologistischen These ausdrückte, »Verlängerungen der menschlichen Natur« (1964: 41). Tiefer zum Kern der Sache dringt man vor, wenn man sich dem kulturellen Prinzip widmet, das solche technologischen Entwicklungen vorantreibt – der Antwort auf die nahe liegende Frage, warum jemand überhaupt den Wunsch verspüren sollte, Derartiges zu produzieren und zu vermarkten, warum er dafür überhaupt einen Bedarf sieht. Dieses Prinzip wirkt auf Anhieb so vertraut und ist eine so selbstverständliche Konvention, dass man gar nicht weiter darüber nachdenkt: Nachrichten sollten unverzüglich, unmittelbar übermittelt werden. Diese exemplarische kulturelle Prämisse der Moderne, Nachrichten – und darüber hinaus alle möglichen anderen Kommunikationen – sollten so schnell wie möglich übermittelt werden, verleiht der immer größeren Beschleunigung in der Medientechnologie natürlich einen Sinn: vom Telegraphen über das Telefon, den Kommunikationssatelliten und den vernetzten Computer bis hin zu den gegenwärtigen Konvergenzbemühungen bei der computergestützten Kommunikation (CMC, Computer Mediated Communication), zum Beispiel bei der WAP-Technologie (Wireless Application Protocol), der Verbindung von Handys mit Nachrichtendiensten über das Internet. Bei den meisten dieser neueren Entwicklungen wird mit der Übertragungsgeschwindigkeit gesellschaftliche Allgegenwart assoziiert, im Sinne einer umgehenden, kontextunabhängigen Verfügbarkeit von Informationen. Diese Kontextunabhängigkeit der Nachrichtenübermittlung, speziell ihre Ablösung von einer diskursiven Bevormundung durch die Nationalkultur, kommt geradezu paradigmatisch in der Entwicklung von »Ananova« zum Ausdruck – einer Computersimulation, die große Ähnlichkeit zur Computerspiel-Heldin Lara Croft aufweist. Als »erster virtueller Newsreader der Welt für Cyber-Kids« annonciert, wurde Ananova im Juli 2000 für 95 Millionen Pfund von der Abteilung für Neue Medien der Press Association an die (damals noch in britischem, inzwischen in französischem Besitz befindliche) Mobilfunkfirma Orange verkauft, zur Verwendung in deren Internetportal (Hyland 2000).3 Fügt man zu diesen technologischen Entwicklungen noch neuere Innovationen in den Medieninstitutionen hinzu – etwa TVNachrichtensender, die rund um die Uhr senden, oder Online-Nachrichtendienste mit Websites, die im Minutentakt aktualisiert werden und ständig die Möglichkeit bieten, sich interaktiv per Mausklick an Meinungsumfragen und Abstimmungen zu beteiligen –, dann bekommen wir ein Gespür dafür, wie »Unmittelbarkeit« als Prinzip der Geschwindigkeit und des sofortigen Zugangs funktioniert: Zugang zu Informationen, aber auch zu Geschäftsvorgängen, Konsum (durch
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Online-Einkäufe), Unterhaltung oder auch nur zu einander (HandyTelefonate als bestimmendes Merkmal der gegenwärtigen Jugendkultur). In der Zusammenschau erscheint uns die westliche Kultur des frühen 21. Jahrhunderts dann wahrscheinlich als von einer technologisch motivierten Obsession beherrscht, der es um Geschwindigkeit, jederzeitige Erreichbarkeit und augenblickliche Befriedigung der Wünsche geht, verbunden mit verkürzten Aufmerksamkeitsphasen, der so genannten »Dreiminutenkultur« und weiteren ähnlichen Phänomenen. »Unmittelbarkeit« ist, wie James Gleich (1999) gesagt hat, fast nur noch ein anderes Wort für »die Beschleunigung von so gut wie allem«. Diese enge Bindung von Unmittelbarkeit an Geschwindigkeit ist meiner Meinung nach Bestandteil einer sehr typischen Geschichte der Moderne, die wir alle wahrscheinlich ziemlich gut kennen. Sie beginnt voller Optimismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit der Verbindung von Geschwindigkeit mit Werten der Aufklärung: Fortschritt, Ordnung, verbesserte Effizienz, Kosmopolitismus, und so weiter. Ende des 19. Jahrhunderts war eine Art Scheideweg erreicht, als die Futuristen Geschwindigkeit als kreativen Ikonoklasmus feierten (Marinetti 1972). Anschließend kommt dieser Geschichte allmählich das Selbstvertrauen abhanden. Zunehmend wird die Emanzipation der Geschwindigkeit, der Geschwindigkeitsrausch, fortan von Kontrollängsten begleitet, weil die Geschwindigkeit dazu neigt, mit uns davonzurasen – die Moderne als »Moloch« (»Juggernaut«), wie sie Anthony Giddens (1990) so beziehungsreich genannt hat. Mit dieser enormen Beschleunigung ging auch eine Art moralischer Panik einher: Man sorgte sich wegen der pathologischen Auswirkungen der Geschwindigkeit auf Kultur und Werte. Es ist dies ein durchaus vertrauter Diskurs, der im Wesentlichen den Konturen der allgemeinen Kulturkritik an der Moderne folgt. Entscheidend ist jedoch, dass es sich aus dieser Sicht um nur eine einzige Geschichte handelt, weil eine ununterbrochene enge Verbindung zwischen Moderne und Geschwindigkeit vorausgesetzt wird – von den Anfängen bis zur Unmittelbarkeit oder, wie Paul Virilio (1996) es nennt, bis zur »absoluten Geschwindigkeit« des virtuellen Raumes. Mir persönlich kommen allerdings Zweifel daran, ob es sich wirklich um eine einzige fortlaufende Geschichte handelt. Darum möchte ich im Folgenden erkunden, ob es nicht vielleicht doch eine Diskontinuität zwischen der heutzutage forcierten Unmittelbarkeit und der Geschwindigkeit im Zeitalter der frühen Moderne gibt.
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»Schwere« und »flüchtige« Moderne Bei meinem Vergleich beziehe ich mich auf Zygmunt Baumans anregende, kürzlich veröffentlichte terminologische Unterscheidung zwischen einer »schweren«, »soliden« Moderne, die sich stärker auf Maschinen und auf Hardware konzentriert, und einer neueren, »leichten«, »flüchtigen«, eher an Software orientierten Moderne. Ich fasse Baumans Theorie knapp zusammen: Wir erleben gegenwärtig das Ende eines Zeitalters der »schweren« Moderne, einer Epoche, in der »Größe gleichbedeutend ist mit Macht, Volumen mit Erfolg; einer Epoche mit schweren und immer unbeweglicheren Maschinen, mit einer immer größeren Belegschaft von Industriearbeitern, mit schweren Eisenbahnlokomotiven und gigantischen Linienschiffen« (2000: 114). Neben den offensichtlichen Merkmalen der Schwerindustrie und der arbeitsintensiven Produktion verbindet Bauman die »schwere« Moderne auch mit einer relativen Fixiertheit in Zeit und Raum – zumindest mit der Tendenz von Hardware, »träge, sperrig und schwer beweglich« zu sein. Folglich ist die »schwere« Moderne eine Epoche, in der sich die Macht an physischen Orten konzentriert: »verkörpert und fixiert, an Stahl und Beton gebunden«. Ausdehnung von Macht heißt Ausdehnung des Besitzes und der Kontrolle über diese geographisch fixierten Örtlichkeiten, und so verbindet Bauman die »schwere« Moderne auch mit einer einfachen territorialen Expansion: wachsendem Besitz an Raum und Kontrolle über die Zeit. Es ist das Zeitalter territorialer Eroberungen, der Kolonisation, der Regulierung der Zeit (alles wird auf die Uhr abgestellt, die Zeit damit immer uniformer) sowie der Koordination von Raum und Zeit – die Ära der Landerkundung und -vermessung, des Zeitplans, des Stundenplans, des Kontrollplans. Demgegenüber sind wir jetzt in einer Welt der »leichten«, »flüchtigen« Moderne angelangt, einer Welt, in der Solidität, Fixiertheit und bloße lokale Ausdehnung des Besitzes nicht mehr automatisch von Vorteil sind; einer Welt, in der das Kapital beweglich ist und Unternehmer sich nicht mehr unnötig belasten wollen; einer Welt, in der die Produktionsverfahren plastisch sind, Ressourcen und Zulieferer variabel eingesetzt werden und Beschäftigung nicht mehr auf Dauer angelegt ist; einer Welt, in der die Planungen flexibel und anpassungsfähig sind und in der die Logik keine scharfen Konturen mehr hat. Dieser Kontrast im Reich der wirtschaftlichen Kulturen – Microsoft oder Yahoo gegenüber Ford oder Renault – macht sich auch im weiteren kulturellen Bereich bemerkbar. Die Wertschätzung von Festlegungen, von Permanenz und Ortsgebundenheit – im Alltagsleben, bei inneren Einstellungen und Werten – weicht einer Wertschätzung von Mobilität, Flexibilität und Offenheit für Veränderungen. Das Bauen
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und Konstruieren, das Planen und Regulieren treten zurück gegenüber der Fähigkeit, mit Ungewissheiten fertig zu werden und »mit dem Strom zu schwimmen«; Dauerhaftigkeit weicht vorübergehenden Lösungen, das Langfristige dem Kurzfristigen. Vor allem jedoch ist in der »flüchtigen Moderne« die Entfernung kein Thema mehr: »Im Software-Universum, wo man mit Lichtgeschwindigkeit reisen kann, lassen sich Entfernungen buchstäblich ohne Zeitverzug überwinden. […] Der Raum setzt Aktionen und ihren Auswirkungen keine Grenzen mehr« (Bauman 2000: 117). Wie alle großen heuristischen Unterscheidungen – in denen Bauman ein Meister ist – lässt sich auch diese unter allen möglichen Aspekten kritisieren. Epochenabgrenzungen bei sozialen und kulturellen Veränderungen4 sind immer ein Problem, und auch die Schwierigkeiten des dualistischen Denkens sind hinlänglich bekannt. Baumans Unterscheidungen sollten meiner Meinung nach im selben Zusammenhang gesehen werden wie Becks Verwendung der Begriffe »Erste Moderne« und »Zweite Moderne« (Beck 1993 und 1997): Man sollte eher auf ihren kritisch-heuristischen Wert achten als auf »neue problematische Form(en) der Periodisierung, die auf Entweder-oderEpochenstadien basieren; wenn alles gleichzeitig umgekehrt wird, dann verschwinden die alten Verhältnisse für immer, und völlig neue entstehen, um die alten zu ersetzen« (Beck 2002: 24). Es bringt jedoch nichts, wenn man an Einzelheiten von Baumans Unterscheidungen herumkritisiert, weil ein solches Verfahren völlig am Wesentlichen vorbei ginge: Es geht nicht um präzise Beschreibungen, sondern um kreative Denkanstöße zur Untersuchung von Prozessen, die sich in unserem unmittelbaren Umfeld abspielen. Darum empfinde ich den Kontrast zwischen »solider« und »flüchtiger«, zwischen »schwerer« und »leichter« Moderne als weitgehend brauchbar und anregend. Auf unser Verständnis von »Geschwindigkeit« lässt sich dieser Gegensatz ziemlich direkt anwenden. Obwohl Bauman das »schwergewichtige«, riesenhafte Wesen der »schweren« Moderne besonders hervorhebt, ist ihm durchaus klar, welch wichtige Rolle der Geschwindigkeit in dieser Epoche zukommt – als Überwinderin des Raumes, ganz im Sinne von Karl Marx’ berühmter Phrase von der »Vernichtung des Raumes durch die Zeit«. Die Geburt der Moderne, sagt Bauman, stand »im Zeichen der Beschleunigung und der Landeroberung« (2000: 112). In der »schweren« Moderne ist die mechanische Geschwindigkeit, wie ich sie nennen will, von zentraler Bedeutung bei der Überwindung des »natürlichen« Widerstands, den der physische Raum der Erfüllung aller Wünsche entgegensetzt: Diese Geschwindigkeit ist eng mit der frühmodernen Erzählung vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt verbunden. Zur Illustration der mit mechanischer Geschwindigkeit verbun-
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denen kulturellen Imagination kann uns ein kulturelles Produkt aus dem Zeitalter der »schweren« Moderne dienen: der Dokumentarfilm Night Mail (»Nachtzustellung«), der 1936 für die Filmabteilung des General Post Office (GPO) gedreht wurde.5 Dieser von John Grierson produzierte Kurzfilm, bei dem Basil Wright und Harry Watt Regie führten und in dem Verse von W.H. Auden ebenso Verwendung fanden wie Musik von Benjamin Britten, ist zum Klassiker der britischen Dokumentarfilmbewegung geworden. Vieles spricht dafür, ihn zu den definitiven kulturellen Texten der frühen Moderne zu rechnen. Dieser Film ist gewissermaßen beides, eine Dokumentation und eine Verherrlichung mechanischer Geschwindigkeit zum Wohle moderner Kommunikation, wobei durch die schnellen Kommunikationstechnologien zugleich die Nation als einheitliche Kultur verbunden und gefestigt wird. Gezeigt wird die Reise eines Nachtexpresszuges der Post (des »T.P.O. Down Special«)6 vom Londoner Bahnhof Euston nach Glasgow, auf der bei Zwischenstopps weitere Post zugeladen und, während der Zug weiter nach Norden rast, sortiert wird. Während der Postzug nach Schottland rast, entfaltet der Film die meisten Hauptmerkmale des kulturell-imaginären Raums mechanischer Geschwindigkeit. Da ist zunächst die unverkennbare Konzentration darauf, wie mechanische Kraft Entfernungen überwindet (»auffrisst«) – in Gestalt der Lokomotive, die (in Audens Worten) »weißen Dampf über ihre Schulter schaufelt«. In häufig wiederkehrenden Bildern der Kolben und Räder, im Fahrtwind und in den sich beschleunigenden Rhythmen von Brittens Musik wird dieses Thema akzentuiert. Geschwindigkeit ist hier mit Anstrengung und mit der Überwindung von Hindernissen verbunden, etwa auf den langen Steigungen in den nordenglischen Bergen im letzten Teil der Reise. Es handelt sich um ein recht elementares Bild von Arbeit, die, wie es in Bertrand Russells berühmter Definition heißt, damit befasst ist, »Dinge auf oder nahe der Erdoberfläche zu bewegen«. Doch diese Kraftentfaltung wird hier im Zusammenhang weiterer für die frühe Moderne paradigmatischer – »schwerer« – Themen gezeigt. Zum Beispiel werden laufend Zielstrebigkeit, perfekte Organisation und die Regulierung von Raum und Zeit betont – in Sequenzen, in denen die präzise Zeitplanung des Nachtpostzugs, die Koordination mit den Anschlusszügen oder die Routine des Briefsortierens im Mittelpunkt stehen, oder in der berühmten Sequenz, in der gezeigt wird, wie mit hohem Tempo Postsäcke an den Schienen mechanisch eingesammelt und ausgeladen werden. In diesen Sequenzen kommt auch eine Ideologie der Teamarbeit und der disziplinierten Koordination von mechanischer und menschlicher Arbeitskraft zum Erreichen eines gemeinsamen Ziels zum Ausdruck. Damit einher gehen ein heroisches Bild der Arbeit und ein Gespür für die berauschende Wirkung der Geschwindigkeit. In Night
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Mail kommt dieser Geschwindigkeitsrausch nur recht gedämpft und diszipliniert zum Ausdruck, aber unverkennbar klingt auch die futuristische Besessenheit mit dem Heroismus maschineller Geschwindigkeit an. Wenn man jedoch das zentrale Thema von Night Mail angeben müsste, dann könnte man sagen, dass es sich vor allem um einen Film über das Schließen einer Lücke handelt: der Lücke zwischen einem Ausgangspunkt und einem Zielpunkt, zwischen Abfahrt und Ankunft. Die Zielstrebigkeit, die Anstrengungen, die Technologien, das Erhebende an der mechanischen Geschwindigkeit, das hier gefeiert wird – sie alle bilden eine Konstellation mit diesem Schlüsselelement der modernen Imagination: Überwindung von Entfernungen, Überbringen von Nachrichten, Verbindungen zwischen Orten. Denn die Reise des Nachtpostzugs dokumentiert und bestätigt durch ihre verlässliche, genau organisierte Regelmäßigkeit eindringlich die Vernetzung und kulturelle Einheit des Nationalstaats – nicht nur über Entfernungen, sondern auch über Trennungslinien hinweg: Stadt und Land, Klassenschranken, regionale Unterschiede und sogar »nationale« Trennungslinien (wie die zwischen England und Schottland): »Der frische Morgen dämmert. Der Aufstieg ist geschafft. Abwärts nach Glasgow geht die Fahrt Zu den Schleppdampfern, die durch eine Lichtung Zwischen Hafenkränen lärmen, Zu den Maschinenfeldern, den Hochöfen, Die, riesigen Schachfiguren gleich, aus dunkler Ebene ragen. Ganz Schottland wartet auf den Zug: In dunklen Tälern, neben blassgrünen Seen, Warten Menschen auf Nachrichten« (Auden 1966). Die Relevanz der Geschwindigkeit ist hier durch die manifesten, konkreten Realitäten von Raum, Entfernung und Trennung definiert. Dies sind die Hindernisse, welche die Geschwindigkeitstechnologien zu überwinden trachten, und hier liegt der Wert der Geschwindigkeit: in der Lücke zwischen Abfahrt und Ankunft, Wunsch und Erfüllung. Ich komme nun zum springenden Punkt meiner Argumentation, denn meine These lautet: Es besteht ein kategorischer Unterschied zwischen dieser Art von Geschwindigkeit und der neuen Form von Unmittelbarkeit. Mechanische Geschwindigkeit erleben wir in unserem Umfeld weiterhin im Übermaß. Auch der Nachtexpress der Post ist noch immer unterwegs. Und wie die Globalisierung die Welt nicht augenblicklich zu einem Dorf zusammenschrumpfen lässt, so überdauern auch die Entfernungen und alle physischen Versuche, sie zu überwinden, beharrlich. Aber jetzt haben wir zusätzlich noch etwas
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ganz Anderes: das Phänomen der Unmittelbarkeit, das mit seiner »leichten«, mühelosen, unkomplizierten Allgegenwart die kulturell mit der früheren, mechanischen Form von Geschwindigkeit verbundenen Assoziationen des Mühevollen wie des Heroischen mehr oder weniger ersetzt hat. Und mit dieser Ersetzung geht auch eine Verschiebung der kulturellen Annahmen, Erwartungen, Einstellungen und Werte einher. Um sich diesen Gegensatz zu verdeutlichen, muss man nur an die kulturelle Produktion denken, die sich im Umfeld einer der kulturellen Ikonen des frühen 21. Jahrhunderts herausgebildet hat: an die Handy-Kultur. Ohne ein spezifisches Beispiel bemühen zu müssen, ist uns allen klar, dass weite Teile der mit Mobiltelefonen assoziierten Werbespots, Anzeigen und Images von eine Reihe ganz anderer Annahmen ausgehen als denen, die für Night Mail galten. Anzeigen für Handys, die sich häufig an ein junges Publikum wenden, betonen die Freizeit und das Spielerische, im Gegensatz zur Arbeit; Konsum statt Produktion; mit Software verbundene Sorglosigkeit anstelle einer mit Hardware verbundenen Arbeitsdisziplin. Und auch hier lässt sich, wenn wir zum Kern der Unmittelbarkeit vordringen wollen, wie sie sich in kulturellen Produkten aus der Handy-Welt darstellt, aus der Vielfalt der Eindrücke ein Prinzip herauskristallisieren: Hier ist, so lautet meine These, anders als bei der mechanischen Geschwindigkeit, gewissermaßen die Lücke bereits geschlossen. Unmittelbarkeit macht Geschwindigkeit überflüssig.
Schliessung der Lücke – die Redundanz der Mittelinstanz Wie kommt das? Hier geht es eher um kulturelle Imagination und Wahrnehmung als um den Aspekt der präzisen technologischen Funktion. Der Eindruck, den wir beim Gebrauch der neuen Kommunikationstechnologien gewinnen (aber natürlich nur, wenn sie reibungslos funktionieren), ist der einer allgemeinen Mühelosigkeit und Allgegenwart. Die Dinge, besonders die Menschen, scheinen so gut wie immer verfügbar zu sein – jederzeit, sofort und unmittelbar. Die Kommunikation bereitet keine erkennbaren Mühen; anscheinend sind keine großen Hindernisse zu überwinden. Die stumme, unsichtbare, »weiche« Technologie hat dies anscheinend bereits für uns erledigt; sie hat die Lücke zwischen Hier und Überall, Jetzt und Später geschlossen. Und wenn wir die Verwendung von Kommunikationstechnologien unter dem Aspekt des Konsums betrachten, liegt sogar die Versuchung nahe zu sagen, dass sie die für die kapitalistische Moderne bedeutsamste Lücke von allen geschlossen hat: nämlich die zwischen menschlichen Wünschen und deren Erfüllung. Die Tatsache,
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dass dies doch noch nicht ganz gelungen ist, sondern dass sich lediglich die Phasenlänge im Konsumzyklus verkürzt hat – dass also die Konsumfrequenz gestiegen ist –, wirkt natürlich als Bestätigung für das System des sofortigen hohen Konsums. Längerfristig betrachtet könnte die Sache allerdings verwirrender sein, denn es steht am Ende – je nach Perspektive – die Drohung oder das Versprechen einer allgemeinen Marktsättigung im Raum: nicht nur eine Wirtschaft nach dem Ende der Knappheit, sondern ein technologisch erreichtes Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage – und damit, in den vom Hochkonsum geprägten Gesellschaften, eine Kultur allgemeiner unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung, wodurch das vermeintlich unbegrenzte Reservoir der Wünsche und Bedürfnisse letztlich immer kleiner wird. Man muss sich die Frage stellen, wie sich ein solcher Gleichgewichtszustand, würde er auch nur annähernd erreicht, auf die Dynamik des Kapitalismus auswirken würde.7 Die fundamentalste Lücke ist durch Unmittelbarkeit also noch nicht ganz geschlossen, aber andere, die man für den imaginären kulturellen Raum der frühen Moderne als durchaus konstitutiv ansehen könnte, sind inzwischen anscheinend geschlossen. Laut Paul Virilio führte die Revolution der Verkehrsmittel im 19. Jahrhundert dazu, dass die Bedeutung einer Reise auf zwei Punkte schrumpfte: Ankunft und Abfahrt. Diese fundamentale kulturelle Bedeutungsverschiebung ist für uns heute in der Bahnhofsarchitektur noch immer sichtbar;8 stärker noch wird sie im weitläufigen Design der Flughäfen herausgehoben. Doch im Zeichen der neuen Kommunikationstechnologien, sagt Virilio, werde »nunmehr die Abfahrt abgeschafft zugunsten der ›Ankunft‹, d.h. der allgemeinen Ankunft der Daten«: »Die Schlüsselbegriffe des (Funk-, Video- oder digitalen) Signaleingangs bzw. -ausgangs verdrängen diejenigen Begriffe, die gewöhnlich mit der Fortbewegung von Menschen oder traditionellerweise in die Weite des Raumes verteilten Gegenständen verbunden waren« (Virilio 1996; 1999: 80-81). In der frühen Moderne war die Geschwindigkeit heroisch, eben weil sie die Kraft und die Anstrengung zeigte, die mit der Überwindung der Weiten des Raums verbunden waren. Die Endstationen (Terminals), Stein gewordene Erinnerung daran, dass die Entfernung besiegt wurde, waren dementsprechend markant und monumental. Dagegen kommt bei den neuen, »weichen«, unmittelbaren Technologien, den Technologien der »allgemeinen Ankunft der Daten«, sprich: bei Handys und PCs, anscheinend eine entgegengesetzte Ästhetik zum Zug, die mit entsprechenden Werten verbunden ist. Herausgestellt werden die Überflüssigkeit von Anstrengungen und die Allgegenwart von Präsenz, Verfügungsfreiheit und Miniaturisierung im PC-»Terminal«.9
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Diese Beobachtungen laufen auf die These hinaus, dass es eine weithin praktikable Unterscheidung gibt zwischen der kulturellen Imagination, die sich im Umfeld der »soliden« Moderne und der mechanischen Geschwindigkeit herausgebildet hat, und den kulturellen Vorstellungen, die sich mit der »flüchtigen« Moderne und der Unmittelbarkeit verbinden. Diese Unterscheidung beruht auf jener Art von allgemeinen kulturellen Annahmen, Dispositionen und ästhetischen Urteilen, die mit dem Aufstieg unterschiedlicher Technologien für die Organisation von Raum und Zeit zu korrelieren scheinen. Kausalitätsfragen sind dabei eher belanglos, denn das Ganze ist eher impressionistisch; was zählt, ist der Eindruck. Trotzdem wirkt diese Unterscheidung so suggestiv, dass es lohnt, der Idee der Unmittelbarkeit begrifflich ein wenig auf den Grund zu gehen. Möglich wird dies, wenn wir »Unmittelbarkeit« als kulturelles Prinzip stärker aus den historischen Verflechtungen mit der Geschwindigkeit lösen. Denn definitorisch hat »Unmittelbarkeit« erst in zweiter Linie mit Geschwindigkeit zu tun. Die allgemeinste Definition, die das Oxford English Dictionary für »immediate« gibt, lautet: »direkt wirksam, ohne Zwischenraum oder Mittlerinstanz«. Sie gilt auch für die Definition von »unmittelbar« im Deutschen.10 Diese Bedeutung lässt sich natürlich auch auf die Geschwindigkeit beziehen, im Sinne von »ohne Zeitverzug, sofort« (weil das Medium der Zeit nicht dazwischen tritt). »Unmittelbarkeit« bezieht sich aber auch auf die Überbrückung des Raumes (und damit auch auf große Teile des kulturellen Globalisierungseinflusses), im Sinne von »großer Nähe« (»nicht durch andere oder Anderes getrennt«). Die allgemeine Kernbedeutung lässt sich jedoch vom lateinischen immediatus herleiten: »ohne Mittler, unvermittelt«. »Unmittelbarkeit« – das Schließen des Zwischenraums, der Lücke – ist darum im allgemeinsten Sinne die Redundanz oder die Beseitigung von etwas dazwischen Liegendem. Dieses abstraktere, allgemeinere Prinzip lässt sich plausibel auf ein ganzes Spektrum zeitgenössischer kultureller Praktiken, Erfahrungen, Werte und Einstellungen anwenden. Etwa auf die Redundanz der auf Raum und Entfernung bezogenen Gesten im Zeichen der gelebten Erfahrung von Globalisierung: Denn Globalisierung bedeutet Nähe, Entterritorialisierung und die Durchdringung des Örtlichen durch Kräfte aus der Ferne. Oder nehmen wir das Versprechen der (virtuellen) Abschaffung des Übertragungsmediums bei der Kommunikation; es unterstreicht und fördert einen dominanten kulturellen Stil: »Fernseh-Unmittelbarkeit« und Transparenz als Werte bei der Medienproduktion; ununterbrochene Live-Berichte in den Nachrichten, und so weiter. In diesem Sinne – der ein tiefgründigeres Verständnis des ungehinderten, direkten Zugangs zur Realität einschließt – lässt sich auch die kulturelle Logik hinter Eingriffen wie Sehnerv-
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implantaten verstehen – Praktiken, hinter denen Virilio (1996; 1999: 82) Abgründigeres vermutet, nämlich die Kolonisierung des letzten verbliebenen Territoriums, »das Drama der Fusion von ›Biologie‹ und ›Technologie‹«. Die Abschaffung der Zeit – oder, genauer gesagt, die Abschaffung des Wartens – verweist uns vielleicht am deutlichsten auf all jene Kritiken der kulturellen Beschleunigung und einer allgemeinen Ungeduld, mit denen wir heutzutage bestens vertraut sind: auf Begriffe und Phrasen wie »sofortige Befriedigung« oder »Dreiminutenkultur« – am Beispiel von Schnellrestaurants, Rubbellos-Lotterien oder der Vorstellung, dass es unabdingbar zum beruflichen Erfolg gehöre, keine Zeit zu haben, ja sogar am Beispiel der Raserei auf den Straßen. Bemerkenswert ist jedoch, dass diese Kritiken sich jetzt nicht länger nur als Kritik an der Geschwindigkeit als solcher – und an der Beschleunigung der Kultur – auffassen lassen, sondern auch als Antworten auf die Abschaffung des Dazwischen, der Mitte. (Die Raserei auf den Straßen hat demnach nicht nur mit Geschwindigkeitssucht zu tun, sondern auch damit, dass andere Autofahrer als »Hindernisse« auf dem Weg zur Erreichung unmittelbarer Ziele empfunden werden – als etwas, das Unmittelbarkeit verhindert.) Angesichts dieser breiteren, allgemeineren Bedeutung von »Unmittelbarkeit« ist es meiner Meinung nach wichtig, jener ständigen Versuchung zu widerstehen, der Soziologen und Kulturanalytiker ausgesetzt sind: sich zu vorschnellen kritischen Urteilen hinreißen zu lassen.
Erst die Deutung, dann die Kritik Wenn Unmittelbarkeit ein wirklich originales Merkmal einer globalisierten, elektronisch vermittelten Kultur ist, dann sollte es uns nicht überraschen, dass wir bislang noch nicht über ein adäquates analytisches und kritisches Vokabular verfügen, um uns mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Bauman übertreibt kaum, wenn er sagt: »Die Ankunft der Unmittelbarkeit führt die menschliche Kultur und Ethik in unerforschtes, unvermessenes Gelände« (2000: 128). Gleichwohl liegt oft die Versuchung nahe, sich alter Landkarten zu bedienen, um den Weg zu finden: neue Erfahrungen und Werte mit älteren, vertrauteren zu vergleichen und dann das Neue unzureichend zu finden. So ist es verständlich, dass das Phänomen der Unmittelbarkeit bei Versuchen der kritischen Auseinandersetzung oft negativ gefasst wird: als Defizit, wenn nicht gar als kulturpathologisches Phänomen. Es gibt eine vertraute Form der Kulturkritik, die sich implizit auf die Idee stützt, dass, ganz bieder gesagt, »Geduld eine Tugend« sei. Dann
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käme die Idee vom Schließen der zeitlichen, wenn nicht gar existenziellen Lücke zwischen Wunsch und Wunschbefriedigung dem Verlust einer ganzen Dimension des kulturellen Lebens gleich, die sich traditionell großer Wertschätzung erfreut. Dazu gehören beispielsweise die komplexen kulturellen, ästhetischen und psychologischen Qualitäten der Vorfreude oder der Verzögerung – des »Lebens auf ein zukünftiges Ziel hin« –, die für frühere Perioden der Moderne so typisch waren. Oder die sozialethischen Werte der Zurückhaltung, zum Beispiel die Zähmung der stets impulsiven Konsumwünsche – vielleicht im Einklang mit einer »grünen« Tagesordnung. Möglicherweise geht es auch um eine eher subtile Idee, die wir bei Bauman und bei anderen Kritikern wie Castoriadis finden: dass durch das Forcieren von Unmittelbarkeit letztlich eine kulturelle Sensibilität bedroht wird, der lange Dauer als ein Wert erscheint – Dauer, Haltbarkeit, Langfristigkeit und der Vorrang des Ewigen gegenüber dem Unmittelbaren.11 Es handelt sich um echte, bedeutsame Bedenken und Sorgen, aber man kann sie natürlich auch übertreiben. Bauman bringt zum Beispiel einige vertraute kulturelle Ängste zum Ausdruck, wenn er behauptet: »Unmittelbarkeit bedeutet […] Erfüllung sofort und auf der Stelle – aber auch sofortige Erschöpfung und Nachlassen des Interesses. […] Die ›flüchtige‹ Moderne ist die Epoche des mangelnden Engagements, der Ungreifbarkeit, der leichten Flucht und der hoffnungslosen Jagd […]« (2000: 120). Eine Möglichkeit, diesem Abgleiten in Pauschalkritik entgegenzuwirken,12 besteht in einer angemessen historischen Betrachtungsweise sowie in einer Kontextualisierung der Wertsetzungen, die bei der Bewertung der erkannten Defizite im Hintergrund implizit wirksam sind. In unserem Zusammenhang wäre es demnach angebracht, »Geduld« als Wert genauer zu untersuchen. Denn Geduld ist kein absoluter, sondern ein relativer Wert, der nur in bestimmten Zusammenhängen als Tugend gelten kann. Geduld als »ruhiges Aushalten von Schmerzen, Härten und Verzögerungen« oder als »tolerante Ausdauer« ist im Grunde eine kulturelle Reaktion auf das Leid (das englische patience ist vom lateinischen patiens, »geduldig, leidend« herzuleiten). In dieser grundlegenden Bedeutung ist Geduld ein gutes Beispiel dafür, wie man aus einer Not eine Tugend macht: »Was man nicht kurieren kann, muss man aushalten.« Und so wird das geduldige, würdige Aushalten von Schmerz, Krankheit und Härten zur Tugend, zum Wert an sich. Es ist nicht schwer zu erkennen, warum ein solcher kultureller Wert angesichts des breiten Wohlstands in der Moderne an Attraktion verliert – in einer Zeit ständig zunehmender Erwartungen, dass sich eine immer größere Zahl von Wechselfällen des Lebens technisch lösen lasse. Heißt das nun, dass das kulturelle Prinzip der Unmittelbarkeit den Wert der Geduld obsolet gemacht hat? Wohl nicht ganz. Doch ist
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dieser Wert sicher marginalisiert worden. Denn es fällt schwer, die Idee des Aufschubs oder des Ertragens von Härten und Verlusten abstrakt zu vertreten, ohne bei einer etwas fragwürdigen Askese zu enden. Mehr noch, ein Appell an die Geduld lässt sich niemals ganz von dem ideologischen Verdacht befreien, dass es sich letztlich nur um einen – religiös untermauerten – Rat der Mächtigen an die Untergebenen handele, ihr Los zu akzeptieren und ertragen. Das Problem besteht natürlich darin, dass mit der Marginalisierung der Geduld als Wert in diesem ideologischen Sinn auch eine Marginalisierung von damit verbundenen Werten einhergehen kann: Toleranz in einem allgemeineren Sinn, Nachsicht, Durchhaltevermögen und Respekt vor dem Langfristigen. Denn Werte sind oft nicht sosehr klar umrissene, präzise moralisch-kulturelle Instrumente als vielmehr Cluster von – gelegentlich mehrdeutigen und widersprüchlichen – moralischen Verknüpfungen im Umfeld allgemeinerer kultureller Prinzipien. Das Prinzip der Unmittelbarkeit konfrontiert uns also mit neuen kulturell-ethischen Problemen. Die Reaktion darauf kann jedoch nicht darin bestehen, sich an die Werte einer vergangenen Ära zu klammern und zu erwarten, man könnte sie unverändert und in alter Klarheit aus dem einen Kontext in einen ganz anderen verpflanzen. Darum sollten wir in unserer kritischen Disposition einerseits stets die Gefahr vermeiden, in einen nicht zu vertretenden Kulturkonservatismus abzugleiten. Das bedeutet jedoch andererseits nicht, dass wir mit der schlimmen Aussicht auf einen völligen Relativismus der Werte konfrontiert wären. Es geht vielmehr um die Erkenntnis, dass Werte in die Zusammenhänge diverser Beziehungsgefüge eingebettet sind, die sich zwischen technologischem Wandel und kulturellen Erfahrungen historisch herausgebildet haben. Das heißt nichts anderes als dass die Bedeutungen, welche die Menschen mit der Integration neuer Technologien in ihren Alltag verbinden, wesentlich gründlicher interpretiert und besser verstanden werden müssen. Eine solche Interpretation könnte durchaus enthüllen, dass unterhalb der von Bauman beschriebenen atemlosen Jagd nach der Euphorie, die letztlich eher einer Sisyphusarbeit ähnelt, ganz andersartige Bedeutungen liegen: beispielsweise der unvollkommen ausgedrückte existenzielle Wunsch nach größerer menschlicher Verbundenheit, nach Erfüllung und einer Fülle sozialer Erfahrungen – auch wenn dieser Wunsch vielleicht unter einer Kultur des besitzergreifenden Individualismus verschüttet ist. Solches kann man aus den häufigen Berichten der Benutzer »unmittelbarer« Technologien, etwa der Handy-Benutzer, herauslesen, die sagen, sie müssten ständig mit anderen »in Verbindung« sein und bleiben. Solche Erfahrungsberichte können wir entweder in der eben skizzierten Weise verstehen oder aber pessimistischer sehen und als zwanghafte Verfolgung von (in beiderlei
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Sinn) endlosen sozialen Stimuli deuten. Hauptsache, man hat zuerst eine korrekte, schlüssige Interpretation erarbeitet, bevor man zur umfassenden Kritik ausholt. Die Werte, die wir vermissen, und die moralischen Dispositionen, die wir möglicherweise fördern wollen, müssen mit kulturhermeneutischer Sensibilität genau herausgefunden und bestimmt werden.
Zusammenfassung Bei der vorliegenden Erörterung von Unmittelbarkeit samt einigen ihrer kulturell-ästhetischen und moralischen Implikationen handelt es sich natürlich nur um eine recht grobe Skizze; alle möglichen Fragen sind offen geblieben oder nicht einmal gestellt worden. Mein Ziel war es lediglich, die Idee der Unmittelbarkeit als ein Beispiel vorzustellen, als eines jener kulturellen Prinzipien, wie sie im Schmelztiegel der späten Moderne zu entstehen scheinen – aus der komplexen Fusion von Wandlungen im Bereich der Kommunikationstechnologien mit Aspekten des Warenkapitalismus und zugrunde liegenden Verschiebungen in der sozialen Organisation von Raum und Zeit. Obwohl es sich um ein (potenziell) globales Phänomen handelt, ist klar, dass ein umfassendes kulturell-imaginäres Prinzip wie Unmittelbarkeit sich in der konventionellen Sprache hegemonialen Denkens, des Kulturimperialismus, der kulturellen Homogenisierung, nicht angemessen erfassen lässt. Bei der kritischen Bewältigung des Themas hilft es kaum, wenn man Unmittelbarkeit als ursprüngliches Merkmal irgendeiner Nationalkultur zu fassen versucht – auch nicht, wenn man den Wunsch nach Unmittelbarkeit als speziell »westliches« Phänomen betrachtet. Unmittelbarkeit scheint in der Tat ein charakteristisches Merkmal einer generalisierten globalen Moderne zu sein. Aus unmittelbar einleuchtenden Gründen ist Unmittelbarkeit viel häufiger ein Merkmal wohlhabender, informationsreicher Gesellschaften, aber der springende Punkt ist, dass dieser Umstand nicht wesentlich zum Verständnis des Gesamtphänomens beiträgt. Auf ähnliche Weise widersetzt sich Unmittelbarkeit anscheinend auch einer fruchtbaren Analyse, wenn die Begrifflichkeit eines umstandslosen politisch-ökonomischen Reduktionismus zugrunde gelegt wird. Der Gedanke, dass die Kultur der Unmittelbarkeit lediglich ein Epiphänomen der Beschleunigung des Kapitalismus sei (der immer größeren Umlaufgeschwindigkeit, wie sie etwa durch Technologien für einen ununterbrochenen, blitzschnellen Handel auf dem Weltmarkt ermöglicht wird), ist verführerisch, aber letztlich trügerisch. Zweifellos gibt es bedeutsame Verbindungen zwischen der Dynamik des Kapitalismus und Aspekten einer generellen Beschleunigung
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kultureller Erfahrungen – ein offenkundiges Beispiel ist der Anfangsimpuls für die Entwicklung computergestützter Kommunikationstechnologien (CMC), bei denen die Sammlung von Nachrichten eher der Information über und für das Marktgeschehen diente als der Grundversorgung der Allgemeinheit mit Nachrichten. Wenn man jedoch in den engen Grenzen dieser reduktiven Argumentationsweise verharrt, entgehen einem mit Sicherheit außerordentlich wichtige Aspekte der kulturellen Erfahrungswelt, die, kritisch gesehen, mit dem technologischen Wandel verbunden sind, sich aber nicht einfach einer Konsumkultur zuordnen lassen und die durch den ökonomischen Gesamtkontext des Kapitalismus auch nicht irgendwie entscheidend verändert werden. Es sind aber genau diese Aspekte der kulturellen Erfahrung – die Allgegenwart des Ankommens, Eingehens und Empfangens, die abnehmende Bedeutung der Zwischeninstanzen und Vermittlungsprozesse, der damit zusammenhängende Verfall von Werten wie Geduld und Aufschub –, die hervorzuheben ich mich bemüht habe. Mir liegt vor allem daran, allzu leichte Lösungen für das Rätsel der Unmittelbarkeit zu vermeiden. Zeit mag ja, wie es so schön heißt, Geld sein; aber Geld ist keinesfalls der Schlüssel zur Zeit. Am Anfang dieses Beitrags stand ein Ausdruck des Unbehagens, vielleicht auch der Ungeduld, mit der allzu geläufigen Anwendung etablierter Begriffs- und Denkstrukturen und allzu vertrauter kritischer Debatten bei der Interpretation von Globalisierung. Das ist natürlich leicht gesagt – genauso wie es leicht ist, mit großer Geste auf das kulturell zerstörerische Potenzial von Globalisierungsphänomenen hinzuweisen. Schwerer ist es da schon, nüchterne, überzeugende kulturelle Analysen zu erstellen, ohne gleich wieder bei vorhandenen Denkstrukturen Unterstützung und Zuflucht zu suchen, von denen wir wissen, dass sie dieser Aufgabe nicht gewachsen sind. Noch wesentlich schwieriger ist es schließlich, bei der Untersuchung kultureller Phänomene die kritische Imagination zu erweitern – gefragt ist dann das (anfangs teilweise intuitive) Gespür dafür, was wichtig und bedeutsam ist, welche Verbindungen zu ziehen sind, welche Bedeutungen den Erfahrungen zugeschrieben werden können und welche neuen moralischen und politischen Themen im Wust der Daten (oder, besser gesagt, des Erfassten), den die Globalisierungsprozesse der Moderne unablässig produzieren, neu auftauchen.13 Die von mir vorgeschlagene Reaktion wäre eine Rückkehr zum Primat der Interpretation. Wer Gesellschaft und Kultur analysiert, muss zuallererst ein guter, unvoreingenommener Leser sein und gegen die Einengungen vorgefasster Urteile ankämpfen, um – wenigstens eingangs – den Prozessen, die sich vor unser aller Augen entfalten, seine theoretisch ungebundene Aufmerksamkeit widmen zu können. Wenn wir in der Lage sind, zunächst dies zu tun, können wir
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anschließend angemessenen Gebrauch von den gedanklichen, theoretischen sowie politischen und moralischen Ressourcen machen, die uns bereits zur Verfügung stehen – ohne diesen zu gestatten, den Diskurs vorab zu determinieren oder die komplexen, verwirrenden Dimensionen des Wandels, mit denen wir in zunehmendem Maße konfrontiert sind, in falsche Konstellationen zu bringen.
Anmerkungen 1 Es geht hier nicht so sehr um die Berechtigung oder Fehlerhaftigkeit von Begriffen und Thesen wie »Kulturimperialismus«, »McDonaldisierung«, »Verwestlichung«, »Amerikanisierung« oder »globale Homogenisierung«, sondern um die Tendenz, den umfassenden Prozess der Globalisierung allein durch solche Brillen zu betrachten. Kritisiert werden derartige Tendenzen u.a. von Beck 1997, Robertson 1992, Thompson 1995 und Tomlinson 1999. 2 Tomlinsons Konzept der »kulturell-imaginären« Bedeutung von Unmittelbarkeit ist Castoriadis’ Schlüsselbegriff der »gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen« (1984: 233 ff., 559 ff.) stark verpflichtet. »Das Imaginäre, von dem ich spreche, ist kein Bild von etwas. Es ist unaufhörliche und (gesellschaftlich-geschichtlich und psychisch) wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalten/Formen/Bildern, die jeder Rede von ›etwas‹ zugrundeliegen« (1984: 12). A.d.Ü. 3 Neuerdings sind jedoch Zweifel am von der Industrie vorhergesagten reibungslosen Übergang zur so genannten »Technologie der dritten Generation« aufgekommen, die mittels Breitbandtechnologie Internet-Verbindungen, Video-Überspielungen und ähnliches erleichtern und beschleunigen soll. Da sich der europäische Markt für »konventionelle« Handys zur Stimm- und Textübertragung dem Sättigungspunkt nähert, ergeben sich interessante Fragen zum Urteilsund Unterscheidungsvermögen der Verbraucher bezüglich der vermeintlichen Kommunikations-»Bedürfnisse«. Die wirtschaftlichen Begleitumstände möglicher Fehleinschätzungen zeigten sich bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2001: in endlosen Verlustmeldungen, Gewinnwarnungen im zweiten oder dritten Quartal des Geschäftsjahrs, Personaleinsparungen, Fabrikschließungen und panikartigen Management-Revirements – und das alles bei vielen der größten in diesem Sektor aktiven Firmen: Cisco Systems, Motorola, Ericsson, Philips, Yahoo, BT, Siemens, Alcatel. 4 Vgl. dazu Albrow (1996), der eine auf differenzierten Epochenanalysen basierende Globalisierungstheorie vorlegt, und Tomlinson (1999: 32 ff.).
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5 In den 1930er-Jahren wurde die GPO-Filmabteilung unter der Leitung von John Grierson zum Sammelbecken linker Künstler und Intellektueller. Beschäftigt waren u.a. W.H. Auden, Benjamin Britten, der Maler William Coldstream und die Regisseure Basil Wright, Alberto Cavalcanti und Humphrey Jennings (einer der Mitbegründer der Bewegung »Mass Observation«). 6 »T.P.O.« steht für »Travelling Post Office« (Reisepostamt). Das erste Travelling Post Office, ein umgebauter Pferdetransportwagen, der dazu benutzt wurde, die Post während der Zugfahrt zu sortieren, wurde 1838 bei der Great Junction Railway eingesetzt. 1852 wurde das mechanische Austauschsystem für Postsäcke eingeführt, das im britischen Eisenbahnsystem mit geringfügigen Änderungen bis 1971 in Betrieb war. Obgleich die verbesserten Beschleunigungs- und Bremsfähigkeiten moderner Lokomotiven und andere Weiterentwicklungen in der Praxis der Postauslieferung die mechanischen Austauschvorrichtungen obsolet machten, arbeitet das TPO weiterhin als mobile Postsortierstelle. Vgl. Blakemore 1990. Das »T.P.O. Up Special«, der Nachtpostzug in Gegenrichtung, wurde 1963 weltberühmt, als er von den Posträubern um Ronald Biggs ausgeraubt wurde. 7 Es ist wahrscheinlich voreilig, sich voller Sorgen (oder Vorfreude) ein solches allgemeines wirtschaftliches Plateau vorzustellen, wenn man etwa bedenkt, welch beträchtliches Ausmaß an kapitalistischen Expansionsmöglichkeiten in Anbetracht der stetig zunehmenden Spanne aktiven menschlichen Lebens der Marktsektor für Gesundheit, Fitness und Pflege bietet. Gleichwohl hätte es schwerwiegende Auswirkungen auf die Vertrauensstrukturen der gesamten Weltwirtschaft, wenn ein solcher Gleichgewichtszustand selbst in wenigen Marktsektoren auch nur annähernd erreicht würde. 8 Der Gedanke, dass Bahnhöfe signifikante Faktoren bei der gesellschaftlichen Neubestimmung des Raumes seien, war im 19. Jahrhundert Bestandteil der kulturellen Debatte. Der britische Kulturkritiker John Ruskin etwa, ein berühmter Eisenbahnverächter, beschrieb die Bahnreisenden als »menschliche Pakete, die sich per Eisenbahn selber an ihren Bestimmungsort schicken, an dem sie so ankommen, wie sie [abgefahren sind], unberührt vom durchquerten Raum« (Schivelbusch 1977: 40). 9 Die Frage nach der Bedeutung der Miniaturisierung in der neuen Kommunikationstechnologie ist insofern interessant, als nicht restlos klar ist, ob es hier nur um rein funktionale Aspekte geht, die natürlich Auswirkungen auf Bequemlichkeit und Mobilität haben, oder ob der mit der Miniaturisierung verbundene ästhetische Wert mit einer sich wandelnden kulturellen Konzeption bezüglich der Schnittstelle von Körper und Maschine zu tun hat. Körperliche Modifizierungen (wie Sehnervimplantate) scheinen mir jedoch keine unvermeidli-
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chen Erweiterungen des von Virilio (1996) so bezeichneten »Gesetzes der Nähe« zu sein, eben weil die ästhetische Befriedigung des Besitzes technischer Güter – ihre unabhängige Existenz, ihre »Dinglichkeit« – verloren ginge, wenn diese Güter buchstäblich in-korporiert würden. 10 Im Deutschen Wörterbuch von Gerhard Wahrig (1980) heißt es unter »unmittelbar«: »ohne örtlichen oder zeitlichen Zwischenraum, sofort, gleich; ohne Erklärung, ohne Umweg über das Denken«. A.d.Ü. 11 Vgl. besonders den Schlussteil von Castoriadis’ Essay »Reflections on ›Rationality‹ and ›Development‹« in seinem Buch Philosophy, Politics, Autonomy (1991). 12 Natürlich unterstelle ich Bauman nichts derartig Krasses. Ich beobachte nur, dass bei der Analyse kultureller Trends das Abgleiten in Pauschalkritik eine ständige Gefahr ist. 13 Die Unterscheidung von data, »Gegebenem«, und capta, »Genommenem, Erfasstem« – weil das Relevante dem Strom der Erfahrungen tatsächlich eher entnommen wird, als dass es darin vorgegeben wäre –, stammt von Ronald D. Laing (1967; 1971: 54-55). In unserem Zusammenhang unterstreicht diese Unterscheidung die unvermeidliche Selektivität sozialer Analysen.
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II. Nationale Fallstudien
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Die Ausnahmestellung der Supermacht: Globalisierung auf Amerikanisch 1 Jan Nederveen Pieterse
»Wir befinden uns wegen unserer einzigartigen Vorteile und Stärken in einer einzigartigen Position – aufgrund des Charakters unseres Volkes, der Stärke unserer Ideale, der Macht unseres Militärs und der enormen Wirtschaftskraft, die all dies trägt.« (US-Vizepräsident Dick Cheney in einer Rede vor dem Council on Foreign Relations im Februar 2002 [Gordon 2002]) »Die heutige Zeit wird von amerikanischer Macht, amerikanischer Kultur, vom amerikanischen Dollar und von der amerikanischen Navy beherrscht.« (Friedman 1999; 2000: xix) In den internationalen Beziehungen neigen die Vereinigten Staaten zunehmend zum Unilateralismus. Die internationale Entwicklungshilfepolitik wird durch den »Washingtoner Konsens« behindert. Die USA weigern sich, wichtige Umweltschutzprotokolle zu unterzeichnen. Bis vor kurzem lagen sie mit ihren Beitragszahlungen an die Vereinten Nationen permanent im Rückstand. Bei verschiedenen Gelegenheiten (etwa in Nicaragua und Panama) haben sich die Vereinigten Staaten nicht an die Standards des Völkerrechts gehalten, und der Internationale Gerichtshof wird einfach ignoriert, wenn dessen Urteile gegen die Vereinigten Staaten ausfallen. Die amerikanische Politik trägt dazu bei, dass sich im Nahostkonflikt keine Lösung abzeichnet. Kurz, man braucht nur irgendein globales Problem heranzuziehen, immer sind die USA Hauptakteur, aber auch Nadelöhr. Darum stellt sich die Frage, ob all das nur mit den letzten amerikanischen Regierungen zusammenhängt oder ob hier eine grundlegendere Dynamik am Werk ist. Wenn wir globale Probleme und damit auch die Notwendigkeit
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globaler Reformen ernst nehmen (etwa dafür Sorge zu tragen, dass sich die Globalisierung auch zum Nutzen der Öffentlichkeit auswirkt oder dass das internationale Finanzwesen geregelt wird), und wenn wir uns überdies den Fragen der politischen Durchsetzbarkeit widmen, landen wir unweigerlich vor der Haustür der USA.2 Fortschrittliche gesellschaftliche Kräfte und internationale Einrichtungen auf der ganzen Welt machen Vorschläge für globale Reformen; die Liste solcher Reformvorschläge wird immer länger, doch ohne die Kooperation der Vereinigten Staaten haben sie kaum Aussicht, verwirklicht zu werden. Die Führungsmacht der Welt erweist sich als globaler Engpass, als Nadelöhr. So gesehen werden also amerikanische Verhältnisse und Probleme auch zu Weltproblemen. Die These von Amerikas Ausnahmestellung, wie sie in der amerikanischen Soziologie erörtert wird, geht davon aus, dass es sich bei den Vereinigten Staaten von Amerika um einen Sonderfall der Geschichte handele. Wenn wir diese Behauptung ernst nehmen, was folgt daraus für die Führungsrolle der USA? Was bedeutet es, wenn ein Land, das sich selbst als historischen Ausnahmefall ansieht, der Welt Regeln verordnen will? Zunächst sollen im Folgenden die Argumente für die Ausnahmestellung Amerikas unter die Lupe genommen werden, und dann wollen wir uns fragen, welche Konsequenzen in der internationalen Arena sich daraus ergeben. Das Ganze soll natürlich keine Wiederauflage des Antiamerikanismus sein; das würde uns um Jahrzehnte zurückwerfen und auf allzu konservatives Terrain führen. Wir können die amerikanische Gesellschaft für ihre vielen Leistungen und Beiträge durchaus bewundern – etwa ihre Mischkultur als Immigrantengesellschaft, die Vitalität ihrer Populärkultur, ihre technologischen und wirtschaftlichen Leistungen – und trotzdem besorgt sein über die Art und Weise, wie sich dieses Land gegenüber dem Rest der Welt verhält. Ziel des vorliegenden Beitrags ist ein klinischer Blick auf die amerikanischen Verhältnisse und deren Folgen für die globalen Verhältnisse. Die These, die im Folgenden untersucht werden soll, lautet, dass der Bezugsrahmen der amerikanischen Sonderstellung und die daraus abgeleiteten Ansprüche ein wichtiger Faktor für das Verständnis der gegenwärtigen Globalisierungspolitik sind. Daraus folgt auch, dass Ausschläge und Veränderungen des politischen Barometers in den USA darüber mitbestimmen, welche Optionen für globale Veränderungen überhaupt gegeben sind. Der erste Teil des hier skizzierten Vorhabens ist relativ leicht, wenigstens in dem Sinne, dass zum Thema der amerikanischen Ausnahmestellung reichlich Literatur, überwiegend amerikanischer Herkunft, vorhanden ist und dass uns die Schlüsselthemen vertraut sind. Die Schwierigkeit besteht in der Vermeidung des Fehlers, amerikani-
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sche Ideologien für Realitäten zu halten, und in der Vermeidung der auf Unkenntnis beruhenden Impressionismus-Falle (jeder meint, die USA zu »kennen«, nur weil er sich vom großen kulturellen Radius des Landes täuschen lässt) – sowie in der Notwendigkeit, sich trotz einer immensen Datenfülle knapp zu fassen. Die Literatur über Amerika, das größte unter den hochentwickelten Ländern der Welt, ist sehr umfangreich und vielstimmig. Darum erfüllt der erste Teil meines Essays die Funktion eines in kurze Vignetten gegliederten Referats. Der zweite untersucht die internationalen Auswirkungen des amerikanischen Sonderwegs, die viel seltener erörtert werden. Wer darüber etwas lesen will, muss sich eher der Spezialliteratur über internationale Beziehungen und internationale politische Ökonomie zuwenden (wozu auch Literatur über die Aktivitäten transnationaler Konzerne, über die Problematik des »Washingtoner Konsenses« und über militärische Fragen gehört). Das Neue am vorliegenden Essay besteht darin, die beiden Themenkomplexe, Amerikas Ausnahmestellung und deren internationale Auswirkungen, zusammenzuführen. Weil es sich um ein umfangreiches Gebiet handelt und die vorhandene Literatur ebenfalls umfangreich ist, muss die Behandlung pointiert und exemplarisch erfolgen. Im Schlussteil wird der amerikanische Sonderweg als Selbstkarikatur kritisiert. Das Augenmerk gilt dort ferner möglichen Gegenentwürfen.
Amerikas Ausnahmestellung Das Profil der amerikanischen Ausnahmestellung ist bekannt. Seine Ursprünge liegen in »der Verschmelzung der republikanischen Tradition mit der millennarischen vom tausendjährigen Reich Christi, aus der eine Ideologie von Amerikas Ausnahmestellung hervorging, die im Schrifttum zur amerikanischen Geschichte eine wichtige Rolle spielt« (Tyrell 1991: 1031). Eine andere vertraute Argumentationslinie folgt Werner Sombarts Frage aus dem Jahre 1906: »Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?« Die These von Amerikas Sonderstellung wird auch in den USA selbst kontrovers diskutiert. So heißt es beispielsweise, dass »wir aufgrund der amerikanischen Heterogenität nicht nur ein einziges Muster, eine einzige Form der Ausnahmestellung kennen« (Kammen 1993: 3; vgl. Appleby 1992). Trotzdem wird die These weiterhin von zahlreichen unterschiedlichen und einflussreichen amerikanischen Denkern unterstützt: Politologen (Lipset 1996), Historikern (Tyrell 1991) und Forschern, die sich mit der Arbeitswelt (z.B. Davis 1986) oder den Rassenbeziehungen (Frederickson 2001, Jones 1998) beschäftigen. Dass Amerika kein ganz normales Land sei, haben auch viele ausländische Beobachter, oft
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voller Bewunderung, signalisiert – von de Tocqueville bis Gramsci, Dahrendorf und Baudrillard. Es ist sicher nicht ganz einfach, eine klare Trennungslinie zwischen der Tatsache der amerikanischen Ausnahmestellung und der ideologischen Rechtfertigung dieser Tatsache zu ziehen, doch unter den Prämissen des sozialen Konstruktivismus ergibt die Annahme, dass beide Aspekte Folgen für die internationale Gemeinschaft haben, auf jeden Fall Sinn. Die Ideologie von der Sonderstellung Amerikas kann genauso signifikant sein wie die tatsächlichen Abweichungen von historischen Mustern. Die Bandbreite unterschiedlicher Meinungen zwischen Unterstützung und Ablehnung des amerikanischen Sonderwegs ist, besonders unter amerikanischen Historikern, recht groß, während die Elemente von Amerikas historischer Sonderstellung relativ klar sind. Faktische und ideologische Komponenten wie die Laisser-faire-Ideologie oder die große Macht der Wirtschaft im Lande sind im Lauf der Geschichte ziemlich konstant geblieben oder immer wieder gestärkt worden. »Die lange Wohlstandsphase nach dem Krieg förderte erneut die klassischen anti-planwirtschaftlichen, marktorientierten Werte Amerikas« (Lipset 1996: 98), die auch unter der Clinton-Administration weiter gestärkt wurden. Und was die Organisation der Abeiterklasse betrifft, so sind ein anhaltender Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften sowie eine Zunahme der Feindseligkeit der Firmen gegenüber organisierten Arbeitnehmerinteressen, und illegaler Firmentaktiken gegenüber den Gewerkschaften zu verzeichnen (Kammen 1993, Klein 2000). Es geht mir in diesem Essay nicht um eine Kritik oder Problematisierung des amerikanischen Sonderweges per se; der Schwerpunkt liegt vielmehr auf den internationalen Weiterungen und Folgen dieses Sonderwegs. Bis zu einem gewissen Grade ist die Sonderstellung der Vereinigten Staaten aus fundamentalen Gegebenheiten herzuleiten: Es handelt sich um einen riesigen, rohstoffeichen Kontinent, auf dessen Territorium ausländische Mächte niemals Krieg geführt haben; die Geschichte wurde durch Siedler-Landnahme bestimmt und darum ruht die Moderne auf nur schwachen Fundamenten; es handelt sich um eine Nation aus Immigranten, einen riesigen Binnenmarkt, die viertgrößte Staatsbevölkerung der Welt und die größte eines hochentwickelten Landes. Diese Aufzählung dient zugleich als Warnung, dass der amerikanische Sonderweg Gegebenheiten und Elementardaten reflektiert, die für andere nicht gelten, sodass sich eine einfache Nachahmung verbietet. Schon de Tocqueville wurde von einem Bewohner Bostons gewarnt, dass »jene, die uns gerne nachahmen wollen, bedenken sollten, dass es für unsere Geschichte keine Präzedenzfälle gibt« (zitiert bei Kammen 1993: 7).
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Die lange, weiterhin andauernde Phase amerikanischer Hegemonie hat vielen Gesellschaften auf der ganzen Welt ihren Stempel aufgeprägt. Die gegenwärtige Globalisierungswelle ist dabei nur die neueste Fortsetzung, und die fortlaufenden Wandlungen, die sich unter diesen Auspizien vollziehen, sind – wie zum Beispiel der technologische Wandel, die Informationsgesellschaft, die Flexibilisierung und Individualisierung – teilweise struktureller Natur, teilweise (unter anderem) amerikanischem Einfluss geschuldet. Soweit also der amerikanische Sonderweg die globalen Lebens- und Wirtschaftbedingungen prägt, werden andere Länder durch Verhältnisse mitbestimmt, die auf sie gar nicht übertragbar sind. Darum bedeutet die Untersuchung der Frage, welche Art von Globalisierung die amerikanische Supermacht hervorbringt, eben auch, dass zunächst die US-Gesellschaft kritisch untersucht werden muss. In der Literatur finden sich etliche Hinweise auf Sonderwege und Ausnahmestellungen anderer Länder – etwa auf den deutschen Sonderweg, die japanische Einzigartigkeit (Nihonjiron) oder Sonderbedingungen in Großbritannien, Frankreich, Skandinavien, Europa, Ostasien, China, Australien, und so weiter. In den meisten derartigen Fällen geht es aber um Einzelphänomene (etwa die Stellung der englischen Gewerkschaften oder den Dirigismus des französischen Zentralstaats), nicht um mehrdimensionale Phänomene; meistens haben diese Sonderwege auch nicht die Funktion einer populären Ideologie (außer in Japan, und bis vor kurzem auch in Deutschland). Überdies sind all diese Länder keine Supermächte, und das ist am wichtigsten. Jedes Land würde seltsam aussehen, wenn seine historischen Idiosynkrasien im Weltmaßstab verstärkt und vergröbert würden. Hier liegt in unserem Kontext das wahre Problem, nicht in der amerikanischen Ausnahmestellung als solcher. Die wichtigsten Elemente des amerikanischen Sonderweges sind das freie Unternehmertum, die Laisser-faire-Ideologie, die starke Stellung der Wirtschaft gegenüber der Regierung und dem politischen System, die Ideologie des Amerikanismus und die soziale Ungleichheit. Diesem vertrauten Profil füge ich noch Beobachtungen über den Charakter der amerikanischen Moderne und über die Rolle des Militärs hinzu.
Freie kapitalistische Marktwirtschaft Laisser-faire im Zusammenspiel mit einem schwachen Staat und schwachen Gewerkschaften – das ist das Fundament der amerikanischen Ausnahmestellung. Doch mit Ausnahme des letztgenannten
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sind diese Faktoren im Lichte der Tatsachen nicht so eindeutig wie es scheint. Die US-amerikanische Bundesregierung verhält sich im Innern zwar wie ein Minimalstaat, ist zugleich aber, wenn es um Verteidigung und Sicherheit geht, stark und regulierungsfreudig. Die USA sind »das einzige industrialisierte Land, das keine signifikante sozialistische Bewegung oder Arbeiterpartei hat« (Lipset 1996: 33). Die Vereinigten Staaten haben niedrigere Steuersätze und wesentlich weniger Industrien in Staatsbesitz als andere Industrieländer (Lipset 1996: 38-39). Und doch ist »gemischte Wirtschaft« oder »eingebetteter Liberalismus« (embedded liberalism, wie es John Ruggie nennt) eine wesentlich zutreffendere Beschreibung der US-Wirtschaftsverfassung als Laisser-faire. Schon immer war in den USA Laisser-faire eingebettet in und abgemildert durch Regierungsinterventionen, durch den Fordismus, durch Parteiorganisationen, den New Deal, militärischen Keynesianismus, Exportkredite, lokale Investitionsanreize, den »Krieg gegen die Armut« und Aktionen zur Aufhebung der Benachteiligung von Minderheiten (affirmative action). Anders als die Maßnahmen der europäischen Sozialdemokratie waren die des amerikanischen Fordismus stärker an Arbeitsproduktivität und Löhnen ausgerichtet als an Arbeiterrechten, mehr an Unternehmensstrategien als an der Regierungspolitik. Präsident Johnsons Entwurf einer »Großen Gesellschaft« (Great Society) ging an den Lasten des Vietnamkriegs zugrunde (Siegel 1984). In den USA gibt es noch Reste eines Sozialstaates, zunehmend jedoch die Institution einer Sozialhilfe mit Arbeitspflicht (workfare; Peck 1998). Trotzdem kann man noch von einem Sozialstaat sprechen. Die Umsetzung einer Laisser-faire-Politik in den USA erfolgte weder kontinuierlich – es gab viel Zickzack, viele Höhen und Tiefen – noch vollständig: In manchen Wirtschaftssektoren, vor allem in der Rüstungsindustrie, sind Regierungsinterventionen seit eh und je gang und gäbe. Auch regiert auf diesem Feld eher der Opportunismus: Abweichungen von hehren Prinzipien gibt es immer dann, wenn sie politisch angezeigt erscheinen. Die gegenwärtige Deregulierung der Wirtschaft hat seit den 1980er-Jahren stark zugenommen. Die Reagan-Ära mit ihrem Monetarismus, ihrer Betonung der Angebotsseite in der Wirtschaftspolitik, ihren Steuersenkungen und ihrer Zurückführung des Staatsanteils trug dazu bei, dass auf der ganzen Welt ein Trend zur Liberalisierung und Deregulierung gefördert wurde. Die Enron-Krise könnte sich allerdings als Wendepunkt dieser Entwicklung erweisen. Denn das kommt dabei heraus, wenn Deregulierung konsequent zum Ende geführt wird: Auf den Kasino-Kapitalismus folgt der Betrüger-Kapitalismus. Der kritische Punkt ist erreicht, wenn Deregulierung und zügelloser Kapitalismus (no-nonsense
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capitalism) die ganze US-Wirtschaft in die Tiefe reißen. Der unverblümte Kapitalismus hat nach und nach alle Sicherungen beiseite geräumt oder unwirksam gemacht: die Rechenschaftspflicht, das Transparenzgebot, die gesetzliche Schadenersatzpflicht bei Untreue und wirtschaftlichem Machtmissbrauch von Firmen, Wirtschaftsprüfern und Marktanalysten. Dadurch wurden die Investoren allerdings so verwundbar, dass am Ende der ganze Aktienmarkt ins Trudeln geriet. Während in der Praxis das unbeschränkt freie Unternehmertum nur zeitweise und teilweise galt, blieb die Ideologie der freien kapitalistischen Marktwirtschaft praktisch konstant. Die Schlüsselelemente des US-Kapitalismus – freies Unternehmertum, minimale Einmischung des Staates, ein hohes Maß an individueller Bereicherung – sind, wie Michel Albert in Capitalism Against Capitalism darlegt (1993), nach internationalen und westlichen Maßstäben anomal; noch anomaler als die amerikanische Praxis ist allerdings die amerikanische Laisser-faire-Ideologie. Und doch ist sie als internationale Pose beständig aufrechterhalten worden: »Kaum jemand hat den Widerspruch zwischen der im [amerikanischen] Inland praktizierten gemischten Wirtschaftsform und der globalen Propagierung einer Laisser-faire-Wirtschaft zugegeben oder sich damit befasst« (Kuttner 1991: 10-11). Wie Paul Krugman (2001) zu Recht feststellt, scheinen »die Politiker in Washington und die Banker in New York anderen Ländern jene Art radikaler Wirtschaftpolitik vorzuschreiben, die sie selbst in den USA niemals tolerieren würden. […] Mein Rat wäre: Hört nicht länger auf die Männer in den Anzügen. Macht es so, wie wir es in der Praxis handhaben, nicht so, wie wir sagen.«
Politischer Konservatismus »Die Regierung ist die beste, die am wenigsten regiert.« (Thomas Jefferson) »Weniger Regierung ist bessere Regierung.« (Ronald Reagan) »Das Zeitalter des Big Government ist vorbei.« (Bill Clinton, 1996) Laut Seymour Martin Lipset haben die dauerhaften Werte, die Amerikas Ausnahmerolle begründen – insbesondere Freiheit, Egalitarismus, Individualismus, Populismus und Laisser-faire –, die Vereinigten Staaten zur »am stärksten anti-planwirtschaftlich eingestellten, am stärksten an Recht und Gesetz orientierten Nation« gemacht. Die USA sind »das klassischste liberale Gemeinwesen« und »die große konser-
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vative Gesellschaft« (1996: 35). Während man häufig auf die Bezeichnung »Nachtwächterstaat« trifft, geht Nettl (1968) noch einen Schritt weiter und spricht von einer »relativen Staatslosigkeit« der USA als einer Gesellschaft, in der allein das Gesetz der Souverän ist (Lipset 1996: 40). Daraus resultiert, dass, was in den meisten anderen Ländern als rechtsradikal gelten würde, in den Vereinigten Staaten die politische Mitte bildet. Zu den vertrauten Merkmalen des amerikanischen politischen Systems gehören der Konstitutionalismus, das System der wechselseitigen Kontrolle und Machtverteilung zwischen Exekutive und Legislative (checks and balances) sowie das Präsidialsystem. Der Konstitutionalismus nimmt immer mehr die Form eines auf das Recht fixierten Gemeinwesens an, und dies ist die Grundlage für eine außerordentlich prozessfreudige Gesellschaft.3 Man kann die USA als »legal-rationale Kultur« beschreiben: »In keiner anderen Industriegesellschaft ist die gesetzliche Regelung so umfassend oder zwingend wie in den Vereinigten Staaten« (Haley bei Lipset 1996: 228). Die 800.000 amerikanischen Anwälte bilden ein Drittel der Gesamtzahl aller auf der ganzen Welt praktizierenden Anwälte (Lipset 1996: 227). Die amerikanische Republik wurde als schwacher Staat mit Gewaltenteilung entworfen. »Der chronische Antagonismus dem Staat gegenüber rührt noch aus der Amerikanischen Revolution her« (Lipset 1996: 39). Die Wurzeln liegen im Kampf der amerikanischen Kolonien gegen einen monarchischen Zentralstaat. Daraus folgt laut Lipset, dass es keine Tradition des Gehorsams dem Staat oder dem Gesetz gegenüber gibt. Ein Beispiel dafür ist das Scheitern der amerikanischen Regierung bei der Durchsetzung des metrischen Systems, das zwar offiziell gesetzlich gilt, aber nicht umgesetzt wird (Lipset 1996: 93). Die amerikanische Gewaltenteilung ermöglicht es, ja sie ermutigt Kongressmitglieder geradezu, mit den Bürgern ihres Wahlkreises gegen ihren Präsidenten oder die vorherrschende Meinung der Partei zu stimmen. Amerikanische Gesetzgeber, darunter sogar die Führer des Kongresses, haben schon gegen wichtige internationale Vereinbarungen gestimmt und dazu beigetragen, amerikanische Gesetze zu deren Umsetzung zu Fall zu bringen, nur weil kleine Wählergruppen in den amerikanischen Wahlkreisen dagegen waren. Wie es der frühere Sprecher des Repräsentantenhauses, Thomas P. (»Tip«) O’Neill einmal formulierte, ist im Kongress »alle Politik Lokalpolitik« (Lipset 1996: 42). Die Größe des Landes, der Föderalismus und das System der checks and balances führen dazu, dass im Kongress ein ausgeprägtes System des Gebens und Nehmens herrscht: Die Kooperation auf Bundesebene muss oft mit regionalen Deals und mit der Bedienung von
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Spezialinteressen erkauft werden. Aus diesen Gründen ist es sehr schwer, im Kongress fortschrittliche Gesetze durchzubringen, und das wiederum hat Konsequenzen auch für die amerikanische Führungsrolle in der Welt. Zu bedenken ist ferner, dass Dritte außerhalb der beiden großen Parteien in der amerikanischen politischen Debatte so gut wie keine Rolle spielen. Nach William Greider ist »der verkommene Zustand der amerikanischen Demokratie schwer zu begreifen, nicht weil die Fakten geheim wären, sondern weil die Fakten allenthalben zu sehen sind« (1992: 11). Zu diesen Fakten zählen massenhafte Nichtbeteiligung an den Wahlen, Probleme bei der Wahlkampffinanzierung und die Verkürzung der Debatte auf medientaugliche Kurzstatements (Lewis u.a. 1996, Kuttner 1998).4
Soziale Ungleichheit: Der Sieger bekommt alles »Als Musterbeispiel eines bürgerlichen Landes folgt Amerika dem Wettbewerbsprinzip des Marktes – bei den Gewerkschaften und im Management wie in allen anderen Beziehungen« (Lipset 1996: 225). Die Beziehungen zwischen Management und Arbeiterschaft sind die von Gegnern. Hinzu kommt, dass hier die Einkommensspanne unter allen Industrienationen die größte ist. J.P. Morgan befolgte die Regel, dass die Vorstände seiner Firmen nicht mehr als zwanzigmal so viel verdienen durften wie die Arbeiter derselben Firmen. 1998 verdienten die Chief Executive Officers in großen Firmen jedoch 419 Mal so viel wie der durchschnittliche Arbeiter, und der Trend zur Vergrößerung dieses Abstands hält an. Das Einkommen der CEOs von Großfirmen stieg 1998 im Durchschnitt um 36 Prozent, während der durchschnittliche Arbeiter nur Lohnerhöhungen von 2,7 Prozent erhielt (Overholser 1999, Goodman 1999). Auf das unterste Fünftel der US-Haushalte entfallen weniger als 4 Prozent des Nationaleinkommens, während das oberste Fünftel fast die Hälfte des Ganzen bekommt (Henwood 1999; vgl. Henderson u.a. 2000). Überdies hat die Bindung der CEO-Vergütungen an den Börsenwert der Firmenaktien dazu geführt, dass diese Vergütungen proportional zur Dezimierung bei den Vollzeitbeschäftigten ansteigen, weil Entlassungen den Börsenwert erhöhen (shareholder value) (Klein 2000). Frank und Cook (1995) nennen diese Zustände ein System, in dem der Sieger alles bekommt; die Entstehung dieses Systems führen sie zurück auf das Wettbewerbssystem in Verbindung mit Veränderungen in den Kommunikationstechnologien, welche die Sieger privilegieren – in den Firmen ebenso wie im Finanzwesen, in der Unterhaltungsindustrie, im Sport und im Schulwesen.
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Im Vergleich zu anderen hochentwickelten Ländern zeichnen sich die USA durch größere Chancengleichheit aus, die jedoch mit einer größeren Ungleichheit bei den Ergebnissen einhergeht. Robert Mertons (1957) klassische These lautet, dass die große Spanne zwischen Chancengleichheit und ungleichen Ergebnissen für die hohe Kriminalitätsrate in den USA verantwortlich sei, denn das Erfolgsstreben werde von allen Schichten der Bevölkerung geteilt, nicht jedoch die Mittel, auch zum Erfolg zu gelangen. Die große Vitalität der amerikanischen Populärkultur spiegelt nicht zuletzt diese Spannung zwischen Chancengleichheit und Ergebnis-Ungleichheit wider. Die Vereinigten Staaten tolerieren in materieller wie sozialer Hinsicht viel mehr Ungleichheit als jede andere hochentwickelte Gesellschaft; in der ungleichsten aller hochentwickelten Gesellschaften hat dies natürlich auch Auswirkungen auf die politische Kultur und die Entwicklungshilfe-Philosophie. Mishra (1996: 403) stellt fest, dass »die Reagan-Administration den Kampf gegen die Armut durch einen Kampf gegen die Armen ersetzte. […] Nicht die Armut als solche, sondern die Verarmung, d.h. dysfunktionales und abweichendes Verhalten seitens der Armen wurde nunmehr als Hauptproblem der 1980er-Jahre ausgemacht, und in den frühen 1990er-Jahren zeigte sich diese Verschiebung der Problematik darin, dass man sich mehr um die Armen als um die Armut sorgte.« »So gesehen heißt das Thema also nicht mehr Armut. Die sozialen Probleme, mit denen sich die Amerikaner konfrontiert sehen, heißen jetzt: Abhängigkeit von Sozialhilfe, uneheliche Geburten, Kriminalität und andere dysfunktionale Verhaltensweisen in den untersten Bevölkerungsschichten« (Mishra 1996: 404). Der vorherrschende politische Diskurs gibt den Opfern die Schuld, er definiert die Abhängigkeit von Sozialhilfe als das Problem, und so erscheinen Gegenmaßnahmen der Regierung und Kürzungen der Sozialhilfe als die wichtigsten Mittel, um Abhilfe zu schaffen. Ungleichheit gilt als unvermeidlich, und in der Armut sieht man einen Feind, weil sie in einer auf den Erfolg fixierten Kultur ein Versagen belegt. Diese tief verwurzelte Denkstruktur hat sich in den letzten Jahren wieder verstärkt.5 Die soziale Ungleichheit hat sich seit den 1970er-Jahren in den Vereinigten Staaten markant verstärkt. 30 Millionen Amerikaner leben unterhalb der Armutsgrenze und 40 Millionen haben keine Krankenversicherung. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines männlichen Amerikaners afrikanischer Abstammung in Harlem liegt unter der eines männlichen Bewohners von Bangladesh. Dass Stiftungen und Wohltätigkeitsorganisationen wie »Tausend Punkte des Lichts« und kirchliche Organisationen das Versagen der Regierung auf diesem Gebiet nicht wettmachen können, ist bestens belegt.
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Amerikanismus Die Vereinigten Staaten neigen wie andere sehr große Länder (und sei es nur wegen ihrer Größe) zu Introspektion und kultureller Horizontverengung. Sie sind in vielerlei Hinsicht ein mit sich selbst beschäftigtes Land, das einem kollektiven Narzissmus frönt. Ein Indikator dafür ist der Mangel an Auslandsberichten in den Medien. Die Auslandsberichterstattung ist reduziert, die Zahl der Auslandskorrespondenten verringert worden – und das zu einer Zeit, da die US-amerikanische Rolle in der Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges an Bedeutung zugenommen hat. So ist die paradoxe Situation entstanden, dass jenes Volk, das außenpolitisch am schlechtesten informiert ist, zugleich den größten Einfluss auf der ganzen Welt hat. Die Vereinigten Staaten sind laut Michael Harrington »ein Land, das nicht durch eine gemeinsame Geschichte geeint wird, sondern durch eine Ideologie – den Glauben an Amerika, auch Amerikanismus genannt, der zugleich als eine Art ›Sozialismusersatz‹ dient« (zitiert bei Lipset 1996: 84, 88). Die Ideologie des Amerikanismus führt in Verbindung mit der Überzeugung von Amerikas Ausnahmestellung zu einem glühenden Nationalismus, der in modernen Gesellschaften eher exzeptionell ist; man schart sich um die Verfassung, den Präsidenten, einen ungewöhnlichen Fahnenkult und eine populäre Kultur zum Thema »Amerika ist die Nummer eins«. Die USA setzten schon früh elektronische Massenmedien zur landesweiten Kommunikation ein: zuerst Radio und Film, dann das Fernsehen. Amerikas technische Hochleistungen in den Bereichen Medien und Werbung setzen globale Maßstäbe. In ihrer bahnbrechenden Kultur des Massenkonsums setzten die USA Standards für jenen Warenfetischismus, der in der Nachkriegszeit den »Amerikanischen Traum« beflügelte. Ihr riesiger Binnenmarkt macht die Vereinigten Staaten weniger abhängig von, und weniger rücksichtsvoll gegenüber, anderen Ländern. Auch darum gibt es nur schwache wirtschaftliche Anreize für Auslandsberichte und -reportagen.
Moderne auf schwachen Fundamenten Im Lauf der Jahrhunderte erlebte Europa Stammeskulturen, bäuerliche Kulturen, Großreiche, Feudalismus und Absolutismus – alles, was zu einer wahrhaft »alten« Welt gehört. Hier ist die Moderne eine Schicht, die sich aus anderen historischen Schichten ableitet, die über ihnen liegt und mit Teilen anderer Epochen versetzt ist. Die Moderne auf dem europäischen Kontinent leitet sich aus dieser historischen Tiefe her; das Ergebnis ist eine komplexe Moderne. Die wichtige Rolle
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des Staates ist auf das vielfältige und kombinierte Erbe der imperialen Geschichte, des Feudalismus und Absolutismus zurückzuführen, aber auch auf die revolutionären Korrekturen von Feudalismus und Absolutismus. All dies erforderte einen Zentralstaat. Der »rheinische Kapitalismus« (Albert 1993) und der kontinentale Wohlfahrtsstaat sind noch von den Traditionen und Ansprüchen einer moralischen Wirtschaftsordnung geprägt, die aus feudalen Zeiten herrührt. Die Herrschaft der Feudalherren war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Tribute und Arbeitsleistungen im Austausch für wirtschaftlichen und militärischen Schutz der Gefolgsleute. Demgegenüber basiert die amerikanische Moderne auf der Erfahrung kleinteiliger Handwerksproduktion und, im Süden, der Sklavenwirtschaft, auf die schon ziemlich bald Industrialisierung und wissenschaftliche Betriebsführung (Taylorismus) folgten. In den USA gibt es keine »Traditionen aus der Zeit vor dem Zeitalter des Fortschritts«; es handelt sich um eine »postrevolutionäre neue Gesellschaft« (Lipset 1996: 37, 228). Weil die amerikanische Unabhängigkeit zeitlich mit der Aufklärung zusammenfiel, wurde dieser Staat auf der Basis eines rationalen Fortschrittsglaubens gegründet. Wissenschaftsgläubigkeit vereinte sich mit dem Erbe des religiösen Dissidententums und des protestantischen Idealismus zum Sendungsbewusstsein des »Manifest Destiny« und zum Glauben an den »Engel des Fortschritts« (Drinnon 1980). Gramsci sah in Amerika den »puren Rationalismus« (Lipset 1996: 87); laut Ralf Dahrendorf sind die USA das Land der »angewandten Aufklärung«. Die fehlende Erfahrungstiefe mangels einer klassischen Tradition bestimmt die amerikanische Kultur, die eher durch die »Versöhnung von Masse und Klasse« charakterisiert ist – eine Entwicklung, die eine »Entradikalisierung des Klassenbegriffs« nach sich zieht (Zunz 1998). Das Fehlen einer dialektischen Beziehung zu älteren Phasen und Schichten (Steinzeit, Feudalismus, Absolutismus) führt in den USA zu einer ungebremsten Innovationssucht, die durch kein Geschichtsbewusstsein gehemmt wird; sie führt zur »unerträglichen Leichtigkeit des Seins« in Amerika. Hier wird der »Bruch« mit der Vergangenheit zum Evangelium. Durch die Einwanderer wird der Bruch mit der Geschichte zum Bestandteil kollektiver Erfahrung. Die zentralen Merkmale des amerikanischen Kapitalismus können auch als Weiterungen der schwachen Verankerung der Moderne in Amerika gedeutet werden. Und dies wiederum prägt die Rolle der USA in der weltweiten Interaktion unterschiedlicher Ausprägungen der Moderne.
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Die Stärke des Militärs Der Sicherheitsapparat spielt in der amerikanischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine bemerkenswert große Rolle. Die Vereinigten Staaten sind ein Minimalstaat, außer wenn es um Recht und Gesetz oder um das Militär und die Geheimdienste geht. Das einzige Gebiet, auf dem die Reagan-Administration langfristig plante, waren die Verteidigungspolitik und ein Raketenabwehrschild im Weltraum (Albert 1993: 29).6 Die Militärausgaben der USA sind gegenüber dem Höhepunkt im Jahre 1986 um 25 Prozent gesunken, etwas weniger als die 35 Prozent des weltweiten Durchschnitts (wobei dieses starke Absinken weitgehend mit dem Untergang der Sowjetunion zu tun hat). Die Zahl der Militärangehörigen ist (um 800.000 oder 36 Prozent) sogar noch stärker gesunken als der US-Verteidigungsetat; somit gibt das Pentagon heute umgerechnet auf jeden einzelnen Soldaten mehr aus als in den Zeiten des Kalten Krieges. »Die Vereinigten Staaten allein leisten sich rund ein Drittel sämtlicher Verteidigungsausgaben der Welt. […] Heute kommt kein anderes Land, weder Freund noch Feind, in die Nähe jener 265 Milliarden Dollar, die die USA im Haushaltsjahr 1998/99 für Verteidigungsausgaben vorgesehen haben. […] Überdies steigen die Verteidigungsausgaben der Vereinigten Staaten wieder an« (Heisbourg 1999/2000: 5-6). Das verfassungsmäßig verbürgte Recht der Bürger, Waffen zu tragen, der Einfluss der Waffenlobby (National Rifle Association) und die »Waffenkultur« auf der Straße und in den Medien sind auf die historischen Wurzeln einer Land erobernden Siedlergesellschaft zurückzuführen, in der die Pionierfarmer zugleich als Grenzsoldaten fungierten. All dies findet Ausdruck in einer Kultur, in der Zwang und Gewalt als legitime politische Mittel gelten (Duclos 1998). Was die Zahl der Gefängnisinsassen betrifft, so nehmen die USA weltweit unter allen Ländern den ersten Platz ein; China folgt auf dem zweiten Platz (Dyer 1999). Die Gefängnisinsassen wurden sogar schon als »innerer GULag« Amerikas (Egan 1999) bezeichnet. Unter den wohlhabenden Ländern stehen die USA mit ihrer extensiven Anwendung der Todesstrafe einzig da. Die herausragende Rolle des Militärs findet breite Zustimmung bei der Bevölkerung und in beiden großen Parteien. Die gesellschaftliche Akzeptanz des Militärs wurzelt nicht zuletzt in seiner Funktion als Bereitsteller von Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten für die unteren Schichten. Es handelt sich um eine Art militärischen Keynesianismus, denn das Militär muss für das schwache, von Klassenvorurteilen gehandicapte Schulwesen Kompensationsaufgaben übernehmen.7 Direkt nach den Nominierungskonventen der Parteien sprechen die amerikanischen Präsidentschaftskandidaten als Erstes vor der Vete-
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rans League und schlagen dort ausnahmslos eine Erweiterung der Militärausgaben vor – um sicherzustellen, dass »die bewaffneten Streitkräfte der USA die bestausgerüsteten und bestausgebildeten der Welt sind«. Der moralische Stellenwert des US-Militärs wird durch häufige Wiederholung seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg in den Medien popularisiert und aufrechterhalten (wobei der Vietnamkrieg und die Iran-Contra-Episode vornehm übergangen werden). Militärische Metaphern und eine Desensibilisierung gegenüber Gewalt ziehen sich wie eine roter Faden durch den ganzen Unterhaltungssektor (Grossman 1996). Ein beträchtlicher Teil der Hollywood-Produktion widmet sich militärischen Themen, parallel zu den Phasen der amerikanischen Machtentfaltung (Sharp 1998). Nur ein Beispiel, um die Allgegenwart dieses Einflusses zu illustrieren: Die Choreographie des Broadway-Musicals basiert auf militärischem Drill; sie geht zurück auf einen amerikanischen Unteroffizier, der sich im Ersten Weltkrieg einen einschlägigen Namen gemacht hatte (Voeten 2000). Die Rolle des militärisch-industriellen Komplexes bei der amerikanischen Industrialisierung ist nach historischen Maßstäben nicht außergewöhnlich groß; der Aufbau militärischer Stärke war in allen fortgeschrittenen Ländern der Welt die Lokomotive der Industrialisierung, besonders im späten 19. Jahrhundert (Sen 1995, Nederveen Pieterse 1989). In der Tat außergewöhnlich ist allerdings die andauernde Rolle des militärisch-industriellen Komplexes im Lauf der Zeit und im Einklang mit Amerikas Rolle als Supermacht. Die konventionelle These von Amerikas permanenter Kriegswirtschaft (Melman 1974) ist wahrscheinlich nicht länger haltbar. Die ökonomische Motivation für die Aufrechterhaltung riesiger Sicherheitskräfte ist inzwischen sicher durch politische Motive überlagert; hinzu kommt noch ein regionales »Beutesystem« bei der Verteilung von Rüstungsaufträgen der Regierung und bei der geographischen Verteilung von Standorten (Einzelheiten dazu bei Keller 2002). Gleichwohl hat die Neigung zur Gewaltanwendung in der amerikanischen politischen Kultur auch mit Profitmotiven zu tun. Überall in den USA gelten Gefängnisneubauten als Impuls für das Wiedererstarken der lokalen Wirtschaft (Hallinan 2001), und privatisierte Gefängnisse bilden einen »Gefängnis-industriellen Komplex« (Reiss 1998, Dyer 1999). Umzäunte Siedlungen mit Pförtnern am Eingang und Videoüberwachung sind Teil der Privatisierung des Sicherheitswesens: »Von Nachtwächtern und Leibwächtern bis praktisch hin zu Privatarmeen – die Sicherheitsbranche boomt, während der Waffenhandel alle Umsatzrekorde bricht« (Albert 1993: 47). Angesichts der formidablen Rolle des US-Militärs kam es nach dem Ende des Kalten Krieges nicht zur »Konversion«, auch nicht zum Kassieren einer Friedendividende. Stattdessen war die politische und
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wirtschaftliche Notwendigkeit (oder wenigstens Neigung) zu verzeichnen, den Sicherheitsapparat weiter zu beschäftigen, Ausrüstung und Waffensysteme zu verbessern und Testmöglichkeiten bereitzustellen, weiterhin Karrieremöglichkeiten beim Militär zu bieten – unter wiederholter massiver Ausweitung des Verteidigungsetats und Inangriffnahme von Mammutprojekten wie »Plan Colombia« (Krieg gegen die Drogenbosse in Kolumbien und Wiederaufbau des kolumbianischen Staatswesens). Und diese Expansion wird von der Erhöhung des Militärbudgets um 48 Milliarden Dollar noch weit in den Schatten gestellt, welche die Bush-Administration im Zeichen ihres »Krieges gegen den Terrorismus« beantragt hat. Überdies gehen nun massive Steuererleichterungen zugunsten der Reichen Hand in Hand mit Ausgabenkürzungen bei der Infrastruktur, im Sozial- und im Schuletat. Zusammenfassend werden nun die wichtigsten Elemente der Ausnahmestellung Amerikas in Tabellenform zusammengestellt, damit sich ein Gesamtbild ergibt. Tabelle 1: Die Dimensionen der amerikanischen Sonderstellung Dimensionen Freie kapitalistische Marktwirtschaft
Politischer Konservatismus
Minimalstaat
Schlüsselelemente »Die Wirtschaft hat in den USA im Verlauf der Geschichte ein ungewöhnliches Maß an politischer Macht genossen« (Kammen 1993: 5). Ideologie: Vertrauen auf die Kräfte des Marktes Institutionen Minimalstaat, Konstitutionalismus, extreme Gewaltenteilung Schwache Organisation der Arbeiterklasse, ungewöhnliche Macht der Konzerne Politischer Populismus, freiwillige Prozess Vereinigungen, schwache Rolle der Parteien (stärker einzelstaatlich und lokal als national ausgerichtet) Werte Individualismus, privatisierte Ethik, Transparenz, Machbarkeit sozialer Veränderungen Ideologie Amerikanismus, Patriotismus »die am stärksten anti-planwirtschaftlich eingestellte, am stärksten an Recht und Gesetz orientierten Nation« (Lipset 1996)
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Schwache Organisation der Arbeiterklasse Rassenbeziehungen
Freiwillige Zusammenschlüsse Schwaches Fundament der Moderne Amerikanismus
Kultur
»Zunehmendes Ausmaß des illegalen Widerstands der Arbeitgeber gegen die Gewerkschaften« (Kammen 1993) Rasse als Ersatz für Solidarität der Arbeiterklasse, weiße Hautfarbe als Ersatzprivileg (Roediger 1992). Chronische Armut in den Ghettos, Überfüllung der Gefängnisse, Todesstrafe De Tocqueville bis Putnam. Wohltätigkeit, aber auch abgeriegelte, bewachte Privatsiedlungen Land der angewandten Aufklärung Amerikanismus als Feier der Abwesenheit historischer Altlasten (Howe 1979). »Bedeutung Amerikas« diente als Geschichtsersatz (Kammen 1993) »In den USA gibt es keine altbewährten, traditionellen Kultureinrichtungen nach europäischem Vorbild« (Mills 1963).
Globalisierung als Amerikanisierung? »Die ganze Welt sollte das amerikanische System übernehmen. Das amerikanische System kann in Amerika nur überleben, wenn es ein Weltsystem wird.« (Präsident Harry Truman [1947]) »Die Amerikaner, die allen die Segnungen der Demokratie, des Kapitalismus und der Stabilität bringen wollten, meinten wirklich, was sie sagten – ihrer Meinung nach sollte die ganze Welt die Vereinigten Staaten widerspiegeln.« (S.E. Ambrose [1983: 19]) Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass diverse Merkmale der amerikanischen Ausnahmestellung auch die gegenwärtige Globalisierung mitbestimmen. Trotzdem stellen sich der Entwicklung dieses Gedankens diverse Hürden in den Weg. Erstens enthält der Begriff »Amerikanisierung« ein Element des methodologischen Populismus. Denn auf welche analytische Einheit bezieht er sich – auf welches Amerika, wessen Amerika? Von der Bevölkerungszahl her sind die Vereinigten Staaten das viertgrößte Land der Welt; sie sind ein recht heterogenes Land, und lokale Unterschiede spielen eine bedeutende Rolle. Auch lassen sich amerikanische Konzerne mit dezentralisierten Hauptquartieren und möglicherweise steuerlichem Sitz im Ausland nicht einfach mit den USA gleichsetzen. Überdies verlaufen transnationale Ströme nicht nur in eine Richtung, sondern in viele
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unterschiedliche Richtungen. Schließlich gibt es auch Trends zur Europäisierung, Asiatisierung und Lateinamerikanisierung Amerikas, in wirtschaftlicher wie in kultureller Hinsicht (im Hinblick auf ausländische Eigentümer, Firmenleitungen, Stile und Konsummuster). Transnationale Diasporagebiete haben den Charakter von »Amerika« immer wieder verändert, und dieser Charakter des Buntscheckigen, der Bricolage, ist ein zentrales Element des amerikanischen Erscheinungsbildes. Also, um welche Einheit namens »Amerika« geht es in diesem Zusammenhang: um ein System von »Organisationsprinzipien«, die zeitlich fortdauern (wie es Lipset definieren würde), oder, am anderen Ende der Skala, um ein Territorium, einen Ort transnationaler Synthese und Bricolage? Weil immer neue Einwandererwellen und Diasporaschichten, von den Iren bis zu den Latinos, »Amerika« geformt haben, ist es nicht damit getan, sich einfach auf die USGründerväter zu beziehen, um die Grundlagen des amerikanischen Gemeinwesens zu bestimmen. Ebenso unproduktiv wäre es, jene Art von Argumenten wieder aufzuwärmen, wie sie Jean-Jacques ServanSchreiber 1967 in seinem Buch Die amerikanische Herausforderung (Le défi Américain) vorbrachte; dann würde man die Argumentation nur in ein Umfeld nationaler Vergleiche und Rivalitäten verlagern, à la Michael Porter. Diese Konzentration auf das Nationale ist teilweise schon durch die Dynamik einer immer schnelleren Globalisierung überholt. Außerdem passt dieser Ansatz nicht in eine Analyse des Verhältnisses zwischen Amerikas Ausnahmestellung und den Globalisierungsvorgängen. Ein zweites Problem besteht darin, wie man die historischen Variationen der US-Politik oder das Verhältnis von Struktur und Politik in den Griff bekommen kann. Denn Amerikas Sonderstellung in der Welt ist nicht dasselbe wie die tatsächlichen Profile verschiedener US-Administrationen, und sie ist auch nicht unbedingt intrinsischer Bestandteil der amerikanischen Politik; denn wenn es so wäre, würde man die amerikanische Politik auf einen festen Wesenskern reduzieren. Indes, auch Wilsons Internationalismus war ein Bestandteil der US-Außenpolitik, und die amerikanischen Beiträge zur Weltordnung schließen die Gründung der Vereinten Nationen und das System von Bretton Woods ebenso ein wie den Marshall-Plan, die Unterstützung der europäischen Einigung und eine Politik zugunsten von Menschenrechten und Demokratie. Auch wenn diese Beiträge nicht unumstritten sind, zeigen sie doch, dass die amerikanische Außenpolitik eine größere Bandbreite kennt als unter den Regierungen der letzten Jahrzehnte. Auch wenn der Schwerpunkt dieses Essays auf dem Verhältnis zwischen der amerikanischen Politik und den gegenwärtigen Globalisierungsvorgängen liegt, mahnt der eben skizzierte Befund zur Vorsicht. Gegen Ende der Clinton-Administration waren im Gesamt-
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bild einige Änderungen zu verzeichnen: Lockerung des Kuba-Embargos und Zahlung der ausstehenden UNO-Beiträge;8 doch einige dieser Konzessionen, etwa die amerikanische Unterstützung für einen permanenten Internationalen Strafgerichtshof, wurden von der folgenden Administration widerrufen. In den letzten Jahren hat sich ein Großteil der Amerikanisierungsdebatte auf die kulturelle Dynamik konzentriert, auf das, was Nye »weiche Machtfaktoren« nennt: auf die Rolle der Medien, der Populärkultur und des transnationalen Konsumverhaltens – alles Bereiche, die in den Cultural Studies untersucht werden. Es handelt sich dabei auch um eine Variante des Populismus, denn die Untersuchung solcher Aspekte wird nur selten zu anderen Dimensionen des amerikanischen Einflusses, wirtschaftlichen, finanziellen, internationalen und militärischen Aspekten, auf angemessene Weise in Beziehung gesetzt.9 Diese mangelnde Reflexion und Artikulation des Verhältnisses von harten und weichen Machtfaktoren ist problematisch, weil die Frage nach den Beziehungen zwischen amerikanischer Sonderstellung und Globalisierungsprozessen sich von der konventionellen Kulturimperialismus-These durchaus unterscheidet. Insgesamt ist der amerikanische Einfluss in beträchtlichem Maße eher eine Angelegenheit des – von Galtung (1971) so genannten – »strukturellen Imperialismus«; die Umgestaltung anderer Gesellschaften erfolgt demnach eher durch strukturelle Ansätze des Einflusses statt durch direkte politische Intervention. In diesen Kontext gehören auch Populärkultur, Kulturindustrien und die vertrauten Litaneien von Coca-Colonisierung, McDonaldisierung, Disneyfizierung, Barbie-Kultur und amerikanischen Medien-Konglomeraten; aber die Sache ist nicht allein darauf beschränkt. Die zuletzt genannten Aspekte sind zwar sehr präsent und leicht erkennbar, und sie erhalten deshalb übermäßige Aufmerksamkeit, aber die signifikanteren Auswirkungen der amerikanischen Sonderstellung betreffen die Wirtschaftspolitik, die internationale Politik und Sicherheitsfragen. Auch diese Bereiche sind »kulturell«, allerdings eher verdeckt als offen, und im Alltag weniger sichtbar. Dabei geht es nicht nur um Beziehungen zwischen hochentwickelten Ländern, sondern auch um solche über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg, wie sie in der Mehrheit der Länder dieser Welt anzutreffen sind. Es ist sicher ganz hilfreich, mehrere Untersuchungsebenen zu unterscheiden: • Strukturelle Dynamik: wissenschaftliche und technologische Veränderungen, die von den USA exportiert werden und bei denen die USA eine Vorreiterrolle spielen. Letztlich handelt es sich aber um ein gemeinsames Erbe verschiedener Zivilisationen (vgl. z.B. Diamond 1999).
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• Grundlegende Dynamik aller industrialisierten Länder: Hier beeinflusst das führende »Paket«, angeboten von jenem Land, das bei diesen Trends eine Pionierrolle innehat, alle anderen Länder; gleichwohl hat die Dynamik mit dem Herkunftsland als solchem nicht unbedingt etwas zu tun. Und damit wären wir bei der Konvergenzthese der Modernisierungstheorie angelangt, der zufolge alle Industriegesellschaften letztlich irgendwann konvergieren (Brzezinski 1970). In diese Kategorie gehören Trends wie Massenproduktion, Massenkonsum, Massenmedien, Autokultur, Vorstadtzersiedelung und Informationstechnologie. Mit anderen Worten, diese Trends sind eigentlich nicht »amerikanisch« per se, sondern nur in dem Sinne, dass die Vereinigten Staaten das erste Land waren, in dem sich diese Trends herausbildeten. Sie kommen also lediglich im amerikanischen Gewande daher. • Amerikanische Konzerne und Kulturindustrien versuchen, aus ihrer vorübergehenden führenden Stellung Monopolerträge zu erzielen, »mit fairen oder unfairen Mitteln«. Dies ist eine übliche Geschäftspraktik mit zahlreichen Präzedenzfällen in der Geschichte. Die Briten zerstörten die indischen Textilmanufakturen und den indischen Textilhandel, und sie sabotierten die Anfänge der Industrialisierung in Ägypten, Persien und im Osmanischen Reich (Stavrianos 1981). Dieser Punkt gehört zur Amerikanisierung im engeren Sinn. • Durch internationale Einflussnahme (über die internationalen Finanzinstitutionen und die Welthandelsorganisation WTO) sowie durch regionale Arrangements versucht die US-Regierung ihre Führungsrolle zu konsolidieren und die Vorteile ihrer multinationalen Konzerne institutionell abzusichern. Daraus folgt, dass die Kernfragen der globalen Amerikanisierung sich eher in den beiden letzten Punkten der Aufzählung finden: in dem Versuch, die eigene Monopolstellung finanziell ertragreich zu gestalten, und in der Ausübung von Supermachteinfluss durch Instrumentalisierung internationaler Institutionen. Dass die Grenze zwischen Innenpolitik und internationaler Politik verschwimmt, wird in der Literatur zum Thema der internationalen Beziehungen häufig hervorgehoben. Dabei liegt der Akzent oft auf internationaler Einflussnahme auf die Innenpolitik (Keohane und Milner 1996). In der vorliegenden Untersuchung wird jedoch die umgekehrte Zielrichtung verfolgt: Wie beeinflusst die amerikanische (Innen-)Politik die internationalen Organisationen und die Politik anderer Länder? In Tabelle 2 findet sich ein skizzenhafter Überblick über den Einfluss amerikanischer Sonderverhältnisse auf zahlreiche Globalisierungsprozesse, die sich gegenwärtig immer mehr beschleunigen. Zu fast allen diesen Aspekten liegt umfangreiche Literatur vor.
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Ich konzentriere mich im Folgenden auf drei größere Aspekte der amerikanischen Ausnahmestellung und deren Auswirkungen in der Welt: Laisser-faire und die US-amerikanische Rolle bei der Ausgestaltung des Kapitalismus; den (Post-)Washingtoner Konsens und die internationale Entwicklungspolitik; und die Weltpolitik. Tabelle 2: Die amerikanische Sonderstellung und ihre internationalen Auswirkungen* Dimensionen der amerikanischen Sonderstellung Freie kapitalistische Marktwirtschaft
Freihandel
Minimalstaat und politischer Konservatismus
Schwache Organisation der Arbeiterklasse
Gegenwärtige internationale Auswirkungen • US-Kapitalismus als kapitalistische Norm • »Washingtoner Konsens«, strukturelle Anpassung, Konditionen des IWF und der Weltbank • Globales Modell des polarisierenden Wachstums: zunehmende Ungleichheit • Förderung von steuerbegünstigenden Wirtschaftsaktivitäten im Ausland • Deregulierung des internationalen Finanzwesens • Dollar als internationale Leitwährung; Dollarisierung • Rolle der multinationalen US-Konzerne • Ausbreitung amerikanischer Geschäftsmaßstäbe, amerikanischen Rechts und amerikanischer Managerausbildung (MBA) • Handelspolitik als Instrument der Außenpolitik; Klausel 301 • WTO und neoliberale Welthandelsbestimmungen • Freihandelspolitik in NAFTA und APEC • Permanenter Beitragsrückstand bei der UNO • Kürzung der Regierungsausgaben für Entwicklungspolitik • Nichtbeteiligung an internationalen Abkommen • Nichtanerkennung des Internationalen Gerichtshofs • Zweierlei Maß bei Regionalkonflikten (z.B. im Nahen Osten) • Förderung der Demokratie in einem engen Sinne • Konservativer Einfluss der AFL-CIO (im ICFTU) • Kaum Unterstützung für die ILO (z.B. bei Mindeststandards der Arbeitsbedingungen)
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Restbestände des Sozialstaats/ Ausgabenkürzung für die sozialen Sektoren Arbeitspflicht der Entwicklungspolitik (Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialwesen) Freiwillige • »Förderung der Demokratie durch StärZusammenschlüsse kung der Zivilgesellschaft« • Förderung von Nichtregierungsorganisationen (neue politische Agenda von USAID) Individualismus Förderung von Nichtregierungsorganisationen im Zusammenhang mit Professionalisierung, Entpolitisierung und politischer Zersplitterung Schwaches Fundament der • Anbindung der Buchhaltungssysteme an Moderne US-Standards • Transparenz nur in einer Richtung (USFinanzministerium, IWF, Weltbank) • »Mit den Augen einer Supermacht«, totaler Überblick Hegemonie des Militärs • Reste des Kalten Krieges (Erbe regionaler Interventionen) • Embargo- und Sanktionspolitik • Unilateralismus; Aktionen ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates • Militarisierung internationaler Angelegenheiten • Kriegsmetaphorik in internationalen und in Wirtschaftsbeziehungen • Verbreitung von Feindbildern (»Schurkenstaaten« etc.) • Mammutprojekte für den militärisch-industriellen Komplex • »Humanitärer Militarismus«: Einsatz von Zwang und Gewalt bei lokalen Konflikten • Weigerung, unter UN-Oberkommando zu dienen • Netzwerk von Militärbasen und Geheimdienstüberwachung • Wiedereinführung der geheimen Radarüberwachung (Echelon) • Verdeckte Operationen • Atomwaffenverbreitung (Nichtratifizierung von NTBT 1997) • Gesundheits- und Umweltgefahren von Militäreinsätzen (Golfkrieg, Balkan, Afghanistan und innerhalb der USA) • Waffenverkäufe, Militärausbildung und Förderung regionalen Wettrüstens • Militarisierung von Grenzen (Export des Modells der US-mexikanischen Grenze nach Israel und Südafrika) Amerikanismus Förderung des »American way«
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Amerikanische Kultur
• Automobilkultur, Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen • Marketing als vorherrschender Stil der Kultur • Starsystem und Starkult • McDonaldisierung, Disneyfizierung, Barbiefizierung • CNN-Effekt, »Häppchen«- und »Dreiminutenkultur«
* Auflösung der Abkürzungen in der Tabelle: IWF = Internationaler Währungsfond (engl. IMF, International Monetary Fund); WTO = World Trade Organization (Welthandelsorganisation); NAFTA = North American Free Trade Agreement (Nordamerikanisches Freihandelsabkommen); APEC = Asia Pacific Economic Corporation (Wirtschaftsunion der asiatischen Pazifikanrainer); AFL-CIO = American Federation of Labor and Congress of Industrial Organisations (US-amerikanischer Gewerkschaftsbund); ICFTU = International Confederation of Free Trade Unions (Internationaler Bund Freier Gewerkschaften); ILO = International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisation); USAID = United States Agency for International Development (US-Agentur für Entwicklungshilfe); NTBT = Nuclear Test Ban Treaty (Vertrag zum Verbot von Atomtests). A.d.Ü.
Laisser-faire Ein wichtiger US-Export ist die amerikanische Variante des Kapitalismus, wie sie in Taylorismus, Fordismus, Massenkonsum auf hohem Niveau, Freihandel sowie in amerikanischen Konzernen und Geschäftspraktiken ihre Ausprägung gefunden hat. Seit den 1980er-Jahren sind durch den »Washingtoner Konsens« noch Monetarismus, Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung zum Repertoire hinzugekommen. Die amerikanische Vorherrschaft in der Welt ist Teil einer imperialen Abfolge, denn das Erstarken des amerikanischen Einflusses folgte auf die britische Hegemonie. Der Manchester-Liberalismus, die neoklassische Wirtschaftspolitik der 1870er-Jahre und ihr Wiederaufleben im Neoliberalismus der spätern 1970er-Jahre bilden unter historischen Gesichtspunkten eine Fortsetzungsgeschichte. Und deren internationales Gewicht lässt sich nicht von einer Epoche anglo-amerikanischer Hegemonie trennen, die seit rund 170 Jahren andauert (von etwa 1830 an, jedoch durch Phasen hegemonialer Rivalitäten unterbrochen).10 Im Weltmaßstab ist die freie, ungezügelte kapitalistische Marktwirtschaft anglo-amerikanischer Prägung jedoch eine Anomalie. Überwiegend wurden in Europa, Asien und in den Entwicklungsländern Mischformen wie die soziale Marktwirtwirtschaft praktiziert, während in den sozialistischen Ländern die zentrale Planwirtschaft
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dominierte. Auch in der britischen und amerikanischen Praxis war die völlig freie Marktwirtschaft zum Teil nur Pose und Programm, zum Teil praktizierte Realität: Der sich selbst regulierende Markt wurde erst spät und überdies nur unvollständig und mit Unterbrechungen durchgesetzt. Insgesamt entsprach die Praxis eher einem Liberalismus, der in einen weiteren Kontext eingebettet war. Die Unterschiede zwischen den kontinentaleuropäischen und den anglo-amerikanischen Varianten des Liberalismus sind überwiegend gradueller, nur an einigen Schlüsselstellen grundsätzlicher Natur: Sie bestehen hauptsächlich in Fragen, die Status und Rolle der Industriepolitik betreffen, ferner, wenn es um die Regulierung des Arbeitsmarkts, um Managementphilosophien, das Bankenwesen, Risikokapital und den Aktienmarkt geht. Beim Blick auf die USA sind die Unterschiede signifikant, aber nicht ganz so groß, wie in der Ideologie von der freien Marktwirtschaft behauptet wird. Aus europäischer Sicht besteht der amerikanische Einfluss hier in der weiter andauernden Verschiebung vom Modell der festen Kapitalbindung zum spekulativeren Anlegermodell des Kapitalismus (stakeholder vs. shareholder). Man könnte auch sagen, dass die politische Ökonomie der Sozialverträge in die politische Ökonomie der Konzerne, Finanzmärkte und Börsen überführt wird. Es findet eine allgemeine Verschiebung weg von Sozialkontrakten und hin zu legal-rationalen Vertragsabschlüssen statt. Indes, die Enron-Episode belegt, wie wenige Sicherungen dieses System enthält.
Der »Washingtoner Konsens« Die amerikanische Rolle in der internationalen Entwicklungspolitik geht auf Präsident Trumans Ausrufung des »Zeitalters der Entwicklung« im Jahre 1948 zurück (Sachs 1992). Die amerikanische Nachkriegspolitik im Süden setzte bevorzugt auf die »Starken«, auf eine Entwicklung von Gemeinschaften, die amerikanischen FreiweilligenInitiativen in wichtigen Punkten entsprachen, auf den Aufbau von Nationalstaaten (nation building) sowie auf die Einimpfung von Leistungswillen – Züge einer Modernisierungstheorie, bei der Modernisierung mit Verwestlichung und Amerikanisierung gleichzusetzen ist (Nederveen Pieterse 2001). Die Amerikaner begaben sich in der Dritten Welt auf die Suche nach einer bürgerlichen Mittelschicht, als suchten sie dort ihr eigenes Ebenbild (Baran 1973). Die »Allianz für den Fortschritt« war nur eine weitere Fortsetzung dieser Politik – ebenfalls im Kontext des Kalten Krieges und im Zusammenspiel mit dem »Washingtoner Konsens«. Der »Washingtoner Konsens«, der in den 1980er-Jahren Gestalt gewann, entspricht dem Kernprofil der amerikanischen Sonderstel-
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lung: Freie Marktwirtschaft und Demokratie gehen Hand in Hand. Die Hauptpunkte des Washingtoner Konsenses sind Monetarismus, Kürzung der Regierungsausgaben, Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung des Handels und der Finanzmärkte sowie die Förderung des Wachstums durch Steigerung der Exporte. Der Washingtoner Konsens ist die Fortsetzung der amerikanischen Nachkriegseinstellung zur Entwicklungshilfe: freies Unternehmertum und »Freie Welt«, Freihandel und Demokratie. Während jedoch die Nachkriegsmodernisierung der »Dritten Welt« ein mit anderen rivalisierendes Projekt, ein Wettbewerbsbeitrag im Kalten Krieg war, orientiert sich der Washingtoner Konsens der 1980er-Jahre nicht mehr an Staaten, die für die eigene nationale Sicherheit als unverzichtbar gelten. Man ist nun nicht mehr bemüht, kommunistischem Druck oder kommunistischen Aufständen standzuhalten. Am »Ende der Geschichte« würde, so die Annahme, ohnehin keine Notwendigkeit mehr dafür bestehen, dass andere Staaten der nationalen Sicherheit der USA dienten. Während sich somit die Modernisierungstheorie der Entwicklungshilfe auf den Staat konzentrierte, weil sie Bestandteil eines keynesianischen Nachkriegskonsenses war, schlug der »Washingtoner Konsens« ein neues Blatt in der Geschichte der Entwicklungspolitik auf: Der Akzent lag jetzt auf Deregulierung und einer Beschneidung der Rolle wie der Ausgaben des Staates, und man erhob diese innenpolitischen Prinzipien auch zum internationalen Programm. In diesem Sinne war die Reagan-Ära die Vollendung des US-Sieges im Kalten Krieg – es gab keinen Rivalen mehr, mit dem man noch in Wettbewerb treten musste. Diese Einstellung zeigt sich seither auch in der Politik der internationalen Finanzinstitutionen: »Man hat das Ende des Kalten Krieges mit einer zunehmenden Politisierung des IWF durch die USA in Verbindung gebracht. Es gibt Belege dafür, dass die Vereinigten Staaten erst seit 1990 auf diese Weise Freunde belohnen und Feinde bestrafen wollen« (Thacker 1999: 70). Die Kernüberzeugung vom inneren Zusammenhang zwischen freier Marktwirtschaft und Demokratie ist jedoch schon unter generellen Gesichtspunkten nicht unproblematisch: Ungehemmte Marktkräfte fördern Ungleichheit, während die Demokratie von Gleichheit ausgeht. In den Vereinigten Staaten wird keine lupenreine freie Marktwirtschaft praktiziert, und die amerikanische Demokratie steckt in einer tiefen Krise. Hinzu kommen etliche spezifische Probleme: Die von den USA propagierte Form der Demokratie ist von geringer Intensität geprägt (Robinson 1996); die Reduktion des Staates bedeutet auch Abbau und Schwächung von Institutionen, während die Entwicklungspolitik gerade kompetente und schlagkräftige Institutionen erfordert. Hier liegen die Wurzeln des Streits über das »ostasiatische Wunder« (Wade 1996) und die Ursachen für die letztlich vollzogene
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Kehrtwende der Weltbank: Der Staat kehrte auf die Bühne zurück, allerdings nunmehr unter der nicht eindeutigen Rubrik »gute Herrschaft« (good governance). Der Washingtoner Konsens wurde über Stabilisierungskredite des IWF und Strukturanpassungsprogramme der Weltbank implementiert. »IWF und Weltbank wurden in Bretton Woods hauptsächlich nach den Vorstellungen des US-Finanzministeriums geschaffen: Die Formen waren internationale, aber in der Substanz wurde alles von einem einzigen Land diktiert« (Kindleberger 1986: 10). Der Washingtoner Konsens führte zur Beschneidung von Regierungsauf- und -ausgaben und zum Anwachsen von Nichtregierungsorganisationen sowie zur Informalisierung der Entwicklungshilfe. Unter dem Strich kommt dabei heraus, dass jene Sektoren, die nicht profitabel und deshalb in den USA schwach ausgeprägt sind – Gesundheitswesen, Schulwesen, soziale Dienste – im Zeichen der geforderten strukturellen Anpassungen auch in den Entwicklungsländern zu Schwachpunkten werden, weil diese Sektoren immer zuerst betroffen sind, wenn Regierungsausgaben gekürzt werden. Während viele Nichtregierungsorganisationen zur Plattform für soziale Veränderungen wurden, besteht die Kehrseite des von den USA geforderten und geförderten Wachstums der Nichtregierungsorganisationen darin, dass die Kräfte des Volkes in den südlichen Ländern immer mehr entpolitisiert und demobilisiert werden. Bei aller Kritik an der neoliberalen Wende (»Konterrevolution in der Entwicklungspolitik«) wird dem Umstand nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet, dass der Washingtoner Konsens nur die nach außen gekehrte Innensicht der US-Sonderstellung ist (vgl. Manzo 1999). Indem der Washingtoner Konsens die anglo-amerikanische Form des Kapitalismus als die »Norm« des Kapitalismus ausgibt, steht er für die Perspektiven und Interessen des Komplexes aus Wall Street, US-Finanzministerium und IWF (Wade und Veneroso 1998). Jetzt ist der Washingtoner Konsens mit zunehmenden Problemen konfrontiert: Wachsende Ungleichheit in der ganzen Welt, finanzielle Instabilität und das erforderliche Krisenmanagement sowie seine kontraproduktiven und fehlerhaften Rezepte und Vorschriften treffen auf verbreitete Kritik, auch in Washington selbst. Die neue Terminologie eines »Post-Washingtoner Konsenses« indes verleiht einer Politik der Inkohärenz und Improvisation Schlüssigkeit nur auf dem Papier. Die diplomatische Sprache internationaler Abkommen ist meistens so gestaltet, dass genügend Beteiligte zustimmen können, aber zugleich so vage gehalten, dass jeder den Wortlaut auf seine eigene Weise interpretieren und seine Handlungsweise danach ausrichten kann. Die internationale Zusammenarbeit in der Entwicklungspolitik ist typischerweise ein Terrain für hegemoniale Kompromisse: Wer
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kann denn schon bestreiten, dass »Strukturreformen«, »Stabilität«, eine »Zivilgesellschaft« und »Demokratie« wünschenswert sind (Nederveen Pieterse 2001)? Man hat die 1990er-Jahre als eine Zeit harten Wettbewerbs zwischen dem amerikanischen und dem asiatischen Kapitalismus beschrieben, den der amerikanische Kapitalismus schließlich gewann (Hutton und Giddens 2000). In den USA begrüßte man die »asiatische Krise« als eine Gelegenheit, die asiatischen Volkswirtschaften noch weiter zu amerikanisieren (Bello u.a. 1998: 52). Der – von den Vereinigten Staaten geförderte – exportorientierte Wachstumspfad macht die aufstrebenden Märkte dieser Länder vom Erfolg auf dem US-Markt abhängig, beschränkt ihren Manövrierraum und macht sie anfällig für Schwankungen und Kurswechsel in der amerikanischen Handelspolitik. Während der Washingtoner Konsens Freihandel und exportorientiertes Wachstum proklamiert, ist die unter dem Banner des Freihandels tatsächlich verfolgte Politik wesentlich komplexer: Das Spektrum reicht vom Einsatz des Handels als Mittel der Außenpolitik (z.B. durch Gewährung der Meistbegünstigungsklausel oder durch Erhebung bzw. Aufhebung von Einfuhrzöllen) über die Einführung des Legalismus in das Regelwerk des Welthandels (auf dem Weg über die Welthandelsorganisation WTO) bis zur Beeinflussung der Wechselkurse ausländischer Währungen (etwa in der Vereinbarung von 1985 [»Plaza Accord«] oder bei der Bewertung des Yen). Wenn wir die Ungleichheit, die in den Vereinigten Staaten herrscht, und den US-»Krieg gegen die Armen« in den Weltmaßstab übertragen, dann bedeutet das eben auch eine – von der Mehrheit des US-Kongresses unterstützte – Politik massiver Kürzungen für die Auslandshilfe, und das in einem Land, das bei Auslands- und Entwicklungshilfe ohnehin schon das geizigste aller Geberländer ist (die USA verwenden jährlich nur 0,1 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für die Entwicklungsländer, während das international vereinbarte Ziel der UNO die Bereitstellung von 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts vorsieht). Als Teil einer unnachgiebigen Kampagne zur Deregulierung wettern konservative »Denkfabriken« gegen »Sozialhilfe für das Ausland« genauso wie innerhalb der USA gegen Sozialhilfe ohne Gegenleistung: »Wirtschaftshilfe behindert wirtschaftliches Wachstum« lautet das Credo. Die internationale Sozialhilfe funktioniere nicht; der Kongress solle die Auslandshilfe ganz einstellen und langfristig überdies eine Politik zur völligen Abschaffung der Entwicklungshilfe entwickeln; stattdessen solle man in den Entwicklungsländern eine Politik zur Förderung der »wirtschaftlichen Freiheit« verfolgen (sprich: Deregulierung und Freihandel) (Johnson und Schaefer 1998). Aus ähnlichen Gründen (weil das US-Finanzministerium »nicht genug
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Reformen« sieht) wird der IWF davon abgehalten, Argentinien aus der finanziellen Klemme zu helfen. 40 Prozent der Weltbevölkerung leben von weniger als 2 Dollar pro Tag. Auf der anderen Seite gestatten sich die 4 Prozent der Weltbevölkerung, die in den USA leben, 27 Prozent des Weltenergieverbrauchs und sichern sich riesige Anteile an den Ressourcen der Welt. Dieses Ungleichgewicht ist so frappant, dass man eigentlich erwarten müsste, dass die öffentliche Meinung Amerikas hierin das Problem Nummer eins sähe. Ersatzweise würde man es zumindest von den US-Soziologen erwarten. Doch dieses Thema wird nur selten angeschnitten, allenfalls in Randpublikationen oder unter dem Deckmantel des Themas »Energieknappheit«.
Amerikas Führungsrolle in der Welt Auf vielen Gebieten versagen die Vereinigten Staaten bei der Ausübung ihrer Führungsrolle in der Welt, aber sie gestatten dann nicht einmal anderen Institutionen, diese Aufgaben an ihrer Stelle wahrzunehmen. Mangelnde Führung ist den USA bei der Regelung von Umweltfragen, von Problemen des Finanzwesens und der Weltwirtschaftsordnung anzukreiden – und zwar, weil die politischen Institutionen des Landes Derartiges verhindern (durch wechselseitige institutionelle Behinderung und durch ein Regiment der Spezial- und Lokalinteressen im Kongress). Hinzu kommt vermutlich auch, dass die amerikanischen Interessen, wie sie in führenden US-Kreisen wahrgenommen werden, von derartigen Regelungen nicht ausreichend profitieren würden. Man kann durchaus den Standpunkt vertreten, dass bis zu einem gewissen Punkt die amerikanischen Interessen unter dem Strich davon profitieren, dass die Dinge nicht hinreichend geregelt und geordnet sind. Die mangelhafte Ausübung der amerikanischen Führungsrolle in der Welt ist also auf einen Mangel an Möglichkeiten (wegen innenpolitischer Behinderung der Institutionen) und auf einen Mangel an Willen (aufgrund politischer und wirtschaftlicher Eigeninteressen) zurückzuführen. So sind die Vereinigten Staaten das einzige entwickelte Land der Welt, das die UN-Konvention zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung gegen Frauen (CEDAW) nicht ratifiziert hat, weil dies bedeutet hätte, dass die Autorität der US-Einzelstaaten in Fragen des Familienrechts durch das neue Recht überlagert worden wäre.11 Ähnliche Beschränkungen gibt es bei vielen anderen Verträgen und Abkommen; immer sind die USA der einzige Außenseiter unter den hochentwickelten Ländern. Sie behandeln die UNO wie einen Rivalen im Kampf um die Füh-
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rungsrolle in der Welt. Für die Vereinigten Staaten wäre die Anerkennung und Stärkung der UNO gleichbedeutend mit einem Abstieg vom Podest der Führungsmacht der ganzen Welt und mit dem Verzicht auf den Status einer Supermacht. In den 1980er-Jahren verlagerte sich die Macht innerhalb der UNO von der Generalversammlung (eine Stimme pro Nation) auf den Sicherheitsrat und seine fünf ständigen Mitglieder, wobei die USA die stärkste Hegemonialmacht der Welt sind: Hier zeigt sich die Neue Weltordnung in nuce. Die USA entzogen kritischen UN-Agenturen wie der UNESCO und dem UN-System insgesamt die Finanzen, indem sie chronische Beitragsrückstände aufsummen ließen; sie verweigern der International Labour Organization (ILO) die Ermächtigung, üben politischen Druck auf das UNEntwicklungsprogramm UNDP (UN Development Programme) und andere Agenturen aus, sie umgehen den Sicherheitsrat, wann immer es ihnen passt – beispielsweise im Fall der Nato-Operationen im Kosovo. Anstatt den Vereinten Nationen mehr Geld und Macht zu geben, agieren die USA lieber über den IWF und die Weltbank, wo das Stimmrecht auf den finanziellen Anteilen basiert. Solche Agenturen können die USA leicht unter ihre Kontrolle bringen, und das Ergebnis ist der Washingtoner Konsens. In den Einstellungen der Vereinigten Staaten zur UNO und zu anderen multilateralen Institutionen gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Schichten und Strömungen. Ironischerweise haben die USA immer an vorderster Front gekämpft, wenn es um die Schaffung multilateraler Institutionen ging: Der Internationale Gerichtshof geht auf eine amerikanische Initiative aus dem Jahre 1899 zurück; Völkerbund und UNO sowie die ILO wurden von den USA entworfen und vorangetrieben (Reisman 1999/2000: 65). Reisman arbeitet die multiplen Rollen der Vereinigten Staaten bei ihrem Umgang mit multilateralen internationalen Institutionen heraus, Rollen, die einander wiederholt auch widersprechen (Reformprophetie, organisatorischer Ansatz, Wächterrolle und Reaktionen auf innenpolitischen Druck). Auf diese Weise »gehören die USA zu den eifrigsten Unterstützern multilateraler Institutionen, und doch widersetzen sie sich in verschiedenen Situationen den anderen Mitgliedern und der Verwaltung von einigen ebendieser Institutionen« (ebd.: 63). Der Reformeifer der Vereinigten Staaten reflektiert »den Wunsch, sich an wichtiger Stelle als internationale Sozialingenieure hervorzutun« (ebd.: 65). »Das Symbol von Recht und Gesetz ist von äußerster Wichtigkeit. Das Recht muss nach Meinung der Amerikaner in der internationalen Politik eine genauso große Rolle spielen wie in ihren eigenen innenpolitischen Verfahren, und Institutionen der Rechtsprechung gelten als zentral« (ebd.). Dementsprechend sind die »institutionellen Modalitäten, an deren Zustandekommen die USA maßgeblich beteiligt waren«, legalistisch (ebd.:
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75). Diese Neigung zu internationalen Sozialexperimenten unter den Gesichtspunkten der Machbarkeit und des Rechts (social engineering) belegt, wie schwach die Moderne in Amerika verankert ist; denn hier wird vor allem ein Komplex von Überzeugungen der Aufklärungszeit aus der Innen- in die Außenpolitik gekehrt. Auf die untergründige Strömung des amerikanischen Isolationismus reagieren amerikanische Internationalisten mit der Aussage, sie seien für das internationale Engagement der USA, aber nicht unter den Vorzeichen der Vereinten Nationen. Die UNO wird, weil sie einem anderen Weltordnungskonzept folgt, als unamerikanisch wahrgenommen oder – angesichts der Mehrheit der Länder der Dritten Welt in der UN-Vollversammlung und deren Kritik an der amerikanischen Hegemonie – gar als antiamerikanisch. Die Länder des Südens sind in den amerikanischen Medien und bei den politischen Eliten des Landes – denen die Mehrheit der Welt mit ihren Sorgen politisch als zweitrangig gilt – zur Zielscheibe stereotyper Betrachtung und Behandlung geworden. Kissingers Spruch, dass die Welt südlich von Paris und Bonn politisch irrelevant sei, fördert nicht gerade die Multipolarität der Welt. Hier zeigt sich ein weiterer Zug der amerikanischen Außenpolitik, der Jackson’sche Ansatz zur Lösung internationaler Angelegenheiten, auch »Joe-Sixpack-Ansatz« genannt (Mead 2001).12 Im Zeichen des amerikanischen Hangs zur Selbstbespiegelung neigen die amerikanischen Mainstream-Medien dazu, in allen anderen Ländern Probleme zu sehen, nur nicht im eigenen Land. Nach dieser oberflächlich homogenisierenden Vision werden andere Länder als »Bekloppte« oder »Schurkenstaaten« gebrandmarkt, nationalistische Führer für »verrückt« gehalten; Entwicklungsländer sind rückständig, die EU leidet an »Verkrustungen des Arbeitsmarkts«, und Japan werden wegen seines ökonomischen Nationalismus Vorwürfe gemacht. Inzwischen sind die USA auch sehr opportunistisch geworden, wenn es um Wirtschaftsbeziehungen zur Volksrepublik China oder um Stahlimporte aus Europa und anderen Ländern geht (die mit Einfuhrzöllen belegt werden). Der US-Senat hat den Vertrag zum umfassenden Verbot von Atomtests (Comprehensive Test Ban Treaty) nicht ratifiziert, und die Bush-Administration plant die Installation eines Weltraum-Raketenabwehrsystems. Der Weigerung, den Vertrag zum Verbot von Atomtests zu ratifizieren, liegt der Wunsch zugrunde, »sich alle politischen und militärischen Optionen offen zu halten, ja sogar deren Umfang und Spektrum noch zu erweitern« (Andréani 1999/2000: 59). Das Weltraum-Schutzschild-Programm wirft die gesamte, über viele Jahre hin aufgebaute Architektur zur Eindämmung und Kontrolle des Wettrüstens über den Haufen; der dem US-Kongress 2002 vorgelegte
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Bericht zur politischen Neuordnung der Atomwaffenstrategie (Congressional Nuclear Posture Review) und die Idee, gegenüber bis zu vierzig Ländern auf nukleare Abschreckung zu setzen, zeigt deutlich, was mit »Offenhaltung von Optionen« gemeint ist. Bemerkenswert ist nicht so sehr die amerikanische Ausnahmestellung, sondern dass andere Länder der amerikanischen Führung im Großen und Ganzen ziemlich fraglos folgen. Unter den OECD-Ländern ist Frankreich die große Ausnahme (Mamère und Warin 1999); auch Russland und China haben als Gegengewicht fungiert. Russland ist durch die Washingtoner Politik unter dem Deckmantel des IWF ernsthaft geschwächt worden; China ist durch die Aussicht auf Mitgliedschaft in der WTO praktisch neutralisiert worden. Die Stärke der USA ist auch eine Funktion der Schwäche oder des Mangels an politischem Zusammenhalt anderer politischer Konstellationen. Mit anderen Worten, der europäische und asiatische Opportunismus stehen dem amerikanischen in nichts nach, wenn es um internationale Angelegenheiten geht. Daraus resultiert das globale Patt. Der internationale Unmut über die Vereinigten Staaten wegen deren Nichtunterzeichnung des Kyoto-Protokolls ist eine Episode, bei der viele Länder von Japan bis zur EU konvergierten. Ein weiteres wichtiges Beispiel dieser Art ist, dass sich Staaten aus der ganzen Welt zusammengefunden haben, um einen Internationalen Strafgerichtshof zu gründen; nur die USA stehen abseits. Eine These der hegemonialen Stabilitätstheorie, wie sie Kindleberger formuliert hat und wie sie von Krassner, Keohane und Ruggie weiterentwickelt wurde, lautet, dass »in Abwesenheit einer Weltregierung die globale Wirtschaft auch dann stabilisiert werden kann, wenn eine mächtige Nation die Rolle des Schwungrads übernimmt« und dabei in mehrfacher Hinsicht stabilisierend wirkt (Kuttner 1991: 12). Es handelt sich dabei eher um eine Politik der Anreize und Belohnungen als um eine der Strafmaßnahmen. Im Zeichen eines hegemonialen Kompromisses akzeptieren die EU-Länder und Japan im Rahmen der G7, der OECD, der WTO, des IWF und der Weltbank im Wesentlichen die US-Politik, weil sie für alle Seiten von Vorteil ist, etwa im Falle der EU bei Handelskonzessionen und in der Landwirtschaftspolitik, und weil diese Länder unter dem Schirm des US-Militärs Schutz finden. Das schließt zwar Streitigkeiten nicht aus, aber die politischen Differenzen sind nicht groß genug, um den Karren aus der Bahn zu werfen. Huntington (1999) schlägt stattdessen ein hybrides internationales System vor, das Unipolarität und Multipolarität kombiniert: ein uni-multipolares System. Unter ähnlichen Gesichtspunkten erforscht Gruber (2000) die »Macht des Alleingangs« im Zusammenspiel mit Ad-hoc-Koalitionen – ein Modell und eine Formel, die für
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den Golfkrieg ebenso gelten wie für die NATO-Operationen im Kosovo. Bei fast allen Theorien über internationale Beziehungen liegt das Problem darin, dass sie dazu neigen, Absurditäten und politische Improvisationen großartig zu rationalisieren. Was soll man etwa von einer »hegemonialen Stabilität« halten, wenn es trotzdem immer wieder zu ökonomischen Krisen kommt (Tequila-Krise, Asienkrise, Russlandkrise, Lateinamerikakrise, Argentinienkrise) und wenn sich im Nahen Osten die Pattsituation einfach nicht lösen lässt? Die Theoriebildung im Bereich der internationalen Beziehungen neigt zur Bevorzugung der Politik gegenüber der Ökonomie, zur Bevorzugung der offenen gegenüber der verdeckten Politik, und sie unterschätzt oft Sicherheits- und geopolitische Fragen. Eine Politik, die man besser als absurd beschreiben sollte, erhält stattdessen einen systematischen Zuckerguss.
Schluss Der Antiamerikanismus ist so langweilig und altmodisch, dass man, um ihn zu vermeiden, geneigt sein könnte, den amerikanischen Konservatismus einfach als genauso gegeben hinzunehmen wie das Wetter, oder dass man ihn und das amerikanische Beharrungsvermögen allein schon wegen ihres Andersseins schätzt. Der schrille Konservatismus in den amerikanischen Medien, von CNN bis zum Wall Street Journal, ist so habituell, dass man ihn kaum noch als solchen wahrnimmt. Kontrapunktisch könnte man dieser Denkweise auf zweierlei Weise entgegenwirken: Zum einen wäre festzustellen, dass dabei die globalen Effekte der amerikanischen Ausnahmestellung als selbstverständlich hingenommen werden, und zum anderen kann man sagen, dass der Amerikanismus genauso altmodisch ist wie der Antiamerikanismus. Laut Lipset (1996: 267) besteht die »die Kehrseite der amerikanischen Ausnahmestellung« in »Entwicklungen, die sich ebenso wie viele der positiven Merkmale aus den Organisationsprinzipien dieses Landes herleiten lassen. Dazu gehören ein Ansteigen der Kriminalität, die Zunahme des Drogenmissbrauchs, die Auflösung der amerikanischen Familie, sexuelle Promiskuität und exzessive Prozesssucht.« Bei dieser stark moralisierenden Diagnose werden stärker strukturell bedingte, eigentlich noch beunruhigendere Trends übersehen: etwa der Fortbestand, wenn nicht gar die Vertiefung sozialer Ungleichheit, der Niedergang der amerikanischen Demokratie und die strukturelle Schwäche der amerikanischen Bundesregierung. Was jedoch in unse-
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rem Zusammenhang noch wichtiger ist, diese Bewertung richtet sich allein nach innen, die außenpolitischen Konsequenzen der amerikanischen Ausnahmestellung für die Welt geraten überhaupt nicht in den Blick. Im Weltmaßstab gesprochen, besteht die dunkle Kehrseite der amerikanischen Sonderstellung eher darin, dass der »American way« kein replizierbares, langfristig durchzuhaltendes Entwicklungsmodell ist. Der freie Markt und Demokratie à la Amerika sind keine leuchtenden Beispiele. Amerikanische Konsummuster sind nicht replizierbar – nicht einmal innerhalb der USA. Nicht jeder Mensch auf dieser Welt will oder kann eine Familie mit zwei Autos, ein Haus in der Vorstadt und eine College-Ausbildung haben. Natürlich will das nicht einmal jeder Amerikaner, doch der Maßstab wird als solcher weiterhin nicht ernsthaft hinterfragt. Auch kann und sollte man nicht in Amerikas ökologische Fußstapfen treten – durch Energieverschwendung und exzessiven Ressourcenverbrauch. Das zweite fundamentale Problem ist die soziale Ungleichheit. Globalisierung auf Amerikanisch und gemäß dem Washingtoner Konsens (oder dem, was davon noch übrig ist) passt genau in dieses Muster. Dabei kommt eine Globalisierung heraus, bei der die Sieger alles bekommen, eine Globalisierung, die zunehmend amerikanische Verhältnisse widerspiegelt: krasse Ungleichheit, eine angeberische Marketingkultur und ein Zwangsregime gegenüber Abweichlern – alles im Weltmaßstab. Dieses Muster der realen Globalisierung, das sich bereits in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hatte, ist nun in den US-Reaktionen auf die Attacken vom 11. September 2001 überzogen worden und droht, außer Kontrolle zu geraten. Die amerikanischen Institutionen und die US-Machtbalance in der Innenpolitik sind letztlich nur eine Variable unter vielen anderen in der Weltpolitik. Und wenn wir eine Situation bewerten, ist dabei nicht nur zu beachten, was geschieht, sondern auch, was nicht geschieht. So bezieht sich eine immer stärker in den Vordergrund tretende Diskussion inzwischen auf das Defizit an globalem öffentlichem Nutzen (Kaul u.a. 1999). Doch »globaler öffentlicher Nutzen« ist wiederum nur ein von den USA erzwungener Euphemismus, denn »globale Steuerung« (global governance) ist in konservativen amerikanischen Zirkeln tabu. Welche Gegenentwürfe sind denkbar zum Szenario einer Globalisierung auf Amerikanisch? Die Enron-Episode könnte zu einer Schwächung des Aktienmarkts sowie zu einer Wiedereinführung stärkerer Kontrollen und Regulierungen für amerikanische Unternehmen führen – außerdem im Ausland zu einem Abrücken von amerikanischen Buchführungsstandards und Geschäftspraktiken. Die weltweite Akzentverschiebung vom gebundenen, sozial engagierten Kapitalismus zum spekulativen Anlegerkapitalismus (stakeholder vs.
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shareholder), d.h. hin zum angloamerikanischen Modell des Kapitalismus, erscheint als riskant, wenn das US-Modell des Aktionärskapitalismus sich selbst als Risiko erweist. Ein weiterer möglicher Gegenentwurf wäre ein Wiedererstarken des »anderen Amerika«. Amerikas Ausnahmestellung ist letztlich eine Karikatur, eine Art Selbstkarikatur, nicht unähnlich den alten Stereotypen von »Nationalcharakteren« in anderen Ländern. Diese Sonderstellung ist durch und durch altmodisch; sie datiert aus einer Zeit vor den gegenwärtigen Realitäten des amerikanischen Multikulturalismus, und sie ignoriert das »andere Amerika«: das Amerika der Bürgerrechtsbewegung, das Amerika von »1968«, das Amerika der sozialen Bewegungen – von der Mobilisierung gegen den Vietnamkrieg bis zur Bewegung von Seattle (anlässlich der WTO-Tagung 1999). Amerikas Sonderweg ignoriert ebenfalls die Meinungsumfragen, bei denen sich meistens eine Mehrheit für die Rechte von Arbeitern und Frauen, für Umweltschutz und viele andere Themen ausspricht, die wesentlich progressiver sind als jene Themen, die in den Mainstream-Medien und in Kreisen der politischen Elite eine große Rolle spielen. Die These von Amerikas Sonderstellung ignoriert ein Land, in dem Michael Moores Stupid White Men (2002) in nur einer Woche neun Auflagen erreicht und auf Platz eins der Bestsellerlisten stürmt. Sie bezieht sich auf ein Phantasieland, das es in dieser Form gar nicht gibt und das ein wenig Walt Disneys Modellstadt Stepford ähnelt:13 Sie bezieht sich auf ein Land, das von großen Medienkonzernen desinformiert und von einer reichen politischen Elite ganz nach deren eigenen Vorstellungen und Plänen regiert wird. Das Aufkommen einer neuen politischen Bewegung, ähnlich den grünen Parteien in Europa, ist möglich, wird jedoch von den institutionellen Eigenheiten des amerikanischen politischen Systems behindert, von denen schon die Rede war. Ein weiterer denkbarer Gegenentwurf wäre ein Politikwechsel in anderen Ländern – hin zu einer Politik, die sich an dem ausrichtet, was im Kyoto-Protokoll vereinbart wurde, wobei dieses Protokoll auch ohne die Unterschrift der Vereinigten Staaten einfach in Kraft gesetzt wird. Ein engerer Zusammenhalt der EU und engere substanzielle und politische Beziehungen speziell zwischen den europäischen und asiatischen Ländern einschließlich Japans würden einen signifikanten Schritt in diese Richtung bedeuten. Die neu industrialisierten Länder in Südasien, Südostasien und Lateinamerika sowie die Schwellen- und Entwicklungsländer könnten ein gemeinsames Interesse an einem gemeinsamen Programm zur multilateralen Regulierung des internationalen Finanzwesens und an einer Neuorientierung hin zu einem sozialen und demokratischen Kapitalismus entdecken. Internationale Arbeiter- und Gewerkschaftsorganisationen und soziale Bewegungen, die für eine globale Reform eintreten – von Seattle bis Porto Alegre –,
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enthalten weiteres Potenzial für die Bildung einer transnationalen Reformkoalition, die in der Lage wäre, die Tagesordnung der Weltpolitik zu verändern. Eine solche Koalition fortschrittlicher Kräfte aus Europa, Asien, Nordamerika und Lateinamerika könnte der Globalisierung eine neue Richtung und eine neue Gestalt geben.
Anmerkungen 1 Ich danke Jeff Powell und Joost Smiers für ihre Kommentare. 2 So bin auch ich, ausgehend von meinen Arbeiten über Fragen der globalen Zukunft, zur Beschäftigung mit der US-Politik gekommen (vgl. Nederveen Pieterse 2000b). 3 »Der Konstitutionalismus, der Gedanke, dass eine schriftliche Verfassung das ›oberste Gesetz des Landes‹ festlegt und den Herrschaftsinstanzen Grenzen setzt – auch den vom Volk gewählten Volksvertretungen –, muss als […] eines der wichtigsten Elemente der amerikanischen Moderne gelten. […] In den Vereinigten Staaten wurde die Verfassung Kodifizierung und Symbol des ›allgemeinen Willens‹« (Heideking 2000: 225). 4 Bei der Präsidentschaftswahl vom Oktober 2000 wurden noch weitere Probleme deutlich: »Als praktisch einzige große demokratische Industrienation haben die Vereinigten Staaten keine nationale Wahlkommission, die vorschreibt, was bei Abstimmungen zu tun und zu unterlassen ist« (Hoagland 2000). 5 Weitere Daten und Nachweise zur Ungleichheit in den USA und auf der Welt finden sich bei Nederveen Pieterse 2003. (Diesem Beitrag ist das Material des vorliegenden Abschnitts entnommen.) 6 »In Präsident Clintons Haushaltsplan für das Finanzjahr 2000 stehen an erster Stelle Verteidigungsausgaben von fast 300 Milliarden Dollar, während für das Erziehungswesen an zweiter und das Gesundheitswesen an dritter Stelle nur 35 Milliarden bzw. 31 Milliarden Dollar vorgesehen sind! Natur und Umwelt stehen mit 24 Milliarden Dollar an fünfter Stelle der Liste« (Croose Parry 2000: 13). Die Budgetausweitung, die von der Bush-Administration im Haushaltsjahr 2002 erstrebt wurde, belief sich für den Verteidigungshaushalt auf insgesamt 379 Milliarden Dollar. 7 Im Erziehungswesen rangieren die USA »auf dem 19. Platz unter den 29 Ländern der OECD-Statistik. 28 Millionen Amerikaner können die Vereinigten Staaten nicht auf einer Weltkarte identifizieren! […] Die Lehrergehälter in den USA sind prozentual nach ihrem Anteil am gesamten Volkseinkommen weltweit am niedrigsten« (Croose Parry 2000: 13).
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8 Im Zuge dieser Verhandlungslösung wurden die US-Pflichtbeiträge zur UNO von 25 auf 20 Prozent des gesamten Beitragsaufkommens der Welt gesenkt (während der US-Anteil am Bruttosozialprodukt der Welt ungefähr 22 Prozent beträgt; Heisbourg 1999/2000: 5). 9 Ein positives Gegenbeispiel ist F.S. Saunders’ Darstellung der Koordination zwischen der amerikanischen Politik in Zeiten des Kalten Krieges und der Kulturpolitik (1999). 10 Vgl. Nederveen Pieterse 1989, Kap. 12 (»Continuities of Empire«). 11 Vgl. http://www.cwfa.org/library/nation/2000-09 sowie Hirsen 1999. 12 Nach dem amerikanischen Präsidenten Andrew Jackson (Regierungszeit 1829-1837). A.d.Ü. 13 In dem Film The Stepford Wives (1975; Regie: Bryan Forbes; nach einem Roman von Ira Levin; dt. Die Frauen von Stepford) sichern die Männer der Kleinstadt Stepford, Connecticut, sich dadurch totale Kontrolle, dass sie sich roboterartige Frauen klonen, die dem altmodischen Stereotyp der perfekten Hausfrau entsprechen. Sie manipulieren das Kleinstadtleben unter Einsatz aller Mittel ganz in ihrem Sinne. A.d.Ü.
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Die Amerikanisierungsdebatte am Beispiel Frankreichs Richard Kuisel
Der Begriff »globales Amerika« muss sich in der Praxis bewähren; sinnvoll ist ein Test auf nationaler Ebene, etwa am Beispiel Frankreichs. Wie lässt sich dieser Begriff applizieren? Man kann die Frage auch anders formulieren: Ist Frankreich amerikanisiert worden? Es gibt beträchtliche, teils sogar quantifizierbare Belege dafür, dass diese stolze Nation sich hat amerikanisieren lassen. Beginnen wir mit der Sprache. Das Englische, besser gesagt: das amerikanische Englisch, ist bei den Franzosen die beliebteste Zweitsprache. Bei einer neueren Meinungsumfrage stimmten zwei von drei befragten Franzosen und Französinnen der Aussage zu, dass »jeder lernen sollte, Englisch zu sprechen«.1 Das amerikanische Englisch ist in der Popmusik, in Film, Fernsehen, Rundfunk, Internet und Werbung so allgegenwärtig, dass die Regierung den Versuch unternommen hat, seinen Gebrauch mit gesetzlichen Maßnahmen zu begrenzen. Weil die französische Sprache zu den stärksten Identitätsmerkmalen der französischen Nation gehört, ist die Popularität dieses angelsächsischen Imports ein deutlicher Indikator für das Ausmaß der Amerikanisierung. Hinzu kommen noch Fast Food und Soft Drinks. In Frankreich gibt es inzwischen rund 800 McDonald’sFilialen, und damit hat sich das Land zum drittgrößten überseeischen Markt für diesen multinationalen Konzern mit Stammsitz in Chicago entwickelt. Auf ähnliche Weise beherrscht Coca-Cola den größten Teil des Marktsegments für Cola und rund die Hälfte des französischen Marktes für Soft Drinks. Im Unterhaltungssektor sieht es nicht viel anders aus als bei Hamburgern und kohlensäurehaltigen Getränken. Im Jahr 1998 wurden fast 70 Prozent der Kinokarten in Frankreich für Hollywood-Filme verkauft. Von den zwanzig beliebtesten Filmen waren nur drei französischen Ursprungs – der Rest kam aus Ameri-
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ka.2 Einige Fernsehkanäle sind auf amerikanische Programme spezialisiert. Ende der 1990er-Jahre zog Disneyland Paris mehr Besucher an als Notre Dame oder der Louvre. Weitere Belege kommen aus dem Bereich des Sports, einer weiteren Form der Unterhaltung. Nachdem 1992 bei den Olympischen Spielen ein amerikanisches All-Star-Team die Goldmedaille im Basketball gewonnen hatte, wählten französische Teenager in einer Meinungsumfrage Michael Jordan zum in Frankreich beliebtesten Sportler.3 Als die französische Nationalmannschaft 1998 im eigenen Land die Fußball-Weltmeisterschaft gewann, hörten die triumphierenden Fans während der Siegerehrung aus dem Stadionlautsprecher nicht die Marseillaise, sondern das Thema aus der Filmmusik zu Star Wars.4 Weitere Daten und Belege kommen aus der Wirtschaft. Bei einem Schaufensterbummel in fast jeder französischen Stadt wird man an den Auslagen amerikanischer Handelsketten wie Gap, Toys ’R’Us, Baskin Robbins und Ralph Lauren vorbeischlendern. Einkaufs-, Möbel- und Gartencenter im amerikanischen Stil finden sich an den Ausfallstraßen auch kleinerer Städte. Das Management französischer multinationaler Unternehmen lässt sich nach Meinung der Wirtschaftspresse von dem amerikanischer Firmen praktisch nicht mehr unterscheiden. Manager solcher Firmen sprechen fließend Englisch, haben einen MBA (Master of Business Administration) in der Tasche und überdies gelernt, wie man auf dem amerikanischen Markt erfolgreich besteht.5 In Meinungsumfragen kommt eine wachsende Besorgnis über Amerikas kulturelle Präsenz in Frankreich zum Ausdruck.6 Die größten Sorgen bereiten dabei die Sektoren Kino und Fernsehen. In ihrem Aussehen lassen sich französische Teenager von ihren amerikanischen Vorbildern kaum noch unterscheiden. Französische Eltern beklagen, sie würden ihre eigenen Kinder im Teenageralter, was Kleidung, Musik, Sprach- und Essgewohnheiten angehe, kaum noch wiedererkennen. Prominente französische Politiker stimmen in den Chor der Beschwerdeführer über den allgegenwärtigen Einfluss der amerikanischen Massenkultur ein. Der französische Außenminister Hubert Védrine kritisierte die Vereinigten Staaten als »Übermacht« (Hyperpower) und warnte vor den Gefahren einer »kulturell einförmigen Welt«.7 Kann man aus dieser eindrucksvollen Liste von »Fakten« den Schluss ziehen, dass das »globale Amerika« Frankreich bereits erobert habe? Müsste das Phänomen nicht doch zunächst genauer untersucht werden, ehe wir einen solchen Schluss wagen dürfen? Schon die Fragestellung »Ist Frankreich (oder sind die Franzosen) amerikanisiert?« bedarf der Präzisierung. Was ist gemeint, wenn wir Schlüsselbegriffe wie »amerikanisiert« und »die Franzosen« verwen-
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den? Ohne vorherige Präzisierung kann die gestellte Frage nicht mit Ja beantwortet werden.
Definition von »Amerikanisierung« Das Phänomen der Amerikanisierung ist in der Forschung intensiv erörtert worden, und auch der vorliegende Text soll einen Beitrag zu dieser Debatte leisten. Doch bevor wir uns den Komplexitäten des Begriffs »Amerikanisierung« zuwenden, schlage ich eingangs folgende Definition vor: Unter Amerikanisierung versteht man den Import von Produkten, Vorstellungen, Technologien, Verfahrens- und Verhaltensweisen, die eng mit Amerika und den Amerikanern verbunden sind, durch Nichtamerikaner. Allgemeiner gesprochen lässt sich das Phänomen auch als Übernahme des Massenkonsums, des Marktkapitalismus und der Massenkultur beschreiben. »Amerikanisierung« ist dabei aber nicht dasselbe wie »Modernisierung« oder »Globalisierung«, auch wenn sich die drei Bereiche nicht unbeträchtlich überlagern. Soweit sich Amerikanisierung als Transfer quantifizierbarer Einheiten wie Waren oder Technologien definieren lässt, ist sie sogar messbar, etwa wenn es darum geht, über wie viele Kinoleinwände in Frankreich Hollywood-Filme flimmern. Soweit sich Amerikanisierung jedoch auf Verhaltensweisen und Werte bezieht, wenn es also um die Frage geht, wie stark eine bestimmte Gruppe von Menschen »amerikanisiert« ist, sind Größe und Umfang dieses Einflusses viel schwerer zu beurteilen. Als Historiker sehe ich in der Amerikanisierung einen historischen Prozess mit eigener Chronologie, Geographie und Dynamik. Er begann um 1890 oder im darauf folgenden Jahrzehnt – zunächst in Westeuropa, später immer mehr im globalen Maßstab. In Frankreich bis zum Ersten Weltkrieg kaum wahrnehmbar, war dieser Prozess in den 1950er-Jahren in vollem Gange und im Jahr 2000 bereits weit fortgeschritten. Auch die Kategorie »die Franzosen« erfordert eine begriffliche Präzisierung. Wer die Amerikanisierung untersucht, muss, um der Falle unzulässiger Verallgemeinerungen über eine ganze Bevölkerung zu entgehen, identifizieren, wer in diesen Prozess einbezogen war und ist. Auch heute noch hat er nicht alle Franzosen erfasst. Wenn man allein vom äußeren Erscheinungsbild ausgeht, gibt es immer noch Dörfer in abgelegenen Gegenden, die gegen amerikanische Einflüsse anscheinend immun sind. Aber auch wer von der Amerikanisierung erfasst wurde, ist auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Historisch gesehen war zum Beispiel die Großindustrie für amerikanische Geschäftspraktiken empfängli-
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cher als kleine Firmen oder große Teile der Landwirtschaft. Wo immer das möglich ist, müssen Aussagen über die Amerikanisierung also auf soziale Gruppen zugeschnitten sein, die kleiner sind als »die Franzosen«. Um beurteilen zu können, ob Frankreich oder irgendeine andere Gesellschaft amerikanisiert wurde, müssen wir das Phänomen zunächst im Lichte neuerer Forschungsergebnisse betrachten. Der allgemeine Trend solcher Forschungen lief in den beiden letzten Jahrzehnten auf die Erkenntnis hinaus, dass dieser Prozess doch komplexer und dass er als Homogenisierungskraft weniger wirkungsvoll ist als zuvor angenommen. Im neueren Forschungsvokabular lauten die Schlüsselbegriffe »Assimilation«, »Diversität« oder so ähnlich. Ob es so etwas wie eine »nationale Kultur« überhaupt gibt, wird neuerdings in Zweifel gezogen. In einigen Fällen spricht man anstatt von Amerikanisierung jetzt lieber von Globalisierung. Weil solche Forschungen im Endeffekt darauf hinauslaufen, den Begriff der Amerikanisierung zu unterminieren, besteht meine Aufgabe jetzt darin, diese Forschungen zu sichten, zu überprüfen und das Konzept der Amerikanisierung als eine für das Nachdenken über die neuere Geschichte nützliche Kategorie zu erweisen. Ausgangspunkt in der neueren Forschung war die Zurückweisung der These vom amerikanischen Kulturimperialismus.8 Bis in die 1980er-Jahre dominierte der Ansatz, die Amerikanisierung lasse sich am besten in Begriffe fassen, wenn man von einem amerikanischen Hegemon ausgehe, der passiven Rezipienten mittels Manipulation seine Ansichten und Ziele letztlich aufoktroyiere – und der dabei die Europäer praktisch zu Kolonialbewohnern mache und im Interesse der Vereinigten Staaten eine kulturelle Homogenisierung der Welt herbeiführe. In dieser Sicht war die Amerikanisierung lediglich eine Form des »Kulturimperialismus«. Diese allzu simplistische und tendenziöse Sicht wurde jedoch zu Recht von Experten widerlegt, die darauf hinwiesen, dass der Prozess wesentlich komplizierter und deutlich weniger unilateral ist, als die Verfechter der These vom Kulturimperialismus annähmen. Leider gibt es immer noch prominente französische Intellektuelle wie den kürzlich verstorbenen Pierre Bourdieu, die diese Forschungen einfach nicht zur Kenntnis nehmen und fortfahren, ihre Sicht des Kulturimperialismus zu propagieren.9 Die neuen kritischen Analysen aus den letzten zwanzig Jahren haben die Theorie vom Kulturimperialismus widerlegt und unser Verständnis der Amerikanisierung auf vielfältige Art und Weise gefördert. Dabei ist leider auch eine Tendenz zu verzeichnen, die zu neuen Verzerrungen führen kann – die Tendenz, das Phänomen klein zu reden. In teils extremen Formulierungen wird die Signifikanz der Amerikanisierung samt ihrer homogenisierenden Effekte geschmälert und damit
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das ganze Konzept sozusagen vom Sockel geholt. Im vorliegenden Beitrag soll dagegen das neue, differenziertere Verständnis der Vorgänge so in die Argumentation eingebaut werden, dass die realen Umbrüche und die homogenisierende Wirkung dieser Transformation bewahrt werden. Wenn das Konzept des Kulturimperialismus aufgegeben wird, sollte die Theorie nicht zu sehr ins andere Extrem verfallen. Wir sollten Prozesse wie Assimilation (Anverwandlung der Einflüsse) und Globalisierung nicht so weit in den Vordergrund schieben, dass uns dabei der Blick für die Bedeutung unseres Untersuchungsgegenstandes verloren geht. Vier Perspektiven, die in der Literatur zur Amerikanisierung hervorgehoben werden, verdienen eine eingehendere Betrachtung, weil jede der vier etwas zu unserem Verständnis beiträgt. Im Fall von Übertreibungen indes kann jede auch zu einer Fehldeutung des Ganzen führen.
Assimilation Eine Interpretationsrichtung, die gegenwärtig in der Literatur zum Thema dominiert, könnte man als die Assimilationsthese bezeichnen. Deren Verfechter argumentieren, dass jene, die amerikanische Waren, Werte und Verfahren importieren, also die Einheimischen oder Eingeborenen, das, was sie erhalten, sich anverwandeln und es auf diese Weise domestizieren. Der Austausch, der sich über den Atlantik hinweg vollzieht, käme demnach Verhandlungen unter Gleichberechtigten näher als einer Unterwerfung oder einer Transformation nach irgendeinem amerikanischen Vorbild. In dieser Sicht wählen sich die Europäer aus dem amerikanischen »Vorratslager« aus, was sie wollen, und machen es sich dann zu Eigen. Ein neueres Manifest dieser Domestizierungsthese ist Richard Pells’ Buch Not Like Us (1997). Der Titel bezieht sich auf die Fähigkeit und Entschlossenheit der Europäer, amerikanische Importe zu assimilieren. Zur Illustration der These können zwei Beispiele aus den Niederlanden dienen. Pells berichtet über eine berühmte Studie zum Thema, wie die Holländer auf die Fernsehserie Dallas reagierten. Unbeeindruckt vom Lebensstil der reichen Texaner deuteten sich die holländischen Zuschauer die Botschaft der Serie so um, dass sie in ihre eigene Erfahrungswelt passte: »Sie verwandelten [die Serie] von einem amerikanischen HochglanzImportprodukt in ein Drama, das ihr Privatleben erhellte« (Pells 1997: 261). Ein anderer Verfechter der Assimilationsthese zeigt, wie holländische Musiker amerikanische Popmusik auf eine Weise manipulierten, dass hybride Stilformen entstanden, die nicht länger als amerikanisch gelten können (Van Eltern 1996: 74-75). Die Musik wurde »holländisch«. In extremen Fällen haben Nichtamerikaner amerikanische
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Importe so stark angepasst, dass sie überhaupt nicht mehr amerikanisch wirkten. In Japan glauben zum Beispiel viele junge Leute, McDonald’s sei eine japanische Firma (Watson 1997: 37). Die Domestizierungsthese lässt sich auch auf das französische Wirtschaftsleben anwenden. Viele französische Firmen haben, um wettbewerbsfähig zu bleiben, gelernt, die Amerikaner nachzuahmen. Das Management hat Verfahrensweisen übernommen, die ursprünglich durch Firmen wie McDonald’s eingeführt worden waren. Französische Fast-Food-Firmen haben zum Beispiel Techniken repliziert, die durch McDonald’s eingeführt worden waren, darunter auch die Produktstandardisierung und den computerisierten Geschäftsbetrieb, aber sie nutzen sie, um traditionelle französische Speisen wie brioches (Blätterteiggebäck) zu vermarkten. Im Sektor für schicke Luxusgüter hat das Konglomerat LVMH (Louis Vuitton Moet Hennessy) sich mit Hilfe amerikanisch anmutender Firmenzukäufe zu einem großen multinationalen Unternehmen mit Sitz in Frankreich weiterentwickelt, das auf dem amerikanischen Markt sehr erfolgreich ist. Und auch die französische Filmwirtschaft ist Hollywood bis zu einem gewissen Grad gefolgt. Kürzlich haben sich einige französische Filmproduzenten an der Herstellung englischsprachiger Filme nach Hollywood-Produktionsmethoden versucht, um auf dem globalen Markt präsent zu sein. Eine signifikante Variante der von Assimilation ausgehenden Interpretation ließe sich als semiotischer Ansatz zum Phänomen kultureller Transmission bezeichnen. Nach Meinung dieser Experten, die sich überwiegend auf die amerikanische Popkultur spezialisiert haben, ist Amerikanisierung im Wesentlichen die Rezeption einer kulturellen Sprache – ein Symbolsystem, das die Europäer Schritt für Schritt selbst gemeistert haben.10 Inzwischen benutzen sie diese Zeichen wie die Amerikaner selbst, weil andere Europäer sie ohne weiteres verstehen. So sind der Cowboy und der amerikanische Westen zu globalen Symbolen für Freiheit und Ungebundenheit geworden. Italienische Fabrikanten benutzen sie, um anderen Europäern Bluejeans zu verkaufen. Der amerikanische Westen ist nicht länger Eigentum der Amerikaner. Kurz gesagt, die These von der Domestizierung amerikanischer Importe feiert die Fähigkeit der Nichtamerikaner, zu modifizieren, was sie bekommen. Im Fall der Alten Welt »europäisieren« die Einheimischen, was über den Atlantik kommt. Sie modifizieren Produkte und Techniken für ihren eigenen Konsum und Gebrauch, sodass letztlich das Europäische überlebt und die Vielfalt erhalten bleibt. Diese These hat die frühere vom Kulturimperialismus so gut wie aus dem Felde geschlagen – eine Theorie, die davon ausgegangen war, dass die Europäer schwach und gegenüber den amerikanischen Ein-
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dringlingen passiv seien. Man kann die Sache allerdings auch übertreiben: Wenn man nur betont, wie die Europäer aus amerikanischen Importen etwas Eigenes gemacht haben, verschieben sich die Gewichte; eine Nebenhandlung erscheint auf einmal als Haupthandlung. Die Erfahrungen, die Frankreich mit Coca-Cola, Disney und McDonald’s gemacht hat, sind instruktiv. Denn diese drei amerikanischen Konzerne haben, als sie auf der Bildfläche erschienen, praktisch nichts unternommen, um ihre Produkte, Geschäftsvorgänge oder Techniken für den Konsum vor Ort zu modifizieren (Kuisel 2000). Sie bestanden einfach darauf, dass sich die Franzosen an ihre Produkte anpassten. Eine Domestizierung fand nicht statt. Die Coca-Cola Company weigerte sich, als sie in den späten 1980er-Jahren zur großen Expansion ansetzte, Modifikationen an ihrem Soft Drink, an ihren Vertriebs- oder Geschäftsmethoden auch nur in Erwägung zu ziehen. Im Gegenteil, um ihren Umsatz zu erhöhen, griff die Firma zu aggressivsten amerikanischen Marketingpraktiken. Auch die Disney Company machte den Europäern praktisch keinerlei Zugeständnisse, als sie in den späten 1980er-Jahren vor den Toren von Paris ihren Themenpark errichtete. Das Disney-Management unter Führung von Michael Eisner entschied sich, vor die Wahl gestellt, einen Themenpark im amerikanischen Stil zu errichten oder sich dem europäischen Geschmack zu beugen, dafür, Disney World aus Florida zu duplizieren. Eisner sagte, er wolle den Pariser Park »bis ins letzte Detail so amerikanisch machen wie unsere einheimischen Parks – und das heißt, Fast Food statt verrauchter Bistros, Coca-Cola und Limonade statt Wein, Zeichentrickfilme statt Film Noir« (Eisner 1998: 270). Ein Besuch in diesem Park bestätigt Eisners Vision – es handelt sich um eine Phantasieversion Amerikas (Peer 1992). Bildlich gesprochen, haben sich die genannten Firmen einfach geweigert, Französisch zu sprechen. McDonald’s verhielt sich – unter der Prämisse, auch alle anderen, einschließlich der Europäer, wollten dasselbe wie die Amerikaner – ganz ähnlich wie Coca-Cola und Disney. Deutschland diente der Firma, als sie ihren Geschäftsbetrieb nach Europa ausdehnte, als eine Art Testgebiet. In den 1970er-Jahren versuchte McDonald’s seinen neuen Restaurants in Deutschland ein »deutsches« Aussehen zu geben – das heißt, es wurden mehr Holzverkleidungen eingebaut, das Licht war gedämpft, und es gab Bier. Aber diese Strategie erwies sich als Fehlschlag. McDonald’s änderte seine Taktik und gestaltete seine deutschen Filialen so, dass sie genau wie amerikanische aussahen. Das zahlte sich aus, und schon bald warfen die deutschen Franchise-Systeme Gewinn ab. Der Vorstand der internationalen Abteilung von McDonald’s lernte seine Lektion aus solchen Fehlern: »McDonald’s ist eine amerikanische Restaurantkette. Wenn wir in ein fremdes Land
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gehen und Teile der einheimischen Speisekarte in unser Menü integrieren, verlieren wir nur unsere Identität« (zitiert bei Love 1986: 437). Es sei besser, bei seinen amerikanischen Produkten, Designs und Produktionsweisen zu bleiben und abzuwarten, notfalls jahrelang, bis die ausländischen Konsumenten das Produkt akzeptierten. Französische McDonald’s-Restaurants nahmen auf ihrer Speisekarte vielleicht geringfügige Anpassungen vor, wie die Verwendung von Senf und Pfeffersauce anstelle von Ketchup bei Big Macs; auch in der Einrichtung wurde eine variable Bestuhlung eingeführt, um den Kunden das gesellige Beieinandersitzen zu erleichtern, und in der Werbung richtete man sich ein wenig am französischen Geschmack aus. Aber keine dieser Maßnahmen kommt einer Assimilation gleich. Am Essen, am Ambiente, am Appeal und am Geschäftsbetrieb wurde nichts Wesentliches verändert. Die bemühten Behauptungen dieser Firmen, sie seien französische Firmen, weil alle Zutaten zu den Big Macs oder zur Coca-Cola aus Frankreich kämen, klingen wenig überzeugend. Ihr Erscheinungsbild wirkt nicht französisch, wenn sie versuchen, ihren »amerikanischen« Charakter auszubeuten, oder wenn sie alle Firmenoperationen in Frankreich aus den Firmenzentralen in den Vororten von Chicago, in Atlanta oder in Burbank mit Argusaugen überwachen. Man sollte immer im Hinterkopf behalten, dass alle Pommes frites bei McDonald’s, ganz gleich ob sie in Seattle, Paris oder München verzehrt werden, exakt 9/32 Inches (ca. 0,7 cm) breit sind. Und was den besonderen Appeal von McDonald’s, Coca-Cola und Disney ausmacht, ist nicht ihre Anpassung an einheimische Produkte, sondern gerade die Assoziation mit »Amerika«. Was die Franzosen, zumindest die übergroße Mehrheit von ihnen, suchen, wenn sie Disneyland besuchen oder bei McDonald’s essen, ist ein »amerikanisches« Erlebnis. Interviews mit jungen Erwachsenen, die in den späten 1980er-Jahren mehr als 80 Prozent der zahlenden McDonald’s-Kundschaft ausmachten, haben gezeigt, dass sie diese Restaurants aufsuchten, weil man dort wie in Amerika essen konnte (Fantasia 1995: 217). Was sie damit meinten, war das grelle Licht und der Lärm, waren die farbenfrohen Uniformen der Angestellten, die Abwesenheit von erwachsenen Mittlerfiguren wie Kellnern, die Selbstbedienung und die freie Platzwahl. Ein Besucher, der zum ersten Mal dort war, sagte, es sei wie »ein Besuch in den Vereinigten Staaten«, und die Heranwachsenden fanden es dort »entspannend« oder »cool« und »unfranzösisch«. Diese Firmen feierten einen inhärenten Marktvorteil – und profitierten davon: Sie konnten anderen anbieten, was auch die Amerikaner genossen. Was viele gallische Konsumenten anscheinend suchen, ist die Möglichkeit, dieselben Produkte wie die Amerikaner zu konsumieren und dieselben Unterhaltungsmedien zu nutzen. Und dieser Wunsch,
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»Amerika zu kaufen«, ist nicht auf McDonald’s, Coca-Cola und Disney beschränkt. Hollywood unternimmt natürlich überhaupt nichts, um, abgesehen von der sprachlichen Synchronisation, seine Filme für den französischen Markt zu modifizieren. Auf ähnliche Weise übernehmen auch französische Fernsehkanäle amerikanische Programme. Kurz und gut, es kommt vieles über den Atlantik, das nicht assimiliert ist. Die Assimilationstheorie hat noch eine zweite Schwachstelle: Das Argument, Assimilation sei, wenigstens in Form der Imitation, ein Weg, um Vielfalt zu erhalten, ist logisch nicht schlüssig. Denn in dem Maße, wie die Franzosen gelernt haben, mit Amerikanern durch die Übernahme von deren Methoden und Ideen erfolgreich zu konkurrieren, haben sie auch ein gewisses Maß an »französischen« Eigenheiten geopfert und sind »amerikanischer« geworden. Unter den französischen Themenparks war zum Beispiel der Parc Astérix der »französischste«, weil er sich auf die Vision der französischen Geschichte aus den gleichnamigen Comics konzentrierte. Um mit dem neuen Disneyland konkurrieren zu können, gestaltete der Parc Astérix seine Attraktionen um und bietet jetzt auch Amüsements wie eine Fahrt auf dem Wasser unter dem Titel Le Grand Splatch an, wodurch man Disney wesentlich ähnlicher wird. Auf ähnliche Weise ist auch die französische Fast-Food-Industrie, indem sie lernte, mit der Firma mit dem großen abgerundeten goldenen M zu konkurrieren, im Stil von McDonald’s amerikanisiert worden.11 Erstaunt nimmt man die neuesten Bemühungen französischer Filmemacher wie Luc Besson zur Kenntnis, mit Hollywood zu konkurrieren, indem man englischsprachige Hollywood-Imitationen produziert. Könnte dies dazu führen, dass dem französischen Kino, wie einige Kinoexperten befürchten, sein Nationalcharakter genommen wird, nur um es zu einer zweitklassigen Hollywood-Kopie zu machen? Und was nun die semiotische These angeht, so sind die Franzosen, wenn sie, wie andere Europäer, dieselbe symbolische Sprache übernehmen wie die Amerikaner, dabei auf jeden Fall amerikanischer geworden. Anpassung in Form von Nachahmung ist immer mit dem Risiko behaftet, dass man die Amerikanisierung, ohne es zu wollen, weiter vorantreibt, statt sich ihr entgegen zu stellen. Die Nachäffung der Amerikaner hat die Franzosen ihren Cousins aus der Neuen Welt ähnlicher gemacht. Kurz und gut, so wertvoll die These von der kulturellen Assimilation auch sein mag, wenn es gilt, die Komplexitäten des Amerikanisierungsprozesses und die der Rolle der importierenden Gesellschaft in diesem Prozess stärker zu akzentuieren – sie sollte nicht dazu verführen, die Bedeutung der Amerikanisierung insgesamt herunterzuspielen.
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Kultur in Bewegung Ein zweiter, ebenfalls vor dem Hintergrund der These vom Kulturimperialismus und von der weltweiten Homogenisierung zu sehender Ansatz zum Thema »Amerikanisierung« betont, dass es ein Irrtum sei, sich Kulturen als stabil oder uniform vorzustellen. Es gebe weder so etwas wie eine »amerikanische Kultur«, die man exportieren könne, noch so etwas wie eine »französische Kultur«, die eine solche rezipieren könne. Wer es anders sehe, begehe die Sünde des Essentialismus; er sei naiv und ignoriere, wie vielfältig, durchlässig und in stetem Fluss befindlich Kulturen in Wahrheit seien. Im Sinn dieser kritischen Sicht von Nationalkulturen hat Amerika also niemals nur eine einzige, kohärente Botschaft übermittelt. »Amerikanische Kultur« hat für Europäer viele Bedeutungen – trotz des Stereotyps, dass alles, was Amerika exportiere, auf vulgäre Massenkultur hinauslaufe. In der Forschung wird hervorgehoben, dass die kulturellen Exporte Amerikas nicht monolithisch sind – dazu gehören Opernstars von der New Yorker Met ebenso wie Rap-Musik, Filme wie American Beauty ebenso wie dümmliche Filme vom Schlage Dumb and Dumber (1994). Im Bereich der Architektur könnten Franzosen beim Stichwort »amerikanische Kultur« an Peis innovative Pyramide denken, die den neuen Eingang zum Pariser Louvre bildet, oder aber an das triviale goldene M von McDonald’s-Filialen. »Amerikanische Kultur« kann kalifornischen Wein bedeuten, aber auch Coca-Cola. Kultur ist dynamisch. Und so kann sich das, was einst als amerikanisch galt, auch verändert haben. In den 1960er-Jahren galt das Tragen von Bluejeans unter französischen Jugendlichen als Zeichen dafür, dass man sich bewusst wie Amerikaner kleiden wollte; aber das ist sicher längst nicht mehr immer der Fall. Jeans sind inzwischen so alltäglich geworden, dass sie ihren symbolischen Wert weitgehend verloren haben. Auch die fremde Einflüsse aufnehmende Kultur ist vielfältig und entwickelt sich laufend weiter. Französische Konservative, die Schlagworte wie »authentisch französisch«, »echt französisch« oder »französische Tradition« wie Banner vor sich her tragen, sind aus dieser kritischen Perspektive unfähig einzusehen, dass die französische Kultur diffus, im Fluss befindlich und ohne feste Grenzen ist, es historisch gesehen auch immer gewesen ist. Ständig wird die französische Kultur, nicht zuletzt durch die Einwanderer, weiterentwickelt und neu geschaffen. Überdies verändert sich die Kultur, wenigstens heutzutage, so schnell, dass es bisweilen schwer fällt, überhaupt noch auszumachen, was amerikanisch ist oder war. In einer kürzlich veröffentlichten Studie über McDonald’s in Ostasien verweisen Experten darauf, dass sich die dortige Küche so schnell weiterentwickelt, dass man nicht mehr zwischen Fremdem und Lokalem unterscheiden kann – McDonald’s
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wirkt nicht länger ausländisch oder amerikanisch; es ist nur noch Bestandteil einer sich schnell verändernden Mischung von Restaurants und Speiseangeboten (Watson 1997). Wenn die Kultur ständig in Bewegung ist, wird es schwer, auseinander zu halten, was »amerikanisch« oder »französisch« ist. Anders gesagt, jegliche Kultur kommt nicht mit nationalen Etiketten versehen daher. Diese Sicht schließt auch ein, dass bestimmte Segmente der französischen Öffentlichkeit, die nach Klasse, Geschlecht, Alter, Region und ethnischer Zugehörigkeit unterschieden werden können, unterschiedliche »Kulturen« besitzen und dass manche dieser Segmente stärker mit Amerikanisierung zu tun haben als andere. Wir wissen zum Beispiel, dass im Westeuropa der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Jugendliche für amerikanische Musik und Mode weit empfänglicher waren als die älteren Generationen (vgl. z.B. Wagenleitner 1994). Auf ähnliche Weise waren es in Frankreich zunächst die Stadtbewohner, die Haushaltsgeräte kauften, oft mit modernen amerikanischen Kücheneinrichtungen verbunden, und es dauerte ein Jahrzehnt oder sogar noch länger, bis man sich auch in den Dörfern, etwa in der Bretagne, solche Annehmlichkeiten gönnte. Die Amerikanisierung war also in der Gesamtbevölkerung sehr ungleichmäßig verteilt. Und dieses Argument sollte, wie schon das über die Domestizierung amerikanischer Importe, nachhaltig ins Bewusstsein rücken, dass die Amerikanisierung ein komplexer und variabler Prozess ist. Man kann jedoch die These, dass Kultur ständig in Bewegung sei, wie auch die These von der Domestizierung des Einflusses so sehr übertreiben, dass der Amerikanisierungsprozess dabei ganz in Vergessenheit gerät. Das käme einer Fehldeutung gleich. Man kann sich gewiss darauf verständigen, dass Kulturen schwer zu definieren sind, weil sie vielfältig und durchlässig sind; dass es oft problematisch ist, einem Produkt oder einem Image eine Nationalität zuzuweisen; und dass Amerika niemals eine kohärente Botschaft ins Ausland übermittelt hat. Aber das heißt doch noch nicht, dass wir uns mit einer Illusion beschäftigen, wenn wir die Amerikanisierung erforschen. Dieser kulturelle Austausch ist trotz allem substanziell. Es gibt Produkte und Bilder, Technologien und Praktiken, die eng mit »Amerika« identifiziert wurden und es zum Teil auch heute noch werden. Bei historischer Betrachtung dieses Prozesses wird das evident. In den 1920er-Jahren waren für die Franzosen Jazz und Hollywood-Stummfilme unverkennbar amerikanisch. Wenn man einem Franzosen oder einer Französin dreißig Jahre später die Frage stellte, was amerikanisch sei, nannte er oder sie, ohne zu zögern, Dinge wie elektrische Küchengeräte, Straßenkreuzer, T-Shirts und Kaugummi. Wenn solche Identifizierungen im Lauf der Zeit verblasst sind, wie das bei Autos und Küchengeräten zweifellos der Fall ist, löst sich
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deren historische Identität damit aber nicht ersatzlos auf. Als diese Gegenstände erstmals über den Atlantik kamen, wurden sie eindeutig als »amerikanisch« wahrgenommen. Heute sind solche Importe mit eindeutig amerikanischem Etikett Technologien wie die von Microsoft, Fernsehnachrichten wie die von CNN, Managementpraktiken wie Downsizing, Feiertage wie Halloween und Fernsehserien wie Ally McBeal. Manche Produkte tragen aber auch auf Dauer den Stempel »amerikanisch«: Coca-Cola, Disney, NBA-Basketball und natürlich die Sprachvariante des amerikanischen Englisch. Genauso gibt es auf französischer Seite eine ähnliche Liste typischer Produkte, die auf Dauer als »französisch« gelten; sie reicht von boeuf bourgignon und Baguette bis zum Bordeaux-Wein oder zur Baskenmütze. Schließlich gelten viele Produkte nicht nur als amerikanisch, sondern werden, gerade weil sie amerikanisch sind, geschätzt, begehrt und konsumiert. Das galt einmal für Jeans von Levi Strauss und es gilt immer noch für McDonald’s oder für Disneyland vor den Toren von Paris. Überdies gibt es in Frankreichs politischer Klasse und unter den Kulturwächtern des Landes auf jeden Fall etliche, die behaupten, genau zu wissen, was »amerikanisch« sei und wie man sich gegen diese Eindringlinge verteidigen könne. Einige Exporte der USA über den Atlantik haben immer etwas klar als »amerikanisch« Identifizierbares an sich gehabt. Im ständigen Fluss der zeitgenössischen Kultur sind nationale Etiketten noch nicht völlig verschwunden. Die These von der ständig in Bewegung befindlichen Kultur erinnert uns auch daran, dass Diversität innerhalb der nationalen Gesellschaften, zum Beispiel soziale Klassenunterschiede, dafür verantwortlich sind und waren, dass verschiedene Gruppen in unterschiedlichem Maße für amerikanische Einflüsse empfänglich waren, nicht zuletzt, weil sie diesen Einflüssen auch in unterschiedlichem Maße ausgesetzt waren. Wenn man diese Diversität indes allzu sehr hervorhebt, gerät darüber die schleichende Uniformität, eine Folge der Amerikanisierung, aus dem Blick. Nur wenige Franzosen sind, egal wo sie wohnen, egal was sie verdienen, wie alt sie sind oder welchem Geschlecht und welcher Ethnie sie angehören, von diesem Prozess weiterhin völlig unberührt. Während noch 1960 nur kleine Teile der Bevölkerung davon betroffen waren, wenn sie gesprochenes Englisch hörten, Hollywood-Filme anschauten, Rock ’n’ Roll hörten oder bei McDonald’s aßen (die erste französische Filiale wurde 1972 eröffnet), ist es heute nur noch ein kleiner Teil der Bevölkerung, der sich amerikanischem Einfluss vollkommen entziehen kann. Auch wenn die Amerikanisierung weiterhin verschiedene Segmente der französischen Gesellschaft in unterschiedlichem Maße betrifft, so ist Amerika doch allgegenwärtig geworden. Fast niemand kann sich zum Beispiel den Massenmedien entziehen. Das Fernsehen bringt CNN, Akte X und Bay Watch,
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während im Kino der Stadt Hollywood-Filme wie Der Gladiator laufen. Die wachsende Zahl der Internet-User verlässt sich auf Microsoft und die englische Sprache. Amerikanisch anmutende Vorstadtsiedlungen, Multiplex-Kinopaläste und Einkaufszentren sind ganz alltäglich geworden. Selbst kleine Dörfer in ländlichen Gegenden wie der Provence scheinen dem amerikanischen Einfluss weit offen zu stehen. Laurence Wylie etwa hat anschauliche beschrieben, wie sich Roussillon von einem isolierten, »traditionellen«, landwirtschaftlich orientierten provenzalischen Bergdorf zu einem urbanen Touristenzentrum und zum versteckten Landsitz wohlhabender, berühmter Pariser entwickelt hat (Wylie 1989). Jetzt ist also auch Amerika in Roussillon gegenwärtig, in Gestalt von Touristen, Fernsehprogrammen und Speisen im örtlichen Café. Natürlich versuchen sich auch heute noch viele davon fern zu halten; antiamerikanische Gefühle sind populär. Aber die Amerikanisierung hat inzwischen viel größere Bevölkerungssegmente erreicht als je zuvor, und sie hat zu einer gewissen kulturellen Uniformität geführt. Mein Argument lautet, kurz gefasst, dass die Amerikanisierung auch der These, Kultur befinde sich in ständiger Bewegung, widersteht, weil historisch gesehen vieles von dem, was die Amerikaner exportierten, auch als »amerikanisch« empfunden wurde, und weil noch heute vieles von dem, was über den Atlantik kommt, ein nationales Etikett trägt. Darüber hinaus ist der Prozess so allumfassend geworden, dass fast die gesamte Bevölkerung einbezogen ist.
Globalisierung Eine weitere Möglichkeit, sich der Amerikanisierung theoretisch zu nähern, ist die alternative Erörterung der Globalisierung. Die Expertenfrage lautet dann: Sollten wir nicht lieber über Globalisierung reden statt über Amerikanisierung? (Vgl. z.B. Robertson 1992, Appadurai 1996 und Featherstone 1990). Hier ist nicht der Ort, um das gesamte Spektrum begrifflicher Aspekte zu erörtern, das beide Phänomene voneinander unterscheidet. Es ist jedoch möglich, jene beiden Dimensionen der Globalisierungsthese zu untersuchen, die sich mit dem Phänomen der Amerikanisierung berühren. Als Erstes fragen die Befürworter der Globalisierungsthese: Ist es nicht akkurater, wenn wir von globalen Warenströmen und einer globalen Ausbreitung der Technik sprechen, anstatt uns nur auf Amerika zu konzentrieren? Werden nicht die Franzosen, ebenso wie die anderen Europäer, durch Importe aus der ganzen Welt überschwemmt, nicht nur durch jene von jenseits des Atlantiks? Aus dieser Sicht schrumpft die Amerikanisierung also zu einem Einzelphä-
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nomen eines weit umfassenderen Prozesses zusammen, der insgesamt zur kulturellen und materiellen Diversität beiträgt. Amerikanische Importe tragen einfach nur zu einer größeren Vielfalt von Alternativen bei, sie verbreitern sozusagen nur das Angebot für die Konsumenten. Ein Supermarkt in Paris bietet heute in seinen Regalen eine enorme Auswahl: Feta-Käse aus Griechenland, Jalapeño-Pfefferschoten aus Mexiko, deutsches Bier, indisches Chutney, chinesischen Tee, kolumbianischen Kaffee, israelische Orangen – und schließlich auch amerikanische Cornflakes. Warum sollte man angesichts einer derartigen globalen Vielfalt Amerika noch eine Priorität einräumen? Eine zweite Bemühung all jener, die lieber über Globalisierung als über Amerikanisierung sprechen, läuft darauf hinaus, unsere Aufmerksamkeit statt auf den amerikanischen auf den transnationalen Charakter etlicher dieser importierten Güter, Praktiken und Verhaltensweisen zu lenken. Ist nicht zum Beispiel Coca-Cola eine globale Marke? Holt nicht Hollywood seine Schauspieler, Regisseure, Finanzen und Drehorte aus der ganzen Welt, produziert es seine Filme nicht für ein globales Publikum ohne ausgeprägte einzelne Nationalitäten? Französische Kritiker argumentieren zum Beispiel, die Gefahr drohe weniger von amerikanischen Filmen als von der Vorherrschaft eines einzigen Filmtyps – der teuren, aufwändigen, gewaltfreudigen, intellektuell anspruchslosen Hollywood-Produktionen. Das DisneyManagement beharrt darauf, dass seine Themenparks und sein anderes Unterhaltungsangebot nicht amerikanisch seien, sondern eben Marke »Disney« – als wären sie in der Lage, auf diese Weise Nationalitätsgrenzen zu überschreiten. Täten wir nicht besser daran, diese Transmissionen als Aspekte der Globalisierung zu fassen? Zwischen Globalisierung und Amerikanisierung besteht eine lange, komplizierte Beziehung, die noch genauer zu untersuchen ist. Gleichwohl kann und sollte man zwischen diesen Phänomenen unterscheiden. Aus einer historischen und theoretischen Perspektive lässt sich die Amerikanisierung begrifflich als ein bestimmtes Stadium oder eine bestimmte Phase der Globalisierung fassen. Denn im letzten Jahrhundert hatte die Globalisierung ein amerikanisches Antlitz – und bis zu einem gewissen Grad gilt das noch heute (vgl. Ritzer 2000, Ellwood 1996/97, Friedman 1999, Barber 1995). Im Verlauf der Geschichte wurden die USA zum Prototyp einer Massenkonsumgesellschaft und zur Heimstatt der Massenkultur. Diese Entwicklung begann in Amerika nach 1890 und ging schnell voran. Noch vor 1914 begannen die Amerikaner mit der Ausbreitung dieser Errungenschaften. Bereits während des Ersten Weltkriegs gelang es Hollywood, die Kontrolle über große Teile des europäischen Filmmarktes zu gewinnen. Im ersten Stadium des Amerikanisierungsprozesses, ungefähr zwischen 1900 und 1930, gab es kaum Zweifel daran, dass, was über
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den Atlantik kam, amerikanisch war. Ob es sich nun um Buffalo Bills Wildwestshow handelte oder um Singer-Nähmaschinen – für Europäer trugen diese Exporte das Etikett »Made in America«. Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich Amerika mehrere Jahrzehnte lang an vorderster Front, wenn es darum ging, der Welt die Konsumgesellschaft und die Massenkultur nahe zu bringen und entsprechende Verkäufe zu tätigen. Ein wichtiges Ziel des Marshall-Plans bestand darin, in Westeuropa den »American way of life« zu propagieren. 1967 stand ein Buch von Jean-Jacques Servan-Schreiber ganz oben auf der französischen Bestsellerliste: Le défi Américain (Die amerikanische Herausforderung). Darin warnte der Verfasser, dass die amerikanische Wirtschaft dabei sei, die Kontrolle über die europäische Wirtschaft zu übernehmen. Im Lauf der Zeit verblasste natürlich, zumindest bei einigen Produkten, die Identifizierung mit dem Herkunftsland. Ausrüstungsgegenstände wie Otis-Aufzüge, Konzerne wie Standard Oil und bis zu einem gewissen Grad sogar Produkte der Kulturindustrie wie Hollywood-Filme begannen den Charakter des Ausländischen zu verlieren. Doch über weite Strecken des 20. Jahrhunderts kamen – wenngleich es Unterschiede zwischen einzelnen Waren, Techniken, Bildern oder Werten gab – die Ströme eindeutig aus den Vereinigten Staaten und trugen, bildlich gesprochen, auch deren Fahne voran. Amerikas herausragende Rolle ist nach Meinung einiger Leute in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts etwas zurückgetreten; dafür ist vor allem die zentrale Bedeutung der globalisierten Warenströme ins Blickfeld gerückt. Produkte wie Nike haben in den Augen der anderen zunehmend einen transnationalen Charakter angenommen, sie gelten nicht mehr als rein amerikanisch. Auch Nichtamerikaner haben ein Image wie den Cowboy als universelles Symbol für Freiheit und Abenteuer übernommen. Und neue, nichtamerikanische Zentren kultureller Produktion vermarkten ihre Waren jetzt in der ganzen Welt: Karatefilme aus Hongkong, TV-Seifenopern aus Brasilien oder in Frankreich produzierte Weltmusik stehen für diesen Trend. Gleichwohl bleibt Amerika der wichtigste Produzent und Vermarkter identifizierbarer Produkte der Massenkultur und gewisser Verfahrensweisen. Produkte wie der Big Mac, Coca-Cola, Disneyland Paris, Rap-Musik oder der Hollywood-Film Der Untergang der Titanic bleiben trotz ihrer transnationalen Merkmale für die meisten Menschen auf der ganzen Welt amerikanische Produkte. Auch das Englische als Weltsprache bringt amerikanische Assoziationen mit sich. Die Globalisierung hat – wenigstens bislang – Amerika als wichtigsten Produzenten und Vermarkter von Konsumgütern und Produkten der Massenkultur noch nicht beiseite gedrängt. Die Globalisierung stellt die Amerikanisierungsthese auch da-
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durch infrage, dass sie der Amerikanisierung ein verharmlosendes Aussehen gibt. Demnach würde Amerika zu einer immer größeren Auswahl an Produkten nur ein weiteres Angebot hinzufügen. Doch wenn uns die Globalisierung, bildlich gesprochen, ein sehr vielfältig bestücktes Büfett zur Auswahl bietet, beansprucht das amerikanische Angebot darin noch immer den meisten Platz; oft lässt es lokalen Angeboten kaum noch Raum. In Frankreich verdrängen amerikanische Produkte und Dienstleistungen oft die französischen Angebote und sichern sich dadurch riesige Marktanteile. Amerikanische Nahrungsmittel sind vielleicht nur einer von vielen ausländischen Importen in den Regalen französischer Supermärkte, aber sie nehmen oft sehr großen Raum ein. Coca-Cola kontrolliert inzwischen fast 60 Prozent des Marktes für kohlensäurehaltige Getränke in Frankreich und 80 Prozent der Cola-Verkäufe. In Europa ist Coca-Cola die größte Soft-Drink-Firma mit einem Marktanteil von fast 50 Prozent bei kohlensäurehaltigen Getränken.12 Ähnlich sieht es bei Freizeitangeboten und Fast Food aus. 1998 zog Disneyland Paris 12,5 Millionen Besucher an, während der »traditionelle« französische Themenpark Parc Astérix weniger als 2 Millionen Eintrittskarten verkaufte und mehrere kleine französische Themenparks schließen mussten.13 McDonald’s hat 60 Prozent des Fast-Food-Marktes in Frankreich erobert und ist damit die größte Hamburger-Kette, fast doppelt so groß wie der stärkste Konkurrent, Quick.14 Die Art und Weise, wie McDonald’s seine Geschäfte führt – in jeder Hinsicht, vom Umgang mit Zulieferbetrieben bis zu den Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter –, hat den gesamten Fast-Food-Sektor in Frankreich verändert. Ganz ähnlich ist die Lage auf dem Kinomarkt. Man kann zumindest in Paris aus einer enormen Fülle und Vielfalt ausländischer Filme wählen; das ganze globale Menü steht einem zur Verfügung. Tatsächlich sorgten jedoch im Jahre 1998 amerikanische Filme für 63 Prozent der Einnahmen an den Kinokassen, gegenüber nur 27 Prozent bei französischen Filmen; lediglich die restlichen 10 Prozent kann man tatsächlich unter dem Stichwort »global« verbuchen.15 In anderen Teilen Europas ist Hollywoods Dominanz sogar noch ausgeprägter. Diese amerikanischen Produkte behaupten also nicht nur große Marktanteile, sondern sie haben diese Stellung zum großen Teil auch dadurch erreicht, dass sie französische Produkte vom Markt verdrängten. Ich vermute, dass man Ähnliches auch über andere Yankee-Importe berichten könnte, etwa über bestimmte Formen von Fernsehprogrammen und über die Popmusik. Die Amerikaner sichern sich den Löwenanteil der Märkte und verdrängen die Franzosen. Ein solcher Prozess aber verdient eher den Namen »Amerikanisierung« anstatt »Globalisierung«. Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass die Amerikanisierung ein wichtiges Stadium im wesentlich älteren und breiteren Aus-
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tauschprozess bei Waren und Veränderungen ist, den wir Globalisierung nennen. Denen, die »Amerikanisierung« durch »Globalisierung« ersetzen wollen, ist zu entgegnen, dass wir Amerikas historische Rolle in diesem umfassenden Prozess anerkennen müssen. Für weite Teile des 20. Jahrhunderts spricht man am besten und zutreffendsten von einer »durch Amerika vorangetrieben Globalisierung«.
Verhalten, Bedeutung und Identität Der vierte und letzte der hier zu untersuchenden Forschungsansätze begnügt sich nicht mit äußeren Erscheinungsformen und Quantitäten, sondern versucht, in tiefere Schichten vorzudringen: Hat die Amerikanisierung verhaltens-, bedeutungs- und identitätsverändernd gewirkt oder nicht? Hat sie zum Beispiel Frankreich weniger »französisch« gemacht? Skeptiker neigen hier dazu, die Bedeutung der Amerikanisierung herunterzuspielen. Der Konsum amerikanischer Importgüter, ist für sie kein Beweis für eine fundamentale Verhaltensänderung. Selbst wenn sich französische Teenager zum Beispiel ganz genau so kleiden wie ihre amerikanischen Pendants, wenn sie sich dieselben Filme anschauen und größtenteils dieselbe Musik hören, lässt sie das noch nicht automatisch genauso denken und handeln wie Amerikaner. Sie sind in einer derart konzilianten Sicht der Dinge noch nicht wirklich »amerikanisiert«. Dagegen behauptet eine strengere Sicht der Amerikanisierung, dass es bei diesem Prozess nicht nur um gewisse Mengen amerikanischer Güter oder Images gehe, die von Europäern konsumiert würden, sondern dass sich dieser Prozess auch auf Einstellungen und noch viel mehr erstrecke: auf Verhalten, Bedeutung und Identität. So gesehen verändert die Amerikanisierung nicht nur, wie Franzosen essen, sich kleiden, sprechen oder sich unterhalten, sondern auch deren Werthaltungen. So gesehen dringen amerikanische Vorstellungen tief in die Psyche ein und verändern Werte und Bedeutungen, sodass zum Beispiel modifiziert wird, welchen Wert Franzosen dem Einkaufen, Spielen oder dem »Modern«-Sein beimessen oder – was ganz besonders ins Gewicht fällt – wie sie »Erfolg« oder ein »schönes Leben« definieren. Im Gegensatz zur liberaleren Sicht traut diese Einschätzung des Amerikanisierungsprozesses, die dem ganzen Vorgang eine größere historische Bedeutung beimisst, der Amerikanisierung auch zu, dass sie Identitäten verändern kann – indem sie das Selbstbild bestimmter Bevölkerungsgruppen verändert, etwa das der Jugendlichen oder der Frauen, oder gar, indem sie eine idealisierte Form der nationalen Identität verändert, das »Französische« selbst. Die Entscheidung zwischen der konzilianteren und der strengeren
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Einschätzung des Amerikanisierungsprozesses ist, wenigstens momentan, nicht ganz einfach, weil die Sache kaum erforscht ist, weil man es bei diesen Fragen mit außerordentlich verschiedenartigen Bevölkerungen zu tun hat und weil solche Untersuchungen die Privatsphäre berühren – einen Bereich, in dem nur schwer herauszufinden ist, ob die gegebenen Antworten zutreffen, und in dem eine Quantifizierung noch wesentlich größere Schwierigkeiten bereitet. Wir wissen nicht, wie die Amerikanisierung die Bedeutungsmaßstäbe verändert hat. Gleichwohl gibt es schon in diesem frühen Forschungsstadium Belege, die darauf schließen lassen, dass man in der Amerikanisierung eine recht tiefgreifende Veränderung sehen muss, keine äußerliche Lappalie. Es geht um mehr als um Erscheinungsbilder und Quantitäten. Die Amerikanisierung scheint Verhalten, Identität und Bedeutungsmaßstäbe modifiziert zu haben. Die Amerika-Rezeption der Europäer ist kein vollkommen unbeschriebenes Blatt. Einige Forscher haben sich zum Beispiel der Frage gewidmet, wie Amerika in Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere durch seine Besatzungspolitik, Kulturpolitik und kulturelle Präsenz, unterschiedliche Generationen und Geschlechter beeinflusst hat. Wir wissen beispielsweise, dass junge Menschen damals die Musiksendungen von AFN und Voice of America dazu benutzten, ihre ganz eigene Identität zu etablieren, und dass die rassischen Grenzüberschreitungen, die in dieser Musik enthalten waren, bei den älteren Deutschen auf wenig Gegenliebe stießen, wodurch eine Kluft zwischen den Generationen entstand (Poiger 2000). Auf ähnliche Weise dienten Hollywood-Stars wie James Dean als Vorbilder für rebellische junge Deutsche in den 1950er-Jahren (Fehrenbach 2000). In weiten Teilen Westeuropas trugen in den 1960er-Jahren junge Leute Jeans und hörten Musik von Bob Dylan, teils weil sie sich von ihren »bürgerlichen« Eltern absetzen wollten, teils weil sie ihren Protest gegen den Status quo zum Ausdruck bringen wollten. In Osteuropa signalisierten Bluejeans Protest gegen die kommunistischen Regimes. Auch in Frankreich legen verschiedene Beobachtungen eher die strengere Interpretation des amerikanischen Einflusses nahe. Im letzten Jahrzehnt hat sich die Bereitschaft junger Erwachsener stark erhöht, zum Essen süße Getränke wie Coca-Cola zu trinken. Gleichzeitig war eine dramatische Abnahme des Weinkonsums in dieser demographischen Zielgruppe zu verzeichnen.16 Es ist durchaus möglich, dass amerikanische Getränke verändert haben, was manche als den Inbegriff französischer Lebensart ansehen würden: das Weintrinken. Auf ähnliche Weise hat das Essen in Schnellrestaurants oder das Mitnehmen von Speisen zum häuslichen Verzehr die traditionelle Mittagsmahlzeit der Familie daheim ersetzt – auch dies ursprünglich
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ein Merkmal des »wahren Frankreich« (Economic Intelligence Unit 1987: 38). Während Schnellrestaurants weiterhin aus dem Boden schießen, ist die Anzahl der Cafés von 220.000 im Jahre 1960 bereits auf weniger als 65.000 gesunken; und dieser Schrumpfungsprozess setzt sich mit 4000 Schließungen pro Jahr weiter fort.17 Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur: unter anderem die wachsende Zahl berufstätiger Frauen, stärkere Urbanisierung, Verkehrsstaus, mehr Freizeit, höhere Einkommen bei Heranwachsenden und kürzere Mittagspausen. Gleichwohl haben auch Schnellrestaurants wie McDonald’s bei diesen Veränderungen eine Rolle gespielt; auf jeden Fall sind sie es, die in erster Linie davon profitieren.18 Ähnlich könnte man auch im Hinblick auf die neue Lässigkeit bei den Kleidersitten der Franzosen argumentieren. Das äußere Erscheinungsbild der Kleidung ist heute weit legerer als 1960. Die Vermutung ist sicher nicht falsch, dass amerikanische Kleidungsstücke, vom Sweatshirt bis zur Baseballkappe, die in Ladenketten wie Gap erhältlich sind, etwas mit dieser neuen Informalität zu tun haben – Läden, die aus dem Statusgewinn durch das Tragen amerikanische Kleidungsimporte Kapital schlagen. Es ist gut möglich, dass die legere Kleidung auch Kennzeichen eines tieferen Wandels in den traditionellen französischen Einstellungen zu Hierarchie und Regeln ist. Das französische Wirtschaftsleben könnte ebenfalls durch amerikanische Importe nachhaltig verändert worden sein, in diesem Fall durch das Vorbild amerikanischer Managementmethoden. Französische Manager haben beispielsweise dazugelernt, wie man feindliche Firmenübernahmen durchführt – eine Praxis, für die Traditionalisten nichts als Verachtung übrig haben. Das Unternehmertum, das sich in Frankreich in der Vergangenheit nicht unbedingt hoher Wertschätzung erfreute, ist im Sozialprestige enorm gestiegen. Als neue Generation scheinen die jungen, ehrgeizigen, gut ausgebildeten französischen Macher geradezu gefangen zu sein vom Stil und von den Leistungen ihrer amerikanischen Pendants, die es in der Welt des Hightech-Business zu etwas gebracht haben. Vielleicht deuten ihre Aktivitäten darauf hin, dass sich hinsichtlich des Konkurrenz- und Erfolgsdenkens in der Wirtschaftselite eine neue Einstellung durchgesetzt hat. Abschließend ist auch der Bedeutungsträger schlechthin zu nennen, die Sprache: Die Franzosen können sich im Englischen viel besser ausdrücken als je zuvor. Auf diese Weise ist ihnen zumindest alles Amerikanische wesentlich leichter verfügbar, aber die Sprachbeherrschung könnte auch wesentlich tiefgreifendere Folgen haben. Wenigstens sind die Académie Française und die französische Regierung dieser Meinung; man fühlte sich dort aufgerufen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um die Verwendung des Englischen einzudämmen. Man würde die Argumentation allerdings überstrapazieren, wollte
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man behaupten, dass die Amerikaner den Franzosen auch ihre Konsumkultur mitverkauft hätten. Schließlich wurde das erste Kaufhaus in Frankreich eröffnet, und die Wurzeln der Konsumgesellschaft liegen schon vor dem 20. Jahrhundert, und zwar ebenso sehr in Europa wie in den USA. Indes, auch hier hat Amerika seinen Beitrag geleistet. Für die Europäer waren die Amerikaner schon in den 1920erJahren der Inbegriff einer Konsumgesellschaft, und die Amerikaner waren es, die den Europäern deren Vorteile predigten. Französische Autohersteller wie Citroën lernten von amerikanischen Autoherstellern wichtige Marketingtechniken, und auch die Werbeindustrie ging bei den amerikanischen Kollegen in die Lehre. Nach dem Zweiten Weltkrieg propagierten die USA im Zeichen des Marshall-Plans eifrig die Tugenden des Hochkonsums, und diese Botschaft stieß in den 1950er-Jahren bei bestimmten Teilen der französischen Wirtschaft und Arbeiterschaft auf offene Ohren. In den nachfolgenden Jahrzehnten verdankte die Ausbreitung neuer Einzelhandelsformen, von Supermärkten bis zu Discountläden und Einkaufzentren, einiges den amerikanischen Prototypen. Die National Cash Register Company aus Dayton, Ohio, etwa brachte Tausenden französischer Manager die Lehre von den großen Selbstbedienungsläden mit schnellem, hohem Warenumsatz bei; sie inspirierte etliche dieser Teilnehmer, in den 1960er-Jahren in Frankreich supermarchés einzuführen (Ardagh 1982: 401). Die Franzosen machten aus den Supermärkten dann hypermarchés, die sie ihrerseits nach Amerika exportierten. Der Einzelhandel amerikanischen Stils ist inzwischen so weit verbreitet und wird als so »natürlich« empfunden, dass viele französische Touristen, die nach New York kommen, nicht etwa das Empire State Building besichtigen, sondern sich in die großen Shopping Malls in den New Yorker Vororten in New Jersey aufmachen. Kurz und gut, Amerika hat durchaus eine Rolle bei den Veränderungen gespielt, wie die Franzosen sprechen, essen, sich kleiden und sich amüsieren. Amerikanischer Einfluss hat zu Veränderungen bei den Einkaufsgewohnheiten und Geschäftsmethoden geführt. Er scheint auch innere Einstellungen und Bedeutungsmaßstäbe verändert zu haben, zum Beispiel die Bewertung des Konsums als eines Merkmals für Modernität und ein schönes Leben. Wir wissen nicht, wie wir diese Wandlungen erklären sollen, und wir wissen auch nicht, in welchem Ausmaß Amerika dafür verantwortlich war und ist. Hier liegen die nächsten Forschungsaufgaben.
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Abschliessende Bemerkungen Zu welchem Schluss sollen wir nun angesichts aller vorgestellten Thesen kommen – ist Frankreich Bestandteil eines »globalen Amerika« geworden? Im Lichte unserer Erörterungen wäre eine kategorische Antwort auf diese Frage geradezu albern. Und doch, wäre ich zu einer Entscheidung gezwungen, so würde ich die Frage bejahen. Ich bin überzeugt, dass die Franzosen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts amerikanisiert worden sind. Auch nach Einbeziehung der Ansichten all jener, die die Bedeutung der Amerikanisierung herunterspielen wollen, indem sie die Fähigkeit der Rezipienten zur Anverwandlung amerikanischer Einflüsse betonen oder die Diversität und den ständigen Wandel der Kulturen hervorheben, indem sie den Prozess lieber unter dem Stichwort »Globalisierung« begrifflich fassen wollen oder ihre Skepsis bezüglich der Macht amerikanischer Einflüsse zur Verhaltens- und Identitätsveränderung zum Ausdruck bringen – auch nach Einbeziehung all dieser Argumente erweist sich das Konzept der Amerikanisierung bzw. der von Amerika vorangetriebenen Globalisierung als tragfähig. Einer der wichtigsten Veränderungsprozesse in der zeitgenössischen Welt lässt sich auf diese Weise definitiv auf einen begrifflichen Nenner bringen. Man sollte es mit dem Herunterspielen der Bedeutung dieser historischen Transformationen nicht so sehr übertreiben, wie es in Teilen der neueren Forschung geschieht. Die Amerikanisierung war ein abrupter, störender und aufdringlicher Prozess, keine sanfte, wohlwollende Angelegenheit. Welche markanten Auswirkungen die amerikanischen Exporte auf französische Verhaltensweisen, die französische Identität und die Bedeutungsmaßstäbe der Franzosen gehabt haben, muss im Einzelnen allerdings noch genauer untersucht werden. Aber meine Hypothese läuft darauf hinaus, dass dieser Einfluss beträchtlich war. Amerika war Auslöser von Veränderungen, deren Auswirkungen weit größer waren, als dass nur die Bandbreite der Auswahlmöglichkeiten zugenommen hätte, etwa im Bereich der Unterhaltung. Dieser Einfluss erstreckte sich auch auf Werthaltungen und Lebensstile. Und wenn die übliche Frage wieder aufgeworfen würde, ob das globale Amerika eine Homogenisierung mit sich gebracht habe, dann würde meine Antwort »Ja« lauten. Das globale Amerika hat andere zur Nachahmung gezwungen. Frankreich ist heute Amerika weitaus ähnlicher als im Jahre 1930. Es wäre indes ein schwerer Fehler, auch in dieser Richtung zu weit zu gehen und sich zu Spekulationen hinreißen zu lassen – etwa, dass Frankreichs Einzigartigkeit bereits geschwunden und einer amerikanisierten Uniformität gewichen sei. Das wäre absurd. Auf mancherlei Weise haben die Franzosen amerikanische Einflüsse absorbiert und sind dabei doch sie selbst geblieben. Gleich-
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wohl haben sie vieles übernommen, was ursprünglich amerikanisch war. Lassen Sie mich abschließend zum Anfang meiner Betrachtungen zurückkehren. Wenn die Franzosen bei McDonald’s eine Million Mahlzeiten pro Tag einnehmen, wenn sie an der Kinokasse Schlange stehen, um Hollywood-Filme zu sehen, wenn sie zu Millionen den Vergnügungspark Disneyland bei Paris besuchen, wenn sie pro Person hundert Flaschen Coca-Cola im Jahr trinken und wenn sie amerikanisches Englisch sprechen, dann hat eine Amerikanisierung stattgefunden. Dennoch müssen wir die Breite, Tiefe und vor allem die Bedeutung dieser Verhaltensweisen noch genauer untersuchen, und wir müssen dabei herausfinden, welche Rolle Amerika bei diesen Veränderungen gespielt hat. Das Paradigma der Amerikanisierung geht zu Recht davon aus, dass die USA Agent des Wandels und sein Vorbild waren – und es in mancher Hinsicht immer noch sind: für die Franzosen, für die Europäer und für viele andere auf der ganzen Welt. Aufgabe der Forschung ist und bleibt es allerdings, die Entstehung des globalen Amerika nachzuzeichnen und zu analysieren, seine Dynamik zu erklären und seine Bedeutung zu bestimmen.
Anmerkungen 1 The Economist vom 24. Februar 2001. 2 New York Times vom 14. Dezember 1999. 3 New York Times vom 16. Oktober 1997. 4 Washington Post vom 14. Juli 1998. 5 The Economist vom 5. Juni 1999. 6 Le Monde vom 31. Oktober 1996. 7 Zitiert in der New York Times vom 7. November 1999. 8 Vgl. den Forschungsbericht bei J. Gienow-Hecht 2000 über die Amerikanisierungsdebatte im Anschluss an die Theorie des Kulturimperialismus. Dieser Artikel und die daran anschließenden Kommentare enthalten auch die für meine Erörterung wichtigsten bibliographischen Angaben. Das Schlüsselwerk ist Tomlinson 1991, erhellend auch der Forschungsüberblick zum Begriff der Amerikanisierung in der Einleitung von Fehrenbach und Poiger 2000. Der begrifflichen Klärung widmen sich ferner Kroes u.a. 1993, Van Eltern 1996 und Forgacs 1996. 9 Vgl. die Artikelsammlung, die im Mai 2000 unter dem Titel »Un délicieux despotisme« in Le Monde diplomatique erschien. Darin heißt es, Amerika bestimme die Tagesordnung für politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Debatten dadurch, dass es seine Denkkategorien und Positionen globalisiere. Pierre Bourdieu und Loïc Wac-
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quant haben zu dieser Artikelsammlung beigetragen; ausführlicher entwickeln sie ihren Angriff in ihrem Artikel »On the Cunning of Imperialist Reason« (1999). 10 Das beste Beispiel für diesen semiotischen Ansatz sind die Arbeiten von Rob Kroes (1996,1999). 11 Im französischen Fast-Food-Geschäft wurde die Produktionsweise von McDonald’s weitgehend kopiert. Französische Ketten, sowohl Hamburger-Firmen wie France-Quick als auch »Wiener« Bäckereien à la La Brioche Dorée, haben sich bei den Amerikanern direkt etwas abgeschaut. Die Anleihen erstreckten sich vom Restaurant-Design über die standardisierte Herstellung der Speisen bis zur computerisierten Buchführung (aber nicht bis zur Übernahme des FranchiseSystems). McDonald’s hat auch für Veränderungen bei der Herstellung der Zutaten und beim Bau von Einrichtungen für Restaurants den Anstoß gegeben. Europäische Nahrungsmittellieferanten waren es nicht gewohnt, große Mengen standardisierter Ware zu produzieren, und sie waren zunächst auch nicht in der Lage, alles zu liefern, was McDonald’s für seine Speisekarte benötigte. Ferner wurden die Arbeitsbedingungen im Fast-Food-Business durch die Firma aus Chicago nachhaltig verändert: Man beschäftigt jetzt bevorzugt Teilzeitkräfte, vor allem Schüler und Studenten. 12 Eurofood vom März 1992. 13 Von diesen 12,5 Millionen Besuchern waren allerdings nur 38 Prozent Franzosen. Die genannten Zahlen für 1998 stammen aus Le Monde vom 29. Januar 1999. 14 Eurofood vom 28. Februar 1996 und 14. August 1997. 15 New York Times vom 14. Dezember 1999. 16 Unter den 14- bis 24-Jährigen geben heute rund 70 Prozent an, dass sie niemals Wein trinken; 1980 waren es erst 48 Prozent. Als wichtigsten Grund geben sie an, dass ihnen der Geschmack des Weins nicht zusage (New York Times vom 3. Mai 1996). 17 New York Times vom 22. Dezember 1994. 18 Der Fast-Food-Konsum hat seit den 1970er-Jahren spektakulär zugenommen; dabei hat das traditionelle französische Fast Food, die »Wiener Backwaren« (viennoiseries), Marktanteile an die Hamburgerketten verloren. Machten viennoiseries 1988 noch 29 Prozent der Verkäufe aus, so waren es 1992 nur noch 8 Prozent, während der Hamburger-Umsatz im selben Zeitraum von 48 Prozent auf 81 Prozent Marktanteil emporschnellte (Eurofood vom April 1993).
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Konsum, Moderne und die kulturelle Identität Japans: Grenzen der Amerikanisierung? 1 Gerard Delanty
Der Fall Japan bietet sich als interessante Alternative zu den vorherrschenden Vorstellungen von »Amerikanisierung« an. Denn der Begriff Amerikanisierung, implizit mit einer globalisierenden Konsumkultur verbunden, ist zum Synonym für Warenströme und Warenwelt, für die Moderne mit ihren Rationalisierungsbestrebungen und ihrer materiellen Macht und für die Verwestlichung geworden. Doch es stellt sich die Frage, wie tragfähig dieses Verständnis von Globalisierung als einem Projekt des Kulturimperialismus wirklich ist, bei dem mit den USA ein westlicher Nationalstaat die Speerspitze bildet – zumal im Kontext jener Entwicklungen, die unter die Rubrik »Postmoderne« fallen und die seit dem Ende des Kalten Krieges deutlicher hervorgetreten sind. Die japanische Kultur widersetzt sich Begriffen wie Kulturimperialismus und Hybridität, weil sie auf einer nichtessentiellen Ontologie basiert. Das synkretistische Wesen der japanischen Kultur beruht – im Unterschied zu westlichen Kulturen – nicht so sehr auf dem Konzept einer übergreifenden Einheit oder auf dem Konzept einer als grundlegend gedachten objektiven Realität, sondern auf Form und Harmonie – allerdings stets so, dass die Beziehung zwischen den Elementen wichtiger ist als deren klar umrissene Identität. Dieses nichtsynthetische Formgefühl, das sich im Polytheismus ebenso zeigt wie in einer gewissen Toleranz für Widersprüche und im Fehlen der Vorstellung, dass Identität eine Vorbedingung für Äquivalenz sei – dieses Formgefühl führt zu einer starken Betonung des Spiels. Und es führt auch zu einem geringeren Ausmaß an kultureller Konfrontation und kulturellem Widerstand. Meine These lautet nun, dass diese Kultur, die sich mit den Kategorien der westlichen Moderne oder mit denen der spätwestlichen Postmoderne nicht ohne weiteres erfassen
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lässt, die Amerikanisierung in hohem Maße einfach unterlaufen hat. Am Ende hat sich dabei, um eine Formulierung von S.N. Eisenstadt zu benutzen, die »kleine Tradition« gegenüber den von außen kommenden universalistischen Konzepten behauptet; Form und Spiel haben sich als stärker erwiesen als Einheit und Rationalität (Eisenstadt 1996). Diese Sicht der ontologischen Strukturen der japanischen Kultur hat Implikationen für unser Verständnis von der Aneignung Amerikas in der japanischen Kultur und in den japanischen Institutionen. »Amerika« in Japan – das war gewissermaßen ein Ausdruck dessen, was Castoriadis (1975) das »gesellschaftliche Imaginäre« der Institutionen nennt. Amerika war für die Neuerfindung der japanischen kulturellen Identität nach dem Zweiten Weltkrieg von Bedeutung, und die Vorstellung von Amerika ermöglicht es den Japanern weiterhin, den inneren Widerspruch, zugleich Opfer und Aggressor gewesen zu sein, ebenso zum Ausdruck zu bringen wie die Alterität von Selbst und Anderem. Heutzutage verliert Amerika jedoch zunehmend seine symbolische, imaginäre Bedeutung für die Japaner, die sich »Amerika« nicht nur anverwandelt, sondern ihrerseits sogar eine gewisse Japanisierung (»orientalization«) des Westens erreicht haben. Im Zeichen dieser Pluralisierung der Kulturen wendet sich Japan wieder Asien zu, einer Region, die es einst zugunsten des Westens zurückgewiesen hatte. Allerdings ist diese Hinwendung mit denselben uneingestandenen inneren Widersprüchen und Ambivalenzen befrachtet, wie sie für Japans Verhältnis zu Amerika typisch waren und sind. Im vorliegenden Beitrag werde ich am Beispiel Japans einige Aspekte des kulturellen Widerstands gegen die Amerikanisierung untersuchen; meine These läuft darauf hinaus, dass das Selbst nunmehr in der Lage ist, sich als das Andere, Andersartige neu zu erfinden. Im Hinblick auf das Projekt der Moderne in Japan, zumindest auf eine Dimension dieses Projekts, muss »Amerika« also als etwas Imaginäres, als ein grundlegend offener Diskurs gelesen werden. Lange Zeit war Japan das Gegenteil von Amerika. Eher auf der Partikularisierung des Universellen basierend als auf der Universalisierung des Partikularen (= Amerikanisierung), waren die japanische Kultur und Gesellschaft durch ihre Fähigkeit charakterisiert, sich anzupassen, ohne die universalistischen Kulturen Europas und Chinas zu assimilieren – Kulturen, die es gewohnt waren, das Partikulare zu transformieren. Das Japanische folgte der kulturellen Logik des Immanent-Machens und der Sublimation, nicht einer Logik der Universalisierung, des Dialogs oder des Verstehens; so war man in Japan in der Lage, eine mächtige Kultur des Fernen Ostens am Leben zu erhalten. In Japan mobilisierte die traditionelle Kultur, auf die beiden wichtigsten Religionen des Landes ausgerichtet, weniger Widerstand als
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anderswo gegen konsumorientierte Kulturen; vielmehr stellte diese traditionelle Kultur möglicherweise selbst die grundlegenden kognitiven Strukturen für die Entwicklung moderner Formen des Konsums bereit. Japan, ein Land, das im Lauf seiner Geschichte niemals kolonisiert wurde, das nur eine einzige große militärische Niederlage erlitt und eine Bevölkerung aufweist, die halb so groß ist wie die der Vereinigten Staaten; Japan, das Land mit der weltweit am neunthäufigsten gesprochenen Sprache und der zweitgrößten Wirtschaft der Welt sowie einer starken und globalen technologischen Kultur; dieses Japan ist der Testfall für die Grenzen der Amerikanisierung – und zugleich für die Reichweite und Tragfähigkeit der Grundannahmen der Gesellschaftstheorie.
Die Subversion der Amerikanisierung Man hat die Begegnung mit Amerika oft als Definitionskriterium für das Zeitalter der Moderne in Japan herangezogen. Es war der Anblick amerikanischer Kriegsschiffe im Jahre 1853, der jene Entwicklung einleitete, die 1868 zur Meiji-Restauration der kaiserlichen Monarchie führte und die nach dem Zweiten Weltkrieg im Anschluss an die militärische Niederlage darin kulminierte, dass unter amerikanischer Führung eine liberale Verfassung für das Land entworfen wurde. Doch diese konventionelle Sicht vom epochalen Einfluss Amerikas in Japan bedarf in zweierlei Hinsicht der Korrektur. Erstens kann kaum ein Zweifel bestehen, dass die Amerikanisierung durch Faktoren eingeleitet wurde, die integraler Bestandteil Japans sind, und nicht durch die bezwingende Stärke des amerikanischen Ideals oder durch die Drohung der amerikanischen Kriegsschiffe von 1853, als die USNavy verlangte, die Japaner müssten ihre Häfen öffnen. Zweitens entwickelte die Begegnung mit Amerika erst im 20. Jahrhundert eine gewisse Dynamik, denn vor 1945 spielte Europa bei der Formung Japans eine wesentlich größere Rolle als die USA. Große Teile der japanischen Kultur, sowohl der Hochkultur als auch der Populärkultur – Kleidung, Kunsthandwerk, Handwerk und Technologie –, wurden aus Europa entlehnt, besonders von den Portugiesen, Holländern und Franzosen, im Wesentlichen in dieser Reihenfolge (Keene 1969). Überdies veränderte die politische Moderne 1945 – bei aller immensen Bedeutung, die sie hatte – die Grundeinstellung der Japaner zur Moderne nicht, im Unterschied zur Amerikanisierung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, als dieses Land durch Anstöße von außen vollständig umstrukturiert wurde (Willet 1989). Damit soll natürlich die mächtige symbolische Resonanz von Ginza, dem schicken Viertel im Zentrum Tokios, im Japan des 20. Jahrhunderts nicht be-
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stritten werden. Ginza, das kosmopolitische Herz Tokios, ist seit den 1920er-Jahren ein Symbol Amerikas, und viele japanische Städte bemühten sich zu imitieren, was de facto eine elitäre Konsumkultur war. Diese Konsumkultur stellte auf jeden Fall ein stärkerer Anreiz dar als der Anblick amerikanischer Kriegsschiffe im Schicksalsjahr 1853. Gleichwohl muss einfach festgehalten werden, dass die Japaner gegenüber dem Westen eher neugierig waren, als dass sie vom Westen überwältigt worden wären. Diese Neugier spiegelt sich nicht zuletzt in der eklektischen Art ihrer Reaktionen auf den Westen, von der Übernahme westlicher Haarfrisuren bis zum Fleischgenuss oder zur ersten vollständigen Übersetzung der Werke von Marx und Engels durch japanische Gelehrte in der Taisho-Zeit (1912-1926). Die Japaner waren, obwohl ihr Land eine der modernsten Nationen der Welt war, überzeugt, dass ihre Moderne unvollständig sei. In diesem Zusammenhang kann man vielleicht mit Harootunian sagen, dass schon der Gedanke der Unvollständigkeit seinerseits Resultat einer unnachgiebigen Modernisierung und Modernität war (Harootunian 2000: 112). Die Amerikanisierung, die sich in Japan entwickeln sollte, war eine populäre Konsumkultur, die kaum etwas mit der alten kulturellen Moderne Europas oder mit der japanischen Hochkultur der Edo-Zeit (auch Tokugawa-Zeit, 1603-1867) zu tun hatte – und, wie ich noch zeigen werde, sogar noch weniger mit den Vereinigten Staaten. Die Missachtung, die die japanischen Nachkriegspolitiker den neuen politischen Institutionen der Demokratie entgegenbrachten, ist nur ein weiterer Beleg für das Fehlen einer auf Traditionen der Zivilgesellschaft basierenden politischen Moderne in Japan (van Wolferen 1989). Trotz einiger Ähnlichkeiten mit der organisierten Moderne im Westen war Japan die einzige nichtwestliche Gesellschaft, die den Pfad der Modernisierung beschritt – bis hin zu einem voll ausgebildeten Kapitalismus und einem demokratischen Gemeinwesen, allerdings ohne jemals kolonisiert worden zu sein. Folglich blieben – anders als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – die sozialen und kulturellen Grundstrukturen relativ intakt und überdies von den gegenkulturellen Strömungen, die sich in den späten 1960er-Jahren von Amerika bis nach Deutschland ausbreiteten, unberührt.2 Die Niederlage im Jahre 1945 bildete die Grundlage des Wirtschaftswachstums, und die anschließende Amerikanisierung wurde durch eindeutig japanische Strukturen definiert. Nach der Entsakralisierung des Tenno und der Säkularisierung der Zivilreligion des Schintoismus wurde die Autonomie von Japans einheimischen kulturellen Traditionen nicht geschwächt, sondern im Gegenteil beträchtlich gestärkt. Erheblich erleichtert wurde dies durch die Fähigkeit der Japaner, ihre industrialisierte Kriegswirtschaft schnell an die nationale und globale Konsumkultur anzupassen, die sich bald nach 1945 entwickelte.
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Man kann in der Ausbreitung der Amerikanisierung im umfassender und wichtiger werdenden Alltagsleben des Landes auch eine Bestätigung und Belebung der japanischen Vorstellung vom Selbst sehen. Denn die Variante der Massenkonsumkultur, die sich im Japan der 1960er- und 1970er-Jahre entwickelte, war materiell ausgerichtet; sie basierte auf einer demokratisierten Populärkultur und existierte in einer durch und durch privaten Welt. Die Konsumenten waren Industriearbeiter und vor allem Angestellte (»Gehaltsempfänger«) in den unteren Rängen der Firmenhierarchien (Vogel 1963). Der Prozess wurde von einer vermassten Gesellschaft aus relativ wohlhabenden Facharbeitern vorangetrieben, für die Arbeit auch Teilhabe an der Gemeinschaft bedeutete – aber an einer Gemeinschaft, die kaum etwas mit der politischen Gemeinschaft des Staates zu tun hatte. Die Amerikanisierung stand somit in Bezug zur homogenen Kultur des industriellen Kapitalismus. Aber die Amerikanisierung Japans war eine Amerikanisierung ohne Amerika, eine Amerikanisierung, bei der man höchstens auf Werte traf, die in Amerika schon nicht mehr gang und gäbe waren: Arbeitsethos, Heiligkeit der Familie, Loyalität zur Gemeinschaft und eine entpolitisierte Art des bürgerlichen Gemeinschaftsgeistes, die auf freiwilliger Zusammenarbeit basierte, aber keinen politischen Willen zum Ausdruck brachte. Die neue Konsumkultur war materialistisch, und man kann sie sogar als Einführung des demonstrativen Konsums in Japan charakterisieren. Zuvor war der Konsum auf die traditionelle Hochkultur beschränkt gewesen; Selbst- und Gefühlsausdruck fanden sich dabei weniger in jener romantischen Ethik, die laut Campbell (1987) den Kapitalismus bereits seit seinen Anfängen begleitet, als vielmehr in der Kultivierung des Selbst und in der Askese. Die Amerikanisierung war eine Art des Konsums, die Gruppenidentitäten eher bestärkte als unterminierte und die es dem Individuum gestattete, auch ohne politisches Bewusstsein eine eigene Identität in der Gruppe zu gewinnen. Somit bestätigte die Amerikanisierung eher bereits bestehende Identitäten, als dass sie zur Schaffung neuer geführt hätte. Sogar im Westen bestand ein Gegensatz zwischen Konsumgesellschaft und bürgerlicher Zivilgesellschaft, doch dort, zumal in Westund Mitteleuropa, ging Letztere der Konsumgesellschaft zeitlich voran, und selbst in der Konsumgesellschaft war die öffentliche Sphäre niemals völlig ausgeklammert. In Japan hingegen, wo die politische Moderne nicht zur Herausbildung einer bürgerlichen Zivilgesellschaft führte, wurde – was nicht wirklich überraschen kann – die kulturelle Moderne vom Konsum kolonisiert. Als der Konsumkapitalismus während der Taisho-Zeit in den 1920er-Jahren – einer Epoche, die man mit der Weimarer Republik in Deutschland vergleichen kann – erstmals in Gestalt eines städtischen Konsumententums auftrat und als
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der Glamour von Ginza als Japans neues Gesicht erschien, da geschah dies im Kontext einer Gesellschaft, deren Appetit für symbolisch bedeutsamen Konsum bereits geweckt worden war: durch die Ausbreitung nationaler Symbole (Fahnen, Hymnen, Gedenkfeiern, Nationalfeiertage, Nationalliteratur und standardisiertes Schulwesen) seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Damals war der Nationalismus zu einer starken Kraft geworden. Was dann im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts geschah, war, dass der Raum, den zuvor die Nation eingenommen hatte, vom Alltag erobert wurde (Harootunian 2000). Ginza, einst Symbol Amerikas und des modernen Konsums, war inzwischen japanisiert, und so ging »Amerika« ziemlich schnell in Japans eigenproduzierter Konsumkultur auf. Die Amerikanisierung basierte auf einer Logik der Reproduktion durch Wiederholung, wobei materielle Objekte für symbolische Bedeutungen standen – Bedeutungen, die eher durch die Gruppe als durch den Einzelnen definiert wurden. Besonders auffallend war an diesen symbolischen Bedeutungen ihr Posttraditionalismus. Dieser war als Strömung allgegenwärtig, als in den 1960er- und 1970er Jahren im Namen von Wachstum, Modernität und Amerikanismus die traditionelle japanische Kultur weitgehend zerstört wurde. Doch der entscheidende Punkt war die Fortdauer wesensmäßig japanischer kognitiver und normativer Strukturen, die für das Projekt der Amerikanisierung die Rahmenbedingungen abgaben – ein Projekt, das sich leicht kaschieren ließ. So blieben die Japaner gegenüber Amerika bis in die relativ junge Vergangenheit weitgehend indifferent; geändert hat sich dies erst, seit Auslandsreisen häufiger und beliebter wurden. Und selbst dann noch wurde die, zumal bei Angehörigen der politischen Elite verbreitete Weigerung der Japaner, Englisch zu lernen – und damit die Minimalqualifikation für die Globalisierung zu erlangen –, nicht unbedingt mit Sorge registriert. Wirklich geändert hat sich das erst vor relativ kurzer Zeit. Für in Japan lebende Ausländer wurde eine ganze Reihe von Ausnahmeregelungen geschaffen, um ihren Einfluss auf japanische Traditionen so gering wie möglich zu halten und die unvermeidlich folgende Selbstkonfrontation zu vermeiden. In die gesellschaftliche Praxis der Japaner waren mithin Abwehrmechanismen gegen Einflüsse von außen gleichsam eingebaut. Das zeigt sich sehr deutlich auch in den rigiden Einbürgerungsgesetzen, die es einem Ausländer praktisch unmöglich machen, die japanische Staatsbürgerschaft zu erlangen, und die es den zahlreichen Mitbürgern koreanischer Herkunft immer noch verwehren, Japaner zu werden, obgleich sie in Japan geboren und aufgewachsen sind. In der massenhaft wirksamen Form der McDonaldisierung (Ritzer 1998) war die Amerikanisierung mit den kulturellen Horizonten des Nachkriegs-Japans problemlos vereinbar, die geprägt waren durch
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individuellen Selbstausdruck mittels materieller Werte, ein hohes Maß an Gruppenengagement, einen Glauben an Gleichheit und durch die Trennung von Arbeit und Freizeit. So konnte die japanische Assimilation von amerikanischem Baseball und Bowling (der beliebtesten Sportart) vor allem deshalb gelingen, weil sich diese Sportarten in die vorhandenen kulturellen Strukturen von gruppenorientiertem und regelgesteuertem Verhalten einbauen ließen. Auch in Japan bestätigte Konsum den Individualismus, aber nur innerhalb der Grenzen einer von der Gruppe getroffenen Wahl. Dies zeigt sich in der japanischen Tendenz, viele Produkte abzupacken und zu standardisieren, etwa beim Verkauf im allgegenwärtigen Laden an der Ecke oder im Verkaufsautomaten. Gleichheit erstreckte sich nicht auf Bürgerrechte und Einbürgerung, sondern auf den Lebensstil. Man kann in der Amerikanisierung eine Ausweitung des Bereichs symbolischer Strukturen zur Bedeutungserzeugung sehen, immer jedoch im Rahmen der vorhandenen kognitiven und normativen Strukturen. So führte die Amerikanisierung beispielsweise zu einer intensiveren Verbreitung spezifisch japanischer Konsumprodukte der Populärkultur – von Mangas (Comics), pachinko (Flipperautomaten) und Karaoke –, ohne dass es sich dabei um neu geschaffene kulturelle Ausdrucksformen gehandelt hätte (vgl. Sugimoto 1997: 225-230, Kelly 1998). Zu den am stärksten kommerzialisierten gruppenorientierten Formen kollektiven Konsums gehört auch die Hochzeitsfeier. Meistens wird die Eheschließung mit aufwendigen, sehr teuren Zeremonien gefeiert; dabei werden auch westliche Themen konsumiert, aber auf eine sehr nichtwestliche Art und Weise und nach konventionalisierten Verhaltensmustern, von denen die meisten keine Basis in der japanischen Tradition haben. Die Tatsache, dass der Kapitalismus in Japan keine puritanische Arbeitsethik benötigte, könnte zur Erklärung des scheinbaren Hedonismus von großen Teilen der modernen japanischen Kultur herhalten, in der es, anders als laut Daniel Bell (1976) in Amerika, nicht zu einem »kulturellen Widerspruch« zwischen Arbeit und Freizeit kam. Wie schon gesagt, die japanische Kultur hat es geschafft, kulturelle Widersprüche zu vermeiden, die zu Identitätskrisen hätten führen können. Die Vielfalt der japanischen Populärkultur und des japanischen Konsumverhaltens lässt sich zum Teil durch die Rolle des Spielerischen (asobi) erklären. Indem die Japaner populäre Formen der Unterhaltung konsumieren oder daran teilnehmen, können sie mit neuen Möglichkeiten, sich zu amüsieren, experimentieren, noch dazu in relativ geselligen Kontexten. Diese Neigung zum Spielerischen kann uns bei der Erklärung eines Phänomens behilflich sein, das in Kommentaren häufig als »Konsumrausch« der Japaner bezeichnet wird.
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Wenn die Amerikanisierung auch eine postmoderne Dimension hatte, dann die der Ausdehnung des Kapitalismus in den Bereich der Kultur mittels »Kultur als Ware« und mittels Entfesselung von »Sehnsüchten« (Jameson 1991). In Japan gelingt durch diese »kulturelle Logik« des Kapitalismus das, was die Demokratie nicht vermitteln konnte: gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme. Diese Teilnahme ließe sich sogar auf Teilhabe an der internationalen Gesellschaft ausdehnen, wie sich anhand der außerordentlichen Konstruktion von Themenparks zeigen lässt, in denen westliche Städte und kulturelle Kontexte aus der ganzen Welt im Miniaturformat dargestellt werden. Das beste Beispiel für die Formung neuer Arten von sozialer Integration durch die radikale Trennung von Freizeit und Arbeitszeit ist jedoch das Fernsehen. Durch das Fernsehen wird die traditionelle japanische Kultur nachgelebt, möglicherweise auch wiedererschaffen – zum Zwecke urbanen Konsums, aber auch, um in der stark vom Arbeitsleben bestimmten Gesellschaft einen gewissen Zauber zu schaffen. Viele traditionelle Feste und Aufführungen werden für den Fernsehkonsum am Leben gehalten (Stronach 1989). Populäre Konsumkulturen zerstören nicht unbedingt die Tradition, wie es in der These von der »Posttraditionalisierung« behauptet wird. Viele Traditionen werden auch durch die Populärkultur gerade erst aufrechterhalten, insbesondere durch Fernsehprogramme und den Tourismus. Viele buddhistische Tempel mussten in der Tat Kritik wegen ihrer Konsumorientierung einstecken (Kerr 1993). In diesem Sinne ist der Inlandstourismus der Japaner ein wichtiger Faktor für das Überleben von Traditionen gewesen. Wir sollten darum nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Populärkultur zur Posttraditionalisierung führt. Ich würde vielmehr sagen, dass es in der Vergangenheit – in der sogenannten vormodernen Vergangenheit – viel mehr Traditionszerstörung gegeben hat als in einer Moderne, die sich der Bedürfnisse nach einer romantischen Ethik und nach einem positiven Zugriff auf Traditionen bewusst war. Kyoto gilt beispielsweise immer noch als geistige und kulturelle Wiege Japans, obgleich die Stadt im Mittelalter fast vollständig zerstört wurde und es somit kaum noch authentische Zeugnisse aus der Vor-Edo-Zeit gibt. Kürzlich hat eine Untersuchung erneut dokumentiert, wie der Staat in der Meiji-Epoche traditionelle Volkskulturen benutzt hat, um jene modernisierungsfreudige politische Kultur zu schaffen, die auf der Eingliederung des Phantastischen beruhte (Figal 1999; vgl. auch Napier 1995). Aus den genannten Gründen ist also die Amerikanisierung Japans nicht unbedingt mit einer Posttraditionalisierung des Landes gleichzusetzen, sondern mit dessen Wiedererfindung. In ihrer Untersuchung der depato, der japanischen Kaufhäuser, schreibt Millie Creighton:
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»Die Symbole und Bilder des Westens, vom d e p a t o für den heimischen Konsum abgepackt, spiegeln nicht notwendigerweise die Realität irgendeines Teils der westlichen Welt wider. Häufiger handelt es sich um verwischte Bruchstücke, aus dem Zusammenhang gerissene Fragmente verschiedener westlicher Traditionen und Praktiken, die herausgelöst und so verändert wurden, dass sie in den japanischen kulturellen Kontext passen und den Erwartungen der japanischen Konsumenten entsprechen« (1992: 55). Darin kann man eine Tendenz sehen, alles im Übermaß zu »übersetzen« – man könnte auch sagen: alles zu sterilisieren: ausländische Sitten und Gebräuche ebenso wie ausländische Waren; das Anderssein soll ihnen genommen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die japanische Kaffeehauskultur: Wenn man ein winziges Stück Kuchen isst, das doppelt in Silberpapier verpackt ist, dann ist dies eine bewusste Übertreibung westliche Gebräuche, bis hin zur Parodie. Dies gilt auch für westliche Hochzeitszeremonien, die nicht Teil der japanischen Kultur sind (etwa in den zahlreichen Brautmodezeitschriften oder in der Werbung für westliche Hochzeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln), oder für das neue Phänomen, dass junge Frauen Englischkurse konsumieren – eine Aktivität, bei der es mehr auf Geselligkeit und Konsum ankommt als auf den Erwerb von Fremdsprachenkenntnissen.3 Auch McDonald’s ist ein gutes Beispiel: Die meisten Japaner halten McDonald’s für einen Bestandteil der modernen japanischen Bequemlichkeitskultur und bringen diese Restaurants nicht mit Amerika in Verbindung. Wenn Amerikanisches überhaupt in Japan auftaucht, dann wahrscheinlich in miniaturisierter oder exotisierter Gestalt. Damit soll aber nicht gesagt werden, dass der japanische Konsum zur Gänze mit einem Domestizierungsvorgang verbunden ist; vielmehr geht es um imaginäre Bedeutungszuschreibungen und ein spielerisches Element. Als bildlicher Ausdruck für das außerhalb Liegende ermöglichte die Idee von Amerika dem Innenleben die Ausdehnung der symbolischen Produktion, aber so, dass eine fortlaufende Transformation sowohl des Selbst als auch des Anderen möglich wurde. Theoretisch folgt daraus, dass man in den Verfahrensweisen der japanischen Kultur eine Domestizierung des radikal Imaginären sehen kann, das weniger auf der politischen als auf der kulturellen Ebene seinen Ausdruck gefunden hat. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis durchaus von Bedeutung, dass der Begriff »Glokalisierung«, den Roland Robertson benutzte, um die lokale Anverwandlung globaler Kräfte zu kennzeichnen, japanischen Ursprungs ist (Robertson 1992).4 Obwohl ich bislang Japans Fähigkeiten zur kulturellen Transformation der von außen kommenden Einflüsse hervorgehoben habe, muss ich auch auf das Vorhandensein multipler Erfahrungsebenen im japanischen Alltagsleben hinweisen – ein Umstand, der ebenfalls im
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kulturellen Kontext des Spiels betrachtet werden kann. Traditionelle Feste, zum Beispiel die sehr populären Naturbetrachtungszeremonien (etwa beim Anblick der Kirschblüten), religiöse Feste und Pilgerfahrten, koexistieren mit modernen Konsumkulturen und sorgen zum Teil für eine magische Verzauberung, die ansonsten durch die Moderne zerstört wurde. Signifikant ist dabei die japanische Fähigkeit, von einer Erfahrungsebene zur anderen zu wechseln – so, wie Papierwände die traditionellen Räume voneinander trennen, wobei sich Innen (Privatsphäre) und Außen (Öffentlichkeit) leicht vertauschen lassen. Die Amerikanisierung verlief parallel zum japanischen Wirtschafts- und Kulturnationalismus mit seinen Proklamationen japanischer Einzigartigkeit – Vorstellungen, die in den 1980er-Jahren im Zeichen massiven Wirtschaftswachstums und zunehmender Anerkennung von Japans führender Rolle in der Weltwirtschaft besonders lautstark geäußert wurden. Motiviert durch das zweitgrößte Wirtschaftspotenzial der Welt und das höchste Pro-Kopf-Einkommen der ganzen Welt sowie eine der höchsten Sparquoten weltweit, machten sich viele japanischen Kommentatoren aus dem gesellschaftlichen Bereich daran, den Mythos der japanischen Einzigartigkeit aufs Neue zu erfinden. Eine Welle von Literatur zum Thema Nihonjinron (»Japaner-Diskurse«), die mit beträchtlicher Unterstützung seitens der Firmenkulturen Verbreitung fand, war die Kehrseite der Amerikanisierung der Gesellschaft; auch daraus ergibt sich, dass man die Amerikanisierung nicht als Bedrohung des Einheimisch-Eigenständigen empfand (Yoshino 1992). Tatsächlich war die Amerikanisierung der Gesellschaft auch kaum als »amerikanisch« erkennbar, wenn man den Collage-Charakter der japanischen Konsumkultur in Rechnung stellt und überdies bedenkt, dass die japanische Industrie dabei war, den Westen endgültig zu überholen (japanische Konzerne wie Sony, Honda, Hitachi, Fuji oder Mitsubishi avancierten dabei zu weltweit bekannten Markennamen). Der japanische Nationalismus war eher eine Feier der kulturellen Unterschiede als ein Appell an die Tradition, und ironischerweise wurde er zum großen Teil durch den amerikanischen Nationalismus motiviert, der Japan und seine weltweit sich ausbreitende Wirtschaft als Bedrohung für nationale amerikanische Interessen empfand (Sugimoto 1999). Anders als viele westliche Formen des Nationalismus war der japanische ein kultureller Nationalismus mit einer starken Verwurzelung in der Marktwirtschaft; wie Yoshino (1999) gezeigt hat, wurde er mehr von der Wirtschaft als von Staat propagiert. Solche Überlegenheitsbekundungen auf der Basis von Andersartigkeit und Einzigartigkeit ließen sich nicht ohne weiteres mit der Assimilation japanischer Produkte in den westlichen Gesellschaften auf einen Nenner bringen, aber wie so oft beruhten auch hier die Behauptungen der Andersartigkeit auf einer vorherigen Assimila-
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tion. Wie dem auch sei, wir haben es hier mit einem Beispiel dafür zu tun, wie eine wohlhabende, konsumorientierte Gesellschaft den Nationalismus neu erfinden kann – einen Nationalismus, der ebenso sehr durch den Markt wie durch den Staat geformt werden kann. Zweifellos ist die japanische Konsumkultur, so sehr sie auch durch die traditionelle japanische Kultur geprägt sein mag, modern, und es kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass die Amerikanisierung beides, die Modernität wie die Tradition, bestärkt, statt Letztere zu unterminieren. Schließlich kamen wichtige Impulse für die europäische Moderne aus Japan; so inspirierte beispielsweise die berühmte kaiserliche Villa Katsura in Kyoto das Bauhaus und die modernistische Architektur. Mit ihrer formalen Sorgfalt und ihrer Harmonie von Form und Funktion ist sie ein Beispiel für Spitzenleistungen der Moderne, und nicht für den Postmodernismus. Wie Donald Richie gezeigt hat, spiegelt sich die japanische Tendenz, alles zu miniaturisieren, sowohl in den frühen Disney-Konzepten als auch in einigen berühmten japanischen Gärten: »Einige Edo-Gärten ähneln Disneyland sogar noch mehr – zum Beispiel Rikugien in Tokio. Hier finden sich an einem Ort, wie auf einem Miniatur-Golfplatz arrangiert, die meisten der 88 kanonisch festgelegten Naturensembles, alle winzig und mit Anschlagtafeln versehen, auf denen die chinesischen oder japanischen Assoziationen erklärt werden« (Richie 1999: 85). Disneyland in Tokio, das ist lediglich eine amerikanische Version dieses kreativen Impulses innerhalb der japanischen Kultur – der Kultur der Kopie und des geographischen Mikrokosmos. Der Geist Japans ist nach 1945 eher modern als postmodern gewesen, wie sich an den japanischen Bauten und an der praktischen Bequemlichkeitskultur deutlich zeigt. Shunya Yoshini hat überzeugend gezeigt, dass der symbolische amerikanische Charakter von Disneyland in Tokio allein schon dadurch verwässert wurde, dass 1983, zum Zeitpunkt der Eröffnung dieses Themenparks, die Gesellschaft bereits disneyfiziert war. Amerika hatte aufgehört, Symbol des Reichtums und der Neuheit zu sein, und war zu etwas geworden, das in den Kontext eingeordnet war und im Alltag konsumierbar wurde – und zwar in Codes, die eindeutig japanisch waren (Yoshini 2000). Diese These wird auch von Rojek (1995) gestützt, der argumentiert, dass Freizeit in Japan nicht nur eine Flucht vor der Realität ist. Denn im japanischen Kontext basiert das Alltagsleben selbst auf dem spielerischen Konzept von »Fluchtwegen«, die sich von selbst eröffnen. Die angebliche Postmodernisierung Japans ist demnach nichts weiter als eine besondere Gestalt, welche die Moderne in Japan angenommen hat.5 Was im Hinblick auf japanische Konsumkulturen oft Postmodernismus genannt wird, ist tatsächlich nur eine Vermischung von Moderne und Tradition im immer weiter expandierenden Raum
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des Alltagslebens, wobei Verzauberung an die Stelle von Nüchternheit tritt. Die Japaner mögen zwar hingebungsvoll einkaufen, aber sie sind auch eine Gesellschaft von Sparern, und sie kaufen in aller Regel nicht auf Kredit. In einer Wirtschaft, die auf Bargeld basiert, wird der Konsum der Japaner, anders als in vielen westlichen Ländern, durch Ersparnisse finanziert, nicht durch Schulden: Hinter postmodernen Wünschen regieren modernistische Klugheit und Umsicht. Wenn es für den sich verändernden Diskurs des Selbst in Japan eine postmoderne Unterfütterung gibt, dann am ehesten darin, dass man sich lieber Asien und Europa (also dem Andersartigen) zuwendet als Amerika (dem Gleichartigen). Im nächsten Abschnitt werde ich die Bedeutung eines heraufziehenden Kosmopolitismus erörtern und mich der Frage widmen, inwiefern dieser Kosmopolitismus möglicherweise Ausdruck einer Strömung jenseits der Amerikanisierung ist – und damit ein weiteres Beispiel für die kulturellen Folgen der Globalisierung in einer Welt, die nicht mehr ausschließlich von Amerika beherrscht wird.
Kosmopolitismus und der Neue Konsum Soweit die Werbung ein Indikator für sich wandelnde Konsummuster ist, lässt sich in der neueren Werbung eine Neigung beobachten, weniger die Unterschiede zwischen Produkten und zwischen deren Ordnungen symbolischer Differenzierung zu betonen als vielmehr die Unterschiede zwischen den Werbeanzeigen selbst. In dieser Verschiebung von Werbekonzeptionen zeigt sich eine Bewegung weg von amerikanischen Überredungs- und Überzeugungsstrategien und hin zu typisch europäischen Werbekonzeptionen, die weniger mit Worten als mit Bildern operieren – Bildern, in die man als Verbraucher seine Wünsche und Sehnsüchte hineinprojizieren kann, Wünsche, die vielleicht gar nicht in erster Linie mit Warenbedürfnissen zu tun haben (McCreery 2000: 174). In vielen japanischen Anzeigen findet zudem eine Subversion nicht nur der Bedeutung, sondern auch des beworbenen Produktes selbst statt, und die symbolische Bedeutung, die mit dem Produkt konsumiert wird, ist, wie immer sie aussehen mag, möglicherweise durchaus nicht »demonstrativ« im Sinne von Veblens »demonstrativem Konsum«. Dazu schreibt Marilyn Ivy: »Während in amerikanischen Commercials noch immer versucht wird, an die rationale Vernunft der Zuschauer zu appellieren, indem realistisch Produkt A mit Produkt B verglichen wird (obwohl neuerdings auch Hightech-Werbung im japanischen Stil in den USA erscheint), appelliert die japanische Werbung (besonders in TV-Commercials) im Kontext einer symbolischen Ökonomie viel direkter an Sehnsüchte
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und Wünsche« (Ivy 1989: 38). Diese Betonung auf Konsum als Befreiung der Sehnsüchte von den etablierten Bedürfnissystemen stellt einen Ausbruch aus den modernistischen Grenzen der Amerikanisierung dar, insofern dabei die Dekonstruktionen des Selbst und des Anderen in die Konsumsphäre übertragen werden. Es handelt sich um eine Form des Konsums, die nicht im Namen eines zugrunde liegenden Selbst spricht. Man hat oft darauf hingewiesen, dass Baudrillard das japanische Denken beeinflusst habe. Sein Begriff »Simulakrum« (»Bild«, simulacre) hat sogar in Marketingüberlegungen Eingang gefunden, im Sinne ironischer Formen von Werbung (Asada 2000: 23-24). Vielleicht haben die Japaner, wie schon gesagt, eine einzigartige Fähigkeit, Widersprüche zu tolerieren. Das japanische Wort munjun (»Widerspruch in sich«) wird oft gemieden; dafür sprechen die Leute lieber von »Koexistenz« – zum Beispiel in der unerklärlich scheinenden Koexistenz von hoher Sparquote und exzessivem Konsum. So wird auch in der japanischen Werbung, wie Millie Creighton gezeigt hat, offener Wettbewerb gemieden; man ist weithin der Ansicht, Werbung solle keine autoritären Aussagen über Produkte machen, sondern stattdessen eine Stimmung erfassen. Was dabei herauskommt, ist eine »Werbung ohne Bedeutung« (Creighton 1995: 139-140). Das japanische Marketing passt sich der sich verändernden gesellschaftlichen Realität und der Vielfalt der Bevölkerungsgruppen an. Anstelle von Massenkonsum amerikanisierter Produkte, geprägt durch Bequemlichkeit, Neuheit und den Wunsch nach materiellem Komfort, wird eine neue Generation von Japanern, die sich immer nachdrücklicher bemerkbar macht, immer wählerischer, zugleich aber hinsichtlich der eigenen Identität immer unsicherer. Diese Generation wird vielleicht nicht über dieselbe Kaufkraft verfügen wie die jetzige ältere Generation, die sich eines sicheren Arbeitsplatzes in der Konzernökonomie erfreuen konnte, und überdies suchen immer mehr Ältere die Sicherheit eines langen Ruhestands, der indes immer unsicherer wird. Man kann nun darüber spekulieren, ob nicht infolge zunehmender Differenzierung in der japanischen Bevölkerung (die zahlenmäßig ungefähr halb so groß ist wie die der Vereinigten Staaten) und infolge der sich wandelnden demographischen Struktur des heutigen Japan in Zukunft postmaterielle Werte stärker im Vordergrund stehen werden. Dies ist eher Ausdruck einer postindustriellen als einer industriellen Gesellschaft und nicht als Hinweis auf eine Abnahme des Konsums oder auf die Ersetzung des einen Verhaltenskodex durch einen anderen zu verstehen. Es kommen vielmehr neue Verhaltensweisen auf, die auf gleicher Ebene liegen wie das Verfolgen postmaterieller Werte in anderen Ländern (Inglehart 1977, Abramson und Inglehart 1995). Die meisten Japaner sehen nichts Erstrebenswer-
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tes darin, amerikanische Produkte zu kaufen. Europäische Designerprodukte – samt Markennamen auf den Einkaufstüten, Namen wie Chanel, Gucci oder Prada, die in einer markenbewussten Gesellschaft wie der japanischen besonders zählen – erfreuen sich bei den Konsumenten eines wesentlich höheren Prestiges. Auch als Touristenziel ist Europa wesentlich beliebter; es konkurriert dabei mit Hongkong und Hawaii. Europäische Autos, Kleidungsstücke und Nahrungsmittel werden amerikanischen Produkten vorgezogen – kaum jemand in Japan kauft zum Beispiel amerikanische Autos. Der kulturelle Inhalt der Medien ist ebenfalls kaum durch amerikanische Produkte geprägt; Japan ist eines der wenigen Länder, in denen praktisch der gesamte Inhalt der Medien im eigenen Land produziert wird. Während die älteren Formen des Konsums bestehende Identitäten bestätigten und die Identität des Individuums lediglich innerhalb von Gruppenparametern etablierten, basieren die neuen Arten des Konsums auf einer zunehmenden kritischen Distanz zwischen dem Einzelnen und der Gruppe – einer Distanz, die zunehmend auch das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Produkt bestimmt. Der neue Konsum basiert weniger auf Entscheidungen, die durch einen speziellen Lebensstil vorgegeben waren, der sich um eine Lebenszeitanstellung gruppierte, so wie es bei der Babyboom-Generation der Fall war, die in der Nachkriegs-Konzernwirtschaft alle Arten von Sicherheit fand. Dazu bemerkt John McCreery: »Als Konsumenten erfreuten sie sich besonders an Neuheiten. Doch anstelle persönlicher Kreativität nahmen sie lieber die Rolle von Kennern ein. Sie entwickelten einen persönlichen Geschmack und wählten die Produkte und Lebensstile, die ihnen am besten zusagten, sorgfältig aus dem Füllhorn aus, das ihnen die Industrie bereithielt. Ein Bildungssystem, das Multiple-Choice-Tests favorisierte, legitimierte die korrekte Auswahl als höchstes erstrebenswertes Ziel« (2000: 248). Die neuen postindustriellen Konsumenten leben in einem stärker fragmentierten Kontext als diese Veteranen des Konzernsystems, und ihre Entscheidungen sind stärker durch Identitäten geprägt, die nicht durch feste Rollen und die Zugehörigkeit zu etablierten Strukturen unterfüttert sind. Wir haben es hier mit einem individuelleren Konsum zu tun als dem, der durch den Lebensstil bereits vorgegeben ist. Hier kommen eher Netzwerke zum Tragen, die nur vorübergehender Natur sind. Laut Rosenberger stehen zwar Rationalität und Effizienz weiterhin hoch im Kurs, aber Stil und Erfüllung als Kriterien und Werte für Konsumenten rücken immer mehr in den Blickpunkt (Rosenberger 1992). Man kann daraus durchaus den Schluss ziehen, dass sich eine Art von Konsum entwickelt, bei der die Individuation deutlicher wird als die Warenwelt.
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Neue Kommunikationstechnologien haben eine entscheidende Rolle bei der Formung des neuen japanischen Konsumenten gespielt. Information ist heute für den Konsum viel zentraler als früher, und die ältere Trennung zwischen Hoch- und Trivialkultur, die für die Amerikanisierung charakteristisch war, ist in den Hintergrund getreten. Wissen ist selber zum Konsumobjekt geworden, was sich in der Art und Weise zeigt, wie die Japaner Bildung als Konsumware betrachten (wobei die kritische Anverwandlung manchmal unterbleibt). Die Werbung für private »Paukschulen«, für Sprachenschulen, Privatschulen, Colleges und Universitäten legt durchaus den Gedanken nahe, dass Erziehung und Wissen weithin als Konsumobjekt gelten, dessen Konsum sich von dem anderer Objekte nicht wesentlich unterscheidet. Der Wissenskonsum ist auch mit der mühelosen Kommunikation verbunden. Handys, die in Japan von fast allen jungen Leuten benutzt werden, haben das Ausmaß persönlicher Netzwerke vergrößert, besonders bei den Frauen, die sich fast ohne Unterschied mit persönlich verzierten, mit Nagellack überzogenen Handys zeigen; an solchen Handys finden sich manchmal sogar Anhänger im traditionellen Stil. Wenn die Peergroup zahlenmäßig größer wird, lässt die Bindungskraft der Gruppe nach und es entsteht mehr Freiraum für persönliche Individualität. Solche Gruppen sind zeitlich begrenzte Netzwerke, in denen es nicht so wichtig ist, seinen eigenen Sozialstatus zur Schau zu tragen, wie beim stärker demonstrativen Konsum in den jeweiligen sozialen Klassen. Laut Maffesoli (1988) weicht das Massenzeitalter einer Epoche neuer sozialer Beziehungen, die stärker denen von Stämmen ähneln – was seinen Ausdruck unter anderem in einem steten Strom von kulturellen Images und Situationen findet, in Japan zum Beispiel in einer Art »kindlichem« Kulturideal und Konsum (Kinsella 1995).6 Anders als frühere, räumlich und zeitlich stärker fixierte Konsumkulturen sind diese neuen »Stämme« instabil und offen, ein Produkt sowohl gesellschaftlicher Fragmentierung als auch der Desintegration der Massenkultur. Die Menschen finden sich zunehmend zu temporären Netzwerken oder »Stämmen« zusammen, die sich um vorübergehende Affiliationen und Images herum organisieren. Die neuen Produkte werden in diesem »Stammes«-Raum verkauft, der nicht immer mit dem der Familie oder der Klasse identisch ist. Auch das Internet spielt dabei eine Rolle; der Prozentsatz jener japanischen Frauen, die Zugang zum Internet hatten, nahm von 1 Prozent im Jahre 1997 auf 36 Prozent im Jahre 1999 sprunghaft zu.7 Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags (2000) fand in Japan eine explosionsartige Ausweitung des elektronischen Handels (ECommerce) statt, und das Thema der Informationswirtschaft und
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-technologie, das beim G-8-Gipfel 2000 in Okinawa eine zentrale Rolle spielte, hat den Eindruck bestärkt, dass Japan – das mit seiner Informationstechnologie gegenüber dem Westen rund zwei Jahre hinterherhinkt – sich auf diesem Gebiet schnell, wenn auch spät Weltgeltung verschaffen müsse.8 Natürlich wird das auch Auswirkungen auf die Formen des Konsums haben, denn der Konsum wird sich wahrscheinlich nicht innerhalb der vorhandenen nationalen Konsumstrukturen halten lassen. Für die neuen Konsumweisen im Zeichen von Internet, Handy, Freundschaftsnetzwerken und Mode ist die soziale Rolle der Information charakteristisch. Nach John Clammer gehört zu Freundschaften oft ein Informationsaustausch, »in manchen Fällen sogar so sehr, dass man unter ›Freunden‹ geradezu das Netzwerk derjenigen verstehen kann, mit denen man regelmäßig Konsuminformationen austauscht« (Clammer 1997: 5). Einkaufen hat oft auch mit Informationsaustausch zu tun, und die japanischen Konsumenten, besonders die Frauen, sind über alle möglichen Konsumangelegenheiten bestens informiert. Der Gruppeneinkauf ist immer noch ein Merkmal japanischer Konsumgewohnheiten bei Frauen, doch mit dem sich wandelnden Charakter der Gruppe verändern sich auch diese Gewohnheiten; die Gruppe wird diffuser und ist immer weniger in der Lage, die Identität des oder der Einzelnen zu definieren. Die Gruppe ist auch der Ort für den spielerischen Ausdruck; in einem sehr grundlegenden Sinne findet hier statt, was Akira Asada als »infantilen Kapitalismus« bezeichnet hat (Asada 1989). Diese neue Art postindustriellen Konsums lässt sich nicht leicht in Veblens (oder Bourdieus) Sinn als »demonstrativer Konsum« (conspicuous consumption) bezeichnen, denn das Konsumziel ist längst nicht immer die Demonstration, welcher Gruppe oder Klasse der oder die Betreffende angehört – dafür sind die Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Anderen viel zu diffus geworden. Die Gruppe wird als Netzwerk von Bekanntschaften neu geformt. Sie lässt sich nicht mehr ohne weiteres mit Klassenbegriffen definieren, aber auch nicht mit anderen Begriffen (wie es etwa Bourdieu mit seiner [stillschweigenden] Neuauflage von Veblens Begrifflichkeit versucht). Es geht im Wesentlichen nicht mehr um Gruppenzugehörigkeiten, sondern um einen Teilrückzug des Selbst aus der Gruppe, häufig auch (wie bei vielen japanischen Frauen) um einen Rückzug aus der Arbeitswelt. Für viele andere, die im Berufsleben stehen, ist der Konsum außerhalb des Raumes angesiedelt, in dem sich das Alltagsleben abspielt, in einem stark personalisierten Kontext und in einer weitgehend bedeutungsleeren Welt (vgl. Kelsky 1996). Die Annahme von der inneren Einheit des Selbst und der Äußerlichkeit des Anderen, die bei Veblen und Bourdieu noch als selbstverständliche Grundlage gilt, ist keine adäquate Basis mehr für ein angemessenes Verständnis der zeitge-
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nössischen kulturellen Identität; denn hier sind das Selbst und das Andere keine festen Größen mehr. Ein Beispiel: Das Geschenkwesen in Japan zielt nicht darauf ab, eine wechselseitig intime Harmonie zwischen dem Selbst und dem Anderen herzustellen, sondern Geschenke haben hier das Ziel, mittels etablierter und komplexer Regeln die Distanz zwischen Schenkendem und Geschenkempfänger zu reproduzieren, eine Distanz, die durch Verpflichtungen und Statuserwägungen definiert ist. Wegen der Art und Weise, wie diese Distanz vermessen wird – man bewahrt Geschenklisten auf und konsultiert Handbücher der Etikette, wenn Zweifel über die Regeln des Austauschs bestehen –, entsteht hier eine Form der Intimität, die für Kommerzialisierung ebenso anfällig ist wie für Gruppensolidarität. In diesem Sinne trägt also das Geschenk, ein sehr wichtiger Bestandteil des japanischen Konsumwesens (bis zu 10 Prozent des Einkommens einer Mittelschichtfamilie werden für Geschenke ausgegeben), zur Trennung zwischen dem Selbst und dem Anderen bei, während gleichzeitig eine soziale Beziehung zum Ausdruck kommt, die auf einem Austausch sorgfältig ausgewählter Waren beruht (Clammer 1997: 18-19). Ich habe die zeitgenössischen Arten des Konsums, die mit dem Postindustrialismus und der postmodernen Kultur verbunden sind, so beschrieben, dass eher ein Zusammenhang mit einem aufkommenden Kosmopolitismus deutlich wird als ein Zusammenhang mit der Amerikanisierung. Das heißt allerdings nicht, dass Letztere im Niedergang begriffen wäre, sondern nur, dass sich eine neue Logik des Konsums herausbildet – eine Konsumlogik, die sich mit den Begriffen der Amerikanisierung oder der herkömmlichen Gesellschaftstheorie allein nicht verstehen lässt. Der symbolische Konsum eines imaginären Amerika ist im Verhältnis zum Konsum des Selbst relativ unbedeutend; allerdings handelt es sich dabei um ein Selbst, dass veräußerlicht wurde und sich selbst sogar exotisch vorkommt. Die Globalisierung hat auch Auswirkungen auf die interne Struktur der japanischen Gesellschaft. Wie Saskia Sassen (1991) gezeigt hat, ist Tokio eine globale Stadt, die stärker in den globalen Finanzkapitalismus und in die globalen Informationssysteme eingebunden ist als in die japanische Gesellschaft. Auch die Europäische Union spielt in Japans Außenbeziehungen eine immer größere Rolle (Abe 1999). Indem sich Japan in den Schmelztiegel der Globalisierung begibt, kommen neue Konsumlogiken ins Spiel, während alte in neuer Form wiederkehren. Eine Dimension dieser Vorgänge ist die Wiedererfindung des Japonismus, der überwiegend europäischen Rezeptionsform der traditionellen japanischen Kultur seit dem Zeitalter der Aufklärung – deren Spektrum von der Mode bis zur Gartenkultur reicht (Wichmann 1980). In den 1980er-Jahren wurde diese Japanmode
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wiederbelebt, als japanische Modedesigner weltberühmt wurden und Tokio neben Paris, Mailand, New York und London zu einer der Welthauptstädte der Mode wurde. Wie Lise Skov in einem erhellenden Artikel gezeigt hat, fügte sich die japanische Mode aufgrund ihrer stilistischen und technologischen Anonymität bestens in die europäischen Konsumkulturen ein (Skov 1996: 144). Das europäische Faible für den Japonismus basiert jedoch auf simplifizierenden Vorstellungen von der japanischen Kultur als etwas Andersartigem bar jeder eigenen Individualität, das erst dann Individualität gewinnt, wenn es in westlichen Kontexten auftaucht, wo es dann zu einem Design wird, das westlichen Individualismus zum Ausdruck bringen kann. Ein gutes Beispiel dafür ist die explosionsartige Ausbreitung der SushiRestaurants in westlichen Ländern. Doch trotz dieses Eurozentrismus hinter dem Japonismus gibt es laut Skov auch Bewegungen in die Gegenrichtung, denn in dem Maße, wie Tokio zur kosmopolitischen Modehauptstadt wird, kaufen ihrerseits auch japanische Frauen die Produkte der Pariser Modehäuser und werden auf diese Weise Teil einer transnationalen Gemeinschaft (Skov 1996: 136). Zweifellos haben derartige Entwicklungen jene Stereotypen etwas zurückgedrängt, die in der Vergangenheit die Wahrnehmung Japans prägten – etwa das Bild von der »gelben Gefahr«, von der Samurai-Wirtschaft oder die Vorstellung von Japan als einem Land der Gruppensüchtigen und Gruppenhörigen. Allerdings beeinflussen diese Images die westliche Werbung, soweit sie sich japanischer Motive bedient, weiterhin (Moeran 1996, Raz und Raz 1996). Doch die Entwicklungen, die wirklich zählen, ereignen sich beim Wandel der Populärkulturen in Japan, aber auch in einem weiteren asiatischen Raum, wo Japans kultureller Einfluss zunimmt – und zwar auf eine Art und Weise, die die Vorstellung von der Amerikanisierung grundlegend infrage stellt. Während sich Europa und Japan kulturell möglicherweise wechselseitig immer weiter durchdringen, wenn auch mit einer gewissen Befangenheit, gewinnt die Ausbreitung der japanischen Popkultur in Asien zunehmend an Bedeutung, insbesondere im Bereich der Popmusik. Die japanische Kultur ist in Asien sehr beliebt und macht dort der amerikanischen Konsumkultur ernsthaft Konkurrenz. Vieles von dem, was oft als amerikanische Kultur in Asien bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit eher japanische Kultur, eine Kultur, die inzwischen kreativ geworden ist und durch innovative Designs glänzt – im Gegensatz zu einer Kultur der kopierenden Nachahmung, an die man im Zusammenhang mit Japan häufig weiterhin denkt. Seit den späten 1990er-Jahren mit ihrem raschen Absinken der wirtschaftlichen Wachstumsraten wird immer deutlicher, dass Japan sich darauf einrichtet, eine asiatische Großmacht zu sein. Nachdem Japan nicht mehr als die große Herausforderung für die USA galt, ergab im Jahre
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2000 eine größere Umfrage bei den US-Führungseliten in Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Politik, dass das Japanbild positiv geworden war. Japans Ausrichtung auf Asien ist eine der grundlegenden Veränderungen in der Geschichte des Landes; sie könnte auch zur Grundlage einer neuen kulturellen Identität werden (Iwabuchi 1999). Seit die rational geprägte Modernisierung an ihre Grenzen stößt und pluralistischere Formen des Konsums an die Stelle der Amerikanisierung treten, ist die japanische Kultur dabei, im Konsum der Kultur des Andersartigen eine neue Verkörperung zu gewinnen. Wenn Amerika symbolisch für Gleichartigkeit und Identität stand, so steht Europa – das in der japanischen Gesellschaft immer mehr präsent ist – für Differenz, und es ist die Hinwendung zum Anderen, Andersartigen (auch zum »Selbst als Andersartigen«), die in den zeitgenössischen Konsumkulturen auf mehr Widerhall stößt. Denn diese Kulturen sind in der Lage, alle Kulturen, auch die jeweils einheimische, in Richtung Andersartigkeit zu verwandeln. Die Amerikanisierung in Japan ermöglichte es dem Individuum, innerhalb der Grenzen der Gruppenzugehörigkeiten eine persönliche Identität zum Ausdruck zu bringen. Der Konsum war insofern demonstrativ, als er das innere Selbst nach außen kehrte, es öffentlich machte. Die zeitgenössischen Formen des Konsums richten sich dagegen weniger am Ausdruck der eigenen Identität in einem öffentlich sichtbaren Lebensstil aus. Weil dem Selbst die Sicherheit der Gruppe und die soziale Bedeutungsgarantie abgehen, befindet es sich heute in einer wesentlich bruchstückhafteren Situation und ist dabei auch selbst fragmentiert worden. Postmodernistisch gesagt, geht es um Wünsche und Sehnsüchte, die den Grenzen der Notwendigkeit und der Grundbedürfnisse entfliehen. Das Problem liegt dabei darin, dass dieser Vorgang nicht durch ein nennenswertes Maß an Auseinandersetzung mit dem Selbst begleitet wird.
Zusammenfassung: Triumph der Expressivität? Seit 1945 hat sich Japan langsam in Richtung Globalisierung bewegt. Es handelte sich dabei jedoch immer um eine Globalisierung in engen Grenzen. Denn das Wachstum der japanischen Wirtschaft hing in hohem Maße vom Protektionismus für die eigenen Binnenmärkte ab, und das Eindringen der Amerikanisierung in die Konsumkultur bestätigte tendenziell die relative Autonomie der japanischen Gesellschaft eher, als dass es sie unterminiert hätte. Zum Beispiel hängt die japanische Wirtschaft zu 60 Prozent vom Binnenkonsum ab.9 Seit den 1990er-Jahren ist das nationalistische Ethos der beiden vorangegangenen Dekaden der neuen Beschäftigung mit einer sanften, kulturell
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ausgerichteten Form des Internationalismus gewichen (Kokusaika) – im Sinne einer Verstärkung des kulturellen Austauschs und kultureller Offenheit. Die Wirtschaftsmisere nach dem Platzen der Spekulationsblase, das Erdbeben in Kobe im Jahre 1995, bei dem über 6000 Menschen umkamen, das Menetekel der Risikogesellschaft in Form eines schweren Atomunfalls im Jahre 1999, die Krise der dualen Wirtschaft und das Ende der Lebenszeitanstellung – all dies erinnert daran, dass Japan kein grundlegend anderes Land mehr ist. Und die zunehmend wichtigere internationale Rolle des Landes (besonders in Asien), der Wunsch, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erhalten, die Notwendigkeit eines Dialogs mit China und Korea, die Notwendigkeit, die natürlichen Ressourcen und die Energiereserven zu sichern, sowie die Notwendigkeit, Arbeitskräfte zu importieren, um die industrielle Produktivität aufrechtzuerhalten – all dies erfordert, dass Japan sich stärker öffnet. Im vorliegenden Beitrag habe ich betont, wie sich diese Entwicklungen in einer zunehmenden Pluralisierung der kulturellen Identität spiegeln, beispielsweise im Wandel der verschiedenen Arten von Konsumkulturen, in der Zunahme und größeren Präsenz von Subkulturen und alternativen Lebensstilen, aber auch in einer Anerkennung der internen kulturellen Vielfalt innerhalb der japanischen Bevölkerung (was sich auch in einer wachsenden Zahl von transnationalen Ehen zeigt). Während die kulturelle Identität auf immer mehr individuellem Ausdruckswillen beruht, lassen sich auch Entwicklungen in die Gegenrichtung beobachten, hin zu Formen der Expressivität, die nicht von einer Selbstauseinandersetzung begleitet sind. Derselbe Ausdruckswille, der dem neuen Konsumententum zugrunde liegt, zeigt sich auch in anderen Fluchtwegen aus dem Alltag, beispielsweise in neuen japanischen Religionen wie der Sekte Aum Shinrikyo, die für den Giftgasangriff in der Tokioter U-Bahn im Jahre 1995 verantwortlich zeichnete (Metraux 1999, Reader 2000). Im Allgemeinen verkaufen sich Bücher, die mit Religion zu tun haben, gut.10 In einer Kultur, die historisch gesehen eher vergangenheits- als heilsorientiert war und die in der Vergangenheit eine Quelle für neue Hervorbringungen suchte, bieten die neuen Religionen des autoritären Okkultismus und Mystizismus den Menschen alternative Arten des Konsumententums und Ausdrucksformen der persönlichen Identität. Es bestehen durchaus Verbindungen zu einem untergründigen Diskurs der Gewalt in weiten Teilen der japanischen Popkultur, zum Beispiel in den Mangas (Comics). Doch die Gewalt findet weitgehend in der Phantasie statt, und man kann darin mit Norbert Elias eine friedliche Entschärfung der Gewalt sehen, denn es gibt in der japanischen Gesellschaft nur relativ wenig offene oder sichtbare Gewalt. Mangas können auch Mittel zur Artikulation eines politischen Bewusstseins oder einer kulturel-
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len Identität sein (Kinsella 2000). Man kann darin auf alle Arten politischer Kritik stoßen, meistens in Form von Parodien. Mangas sind ein Beispiel dafür, wie ästhetische Öffentlichkeit auch durch Reflexivität und Kritik konstituiert wird. Meine Hervorhebung des Spielerischen (asobi) in der japanischen Alltagskultur kann vielleicht ebenfalls zum Verständnis dieses einzigartigen japanischen Phänomens beitragen. Bezüglich der Religion ist nicht nur die Entstehung neuer Sekten und Religionen bemerkenswert, sondern auch eine Zunahme der Diskussionen über die Resakralisierung des öffentlichen Bereichs, im Kontext eines offener zutage tretenden politischen Nationalismus. Im April 2000 rief der neu ernannte Premierminister Yoshiro Mori mit seiner Bemerkung in einer Rede vor Schintoisten, »Japan, mit dem Tenno als Zentrum,« sei »das Land der Götter«, eine lebhafte öffentliche Diskussion hervor. Obgleich es bei einigen japanischen Politikern klare Anzeichen für einen ausdrücklicheren Nationalismus gibt und obwohl auch Bekundungen des Antiamerikanismus zunehmen, spricht doch vieles dafür, dass diese Gesellschaft dem Nationalismus skeptisch gegenübersteht. Der Tod der Witwe des Kaisers im Juni 200011 war kein Anlass für die Zurschaustellung nationalistischer Gefühle, sondern eine vorsichtige Erinnerung daran, dass die Showa-Zeit endgültig beendet war. Während die kritische Reaktion auf die Bemerkungen des Premierministers verdeutlichte, dass die Resakralisierung des Landes nicht ansteht und dass die Institution des Tenno für die politische Kultur nur von begrenzter Bedeutung sein wird, nimmt in der japanischen Gesellschaft die Angst davor zu, dass soziale Veränderungen auch zu einer Unterminierung der gesellschaftlichen Beziehungen führen könnten. Verbrechen und Gewalt nehmen in Japan zu, obgleich das Ausmaß im Vergleich zu den meisten anderen Ländern immer noch geringfügig ist, und Japan hat weltweit eine der höchsten Selbstmordraten (31.000 Fälle im Jahre 1999). Besonders die Institutionen des Staates haben sich nicht verändert, um mit anderen Entwicklungen Schritt zu halten – trotz beträchtlicher Stimmenverluste für die Liberaldemokratische Partei nach vier Jahrzehnten an der Macht. Insbesondere das Schul- und Bildungswesen ist rigide, ineffektiv und erstickt die Kreativität. Die bürokratische politische Kultur ermutigt keine demokratische Teilhabe oder Debatten über Themen wie Umweltverträglichkeit und ökologische Nachhaltigkeit, Korruption oder die Verbesserung der Lage der Frauen (die im Schnitt nur 60 Prozent des männlichen Gehaltsniveaus erreichen). Die Firmenkultur ist immer noch rigide und extrem hierarchisch. Folglich sind es die populären Konsumkulturen einschließlich der neuen Religionen, die den Menschen alternative Phantasien anbieten – Gegenwelten zu Arbeit, Schule und Politik. Das japanische Wesen
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ist nicht darauf eingestellt, sich gegen die negativen Aspekte der Moderne zur Wehr zu setzen, die sich im Zeichen der Globalisierung weiter intensiviert haben. Die Verzauberung, die die populären Konsumkulturen bieten, ist stark, und sie kommt dem Widerstand, den die Zivilgesellschaft aufbietet, nicht in die Quere. Der größte Teil des japanischen Konsums findet im expandierenden Raum des Alltagslebens statt und hat kaum Auswirkungen auf die Welt der Arbeit oder der Institutionen. Der Konsum gibt dem Individuum eine Freiheit, die ihm in anderen Bereichen der Gesellschaft verwehrt wird. Infolge seiner relativ starken Trennung von den formellen Institutionen der Gesellschaft ist das japanische Alltagsleben archaischer als in anderen Gesellschaften. Gleichwohl wird dieses Alltagsleben der Ausgangspunkt für Veränderungen der Zivilgesellschaft sein, denn es bietet trotz seiner Fragmentierung mehr Gelegenheiten für den Wandel als die offizielle, öffentliche Kultur. Es spricht vieles dafür, dass die Konsumentenmärkte bei der Herausbildung einer kulturellen Zivilgesellschaft die Führung übernehmen; so geht zum Beispiel der Widerstand gegen genetisch veränderte Nahrungsmittel von den Konsumenten aus. Gleichwohl gibt es kaum Anzeichen dafür, dass sich in Japan so etwas wie ein flexibles Staatsbürgerschaftsrecht entwickeln könnte. Darin unterscheidet sich das Land deutlich von anderen Teilen Südostasiens (Ong 1999). Im Konsum kommen, wie John Clammer im Anschluss an Pierre Bourdieu argumentiert, die meisten kulturellen Unterschiede zum Ausdruck (Clammer 1997: 102-103). In Japan, wo die Einkommensunterschiede relativ gering und ethnische Unterschiede minimal sind, zeigen sich Gruppenunterschiede eher in den Formen des Konsums. Das Bildungswesen, die Institutionen des Staates und der Arbeitswelt werden wahrscheinlich am Ende auch gezwungen sein, auf die utopischen Strömungen des Alltagslebens einzugehen, wo dem Konsum keine Grenzen gesetzt sind. Doch solange diese Strömungen noch keine politische Form gefunden haben, wird der Raum für soziale Veränderungen begrenzt bleiben. Während Japan eine bemerkenswerte Fähigkeit zu symbolischen Produktionen zeigt, ist die kulturelle Fähigkeit des Landes zu sozialen Veränderungen begrenzt. Der Konsum bewegt sich nur in den entpolitisierten Strukturen des privatisierten Individualismus; er gestaltet die kulturelle Identität der Japaner zwar radikal um, auf die politische Identität hat er bislang jedoch keinen nennenswerten Einfluss gehabt. Die politische Identität des Landes ist mit einigen der in der japanischen Moderne inhärenten Widersprüche noch nicht ins Reine gekommen. Darum überrascht es nicht, dass eine voll ausgebildete kosmopolitische Identität nur in Randgruppen anzutreffen ist, wie Tessa Morris-Suzuki (2000: 79) zeigt. Sie stellt eine japanische Min-
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derheitengruppe, die Ainu, vor, die das Bewusstsein haben, zu einer Weltgemeinschaft indigener Völker zu gehören. Das Motiv der Moderne und die Idee von Amerika ermöglichen den Japanern den Ausdruck einer widersprüchlichen nationalen Identität als Opfer (Amerikas) und Unterdrücker (Asiens). Während der Konsum weiterhin diffuse Identitätsangebote macht, kann sich Japan der Moderne letztlich nicht entziehen: Die symbolische Präsenz des Massakers von Nanking12 und der Atombombe von Hiroshima sind und bleiben markante Erinnerungen an die inneren Widersprüche der japanischen Moderne, aber auch an die widersprüchliche Rolle, die sowohl Amerika als auch Asien im modernen japanischen Bewusstsein spielen.
Anmerkungen 1 Danksagung: Dieser Essay entstand während meiner Gastprofessur an der Doshisha University in Kyoto im Jahre 2000. Ich danke Professor Makio Morikawa, dem Department of Sociology und der Philosophischen Fakultät (Faculty of Letters) für die mir gewährte Unterstützung. Ferner danke ich meiner Forschungsassistentin Atsuko Shiminzu, Stephanie Assmann und den Studenten in meinem Graduiertenseminar zur Gesellschaftstheorie, die mir wertvolle Kenntnisse über Japan vermittelt haben. Für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Essays danke ich Yoshida Takashi, William Outhwaite, Engin Isin und Chris Rojek. 2 Eine Darstellung der japanischen Linken findet sich bei Asada 2000. 3 Ich danke Stephanie Assmann für ihre Hinweise zu diesem Teil des japanischen Konsumverhaltens. 4 Der Begriff wurde 1991 von dem Wissenschaftler Hiroyuki Itami mit Bezug auf japanische Managementmethoden verwendet (Nihontek Keiei), aber er tauchte schon ab 1988 häufig in Wirtschaftszeitschriften auf. 5 Die umfangreiche Literatur zur Postmodernisierung Japans kann hier aus Platzgründen nicht gewürdigt werden. Vgl. jedoch Sugimoto/Arnason 1995 und Miyoshi/Harootunian 1989. 6 »Kawaii bedeutet im Wesentlichen ›kindlich‹; begehrenswert erscheinen dabei ein süßes, bewundernswertes, unschuldiges, reines, einfaches, echtes, zartes, verwundbares, schwaches und unerfahrenes Sozialverhalten und Aussehen. Dieser Stil wurde treffend beschrieben als einer, der ›infantil und zerbrechlich, zugleich aber hübsch‹ ist« (Kinsella 1995: 220). A.d.Ü. 7 The Japan Times vom 5. Juni 2000, S. 18.
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8 Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass laut Castells der Begriff »Informationsgesellschaft« (japanisch Johoka Shakai) 1963 von den Japanern erfunden wurde, die ihn 1978 im Titel eines Berichts für die französische Regierung in den Westen exportierten (Castells 1998: 236). 9 Bericht in den japanischen Fernsehnachrichten vom 9. Juni 2000. 10 Diese und weitere Informationen sind Asahi Shimbun 1999 entnommen. 11 Die Witwe des Kaisers Hirohito (Herrschernahme: Showa), der bereits 1989 verstorben war. 12 Im Dezember 1937 wurden bei der Eroberung der chinesischen Hauptstadt Nanking durch die Japaner Hunderttausende chinesischer Zivilisten brutal getötet. A.d.Ü.
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Konsum, Moderne und die kulturelle Identität Japans | 185
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III. Transnationale Prozesse
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Techno-Migranten in der Netzwerkökonomie Aihwa Ong
Jeden Herbst verlassen wohlhabende, in Vancouver ansässige chinesische Ausländer die Stadt in Richtung Hongkong, wie Kanadagänse in wärmere Regionen fliehend. Ebenfalls zu Tausenden reisen indische, bei Firmen in Silicon Valley beschäftigte Techno-Migranten häufig über den Pazifik – einige von ihnen auch, um in Bangalore eigene Hightech-Firmen zu gründen. Weniger betuchte Migranten, zum Beispiel chinesische Kellner, Pförtner aus Lateinamerika oder kambodschanische Heimarbeiter in der Elektronikbranche, bevölkern die offenen Arbeitsmärkte, die jenen fieberhaft aktiven Zentren der New Economy zu Diensten sind, die den amerikanischen Westen vorantreiben. Was können uns diese neuen mobilen Menschen über Staatsangehörigkeit und Bürgerrechte sagen, über deren kosmopolitische und lokale Dimensionen sowie über die politischen Implikationen der neoliberalen Regierungsphilosophie? Im »Liberalismus« geht es im Wesentlichen um eine Ökonomie der Regierung. Foucault paraphrasierend, definiert Colin Gordon »Liberalismus« als eine Regierungsform, die »ihre Ressourcen sparsam einsetzt und ökonomisch handelt, um ihre Ziele zu erreichen, und die insbesondere akzeptiert, dass gutes Regieren weniger Eingriffe seitens der Regierenden bedeutet« (Gordon 2000: xxiii). Man sollte allerdings nicht meinen, dass Liberalismus gleichbedeutend ist mit einer Abneigung gegen Regulierungen oder mit deren Reduzierung. Nein, auf liberale Initiativen hin gedeihen vielfältige Regulierungspraktiken, die Märkte schaffen und besondere Arten moderner Subjekte entstehen lassen. In liberalen Wirtschaftsverfassungen verlässt sich der Staat auf eine Vielzahl von Regelungsinstanzen, um eine objektive, vom Staatsapparat getrennte ökonomische und soziale Realität zu gestalten. Darum sollten wir bei Untersuchungen von Souveränität und Staatsbürgerschaft in liberalen Staatsformen unser Augenmerk weniger auf die Ebene der politischen Institutionen des Staa-
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tes richten als auf die Regierung als ein System von Regulierungs- und Normalisierungspraktiken (Foucault 2000), also auf das, was Foucault Regulierungsmacht oder »Gouvernementalität« nennt (gouvernementalité). In den letzten Jahrzehnten hat sich der Neoliberalismus, ein Ethos, das keinerlei Einschränkungen der Marktkräfte duldet, ungleichmäßig über die Welt verbreitet. Marktkriterien beeinflussen dabei immer stärker und direkter die Grundlage und Praxis jener Regulierungsprozesse, die über Staatsangehörigkeit und Bürgerrechte entscheiden. Ich habe die Staatsbürgerschaft darum nicht einfach als juristischen Status untersucht, sondern als ein System von Regierungsrationalitäten – als ein System, das die flexiblen Strategien von Migranten aus der Managerklasse konditioniert hat, die sich in verschiedenen Ländern niederlassen wollen und dort ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt suchen (Ong 1999). Ich habe ebenfalls gezeigt, dass die in Südostasien eingeführten neoliberalen politischen Konzepte zu Veränderungen der politischen Souveränität geführt haben, wobei neue soziale Räume entstanden sind, die durch unterschiedliche Disziplinierungs- oder Fürsorgeerwägungen bestimmt werden (Ong 2000). Im vorliegenden Beitrag nun widme ich mich den Implikationen der neuen Migrantenströme und den neuen »Regierungslandschaften« in Nordamerika. Die neuen Globalisierungsräume beschränken sich nicht auf globale Städte wie New York, London und Tokio. Suburbane Technik-Hochburgen in Nordamerika – wie Silicon Valley, Route 128 oder der North Carolina Science Park – haben von Berlin bis Beijing (Peking), von Oxford bis Osaka etliche Hightech-Ableger hervorgebracht, Stätten neuer Kapitalakkumulation. Beobachter dieser Entwicklung wie Anna Lee Saxenian haben festgestellt, dass solche Knotenpunkte der IT-Wirtschaft von einem »Regionalvorteil« profitieren, der sich aus Netzwerk-Synergien ergibt – bei einer Vernetzung von Elektronikfirmen, Universitäten, Risikokapitalgebern und Stadtverwaltungen, die sehr veränderungsbereit und risikofreudig sind (Saxenian 1996). Man könnte aber auch nach den strategischen Netzwerken von Regierungsrationalitäten fragen – nach jenen gouvernementalen Erwägungen, die besondere Bevölkerungsgruppen angezogen haben und spezifische Sozialnormen für Rechte und Staatsbürgerschaft entstehen ließen.1 Silicon Valley könnte in der Tat »Ground Zero« für die »reflexive Modernisierung« sein, um Ulrich Becks Begriff zu verwenden (Beck 1994) – eine zweite Modernisierung, bei der die alten Strukturen überlagert werden, die neuen hingegen noch höchst provisorisch, riskant und unvorhersehbar sind. Welche Verbindungen bestehen zwischen der extremen Radikalisierung des Marktes und den Experimenten mit neoliberalen Regierungs- und Steuerungsformen? Wie ist
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ein neuer Regulierungsraum als eigene Welt ohne den Staat entstanden? Ich werde im vorliegenden Beitrag zeigen, dass die neoliberale Regierungsrationalität auf extrem variablen, kontingenten und lokalen Konstruktionen beruht, wobei sich unterschiedliche Auswirkungen auf verschiedene Einwandererkategorien ergeben und sich die Alltagspraxis der Bürgerrechte in Nordamerika verändert. Als Erstes werde ich untersuchen, wie der unterschiedliche Umgang mit Migranten an der Westküste der USA divergierende Räume für Regierungshandeln hervorgebracht hat. Das Einströmen asiatischer Wirtschaftsinvestoren und Hightech-Profis hat die ethnische Zugehörigkeit zu einem Bestandteil des Kosmopolitismus werden lassen. Die Universalisierung spezieller Aufgabenteilungen – Inder als internationale Hightech-Profis, Chinesen als globale Geschäftsleute, Filipinas als globale Kindermädchen – ist für den Aufbau flexibler transnationaler Ökonomien von zentraler Bedeutung. Zweitens werde ich untersuchen, wie solche Einwanderungsräume und -ströme mit den spezifischen Räumen des Regierungshandelns verbunden sind. Neoliberale Regime, die kosmopolitische, durch Mobilität und Berufserfahrung definierte Migranten privilegieren, haben im Regierungshandeln vor Ort zu einer Fragmentierung von Rechten beigetragen. Drittens schließlich untersuche ich die Zersplitterungseffekte eines kosmopolitisch angelegten Staatsbürgerschaftsrechts, dem es vor allem auf Humankapital und Aufenthaltsrecht ankommt. Denn der intensivierte Wettbewerb um Berechtigungen zwischen Migranten einerseits und Langzeitbewohnern andererseits hat auch zu einer Veränderung im Verständnis der Menschen vom kommunalen Zusammenleben geführt.
Globalisierende und lokalisierende Prozesse Bei der Untersuchung der Frage, welche Auswirkungen globale Migrationsbewegungen auf nationale Souveränitäten und Staatsbürgerrechte haben, ist es hilfreich, globalisierende Trends von lokalisierenden Prozessen zu unterscheiden. So kann man zum Beispiel sagen, dass die flexiblen transnationalen Ökonomien von globaler werdenden Produktionsprozessen und Arbeitsmärkten abhängig gewesen sind, aber auch von ihrer Lokalisierung an bestimmten Orten mit Kapitalakkumulation und Wachstum. Globalisierungstheoretiker unterscheiden zwei Arten von Globalisierungstrends: zum einen den Aufstieg von Städtenetzwerken, zum anderen die zunehmende Bedeutung eines »Raums der [Kapital- und Informations-] Ströme« (space of flows), der vorrangig von Managemententscheidungen bestimmt wird. Laut Saskia Sassen sind globale Städte als Orte internationaler Finanzaktivi-
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täten und spezialisierter Dienstleistungen die Knotenpunkte einer »neuen Geographie der Zentralität« (Sassen 1991: 1-30). Und laut Manuel Castells hat es der an Bedeutung zunehmende »Raum der Ströme« den dominanten Manager- und Unternehmereliten ermöglicht, neue, Städte und Kontinente umspannende Segregationsräume zu schaffen – auf diese Weise entstand die Netzwerkgesellschaft (Castells 1996: 416). Forscher wie Peter Taylor, der Sassens und Castells’ Einsichten zu kombinieren versucht, haben vorgeschlagen, »das Weltstadtnetzwerk« als eine neue Metageographie zu betrachten (Taylor 2000). Bei den Untersuchungen, die sich auf Städtenetzwerke und auf von Managern gesteuerte, weltumspannende Kapital- und Informationsströme konzentrieren, sind allerdings die damit einhergehenden Lokalisierungsprozesse nicht ausreichend beachtet worden – Prozesse zur Einbettung und Regulierung von Arbeitskräften, von Wissen und Praktiken an spezifischen Orten. Vielmehr ist Castells sogar so weit gegangen zu behaupten, dass in der informationellen Wirtschaftsform der New Economy die »räumliche« Logik der Kapitalund Informationsströme als »Raum der Ströme« den traditionellen geographischen »Raum der Orte« (space of places) überlagere und beherrsche (1996: 416). Demgegenüber läuft mein Argument darauf hinaus, dass wir eine umfassendere ethnographische Beschreibung der divergenten Prozesse benötigen, die die transnationalen Praktiken der Managereliten im »Raum der Ströme« mit den Lokalisierungspraktiken im »Raum der Orte« verbinden. Während sich das Konzept des Weltstadtnetzwerks vor allem mit dem Raum von Informationen, Kapital und Märkten beschäftigt, widmet es dem Raum des Regierungshandelns (Gouvernementalität), in dem formale und substanzielle Rationalitäten um die Vorherrschaft ringen, nicht genug Aufmerksamkeit. Welche strategischen Netzwerke der Rationalität gestalten in den lokalen Regulierungs- und Regierungsräumen den Einsatz von Kapital, Arbeitskräften, Ressourcen, Normen und Zwang? Spezifischer gefragt, welche Regelungen fördern Investitionsströme und die Entfaltung wirtschaftlicher Talente, sind aber zugleich geeignet, illegale Wanderarbeiter fernzuhalten, dingfest zu machen und zu bestrafen? Das Image Amerikas und die Bedingungen der Mobilität Meiner Ansicht nach motiviert die Vision von einem guten Leben die globalen Wanderungsbewegungen – eine Vision von Freiheit und Wohlstand, die Generationen von Migranten aus Asien nach Nordamerika getrieben hat. Dort wollten sie sich Zugang zu bestimmten ökonomischen, kulturellen und informationellen Ressourcen verschaffen. Das Gespür der Menschen für ihr eigenes Schicksal kann
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offenbar nur in solchen transnationalen Räumen der Mobilität und der Möglichkeiten Gestalt annehmen. Nachdem Nordamerika Jahrzehnte lang Migranten aus Asien zurückgewiesen und entmutigt hatte, versucht es seit den 1980er-Jahren, aus den Volkswirtschaften und Mittelschichten des asiatisch-pazifischen Raums selbst Kapital zu schlagen. Die Ausweitung des Handels mit Asien und die Anforderungen einer neuen Wissensökonomie haben die Regierungen Kanadas und der Vereinigten Staaten dazu gebracht, aktiv um Investoren und hochqualifizierte Arbeitskräfte aus dem asiatischen Pazifikraum zu werben. Für viele asiatische Migranten ist Nordamerika, das ihnen ohnehin schon als Paradies des komfortablen und sicheren Lebens für die Angehörigen der Mittelschicht galt, als Speerspitze des HightechFortschritts in der Welt sogar noch attraktiver geworden. Erst mit den Erfahrungen vor Ort, wenn sie in die Räume der beschleunigten Marktzivilisation eingegliedert werden, finden die Neuankömmlinge dann heraus, dass die anscheinend unbegrenzten Möglichkeiten auch eine Kehrseite haben. Zygmunt Bauman (1998) erinnert uns an die Polarisierung zwischen denen, die sich freiwillig auf den Weg gemacht haben, und denen, die es gezwungenermaßen taten, also zwischen Touristen und Vagabunden beziehungsweise Reisenden und Flüchtlingen.2 Eine solche »globale Hierarchie der Mobilität« ist Bestandteil einer Neuverteilung von Privilegien und Verlusten auf weltweiter wie auf lokaler Ebene; dabei findet eine Umschichtung der Menschheit statt (Bauman 1998: 70). Anders gesagt, manche Migranten können den flexiblen Umgang mit Bürgerrechten besser nutzen als andere, und überdies gehören Migranten generell zu Strömen, die man auf ganz unterschiedliche Weise managen und kontrollieren kann. Seit den frühen 1980er-Jahren haben die USA, Kanada und Australien neue Visa-Kategorien eingeführt, um das Hereinströmen von Menschen, zunehmend aus asiatischen Ländern, neu zu regulieren. Solche Einwanderungsregelungen reagieren strategisch auf die Forderungen der New Economy, neues Kapital und neue berufliche Talente ins Land zu lassen. Während also Managereliten und hochqualifizierte Berufstätige aus Asien mit legalen Papieren in ihre neuen Gastländer einreisen können, müssen die armen, ungelernten Landbewohner, die sich für solche Visa nicht qualifizieren konnten, einen beschwerlicheren und teureren Weg nehmen. Ich werde die Einwanderungsströme nach Kanada, wo man sich anscheinend weitgehend darauf konzentriert hat, asiatische Investoren für die Entwicklung der städtischen Immobilienmärkte ins Land zu holen, den Einwanderungskontingenten der USA gegenüberstellen, wo überwiegend Wirtschaftsinvestoren, Beschäftigte der IT-Branche und andere »Geistesarbeiter« für Kalifornien rekrutiert werden. Gleichzeitig waren beide Länder aber
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nicht in der Lage, das stärkere Einströmen illegaler, gering qualifizierter Migranten zu unterbinden. So ist der Konflikt zwischen formal gültigen Regulierungen und sachlich-substanziellen Erwägungen in den amerikanischen Zielländern letztlich für den unterschiedlichen Zugang der Migranten zu Bürgerrechten, zu Berechtigungen und kultureller Mitbürgerschaft verantwortlich. Ansässige Emigranten und »schwimmende Särge« auf dem Weg nach Vancouver Pro Kopf der Bevölkerung nimmt Kanada mehr Einwanderer auf als jedes andere Land der Welt. In den frühen 1980er-Jahren hatte es das kanadische »Business Immigration Program« vor allem darauf abgesehen, Geschäftsleute aus Hongkong und Taiwan ins Land zu holen, spezifiziert nach Kategorien wie »Selbstständige«, »Unternehmer« und »Investoren«. Der größte Teil dieser Ströme von asiatischem Kapital und Wirtschaftsmigranten zielte auf Vancouver, wo die Provinzregierung von British Columbia eine Mindestinvestitionssumme von 150.000 kanadischen Dollar für einwanderungswillige Unternehmer festgelegt hat (mit der Erwartung, dass auch Arbeitsplätze geschaffen werden), während einwanderungswillige Investoren mindestens 350.000 kanadische Dollar in Firmen in anderen Teilen British Columbias anlegen müssen (Business Immigration Office 1998). In den 1980er- und 1990er-Jahren kauften Hongkong-Chinesen in Vancouver Immobilien im Wert von mehr als zwei Milliarden kanadischen Dollar und verwandelten dabei eine verschlafene britische Hafenstadt in eine Pazifikanrainer-Megalopolis, die alles bietet, einschließlich chinesischer »McMansions« (Standard-Residenzen) (Mitchell 1997). Die Stadt mit ihren fast zwei Millionen Einwohnern ist zu einem Drittel asiatisch, wobei die ethnischen Chinesen rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Über diesen asiatisch-pazifischen Charakter der Stadt kursieren Witze wie der folgende: Die Japaner wollen Vancouver kaufen, aber die Chinesen weigern sich zu verkaufen. Die sich immer schneller ausweitenden Familien- und Firmennetzwerke zwischen Vancouver und Hongkong lassen einen neuen globalisierten Raum entstehen, in dem Vancouver stärker mit asiatisch-pazifischen Orten vernetzt ist als mit dem Rest von British Columbia oder anderen Teilen Kanadas. Die Verwendung von Visa als Zulassungsinstrument für asiatische Geschäftsleute und Studenten hat sich so ausgewirkt, dass die Armen und Unqualifizierten eigentlich hätten draußen bleiben müssen. Allerdings bieten die kanadischen Einwanderungsgesetze diesen unerwünschten Gruppen ein Schlupfloch in Gestalt großzügiger Asylprogramme für Flüchtlinge; auch wird Armen großzügige Sozial-
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hilfe gewährt. Auf diese Weise haben es Tausende ungelernter chinesischer Einwanderer geschafft, ohne Visa ins Land zu kommen. Jedes Jahr vernichten schätzungsweise rund 5000 Menschen, die nach Kanada fliehen, ihre Papiere und stellen dann Asylanträge. Andere wählen einen indirekteren Weg. So wurden im April 1999 zwei Schiffsladungen mit aus Fujian stammenden Chinesen ohne Papiere in der Nähe von Vancouver abgesetzt. Als sie von der Küstenwache aufgegriffen wurden, reklamierten diese Migranten den Flüchtlingsstatus (als Gründe gaben sie die Geburtenkontrollpolitik in China an, die nur noch ein Kind pro Familie zulässt, oder religiöse Verfolgung, denn viele Chinesen aus Fujian sind Christen) und beantragten Asyl. Auch in neuerer Zeit gab es ähnlich dramatische Ankünfte von Neuankömmlingen. Einige chinesische Migranten aus derselben Provinz bezahlten zwischen 30.000 und 50.000 US-Dollar, um auf Containerschiffen ins Land geschmuggelt zu werden – Schiffen, die als »schwimmende Särge« gelten, weil einige Migranten regelmäßig die Reise nicht überleben. Im Januar 2000 legte wieder einmal ein schwimmender Sarg mit 18 Überlebenden in Seattle an. Von dort gibt es einen lebhaften Verkehr über die Grenze nach Vancouver, weil blinde Passagiere, die in den USA ankommen, eher damit rechnen müssen, zurückgeschickt zu werden.3 Insgesamt wurden in den Jahren 1998 bis 2000 mehr als 200 Personen erwischt, die mit Containerschiffen in kanadische oder US-amerikanische Häfen geschmuggelt werden sollten.4 Andere illegale Einwanderer, die sich der Festnahme entziehen können, tauchen in den Untergrund ab. Sie sind dann verpflichtet, die Schulden bei ihren »Schlangenköpfen« (Schmugglersyndikaten) als Schuldsklaven (indentured servants) abzuarbeiten. Die Wellen illegaler chinesischer Einwanderer, die in Vancouver ankommen, stellen für die im Jet reisenden Business-Migranten ein unwillkommenes Gespenst und unerwartetes Statusrisiko dar. Denn durch die verarmten chinesischen Einwanderer wird den wohlhabenden Hongkongern, die geholfen hatten, aus dem ehemaligen Welthandels-Messegelände der Stadt ein Zentrum mit Büro- und Wohnhochhäusern zu machen, ihr Image als neue Unternehmerkaste Kanadas unterminiert; viele der Armen kommen nicht aus denselben Ecken Asiens, und sie stehen insgesamt für jene Rückständigkeit, mit der die Etablierten nichts mehr zu tun haben möchten. Diese Spannung zwischen legalen und illegalen Einwanderern, zwischen erwünschten Wirtschaftsinvestoren und unerwünschten illegalen Arbeitern, intensiviert die Ängste vor einem antichinesischen Backlash. Bei einer öffentlichen Debatte sagte ein chinesisch-kanadischer Aktivist kürzlich: »Das da sind doch Kleinbauern aus der Arbeiterklasse. Und wir haben begüterte Hongkong-Chinesen, Kanada-Chinesen und
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Taiwan-Chinesen, die verächtlich auf sie herabsehen. Sie haben das Gefühl, dass diese Leute ihre Gemeinschaft verwässern« (Brooke 1999). Und ein Rechtsanwalt aus Taiwan kommentierte die Anhebung der die für ein Business-Einwanderungsvisum erforderlichen Kapitalsumme durch die Regierung wie folgt: »Es herrscht ein Gefühl, dass wir die Geschäftsleute rauswerfen und die Boat People reinlassen. Das Einwanderungssystem ist nicht klug. Wir weisen die hochklassigen Leute ab, die Kanada helfen können, und nehmen die illegalen Habenichtse auf« (Brooke 1999). Wenn die Angehörigen der aus Hongkong stammenden Geschäftselite Kurse belegen, um die gesellschaftlichen und ästhetischen Sitten British Columbias bezüglich des Zusammenlebens in Nachbarschaften oder des Multikulturalismus kennen zu lernen und anzunehmen, und wenn sie sich an die Regeln und Bestimmungen der Handels- und Immobilienmärkte halten (Mitchell 1997, Mitchell und Olds 2000), dann müssen sich ihrer Meinung nach auch die illegalen chinesischen Neuankömmlinge an die Regeln halten, nämlich an die Regelungen des zurückgeschnittenen Wohlfahrtsstaates. So beleuchtet dieser Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Komplexen von Regierungsrationalität – hier das neoliberale Einwanderungsregime und dort die liberalen demokratischen Werte der Menschenrechte – schlaglichtartig die neue Instabilität in den kanadischen Ansichten zur Frage, wer als Mitbürger aufgenommen werden solle. Das Beharren darauf, dass nur ethnische Chinesen »von guter Qualität« Kanada als Staatsbürger angemessen repräsentieren könnten, wird allerdings durch deren lange Abwesenheit in den Wintermonaten ein wenig unterlaufen. Die Hongkonger brechen im Herbst wieder nach Asien auf, eine Art Re-Migration, die die Apartmenthochhäuser am Strand von Vancouver in kurzer Zeit entleert. Wenn gleichzeitig in Hunderten von Apartments die Vorhänge an den Fenstern zugezogen sind, bietet sich vom Hafen aus ein totes Bild. Solche Emigranten mit mehreren Wohnsitzen (resident expatriates) symbolisieren inzwischen die neue kosmopolitische Staatsbürgerschaft – eine Form, die durch globalisierende Prozesse Auftrieb erhält, aber trotzdem durch Ethnizität und Lebensstil lokalisiert und vermittelt wird.5 Während Bürgerrecht und Staatsbürgerschaft traditionell immer auf dem Rechtsstatus und auf dem Besitz von Eigentum basierten, spielt heutzutage das Element des hypermobilen Kosmopolitismus eine fast schon ebenso wichtige Rolle. Die aus Hongkong stammenden Wirtschaftseliten verkörpern inzwischen jene Formen der Entsprechung von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital; es ist eine neue Fusion zwischen Ethnizität und Klasse entstanden, die diese Eliten zu »qualitativ hochklassigen« Kanadiern macht. Das Ergebnis scheint eine Art umgekehrter Hongkongisierung zu sein, ein chine-
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sisch-englischer Kosmopolitismus, der eine Wiederbelebung des Hongkong-Images durch transpazifische Unternehmerdynamik darstellt, begleitet durch eine nicht zu stoppende Unterströmung illegaler Einwanderer, die lebhaft an die Kolonialzeit auf beiden Seiten des Pazifiks erinnert. Die Netzwerke von »Astronauten«, Techno-Migranten und Illegalen im Hightech-Grenzgebiet Während British Columbia sozusagen auf die Grundlagen geokolonialer Netzwerke zurückfällt, ist Silicon Valley ein Bereich der Hightech-Globalisierung, der mit geradezu fieberhafter Geschwindigkeit mit neuen Kombinationen von Humanressourcen, Industrien und Städteplanung experimentiert. Solche Hightech-Grenzgebiete sind das Gegenteil der althergebrachten industriellen Insularität (Saxenian 1996). Es sind Orte mit extrem liberalen Bedingungen für das Unternehmertum, für Netzwerkbildung und Flexibilität, und sie bieten somit auch mehr als genug Gelegenheit für neue Regulierungen, die die Vorteile ungleichmäßig verteilen. Ich kann an dieser Stelle nur drei Regulierungskomplexe erwähnen, die das Hereinströmen asiatischer Eliten aus Hongkong, Taiwan, China und Indien nach Silicon Valley begünstigt haben. Die Wege der »Astronautenfamilien«, der Hightech-Experten und der Hightech-Kontraktarbeiter können in den Hightech-Industrien und den sie umgebenden Vorstädten durchaus konvergieren, aber dahinter stehen trotzdem unterschiedliche Einwanderungsregelungen innerhalb der transnationalen Netzwerkökonomien, die Asien und Nordamerika verbinden. Die »Astronautenfamilien« Das Phänomen der »Astronautenfamilie« ist ein spätmoderner Komplex transnationaler Praktiken mit dem Ziel, sich – durch den Erwerb multipler Pässe – die Rationalitäten des politisch-räumlichen Regierungsmodells nutzbar zu machen und sie zugleich zu untergraben. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, haben sich die Emigranten aus Hongkong darin besonders hervorgetan, wobei das Ganze damit begann, dass eine Balance zwischen den Risiken der kommunistischen Herrschaft und den Chancen, in Chinas boomender Wirtschaft Geld zu verdienen, gefunden werden musste. Daraus entwickelte sich dann eine gewisse Normalität des transpazifischen Pendelverkehrs. Aus Hongkonger Perspektive sind die Betreffenden sozusagen Astronauten, die zwischen Arbeitsplatz und Familie an entgegengesetzten Enden des Pazifiks hin und her fliegen. Aus nordamerikanischer Sicht dagegen sind sie ansässige Emigranten, die Investitionen aus den
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Pazifik-Anrainerstaaten mitbringen, gelegentlich aber auch zur Zielscheibe für Ressentiments seitens amerikanischer Minderheiten werden, die sich Sorgen um ihre eigenen Chancen in der sich wandelnden Wirtschaft machen. Manche Kritiker haben meine AstronautenMetapher missverstanden, so als wäre damit gemeint, dass die Betreffenden Agenten einer instrumentalen Rationalität seien. Ich sehe sie jedoch eher als »reflexive« moderne Subjekte in einer Welt, in der die Pluralisierung der Risiken die Menschen zu Kalkulationen veranlasst, die das nicht Vorausgesehene und Unbeabsichtigte einbeziehen; man weitet seine Chancen einfach dadurch aus, dass man mehrere nationale Räume einbezieht.6 So schaffen sich die Hongkong und Kalifornien verbindenden Familien- und Geschäftsnetzwerke einen Raum der Ströme, in dem die Einwanderungsbestimmungen verschiedener Länder mit einer Geschicklichkeit manipuliert werden, die der Dialektik von Risiko und Versicherung einiges verdankt. Zu den unbeabsichtigten Effekten solcher Manöver mit flexiblen Staatsbürgerschaften gehört die Ausbreitung geteilter Loyalitäten – gegenüber der Familie in Kalifornien, der Firma in China, der ethnischen Nationalität (dem lokalisierten Chinesentum) und der neuen Lokalität (dem multikulturellen Kalifornien). Die Zerstreuung der Familie und die Fragmentierung der häuslichen und Arbeitsaktivitäten über viele Orte hat auch ein Gefühl kultureller Heimatlosigkeit hervorgerufen. Frauen aus Hongkong, die mit ihren Kindern in schicken Vorstädten leben, Bildungskapital erwerben und Zeit für eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis gewinnen, sind oft nicht in der Lage, sich mit Amerikanern chinesischer Herkunft zu identifizieren, die aus Generationen stammen, die früher in Kalifornien eingewandert sind. Manche haben sich auch in Kämpfe mit dem amerikanischen Schulsystem gestürzt, um sicherzustellen, dass ihre Kinder jene Mischung kulturellen Kapitals mitbekommen – hohe Lernstandards, musikalische und sportliche Aktivitäten, aber auch Chinesisch-Unterricht (Mandarin) und chinesisches Essen in der Cafeteria –, die ihnen auch in Zukunft eine eigene ethnische Identität sichert und Ausweis ihrer kosmopolitischen Staatsbürgerschaft ist. Andere haben sich darum bemüht, in hochklassigen Restaurants und Ehemaligen-Schulclubs, auf Tennisplätzen und bei Mah-jong-Partys kulturell KleinHongkong entstehen zu lassen. Wirtschaftsmigranten und ihre Familien kehren häufig nach Hongkong zurück, wo das Leben als aufregender und raffinierter empfunden wird und wo es eine realere Qualität hat als das Leben in einer selbstgefälligen, bequemen kalifornischen Vorstadt. Die Managereliten erleben Hongkong und Kalifornien in Echtzeit, aber doch als Orte mit unterschiedlichen temporären Qualitäten und unterschiedlichen Gewichtungen bezüglich kultureller Resonanz und Zugehörigkeit. Das Hin-und-her-Pendeln über den
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Pazifik geschieht niemals allein aus wirtschaftlichen Gründen. Solche Zirkulationen sind sozusagen unverzichtbar geworden, um die Dialektik zwischen Auflösung und Wiedergewinnung der ethnischen Identität zwischen den beiden Polen ihrer Existenz zu aktivieren. Der Imperativ einer flexiblen Familienordnung nagt im Zusammenspiel mit der Rationalität der Marktflexibilität unablässig an der Vorstellung, Staatsbürgerschaft definiere sich durch die Mitgliedschaft in einem Nationalstaat. Stattdessen ermöglichen im »Raum der Ströme« ein unterschiedlicher juristischer Status und der Besitz sozialen und kulturellen Kapitals diesen kosmopolitischen Migranten die Konstruktion einer ethnisierten kosmopolitischen Staatsbürgerschaft, die an einen Raum der Ströme gebunden ist – eine Staatsbürgerschaft, die anderen aus derselben ethnischen Gruppe oder anderen, die am selben Ort leben, keineswegs in immer gleicher Weise verfügbar ist. Ethnisierte Berufsnetzwerke Neben den Wirtschaftsimmigranten aus Hongkong, denen es weitgehend um Wohneigentum und kommerziellen Besitz geht, sind andere ansässige Emigranten aus Asien zu einem signifikanten soziokulturellen Faktor geworden, weil sie für das Wachstum der Computerindustrie, die Nordkaliforniens Wirtschaft weitgehend beherrscht, eine zentrale Rolle spielen. In den 1980er-Jahren, in der Frühzeit der Hightech-Industrie, stellten die Firmen taiwanesische und indische Bürger ein, die sich bereits im Lande aufhielten und die ihre Ausbildung an amerikanischen Universitäten erhalten hatten. Viele in den USA ausgebildete asiatische Ingenieure, Programmierer und Risikokapitalgeber haben zum Wachstum der gesamten Branche wesentlich beigetragen. Doch als der Bedarf an Fachkräften im Zeichen der boomenden Wirtschaft massiv anstieg, setzte die Computerindustrie die amerikanische Bundesregierung unter Druck, die Zulassungsquote für ausländische Fachkräfte auf 65.000 pro Jahr zu erhöhen. Im Rahmen des H-1B-Visaprogramms erhielten die zur Elite gehörenden ausländischen Fachkräfte eine befristete Aufenthaltserlaubnis für sechs Jahre, doch unter den neuen Bedingungen stand es ihnen frei, eine unbefreistete Aufenthaltserlaubnis, die so genannte Greencard, zu beantragen, solange sie für eine amerikanische Firma arbeiteten. Viele der Computermigranten kamen aus europäischen und asiatischen Ländern (wie aus China), doch in den meisten Technologiekonzernen vom Schlage Hewlett-Packards oder Intels besteht ein Drittel der Mitarbeiter in den Ingenieurabteilungen aus Fachkräften, die aus Taiwan oder Indien eingewandert sind (Saxenian 1999). Taiwanesische Ingenieure, Programmierer und Kapitalgeber sind inzwischen aus Silicon-Valley-Gemeinden wie Sunnyvale nicht mehr wegzuden-
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ken – Gemeinden, die sich rühmen, ein von der Regierung in Taipeh gefördertes taiwanesisches Kulturzentrum zu unterhalten. Indische Ingenieure und Programmierer haben sich gleichfalls überall in gehobenen und exklusiven Vorstädten der oberen Mittelschicht wie Fremont niedergelassen, in denen es Hindu-Tempel, indische Läden und indische Unterhaltungszentren gibt. In den 1990er-Jahren haben Unternehmer ausländischer Herkunft zu Dutzenden Technologiefirmen als Aktiengesellschaften gegründet, und mehr als 300 Privatfirmen wurden von taiwanesischen Einwanderern gegründet. Die Firmen der ethnischen Chinesen konzentrieren sich vorwiegend auf Herstellung von und Handel mit Computern und elektronischer Hardware, während sich die von indischen Immigranten betrieben Firmen auf Software und BusinessProdukte spezialisiert haben (Saxenian 1999). Viele Firmen im Besitz von Taiwanesen nutzen ethnische und berufsspezifische Netzwerke, um mit Firmen im Hsinchu Industrial Park in Taiwan Partnerschaften einzugehen. Auf diese Weise schaffen und fördern sie einen Prozess wechselseitiger industrieller Aufwertung über den Pazifik hinweg. Überdies sind Tausende taiwanesischer Auswanderer nach Taiwan zurückgekehrt, halten jedoch weiterhin täglichen Kontakt mit ihren Partnern im Silicon Valley, und manche besuchen die USA fast jeden Monat. Diese Einwanderer nach Nordamerika sind also Heimkehrer in ihr Heimatland, und doch bleibt Kalifornien durch ihre engen Familien- und Geschäftskontakte dorthin für sie eine Art Zweitheimat. Bei indischen Hightech-Fachkräften ist dagegen die Wahrscheinlichkeit wesentlich geringer, dass sie sich wie die taiwanesischen Unternehmer in den »Astronautenkreislauf« einkoppeln. So hat also das Wachstum der Computer- und Softwareindustrie das massenhafte Einströmen asiatischer Fachkräfte und Unternehmer gefördert, die durch ihre Anwesenheit, ihre Netzwerke und kulturellen Interessen einer neuen Art von Firmenstaatsbürgerschaft (corporate citizenship) praktisch einen ethnischen Stempel aufgedrückt haben. Doch alle ansässigen Ausländer, ganz gleich ob sie ethnische Chinesen oder Südasiaten sind, haben die Möglichkeit, durch lokale Investitionen oder als Angestellte einer amerikanischen Firma Anrechte auf Einbürgerung zu erwerben, und sie können es sich überdies trotz astronomisch hoher Immobilienpreise leisten, ein eigenes Haus zu kaufen. Ihre Firmen sind ihnen beim Einleben behilflich und sorgen dafür, dass ihre Kinder in teuren Vororten in die guten Schulen kommen. Ein optimistischer Bericht im Auftrag einer Gruppe, die sich für die Einwanderung einsetzt, kommt zu dem Schluss, dass neue Immigranten, vor allem aus Asien, Lateinamerika und der Karibik, sich den amerikanischen Lebensstil schnell zu Eigen machen. Zugrunde gelegt wurden vier Faktoren: Beherrschung des Englischen, Hausbesitz,
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Einbürgerung und Heiraten über ethnische Grenzen hinweg, besonders in Kalifornien.7 Menschenhandel für Silicon Valley Inzwischen gibt es neue Ströme von fachlich qualifizierten Vertragsarbeitern, die allerdings bei ihren Arbeitsbedingungen und beim Erwerb der Staatsbürgerschaftsrechte nicht denselben Schutz genießen wie diese privilegierten Klassen aus der Firmenwelt. Personalagenturen, so genannte »Body shops«, sind aus dem Boden geschossen, um zwischen Firmen im Silicon Valley einerseits und Bangalore und anderen indischen Orten mit Software-Experten andererseits Beschäftigungsketten zu schaffen. Gegen Ende der 1990er-Jahre ging mehr als die Hälfte der H-1B-Arbeitsvisa für ausländische Beschäftigte in der Hightech-Branche an Fachkräfte aus Indien.8 Von ortsansässigen indischen Emigranten geführte »Body shops« sind zu einer Schlüsselinstanz für die Versorgung der Hightech-Branche mit ausländischen »Gastarbeitern« geworden, die billiger sind als gleich qualifizierte amerikanische Angestellte. Auch taiwanesische und festlandchinesische Unternehmer haben auf eher informelle Art und Weise Facharbeiter aus China für die Computerproduktion angeheuert, und man rechnet damit, dass deren Anzahl eher noch zunehmen wird. Mit anderen Worten, das Einwanderungsregime der »Body shops« reguliert ein sekundäres Facharbeiter-Rekrutierungssystem, bei dem die Angeworbenen nicht die gleichen Anrechte auf Einbürgerung erwerben wie die bereits ansässigen Einwanderer. * * * Nikolas Rose (1999) benutzt den Begriff »Kapitalisierung der Staatsbürgerschaftsrechte« zur Beschreibung der Art und Weise, wie neoliberale Kriterien inzwischen unsere Normen für Staatsbürgerschaft und Bürgerrechte beherrschen. Das amerikanische Instrumentarium der Visa-Erteilung hat direkt oder indirekt den Status der ansässigen Einwanderer, seien sie nun Geschäftsleute oder IT-Fachpersonal, geregelt, aber auch den der legalen wie illegalen ungelernten Arbeiter. Da sind zum einen die ethnischen Chinesen aus dem »Astronautenzirkel«, die sich auf multiple Pässe stützen, um ihr Familienleben und ihre wirtschaftlichen Belange zu managen – Aktivitäten, die sich zu beiden Seiten des Pazifiks abspielen. Ihre Netzwerke erleichtern die Kapital- und Warenströme. Die aus Taiwan eingewanderten Unternehmer in Silicon Valley stehen für eine andere Art von »Astronauten«: Sie knüpfen transnationale technologische, industrielle und geschäftliche Netzwerke zwischen Kalifornien und Taiwan. Die High-
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tech-Branche profitiert aber auch von Gastarbeitern mit befristeter Aufenthaltserlaubnis, deren Status auf einem sekundären Arbeitsmarkt für Fachkräfte jedoch prekär ist; diese Menschen können ausgebeutet werden und sind nicht durch Einbürgerungsansprüche geschützt. Der Zustrom legaler und illegaler ungelernter Migranten aus Asien (und Lateinamerika) hält unvermindert an. Zwar werden solche weniger qualifizierten Arbeitskräfte in der Computerbranche nicht direkt gesucht, aber für das Wirtschaftswachstum insgesamt sind sie eine kritische Größe. Dabei gelten für die unterschiedlichen Migrantengruppen – transnationale Unternehmer, ansässige Emigranten, befristet angestelltes Fachpersonal, ungelernte Arbeiter, Asylsuchende und illegale Einwanderer ohne Papiere – unterschiedliche Formen von Einbürgerungsansprüchen und Bürgerrechten. Ich wende mich jetzt den Auswirkungen der flexiblen Rationalitäten von Arbeitsverhältnissen, Gemeinschaften, Kommunen und Politik auf die Bildung von Gruppen von Bürgern/Subjekten zu, die über unterschiedliches Kapital verfügen. Hat differenzierter Zugang zu politischen, informationellen und kulturellen Ressourcen auch Rückwirkungen auf die Möglichkeiten einer weiteren Entwicklung des amerikanischen Neoliberalismus?
Die räumliche Dimension der Macht: Strategische Netzwerke von Rationalitäten Manuel Castells erörtert kurz die Interaktionen der Räume, des »Raums der Ströme« mit dem »Raum der Orte«, wobei er sich auf die unterschiedlichen Arten konzentriert, wie die urbane Landschaft physische Elemente bei der Gestaltung sozialer Interaktionen kanalisiert und integriert (1996: 424). Er anerkennt, dass »die Menschen immer noch an Orten leben«, aber »weil Funktion und Macht in unseren Gesellschaften im Raum der Ströme organisiert sind, verändert die strukturelle Dominanz dieser Logik Bedeutung und Dynamik der Orte essentiell« (1996: 428). Castells legt sein analytisches Gewicht jedoch auf die Räumlichkeit der städtischen Architektur, während er die räumliche Dimension jener Rationalitäten ignoriert, die die Lebensbedingungen und die Bedingungen des sozialen Umgangs prägen. Wenn wir jedoch erfassen wollen, was reflexive Modernisierung für die Entstehung neuer sozialer Formen bedeutet, dann müssen wir danach fragen, wie die Rationalitäten, die hinter der Bio-Macht der einwandernden Arbeitskräfte, hinter den Sozialnormen für die Beschäftigung und hinter der Verwaltung der jeweiligen Bedürfnisse stehen, den Boden für die Schaffung von unterschiedlichen Formen staatsbürgerlicher Ansprüche und für den Kampf um diese Privilegien bereiten.
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Die neuen Landschaften des globalisierten Amerika sind in Kalifornien deutlich zu sehen, einem Staat, der durch politische Fragmentierung und regionale Autonomie charakterisiert ist sowie durch eine internationale Melange von Migranten, reichen wie armen, hochqualifizierten wie ungelernten – eine potente Mischung, deren Sprengkraft durch schnelles technologisch-industrielles Wachstum noch verschärft wird. Wenn man dieses Kaleidoskop ein wenig durchschüttelt, dann werden die flexiblen Muster jener Mächte sichtbar, die die Arbeitsmärkte, Wohngemeinden und letztlich auch die Vorstellung und Praxis des bürgerlichen Miteinanders gestalten. Im Folgenden werde ich drei Rationalitätskomplexe in jenem strategischen Apparat erörtern, der die Macht an einer Reihe von Orten räumlich lokalisiert: erstens die wechselseitige Durchdringung von Klassen-, Nationalitäts- und Rassenkriterien bei der Um- und Neuschichtung qualifizierter Arbeitskräfte; zweitens die Ausbreitung der Kontrolle von Subunternehmern über den Arbeitsmarkt und die Ausbreitung ethnischer Enklaven; und drittens die neue, suburban orientierte Gouvernementalität, die sich an der Berechtigungen zu bestimmten Lebensstilen ausrichtet. Der neue Technomigranten-Markt Scott Lash hat argumentiert, dass bei der reflexiven Modernisierung ein immer größerer Anteil der Arbeitskräfte in avancierten Dienstleistungsbereichen tätig sein wird und »mit den Informations- und Kommunikationsstrukturen in dreifacher Weise verbunden« ist: als Benutzer, Verbraucher und Produzenten von informatisierten Gütern und Dienstleistungen (Lash 1994: 128-129; 1996: 224). »Die erweiterte Mittelschicht arbeitet […] innerhalb der Informations- und Kommunikationsstrukturen. Und sie tut dies als ›Experten‹ innerhalb der Expertensysteme, die selbst ›Knotenpunkte‹ akkumulierter Information und akkumulierter Informationsverarbeitungsfähigkeiten sind« (1994: 129; 1996: 224). Ich stimme mit Lash allerdings in folgendem Punkt nicht überein, dass nämlich die Mittelschicht in solchen Informationsindustrien »eher zu einer ›bedienten‹ als zu einer Dienstleistungsschicht wird, insofern ihre zum größten Teil informationsverarbeitende Arbeit nicht mehr den Notwendigkeiten der industriellen Akkumulation unterliegt« (1994: 129; 1996: 225). Tatsächlich läuft die Hightech-Nachfrage nach Talenten aus Übersee nämlich genau darauf hinaus, dass eine billigere Expertenklasse herangezogen werden soll, welche die für die Informationsverarbeitung erforderlichen Dienstleistungen anbieten kann. Diese Nachfrage ist so groß, dass sie keine Einwanderungsbarrieren toleriert. Im Zeichen des sprunghaften Wachstums im Silicon Valley üben
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die Hightech-Firmen Jahr für Jahr Druck auf die US-Regierung aus, die Einwanderungsquoten für qualifiziertes Fachpersonal, speziell für Migranten aus Asien, zu erhöhen. Die Firmen behaupten, die amerikanischen Universitäten würden nicht in ausreichender Zahl qualifizierte Ingenieure ausbilden, um mit dem Bedarf Schritt halten zu können, der im Zeichen des rapiden Wachstums der Technologiebranche herrsche. Ein asiatisch-amerikanischer Hersteller von Computerchips behauptete sogar, dass Firmen wie die seine zum Scheitern verurteilt seien, wenn nicht in ausreichender Zahl Einreisevisa für Hightech-Gastarbeiter bereitgestellt würden: »Wir haben Leute aus Kanada, Frankreich und Jugoslawien eingestellt. Wir haben Ingenieure aus Taiwan und Vietnam. Es ist schon so etwas wie die Vereinten Nationen im Kleinen.«9 Solche Anforderungen der Computerindustrie führen zur Herausbildung einer eigenen Art von Marktrationalität, wobei der Status der Technologie-Facharbeiterelite durch Nationalität und Ethnizität vermittelt ist. Letztlich führen die Entwicklungen zu einer Umschichtung der Facharbeiterschaft in Kalifornien und darüber hinaus. Der Menschenhandel hat eine leichter ausbeutbare Kategorie ausländischen Fachpersonals ins Spiel gebracht und diesen Facharbeitern die Möglichkeit einer Art illegaler Einwanderung geschaffen. Die »Body shops« betätigen sich als Personalrekrutierungsagenturen für eine sekundäre Facharbeiterschaft und verlassen sich darauf, dass die Anwerber in Indien genügend Techniker finden. Manche »Body shops« stehen unter dem Verdacht, diese ausländischen Arbeiter auszubeuten, und zwar vom Augenblick der Rekrutierung an bis zum möglichen Ende: einer Ausweisung aus den USA. Zu den Rekrutierungspraktiken gehören vielleicht auch Schmiergeldzahlungen der potenziellen Vertragsarbeiter in Indien, überdies möglicherweise der Kauf falscher Papiere und Qualifikationszeugnisse durch die Bewerber. Nach der Ankunft in den USA sind viele Vertragsarbeiter dann anfällig für Ausbeutung durch »Body shops« und IT-Konzerne. Die »Body shops« behalten die Visa ihrer Arbeiter ein und besorgen ihnen Arbeit, behalten dafür aber auch einen Teil der Löhne und Gehälter ein (zwischen 25 und 50 Prozent). Indem sie die Visa der Arbeiter einbehalten und versprechen, man werde ihnen schließlich auch noch Greencards besorgen, halten die »Body shops« ihre Arbeiter bei der Stange, denn ein Wechsel des Arbeitgebers, eine Beschwerde über illegale Praktiken oder eine gewerkschaftliche Betätigung sind unter diesen Umständen für die Migranten riskant; sie würden dadurch ihre Aussichten auf eine Greencard gefährden.10 Gebunden durch die Angst, ihren Arbeitsplatz und überdies ihren Immigrantenstatus zu verlieren, sind die Arbeiter der »Body shops« letztlich wenig mehr als mit etwas Glamour
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umgebene Schuldsklaven (indentured servants). Wie ein indischer Ingenieur berichtete, drohte eine Agentur damit, »einige [Arbeiter] nach Indien zurückzuschicken, wenn sie keine Arbeitsverträge [mit Hightech-Firmen] bekämen. Diese Arbeiter brachen in Tränen aus. Sie waren nur noch Nervenbündel, die sich schämten, von ihren Familien in der Heimat Geld oder Hilfe zu erbitten« (Bacon und Goff 2000). Die Aussicht auf Einbürgerung wird demnach als Waffe benutzt, um dieser Arbeiterelite konkrete Bürgerrechte zu verweigern. Trotz der Berichte über einen Missbrauch des Systems halten Silicon-Valley-Manager weiterhin daran fest, dass großer Bedarf an ausländischen Experten bestehe. Nach Meinung von Gewerkschaftsexperten geht es jedoch in Wirklichkeit nicht um einen Mangel an qualifizierten Amerikanern, einschließlich solcher mit afrikanischamerikanischen oder Latino-Vorfahren, sondern darum, dass die Firmen Probleme haben, zu den angebotenen Gehältern Ingenieure und Programmierer zu finden. Dadurch, dass Tausende von Computerprogrammierern aus Übersee angeheuert werden, ändert sich die Klassenidentität des Computerfachpersonals – zum einen durch starke Infusionen südindischer Ethnizität und zum anderen durch das Eindringen der Unsicherheit aufgrund befristeter Arbeitserlaubnisse. Anders als die ansässigen Immigranten, die oft dieselbe Nationalität und ethnische Zugehörigkeit haben und denen der Zugang zu juristischer und kultureller Macht offen steht, genießen Experten mit zeitlich befristeter Aufenthaltserlaubnis solchen Schutz nicht. Zugleich werden qualifizierte einheimische Amerikaner mit Minoritätenstatus durch die Anwesenheit dieser befristet beschäftigten ausländischen Fachkräfte in der IT-Industrie marginalisiert. Die Firmen im Silicon Valley sind auf Latinos und Afroamerikaner als Arbeitskräfte angewiesen, doch auf der Ebene der Facharbeiter und Experten wird diesen Bevölkerungsgruppen die Integration verwehrt. Offenkundig gehört es nicht zu den Imperativen des Neoliberalismus, einheimische amerikanische Minoritäten auszubilden oder in sie zu investieren. Man zieht ein Regime mit fluktuierenden ausländischen, weitgehend entrechteten Fachkräften vor, um die Risiken der Computerindustrie, die großen Schwankungen unterworfen ist, für Manager wieder beherrschbar zu machen. Wo liegen die substanziellen Forderungen der Vertragsarbeiter, wenn befristete Aufenthaltsgenehmigungen als staatlicher Mechanismus zur Regulierung der Einwanderung von Arbeitskräften benutzt werden? Manche amerikanischen Gewerkschaftler würden die Praxis der Personalrekrutierung im Ausland am liebsten ganz beenden und dafür die IT-Industrie lieber in die Ausbildung von Amerikanern, speziell von Minderheiten, investieren lassen. Andere argumentieren, ein erster Schritt zur Kontrolle der Ausbeutung von Wanderarbeitern
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bestehe darin, ihnen den Wechsel des Arbeitgebers zu gestatten. Derzeit gefährdet ein Vertragsarbeiter, der seinen Arbeitgeber wechselt oder seinen Arbeitsplatz verliert, seine Chancen auf Zuerkennung des offiziellen Immigrantenstatus mit unbefristetem Bleiberecht. Entfiele diese Koppelung, dann könnten die Vertragsarbeiter für ihre Rechte kämpfen, ohne Gefahr zu laufen, ihr Anrecht auf Einbürgerung zu verlieren.11 Doch das Hightech-Fachpersonal unter den Vertragsarbeitern steht letztlich noch am oberen Ende einer ethnisierten Hierarchie, die durch Regulierungen und den Umgang mit einer Vielzahl unterschiedlicher Migrantengruppen in Kalifornien noch stärker verfestigt wurde. Die ethnische Enklave: Arbeitsvermittlung durch Subunternehmer und soziale Kontrolle Die Märchen über Technoindustrielle und eingewanderte Superhelden in Silicon Valley be- und verstärken nur das traurige Los der armen oder illegalen ungelernten Arbeiter, die in einer großen Vielfalt schlecht bezahlter Jobs beschäftigt sind – als Arbeiter in Elektronikfabriken oder in der Bekleidungsindustrie, als Reinigungskräfte im Büro, als Zimmermädchen oder Türsteher in Hotels, als Arbeiter in Restaurants oder Supermärkten, als Landarbeiter oder als Dienstmädchen im Haushalt. All diese Jobs sind für die Aufrechterhaltung der »kalifornischen Lebensqualität« von Bedeutung. Nach Scott Lash verdammt der Ausschluss der innerstädtischen afrikanisch-amerikanischen Bevölkerung von den Informations- und Kommunikationsstrukturen die Ghettojugend zum sozialen Abstieg aus der Arbeiterklasse (1994: 132-133; 1996: 229-231). Für gering qualifizierte Migranten in der umstrukturierten flexiblen Wirtschaft verschärft sich diese Isolation sogar noch mehr, weil sie nicht einmal Zugang zu den Institutionen der Zivilgesellschaft haben. Zum Beispiel wissen nur wenige afrikanisch-amerikanische Arbeiter, dass es bei Internetfirmen auch gute Jobs gibt, für die kein Collegeabschluss erforderlich ist. Das hat oft mit einer tief greifenden Abhängigkeit von ethnischen Netzwerken bei der Arbeitsplatzvergabe zu tun, auch mit einer straffen sozialen Kontrolle, die von ethnischen Vermittlern in Machtpositionen ausgeübt wird, um sich ungelernte Neuankömmlinge als billige und hochgradig für Ausbeutung anfällige Arbeitskräfte zu sichern. Als Mittel zur Kostensenkung engagieren amerikanische Großfirmen kleinere US-Firmen – Montagewerke für elektronische Geräte, Nähereien in der Bekleidungsindustrie, kleine Lebensmittelfabriken – als Subunternehmer; dort kann flexibler gearbeitet werden, weil Arbeitskräfte beschäftigt werden, die keiner Regulierung unterliegen. Indem Elektronikfirmen in asiatischem Besitz auf ethnische Netzwerke zurück-
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greifen, nutzen sie die Ignoranz, Isolation und Armut ungelernter Einwanderer aus. In Südkalifornien wurde aufgedeckt, dass kleine ethnisch-chinesische Textilfabriken illegale Immigranten (Asiaten genauso wie Latinos) für einen Stundenlohn von 3 Dollar einstellen (obwohl der gesetzliche Mindestlohn in Kalifornien bei 5,75 Dollar liegt) und sie zu Zehnstundentagen ohne Überstundenbezahlung zwingen. Hergestellt wird dort jedoch teure Designer-Kleidung. In einem besonders schlimmen, 1995 aufgedeckten Fall zwang eine Textilfabrik in El Monte Einwanderer aus Thai- und Latino-Kreisen dazu, für einen Stundenlohn von 70 Cents zu arbeiten. Nach Schätzungen des Arbeitsministeriums werden mindestens 60 Prozent der schätzungsweise 150.000 Textilarbeiter in der Bekleidungsindustrie im Großraum Los Angeles routinemäßig unterbezahlt. Doch die Sprachbarrieren zwischen den Arbeitern standen und stehen einer gewerkschaftlichen Organisation im Wege.12 Ähnliche Verstöße gegen das Arbeitsrecht wie in den Nähereien hat es auch in Silicon Valley gegeben. Eine Elektronikfabrik in asiatisch-amerikanischem Besitz und ihr Subunternehmer wurden angeklagt, südostasiatische Immigranten unterbezahlt zu haben, die in den Fabriken arbeiteten und zusätzlich noch in Heimarbeit tätig waren. Die hohe Nachfrage nach Computer-Bauteilen hat viele Computerfirmen dazu gebracht, Heimarbeit an arme südostasiatische Immigranten zu vergeben (euphemistisch »Outsourcing« genannt), wobei diese Frauen nach Stückpreisen bezahlt werden. Diese Praxis verstößt in doppelter Hinsicht gegen die kalifornischen Gesetze: Die Gesamteinkünfte der Heimarbeiterinnen entsprachen nicht dem gesetzlichen Mindestlohn, und die Montage elektronischer Bauteile in industrieller Heimarbeit ist in Kalifornien nicht erlaubt.13 Insgesamt werden schätzungsweise 45.000 der 120.000 im Silicon Valley ansässigen vietnamesisch-amerikanischen Bewohner als Zeitarbeiter bei der Montage von Platinen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen beschäftigt. In Extremfällen können ethnische Beschäftigungsnetzwerke und ethnische Enklaven auf Angehörige derselben Ethnie, die ohne ausreichende Englischkenntnisse auf Jobs in vertrauter Umgebung unbedingt angewiesen sind, überwältigenden Druck ausüben. Peter Kwong hat solche Enklaven in New Yorks Chinatown beschrieben, wo illegale Einwanderer aus Fujian ausgebeutet werden, die, mit hohen Schulden bei »Schlangenköpfen« belastet (Schmugglersyndikaten, die sie ins Land gebracht haben), jahrelang in endlosen Arbeitstagen schlecht bezahlte Knochenarbeit verrichten müssen, um ihre Schulden zurückzuzahlen. Kwong bemerkt weiterhin: »Die ethnische Enklave ist jedoch eine Falle. Denn die Immigranten sind nicht nur dazu verdammt, ewig in vertragslosen Arbeitsverhältnissen für Subunterneh-
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mer zu arbeiten, sondern die soziale und politische Kontrolle über diese Enklaven obliegt ebenfalls der ethnischen Elite. In ihrer Funktion als Subunternehmer können sie ihre eigenen Maßstäbe bei Rechten und Arbeitsbedingungen der ganzen Gemeinschaft aufzwingen, ohne jemals von den US-amerikanischen Behörden kontrolliert zu werden« (Kwong 1997: 10-11). Mit anderen Worten, das Modell der ethnischen Enklave hat es den neu zu Wohlstand gelangten Immigranten ermöglicht, für illegale Angehörige derselben Volksgruppe praktisch Sklavenhalterbedingungen zu schaffen. Dadurch werden solche Enklaven, anders als vergleichbare Enklaven früherer Einwanderergenerationen, nicht gerade zum Sprungbrett auf dem Weg nach oben. Viele unqualifizierte ethnische Immigranten können, weil durch Sprachbarrieren behindert, leicht von Bossen aus derselben Volksgruppe ausgebeutet werden. Und weil sie Angst vor Abschiebung haben, fällt es ihnen schwer, in weitere Arbeitsmärkte für ungelernte sekundäre Arbeitskräfte auszubrechen. Diese Arbeiter haben keinerlei Vorteile von ihrer Arbeit und könnten genauso gut auch in China oder Brasilien arbeiten. Die massivsten Varianten der Ausbeutung in ethnischen Enklaven in Kalifornien finden sich in Restaurants und Supermärkten, zwei Branchen, die stark expandiert haben, um wohlhabenden asiatischen Einwanderern zu Diensten zu sein. Ketten von riesigen Supermärkten setzen Verwandtschaftsbeziehungen, Sprache und kulturelle Autorität ein, um die Arbeitskraft asiatischer Immigranten zu kontrollieren und auszubeuten. Die Bemühungen der United Food and Commercial Workers Union, die unterbezahlten Arbeiter in ethnisierten Supermarktketten gewerkschaftlich zu organisieren, sind erfolglos geblieben, weil deren Besitzer vor allem Verwandte und Freunde beschäftigen und Verwandtschaftsbeziehungen gezielt als Mittel einsetzen, um die Arbeiter loyal bei der Stange zu halten. Ein Kantonesisch sprechender Gewerkschaftler sagte: »In der chinesischen Kultur haben Arbeitgeber dieselbe Art von Autorität wie Lehrer und Eltern. Wenn das so ist, bekommt man die Arbeiter nicht dazu, sie herauszufordern. Und ich glaube, dass teilweise auch Konfrontation und Konflikte keine hohe Wertschätzung genießen. Ich habe mit einem anderen Arbeiter gesprochen, und der hat mir gesagt: ›Wir sind hier in einem neuen Land. Da wollen wir keine Probleme machen.‹«14 Doch die Verflechtung persönlicher Beziehungen und die formelhafte Beschwörung der Tradition verschleiern in Wahrheit nur den Mangel an Aufrichtigkeit und die Verschiedenartigkeit der einzelnen asiatischen Immigranten, die nicht alle an dieselben kollektiven Erinnerungen gebunden sind. Stattdessen werden die Zwänge normativer Erwartungen (Giddens 1994) mit der Marktrationalität verwoben, um ungelernte Einwanderer als Schuldsklaven zu disziplinieren. Wie Ni-
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kolas Rose gezeigt hat, müssen im »fortgeschrittenen« Liberalismus »Individuen durch ihre Freiheit regiert werden, weder als die isolierten Atome aus der klassischen politischen Ökonomie, noch als Bürger einer Gesellschaft, sondern als Mitlieder heterogener Ergebenheitsgemeinschaften, denn ›Gemeinschaft‹ entsteht als eine neue Art, sich die Beziehungen zwischen Personen gedanklich vorzustellen und sie entsprechend einzurichten« (Rose 1996: 41). Der Arbeitsmarkt im Silicon Valley hat die Gestalt einer Sanduhr; er zieht Arbeiter von beiden Enden des Immigrantenspektrums an, die unterschiedlichen Regulierungssystemen unterworfen sind. Ausländische Forscher und IT-Fachkräfte mit zeitlich befristeten Aufenthaltserlaubnissen bilden die eine Gemeinschaft, aber sie haben gewerkschaftliche Expertise und Unterstützung im Rücken, derer sie sich beim Kampf um ihre Rechte als Arbeitnehmer und potenzielle Mitbürger bedienen können. Die niederen ungelernten Arbeitskräfte sind in ethnische Enklaven integriert, die praktisch selbstregierte Gemeinschaften bilden, in denen gesetzliche Regulierungen weitgehend unwirksam sind. Derart unterschiedliche Gemeinschaften von Wanderarbeitern haben die Arbeitsmärkte renaturalisiert und neu segmentiert und dabei dem jeweiligen Beschäftigtenstatus eine stark ethnische Prägung verliehen. Auch sind dabei Gemeinschaften mit unterschiedlichen Ansprüchen und Anwartschaften entstanden. Welche Art von Ansprüchen erheben nun, im Zeichen dieses politischen Fragmentierungsprozesses, die wohlhabenden Immigranten in ihrer neuen Heimat? Ansprüche auf einen bestimmten Lebensstil und Regierung auf suburbaner Ebene Vielleicht sind es die Neulinge aus der Geschäftselite und aus dem hochkarätigen Fachpersonal, die als Immigranten am ehesten in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, die eine hohe Lebensqualität im Visier haben und zugleich ihrer ewigen Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Dabei überrascht es nicht, dass geschäftliche Kalküle die Art und Weise prägen, wie diese Leute Debatten über das bürgerliche Leben führen. Wohin auch immer sie ihre Familien verpflanzen – ob nach Australien, Neuseeland, Kanada oder in die Vereinigten Staaten –, überall sind die Unternehmer-»Astronauten« auf das Gleiche versessen: auf »gute Bildungsmöglichkeiten, gute Umwelt und politische Stabilität«. Insofern sie als Migranten »durch bewusste Entscheidungen ihre Lebensqualität sowie die Bedeutung und den Wert ihres Lebens, soweit es sich als Summe und Ergebnis getroffener oder noch zu treffender Entscheidungen erklären lässt, maximieren« (Rose 1996: 57), sind sie die idealen Konsumenten und Subjekte des avan-
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cierten Liberalismus. Während familiäre und ökonomische Erwägungen ihren Auswanderungsentschluss untermauerten, der für sie letztlich eine Absicherungsstrategie zur Reduktion weitreichender Unsicherheiten und Sicherheitsbedenken war, reduziert ihr konsumorientierter Ansatz die Staatsbürgerschaft allein auf Fragen des »Lebensstils«, so als würde es sich bei der Wahl des Wohnortes nur um eine bewusste Konsumentscheidung handeln. Im Silicon Valley geht es diesen Emigranten aus der Unternehmerklasse in erster Linie darum, sich schöne Häuser kaufen und ihre Kinder in gute Schulen schicken zu können, während das hochbezahlte Hightech-Fachpersonal anscheinend bei Fragen des Lebensstils andere Prioritäten setzt; dieser Gruppe sind Steuerfragen und eine gesunde, schöne Umgebung wichtiger. Als Geschäftsleute sind viele asiatische Immigranten ideologisch konservativ; sie unterstützten bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2000 den republikanischen Kandidaten George W. Bush, weil er Steuersenkungen versprach; zugleich machten sie sich aber wegen seines mangelnden Interesses am höheren Bildungswesen Sorgen. Eine chinesisch-amerikanische Mutter, Vorsitzende einer Schulpflegschaft in einer wohlhabenden Vorstadt, sagte: »Es wäre schön, wenn wir die Steuern senken könnten, aber ich halte das nicht für machbar angesichts des Zustandes unserer Straßen und Schulen. Ich glaube, dass die Wähler bereit sind, für ein qualitativ gutes Bildungssystem und für gute Straßen ein wenig mehr zu bezahlen.« Asiatisch-amerikanische Führer traten mit einer Initiative zur Überzeugung asiatisch-amerikanischer Wähler auf, die verkündete, es sei besser, den »Datenautobahn«-Präsidentschaftskandidaten Al Gore zu unterstützen.15 Gleichwohl gab es auch substanzielle Unterstützung für den republikanischen Politikansatz, die Regierung solle die Hände von der Privatwirtschaft lassen, sowie für den Plan der Republikaner, bei Sammelklagen gegen die Industrie die Schadenersatzforderungen zu begrenzen. Doch unabhängig von den Parteipräferenzen herrschte eine weit verbreitete Einstellung, dass es vor Ort besonders auf Fragen und Probleme der ansässigen Bürger ankomme. Ein asiatisch-amerikanischer Stadtrat aus Cupertino, einem wichtigen Zentrum der Hightech-Firmen, sagte: »Die Kandidaten die unsere Sorgen aufmerksam zur Kenntnis nehmen, sind die, die unsere Stimmen verdienen.«16 Mit anderen Worten, die wild entschlossene Unternehmerschaft von Silicon Valley bringt ihre Besorgnis über Bedrohungen zum Ausdruck – Bedrohungen der Wirtschaft, des Privateigentums und der Person. Als lokalisierte Souveränitätsform haben sich Hausbesitzervereinigungen gebildet, in deren Umfeld diese Spezialinteressen (single issues) bezüglich der Sicherheit der eigenen Person, der eigenen Familie und des persönlichen Besitzes in einer Zeit um sich greifender Unsicherheit zum alles entscheidenden Thema geworden sind.17
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Doch die Flexibilität der reichen Einwanderer bei der Gewinnung des Zugangs zum guten Leben und bei der Abwehr von Ungewissheit hat ihren Preis: Sie wurde erkauft mit Verarmung und gesteigerter Unsicherheit bei anderen. So haben – im Unterschied zu den wohlhabenden Neubürgern und Hightech-Eliten im Silicon Valley mit ihren bewachten Wohnvierteln (gated communities) und ihren privatisierten Werten – ganz normale Arbeiter und kleine Angestellte, von denen viele ebenfalls Neueinwanderer sind, mit einer Situation zu kämpfen, in der die öffentliche Unterstützung reduziert wird und die Ungewissheit zunimmt. In San José im Herzen von Silicon Valley herrscht akuter Wohnungsmangel. Millionen wurden für städtische Renovierungen und Bauprojekte ausgegeben, um Fachpersonal aus der Mittelschicht sowie Hightech-Firmen in die Stadt zu locken, während die immer schlechtere Lage der Arbeiterschaft und der kleinen Leute übersehen wurde.18 Tausende ganz normaler Arbeitskräfte müssen täglich weite Wege zum Arbeitsplatz in Kauf nehmen, weil sie sich keine Häuser und Wohnungen im Silicon Valley leisten können. In den Städten erzählt man sich, dass selbst Leute mit einem Jahresverdienst von 45.000 Dollar in ihren Autos übernachten müssen. Eine zunehmende Zahl von Arbeitern ist obdachlos. Manche verbringen die Nacht in Bussen oder Obdachlosenquartieren. Die immer größer werdende Kluft zwischen reichen jungen Profis aus der IT-Branche (Einwanderern wie Alteingesessenen) und normalen Arbeiterfamilien hat sich in ganz Nordkalifornien ausgebreitet. So werden durch astronomisch steigende Immobilien- und Mietpreise auch die Familien aus den alten Immigrantenvierteln von San Francisco vertrieben; die Stadt ist zu einer »Kombination aus Schlafraum, Büro und Vergnügungshölle für Silicon Valley« geworden.19 Die diversen örtlichen Räume, die sich als Reaktion auf die Globalisierung der Firmen und die intensivierte Einwanderung entwickelt haben, bilden das Terrain für konkurrierende bürgerliche Rechte und Anrechte. Hier versuchen Migranten mit Kapital und Talent, ihre persönliche Sicherheit und die ihrer Firmen zu maximieren, während sie gleichzeitig den sozialen Schutz für jene unterbezahlten Wanderarbeiter mit befristeten Verträgen reduzieren, von denen ihre Branche gleichwohl abhängig ist. Wir erleben das Aufkommen einer »auf dem Wohnsitz basierenden Zweit-Staatsbürgerschaft«, die inmitten demographischer, sozialer und ökonomischer Umbrüche, ja sogar im Zeichen der Entrechtung kleiner Leute und armer Einwanderer, Inseln der Sicherheit schafft.20
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Die Zersplitterung des Kosmopolitismus Im vorliegenden Beitrag habe ich mich dem Thema »Globales Amerika« dadurch genähert, dass ich mir die im »Raum der Ströme« herrschenden Einwanderungsregime genauer angesehen und überdies untersucht habe, wie die den »Raum der Orte« bestimmenden unterschiedlichen Rationalitäten zur Aufsplitterung des Kosmopolitismus geführt haben. Eine ganze Palette privilegierter Migranten – Investoren, Manager und Hightech-Experten – hat einen Spalteffekt in unsere Vorstellungen von Kosmopolitismus eingeführt. Diese mobilen Hightech-Gestalten sind in vielerlei Hinsicht kosmopolitisch: Sie besitzen das begehrte Humankapital, das unabhängig von den Grenzen zwischen reichen und armen Ländern überall gefragt ist, und sie kommen auch in den Genuss der freiwilligen Leistungen, die mit dem Status als hochrangige Firmenangestellte verbunden sind, egal welchen technischen Status als Bürger der Vereinigten Staaten sie besitzen. Aber eine solche Ballung kosmopolitischen Kapitals und kosmopolitischer Privilegien in spezifischen Hightech-Zonen hat auch zu einem Zellbildungsmuster geführt, das Bürgerrechte und -pflichten ungleichmäßig über das nationale Territorium verteilt. Die Aufsplitterung kosmopolitischer Privilegien im neoliberalen Amerika stellt somit auch eine Herausforderung für die unkritische Akzeptanz eines kosmopolischen Projekts dar, in dem manche eine positive Antwort auf die Globalisierung und die damit verbundene Unzufriedenheit sehen. Gelehrte wie David Held sind vorsichtig optimistisch bezüglich der Ausbreitung demokratischer Lebensformen, die sich aus der Ausdehnung und Vertiefung von Beziehungen über große Räume hinweg ergeben kann, und bezüglich des zunehmenden Bewusstseins von »Schicksalsgemeinschaften« (Held u.a. 1999). Einen unangebrachten Optimismus müssen wir jedoch einschränken – einen, der in einer solchen »neuen Staatsbürgerkunde für die globale Welt der Andersartigkeiten« einen ersten Schritt zur »globalen Regierung« sieht. Wenn wir in diesen Hightech-Gestalten jedoch Handelnde in den immer dichter werdenden transnationalen Verbindungen sehen, dann bleibt die Frage, ob sich die Privilegien einer flexiblen Staatsbürgerschaft auch mit den Verpflichtungen einer substanziellen Staatsbürgerschaft vor Ort verbinden lassen. Bis jetzt gibt es noch keinen systematischen empirischen Beweis dafür, dass die kreuz und quer sich ausbreitenden Netze multilateraler Handlungsmacht oder die Förderung der staatsbürgerlichen Erziehung zur Herausbildung einer wirksameren Verantwortlichkeit seitens der Regierung oder der Wirtschaft führen. Die Befürworter eines positiv besetzten Kosmopolitismus haben die Schichtung der Regelungsebenen und die Aufsplitterung des Kosmopolitismus auf den Ebenen unterhalb der globalen
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oder nationalen Ebene übersehen. Sie haben der Art und Weise keine Aufmerksamkeit geschenkt, wie Einwanderungsregelungen und die raumgreifenden Technologien der Macht Normen und Möglichkeiten für unterschiedliche Arten der sozialen Zugehörigkeit herausbilden und wie sie unterschiedliche Ansprüche und Berechtigungen schaffen. Die empirischen Belege haben vielmehr gezeigt, dass die gegenwärtigen Marktaktivitäten und Regulierungssysteme die Fragmentierung des politischen Raums intensivieren und dass sie die Beziehungen zwischen den Bürgern und ihrer weiteren gesellschaftlichen Umgebung eher schwächen, ebenso die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Arten von Migranten (mit hoher oder geringer Qualifikation), die bezüglich ihrer Bürgerrechte in unterschiedliche Schubladen gesteckt werden. Eine kosmopolitische Staatsbürgerschaft, die auf dem Wohnsitz und auf Marktgegebenheiten basiert, verstärkt demokratische Defizite bei der Austragung widerstreitender Interessen. Es kommt zur ungleichmäßigen politischen Teilhabe aller Bürger. Laut Gerard Delanty erfordert die globalisierende Fragmentierung der Bürgerrechte Antworten auf verschiedenen Ebenen von Politik und Gesellschaft (2000: 136). Auf der lokalen Ebene kann die kosmopolitische Staatsbürgerschaft die Demokratie nur dadurch fördern, dass sie eine konkrete Verbindung zur kommunalen Gemeinschaft wiederherstellt. Die Globalisierung hat somit die Bürgerrechte in die Stadt zurückgebracht. Doch statt das Vielversprechende einer kosmopolitischen Staatsbürgerschaft ausschließlich in multilateralen Regierungsweisen zu sehen, sollte man seinen Blick lieber auf das richten, was für die Demokratie notwendig zu sein scheint: auf eine Erfindung neuer Formen von Sozialität und Zivilgesellschaft in einer begrenzten kosmopolitischen Sphäre der Öffentlichkeit, also an einem der vielen Knotenpunkte, die unsere globalisierte Welt verbinden.
Anmerkungen 1 Es gibt bisher nur eine einzige ethnographische Studie über die Auswirkungen der Umbrüche, welche die Silicon-Valley-Kultur auf Familienformen und die Beziehungen der Geschlechter hatte: Stacey 1998. Andere Aspekte des gesellschaftlichen Wandels infolge der offenen Arbeitswelt in den vernetzten Industriesystemen wurden noch nicht gründlich genug untersucht. 2 Die Spannungen zwischen Mobilen und Sesshaften lokalisiert Bauman anscheinend außerhalb dieser Mobilitätshierarchie. Zu dieser anderen Dimension von Polarität und Machtungleichgewicht unter Migranten und ihren Familien finden sich ethnographische Schilde-
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rungen am Beispiel ethnischer Chinesen bei Ong und Nonini (Hg.) 1997. 3 Blinde Passagiere müssen eine begründete Angst vor Verfolgung in der Heimat glaubhaft machen, wenn sie der Deportation dorthin entgehen wollen. Im Januar 2000 verfrachteten die USA rund 250 blinde Passagiere zurück nach China. Vgl. »Deadly Choice of Stowaways: Ship Containers«, New York Times vom 12. Januar 2000. 4 »Three Weeks in a Floating Coffin«, San Francisco Chronicle vom 12. Januar 2000. 5 Der Begriff »resident expatriate« wurde von Kaplan (1998: 101) geprägt. Eine Erörterung der kosmopolitischen Staatsbürgerschaft, die eher auf dem Wohnsitz der Betreffenden als auf ihrer Mitgliedschaft in einem Nationalstaat basiert, findet sich bei Delanty (2000: 51-67). 6 Ulrich Beck stellt fest, dass in der spätmodernen Phase die »Selbstgefährdung« der Gesellschaft auch die immanente Pluralisierung der Risiken einschließt – ein historisch bedeutsamer Verlust an Gewissheiten, der die Rationalität der Risikokalkulation fraglich werden lässt. Das nicht Vorausgesehene und Unbeabsichtigte wird anstelle der instrumentalen Rationalität zum »Motor der Sozialgeschichte« (1994: 181). 7 »Immigrants Quickly Becoming Assimilated, Report Concludes«, San Francisco Chronicle vom 7. Juli 1999. 8 »Ambiguity Remains Despite Changes in H-1 Program«, San Francisco Chronicle vom 21. September 2000. 9 »A New California«, San Francisco Examiner vom 20. Februar 2000. 10 »Question of Fraud: Silicon Valley Pushes for More Foreign Workers Despite Federal Probes«, San Francisco Chronicle vom 21. September 2000. 11 Kurz vor Beendigung seiner Amtszeit als US-Präsident unterzeichnete Bill Clinton ein Gesetz, das es Vertragsarbeitern gestattet, ihren Arbeitsplatz zu wechseln, ohne dadurch ihre Chancen auf Einbürgerung zu gefährden. 12 »BCGB Names in Sweatshop Suit«, Asianweek vom August 1999. 13 »High Tech’s Low Wages: Two Silicon Valley Firms Sued over Alleged Labor Violations«, Asianweek vom 23. Dezember 1999. 14 »When Unions Attempt to Organize Silicon Valley’s Growing Vietnamese Workforce, They Find Custom, Language and History Stand in the Way«, Metro, Silicon Valley’s Weekly Newspaper vom 16.22. September 1999. 15 »A New California«, San Francisco Examiner vom 20. Februar 2000. 16 Ebd.
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17 »Dabei werden Sorgen um die ›Sicherheit‹, häufig reduziert auf die spezielle Sorge um die Sicherheit der eigenen Person und des persönlichen Besitzes, sozusagen ›überfrachtet‹, indem sie mit Ängsten aufgeladen werden, die durch andere entscheidende Dimensionen der heutigen Existenz erzeugt werden – durch Unsicherheit und Ungewissheit« (Bauman 1998: 5). 18 In einem Bericht aus dem Jahre 2000 wurde geschätzt, dass in Silicon Valley bis zum Jahr 2010 rund 46.000 Häuser und Wohnungen fehlen werden. Die Stadtverwaltung von San José plant, erschwinglichen Wohnraum für Arbeiter mit niedrigem Einkommen und für Obdachlose zu bauen und außerdem die Zahl der Schlafplätze in den Obdachlosenasylen der Stadt zu verdoppeln. »San José Mayor Forms Housing Crisis Group«, San Francisco Chronicle vom 14. September 2000. 19 »Mission District Fights Case of Dot-com Fever«, New York Times vom 5. November 2000. 20 Gerard Delanty argumentiert, die Bildung der Europäischen Union habe die Kodifizierung einer post-nationalen Staatsbürgerschaft mit sich gebracht, einer Staatsbürgerschaft, die sich nach dem Wohnsitz richtet, wodurch auch die Bürgerrechte eine vom Nationalstaat unabhängige Existenz erlangt hätten (Delanty 2000: 120). Ich entlehne hier Delantys Konzept einer auf dem Wohnsitz basierenden Staatsbürgerschaft, allerdings um die Macht und Gesellschaftsbildung transnationaler Eliten zu beleuchten – eine Macht, die sich fast ausschließlich aus Gegebenheiten des Marktes herleitet.
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Die Amerikanisierung des Holocaust Natan Sznaider
Eigentlich konnte man nicht erwarten, dass der Begriff »Holocaust« für das Ereignis des Judenmords, so wie dieser heute verstanden wird, ausgerechnet in den USA geprägt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg begriffen sich die Vereinigten Staaten als Bannerträger des Universalismus. In diesen universalistischen Begriffen wurde auch das Ereignis, das später Holocaust genannt wurde, verstanden. Ihre Aufgabe sahen die USA nun darin, Europa davor zu beschützen, in die Hände der Sowjetunion zu fallen. Das war das Credo des Kalten Krieges. Die meisten Juden Amerikas, darunter auch die 100.000 Überlebenden der Konzentrationslager, die nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten kamen, identifizierten sich mit dieser Mission der amerikanischen Außenpolitik. Die Erfahrungen der Zerstörungen, Vertreibungen und des Wiederaufbaus Europas nach dem Krieg waren den Amerikanern weithin unbekannt. Es gab, anders als in Europa, keine alten Rechnungen zu begleichen zwischen denen, die mit den Nazis kollaboriert, und denjenigen, die sie bekämpft hatten. Auch mussten dort keine großen Bevölkerungsgruppen wie jene, die in Europa aus ihrer alten Heimat vertrieben wurden, nach einer neuen Bleibe suchen. All das bestimmte die amerikanische Vergangenheitspolitik. Vor allem in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bestimmte Optimismus die politische Kultur der USA. Der Gegensatz zwischen einem in Trümmern liegenden Europa und einem neuen, jugendlichen, machtvollen Amerika bestimmte die jeweiligen Erinnerungen. Die amerikanische war »schmerzfrei«, und als solche bot sie sich als Träger für ein universales Gedächtnis an. Weder betrachteten die Amerikaner sich wie die Deutschen als Opfer von Bombardierung, Besatzung und Teilung, noch waren sie Teil des jüdischen Opferkollektivs. Amerika war Zeuge der Ereignisse, und als solchem kam dem Land eine privilegierte Stellung zu. Eine Sakralisierung der Erinnerung durch erlittenen Schmerz war im Amerika der 1950er-Jahre fast undenkbar. Sogar
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die Atombombe änderte nichts an diesem moralischen Überlegenheitsgefühl. All dies begann sich in den 1960er-Jahren zu ändern. Der Optimismus schlug um. Der Vietnamkrieg, die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, der wie kein anderer dieses junge und optimistische Amerika symbolisierte, die Ermordungen von Robert Kennedy, Martin Luther King und Malcolm X, die Bürgerrechtsbewegung, all dies und vieles mehr trug zu einer sich herausbildenden Leidensgeschichte Amerikas bei – nicht für alle Amerikaner, aber für seine Minderheiten und ethnischen Gruppen. Rassismus und Diskriminierung waren die neuen Worte, unter die dann auch der Holocaust gefasst werden sollte. Ausschlaggebend waren in diesem Zusammenhang die Beziehungen zwischen der schwarzen und der jüdischen Bevölkerung. Deren problematisches Verhältnis basiert zum Großteil auf den jeweiligen Vorstellungen des Leidens, welches sie in die eigene Geschichte zu integrieren versuchen. Diese Leidensvorstellung wird zwar jenseits des Staates formuliert, oft gegen ihn artikuliert, aber der Staat wird auch oft zum Ansprechpartner für das Leid. Nun sind diese beiden ethnischen Gruppen natürlich nicht sozial gleich. Während die schwarze Bevölkerung einen sozialen Abstieg und die Auflösung ihrer Sozialstrukturen erfuhr, integrierten sich die meisten Juden in den amerikanischen Mainstream. Für die jüdische Bevölkerung Amerikas war das aufklärerische Vermächtnis der Vereinigten Staaten mehr als leere Worte, nämlich die Erfüllung eines Versprechens. Im Verfassungsstaat USA konnten Juden als solche und als amerikanische Staatsbürger gleichzeitig leben, ohne dass dieser Raum zu einem geschichtsfreien »Hier und Jetzt« wurde. Der materielle und ideelle Erfolg ihrer Eingliederung gab ihnen Recht. Für die schwarze Bevölkerung stellte und stellt sich die Lage jedoch ganz anders dar. Freilich ist die Erinnerung an Leid nicht nur an die soziale Wirklichkeit und an die Gegenwart gebunden. Schwarze Politiker verwendeten Motive aus der jüdischen Geschichte, die dann wiederum von Juden »zurückgefordert« wurden. Zwischen der Sklaverei der Schwarzen und der jüdischen Sklaverei in Ägypten wurde eine Verbindung gezogen, wodurch Moses zur wichtigeren Figur als Jesus wurde. Die Lieder der Schwarzen, die Gospels (zum Beispiel »Let My People Go«), sind aus der Leidensgeschichte der Juden übernommen. Auch gab es unter den Schwarzen eine Nationalbewegung, die sich an den Zionismus anlehnte (vgl. Gilroy 1993), und den Kampf um die rechtliche Gleichstellung, die für beide Gruppen entscheidend war. Als jüdische Gruppen ihre Leidensgeschichte durch den Holocaust wieder in den Vordergrund stellen wollten, gab es innerhalb der schwarzen Gemeinschaft Versuche, die »Middle Passage« (den Transport der
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schwarzen Sklaven über den Atlantik zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf Millionen Menschen getötet wurden) und andere Leidensgeschichten als »schwarzen Holocaust« zu bezeichnen. Wenn ethnische Gruppen um Sympathie und Mitleid konkurrieren, dann lernen sie voneinander. Und deshalb wurde in Amerika der Rassismus zum Schlüssel für die Begrifflichkeit des Holocaust, während es in Deutschland um Faschismus und in Israel um Antisemitismus geht. In diesem Sinne diente die stärker werdende Partikularisierung des Holocaust-Verständnisses amerikanischer Juden auch ihrer Amerikanisierung. Hinzu kam die Solidarisierung amerikanischer Juden mit dem Staat Israel. Die amerikanische Verfassung ermöglicht es ethnischen Gruppen, ihre Solidarität zu entstaatlichen und auf die sogenannte »alte Heimat« zu lenken. Man denke dabei nicht nur an schwarze Amerikaner, sondern auch an die Iren, Italiener und andere Gruppen. Für Juden in Amerika wurde Israel zu einem zusätzlichen Bezugspunkt – und dies in dem Moment, da der Antisemitismus für ihren Erfolg kein größeres Hindernis mehr darstellte. Wie in Deutschland trug die Strategie der amerikanischen Linken zu einer Nationalisierung bei. Die amerikanische Linke lehnte die Politik der antikommunistischen Intervention ab – was sich besonders im Zusammenhang mit Vietnam und Kambodscha als wichtig erwies. In dieser Hinsicht befand sich die ethnische Politik der Juden im Einklang mit der amerikanischen Außenpolitik. Wenn die »Lehre« des Holocaust im Verhindern jeglichen Völkermordes bestand, dann machten sich die Amerikaner durch ihr weltpolitisches Engagement eines erneuten Holocaust schuldig. Wenn man aber den Holocaust für »einzigartig« hielt, konnte die amerikanische Politik nicht mit dem einen Holocaust verglichen werden. Die »Einzigartigkeit« des Holocaust – eine Sichtweise, die in Israel als selbstverständlich galt – bekam aufgrund dieser inneramerikanischen Situation ihre spezifische Struktur. Mehr noch, ihn mit anderen Völkermorden zu vergleichen kam der HolocaustVerleugnung bzw. der Trivialisierung oder dem Rassismus gleich. Die amerikanisch-jüdischen Organisationen waren durch die Doktrin der »Einzigartigkeit« zu einem Faktor des Kalten Krieges geworden (Novick 1999).
Die Medialisierung des Holocaust Die »globale Ausstrahlung« des Holocaust erreichte im Jahre 1978 durch die in den USA produzierte Miniserie Holocaust ihren vorläufigen Höhepunkt. Nach dem Eichmann-Prozess war diese Fernsehserie ein weiterer Meilenstein in der Mediendarstellung des Holocaust. Nur
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standen diesmal nicht der Täter Eichmann und die Problematik des Verbrechens und des Bösen im Mittelpunkt, sondern die fiktionale Geschichte einer Opferfamilie. Diese Familie Weiss war eine typische europäisch-jüdische, kosmopolitische Familie. Sowohl in Deutschland als auch in Amerika wurde die Serie zum öffentlichen Gesprächsthema Nummer eins. In den Vereinigten Staaten wurde die Serie von mehr als 100 Millionen Zuschauern an vier aufeinanderfolgenden Abenden zwischen dem 16. und 19. April 1978 gesehen (Shandler 1999: 155-178). Ihre Ausstrahlung begann an einem Sonntag, der im Nachhinein inoffiziell als »Holocaust-Sonntag« bezeichnet wurde. Dies allein schon weist auf eine Universalisierung, sprich: Amerikanisierung, sprich: Christianisierung des Geschehens hin, die durch die »kosmopolitische« Familie Weiss noch unterstrichen wurde. Durch Predigten nicht-jüdischer Geistlicher, die den Holocaust erwähnten, wurde diese Assoziation zusätzlich verstärkt (Wuthnow 1987: 125). Der amerikanische Soziologe Robert Wuthnow betont den Zusammenhang zwischen der Verunsicherung, die Amerika als Folge des Vietnam-Debakels und des Watergate-Skandals erfasste, und dem Bedürfnis nach einem öffentlichen Ritual, bei dem die moralischen Fronten klar werden. Es geht hier um die Übertragbarkeit des Holocaust auf das Verhalten von Unrechtsstaaten in Gegenwart und Zukunft. So analysiert Wuthnow die Reaktionen in den Vereinigten Staaten auf die Fernsehserie Holocaust als Versuch der Zuschauer, in einer ungewissen Welt Orientierung zu finden. Nicht die »Geschichte« des Holocaust war für die Zuschauer von Bedeutung, sondern der Holocaust als Symbol für das allgegenwärtige Böse (Wuthnow 1987: 124132). Die Fernsehsendung wies bereits viele der Elemente auf, die später, in der Debatte um Spielberg und Goldhagen, deutlicher hervortreten sollten, zum Beispiel die Vermischung von fiktionalen und nichtfiktionalen Elementen in der Holocaust-Darstellung. Die Diskussion um die Darstellbarkeit des Holocaust setzte schon am ersten Tag der Ausstrahlung ein, als Elie Wiesel in der New York Times einen Artikel veröffentlichte, in dem er die »Trivialisierung« des Holocaust beklagte. Damit eröffnete er eine Debatte, die bis zum heutigen Tag anhält. Die ethnische Politik der amerikanischen Juden hatte, was das Holocaust-Gedenken angeht, einen kritischen Punkt erreicht, von dem es kein Zurück mehr gab. Der partikulare Holocaust war nun bei seiner Universalisierung angelangt, was später durch seine Musealisierung noch verstärkt wurde. Die Familie Weiss war so konzipiert, dass sich fast jeder Amerikaner mühelos mit ihr identifizieren konnte. Sie waren in diesem Sinne Amerikaner oder amerikanische Juden. Die Serie nahm die Zuschauer auch mit an die Schauplätze des Holocaust: in das Warschauer Ghetto, nach Auschwitz, Dachau, zu den Partisa-
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nen, und so weiter. All das wurde Teil der amerikanischen und globalen Medienlandschaft. Die Amerikanisierung des Holocaust spielt hierbei in zweifacher Hinsicht eine zentrale Rolle. Zum einen transformiert die amerikanische Medienlandschaft den Holocaust in ein konsumierbares Produkt; und zum anderen transformiert sie den Holocaust in ein universales Gebot, welches allgemeine Menschenrechte zu einem politisch relevanten Begriff im Bewusstsein der an dieser neuen Erinnerung teilnehmenden Menschen wachsen lässt. Damit wollen wir uns natürlich nicht dem naiven Glauben verschreiben, die Politik der USA sei von menschenrechtlichen Imperativen geleitet. Aber wir wollen auch nicht dem durch und durch instrumentalisierten Glauben verfallen, dass politische Interessen und Gefühlswelten (so wie im Falle von Menschenrechten) sich gegenseitig ausschließen. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wie die Amerikanisierung des Holocaust dazu beigetragen hat, Erinnerungen an dieses Ereignis zu einem global gültigen Wert zu machen. Diese Übertragung des historisch spezifischen Holocaust auf eine zukunftsorientierte globalisierte Politik, auf deren Grundlage Menschenrechte allgemein eingeklagt werden können (was wiederum dazu dienen soll, einen neuen Holocaust zu verhindern), beinhaltet auch die Entortung politischer Souveränität. Das heißt, dass die »Amerikanisierung des Holocaust« gleichzeitig seine Kosmopolitisierung ist. Wie ein Staat seine Bürger behandelt, ist nun Teil des allgemeinen Menschheitsinteresses geworden, und der Konflikt zwischen Internationalem Recht, das die Staatssouveränität garantiert, und Menschenrechten, die diese Souveränität einschränken, zeichnet die neuesten Entwicklungen aus. Wem der Holocaust nun letztlich »gehört«, ist die Schlüsselfrage in diesem Konflikt. Diese Auseinandersetzung findet allerdings nicht allein in Form zwischenstaatlicher Kontroversen statt. Im Gegenteil, viele dieser Konflikte spielen sich innerhalb des nationalen Rahmens ab. Die Grenzen verlaufen nicht mehr eindeutig nach Nationalitätskriterien oder etwa nach den überkommenen Mustern der Links-Recht-Schemata. Sie verwischen sich entlang generationsbedingter Erinnerungen und infolge der Auflösung der Trennung von privatem und öffentlichem Gedächtnis. In diesem Zusammenhang sprechen wir von einer neuen Erinnerungskultur. Abgesehen davon, dass der Holocaust seit Ende der sechziger Jahre eine wichtige Rolle im öffentlichen Gedächtnis Deutschlands, Israels und der USA einnimmt, haben sich auch private Gedächtnisformen erheblich verändert. Sie gelangen immer häufiger in die Öffentlichkeit: Autobiographien, Memoiren, Filme, mündliche Überlieferungen, Videoprojekte und andere mediale Formen haben die private Erinnerung in das öffentliche Gedächtnis ein-
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gespeist. Die Individualisierung und gleichzeitige Veröffentlichung des privaten Gedächtnisses sind ein weiteres Indiz für die abgeschwächte Rolle des Staates bei der Verfügung über die Holocaust-Erinnerungen. Dieser Individualisierungsprozess reflektiert nicht nur die Fragmentierung von Erinnerungskulturen, sondern deutet auch auf eine Entnationalisierung des kollektiven Gedächtnisses hin. Einerseits findet hierdurch eine Konkretisierung statt, durch welche die Opfer partikulare Lebensgeschichten erhalten. Somit erhält eine gesichtslose Geschichte Gesichter. Andererseits führt dieser Prozess zu einer Humanisierung der Opfer, und damit zu einer abstrakten Identifikation. Das Universelle steht erneut nicht im Gegensatz zum Partikularen, sondern speist sich geradezu aus ihm. Die Identifikation mit der partikularen Erfahrung des Individuums leistet einen wesentlichen Beitrag zur Entortung der Holocaust-Erinnerung. Die Ursachen für dieses Phänomen sind vielfältig. Häufig wird die biologische Zeit als primärer Grund für diese Rückbesinnung auf persönliche Erinnerungen angeführt. Die Generation, die den Holocaust selbst erlebt hat, ist im Begriff auszusterben. Die Erinnerungsflut der letzten Jahre ist ein letzter Versuch, soviel wie möglich von den Erinnerungen dieser Generation bekannt zu machen. So schreibt auch Pierre Nora, dass mit dem Ende von Erinnerungsmilieus die Rolle der Historisierung und Archivierung an Bedeutung zunimmt (Nora 1998: 5 ff.). Seit der Holocaust-Serie ist offensichtlich die historische Zunft nicht mehr Hauptlieferantin des Wissens über den Holocaust. Stattdessen sind es Fernsehen, Kino, Schriftsteller und Zeitungen, die uns das Verständnis des Holocaust vermitteln.
Die Amerikanisierung des Holocaust als moralischer Imperativ Wenn man über die »Amerikanisierung des Holocaust« spricht, nehmen die Missverständnisse im Zusammenhang eines europäischen antiamerikanischen Diskurses zu. »Banalisierung«, »Trivialisierung«, »Disneyfizierung« oder »McDonaldisierung« des Holocaust sind die gängigen Schlagworte (Junker 2000, Novick 1999, Rosenfeld 1997). Diese Position ist vom durch die Frankfurter Schule negativ geprägten Begriff der Massenkultur beeinflusst. »Instrumentalisierung« wird hier zum neuen Codewort des Holocaust-Verständnisses. Die moralische Aufrichtigkeit wird bezweifelt, und wirtschaftliche oder symbolische Klasseninteressen werden unterstellt (vgl. Finkelstein 2000). Der Irrtum, der dieser Sichtweise zugrunde liegt, ist folgenreich. Diese Kritiker glauben an eine reine, vollkommene und unveränderbare Erinnerung an den Holocaust, interesselos und machtfrei, die in den Medien nicht darstellbar sei. Amerikanische Konsumprodukte wie die
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Fernsehserie Holocaust von 1978 oder der Kinofilm Schindlers Liste von 1993 werden dann einer engen Gruppenpolitik zugeordnet oder als Resultat einer profitorientierten Kulturindustrie diskreditiert. Für viele Kulturkritiker ist diese Form des Umgangs mit dem Holocaust schlichtweg verabscheuungswürdig. Die von der Frankfurter Schule dominierte Kritik am Verhalten der Massen, besonders der faschistischen Massen – einem Verhalten, das als Hauptursache für die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gilt – verlängert diese Analyse in das bürgerlich-liberale Zeitalter. Die rationalistische Moderne instrumentalisiere die Kultur, mache sie zur Parasitin, heißt es. Traditionelle gesellschaftliche Grundlagen wie Solidarität und Gemeinschaft würden ver- und missbraucht. Und natürlich: Die Massenkultur gebe Anlass zur Besorgnis, denn der zweifelhafte Geschmack der Ungebildeten sei jetzt unverkennbar und dominiere an allen Ecken und Enden. Massenkultur wird zu einer vernunftzerstörenden Maschinerie aufgebauscht, zu einem totalitären Unternehmen mit dem Zweck, autonomes, nicht-instrumentelles Denken zu zerstören. Oft wird das von Kritikern als vulgäre Amerikanisierung bezeichnet, und der amerikanische Marktliberalismus wird häufig im Namen des europäischen Republikanismus angeprangert. Für viele ist die Globalisierungsfeindlichkeit daher nichts anderes als der altaristokratische Antiamerikanismus, der in Deutschland schon immer von rechts und links gepflegt wurde (Diner 1993). Die Verachtung Amerikas gehörte schon im 19. Jahrhundert zum gedanklichen Habitus der politisch entmachteten Kulturelite Europas, für die »Amerikanisierung« nichts anderes bedeutete als Vulgarisierung des Lebens. Einer solchen Kritik zufolge ist die Vermarktung des Holocaust nichts anderes als eine von Amerika dominierte Trivialisierung des Geschehenen. Sie beruht auf dem für die Moderne typischen »Bilderverbot«. Repräsentation kann und darf nicht erlaubt sein. Das Unvorstellbare wird damit vorgestellt (Hansen 1996). Diese Ansicht vertritt auch Claude Lanzman, der in seinem Dokumentarfilm Shoah über den Holocaust reden und denken wollte, ohne ihn darzustellen.1 Wahrheit kann nicht dargestellt werden, schon gar nicht von der Massenkultur. Sie muss Experten wie Lanzman oder Historikern vorbehalten bleiben. Aber diese Dichotomie zwischen Wahrheit und Öffentlichkeit besitzt keine Gültigkeit mehr. Auch kann die öffentliche Wahrheit nicht mehr allein durch rationalen Diskurs entdeckt werden. Bilder und emotionale Reaktionen, die diese Bilder hervorrufen, bewegen sich als gleichberechtigte Partner im öffentlichen Raum. Es sind nun gerade diese Massenprodukte, die emotionale Reaktionen hervorrufen können und die beim Publikum Interesse und Mitgefühl für das Leid anderer erzeugen. Es sind also genau jene emotionalen Reaktionen, deren Abwesenheit die gleichen Kritiker an
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konventionellen Mahnmälern bemängeln. Es bleibt jedoch unausgesprochen, welche Formen der Erinnerung denn nun wirklich angemessen seien. Wird zum Beispiel der deutsche Betroffenheitskult der letzten Jahrzehnte den Ansprüchen dieser Kritiker gerecht? Wohl kaum. Letztlich hat sich diese Form der Erinnerung als ein exkulpatorisches Unternehmen herausgestellt, insofern sich die staatlich geförderte Holocaust-Erinnerung in Deutschland mehr mit ihrer eigenen Gedenkkultur befasst als mit dem Ereignis selbst. Konsumhedonismus ist nicht einfach nur als Instrument der sozialen Kontrolle und der Manipulation zu sehen, sondern eben auch als Potenzial für ein emanzipatorisches Kulturgedächtnis. Für die meisten Menschen wird die Erinnerung an den Holocaust Teil des Freizeitprogramms. Die Vermischung von Kulturindustrie und Holocaust ist für den moralischen Holocaust-Puristen unerträglich. Dabei wird weder auf den Inhalt solcher Filme noch auf ihre Wirkung eingegangen. Das Bilderverbot steht über allem. Eine unüberbrückbar gewordene Distanz zwischen dem Wesen des Geschehenen und seiner adäquaten Darstellung wird vorausgesetzt. Aber die Erinnerung in einer sich immer stärker individualisierenden Welt kann nur durch Massenkommunikation vermittelt werden. Übersehen wird dabei, dass dieser Massenkonsum gleichzeitig die engen Grenzen des Staates überwinden kann. Zuschauer sind auch Interpreten von Medienbotschaften. Produkte der amerikanischen Kulturindustrie werden von den Zuschauern aufgrund ihres Kontexts gedeutet. Sie können sich kritisch verhalten und Distanz zu den Sendungen und Filmen einnehmen, wodurch sie durchaus in der Lage sind, die Filme jenseits der Absichten der Filmemacher zu rezipieren. Steven Spielbergs Film Schindlers Liste, 1993 zum ersten Mal gezeigt, wurde zum Inbegriff dieser »Holocaust-Industrie« (Hansen 1996). Dieses Missverständnis lässt sich noch in der kritischsten Rezeption des Films wiederfinden. Von Sentimentalisierung und Kitsch war die Rede. Aber es waren gerade diese Merkmale, die es dem Film ermöglichten, den Holocaust einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Die Popularisierung des Holocaust geht, wie gesagt, mit neuen Identifikationsmustern einher. Das besondere Merkmal von Schindlers Liste ist die Gleichzeitigkeit, mit welcher der Film das historisch Konkrete mit einer universalen Moral verbindet. Der »typisch amerikanische« Ansatz zeichnet sich durch nicht-typische Identifikationsmöglichkeiten aus – nämlich die Rolle des Zuschauers. Die zukunftsorientierte amerikanische Kultur entreißt die Erinnerung der Vergangenheit, und zwar in einem Prozess der Entortung, in welchem Amerikaner, Deutsche und Israelis von Zeugen, Tätern und Opfern zu Zuschauern werden (können). Die (dritte) Rolle des Zuschauers verdrängt die Opferrolle. Die Opfer rücken in den
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Hintergrund. Sie sind eine verfolgte und geschundene Masse. Der moralische Kampf spielt sich um das Verhältnis zu den Opfern ab: Gut und Böse gegeneinander, der eingreifende Zuschauer und der böse, grausame Täter. Dieses Passionsspiel, welches in Bosnien so konkret inszeniert wurde, bekam ab Ende 1993 in Schindlers Liste ein fiktionales Pendant. Die Juden spielen in Spielbergs Film eine untergeordnete Rolle, sind Objekte, sie sind, ähnlich den verfolgten Massen in Bosnien, gesichtslos. Auch in Spielbergs Film geht es um den Kampf zwischen Schindler und Goeth, dem Kommandanten des Lagers Plaszow. Retter und Überlebende sind die wahren Helden des Films. Im Gegensatz zu den Kritikern der Universalisierung und der Kommerzialisierung des Holocaust betrachten wir diese Prozesse als einen wichtigen Beitrag zur Entstehung eines kosmopolitischen Gedächtnisses. Kann der Holocaust wie jedes andere Massenprodukt konsumiert werden? Wird er dadurch verflacht, erniedrigt oder sogar vergessen? Bewegt man sich in dem tradierten und nicht zuletzt durch die Sozialwissenschaften geprägten Begriff der Politik, erscheint der Konsum als entpolitisierend. In dieser Sichtweise bestimmt man Politik vor allem in nationalstaatlichen Kategorien. In der Zweiten Moderne umfasst die Politik aber auch nichtstaatliche Sphären, die sich im privaten und kulturellen Bereich herausbilden. Es handelt sich um ein neues Politikverständnis. Folglich muss das Verhältnis von Politik und Massenkultur neu definiert werden, anstatt es der Kritik eines verwurzelten Antiamerikanismus zu überlassen. Dies lässt sich am Beispiel amerikanischer Jugendlicher in Krakau und Auschwitz illustrieren. In den letzten Jahren fanden in Krakau jüdische Kulturtage statt, und zwar im Stadtteil Kazimierz, in dem früher die Juden Krakaus wohnten und der durch Schindlers Liste berühmt wurde. Dokumentarfilme, Klezmer-Musik, Vorträge und Führungen erinnern an Vergangenes. Kazimierz ist zur Gedenkstätte für Steven Spielberg und den Holocaust geworden. »Auf den Spuren von Steven Spielbergs Schindlers Liste« verspricht die eine Tour, die andere sogar »Tagesausflüge nach Auschwitz – Schüler und Studenten zahlen die Hälfte« – für den, dem das Traurig-Sentimentale von Kazimierz nicht genug ist und den es zu den »Originalschauplätzen« zieht. Wo einst 60.000 Juden wohnten, sind es heute nicht mehr als 150. Der Auschwitz-Tourismus ist für Krakau zu einer ebenso wichtigen Einkommensquelle geworden wie die Sentimentalisierung und Verkitschung der von den deutschen Nazis vernichteten jüdischen Kultur. Vor allem amerikanisch-jüdische Jugendliche suchen hier nach den Spuren ihrer Herkunft. Wie viele andere Amerikaner sind sie historisch schwerelos und schweben so über die Gräber Polens leicht hinweg. Laut und respektlos, wie es sich für historisch schwere-
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lose Menschen gehört, sind diese jungen amerikanischen Juden in Krakau das einzig Lebendige. Die einzige noch funktionierende Synagoge in Krakau wandelt sich von einem Ort der Besinnung zu einem Ort, an dem junge Juden sich sorglos und laut bewegen. Man spürt sofort, dass sie von einem Ort kommen, an dem noch Juden leben und wo es eine lebendige jüdische Kultur gibt. Den »Tagesausflug nach Auschwitz – Schüler und Studenten zahlen die Hälfte« nehmen sie mit einer hedonistischen Gelassenheit hin, die für Europäer beneidenswert ist. Dass sie sich in Kazimierz mehr für die Schauplätze von Spielberg interessieren – »und hier filmte Spielberg die berühmte Pogromszene« – als für das wirkliche Ghetto, zeigt, wie das lebendige jüdische Umfeld, aus dem sie stammen, den Holocaust zu einem »Gut« macht, das Teil der eigenen Geschichte ist, ohne dass sie davon erschlagen werden. Instrumentalisierung und Kommerzialisierung, die Begrifflichkeiten der Moralritter, werden ins Feld geführt, um diese Erfahrungen als nicht-authentisch, das heißt als amerikanisiert abzutun. Um den Holocaust soll – in den Worten von Claude Lanzmann – ein »Feuerring« liegen. Er darf nicht zum »Gut« werden, und sicher darf er auch nicht hedonistisch genossen werden. Aber warum eigentlich nicht? Ist pietätvoller Respekt denn lebensbejahender und damit angemessener? Aber, so die moralisch Entrüsteten, die Kommerzialisierung kontrolliert unseren Geist und manipuliert das Gedenken an den Holocaust. Die Massenkultur ist ein heidnisches Ritual der Lebensbejahung. Die frivole Wirtschaft, die auch vor dem Holocaust nicht halt macht, entwurzelt und entortet traditionelle Maßstäbe. Sie verallgemeinert die Neugier, demokratisiert den Geschmack und die Lust auf das Neue in allen Bereichen der Kultur. Auch die Darstellung und die Erinnerung an den Holocaust unterliegt denselben Mechanismen – und sie soll es auch, wenn man sie nicht einer kleinen elitären Gruppe vorbehalten will, die glaubt, das Monopol für das richtige Deuten und Darstellen und das richtige Erinnern zu besitzen. Die aristokratische Ablehnung der so genannten »Massenkultur« versperrt somit auch den Blick auf ein Verständnis solcher Repräsentationsformen, die sich nicht mehr einfach in das Schema von Hoch- und Massenkultur pressen lassen. Man sollte nicht vergessen, dass es ohne technische Reproduzierbarkeit und Massenkonsum keine öffentliche Erinnerung geben kann. Das HolocaustVerständnis dieser Jugendlichen ist von Spielberg geprägt, und diese angebliche Oberflächlichkeit erlaubt es ihnen, lebendige Kultur zu erzeugen. Was am Ende bleibt, ist keine Eschatologie des Holocaust, sondern gegenwärtiges menschliches Handeln und Fühlen. Die Amerikanisierung des Holocaust, die die Erinnerung zu einem geschichtslosen und entorteten Ereignis macht, muss und soll nicht ehrwürdig sein.
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Seit Spielbergs Film ist der Holocaust aus der Kulturindustrie nicht mehr wegzudenken. Während viele Kritiker den Film als Ware abtun, hält das breite Publikum ihn für die wahre Repräsentation des Holocaust. Der Film setzt die Entortung des Geschehens weiter fort. Spielberg drehte an »Originalschauplätzen« in Polen, der Film ist in schwarz-weiß gedreht, um Authentizität und Anlehnung an das europäische Kino zu suggerieren. Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen miteinander. Oprah Winfrey, eine der erfolgreichsten Fernseh-Talkshow-Moderatorinnen, in deren Sendungen es meistens um das Leid von Einzelnen im Alltag geht, empfiehlt den Film in ihrer Sendung und erklärt dem Publikum, dass sie selbst durch den Film zu einem »besseren Menschen« geworden sei. Die Verbindung zwischen Oprah, wie sie jeder Amerikaner nennt, und dem Holocaust ist nicht belanglos. Ihre Fernsehshow handelt von den Opfern des Alkoholismus, des Kindesmissbrauchs. Die Sendung feiert und verklärt die Opfer als moralisch bessere Menschen und hebt den Status des »Überlebenden«, des »survivors«, auf eine moralisch überlegene Ebene (vgl. den Beitrag von Eva Illouz in diesem Band). Der Begriff »survivor«, der gerade im jüdischen Gedächtnis so eng mit dem Holocaust verknüpft war, wird jetzt gleichermaßen auf sexuell Missbrauchte, frühere Alkoholiker und andere Gruppen, die sich aus ihrer traumatischen Opferrolle befreit haben, übertragen. Der Holocaust-Überlebende reiht sich in diese Überlebenskultur als Einzelner, als Individuum ein. Auch Spielberg macht in seinem Film das »Überleben« zum Leitmotiv des Holocaust: Der Kampf zwischen dem Täter und dem Retter fällt zugunsten der Opfer aus. Die historische Wirklichkeit der Massenvernichtung dient im Film nur als Hintergrund, als stilles und vorausgesetztes Wissen mancher und sicher nicht aller Zuschauer. Der Holocaust bildet die historische Kulisse des Films und erweckt somit den Eindruck, es handle sich um einen historischen Holocaust-Film. Gleichzeitig wird durch die universalisierte Dramatik der Film aus der Geschichte gelöst und in die Zukunft getragen. Schindler sind alle, die retten wollen. Goeth sind alle, die töten wollen, und die Juden sind überall die Opfer. Hier wird die Massenkultur zur Trägerin der Erinnerung. Ein öffentlicher Raum zur Diskussion über moralische Fragen wird geschaffen, an dem sich alle Zuschauer beteiligen können. Die Kritiker fanden den Film – und hier waren sie sich als globale Gralshüter einer Hochkultur fast überall einig – trivial, vereinfachend, zu amerikanisch, zu positiv, ja einfach schlecht – eine ähnliche Situation, wie sie sich später bei der Rezeption von Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker: Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust wiederholte. Die Experten fanden das Buch schlecht, das Publikum war begeistert. Das hat nichts mit Respektlosigkeit den Opfern gegenüber zu tun. Wird doch der Holocaust so zu einem mo-
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ralischen Maßstab. Ein Beispiel für diese Verwandlung ist auch die Empfehlung des damaligen amerikanischen Präsidenten, Bill Clinton, der Spielbergs Film als »moralische Lektion« empfand. Spielberg individualisierte das Geschehen. So wurde der Zuschauer angeregt, sich zu fragen: »Was bedeutet der Holocaust für mich?« »Wie gehe ich mit einem solch unglaublichen Ereignis um, für das es keine Worte gibt?« Diese Art der direkten, emotionalen, ja sogar sentimentalen Vermittlung bedarf keiner (so genannten) Experten. Nun ist es klar, dass man ein individuelles und emotionales Verhältnis zum Holocaust haben kann – eines, das aber nicht unbedingt, wie befürchtet, ein unpolitisches ist. Dies reflektiert nur die Individualisierung der westlichen Kultur und insbesondere der USA. Der Holocaust wird zu einem Identitätsproblem, und in einer Kultur, in der das Individuum das Kollektiv ersetzt, wird Politik zur Identitätspolitik, werden Opfer so verallgemeinert, dass sich alle mit ihnen identifizieren können. So können Nichtjuden den Kino-Schindler sehen und weinen. So können Deutsche sich mit dem »guten Deutschen« identifizieren und aus der Täterrolle in die Zuschauer- oder sogar Retterrolle schlüpfen. Öffentlichkeit wird zur Privatsphäre und umgekehrt. Individuelle Sensibilitäten werden in den öffentlichen Raum projiziert und von dort zurück auf die Individuen. Keine Atomisierung findet statt, sondern ein sozial geschaffenes Individuum. Nicht mehr die Dichotomie Individuum-Gesellschaft, die sich gegenseitig und voreinander schützen müssen, tut sich auf, sondern Individuum und Gesellschaft durchdringen sich gegenseitig. Die Entkontextualisierung und Individualisierung des Holocaust hat daher klare öffentliche Konsequenzen. Von der Identifizierung mit Schindler zur späteren Rolle der Retter der Kosovaren ist es nicht weit. Spielbergs Film verlässt die unsicheren Gefilde der authentischen Erinnerungen und begibt sich in einen Bereich, in dem sich die Zuschauer emotional identifizieren und engagieren. Dabei spielt es kaum eine Rolle, wo die Zuschauer sich befinden. Die globale Vermarktung des Filmes stellt in vielerlei Hinsicht auch den Rahmen dar, in dem der Holocaust als historisches Geschehen sich mit gegenwärtiger und zukünftiger Kultur mischt. Aber der Holocaust als historisches Ereignis verschwindet nicht, sondern wird eins mit der Spielberg-Produktion. Menschen in den verschieden Ländern können dann aktiv das Geschehen des Holocaust in die jeweiligen nationalen Diskurse einbeziehen. Kein Wunder also, dass der Film nicht nur in den USA ein großer Erfolg war: Er wurde von 25 Millionen Zuschauern gesehen. Einige Jahre nach seinem Kinostart wurde er, für amerikanische Verhältnisse fast unvorstellbar und mit dementsprechend großer Aufmerksamkeit bedacht, ohne Werbeunterbrechung auch im amerikanischen Fernsehen gezeigt. Aber der Film steht nicht isoliert da. Er hat einen ähnlichen Effekt
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wie das im gleichen Jahr in der amerikanischen Bundeshauptstadt Washington errichtete Holocaust Memorial Museum. Was dieses Museum als Universalisierungsmaschine leistet, wird durch den Film weitergeführt. So wie das Museum am Ende die laute Botschaft der Erlösung enthält, so ist auch Spielbergs Film ein »positiver« Holocaust-Film mit der klaren Botschaft: Man kann retten, wenn man will. Moralisches Verhalten ist individuell, man kann sich dafür entscheiden. Nicht »banale Schreibtischtäter« sind am Werk, sondern solche, die das Gute oder Böse wählen. Als Hannah Arendt Eichmann analysierte, sagte sie noch über ihn: »Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen, ein Bösewicht zu werden« (Arendt 1986: 15). Mit dieser Bemerkung wollte Arendt das »Böse« entpersonalisieren und im System des Totalitarismus ansiedeln. Andererseits hielt sie das Problem des »Bösen« für das intellektuelle Problem der Moderne. Spielberg brachte dieses Problem wieder auf die Ebene des Individuums zurück: Goeth war Jago und beschloss, ein Bösewicht zu werden. Spielberg hat immer wieder behauptet, der Film handele von Bosniern in Serbien oder von schwarzen Amerikanern. Als der Film zum Beispiel in Oakland in einem vorwiegend schwarzen Viertel gezeigt wurde, kam es zum Skandal, als einige der schwarzen Jugendlichen bei den Verfolgungsszenen in Lachen ausbrachen. Spielberg eilte nach Oakland und rief ein neuen Kurs in der dortigen Schule ins Leben: »The Human Holocaust: The Afro-American Experience« (Der menschliche Holocaust: Die afroamerikanische Erfahrung). So entortet der Film die jüdische Erinnerung, indem er den Holocaust als Hintergrund für den gegenwärtig erfahrbaren Rassismus und für erfahrbare Intoleranz inszeniert. Fragmentierte Erinnerungen Diese Pluralisierung entspricht auch der bereits erwähnten Veröffentlichung privater Erinnerungen. Neues historisches Material im Sinne »objektiver« Tatsachen gelangt bei diesen Erinnerungen nicht an die Öffentlichkeit. Doch bringen sie die individuelle und persönliche Seite der kollektiven Tragödie ans Tageslicht. Auch hier kommt Spielbergs Film eine richtungsweisende Rolle zu. Schindlers Liste war nicht das Ende, sondern der Anfang seines Holocaust-Engagements. Sein letztes Holocaust-Projekt ist die mittlerweile stark umstrittene Geschichte der Anne Frank, die im Sommer des Jahres 2001 im amerikanischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Nach dem Erfolg des Filmes begann er 1994 ein Videoprojekt mit dem Titel Survivors of the Shoah Visual History Foundation, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Berichte von Überlebenden zu sammeln und sie auf Video aufzunehmen. Die
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Stiftung soll 50.000 Zeugnisse auf über 200.000 Videokassetten in 26 Sprachen in 36 Ländern zusammenstellen und damit zum größten Zeugnisprojekt aller Zeiten werden. Der ehemalige wissenschaftliche Leiter des U.S. Holocaust Memorial Museums, Michael Berenbaum, leitete das Projekt bis 1999. Er hatte sich vorgenommen, ein globales erzieherisches Programm einzurichten, das von jedem Computer über das Internet abrufbar ist. Hier benutzt Spielberg, der zweifelsohne als Motor der Amerikanisierung des Holocaust betrachtet werden kann, die Mittel der globalen Kommunikation, um die Zeugnisse der Überlebenden in den virtuellen Computerraum zu stellen, einen Raum, der wie kein anderer »ortlos« ist. Das Videoprojekt veranschaulicht, wie (und von wo) die Entortung ihren Lauf nimmt.2 Einerseits handelt es sich bei dem Projekt um die Wahrung der Erinnerungen von (und an) Holocaust-Überlebende. Als solches dient es vor allem als ein historisch-spezifisches Dokument. Erinnerungspolitisch kommen dem Projekt allerdings viel breitere Funktionen zu. Die Zeugnisse sind nicht auf Juden beschränkt, sondern sollen auch andere Opfer und die Retter einschließen. Diese Stiftung macht sich auch zum Ziel, zur Toleranz zu erziehen. Das äußerste Ende der Universalisierung des Holocaust ist damit erreicht: der Holocaust als Toleranzproblem. Das entspricht auch dem Anspruch einer anderen bekannten HolocaustInstitution, des Simon Wiesenthal Center in Los Angeles und eines seiner größten Ableger, des Beit Hashoah Museum of Tolerance, wo der Holocaust mit allen möglichen Toleranzverletzungen in Zusammenhang gebracht wird (z.B. Rassismus). Spielbergs Projekt ist nicht das erste Videoprojekt, welches Augenzeugnisse von Holocaust-Überlebenden sammelt. Aber bis dahin waren diese Vorhaben an Universitäten und Forschungsinstitute gebunden und zumeist nur einer kleinen Zahl von Spezialisten bekannt. Mit Spielberg werden diese Videozeugnisse aus dem wissenschaftlichen Umfeld der Universität herausgenommen und einem sehr viel größerem Publikum zur Verfügung gestellt. Spielberg wird vorgeworfen, mit dem Holocaust Geld zu verdienen – das so genannte »Kommerzialisierungsargument« wird also auch ihm entgegengehalten. Weiterhin wird gegen ihn eingewandt, er verflache den Holocaust (»Trivialisierungsargument«). Es werden auch Historiker zitiert, die davon ausgehen, dass die Videozeugnisse keinen historischen Wert haben, da sich die Überlebenden nicht mehr wirklich erinnern können (»Authentizitätsargument«). Und natürlich der schwerwiegendste Vorwurf: diese Beschäftigung mit dem Holocaust komme eben aus den USA (»Amerikanisierungsargument«). Dass hier eine Art Pakt zwischen der Populärkultur und den Überlebenden selbst geschlossen wird, der sowohl staatliche Institutionen als auch so genannte Experten ausschließt, wird dagegen kaum wahrgenommen.
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Man muss unterscheiden zwischen dem Verständnis des Holocaust als schlimmstes Verbrechen an der Menschheit und damit als Höhepunkt des universalen Rassismus, und dem Holocaust als Höhepunkt der Geschichte des Antisemitismus. Antisemitismus betrifft nur Juden, Rassismus kann jeden betreffen. In dieser Spannung entstand das amerikanische Erinnern an den Holocaust. Hier spielt das Verhältnis zwischen den amerikanischen Juden (3 Prozent der amerikanischen Bevölkerung) und Amerika als Staat mit seiner überwältigenden nichtjüdischen Mehrheit eine Rolle. Die Erinnerungen der Überlebenden wurden Teil der amerikanischen Erinnerung, der Holocaust Teil der amerikanischen Geschichte (vgl. Young 1993). Dadurch verliert der Holocaust seinen ausschließlich europäischen Bezugspunkt. Er wird durch seine Amerikanisierung entortet. 1993 war ein entscheidendes Jahr für die fortschreitende Entortung der Holocaust-Erinnerung. Nach 15-jähriger Vorbereitung wurde das U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington feierlich eröffnet, und einige Monate später kam Spielbergs Film Schindlers Liste in die Kinos. Die Konzeption des Museums bestand von Anfang an darin, einen Brennpunkt für die Spannungen zwischen Universalismus und Partikularismus zu schaffen (dazu ausführlich Linenthal 1995). Am Ende waren beide Positionen vertreten. Elie Wiesel, der auf der »Singularität« der jüdischen Katastrophe bestand, versuchte in seiner leitenden Funktion im Museum, andere Opfergruppen auszuschließen. So bemühten sich etwa armenische Gruppen, in der Ausstellung berücksichtigt zu werden. Dies wurde unter anderem auch von der türkischen Regierung verhindert. Der ehemalige wissenschaftliche Leiter des Museums, Michael Berenbaum, formulierte die Zielsetzung folgendermaßen: »Es ging darum, die Geschichte des Holocaust so zu erzählen, dass sie nicht nur bei dem Überlebenden in New York und seinen Kindern in San Francisco Anklang finden würde, sondern auch bei einem Führer der Schwarzen, einem Bauern aus dem Mittleren Westen und einem Industriellen aus dem Nordosten« (Berenbaum 1990: 19). Damit war das Anliegen klar: Der Holocaust durfte, was die Vergangenheit angeht, nicht universalisiert oder »humanisiert« werden. Die Täter waren Deutsche und die Opfer Juden. Aber dieses Programm Berenbaums drückt auch klar aus, wie die amerikanischen Juden den in Europa begangenen Holocaust zum Teil der amerikanischen Mehrheitskultur umformen wollten. Die Geschichte des jüdischen Leids wurde mit den gegenwärtigen Institutionen der amerikanischen Politik und Gesellschaft verknüpft. Dies drückt auch die Ansiedlung des Museums auf der »Washington Mall« aus, dem Ort in der Bundeshauptstadt der USA, an dem weitere nationale Institutionen Ame-
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rikas angesiedelt sind. Der Holocaust, der ja, sieht man einmal von der Befreiung der Konzentrationslager im Westen ab, nur sehr indirekt mit amerikanischer Vergangenheit zu tun hatte, wurde nun zum Teil der amerikanischen Geschichte und Tradition. Amerika steht für alles, was der Holocaust negierte. Deswegen sehen die Besucher des Museums als erstes Bild die Befreiung von Lagerhäftlingen durch amerikanische Soldaten. Die Nationalisierung des Holocaust, seine Verknüpfung mit Amerika, ja seine Amerikanisierung, lösten das Ereignis selbst aus seinem historischen und geographischen Rahmen. Diese Entkontextualisierung, eingebettet in die amerikanische Nationalisierung, die wiederum durch die ethnische Politik der amerikanischen Juden in Bewegung gesetzt worden ist, löste einen Prozess aus, der durch die nationalen Prozesse schon lange in Vorbereitung war. Hier bedeutet nun die Nationalisierung bzw. Amerikanisierung gleichzeitig Entortung. Durch diese Amerikanisierung wird die Holocaust-Symbolik auch an die christliche Mehrheitskultur Amerikas (und der westlichen Welt) angenähert. Viele Juden in Amerika hatten gerade mit dieser Christianisierung des Holocaust Probleme (vgl. Novick 1999: 11). Die Stationen des Leidens erinnern an die Via Dolorosa, und der im Museum vorherrschende Objektkult an die Sakralisierung des Leids. Hierbei sollte man natürlich nicht übersehen, dass Christianisierung gerade im Westen gleichbedeutend mit Universalisierung ist. Säkularisierung heißt, gerade in den USA, in erster Linie säkulares Christentum. Um also ein amerikanisches Museum werden zu können, musste sich das Holocaust-Museum »christianisieren«, im Endeffekt also universalisieren. Hier wird eine weitere Dichotomie, die eng mit der von Universalisierung und Partikularisierung zusammenhängt, in Frage gestellt. Es geht um die Identifikation zwischen jüdischem Partikularismus und christlichen Universalismus – eine Dichotomie, die integraler Bestandteil der westlichen Moderne ist. Aber es ist gerade der Zusammenbruch dieser Dichotomie, der heutige Erinnerungskulturen kennzeichnet. Ethnische Politik, gerade in den USA, hat auch dazu beigetragen, Partikularismus universal zu verstehen. Die amerikanische »Leitkultur« aber beinhaltet eine Inklusivität, insofern man als Amerikaner nicht ethnisch definiert ist und gleichzeitig das Ethnische legitimer Bestandteil kollektiver Identitäten ist. Diese Kombination eines formal nicht-ethnischen Selbstverständnisses mit der Kultivierung ethnischer Erinnerungen (und Lebensweisen) ist heutzutage auch durch eine multikulturelle Perspektive mehr oder weniger kodifiziert. Juden können problemlos Amerikaner und Juden sein. Die Erinnerungen können sich vermischen. Und da die christliche Leitkultur in Amerika, welche die Religion pluralisiert und individualisiert, von den verschiedenen protestantischen Kirchen gebildet wird, bedeutet die
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Christianisierung des Holocaust in Amerika auch seine Entkollektivierung und Individualisierung. Dies kommt schon in dem oben zitierten Berenbaumschen Museumskonzept zum Ausdruck.
Amerikanische Erinnerung? Steht Amerika also stellvertretend für die »Menschheit ohne Erinnerung«, wie einst Adorno annahm? Es gibt eine kennzeichnende Form kollektiver Erinnerung im Zeitalter der Globalisierung, und ein spezielles Phänomen ist dabei der Fall Amerika mit der besonderen Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust in diesem Land – beziehungsweise an das, was häufig die »Amerikanisierung des Holocaust« genannt wird. Was nun den übergreifenden Zusammenhang dieser Debatte betrifft, so hat im Verlauf der letzten zehn Jahre der Begriff der »Globalisierung«, und zugleich natürlich der der »Amerikanisierung«, den öffentlichen Diskurs geprägt – vor allem hinsichtlich der Aspekte Konsum und Populärkultur. Den heutigen Ängsten bezüglich des »Globalen« entsprechen vergleichbare Ängste bezüglich der »Amerikanisierung« – vor 100 Jahren wie heutzutage. Derzeit ist die Entstehung eines bestimmten Typus von kollektiver Erinnerung zu beobachten, der über die Grenzen des Nationalstaats hinausgeht, ohne dabei zwangsläufig nationale Erinnerungen zu ersetzen. Diese Art von Erinnerung lässt sich als »global« oder sogar »kosmopolitisch« bezeichnen. Es handelt sich dabei um Erinnerungen, die von einer bestimmten Gruppe von Leuten geteilt und verbreitet werden, deren Forderungen nach kollektiven Identitäten sich nicht mehr in spezifischen nationalen, sondern in universalistischen Begriffen ausdrücken. Auch hier spielt Amerika eine entscheidende Rolle. »Globale« oder »kosmopolitische« Erinnerung ist unter anderem das Produkt eines Zusammenstoßes zwischen verschiedenen räumlichen Identifikationsformen und Ängsten, die sich mit der Zeit verändern. Die geteilten Erinnerungen an den Holocaust schaffen die Grundlagen für eine neue kosmopolitische Erinnerung: eine Erinnerung, die über ethnische und nationale Grenzen hinausgeht. Aber ist es möglich, sich an ein Ereignis, das von vielen als Wendepunkt in der europäischen Geschichte bezeichnet wird, außerhalb der ethnischen und nationalen Grenzen der jüdischen Opfer und der deutschen Täter zu erinnern? Kann dieses Ereignisses durch Menschen gedacht werden, die keine direkte Verbindung dazu haben? Und welche Rolle spielt Amerika in dieser neuen Erinnerungsbildung? Die Wahl des Holocaust erfolgt nicht willkürlich. Der Holocaust – oder eher die Darstellungen, die gemeinsame Erinnerungen produzie-
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ren – ist ein beispielhafter Fall für das Verhältnis von Erinnerung und Moderne. Die Moderne, noch bis vor kurzem eines der wesentlichen analytischen und normativen Grundgerüste für das intellektuelle Selbstverständnis, wird nun durch die Erinnerungen an den Holocaust selbst in Frage gestellt. Aus dieser Sicht wird der Massenmord an den europäischen Juden durch die Nazis nicht als eine deutsch-jüdische Tragödie verstanden, sondern als eine Tragödie der Vernunft oder der Moderne selbst. Jedoch sind diese Erinnerungen, jenseits der Kritik an der Moderne, in einem Zeitalter der ideologischen Ungewissheit zu einem Maß für humanistische und universalistische Identifikationen geworden. Man könnte sogar behaupten, dass es eine Verwandtschaft zwischen den Erinnerungen an den Holocaust und seine Folgen sowie den Ereignissen und Debatten nach dem 11. September 2001 gibt. Die Erinnerungen an den Holocaust ermöglichen zu Beginn des dritten Jahrtausends die Entstehung von transnationalen Erinnerungskulturen, die wiederum das Potenzial besitzen, die kulturelle Grundlage für eine globale Menschenrechtspolitik zu werden. Menschenrechte bedeuten, dass der Völkermord einen weiteren Grad an Universalität erhält. Denn die Idee des Völkermords enthält die Ermahnung, dass eine moralische Welt nicht untätig zusehen kann. Die Anklage wegen »Völkermords« beinhaltet inzwischen eine Reihe von Handlungen, die mit dem Holocaust vergleichbar sind. Die Menschenrechte, die ihre modernen rechtlichen Ursprünge in den Resolutionen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948 haben, hängen in der Praxis mit der sogar noch stärkeren Behauptung zusammen, dass der Holocaust ein rutschiger Abhang sei – sodass jeder Akt ethnischer Unterdrückung die Lawine zum nächsten Holocaust ins Rollen bringen könnte, falls er nicht kontrolliert werde. Wenn zudem die Menschenrechts- und Völkermordkonventionen der Vereinten Nationen ernst genommen werden – was erforderlich ist, wenn sie als Berechtigung zum militärischen Eingreifen dienen –, führt die Entwicklung dieser Doktrin unausweichlich zur Generalisierung von Völkermord, über den Massenmord hinaus. Deshalb spielt die Erinnerung an den Holocaust als eine generalisierte Katastrophe in einer globalen und individualisierten Gesellschaft so eine wichtige Rolle. Es ist auch kein Zufall, dass der Holocaust bei der Neugestaltung der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges eine Hauptrolle spielt. Grund dafür ist sein Status als ein unbestrittener moralischer Wert, in dem scheinbar alle Menschen übereinstimmen können.
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Anmerkungen 1 Lanzmans Kritik wurde erneut deutlich, als er im März 2001 eine Fotoausstellung über die Konzentrations- und Vernichtungslager in Paris kritisierte. Er sagte: »Was ist die Rolle der Fotografie? Was kann sie bezeugen? Es geht nicht um Dokumentation, sondern um die Wahrheit« (Riding 2001). 2 Eine Selbstdarstellung des Projekts findet sich auf der Website der Stiftung: www.vhf.org/.
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Vom Erdbeben in Lissabon zu Oprah Winfrey: Leiden als Identität im Zeitalter der Globalisierung Eva Illouz
Am 1. November 1755 erschütterte ein Erdbeben die Stadt Lissabon. Die Nachricht von der Katastrophe erreichte die französischen philosophes schnell und entfachte eine der berühmtesten philosophischen und theologischen Kontroversen der französischen Geistesgeschichte. Nachdem Zehntausende bei der Katastrophe ums Leben gekommen waren, debattierten die Philosophen erregt über die Rolle der Vorsehung im menschlichen Leben. Voltaire, der auf das Unglück am schnellsten reagierte, schrieb 1756 in seinem Poème sur le Désastre de Lisbonne: »Philosophen, getäuscht, sagen: ›Alles ist gut.‹ Kommt, das Unglück bedenkt! Aschenhaufen und Scherben, Trümmer, Bruchstücke, Not, grauenvolles Verderben! Frauen, Kinder gehäuft, eins aufs andre fiel nieder. Marmor brach. Unter ihm liegen nun ihre Glieder. Unglück, Tausende sind’s, die die Erde verschluckt, deren blutiger Leib, schon zerrissen, noch zuckt, die begraben vom Haus – Beistand kann keiner spenden – jammervoll ihrer Qual Schreckenszeiten beenden« (Voltaire 1994: 61).1 Voltaire geht sogar noch weiter und macht deutlich, was an der Sache philosophisch nicht akzeptabel ist: »Welcher Tat, welcher Schuld sind sich Kinder bewusst, die verblutend zerquetscht sind an der Mutterbrust? Lissabon, hattest du denn an Lastern so viel? Schwimmen London, Paris nicht in Genüssen und Spiel?
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Als Lissabon versank, tanzt’ Paris noch dazu« (Voltaire 1994: 62).2 Gestatten Sie mir einige einleitende Bemerkungen. Soweit ich weiß, ist Voltaire der erste Philosoph, der sich wegen einer zeitgenössischen, aber räumlich entfernten Katastrophe zugleich an seine philosophischen Kollegen und an die Öffentlichkeit wandte und der dabei die Rolle der Vorsehung im Leben der Menschen kritisch hinterfragte.3 Voltaires kühner Gedankenschritt besteht darin, dass er sich weigert, Leiden weiterhin als Strafe für verborgene Sünden oder als den rational nicht nachvollziehbaren, gleichwohl gerechten Willen eines unergründlichen Gottes anzusehen (Neiman 2002, Baczko 1997). Voltaire fordert, das Leid solle dem Bereich menschlicher Erkenntnisfähigkeit und Vernunft zugeordnet werden; darum könnten und sollten wir normale Maßstäbe von Gerechtigkeit an das Leid anlegen – und zwar wo immer es sich ereignet. Auf diese Weise bricht er nicht nur mit der traditionellen religiösen Theodizee, sondern auch mit dem literarischen Kult des Leidens im 18. Jahrhundert – einer Geisteshaltung, bei der Tränen mit Tugend gleichgesetzt wurden. Aus dem Leidensspektakel von Heldinnen wie Richardsons Pamela (Richardson 1740) wurde ein süßes Gefühl gemacht, eines, von dem man annahm, es werde beim Leser sanftes Mitgefühl hervorrufen (vgl. Boltanski 1999). Doch Voltaires Schauplatz ist global, nicht häuslich (wie bei Richardson und anderen Romanciers), und die Konfrontation mit dem Leid entfernter Mitmenschen macht uns, so Voltaire, auch nicht sanfter: Weder erhebt sie uns noch vermittelt sie uns das Gefühl, tugendhafter zu sein. Im Gegenteil, wenn das Leiden erst einmal aus den Bereichen der Theologie und der sentimentalen Literatur herausgelöst ist, kann es zu dem werden, was es hier, bei Voltaire ist: zum Skandal. Und es ist nicht nur deshalb ein Skandal, weil die Unschuldigen sinnlos leiden, sondern auch, weil sie leiden müssen, während andere in London oder Paris fröhlich und glücklich sind. Das Engagement des Philosophen für das Leid entfernter Mitmenschen findet in der Gegenwart statt und ist mit der Komprimierung räumlicher und nationaler Grenzen verbunden: Was in Lissabon geschieht, ist aus der Sicht des Londoner oder Pariser Geschehens skandalös, und umgekehrt. Wir sollten uns in Paris nicht beim Tanz wohlfühlen, wenn in Lissabon Menschen lebendig begraben werden. Überdies ist es bemerkenswert – auch wenn Voltaire hier wahrscheinlich nur die beliebte rhetorische Figur der Synekdoche (pars pro toto) verwendet –, dass er von Städten und nicht von Ländern spricht; vielleicht meint er damit eine untergründige Solidarität der Städte, eine Solidarität, die über die der betreffenden Länder hinausgeht. Indem er die Katastrophe von Lissabon in die Perspektive einer mora-
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lischen Allgemeinverständlichkeit rückt, die auf der ganzen Welt gilt, gelingt Voltaire gleich eine doppelte Tour de force: Er schafft eine proto-globale Öffentlichkeitssphäre – das heißt, einen Raum für Diskussionen über die moralische Kohärenz der Welt als eines Ganzen –, und er stellt die Frage nach der immanenten Rationalität der Welt unverrückbar ins Zentrum jener Beziehung, die Lissabon, Paris und London miteinander verbindet. Lissabon wird zerstört, während Paris weiter tanzt: Es ist dieser moralische Skandal, der das Aufkommen eines der zentralen Weltbilder eines säkularen, globalen Bewusstseins markiert (Weber 1946). Das Christentum mag durchaus eine wichtige Rolle bei der Entwicklung eines Bewusstseins von der Welt als einem Ganzen gespielt haben, doch würde ich sagen, dass einem globalen Bewusstsein niemals besser gedient wurde als durch den Zusammenbruch der traditionellen theologischen Diskurse über die Vorsehung. Es gilt in der Tat: Je schwächer und unhaltbarer die Erklärungen für die Diskrepanz zwischen dem Prinzip der (göttlichen) Gerechtigkeit und dem weltlichen Schicksal der Menschen wurden, desto eher wurde ein Weltbewusstsein des Unglücks und der Solidarität mit den Unglücklichen ermöglicht. Voltaires engagierte Beschäftigung mit dem Erdbeben von Lissabon steht paradigmatisch für das, was eine der Zentralachsen der globalen Öffentlichkeitssphäre werden sollte: die Überzeugung, dass die Kalamitäten der einen über territoriale und nationale Grenzen hinweg zum Problem der anderen werden können und sollten. In einer solchen Öffentlichkeit wird die Beziehung zum leidenden Objekt durch Vorstellungskraft, Mitgefühl und das Vergessen der eigenen religiösen und ethnischen Bindungen hergestellt. Die Vorstellungskraft, die Voltaire selbst einsetzt und von anderen fordert, verbindet Fühlen und Denken, Pathos und Logos, und sie lädt dazu ein, über Ordnung und Grundsätze der Welt nachzudenken – durch den gleichzeitigen Einsatz von philosophischen Debatten einerseits und von Emotionen wie Einfühlungsvermögen, Mitleid und Schuldgefühlen andererseits. So umfasste also das Projekt einer globalen Öffentlichkeit von Beginn an zwei unterschiedliche Sprachen, die auf zwei unterschiedliche Arten von Universalität abzielten. Da ist zum einen der rationale Impuls, dass es doch eine Korrespondenz zwischen Verdienst und Schicksal geben müsse und dass das Fehlen einer solchen Entsprechung begründet werden könne, aber auch müsse (vgl. Weber 1946, Neiman 2002). Die andere Sprache appellierte an das, was viele Philosophen des 18. Jahrhunderts als eine universale Fähigkeit der menschlichen Vorstellungskraft ansahen: an die Fähigkeit zu Mitleid und Mitgefühl (Hutcheson 1742, Smith 1759). Die Öffentlichkeitssphäre, wie sie Voltaire hier konstruiert, funktioniert auf beiden Ebe-
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nen; man ist zur Teilnahme an einer rationalen Diskussion über die Erkennbarkeit der Welt eingeladen, aber auch zur Identifikation mit den Opfern in der Ferne, wobei die Annahme einer universalen Mitmenschlichkeit zugrunde liegt. Wenn wir uns nun den zeitgenössischen globalen Medien zuwenden, so hat es den Anschein – wenigstens, wenn wir den Soziologen Glauben schenken –, als hätten sich diese radikal von Voltaires beunruhigendem Aufruf an die Öffentlichkeit entfernt. Bob Connell sagt zum Beispiel in seinem Artikel Sociology and World Market Society: »Wir haben es mit globalen Systemen der Massenkommunikation zu tun, die von der kommerziellen Phantasie beherrscht werden – Hollywood, TV-Soaps, Werbespots, Prominentenklatsch, eben alles, was den Hauptinhalt der Massenkultur ausmacht. […] Wir leben heute in einer Welt, in welcher der normale Inhalt der Massenkommunikation aus Lügen, Verzerrungen und kalkulierten Phantasien besteht. Da halte ich es nicht mehr für verwunderlich, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine kontinuierliche Abnahme der Mitgliederzahlen politischer Parteien, eine sich vertiefende Politikverdrossenheit und ein Zusammenbruch des mitbürgerlichen Engagements zu verzeichnen waren« (Connell 2000: 292). In der Tat rekrutieren uns nach Meinung vieler Kritiker die globalen Medien mittels derselben globalen Konsumutopie, die ihrerseits weltweit dieselben Ikonen verbreitet – Ikonen der Jugend, der Schönheit, des Glamours, des Überflusses und des Glücks. Welche Möglichkeiten solche Utopien für das globale Bewusstsein bereithalten, hat am besten Arjun Appadurai theoretisch erfasst. Seiner Meinung nach hat die transnationale Kultur der Vorstellungskraft neue Räume eröffnet und so die Phantasie zu einem integralen Bestandteil der globalen gesellschaftlichen und kulturellen Praktiken gemacht: »Das normale Leben wird heutzutage nicht so sehr durch die faktischen Gegebenheiten angetrieben, als vielmehr immer öfter durch die Möglichkeiten, die die Medien (direkt oder indirekt) als verfügbar suggerieren« (Appadurai 1996: 55). In dieser Sicht wird das globale Bewusstsein also durch das Spiel der Imagination, durch den offenen Charakter der Vorstellungen vom eigenen Leben und durch entterritorialisierte Phantasien charakterisiert. Meine These läuft jedoch darauf hinaus, dass die globale Imagination nicht nur eine utopische, sondern auch eine dystopische Seite hat. Vom Fotojournalismus über die Seifenopern bis zu den Abendnachrichten weiden sich die globalen Medien am Spektakel privaten und öffentlichen Leids. Ikonen des Schmerzes und der Verzweiflung sind – nicht weniger als die Ikonen des Glamours – das ständige, reguläre Sujet, aus dem sich die globale Vorstellungskraft speist.
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Im Folgenden möchte ich zeigen, wie man über das Bild vom Leiden im Kontext einer mittlerweile voll ausgebildeten globalen Öffentlichkeitssphäre nachdenken und wie man dessen Rolle und Funktion bestimmen kann. Zu fragen ist etwa, ob eine solche Leidensdarstellung das Versprechen enthält, Ausdruck eines kosmopolitischen Bewusstseins zu sein. Ist die Darstellung von, und die Identifikation mit, »skandalösem Leid« der Weg zur Schaffung transnationaler Solidarität?
Die Oprah Winfrey Talkshow Talkshows sind in der Arena des medialen Wettbewerbs die jüngste jener Gattungen, die Leiden dokumentieren, diskutieren und ihm eine Stimme verleihen. Und die Oprah Winfrey Show ist wahrscheinlich der beste Repräsentant dieses Genres – nicht nur, weil sie die Formel erfand, wie Menschen die endlosen Varianten ihres Unglücks diskutieren können, sondern auch weil Oprah Winfrey die kulturellen Möglichkeiten ihrer Show auf erschöpfende und zudem globale Weise erkundet hat. Auf der Website der Oprah Winfrey Show heißt es, sie sei »die angesehenste Talkshow der Fernsehgeschichte; sie wird täglich von 15 bis 20 Millionen Zuschauern in den USA und in 132 anderen Ländern gesehen. […] So mächtig ist die Gastgeberin dieser Talkshow, dass sie ihren Einfluss auch über ihre tägliche einstündige Plauderrunde hinaus geltend machen kann – überall, von der Verlagsbranche bis zu den Märkten für landwirtschaftliche Produkte.« Global ist die Oprah Winfrey Show nicht nur, weil ihr Publikum so zahlreich und weil die Sendung in 132 Ländern zu sehen ist, sondern auch weil das Format, in dem Winfrey menschliches Unglück präsentiert und verarbeitet, sich einer globalen Kulturform bedient. Und diese Kulturform ist es, mit der ich mich im Folgenden vorrangig beschäftigen werde. Die Oprah Winfrey Show ist in einer Schwindel erregenden Anzahl von Ländern zu sehen: Israel, Indien, Bahrain, China, Slowenien, Singapur und Thailand sind nur einige willkürlich herausgegriffene Beispiele. Im Verlauf eines Jahrzehnts sind Oprah Winfrey und ihre Show zu einer globalen Kulturform geworden. Unbestreitbar hat die Show in einigen Ländern, in denen sie zu sehen ist (etwa in Afghanistan), kaum Ähnlichkeit mit den dort herrschenden sozialen und kulturellen Bedingungen. In anderen Ländern jedoch ist es durchaus möglich oder sogar wahrscheinlich, dass das moralische und kulturelle Projekt dieser Show – die Vorführung von privatem »Leid« – auf Resonanz stößt und dem kulturellen Stoff der jeweiligen Gesellschaften ähnelt. Meine Frage lautet darum: Was macht die Geschichte des
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Leidens und der selbst induzierten Selbstveränderung zu einer kulturübergreifenden Geschichte? In welchem Sinne können wir die Oprah Winfrey Show als eine globale Kulturform charakterisieren? Bei meinem Versuch, diese Fragen zu beantworten, will ich zu zeigen versuchen, dass Winfrey und ihre Gäste eine kulturelle Tiefenstruktur nutzen, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, und dass diese Struktur in einem transnational gewordenen institutionellen Bezugsrahmen verkörpert ist. So lässt sich nicht nur der Mechanismus erklären, der den autobiographischen Diskurs in diesem Fernsehformat zur Routine werden lässt, sondern auch, wie es möglich ist, mit den grundlegenden Konzepten des Leidens und der Selbstveränderung eine so große Vielfalt persönlicher Berichte zu organisieren und zu verarbeiten. Die Oprah Winfrey-Formel ist ganz einfach: Man lässt eine oder mehrere Personen ihre Geschichte erzählen – meistens eine Geschichte, in der eine Ungerechtigkeit angeklagt wird, in der von einem Unglück oder Missgeschick berichtet oder ein herzzerreißendes Erlebnis geschildert wird. Erzählt wird die Geschichte in Zusammenarbeit mit anderen: mit den Gästen, dem Publikum, der Gastgeberin (oder dem Gastgeber) der Show und schließlich mit einem oder mehreren Experten, die sich auf die schwierige Kunst spezialisiert haben, Konflikte zu entwirren und zu erläutern, wie Menschen sich selbst und andere unglücklich machen. Selbst wenn die den Experten zugestandene Zeit relativ kurz ist, sind sie für die Show unverzichtbar. Denn sie sind es, die die verschiedenen Problemfälle, von denen die Gäste der Show berichten, einer Lösung zuführen – oder die wenigstens den Anschein erwecken, als sei eine Lösung möglich. Die Oprah Winfrey-Formel hat also einen dualen Charakter: Es geht zum einen um die unheimliche Vielfalt trauriger Lebenserfahrungen, die man in einem Gemeinwesen bis zum Überdruss machen kann, und zum anderen um die Autorität der Experten, überwiegend Psychologen: um deren Fähigkeit, die von den Gästen der Show vorgetragenen Konflikte zu beurteilen und zu schlichten. Die Oprah Winfrey Show handelt also von jener unendlichen Vielzahl von Streitereien, Dilemmas und Konflikten, die das Privatleben bestimmen. Und das Privatleben ist, wenn wir uns die Themen der Oprah Winfrey Show ansehen, absolut nicht langweilig, harmonisch oder herzerwärmend. Familienfehden, Ehestreitigkeiten, Verrat von Freunden und Liebhabern, die verheerenden Auswirkungen eines fehlenden Selbstwertgefühls, seltsame sexuelle Beziehungen, Kinder, die ihre Eltern denunzieren, Eltern, die ihre Kinder missbrauchen oder misshandeln, Frauen, die von ihren Ehemännern geschlagen werden, Männer, die von ihren Ehefrauen geschlagen werden – das sind die Hauptthemen der Oprah Winfrey Show, und sie lassen ein Bild des Privatlebens entstehen, das konflikt-
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beladen ist und in dem es häufig zu Formen des Leidens kommt, die ich als Leid von relativ »geringer« Intensität bezeichnen würde. Kurz und gut, man kann sagen, dass die Oprah Winfrey Show das kulturelle Genre schlechthin für Fälle von Identitätskrisen und mangelnder gesellschaftlicher Anpassung in Ehe, Liebe, Elternschaft und Sexualität ist. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Show ein klares demographisches Muster hat. Der Anteil von Frauen, Angehörigen ethnischer Minderheiten und Angehörigen der arbeitenden Klassen ist sehr hoch; dadurch erhält das Genre eindeutig eine populistische, feminine, bisweilen sogar feministische Ausrichtung. In Talkshows ausgesprochen unterrepräsentiert sind sehr erfolgreiche weiße Männer – es sei denn, sie nehmen die Rolle der Experten ein. Meine These soll nun durch die Vorstellung einer typischen Oprah-Winfrey-Geschichte untermauert und überprüft werden. Dieser Gast der Show, eine junge Frau, hat eine Autobiographie geschrieben und war überdies Gegenstand einer Fernsehdokumentation, die in den USA landesweit zu sehen war. Man kann also sagen, dass diese Geschichte reich an signifikanten Tiefenaspekten der amerikanischen Kultur ist. Ich zitiere, wie Oprah Winfrey ihren Gast in der Sendung vorstellte: »Bei der Geburt war dieses kleine Mädchen noch unversehrt und gesund, doch lange durfte sie sich nicht in Sicherheit wiegen … denn im Alter von zwei Jahren wurde Truddi Chase von ihrem Stiefvater brutal vergewaltigt und von da an fortlaufend missbraucht, bis sie im Alter von 16 Jahren davonlief. Doch damit war ihr Alptraum noch nicht beendet, denn als Folge einiger der schrecklichsten Misshandlungen, der schrecklichsten Dinge, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, konnte Truddi Chase ihren Schmerz nur dadurch bewältigen, dass sie sich in viele verschiedene Persönlichkeiten aufspaltete. Schließlich beliefen sich all diese Persönlichkeiten – das wurde in der Dokumentation festgehalten – auf 92 verschiedene Menschen, die alle in einem einzigen Geist zu Hause waren. Sie nennt sie ihre ›Truppen‹ … Wo ist sie jetzt? Truddi Chase – die wahre Truddi Chase – unterzog sich jahrelang einer Therapie, und der größte Teil dieser Therapie – [Unterbrechung, weil Winfrey weinen muss] wurde auf Videobändern aufgezeichnet, weil Truddi sagt, sie wolle, dass auch andere eines Tages in der Lage sein sollen zu verstehen, dass sie nicht allein sind, wenn sie sich mit ihrem Missbrauch auseinandersetzen. Und das ist letztlich auch der Grund, warum wir diese Sendung heute machen.«4 Wie viele andere Gäste der Oprah Winfrey Show ist Truddi ein Opfer. Man könnte sogar sagen, dass Truddi ein Super-Opfer ist. Aber sie ist nicht das Opfer eines brutalen Massenmordes, einer Naturkatastrophe oder krasser sozioökonomischer Ungerechtigkeiten. Sie ist das 92-fache Opfer schwerer psychischer Schäden, die ihr ein Mann zugefügt hat, der zum Kreis ihrer Familie gehörte. Fachleute würden sagen,
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dass diese Frau an Missbrauch in ihrer Vergangenheit und an einem traumatischen Syndrom leidet. Wie bei vielen anderen Gästen der Oprah Winfrey Show ist Truddis Lebensgeschichte interessant und für die Darstellung im Fernsehen geeignet, weil sie in ihrer Familie und durch ihre Familie gewaltsam zum Opfer wurde. Es ist leicht und fast banal festzustellen, worin sich diese Art, Leid öffentlich zur Schau zu stellen, von Voltaires proto-globaler Öffentlichkeitssphäre unterscheidet. Zunächst fällt ins Auge, dass an die Stelle der Kinder, die in Lissabon an der Mutterbrust unter dem Dach des eigenen Hauses zerquetscht wurden, nun eine Kindheit getreten ist, die durch elterliche Vernachlässigung oder elterlichen Missbrauch zerstört wurde. Die Zerstörung der Stadt wird durch die Zerstörung von Familien und Seelen ersetzt. Während Voltaire die umfassende, sichtbare, objektive physische Zerstörung menschlichen Lebens zur Sprache bringt, werden wir bei Oprah Winfrey zu Zeugen des psychischen Leids einer Einzelperson, und dieses Leid ist per definitionem intim, subjektiv und Teil der Privatsphäre. Während, zweitens, Voltaires clevere philosophische und rhetorische Konstruktion darin bestand, die moralische Nähe Lissabons zu Paris mit der nicht zu überbrückenden phänomenologischen Distanz zu kontrastieren, die zwischen Lissabon und Paris liegt – diese Distanz zu überbrücken, bemüht sich ja gerade die Debatte über göttliche Gerechtigkeit –, beruhen Talkshows auf dem Strukturprinzip unmittelbarer Gegenwart und Intimität sowie auf dem Prinzip der Widerspiegelung von Erfahrungen und Lebensgeschichten unter Gästen, Studiopublikum, Zuschauern und Gastgeber. Tatsächlich ist in einer Talkshow alles darauf ausgerichtet, die Distanz zwischen Glücklichen und Unglücklichen zu unterdrücken und uns alle gemeinsam zu Opfern zu machen, wenigstens zu potenziellen Opfern. Wie Robert Hughes, ein wichtiger Beobachter der amerikanischen Kultur, sagt, sind Talkshows »nur das prominenteste Symptom einer immer bekenntnisfreudigeren Kultur, einer Kultur, in der die Demokratie des Schmerzes an erster Stelle steht. Nicht jeder kann reich und berühmt sein, aber gelitten haben wir alle schon einmal« (Hughes 1993: 17). Während, drittens, in Voltaires Öffentlichkeitssphäre die leidende Person nur indirekt erfasst werden konnte – durch die Vermittlung des Auges und der Worte eines anderen –, hat in der Talkshow die leidende Person eine direkte Handlungsfähigkeit errungen. Sie ist Zeuge in eigener Sache und zieht uns in die radikale Subjektivität ihrer Sprache und Gefühle hinein. Während, viertens, bei Voltaire die Sprache referentiell eingesetzt wird – er spricht über eine Katastrophe, die sich woanders ereignet hat –, hat die Sprache in Talkshows im Wesentlichen performativen Charakter. Die Enthüllung dunkler Geheimnisse aus dem Familienleben
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in der Öffentlichkeit ist das »Ereignis«, über das berichtet und das in der Show inszeniert wird. Und dies geschieht, weil darüber zu sprechen bereits eine Art Heilungsprozess ist. Wie so vieles in der amerikanischen Kultur ist auch die Oprah Winfrey Show ein tief greifend therapeutisches Genre; sie gründet auf dem von Gastgeber, Gästen und Experten geteilten Glauben, dass eine Enthüllung von Emotionen und ein Gespräch darüber »befreiend« wirke und Veränderungen einleite. Fünftens sind Voltaires Opfer einfach nur Opfer einer absurden Katastrophe, während Truddis Opferrolle und Leid eine individuelle Bedeutung erlangen – eine Signifikanz, die Voltaires Opfern fehlt. Die leidende Person wird in der Talkshow aufgerufen und ermuntert, an sich und ihrem Schmerz zu arbeiten und daraus ein sinnvolles Lebensprojekt zu machen. Zugleich ist das Opfer heilig geworden; Truddi hat einen einzigartigen moralischen Status gewonnen. Die leidende Person bleibt normalerweise nicht nur von moralischen Urteilen verschont, sondern ihr Leid verlieht ihr per se einen Sonderstatus und eine ganz eigene Würde. Abschließend der vielleicht wichtigste Gesichtspunkt: Während sich Voltaire auf das theologische Chaos bezieht, das Unschuldige leiden lässt, beschränkt sich Oprah Winfrey in ihren Diskussionen fast ausschließlich auf das weltliche Chaos, das in den Familien und in Fragen der Identität herrscht. Wo Voltaire die Frage nach der Bedeutung und moralischen Kohärenz einer Welt stellt, in der sich das Leid zufällig verteilt, beschränkt sich Winfreys Show weitgehend auf die Frage, wie sich Identität und psychische Kohärenz aufbauen lassen, wenn Familie, Liebe und Ehe als zuverlässige Quellen für den Identitätsaufbau ausfallen. Um es noch präziser zu sagen, ich bin der Meinung, dass es in der Oprah Winfrey Show um eine bestimmte Form sozialen Leidens geht, die ihren Ursprung in der Familie hat und die vom Erfahrungshorizont und Standpunkt der Frau innerhalb der Familie aus artikuliert wird. Dieses soziale Leiden hat das endlose Streiten und Feilschen zum Gegenstand, das sich in den Familien ereignet. Es geht um die Tatsache, dass man – um es mit Andrea Dworkin zu sagen – »nicht klar zwischen normalen und missbräuchlichen« Beziehungen zwischen Mann und Frau unterscheiden kann (zitiert bei Nussbaum 1999: 245). Und schließlich geht es auch noch um die diversen Formen des Scheiterns der zeitgenössischen Familie bei der Bewältigung ihrer Aufgabe, immer aufs Neue Identität zu schaffen und zu reproduzieren. Wir haben es hier mit einer gewissen Ironie zu tun: Während Fotojournalismus und Abendnachrichten als Genres regelmäßig Bilder von Krieg, Hunger und Naturkatastrophen – überwiegend, aber nicht ausschließlich aus der nichtwestlichen Welt – in den Westen
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importieren, bildet die Talkshow das erste Fernsehgenre, das amerikanische Formen des Leidens in den Rest der Welt exportiert – und damit ein Leid, das sich signifikant vom »importierten Leid« unterscheidet. Denn dieses Leid ist individuell, es gehört in die Privatsphäre, hat psychischen Charakter und betrifft das Selbst. Das importierte Leid ist überwiegend visuell, das exportierte amerikanische Leid weitgehend narrativer Art. Während die erste Form des Leids eine tägliche, inzwischen weitgehend routinierte Erinnerung an die ungleichmäßige, ungerechte Verteilung der natürlichen Ressourcen der Erde ist, gibt sich die zweite Form demokratischer: Dieses Leid betrifft alle, und es appelliert an uns alle, uns der Gemeinschaft der Leidenden anzuschließen. Der Rest meines Beitrags widmet sich der Klärung der Art und Weise, wie die Oprah Winfrey Show zwei Eigenheiten auf einen Nenner bringt, die sich zu widersprechen scheinen: zum einen die Tatsache, dass diese Show fast ausschließlich ein amerikanisches Phänomen darstellt, und zum anderen, dass Winfrey eine kulturelle Form erfunden hat, die als schönes Beispiel für das gelten kann, was Arjun Appadurai (2000) »Globalisierung von unten« oder Ulrich Beck (1997) »Globalisierung von innen« nennt – eine Form, die in den Lücken und Widersprüchen zu lokalisieren ist, die im Gefolge der ökonomischen und politischen Globalisierung entstanden sind.
Eine sehr amerikanische Geschichte Als Genre, das die Familie unablässig dekonstruiert, entstammt die Oprah Winfrey Show der besonderen sozialen Erfahrungswelt afroamerikanischer Frauen. Diese Sonderrolle hat damit zu tun, dass die schwarzen Familienstrukturen während des 19. Jahrhunderts systematisch »dekonstruiert« wurden, um sie den ökonomischen und geographischen Bedürfnissen und Forderungen der weißen Sklavenhalter anzupassen. Darüber hinaus arbeiteten schwarze Frauen, wie Patricia Hill Collins und andere hervorgehoben haben, in großer Zahl im Haushalt, wobei sie eine einzigartige Sicht der Familie gewannen und eine Rolle spielten, die sich mit dem Begriff »Außenseiter im Innern« charakterisieren lässt (Collins 1990). Genau diese Perspektive des Außenseiters im Innern ist es auch, in der sich der Zuschauer der Oprah Winfrey Show wiederfindet. Dank der intensiven Individualisierungsprozesse, welche die zeitgenössische amerikanische Familie durchlaufen hat (Beck und Beck-Gernsheim 1990, Beck 1997), ist diese Sicht bezüglich der Familie inzwischen sozusagen zur »Normalität« geworden. Weil überdies in den USA der Wohlfahrtsstaat bei der Bereitstel-
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lung von Hilfe für Einzelne und Gemeinschaften nur eine sehr unbedeutende Rolle gespielt hat, entwickelte sich in den USA schon früh ein starkes Individualethos, bei dem das Selbst zum alles entscheidenden Ort sozialer Identität wurde. Die Oprah Winfrey Show ist ein geradezu paradigmatisches Genre, um das Selbst zu inszenieren, zur Schau zu stellen, zu verbessern und zu transformieren. Das therapeutische Ethos, das sich auf die grundlegende Überzeugung stützt, dass das Selbst formbar sei, ist in der amerikanischen Kultur insgesamt ein sehr wirkungsmächtiger Diskurs geworden, und das gilt im Speziellen natürlich auch für die Oprah Winfrey Show, gerade weil im US-Kontext das Ich als eigenverantwortlich gilt, wenn es gilt, soziale Institutionen zu verkörpern und zu reproduzieren. Hier liegt eine Teilerklärung dafür, dass das Spektakel chaotischer Familienverhältnisse und gescheiterter Biographien in der Oprah Winfrey Show eine so wichtige Rolle spielt. Hier werden zwei mächtige soziale Schauplätze und Utopien der amerikanischen Kultur thematisiert: die Familie und das Selbst, die beide unter dem Druck der Individualisierungstendenzen enormen Spannungen ausgesetzt sind und ihre Struktur verlieren. In hohem Maße steht das Spektakel psychischen Leids für eine radikale Kompression der Welt, denn teleskopartig werden nicht nur London und Lissabon zusammengeführt, sondern auch eine individuelle Biographie und die Welt. Von der Zurschaustellung befleckter Kleider bis zur schweren Kindheit aufgrund fehlender Selbstachtung haben Talkshows die Bedeutung von Intimität radikal verändert, indem sie individuelle Biographien komprimieren und mit der Welt zusammenführen. Durch die Show werden Zuschauer in Indien, England, Israel oder den USA tagtäglich Zeugen düsterer Individualund Familiengeheimnisse. Ermöglicht wird eine solche Kompression nicht durch billigen Voyeurismus, sondern durch einen Prozess, den ich als »Standardisierung der Lebensbeschreibung« bezeichne. Oprah Winfreys kultureller Erfindungsreichtum liegt in der Tatsache, dass ihre Show ein Format bereitstellt, in dem unterschiedlichste biographische Diskurse erzählt, verarbeitet und verändert werden können. Einer ihrer kreativsten Schachzüge bestand darin, ihre eigene Biographie so in ihre Show einzubringen, dass deren Format gewahrt blieb und ihre Erzählung die Geschichten ihrer Gäste genau widerspiegelte. In einer ihrer ersten Shows zum Beispiel, in der es um das Leiden am eigenen Übergewicht ging, kam sie auf ihr eigenes – sichtbar zu großes – Gewicht zu sprechen, wobei sie immer wieder auf ihren üppigen Körper als Resultat ihrer Ängste und ihres fehlenden Selbstwertgefühls verwies, die wiederum aus einer dysfunktionalen Kindheit herrührten. Die drei oder vier Meilensteine von Oprahs Karriere als Talkshow-Gastgeberin hatten in der Tat mit Enthüllungen aus ihrem eigenen Leben zu tun: ihren Problemen mit Essen und Diät, ihrer
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Geschichte als Opfer sexuellen Missbrauchs (wiederum in einer Sendung über sexuellen Missbrauch), ihrer Abtreibung und ihren Problemen mit der Selbstachtung – alles Offenbarungen, die signifikanten Einfluss auf die Popularität ihrer Show hatten. In unserem Zusammenhang noch interessanter ist allerdings, dass sich Oprahs Leben nach diesen Enthüllungen veränderte. Sie wurde immer schlanker, erfolgreicher und stellte ein neu gefundenes Selbstbewusstsein zur Schau – und wurde so ihr eigener idealtypischer Gast, indem sie wiederholt am Beispiel ihres eigenen Körpers und ihrer eigenen Psyche demonstrierte, dass das Fernsehen Leben verändern kann und dies tatsächlich tut. Mit einer gewissen Ironie gibt Oprah Winfrey als Erste ein Beispiel dafür, wie soziale Erfahrungen und soziale Beziehungen zunehmend durch den Nexus von Medien und Expertenwissen, überwiegend psychologischer Art, vermittelt werden. Im Gegensatz zu Hollywood-Stars, die in erster Linie visuelle Ikonen sind, ist Oprah Winfrey eine biographische Ikone, die sozusagen durch und für das Fernsehstudio geschaffen wurde. Die wichtigsten Episoden, die ihr Leben prägten, haben sie bekannt gemacht – Episoden, die alle mit der Geschichte eines gescheiterten Selbst zu tun haben –, vor allem aber die Art und Weise, wie sie ein derart gescheitertes Selbst in ein sehr erfolgreiches Ich verwandelte, indem sie die kombinierte Wirkungsmacht ihrer eigenen Talkshow und des therapeutischen Wissens nutzte. Die Form, die Oprah in die Lage versetzte, ihre eigene Biographie und die Lebensgeschichten ihrer Gäste in handliche Größen zu packen, ist die »therapeutische Erzählung«, wie ich sie nennen möchte. Am 20. Juni 1990 strahlte ABC zum Beispiel eine Oprah-Sondersendung aus, ein Interview, das ihr Biograph George Mair wie folgt zusammenfasst: »Im Zentrum dieses Programms stand, was nach Oprahs Meinung der Grund für die meisten Probleme dieser Welt ist. Aus Mangel an Selbstachtung missbrauchen, wie Oprah glaubt, die Menschen andere, die schwächer sind als sie; aus demselben Grund werden Kriege ausgetragen und Verbrechen begangen. […] Oprah wollte erläutern, wie wichtig die Selbstachtung für das Glück eines jeden ist« (Mair 1998: 204). Eine therapeutische Erzählung ist eine Geschichte über das Selbst, die gegenwärtiges Leid mit einem – oft als Trauma bezeichneten – Ereignis aus der Vergangenheit oder mit ganz alltäglichen, sich wiederholenden Beziehungen zu Familienangehörigen verbindet. Das Trauma kann durch ein äußeres Ereignis hervorgerufen worden sein, doch seine Bedeutung beschränkt sich auf das Innenleben. Wie alle Erzählungen ist auch die therapeutische durch eine Spannung zwischen dem Ziel und den Hindernissen strukturiert, die auf dem Weg dorthin überwunden werden müssen. In der thera-
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peutischen Erzählung ist das Ziel psychisches Wohlbefinden, während die Hindernisse auf dem Weg zu diesem Wohlbefinden die Handlung am Laufen halten (Erzähltheoretiker würden hier von Handlungskomplikationen sprechen). Therapeutische Erzählungen strukturieren den biographischen Diskurs durch die Auswahl der Ereignisse, die als signifikant für das eigene Leben gelten (»Mein Vater hat sich nicht besonders für mich interessiert«), durch die Art und Weise, wie kausale Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt werden (»darum neige ich dazu, mich mit Männern abzugeben, die sich nicht emotional binden wollen«), und durch die Ziele, die man im eigenen Leben erreichen sollte (»nicht um die Aufmerksamkeit meines Vaters buhlen«, »die richtigen Männer auswählen«). Es ist unschwer zu erkennen, wie und warum sich therapeutische Lebensbeschreibungen auf das Leid konzentrieren: Leid ist die wichtigste Komplikation in einer weiter gefassten, auf das Wohlergehen abzielenden Erzählung. Personen, die es nicht schaffen, die vielen Aufgaben zu bewältigen, die man im spätmodernen Zeitalter beherrschen muss, um die komplizierte Partitur von Arbeit und Familie zu orchestrieren, werden höchstwahrscheinlich nicht nur reales soziales Leid erfahren – Einsamkeit, Stress, Depressionen, Ängste –, sondern auch nach den frühen Wunden suchen, die dazu geführt haben, dass sie ihren Aufgaben nicht gewachsen waren. Weil die Biographie – um mit Ulrich Beck und Elsabeth Beck-Gernsheim (1995) zu sprechen – zur selbst erfundenen Biographie geworden ist, zu einem reflexiven Projekt, dessen Ziele nur durch die Sisyphusarbeit von Selbstbeobachtung, Selbstanalyse und Selbstverstehen zu erreichen sind, stellen therapeutische Erzählungen die mentalen, sprachlichen und emotionalen Strukturen bereit, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Biographie formen – und zwar genau deshalb, weil sie das Selbst (tatsächlich oder scheinbar) zum alleinigen Orchestrator und Gesetzgeber der sozialen Biographie machen. In unserem Zusammenhang geht es dabei um zwei Dinge: Erstens, Oprah Winfreys eigene Biographie und die Biographien ihres anscheinend endlosen Reservoirs an Gästen sind das Hauptprodukt, das sie geschaffen und aus dem sie einen enormen Mehrwert gezogen hat. Und sie hat, zweitens, aus Biographien eine Ware gemacht, indem sie das therapeutische Format benutzte, um ihre eigene Biographie und die Lebensgeschichten ihrer Gäste neu zu fassen. Therapeutische Erzählungen haben eine paradoxe Eigenschaft, die gewissermaßen auch für die Globalisierung im Großen gilt: Sie konstituieren sehr spezielle, individualisierte Identitäten, nicht ohne zugleich die Biographien auch zu standardisieren. Der standardisierte therapeutische Lebensbericht ist somit zugleich individualisiert und rationalisiert. Während Oprah in ihrer Show einerseits eine große
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Bandbreite einzelner Geschichten bietet, die von singulären Formen des Schmerzes berichten und individuelle Stimmen inszenieren, werden diese speziellen Geschichten gleichwohl im Rahmen einer standardisierten Kulturform dargeboten, die wir mit einem von John Tomlinson (1999) geprägten Begriff als »standardisierte Intimität« bezeichnen können. Dabei dekontextualisiert die Leidensgeschichte als standardisierte Kulturform das Bild des Geschichtenerzählers mit Hilfe von fünf kulturellen Kunstgriffen. 1. Der erste Kunstgriff betrifft die visuelle Technik, also Kameraführung und Studiostil. Das Genre der Talkshow dekontextualisiert die Charaktere schon allein dadurch, dass die Menschen und ihre Geschichten im abstrakten, neutralen Kontext eines Fernsehstudios gezeigt werden. Häufige Nahaufnahmen und eine fast ausschließliche visuelle Konzentration auf das menschliche Gesicht sorgen dafür, dass dieses Genre zugleich intim und in hohem Maße dekontextualisiert wirkt. »Die Produzenten versuchen, wenigstens Spuren des Live-Spektakels zu inszenieren und einzufangen«, sagt Daniel Keyes, »aber zugleich werden die meisten Zeichen der Lokalität und der Temporalität eliminiert, damit die Programme im ganzen Land und möglichst auch international gezeigt und in Syndikaten vermarktet werden können« (1999: 2). Die Talkshow findet also in einem sehr abstrakten Raum statt, dem räumliche oder kulturelle Kennzeichnungen fehlen. Die vielen Close-ups tragen zu einem der originellsten Merkmale solcher Shows bei: Sie verbinden sehr spezielle und individualisierte Geschichten, indem sie diese in einen abstrakten, »dekontextualisierten« Kontext stellen. 2. Mit Giddens können wir sagen, dass in Talkshows persönliche Beziehungen und persönliche Intimität aus ihren räumlich-zeitlichen Kontexten »herausgehoben« werden, damit sie in einer visuellen und kulturellen Form verwertbar sind, die »abstrakt« ist – in dem Sinne, den Marx oder Simmel diesem Begriff gegeben haben, wenn sie vom Geldkreislauf sprechen. So wie das Geld einen konkreten Wert (zum Beispiel: mit diesen Schuhen kann man laufen) in einen abstrakten verwandelt (diese Schuhe kosten 200 Euro und haben damit den gleichen Wert wie ein Flugticket), verwandelt die Talkshow die konkreten, singulären Erfahrungen einer Person in eine dekontextualisierte Leidenserzählung, die damit denselben Wert erhält wie andere singuläre Erzählungen. Das Opfer sexuellen Missbrauchs wird gleichwertig mit dem Opfer emotionaler Misshandlungen, und dieses Opfer wiederum erhält den gleichen Stellenwert wie ein Opfer emotionaler Vernachlässigung. Während viele Kommentatoren immer wieder behaupten, Talkshows wür-
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den die Öffentlichkeitssphäre zu einem Ort der Intimität machen, lautet meine These, dass es sich genau umgekehrt verhält: Die Oprah Winfrey Show macht Intimität zu einer stark dekontextualisierten und sehr abstrakten Angelegenheit. 3. Die Zeitstruktur einer Trauma-Erzählung – um das hervorstechendste kulturelle Beispiel für eine therapeutische Erzählung herauszugreifen – ist standardisiert. Denn die traumatische Zeit fixiert das Selbst typischerweise auf einen einzigen Zeitpunkt, nämlich jenen Augenblick, in dem das Vertrauen in die Welt zusammenbrach. Die traumatische Zeit steht im Bewusstsein still, weil sie von der Vergangenheit wie von der Gegenwart abgeschnitten ist. In Unbeweglichkeit verharrend, wird sie zum Eröffnungszeitpunkt eines »neuen« Selbst, das von der Geschichte abgekoppelt ist, aber auch nicht mehr in die Zukunft projiziert werden kann. Die solchermaßen »gefrorene« Zeit führt dazu, dass alle traumatischen Biographien gleich aussehen. Ganz gleich, ob das Trauma von sexuellem Missbrauch, von Vergewaltigung, Verrat oder einem Erdbeben herrührt, die traumatisierte Psyche kreist immerfort um einen traumatischen Zeitpunkt, der homogen, weil aus dem zeitlichen Kontinuum herausgehoben ist. Diese atemporale Zeit generiert einen autobiographischen Bericht, der trotz seiner Eigenschaft als »Erinnerungserzählung« gleichfalls atemporale Züge hat. 4. Die temporale Abstraktion von Trauma-Erzählungen wird noch durch die Tatsache verschärft, dass diese per definitionem abstrakte Erzählungen über das Selbst sind: Sie fassen das Selbst in standardisierte analytische und narrative Kategorien wie »Mangel an Selbstvertrauen«, »Angst«, »Obsession« oder »Selbstzerstörung«. Paradoxerweise ist es die kulturelle Verfügbarkeit solcher Standardbegriffe, die eine große Vielfalt persönlicher Geschichten ermöglicht. Die Vielfalt an Leidensformen und Leidensgeschichten verdankt sich ebendieser Standardisierung des Gefühlslebens durch Modelle und Normen mentaler wie psychologischer Gesundheit. 5. Die therapeutische Erzählung stützt sich auf einen hochgradig standardisierten Begriff des Individuums, wie er in modernen Gemeinwesen durch den modernen juristischen und staatlichen Apparat institutionalisiert worden ist. Wie John Meyer und andere (1997) ausführlich und überzeugend dargelegt haben, basieren die Modelle des Individuellen auf Szenarien, die von Institutionen wie dem Wohlfahrtsstaat oder dem Markt abstrahiert sind, Institutionen, die ihrerseits das Individuum durch Begriffe wie »Rechte«, »mentale Gesundheit« oder »Eigeninteresse« rationalisiert haben. Der Therapie-Diskurs ist in den meisten westlichen Gemeinwesen
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institutionalisiert, und dieser Diskurs hat seinerseits das Selbstbild der Individuen ebenso rationalisiert wie deren biographische Zielvorgaben. Diese Rationalisierung wird meiner Meinung nach durch die Tatsache gefördert und aufrecherhalten, dass die Psychologie in vielen Ländern der Welt, wenn nicht gar in den meisten, institutionalisiert ist, und zwar durch weltweit verbreitete Modelle (vgl. Meyer u.a. 1997), die global konstruiert und propagiert werden – durch Universitätsdiplome, akademisches Wissen, ein globales Publikationswesen und internationale Berufsorganisationen. In einer wachsenden Zahl von Ländern werden psychologisch inspirierte Modelle der eigenen Identität durch den Staat, die Universitäten, globale Medien und jetzt auch noch das Internet global propagiert. Das psychologische Wissen ist in den Sozialdiensten institutionalisiert, die der Wohlfahrtsstaat bereitstellt. Dieser steht mit seinen Einrichtungen den Familien zur Verfügung, und dabei werden Eltern-Kind- und Paarbeziehungen mit Hilfe ähnlicher therapeutischer Modelle von »Kommunikation« auf ähnliche Weise standardisiert. Schließlich haben Psychologen mit ihrer Gegenwart als Experten für industrielle Beziehungen auch große Firmen durchdrungen (Baritz 1960, Illouz 1997). Die Form der therapeutischen Erzählung übt strukturelle Beschränkungen auf die Art und Weise aus, wie eine Lebensgeschichte erzählt wird: Weil sich das therapeutische Wissen durch Publikationen, staatliche Dienste und die klinische Praxis so weit verbreitet hat, steht den Menschen heute die therapeutische Erzählung als Standarderzählung zur Verfügung: um ihre eigenen Fehler und Missgeschicke wie auch die anderer zu erläutern, aber auch als Leitfaden im komplexen Dickicht der gegenwärtigen gesellschaftlichen Welt. Meine These lautet, dass auch die Oprah Winfrey Show Teil dieses Standardisierungsprozesses beim biographischen Diskurs ist – durch weltweite Verbreitung therapeutischen Wissens. Während sich die Oprah Winfrey Show zu einem Wirtschaftsimperium und zu einer polypenartigen Medienstruktur entwickelte, segmentierte und individualisierte die Sendung zugleich ihre biographische Formel noch weiter. 1995 wurden das inhaltliche Spektrum und die Reichweite der Show dramatisch ausgeweitet. Oprah Winfrey spielte nicht nur ihre Rollen als Moralunternehmerin, Psychotherapeutin und öffentliche Beichtmutter weiter, sondern sie wurde außerdem eine erfolgreiche Lobbyistin im US-Kongress; sie gründete College-Programme und Stipendien für Studenten aus ethnischen Minderheitengruppen; sie hob ihren Buchclub aus der Taufe, der nach Aussagen von Vertretern der Verlagsbranche dieser den seit Jahrzehnten wichtigsten Impuls gegeben hat (ein einziger Auftritt von Toni
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Morrison in der Show führte beispielsweise zu dreimal so vielen Verkäufen ihrer Bücher wie die Verleihung des Nobelpreises für Literatur); Oprah gründete eine Frauenzeitschrift; und sie installierte – was für unsere Diskussion wahrscheinlich noch interessanter ist – eine sehr aktive Website. Durch diese Website ist die Oprah Winfrey Show wesentlich interaktiver geworden (sie ermuntert immer mehr Zuschauer, ihre Geschichten zu erzählen, aus denen dann eine Auswahl für die Darstellung in der Show getroffen wird). Zugleich zerfällt sie aber auch stärker in Segmente (in der Talkshow und auf der Website werden Rubriken gebildet, je nach Art der Geschichte und des Expertenrats: »Angel Network«, »Heile deinen Geist« und so weiter). Die Website gibt dem Publikum nicht nur die Möglichkeit, die Diskussion der in der Sendung erörterten Themen nach der Sendung fortzusetzen oder die Geschichten und Biographien in den vom Buchclub empfohlenen Büchern zu diskutieren, sondern – was vielleicht noch wichtiger ist – auch über ihr eigenes Leben zu sprechen und so die Talkshow nach der Talkshow weiterzuführen. Inzwischen hat die Oprah Winfrey Show also nicht mehr nur einen Sendeplatz; und sie ist damit zum schlagenden Beleg für Manuel Castells’ These geworden, dass »die einigende kulturelle Macht des Massenfernsehens (dem sich in der Vergangenheit nur eine winzige kulturelle Elite entzogen hat) jetzt durch eine sozial stratifizierte Differenzierung ersetzt wird, die zur Koexistenz einer maßgeschneiderten Kultur der Massenmedien mit einem interaktiven elektronischen Kommunikationsnetzwerk von selbst gewählten Gemeinschaften führt« (Castells 1996: 371). Der Punkt, auf den es mir hier ankommt, ist folgender: Die Oprah Winfrey Show hat sich zu einer krakenartigen Medienstruktur entwickelt, die mit ihren Tentakeln in die zentralen Institutionen des Spätkapitalismus hineinreicht – Fernsehen, Filmwirtschaft, Verlagswesen, Internet –, immer jedoch durch eine hoch individualisierte und standardisierte Kulturform: die therapeutische Lebensbeschreibung. Gerade weil therapeutische Biographien sowohl standardisiert wie auch individualisiert sind, können sie ihrerseits Leidensgemeinschaften bilden, die wirklich transnational sind. Ein Beispiel: Im »Angel Network« der Oprah-Winfrey-Website wendet sich eine Frau, die sich »ladydi 13« nennt, wie viele andere User an einen von Oprahs ständigen Experten, an Phil McGraw: »Mein leiblicher Vater verließ uns, als ich gerade fünf Jahre als war. Er war Alkoholiker, und meine Mutter hatte unter Gewalt in der Ehe zu leiden. […] Teile davon sind mir ins Gehirn eingebrannt. […] Der Mann, den sie dann geheiratet hat, erwies sich als pädophil, und nachdem er uns vier Kinder adoptiert hatte, war ich ›dran‹. […] Für mich als Kind von Alkoholikern war es nicht ungewöhnlich, dass ich mir einen Ehemann
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aussuchte, der wie mein Vater aussah. […] Ich war niemals in der Lage, eine gute Beziehung mit einem Mann zu haben. […] Ich bin von dem ganzen Trauma immer noch nicht geheilt. […] Ich kann mir Dr. Phils Bücher und Tonbänder nicht leisten, aber ich werde mich Tag und Nacht in die Bibliothek hocken. Gott segne ihn. Möge es doch mehr von seiner Sorte geben. Wir verletzten Seelen brauchen seine Art Wegweisung« (29. Dezember 1999). Diese Geschichte ist als standardisierte therapeutische Erzählung verfasst: Die Protagonistin wählte sich einen Ehemann, der ihrem Vater glich; die Hauptachse ihrer Biographie bilden seelische Wunden und ihr Leiden; und das Ziel ihres Lebens ist innere Genesung. Diese Frau nun beschafft sich und gibt, wie viele andere, in ihrem Umfeld weitere Hilfe und weiteren Rat von anderen Zuschauern – Rat, der inhaltlich und strukturell dem von Dr. Phil McGraw auf verblüffende Weise ähnelt. Wenn wir alle zu Leidenden wurden, dann wurden wir auch alle zu Experten, die sich gegenseitig therapieren, eben weil die therapeutische Sprache Lebensläufe standardisiert hat, die zugleich stärker individualisiert und rationalisiert sind. Talkshow und Website stellen eine vorgefertigte Sprache und Struktur bereit, durch die man andere an seinem Leid teilhaben lassen kann. Und diese Teilhabe wird wiederum dadurch möglich gemacht, dass das Leiden in der Form der transnationalen, therapeutischen, mediengestützten Trauma-Biographie organisiert wird, wie ich sie nennen möchte. Dabei spielen Unterschiede der Nationalität und territoriale Grenzen so gut wie keine Rolle. Man kann im Gegenteil fast sagen, dass sexueller Missbrauch, Ehescheidung, Fettleibigkeit oder Magersucht zu Tatbeständen werden, die innerhalb der Länder neue Demarkationslinien ziehen, dafür aber über traditionelle nationale oder regionale Grenzen hinweg neue Verbindungen schaffen. Solche Leidensgemeinschaften haben zum Beispiel in transnationalen Organisationen wie AA (Anonyme Alkoholiker) oder Overeaters Anonymous (Esssüchtige) institutionelle Form angenommen, die ihre Techniken zur Heilung des Selbst exportierten. Wie die Oprah Winfrey Show basieren auch diese Organisationen auf einer Wirkungskombination von Leiden, Biographiearbeit und standardisierten Verfahrensweisen zur therapeutischen Bewältigung des Ichs. Es handelt sich um eine Organisationsform sozialen Schmerzes, die quer zu den Leidensformen verläuft, die der Staat und traditionelle Nicht-Regierungsorganisationen mit ihrer Fürsorge abdecken. Solche Gemeinschaften lassen sich begrifflich mit David Held u.a. als »Schicksalsgemeinschaften« fassen (Held u.a. 1999: 30), als Gemeinschaften (communities), die kreuz und quer über traditionelle politische Demarkationslinien hinweg verlaufen und konventionelle Trennungslinien wie Klassen, ethnische oder nationale Unterschiede außer Acht lassen. Leidensgemeinschaften sind zugleich »unterhalb«
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des Nationalstaates (sie bewegen sich auf der biographischen Ebene) und »oberhalb« des Staates angesiedelt. So ist die Oprah Winfrey Show zwar ein eindeutig amerikanisches Genre, aber der Prozess, den ich eben angesprochen habe, hat keine Ursprünge; er verläuft im Kreise – in dem Sinne, dass diese Erzählungen gleichzeitig auf einen Prozess der »Globalisierung von innen« verweisen und darauf, wie solche narrativen Strukturen auf der ganzen Welt zirkulieren.
Schlussbetrachtung: Leid oder der Königsweg zur kosmopolitischen Solidarität? Haben solche Leidensgemeinschaften einem demokratischen Globalisierungsprojekt irgendetwas Wertvolles zu bieten, oder auch dem Projekt, das Appadurai (2000) und andere als »Globalisierung von unten« bezeichnet haben? Können solche Leidensgemeinschaften die globale Vorstellungskraft öffnen, und wenn ja, in welche Richtung? Soweit der Kosmopolitismus, wie David Held meint, einen Zugang zu unterschiedlichen politischen Gemeinschaften impliziert, erfordert er auch, dass die politisch Handelnden »aus der Sicht der anderen denken« (Held und McGrew 2000: 245). Ich glaube, dass Talkshows bemerkenswert erfolgreich darin sind, solches Denken aus unterschiedlichen Perspektiven zu fördern, weil sie, vielleicht mehr als jedes andere kulturelle Genre, die biographische Imagination entwickeln, die Fähigkeit, sich andere Leben vorzustellen und deren Leidensweg zu verstehen. In dieser Hinsicht scheinen Talkshows eine Art medial vermittelter Verbundenheit (»Konnektivität« [connectivity], Tomlinson 1999) zu vergrößern und überhaupt erst zu ermöglichen. Und doch, obgleich die durch diese Shows geschaffenen »Gemeinden« oder »Gemeinschaften« zweifellos die Verbundenheit unter den Menschen stärken, möchte ich meine Skepsis äußern hinsichtlich ihrer Fähigkeit, zur Quelle eines kosmopolitischen Bewusstseins zu werden. Dabei hat meine Skepsis nichts mit der Standardkritik an der Veräußerlichung menschlicher Beziehungen zur Ware zu tun oder mit der Tatsache, dass Unterhaltung und Schmerz im selben Bereich des Gedächtnisses zu Hause sind. Vielmehr beruht meine diesbezügliche Skepsis auf einer Frage, die mir im Kontext einer Diskussion über die Globalisierung von größter Bedeutung zu sein scheint: Wie viel Distanz oder Nähe zum Leid anderer braucht man für die kosmopolitische Solidarität? In ihrem Buch On Revolution (1963) hat uns Hannah Arendt vor einer Politik des Mitleids gewarnt, wie sie es nennt. Sie meint, dass wir, wenn es um die Unterdrückten und Ausgebeuteten geht, keine Politik des Mitleids pflegen sollten, also keine Politik, die auf Mitge-
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fühl für das Leid eines anderen basiert. Sie fordert vielmehr, dass wir von gleich zu gleich handeln sollten, als Partner und mit menschlicher Würde. Sie ruft nach Gerechtigkeit statt Mitgefühl, nach Prinzipien oder »Tugenden« anstelle von Emotionen. Ihre Kritik lautet, dass Mitgefühl nicht auf der Grundlage einer gleichberechtigten Beziehung agiere, denn diese erfordere Gerechtigkeit und Solidarität, sondern dass sie vielmehr auf einer inneren Asymmetrie zwischen Leidendem und Bemitleidendem beruhe; diese Haltung lenke eher ab von der Pflege jener Tugenden, die zu wahrer Solidarität führen. In einem weiteren Text, ihrer berühmten Vorlesung über Lessing aus dem Band Men in Dark Times (1968), nennt Arendt noch einen weiteren wichtigen Punkt, nämlich dass Mitgefühl die Distanz zwischen den Menschen reduziere. Mitgefühl zerstört das, was Arendt als zentral für politische Bindungen ansieht: den »Zwischenbereich« (das »in-between«), jene Distanz, innerhalb derer der Diskurs über die Welt ungestört fließen kann. Mitleid ist nach Arendts Ansicht nicht diskursiv – vielleicht gerade deshalb, weil Mitleid auf einer unmittelbaren Identifikation mit dem Leidenden basiert. Für psychisches Leid und die psychisch Mitleidenden gilt das in sogar noch stärkerem Maße, insofern der Leidende der einzige Gesetzgeber im Reiche seines eigenen Traumas ist und insofern psychisches Leid ziemlich oft von außen nicht zu beobachten ist. Man kann darüber nicht diskutieren; psychisches Leid und Mitleid laden nicht ein zum Diskurs über die Welt. Standardisierte Leidensbiographien können also ein Mittel sein, um transnationale Leidensgemeinschaften um das Thema »Traumata« herum zu organisieren, und ich glaube auch, dass sie ein Beispiel für das sein können, was Ulrich Beck »Globalisierung von innen« nennt. Aber ich bin mir nicht so sicher, dass sie das hervorbringen können, was wir herkömmlicherweise kosmopolitische Solidarität nennen. Denn eine solche Solidarität erfordert gerade eine Feindynamik des Erkennens von Gleichartigkeit und Unterschiedlichkeit sowie eine Distanz, die es uns ermöglicht, über die Welt zu reden – eine Distanz, die jedoch in jenen Gemeinschaften fehlt, in denen die Gemeinsamkeit des Leidens das wichtigste Strukturprinzip ist. Globalisierung ist beides: »die Kompression der Welt und die Intensivierung des Bewusstseins, dass die Welt ein Ganzes ist« (Robertson 1992: 8) – eine Definition, die zutreffend Voltaires eingangs zitierte Theodizee-Kritik beschreibt. Oprah Winfrey bietet sehr wirksame – visuelle wie sprachliche – Techniken an, mit deren Hilfe sich die Welt komprimieren lässt, aber es fehlt an der Förderung eines Bewusstseins für die Welt als Ganzes. Vielmehr bietet ihre Show anscheinend nur ein Beispiel für kulturelle Standardisierung und Homogenisierung (vgl. Ritzer 2000), ohne ein Bewusstsein für die Welt als Ganzes. Gerade weil solche Zuschauergemeinden die
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menschliche Distanz unterdrücken, fehlt ihnen die moralische Kraft von Voltaires Standpunkt. Reine Leidensgemeinschaften lassen uns den wahren Skandal des Leidens gar nicht erkennen: die Gleichzeitigkeit von Leid und Glück. Außerdem leiden diese Gemeinschaften an einer Art innerer Paradoxie, denn der »Erfolg« ihrer Mitglieder wäre gleichbedeutend mit der Desintegration der Gemeinschaft. Nachdem sie einem Unterstützung bei der reflexiven Betrachtung und Überprüfung der eigenen Biographie gewährt haben, kann man, ja sollte man vielleicht diese Gemeinschaften verlassen und so den Gedanken verwerfen, dass sich virtuelle biographischen Gemeinschaften allein durch Leidenserzählungen zusammenfügen lassen – Leidensberichte ohne gleichzeitige Hoffnungsberichte. Aber gerade Letztere sollten, wie Richard Rorty (1999) vorschlägt, im Zentrum eines jeden Projekts stehen, das der Globalisierung von unten gewidmet ist. Abschließend bin der Meinung, dass solchen Leidensgemeinschaften die »glokale« (Robertson 1992) ethische Kraft von Voltaires Kosmopolitismus fehlt, weil ihnen ein Standpunkt fehlt, von dem aus sie sehen könnten, was Voltaire uns vor Augen geführt hat, nämlich den Skandal, dass es der Welt als Ganzem an moralische Kohärenz mangelt.
Anmerkungen 1 Im Original: »Philosophes trompés, qui criez: ›Tout est bien‹; Accourez, contemplez ces ruines affreuses, Ces débris, ces lambeaux, ces cendres malheureuses, Ces femmes, ces enfants, l’un sur l’autre entassés, Sous ces marbres rompus ces membres dispersés; Cent mille infortunés que la terre dévore, Qui, sanglants, déchirés, et palpitants encore, Enterrés sous leurs toits, terminent sans secours Dans l’horreur des tourments leurs lamentables jours!« (Voltaire 1994: Z. 4-12) 2 Im Original: »Quel crime, quelle faute ont commis ces enfants Sur le sein maternel écrasés et sanglants? Lisbonne, qui n’est plus, eut-elle plus de vices Que Londres, que Paris, plongés dans les délices? Lisbonne est abîmée, et l’on danse à Paris« (Voltaire 1994: Z. 19-23). 3 Der Großbrand von London im Jahre 1666 hatte nicht im selben Maße theologisch beunruhigend gewirkt.
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4 »Truddi Chase – Multiple Personalities«, The Oprah Winfrey Show vom 10. August 1993.
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Globale Medien, kultureller Wandel und die Transformation des Lokalen: Der Beitrag der Cultural Studies zu einer Soziologie hybrider Formationen Rainer Winter
Im Gedenken an Karl Hornung (1903-1971) Die von den USA dominierte Massenkultur wird vornehmlich unter negativen Vorzeichen betrachtet, bisweilen wird sie sogar in apokalyptischer Weise als eine Hauptgefahr unserer Gesellschaften verdammt, die, so die Auffassung, Konformismus, Passivität, politische Apathie, Rassismus und Gewalt bewirken könne. Die Globalisierung ihrer Produkte, die in erster Linie aus den USA stammen, führe, verstärkt durch den Konzentrationsprozess innerhalb der Kulturindustrie, zur Herausbildung einer nivellierten Einheitskultur, die weltweit die gleichen Ideen und Mythen verbreite sowie amerikanische Lebensformen zum Leitbild der Selbstinszenierung mache (vgl. MüllerDoohm 1993: 588-595). Darüber hinaus zerstöre die weltweite Verbreitung von Massenkultur den Eigensinn regionaler Kulturen und, was Europa betrifft, so Stefan Müller-Doohm (1993: 593 ff.) in seiner Zusammenfassung dieser pessimistischen Einschätzungen, den »universalistischen Kern der europäischen Aufklärungskultur«, an deren Stelle die »international standardisierte Massenproduktion von Populärkultur« trete. Diesem Verständnis von Populärkultur als Massenkultur widersprechen neuere theoretische Arbeiten und empirische Untersuchungen, die herausarbeiten, dass die globale Kultur nicht einfach eine einheitliche Allerweltskultur ist (Featherstone 1995, Kellner 1995, Winter 1995, Tomlinson 1999, Lull 2001) und dass der Konsum von
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medialen Produkten oft zum Gegenteil dessen führt, was die in weiten Teilen von einem nostalgischen Verständnis der Moderne geprägte Massenkulturtheorie unterstellt. Meine These ist, dass die heutige globale Medienkultur in deren Rahmen nicht angemessen begriffen werden kann. Sie verliert die Dynamik, Differenzierung und Pluralisierung der medial vermittelten Populärkultur sowie die Aktivität und Produktivität der Konsumenten aus dem Blick. Im Folgenden möchte ich, ausgehend von Arbeiten der Cultural Studies, zeigen, wie die Rezeption und Aneignung globaler Medienproduke in unterschiedlichen lokalen Kontexten von Differenz, Synkretismus und Hybridität geprägt wird.
»Rambo« und die Ideologie von »Global America« Als der Globetrotter und Schriftsteller Paul Theroux (1992) die Salomoninseln besuchte, stellte er fest, dass Rambo auf einer der Inseln ein Volksheld ist und dass auch abgelegen wohnende Dorfbewohner mittels eines Generators einen Videorekorder betrieben, um seine Filme abspielen zu können. Auch in Burma und in vielen anderen Teilen von Süd- und Ostasien ist er zu einer populären Figur geworden (vgl. Iyer 1989). Auf den ersten Blick könnten diese Beispiele eine Bestätigung dafür sein, dass die globale Kulturindustrie homogenisierende Effekte im »Süden« hervorbringt. Rambo als imperialistischer Text, der die Werte und Ideologien des amerikanischen Kapitalismus repräsentiert, führe wie Coca-Cola, Donald Duck oder Dallas dazu, dass der »American way of life« auf der ganzen Welt zum Standard wird. Durch die Zirkulation und Verfügbarkeit medialer Texte, von Konsumwaren und Werbung würden lokale Kulturen nivelliert und die Konsumenten manipuliert. In dieser Lesart führt der Globalisierungsprozess im Ganzen zu einer vereinheitlichten und gemeinsamen Weltkultur. Gegen diese Theorie des kulturellen Imperialismus wurden in den letzten Jahren gewichtige Einwände formuliert. Die Hauptkritik ist, dass zu schnell von einer Analyse der Produkte auf die Rezeption dieser Produkte geschlossen wird. So wird nicht untersucht, wie Konsumgüter und Medien tatsächlich in lokalen alltäglichen Kontexten rezipiert und angeeignet werden (vgl. Winter 1995). Zunächst ist Rambo als ein männlicher Held, der sich gegen unzählige Feinde durchsetzt und alle Arten von Gefahren meistert, natürlich eine Figur, die in vielen Kulturen eine große Anziehungskraft besitzt. Sind die Lesarten in Burma, auf den Salomoninseln, in Illinois und in München aber wirklich gleich? Im Rahmen der Cultural Studies wurde man früh dafür sensibili-
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siert, die lokal unterschiedlichen Rezeptionsprozesse genauer zu untersuchen. So hat der amerikanische Anthropologe Eric Michaels (1991) festgestellt, dass Rambo auch unter den in Stämmen lebenden Aborigines in den Wüsten Zentralaustraliens sehr populär ist. Sie betrachten ihn als einen Helden der Dritten Welt, der sich gegen eine weiße Offiziersklasse durchsetzt. Dies spiegelt ihre negative Erfahrung mit den »Weißen« in Australien, insbesondere mit der Obrigkeit, wider. Zudem unterstellen sie, dass Rambo mit den Gefangenen, die er in Vietnam befreit, Stammes- bzw. Verwandtschaftsbeziehungen unterhält. Während Rambo in den USA, zum Beispiel vom früheren Präsidenten Ronald Reagan, vor dem Hintergrund des West-OstKonfliktes als individualistischer, nationalistisch gesinnter Einzelkämpfer für die richtige Sache betrachtet wurde, produzieren die Aborigines in der Auseinandersetzung mit dem medialen Text Interpretationen, die für ihre Erfahrung als subordinierte Bevölkerungsgruppe relevant sind. Rambo wird für sie zu einer Identifikationsfigur, die sich stellvertretend in ethnischen Auseinandersetzungen behauptet. In der Deutung von John Fiske (1989) sind die Lesarten der Ureinwohner widerständig, weil sie den hegemonialen, vom Text nahegelegten Interpretationen widersprechen. Ihre soziale Positionierung in der australischen Gesellschaft führt zu einer produktiven Umdeutung des Hollywood-Textes. In gewisser Weise schaffen sie in der lustvollen Rezeption von Rambo ihre eigene oppositionelle Kultur. Was Michaels und Fiske beschreiben, darf nun aber nicht als typische Rezeptionsweise missverstanden werden. Nicht jede Aneignung eines globalen Produkts im Süden zeichnet sich durch Widerspenstigkeit oder Oppositionalität aus. Damit werden eher Optionen benannt, »moments of freedom«, wie sie der Anthropologe Johannes Fabian (1998) in seinen Untersuchungen zur »popular culture« in Afrika nennt. Marginalisierte und subordinierte Gruppen können kulturelle Ressourcen zur Sinnschöpfung, zur Identitätsbildung und zur Ausbildung von Eigensinn nutzen. Im Folgenden möchte ich diese Perspektive vertiefen, indem ich am Beispiel der Rezeption amerikanischer Medienprodukte unterschiedliche, kulturell geprägte Interpretationsund Gebrauchsweisen diskutiere, in denen sich Populärkultur als Differenz, Widerstand und Hybridität artikuliert. Anschließend werde ich zeigen, wie diese Prozesse im Rahmen der Cultural Studies interpretiert werden können.
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Differenz, Synkretismus und Hybridität in der Medienrezeption David Miller (1994) hat in einer spannenden Studie am Beispiel der Rezeption von The Young and the Restless in Trinidad herausgearbeitet, wie ein global vertriebenes Medienprodukt im »Süden« interpretiert wird. Seine Analyse macht deutlich, dass dieser Prozess falsch verstanden wird, wenn er lediglich als Export und Konsum amerikanischer Kultur betrachtet wird. So kann Miller zeigen, wie die Soap Opera einer »Lokalisierung« unterworfen wird, indem sie in lokale Praktiken und Bedeutungen eingebunden wird, in die »Welt des Klatsches, der Skandalgeschichten und des Durcheinanders, welche dem gemeinschaftlichen Leben beständig eine erzählerische Gestalt verleiht. Die Soap Opera ist nicht nur trinidadianisch, sondern gemäß einer beliebten lokalen Redeweise ›True True Trini‹« (Miller 1994: 253). Die Rezeption von The Young and the Restless ist wie die von Telenovelas in Südamerika oder in Portugal eine gemeinschaftliche Aktivität, in der die Zuschauer z.B. durch das Sprechen über die Serie einen Bezug zu ihrem Alltag herstellen (vgl. Mikos 1994). Insbesondere der Klatsch über sexuelle Beziehungen und Verwicklungen in der Serie, die damit verbundenen Skandalgeschichten finden große Resonanz, da es in der Volkskultur von Trinidad die Vorstellung gibt, »Wahrheit« würde durch skandalöse Enthüllungen ans Tageslicht gebracht werden. Darüber hinaus interessieren sich die Zuschauer vor allem für die Kleidung und Mode in der Serie, über die intensiv diskutiert wird und die Anleitungen für die eigene Selbstinszenierung gibt. Miller führt dies darauf zurück, dass die Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit in Trinidad sehr wichtig für die Bildung und Bewahrung der eigenen Identität ist. Seine Studie führt also deutlich vor, dass eine Analyse der formalen Merkmale von medialen Texten ungenügend ist. Es ist ebenso wichtig, die lokalen Prozesse der Rezeption zu untersuchen, die nicht vorab bestimmbar, kontingent und kontextuell spezifisch sind. Ähnliches gilt für Dallas. Für viele Kritiker war Dallas in den 1980er-Jahren ein Synonym für kulturellen Imperialismus (vgl. Tomlinson 1991: 45 ff.). Während sich die texanische Soap Opera weltweiter Popularität erfreute, reagierten viele Kulturkritiker sehr feindselig auf diesen Erfolg. Die ostentative Darstellung von Reichtum und Luxus, die teuren Kleider und Automobile, die feudalen Wohnungen etc. wurden als ideologische Bedeutungen decodiert. Wie die Sendung wirklich rezipiert wurde, wurde von den Kritikern nicht untersucht. In einer frühen Rezeptionsstudie konnte dann Ien Ang (1986) zeigen, dass das Vergnügen an Dallas ein komplexes Phänomen ist, das nicht einfach auf die ideologische Macht der Texte zurückgeführt werden kann. So fand sie heraus, dass viele der von ihr befragten Zuschauerinnen, darunter
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auch eine engagierte Feministin, vor allem Gefallen am emotionalen Realismus in der Darstellung persönlicher Konflikte finden. Dagegen halten sie Dallas in der Repräsentation der amerikanischen Gesellschaft für nicht realistisch. Weiterhin kam Ang zu dem Ergebnis, dass einige der Zuschauerinnen die Serie sogar im Kontext einer tragischen, melodramatischen Gefühlsstruktur wahrnehmen, was weniger in den Texten angelegt ist, als in ihren persönlichen weiblichen Lebenserfahrungen. Die kulturelle Kompetenz, sich in eine melodramatische Phantasie hineinzuversetzen, ist besonders bei Frauen ausgeprägt, die im Laufe ihrer Lebensgeschichte gelernt haben, Ereignisse und Situationen psychologisch zu deuten und emotional zu bewältigen. Nach Ang (1986: 96) entsteht diese Phantasiestrategie aus einer vagen, unartikulierten Unzufriedenheit mit der persönlichen Existenz und ist ein Versuch, dem alltäglichen Leben Sinn zu geben. Das Beispiel zeigt, dass es bei populären Unterhaltungsprodukten einen Spielraum der Interpretation und des Vergnügens gibt, der von den Zuschauern aktiv genutzt werden kann, um ihre Einstellungen zu artikulieren und ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Tamar Liebes und Elihu Katz in ihrer Studie The Export of Meaning (1993), in der sie die Rezeption von Dallas in verschiedenen nationalen und ethnischen Kontexten untersuchten. Auch ihr Ausgangspunkt war eine Skepsis gegenüber der Imperialismustheorie, die basierend auf einer Inhaltsanalyse die Wirkungen von Fernsehprogrammen ableiten möchte. Das Ziel ihrer umfassenden Studie war eine empirische Überprüfung dieser Theorie aus der Sicht der Zuschauer. Dabei gingen sie davon aus, dass Fernsehen keine isolierte Aktivität ist, sondern dass soziale Interaktionen, so die Gespräche mit anderen, ein wesentlicher Teil des Interpretations- und Bewertungsprozesses sind, vor allem, wenn der TV-Text aus einer anderen Kultur stammt. Die Studie basiert neben einem Fragebogen auf offen strukturierten Gruppendiskussionen, die durchgeführt wurden, nachdem jeweils eine Episode von Dallas angesehen wurde. Die verschiedenen Gruppen waren so zusammengestellt, dass sie alle einen ähnlichen Klassenhintergrund hatten (»untere Mittelschicht mit High-School-Abschluss oder weniger«), aber unterschiedlicher ethnischer Herkunft waren. In sich waren die Gruppen aber »ethnisch homogen«. »Entsprechend bildeten wir kleine Gruppen aus Familie und Freunden, wobei jede Gruppe aus drei verheirateten Paaren gleichen Alters, gleicher Bildung und gleicher ethnischer Zugehörigkeit bestand. Vierundvierzig solche Gruppen wurden aus israelischen Arabern, neu ins Land gekommenen russischen Juden, alteingesessenen marokkanischen Siedlern und Kibbuz-Angehörigen (typischen Israelis der zweiten Generation) gebildet« (Liebes/Katz 1993: 6).
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Die Lesarten dieser Gruppen wurden mit denen von amerikanischen Zuschauern in Los Angeles und von japanischen Zuschauern verglichen, die Dallas am kritischsten betrachteten. Die komplexen Ergebnisse der Studie können an dieser Stelle nicht umfassend dargestellt werden. Von besonderem Interesse für unseren Zusammenhang ist, dass es schon bei der Diskussion des Inhalts der geschauten Episode divergente Lesarten gab, die durch den kulturellen Hintergrund bestimmt waren. So kam es in einer arabischen Gruppe zu folgender »Fehllektüre«: In einer Episode hat Sue Ellen ihren Mann JR mit ihrem Baby verlassen und ist in das Haus ihres früheren Liebhabers geflüchtet, in dem auch dessen Vater wohnt. Die arabische Gruppe bestärkte sich in der Diskussion gegenseitig in der Interpretation, dass sie ihren Mann verlassen habe, um im Haus ihres eigenen Vaters zu leben. Katz und Liebes konnten zeigen, dass die ethnischen Gruppen die im Programm enthaltenen Werte vor dem Hintergrund ihrer Kultur kritisierten. Insbesondere die arabischen Gruppen lehnten die westliche Dekadenz ab, die sich in der Serie ihrer Ansicht nach in zerrütteten Familienstrukturen, in sexueller Immoralität und in der Zurschaustellung von Reichtum und Luxus äußerten. Außerdem entwickelten einige der russischen Gruppen sogar Verschwörungstheorien und waren der Auffassung, die Produzenten würden mit Absicht die Wirklichkeit verzerrt darstellen, um die Zuschauer zu beeinflussen. Die Amerikaner, die Kibbuzniks und insbesondere die Japaner waren zum Teil auch kritisch, aber eher in Bezug auf die Ästhetik des Programms und die Kompetenz der Produzenten. Die Ergebnisse der Studie von Liebes und Katz zeigen, dass die Rezeption und Aneignung globaler Medienprodukte ein aktiver sozialer Prozess ist. Auch gewöhnliche Zuschauer können über die Fähigkeit verfügen, sich komplex, differenziert und produktiv mit amerikanischen Medientexten auseinanderzusetzen. Dabei wird ihr kultureller Hintergrund von diesen nicht einfach verdrängt, sondern oft ist er die Grundlage für eine kritische Analyse von Dallas. Sie lassen sich nicht so einfach und umfassend manipulieren, wie viele Kritiker annehmen. Auf diese Weise macht die Studie von Liebes und Katz deutlich, dass die Theorie des kulturellen Imperialismus in vielem eine polemische Zuspitzung ist. Eine kultursoziologische Analyse darf sich nicht mit der Analyse medialer Texte bzw. der Strategien von Unterhaltungskonzernen begnügen, so wichtig diese auch sind. Vielmehr sollte sie den Ansatz der Cultural Studies berücksichtigen und die Rezeption und Aneignung medialer Texte untersuchen. Ihre Aufgabe ist es zu zeigen, wie auf die kulturellen Strategien der Kulturindustrien in lokalen Kontexten reagiert wird. So zeigt z.B. die Auseinandersetzung um die Vermarktung der von der schottischen Autorin Joanne K. Row-
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ling geschaffenen Harry-Potter-Figur durch das amerikanische Unternehmen Warner Bros., wie dessen kommerziell motivierte Versuche, ein für die ganze Welt verbindliches einheitliches Bild des Knaben durchzusetzen, durch Taktiken von Fans unterlaufen und behindert werden, die in liebevoll gestalteten Homepages, in Übersetzungen, in Partys etc. Harry Potter zu ihrer eigenen Figur machen. Das zweite Beispiel, auf das ich an dieser Stelle ausführlicher eingehen möchte, stammt im Wesentlichen aus dem Bereich der populären Musik. In den amerikanischen Ghettos, zunächst in der Bronx, entstand in den 1970er- und 1980er-Jahren Hiphop, der wie andere Formen afroamerikanischer Musikkultur vor ihm Erfahrungen von erniedrigenden Lebensbedingungen, Unterdrückung, Rassismus und Kampf zum Ausdruck brachte. Gleichzeitig war Hiphop ein Synonym für eine aus Armut, Entbehren und Verlangen schöpfende Kreativität und Produktivität. In der Zwischenzeit ist Hiphop jedoch eine Ware geworden, die von der amerikanischen Kulturindustrie vertrieben wird. Führt die damit verbundene Globalisierung zu einer Trivialisierung des Hiphop? Wird Hiphop als Teil des »weißen Rauschens« (»white noise«) der Medien zu einem leeren Zeichen, das seine ursprünglichen Bedeutungen und seine Kraft als kollektive Form des Ausdrucks marginaler Gruppen verloren hat? Oder können sich mittels seiner Formen und Praktiken, wenn sie in lokalen Kontexten angeeignet und mit eigenen Bedeutungen aufgeladen werden, weiterhin subalterne Sensibilitäten ausdrücken – etwa die von Jugendlichen, die sich mit sozialen Problemen und ihrer Lebenssituation auseinandersetzen? Am Beispiel einer von mir durchgeführten ethnographischen Untersuchung möchte ich diesen Fragen im Folgenden nachgehen. Hierzu werde ich zunächst auf einige Merkmale des Hiphop eingehen. Die Hiphop-Kultur (bestehend aus verschiedenen Formen kulturellen Ausdrucks wie Rap-Musik, Breakdance, Graffiti, Clubszenen mit DJs, B-Boy- und Wild Style-Mode) begann seine Erfolgsgeschichte als eine Performance-Kunst bei Rap-Parties und in Clubszenen, bevor sie durch Platten, CDs, Musikvideos, durch eine regelmäßige Sendung auf MTV und durch Filme wie Wild Style popularisiert wurde. Im Zentrum steht der Rap, ein rhythmisches Sprechen zu einem tönenden Hintergrund, der von einem den Beat vorgebenden Schlagzeug bis zu einer Collage aus Riffs, Schlagzeugfiguren und diversen Songs bestehen kann. Die Hintergrundmusik wird in Diskotheken oder Clubs durch den manipulativen Umgang mit Abspielgeräten erzeugt. Die DJs stellen auf mehreren Plattenspielern einen Soundtrack her, indem sie Teile bereits aufgenommener Songs auswählen und kombinieren. Diese Grundtechnik der Aneignung von Musik (bzw. der Musikgeschichte) wird im wesentlichen durch zwei formale
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Vorgehensweisen verfeinert, nämlich durch Scratching und Punch Phrasing – Techniken, mit denen Klänge von verschiedenen Plattentellern übereinandergelegt bzw. gemixt werden. Wie Richard Shusterman (1992) gezeigt hat, dekonstruiert Rap durch diese selbstreflexiven Aneignungspraktiken die traditionelle Vorstellung von Originalität und Einzigartigkeit. In dieser populären Kunst gibt es keine Originale mehr, sondern nur noch Aneignungen von Aneignungen, da jeder DJ von anderen Texten borgt. Das Recyclen des »Überlieferten« und die umgestaltende Neuaneignung lassen sich im Sinne Michel de Certeaus als »Taktiken der Schwachen« begreifen, die die Trennung von Künstler und Publikum unterlaufen und mit den vorgegebenen Ressourcen der Kulturindustrie etwas Eigenes hervorbringen. Diese Umfunktionierung bestehender Werke wird ergänzt durch die oft kritischen Rap-Texte, die den sozialen Wirklichkeiten und Problemen (wie z.B. Arbeitslosigkeit, Prostitution, Gewalt oder Drogenabhängigkeit) von Ghettobewohnern und Randgruppen Ausdruck verleihen. Viele Rap-Songs zeichnen sich durch gescheite und witzige umgangssprachliche Formulierungen, durch den Gebrauch von Sprichwörtern und Klischees, die im Kontext des Raps neue Bedeutung gewinnen, und durch eine Vielzahl von Bedeutungsebenen aus, die sie zu komplexen polysemen Texten machen. Sie entwerfen alternative Deutungen gesellschaftlicher Ereignisse und bieten als moralische Erzählungen Lebenshilfe in Bezug auf Sexualität, Drogen oder Außenseitertum an. Bisherige Studien zeigen, dass Rap-Musik eine wichtige Funktion für die kulturelle und soziale Identität einnehmen kann (vgl. Dimitriadis 2001). So führte Hiphop dazu, dass Schwarze zunächst auf lokaler Ebene im Ghetto Identitäten konstruierten – ein Prozess, der auch durch Rivalitäten geprägt war. Schließlich gab es Auseinandersetzungen auf nationaler Ebene, zum Beispiel zwischen den Los-Angelesund den New-York-Rappern. Durch die mediale Verbreitung und die Vermarktung des Widerstands durch die Plattenindustrie (vgl. Dyson 1996) gewinnen diese Identitätsmuster globale Bedeutung (Androutsopoulos 2003). Die Ergebnisse meiner ethnographischen Untersuchung, die ich im Wesentlichen in Aachen, Köln und Trier durchführte, zeigen nun, dass der größte Teil der von mir befragten und sich zur Szene zählenden Hiphopper diese Musikrichtung zur Spezialisierung ihrer persönlichen Identität und damit zur Individualisierung nutzt. Das heißt, Hiphop ist für sie in erster Linie ein Arrangement von Konsumartikeln, bestehend aus CDs, Kleidungsstücken in XXL-Größen, Baseballmützen, Turnschuhen, Kettchen etc. Der Gebrauch dieser Objekte hat zunächst keine subversive oder widerständige Bedeutung, es sei denn, er wird in seiner Funktion als Abgrenzung von der Erwachse-
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nenkultur betrachtet. Hiphop dient vielmehr der Identitätsarbeit, da er eine Abgrenzung vom Mainstream-Geschmack vieler Jugendlicher bietet. Dies zeigt sich deutlich bei der Musikrezeption, die sich auf den Beat und den Groove konzentriert. Die Texte spielen nur eine sekundäre Rolle, selten wird ihnen größere Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht der Inhalt der Rap-Musik ist entscheidend, sondern ihr Klangbild. So wird englischsprachiger Rap wegen seines besseren Flows dem deutschsprachigen oft vorgezogen. Die verschiedenen Mitglieder, die hauptsächlich durch Freunde zur Szene kamen, kennen sich in der Geschichte der Hiphop-Musik allerdings gut aus. Die meisten der Interviewten hören schon seit Mitte der 1980er-Jahre Hiphop und sind ihm seitdem treu geblieben. Oft werden die Erzählungen über die Geschichte der Musik zur Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit und der des Freundeskreises benutzt. Zentrale Bedeutung kommt dem Erleben von Gemeinschaft zu. So beschreibt Marco das Hiphop-Feeling folgendermaßen: »Sich nicht alleine zu fühlen, so mit anderen Hiphoppern, mit anderen Kameraden, irgendwie Hiphop leben, Hiphop feiern. Weißt du, so auf einer Jam zusammen, obwohl man sich nicht kennt, aber man fühlt sich irgendwie wohl in der Runde. Du fühlst dich einfach zugehörig« (Auszug aus einem narrativen Interview). Das Gruppenerlebnis wird als »zusammen Spaß haben« empfunden. Es schafft affektive Bindungen, in der ästhetischen Gemeinschaft mit Gleichgesinnten wird die eigene Identität konstruiert und bestätigt. Darüber hinaus werden einige der Rezipienten selber aktiv: Andy: »Eigentlich fing das zuerst mit dem Sprühen an, und dann habe ich irgendwie Hiphop-Sounds gehört, so P u b l i c E n e m y und so, und da hat es schon gekriselt. Weiter gehört, weiter gehört und dachte, ist doch langweilig immer tagsüber und abends sprühen, da musst du etwas noch dazu machen, ja da hab’ ich gedacht, kaufste ein Mischpult, zwei Plattenspieler, ja und dann fing es mit Hiphop so richtig an, scratchen und so weiter« (Auszug aus einem narrativen Interview). Meine Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass die Aneignung in drei Phasen abläuft. Zunächst lassen sich die Rezeption von Musik und der Kauf der entsprechenden global vertriebenen Konsumobjekte beobachten. Die meisten Hiphopper bleiben auf dieser Stufe stehen. In einer zweiten Phase werden die kreativen Praktiken der Schwarzen im Umgang mit Schallplatten als Vorbilder übernommen, in eine eigene Performance als DJ umgesetzt und kreativ weiterentwickelt. Dabei grenzen sich allerdings fast alle Befragten von dem »Ghetto-Feeling« der Musik ab. Erst in einer dritten Phase gewinnt der Aneignungsprozess reflexiven Charakter, indem man sich durch das Verfassen eige-
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ner Rap-Texte mit der persönlichen Lebenssituation und sozialen Problemen auseinandersetzt. So handeln die Texte einer Aachener Rap-Gruppe von Rassismus und Alkoholismus, deren Verbreitung unter Jugendlichen auf ihre Lebensumstände, auf Arbeits- und Perspektivlosigkeit zurückgeführt werden. Die Rapper berichten in ihren Songs über ihr gewöhnliches, konkretes Leben, ihre Wünsche, Hoffnungen, Verletzungen und ihr Leiden. Sie artikulieren dadurch ihre Sicht der Dinge, analysieren ihre Wirklichkeit und werden im Sinne de Certeaus (1988: 21) zu »Dichtern ihrer eigenen Angelegenheiten«. Diese Jugendlichen bevorzugen daher auch den deutschsprachigen Rap, da er nach ihrer Auffassung »authentischer den eigenen Alltag« mit seinen kleinen und großen Miseren wiedergibt. Meine Ethnographie der Szene zeigt also, dass Hiphop durch die Musik, die Gruppenrituale, die Performance der DJs und der Rap-Sänger eine Gemeinschaft entstehen lässt, die eine Identität und sozialen Zusammenhang offeriert. Bei den untersuchten Personen ist der Hiphop jedoch nicht aus der Alltagspraxis hervorgegangen wie in den Ghettos der USA, sondern er wird zunächst als globaler Konsumartikel rezipiert, Identitätsmuster werden übernommen, und nur ein Teil der Hiphopper versucht ihn dann als kulturelle Ressource zu nutzen, um die eigenen Erfahrungen und die eigene Sicht der Dinge auszudrücken. Auf diese Weise changiert die Bedeutung von Hiphop wie die anderer populärer Texte zwischen kommerzieller Trivialisierung und kreativer Neubestimmung. Der globalen Vermarktung eines amerikanischen Produkts stehen lokale Formen von Aneignung gegenüber, die vor dem Hintergrund des eigenen kulturellen Kontextes Hiphop zum einen zur Individualisierung nutzen, zum anderen eine Gemeinschaft und Sensibilität schaffen, die der ursprünglichen Bedeutung und Funktion des Hiphop nahe kommen. In diesem Zusammenhang ist auch die Rezeption von Rap in Afrika interessant. Anfang der 1990er-Jahre war Rap eine Mode, die weitgehend auf Jugendliche wohlhabender Kreise beschränkt blieb, die sich die neuesten Konsumartikel aus den USA leisten konnten. Heute aber ist er bei Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Milieus populär (Servant 2000). Musiker aus verschiedenen afrikanischen Ländern verbinden ihn mit ihren lokalen Traditionen, Praktiken und unterschiedlichen Sprachen, sodass im Crossover neue Arrangements aus traditioneller und elektronischer Musik entstehen. So berichtet ein Rapper aus Gabun: »Anfangs haben bestimmte Rapper unser Interesse an den lokalen Kulturen nicht verstanden. Sie haben nur daran gedacht, die amerikanischen Rapper nachzuahmen. […] Aber die Tradition ist unser Reichtum. Darum sollte man ihr auch dienen. […] Afrika muss seinen eigenen Klang durchsetzen« (Po’ossi X 1999: 22 f.).
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Der Erfolg des afrikanischen Rap hat sogar zu einer Renaissance der afrikanischen Musik geführt. In Dakar, der neuen Welthauptstadt des Rap, soll es 2000 Rap-Gruppen geben (Awadi 1999), die sich von der urbanen afroamerikanischen Kultur inspirieren lassen und Rap auf kreative Weise zu ihrem Lebensstil gemacht haben. So kann z.B. die aggressive und tabubrechende Sprechweise, die den Rap in den USA und in Frankreich oft kennzeichnet, abgelehnt und angesichts lokaler Traditionen moduliert werden. »Die Virulenz und Authentizität ihrer Sprache hindert sie nicht daran, jene afrikanische Tradition zu bewahren, die selbstverständlich Respekt und Höflichkeit einschließt und dabei gewissermaßen ausschließt, dass der Rap im Senegal dem aus der Bronx oder aus Saint-Denis allzu sehr ähnelt« (Libong 1999: 16). Die Texte der afrikanischen Künstler handeln von der bitteren Realität ihrer Lebenswelt, von Armut, Umweltzerstörung, ethnischen Konflikten, AIDS etc. Dabei verleiht ihre produktive Auseinandersetzung mit Rap, die sich bisweilen auch im Mischen lokaler Sprachen ausdrückt (Po’ossi X 1999), ihrer Gesellschaftskritik ein populäres Fundament. Ergänzend kommt der Musikethnologe George Lipsitz in seiner Studie Dangerous Crossroads zu dem Ergebnis: »Hiphop steht für eine Politik, die perfekt zur postkolonialen Ära passt. Hiphop bringt eine Gemeinschaft durch deren Behauptung in die Welt und trägt echte und imaginierte Beziehungen zwischen Leuten in eine Karte ein, die von der Realität aus Vertreibung, Verzweiflung und Verlust von Illusionen berichtet, wie sie die Verelendungswirtschaft des postindustriellen Kapitalismus geschaffen hat« (Lipsitz 1994; 1999: 82). Darüber hinaus zeigt Lipsitz, dass es noch andere »Taktiken der Schwachen« im Bereich der populären Musik gibt. So handeln z.B. ethnische Immigranten in Großstädten ihre Identität aus, indem sie Musik machen, in der sie ihre kulturellen Erfahrungen mit Formen der globalen Mainstream-Kultur fusionieren, die sie zu einer eigenen kulturellen Ressource umfunktionieren. Beispiele für diese inter-ethnischen musikalischen Neuschöpfungen, die er anführt, sind der puertoricanische Bugalu in New York, der algerische Rai in Paris, der Chicano-Punk in Los Angeles, der Aborigines-Rock in Australien oder der Swamp-Pop in New Orleans und Houston. Lipsitz veranschaulicht mit diesen Beispielen, wie Musiker unterdrückter Minderheiten ihre ethnische Andersartigkeit artikulieren, indem sie die MainstreamMusik kreativ nutzen und gleichzeitig genießen. Eine von ihm herausgestellte Taktik im Sinne Michel de Certeaus (1988) ist der AntiEssentialismus – ein zeitlich begrenzter Versuch von Individuen und Gruppen, bei Zurückdrängen ihrer heterogenen Aspekte eine Einheit zu konstituieren, die sich an gemeinsamen Interessen, Gefühlen und
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Bedürfnissen orientiert. Diese Gemeinsamkeit wird nicht direkt ausgedrückt, sondern man benutzt eine Verkleidung oder ein Medium. Zum Beispiel begannen Maoris in Neuseeland sich in den späten 1980er-Jahren mit schwarzen Amerikanern der Populärkultur zu identifizieren. Sie eigneten sich afroamerikanische Selbstdarstellungsstile und den dazugehörenden Slang an. Was von oberflächlichen Kritikern als Erfolg des amerikanischen Kulturimperialismus und Zerstörung der lokalen Traditionen kritisiert wurde, verstanden die Maoris selbst als verschleiertes Bemühen, mit den afroamerikanischen Elementen ihre eigene marginalisierte und verlorene Position in ihrem Heimatland auszudrücken. Für Lipsitz ist dieser taktische Anti-Essentialismus1 der Schlüssel, um die verschiedenen inter-ethnischen Musik-Juxtapositionen verstehen zu können. Er schreibt: »Der Schlüssel zur Strategie all dieser Gruppen liegt im Verständnis, wie sie mehr ›sie selbst‹ werden konnten, indem sie anscheinend etwas anderes wurden. Wie so viele Mitglieder benachteiligter Bevölkerungsgruppen auf der ganzen Welt sind diese strategischen Anti-Essentialisten gerade deswegen solche Experten für Verkleidungen, weil ihr Leben nur zu oft von ihrer Fähigkeit zur Tarnung abhing« (Lipsitz 1994; 1999: 115). Dieser Umgang mit Musik ist aber nur ein empirisches Beispiel für eine Kunst des Handelns unter globalen Bedingungen. Dabei kommt der theatralischen Inszenierung eine zentrale Bedeutung zu. Sie ist sowohl für die Identitätsbildung als auch für die Konstitution von Gemeinschaft wichtig. Die Politik der Performance lässt sich als Antwort der »Schwachen« auf gesellschaftliche Missstände und Problemlagen interpretieren. Eine wichtige neuere Aufgabe der Forschung ist deshalb nicht mehr, nach kulturellen Ursprüngen bzw. Fundamenten Ausschau zu halten, sondern z.B. ausgehend von der Perspektive der Diaspora zu untersuchen, wie im Gebrauch globaler Medienprodukte neue Identitäten und nicht vorhergesehene Verbindungen und Allianzen geschaffen werden. Die diesbezüglichen Beispiele zeigen, dass hybride kulturelle Formen entstehen, die zu einer alternativen Öffentlichkeit führen können. Aus einer Position der Marginalität heraus wird eine Differenz artikuliert, die freilich immer wieder ausgehandelt werden muss. So stellt Paul Gilroy fest: »Die scheinbar trivialen Formen der Jugend-Subkultur verweisen auf die Eröffnung eines bewusst postkolonialen Raums, in dem die Bestätigung der Differenz vorausweist auf eine stärker pluralistische Auffassung von Nationalität und vielleicht darüber hinaus auch auf deren Überwindung« (Gilroy 1993: 62). Die Transfiguration der Öffentlichkeit infolge von Globalisierung und Migration hält also auch Chancen bereit, um die eigenen Lebensbedingungen und die kulturelle Identität zu gestalten. Wie Homi Bha-
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bha (1994) zeigt, führen diese Prozesse zu einer Auflösung eindeutiger kultureller Identitäten, deren diskursive Konstruiertheit und Uneindeutigkeit deutlich wird. In den neu entstehenden Zwischen-Räumen, die von kultureller Entortung und sozialer Diskriminierung geprägt werden, können Taktiken entwickelt werden zur Bildung neuer Gemeinschaften und Identitäten, die nicht auf Essenzen, sondern auf Ambivalenz und Hybridität beruhen. In diesem Bereich kultureller Liminalität befinden und artikulieren sich residuale und neu entstehende Praktiken im Sinne von Raymond Williams (1977) (vgl. Bhabha 1997: 162 f.). Auch Stuart Hall (1994a) plädiert für eine Neudefinition des Ethnizitätsbegriffs, der diesen nicht mehr mit Nation und Rasse verknüpft. Die Tatsache, dass wir alle ethnisch verortet sind, also von einer ethnischen Position aus sprechen, darf nicht darauf beruhen, dass andere Ethnizitäten verdrängt, enteignet oder von der Repräsentation ausgeschlossen werden (Hall 1994a: 23). Stattdessen muss die neue Politik der Ethnizität von Differenz und Verschiedenheit ausgehen. Für die Politik der Identität bedeutet dies, dass essentialistische und universale Strukturen von Identität aufgegeben werden müssen. An ihre Stelle tritt die Erfahrung eines »schwachen Wir«, das konkret, nicht-essentialistisch und nicht-universal ist (Anzaldúa 1988). Der Raum der Vermittlung zwischen Kulturen muss im Sinne von T. Minh-ha Trinh (1991) als ein Prozess gedacht werden, in dem Differenzen und Identitäten kontinuierlich neu bestimmt und artikuliert werden (vgl. Denzin 1999). Hier schließt sich die Frage an, welche Folgen die Herausbildung »neuer« (kollektiver) Identitäten hat. Roland Robertson (1992) zeigt in seinen Studien zur Globalisierung, dass dieser Prozess spätestens im frühen 15. Jahrhundert begann und eng mit dem Modernisierungsprozess verbunden ist. In den letzten Jahrzehnten gibt es nun viele Anzeichen dafür, dass sich ein qualitativer Sprung ereignet hat, bedingt durch das Zusammentreffen von Migrationsströmen und der Globalisierung der elektronischen Medien. Die gleichzeitig sich vollziehenden Ströme von medial vermittelten Bildern und von Menschen bringen eine »Diaspora-Öffentlichkeit« (Appadurai 1996) hervor, in der die Einzelnen sich aber nicht nur mit den Produkten der westlichen Kulturindustrien auseinandersetzen. Japaner in San Francisco leihen sich japanische Filme in ihrem Viertel aus, ein afghanischer Taxifahrer in Chicago hört religiöse Kassetten aus seiner Heimat, Punjabis sehen Videofilme aus ihrer Heimat (Gillespie 1993). In Nigeria ist sogar ein regelrechter Videoboom mit einheimischen Filmen entstanden (Servant 2001). Von 1997 bis 2001 wurden 1080 Videoproduktionen vom Nigerian Censor Board freigegeben. Ein erfolgreicher Film kommt auf mindestens 300.000 Kopien. Nigerianische Videos werden auch vermehrt in anderen afrikanischen Ländern
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gesehen sowie in den USA. Zur nigerianischen Diaspora in den USA zählen ungefähr drei Millionen Menschen. In dem von Yoruba geprägten New Orleans hat der amerikanische Rapper Master P. eigene Videos nach den Vorbildern aus den nigerianischen Traumfabriken produziert, die in den amerikanischen Ghettos sehr populär sind. Anders als die Modernisierungstheoretiker annahmen, verschwindet weder die Religiosität im Globalisierungsprozess, noch ist dieser im Wesentlichen durch einen kulturellen Imperialismus des Westens geprägt. Der Ethnologe Appadurai schreibt: »Es gibt immer mehr Belege dafür, dass Massenmedien-Konsum weltweit oft Widerstand, Ironie, Selektivität und generell aktives Handeln provoziert« (Appadurai 1996: 7). Zudem ermöglichen die Medien »Gefühlsgemeinschaften« (Maffesoli 1988, Grossberg 1997), spezialisierte Kulturen (Winter und Eckert 1990) und affektive Solidarisierungen: »Kollektives Erleben der Massenmedien, besonders von Film und Fernsehen, kann auf Verehrung und Charisma gründende Gefühls- und Solidargemeinschaften hervorbringen wie jene, die sich in den 1970er- und 1980er-Jahren regional um die indische Göttin Santoshi Ma, und transnational ungefähr zur selben Zeit um den Ayatollah Chomeini bildeten. Ähnliche Gemeinschaften sind auch im Umfeld des Sports und des Internationalismus möglich, wie die transnationalen Auswirkungen der Olympischen Spiele sehr deutlich zeigen. In Wohnungen und Gebäuden trifft man an Orten wie Kathmandu und Bombay auf Videoclubs. Fanclubs und politische Gefolgschaften erwachsen aus den Medienkulturen der Kleinstädte, etwa in Südindien« (Appadurai 1996: 8). Eine zentrale Rolle kommt hierbei neben der affektiven Dimension dem Bereich der Imagination zu, in dem Individuen und Gruppen die globalen Ströme auf ihre Alltagspraktiken beziehen. Denn geteilte Imaginationen sind die Voraussetzung für transnationales kollektives Handeln. Dabei hängt es von der Dynamik des jeweiligen Kontextes ab, ob es zu neuer Religiosität, zu Gewalt oder zu größerer sozialer Gerechtigkeit kommt. Appadurais Ansatz bietet auch die Möglichkeit, die Problematik des »Global America« zu vertiefen. Wenn wir Amerika nicht mit dem räumlichen Territorium der Vereinigten Staaten identifizieren, sondern als ein globales Imaginäres begreifen, wird verständlich, dass es auch in lokalen Kontexten der Opposition eine Sehnsucht nach dem »American style« geben kann. Die globalen Medien mit ihren Bildern von Waren und Lebensstilen schaffen eine imaginäre Geographie, die »In-Amerika-Sein« oder »AmerikanischWerden« zu einem Ideal und zu einer Utopie machen. HollywoodFilme, Soaps, die Werbung für Coca-Cola oder McDonald’s versprechen kosmopolitische und globale Alternativen zu den lokal verfügbaren Identitäten. Die Aneignung medialer Texte kann so zu einer refle-
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xiven Artikulation kultureller Differenzen führen, die die realen mit den imaginären Möglichkeiten vergleicht. Um die Globalisierung angemessen verstehen zu können, ist es also wichtig, die lokalen Kontexte der Rezeption und Aneignung medialer Produkte zu erforschen. Ien Ang (1997) hat deshalb für einen radikalen Kontextualismus plädiert, der sich auf ethnographische Untersuchungen stützen soll. Nur so lässt sich die lokal situierte, kontextgebundene Art und Weise erfassen, wie im Alltag das Fernsehen und andere Medien genutzt werden. »Das Verständnis, das sich aus dieser Form von Untersuchung ergibt, bevorzugt interpretative Spezifizierung gegenüber erklärender Verallgemeinerung, historische und lokale Konkretheit gegenüber formaler Abstraktion, ›dichte‹ Beschreibung von Details gegenüber extensiven, aber ›dünnen‹ Erhebungen« (Ang 1997: 90). Abschließend möchte ich zusammenfassen, was diese Cultural-Studies-Perspektive für die Erforschung der Globalisierungsprozesse bedeutet.
Inkorporation von Differenzen und radikale Unbestimmtheit in der globalen Postmoderne Die bisherige Diskussion hat gezeigt, dass die Macht des Globalen nicht überschätzt werden darf. Denn die globalen Medienprodukte werden lokal neu artikuliert. Es kommt zu Prozessen der Deterritorialisierung, der Synkretisierung und Hybridisierung (vgl. Nederveen Pieterse 1995, Chambers und Curti 1996, García Canclini 1995, Lull 2000). Symbole, Zeichen und Ideologien werden aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst und gewinnen in Vermischung mit anderen kulturellen Elementen eine neue Bedeutung, wie neben Lipsitz auch Rowe und Schelling (1991) in ihrer Studie zur Populärkultur in Lateinamerika zeigen. So wird z.B. der Rap in Lateinamerika von Künstlern mit Salsa, Reggae und Pop verbunden. Symbolische Formen und ihre Bedeutungen sind so ständigen Veränderungen unterworfen. Überall auf der Welt werden eigene Versionen räumlich entfernter Kulturen geschaffen, wie auch Tony Mitchell (1996) herausarbeitet. Deshalb impliziert Globalisierung immer auch Prozesse der Übersetzung und der Reterritorialisierung. Durch den produktiven und kreativen Gebrauch globaler Ressourcen konstituieren sich Kulturen ständig neu. Mit Recht beschreibt Stuart Hall (1994b) daher die gegenwärtige Globalisierung als eine Struktur, die gleichzeitig global und lokal ist.
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Die globalen Ströme von Zeichen und Bildern bringen keine einheitliche Kultur hervor; die neue Kultur, die Hall als »globale Postmoderne« bezeichnet, spricht weder eine einzige Sprache noch wird sie von einer einzigen Ideologie geprägt. Vielmehr wird sie durch Differenz und Pluralität bestimmt, ist von ihrem Charakter her also bereits eine hybride Kultur.2 Dies darf nun nicht dazu verleiten, die Macht des Lokalen zu überschätzen und zu denken, der »Süden« könne den Kampf gegen die vom »Norden« ausgehende globale Postmoderne gewinnen. Hall (1994b: 58) äußert sogar die Vermutung, dass sich eine neue Form der Homogenisierung durch globale Prozesse der Kommerzialisierung abzeichnet, welche die Differenzen nun nicht mehr überwinden möchten, sondern versuchen, sie zu fördern und zu inkorporieren. So ist Skepsis gegenüber allzu optimistischen Bewertungen angebracht. Auch Hall denkt hier aber – wie die Imperialismus-Theoretiker – von der Seite des Globalen aus. Wenn wir uns jedoch der Seite des Lokalen zuwenden, ergibt sich eine etwas andere Einschätzung. So lässt sich in den USA selbst eine Reartikulation des Lokalen in der Gestalt eines »neuen Regionalismus« beobachten, die gegen eine kulturelle Homogenisierung gerichtet ist (Ostwald 2001). Beispielsweise werden den Hamburgern von McDonald’s der »Lobster Burger« in Maine, der vegetarische »Califonia Burger« in San Francisco oder der scharf gewürzte »Cajun Catfish« in New Orleans entgegengesetzt. Der Trend zur kulturellen Vereinheitlichung wird auch dadurch unterlaufen, dass die Akzeptanz und Popularität von TV-Shows und Musikrichtungen regional unterschiedlich ist.3 Die amerikanischen Unterhaltungskonzerne müssen nun also auch im eigenen Land auf regionale Besonderheiten und lokale Vorlieben achten. Vor dem Hintergrund der im Zuge des Globalisierungsprozesses zurückgehenden Bedeutung staatlicher Grenzen und nationaler Identitäten entdecken die Konsumenten regionale Unterschiede in Geschichte, Bräuchen, Praktiken und Identitäten. Da die globale Postmoderne nicht durch kulturelle Kohärenz bestimmt wird, wird das »globale Dorf«, wie Ien Ang (1994) feststellt, durch ein »Reich der Ungewissheit« geprägt. Dabei sind »abweichende«, reflexive oder subversive Gebrauchsweisen und Lesarten, die in kulturellen Kontexten entwickelt werden, zum einen ein Ausdruck der – wenn auch eingeschränkten – Freiheit der Konsumenten, ihrer Individualisierung (Beck 1986, Beck und Beck Gernsheim 1990), zum anderen aber, das zeigen die diskutierten Beispiele, als kontingente Sinnschöpfungen in einem durch die Globalisierung geprägten dynamischen, konfliktreichen und widersprüchlichen Alltag zu begreifen. Die globalen Ströme von Zeichen und Bildern (Lash und Urry 1994, Lash 2002) treffen auf ein heterogenes, widerspenstiges und
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unkontrollierbares Spiel von Differenzen in den sozialen Praktiken. Welche Bedeutung sie gewinnen, wie das Globale mit dem Lokalen artikuliert wird, lässt sich vorab nicht bestimmen. Denn es gibt keine feststehende Struktur von Bedeutungen, überdies sind symbolische Botschaften polysem gestaltet. In alltäglichen, lokal unterschiedlichen Kommunikationsprozessen wird die Kultur – in mehr oder weniger hybrider Form – immer wieder neu konstituiert. Eine kultursoziologische Analyse, welche die Logik der Machtverhältnisse in der globalen Postmoderne verstehen möchte, muss sich dieser radikalen Unbestimmtheit der Kommunikation stellen, ihre Möglichkeiten, insbesondere für den »Süden« ausloten, ohne aus dem Blick zu verlieren, dass es sehr wohl dominante Kräfte gibt, die auf Profit, Kommerzialisierung und Inkorporation aus sind. Wie unsere Analyse gezeigt hat, kann die Soziologie von den Cultural Studies lernen, wenn sie deren Praxis als Ergänzung betrachtet, die notwendig geworden ist, weil die Disziplin der Soziologie die kulturelle Dimension gesellschaftlicher Phänomene lange Zeit nicht genügend beachtet hat (vgl. Long 1997). Deshalb sollte ein konstruktiver Dialog mit den Cultural Studies begonnen werden (vgl. Kellner 1997, Denzin 1999, Winter 2001), der sich nicht davor scheut, auch die eigenen disziplinären Grundlagen in Frage zu stellen und die eigenen Versäumnisse zu erkennen. Eine Revitalisierung der Soziologie kann gelingen, wenn sowohl die Kultur als auch die Prozesse der Globalisierung ins Zentrum der Analyse gerückt werden.
Anmerkungen 1 Lipsitz verwendet im Anschluss an eine Studie von Gayatri Spivak (1993) die Formulierung »strategischer Anti-Essentialismus«. De Certeau und Fiske (1989) folgend erscheint es uns aber präziser, von einem »taktischem Anti-Essentialismus« zu sprechen. 2 Freilich hat Renato Rosaldo (1989) gezeigt, dass eigentlich jede Kultur hybriden Charakter hat. In seiner Lesart bezeichnet Hybridität die fundamentale Erfahrung frühester kultureller Begegnungen und Berührungen. Ähnlich argumentiert auch James Clifford in Routes (1997). 3 Ostwald (2001: 33) schreibt: »Die Medienmarktforscherin Sandra Kress sagt, Sendungen mit einer gewissen ›Edginess‹ wie etwa die im Norden enorm populäre Krimiserie ›Law and Order‹ würden im ›Bible Belt‹, dem religiösen Süden der USA, abgelehnt. Dort hat hingegen die Serie ›Touched by an Angel‹ ihre landesweit höchste Einschaltquote.« Auch bei MTV beobachtet man den Trend in Richtung lokaler Musikorientierung.
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»Alles Rock«: Vielfalt und Ähnlichkeit im Bereich der globalen Popmusik Motti Regev
Die These des vorliegenden Beitrags lautet, dass ein großer Teil der Popmusik, die heutzutage auf der ganzen Welt produziert und konsumiert wird, unter dem Einfluss und der Inspiration des anglo-amerikanischen Pop/Rock entsteht – oder, genauer gesagt, auf der Übernahme und Umsetzung dessen basiert, was ich als »Rock-Ästhetik« bezeichne. Paradigmatisch zeigen sich in der Popmusik die mit der Globalisierung der Kultur zusammenhängenden neuen Formen kultureller Vielfalt – einer Vielfalt, die auf einem gemeinsamen Kernbereich verbreiteter Praktiken und Technologien sowie auf den Logiken des Eklektizismus und der Hybridität basiert. In meinem Beitrag werde ich die kulturelle Logik jenes Prozesses verfolgen, der die Rock-Ästhetik zur zentralen Praxis der Popmusik in der ganzen Welt gemacht hat; es werden Beispiele geboten und deren Implikationen erörtert. Doch zunächst wende ich mich kurz dem theoretischen Kontext meiner Untersuchungen zu. Die Globalisierung der Kultur hängt, als Prozess wie als Zustand, mit der Intensivierung eines jahrhundertealten Phänomens in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zusammen: mit der Intensivierung des Bedeutungs- und Warenaustausches zwischen den Kulturen. Es besteht eine starke Verbindung zur weltweiten Ausbreitung des Warenverkehrs und zur Verbreitung von Bildern und Bedeutungen durch die internationale Kulturindustrie (von Filmen, Fernsehserien, Popmusik sowie den für die jeweilige Wiedergabe erforderlichen elektronischen Geräten). Zum Gegenstandsbereich gehören aber auch alle Arten industriell hergestellter Lebensmittel, Kleidermode und Kosmetik, Autos, Bauwerke und Möbel, Hochglanzmagazine sowie die Werbung für all diese Warengruppen. Die Entstehung einer Weltkultur hat überdies auch mit den »Domänen des rationalisierten sozia-
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len Lebens« (Meyer u.a. 1997) zu tun: mit Geschäftsleben, öffentlicher Verwaltung, Rechtswesen, Medizin und Wissenschaft. Begriffe wie »Amerikanisierung«, »McDonaldisierung« (Ritzer 2000) und »Kulturimperialismus« (Mattelart 1979) implizieren, dass in vielen Aspekten des Lebens und der Kultur Menschen und Gesellschaften überall auf dem Globus »dieselben« werden, wobei die meisten Elemente dieser angeblichen Identität »amerikanisch«, »westlich« oder aber durch das breite Spektrum dieser beiden kulturellen Formationen gefiltert worden sind. Andere Interpretationen neigen dazu, den Wandel der kulturellen Diversität infolge der kulturellen Globalisierung hervorzuheben. Man hat mit Begriffen wie »Medienlandschaften« (mediascapes) und »Ideenlandschaften« (ideoscapes) (Appadurai 1990), »kulturelle Komplexität« (Hannerz 1992), »Glokalisierung« (Robertson 1995) und »Kosmopolitismus« (Beck 2000) operiert, um zu zeigen, dass der weltweite Strom an Kulturgütern multidirektional ist, also nicht nur vom Westen aus in den Rest der Welt verläuft, und dass dieselben Kulturgüter über Ländergrenzen hinweg, aber auch innerhalb eines Landes ganz unterschiedlich verwendet und decodiert werden. Das heißt, sie werden durch typische Verwendungen, Interpretationen und Hybridisierungspraktiken lokalisiert oder »nationalisiert«. Diese beiden Ansätze – kulturelle Homogenisierung im Zuge der Globalisierung oder Diversität durch unterschiedliche lokale Aneignung derselben globalen Kulturgüter – widersprechen sich nicht unbedingt. Wie Meyer (2000) gezeigt hat, ist die Globalisierung der Kultur ein Prozess, bei dem Kollektivakteure, die sich strukturell und bezüglich der Verwendung einer rationalisierten, instrumentalen Kultur tendenziell immer ähnlicher werden, dennoch gleichzeitig ihre eigene Tradition verherrlichen und sich um den produktiven Ausdruck ihrer Einzigartigkeit bemühen (vgl. dazu Regev 2000), indem sie sich einer expressiven Kultur bedienen. Am offensichtlichsten ist dies bei Nationalstaaten: »Standardisiertes Handeln ist im Umfeld der prinzipiellen Annahme zu verzeichnen, dass die Akteure eine einzigartige Identität besäßen. So schaffen sich im Zeichen der Globalisierung die Akteure systematisch ihre je eigene selbstbewusste, einzigartige Basis und weiten diese aus. Allerdings geschieht dies im Rahmen und mit Hilfe der globalen Modelle effektiven, instrumentalen Handelns. Robertson (1992) nennt dieses an Tocqueville erinnernde Phänomen ›Glokalisierung‹. Die Nationen feiern ihr einzigartiges Erbe, während sie sich gleichzeitig immer mehr standardisierten Modellen annähern. […] Einzigartigkeit und Identität konzentrieren sich legitimerweise am stärksten auf Elemente der Ausdruckskultur: auf Varianten bei Sprache, Kleidung, Essen, Traditionen, Landschaften, Familienformen, und so weiter« (Meyer 2000: 245). Die Welt- oder Globalkultur entwickelt sich anscheinend durch Diver-
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sität in der Identität. Diese Logik gilt nicht nur für die Beziehung zwischen instrumentaler und expressiver Kultur, sondern auch innerhalb des Bereiches der Kunst und der expressiven Kultur. Wirksam ist sie im Verhältnis von Form und Technologie ebenso wie im Verhältnis von Inhalt und Bedeutung. Kulturelle Diversität, inhaltliche Variationen und die Bedeutung expressiver Kultur – sie alle haben mit der Verwendung kultureller und künstlerischer Formen zu tun. Durch die Globalisierung der Kultur werden alle mechanisch und elektronisch reproduzierten Formen der Kunst praktisch überall verfügbar. Und so dienen dieselben Kunst- und Kulturformen verschiedenen kollektiven Akteuren – Nationen und anderen – als Mittel zur Hervorbringung von Diversität und Einzigartigkeit. Filme und Romane etwa werden auf der ganzen Welt als zeitgenössische Ausdrucksformen eingesetzt. Zwar sind sie ihrem Ursprung nach zweifellos »westliche« Kunstformen und deshalb für viele nationale, lokale oder ethnische Kulturen anfangs etwas Fremdartiges; aber sie wurden lokalisiert, um sie zu einzigartigen nationalen und lokalen Stilen und Genres von Film und Literatur zu machen – ganz zu schweigen von den individuellen Werken. Japanische und französische Filme weisen immer auch Merkmale des Hollywood-Stils und der üblichen Hollywood-Genres auf, und sie haben ihrerseits auch Hollywood-Filme beeinflusst. In entscheidender Weise sind sie alle zu Bestandteilen einer globalen Filmkunstwelt geworden. Folglich werden innerhalb des Globalisierungsprozesses die Kreisläufe von Produktion, Verbreitung, Konsum und Interpretation bei jeder Kunst- und Kulturform zu Netzwerken im Sinne von Castells (1996) oder zu Feldern im Sinne von Bourdieu. Darum besteht die Möglichkeit, die generelle Logik der kulturellen Globalisierung besser zu verstehen, wenn wir spezielle kulturelle Netzwerke oder Kunstfelder genauer untersuchen. Die Transformation, Transmutation und Permutation künstlerischer und kultureller Formen ist ein Ausdrucksmittel, das der Aufrechterhaltung und Stärkung der zeitgenössischen kulturellen Einzigartigkeit dient; und doch werden dabei gleichzeitig die Werke, Genres und Stile dieser Formen bewahrt. Gleiches gilt für die Produzenten und Rezipienten der Werke, die als Bestandteile sozialer Informationsnetzwerke sowie als Akteure in den sozialen Räumen von Macht, Hierarchie und Prestige aufeinander bezogen und miteinander verbunden sind. Solche Untersuchungen können offen legen, wie die Globalisierung der Kultur in spezifischen kulturellen Bereichen Gestalt gewinnt – Bereichen, die nicht unbedingt mit ganzen Nationalstaaten identisch sind. Ein gutes Beispiel ist hier die Popmusik. Es wurde bereits gezeigt, dass die Popmusik institutionell ein Produktions- und Konsumnetzwerk ist (Wallis und Malm 1984, Robinson u.a. 1991, Burnett 1996).
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Außerdem haben sich verschiedene Studien der Problematik des Verhältnisses von stilistischer Diversität und Gleichheit gewidmet (Mitchell 1996, Taylor 1997). Schließlich wurde auch der Diskurs des Begriffs »Weltmusik« mit seinem problematischen Inklusivitätsanspruch kritisch untersucht (Frith 2000). Im Folgenden möchte ich diesen Untersuchungen eine weitere Dimension hinzufügen, indem ich mich auf die Rock-Ästhetik als wesentliches Element im Komplex von Diversität und Identität in der zeitgenössischen Popmusik der Welt konzentriere.
Die Rock-Ästhetik Zunächst soll der Begriff »Rock-Ästhetik« definiert werden. Darunter verstehe ich ein System von in ständigem Wandel begriffenen Praktiken und stilistischen Geboten für die Produktion von Popmusik, basierend auf der Verwendung elektrischer und elektronischer Klangtexturen, auf dem Einsatz von Verstärkern und hochentwickelter Studiotechnik sowie auf Techniken »ungeübten« und spontanen Gesangs. Zentral für die Rock-Ästhetik ist ferner eine eklektische Logik, die die Anwendung dieser Mittel auf alle Musikstile ermutigt. Außerdem tendiert die Rock-Ästhetik zur Hervorhebung der Autorenrolle der Ausführenden. Ich betone ausdrücklich, dass nach dieser Definition zur Rock-Ästhetik auch jene weitgehend auf Sampling und Elektronik-Einsatz basierenden Popmusikstile gehören, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden sind (Hiphop, House, Techno und so weiter). Ich bezeichne dieses System von Musizierpraktiken als »Rock-Ästhetik«, weil der soziokulturelle Kontext des »Rock« der historische Ort war, an dem diese Komponenten als kreative künstlerische Mittel zur Produktion zeitgenössischer Popmusik erstmals weitgehend legitimiert wurden – und zwar durch die Aufnahme der »klassischen« angloamerikanischen Rock-Alben und Rock-Künstler der 1960er- und 1970er-Jahre sowie ihrer künstlerischen Erben in den Kanon. Diese Kanonisierung der Rock-Künstler und ihrer Werke hat den Status der Rock-Musiker etabliert – als Individuen, die in ihren Werken die Ausdrucksmittel, die ich hier als »Rock-Ästhetik« bezeichne, sowie deren kreative Verwendung erkundeten und erweiterten. Dabei folgten große Teile dieser Erkundung einer eklektischen Logik: Elektrifizierung und akustische Verstärkung wurden auf verschiedene Stile der schwarzen Musik, der Country-Musik, traditioneller Schlager, der Volksmusik, des Jazz und einiger Formen der (klassischen) Kunstmusik übertragen sowie auf jegliche Kombination dieser Stile und Genres. Eine Kanonisierung war nicht zuletzt möglich, weil es (unter
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anderem) eine Verbindung zwischen der Rockmusik und Ideologien der Rebellion und Subversivität gab. Diese Assoziation schrieb der Rockmusik »ernsthafte« politische, soziale und kulturelle Bedeutungen zu, die über die traditionelle Unterhaltungsfunktion hinausgingen, die man ansonsten typischerweise mit Popmusik verbindet. Rockmusik dagegen wurde eng mit dem Bestreben der Jugend in Verbindung gebracht, die Kontrolle über den eigenen Alltag zu gewinnen (Grossberg 1984), mit dem implizierten »Widerstand« gegen die vorherrschende Kultur und mit aktiver subkultureller Auflehnung gegen Hegemonie (Hebdige 1979, Frith 1981, Wicke 1990). Der künstlerische und kulturelle Status des Rock veranlasste andere Akteure in der zeitgenössischen Popmusik, die von Rock-Musikern entdeckten stilistischen und klanglichen Neuerungen zu übernehmen und sie zu einer konventionellen Methode der Musikproduktion zu machen. Anders gesagt, die Kanonisierung des Rock führte zur Entstehung eines künstlerischen Feldes (Bourdieu) der Popmusik, das nach einer Prestigehierarchie strukturiert war (Regev 1994). Die dominanten Positionen in diesem Feld wurden von der bereits kanonisierten »Avantgarde« aus früheren Epochen sowie von jenen auf dem Vormarsch befindlichen Stilen und Musikern eingenommen, die von den tonangebenden Kritikern und Rezensenten als neue »Avantgarde« hochgejubelt wurden (gute Beispiele für diese fortlaufende Kanonbildung finden sich bei Christgau 1981, Christgau 1990, Christgau 2000 und Larkin 1999). Der Rest des Feldes folgt mehr oder weniger den Neuerungen und Erkundungen der Avantgardisten des »klassischen Rock«, also der Musik der am höchsten bewerteten Rock-Künstler der 1960er- und 1970er-Jahre. Diese Musik spielte im gesamten Feld der Popmusik ungefähr dieselbe Rolle wie die Filmkunst jener Zeit für das Gesamtgebiet des Films. Sie stellte jene Werke und schöpferischen Ideologien bereit, anhand deren Kritiker, Rezensenten und Forscher die Analysen und Interpretationen dieser Musik als einer künstlerischen Leistung erstellten. Auf diese Weise wurde die RockÄsthetik als ein selbstverständliches System von Sensibilitäten, Fertigkeiten, Dispositionen und Kenntnissen – kurz, als der vorherrschende Habitus für die Produktion von zeitgenössischer Popmusik institutionalisiert. Diese Logik war nicht auf den ursprünglichen angloamerikanischen Kontext der Rockmusik beschränkt, denn als kreative Praxis wie als Ideologie wurde Rockmusik erfolgreich in viele Teile der Welt exportiert. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde sie von Musikern und Hörern in der ganzen Welt Schritt für Schritt angenommen und übernommen. Wesentlich erleichtert wurde dieser erfolgreiche Export durch die der Musik zugeschriebenen subversiven Bedeutungen. So wurde Rockmusik nicht unbedingt als eine weitere Form des offen-
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kundigen Kulturimperialismus wahrgenommen. Vielmehr wurde die Rock-Ästhetik von Musikern und Hörern auf der ganzen Welt als eine Möglichkeit, von manchen sogar als die Möglichkeit akzeptiert, lokale Musik zu machen, die eine Rebellion gegen konservative traditionelle Kulturen und autoritäre Regime zum Ausdruck brachte. Lokale Hybridbildungen der Rockmusik wurden in lokalen oder nationalen Kulturen oft als authentischer Ausdruck moderner, zeitgenössischer Gesinnung wahrgenommen. Das schlagendste Beispiel dafür waren die Ostblockstaaten und die ehemalige Sowjetunion (Cushman 1995, Ramet 1994), aber auch das Argentinien der späten 1970er-Jahre war ein gutes Beispiel (Vila 1987). Zumindest anfangs lag eine gewisse Paradoxie darin, dass eine mit multinationalen Medien und Kulturindustrien assoziierte angloamerikanische Kulturform als Ausdrucksmittel für die Einzigartigkeit lokaler Kulturen absorbiert wurde. Überdies wiederholte sich der Hierarchisierungsprozess auch in anderen Ländern. Die anfangs ideologisch und künstlerisch motivierte Übernahme der Rock-Ästhetik führte dazu, dass sie in den lokalen und nationalen Kulturen legitimiert wurde. Schon bald wurde die Rock-Ästhetik dank ihres künstlerischen Prestiges zum vorherrschenden Modus für die Produktion von Popmusik jeglicher Art. Folglich wurde im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die RockÄsthetik allmählich zum fast ausschließlichen, konventionellen künstlerischen Kontext für die allerorts produzierte Popmusik. Das heißt, bei den Musikern galten die Verwendung von elektrischen und elektronischen Instrumenten und der Einsatz von Studiotechniken, mit dem Hauptakzent auf sauberen Klangamplituden und Genauigkeit bei der Zusammensetzung der Sound-Fragmente, ganz zu schweigen von Techniken wie der Toncollage oder dem »Zusammenschneiden«, als legitime Praktiken bei der Produktion von Popmusik. Man sollte auch nicht vergessen, dass das Starsystem, insbesondere der Aufbau von Images, die sich auf bestimmte Geschlechtsmerkmale der Musiker konzentrierten, zu einem wichtigen konventionellen Verpackungsund Marketingelement der Musik wurden. Dasselbe gilt für die Managementpraktiken in der Musikindustrie.
Die Rock-Ästhetik in der Welt Die extensive Verwendung von Elementen der Rock-Ästhetik bei der Produktion von Popmusik bedeutet aber nicht, dass die Gesamtheit der Popmusik weltweit zu »Rockmusik« geworden wäre. Viele der Stile, die Elemente der Rock-Ästhetik in ihre kreativen Verfahren inkorporieren, werden normalerweise nicht zum »Rock« gezählt – sei es bei
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den Ausübenden selbst oder bei den Rock-Fans. In diese Kategorie gehören zum Beispiel einige Stilarten der indischen Filmmusik, besonders so genannte »Remixes«; ein Teil des Outputs von brasilianischen Musikern wie Caetano Veloso, die mit der Tropicalia-Bewegung verbunden sind; sowie einige der lateinamerikanischen Stile, die unter dem Überbegriff Salsa zusammengefasst werden. Bei den Salsa-Stilen ist gelegentlich sogar eine ausgesprochene Abneigung gegen den »Rock« in seiner konventionellen Bedeutung als überwiegend von elektrischen Gitarren produzierte Musik zu verzeichnen (Roman-Velasquez 1995). Die bemerkenswertesten Nicht-Rock-Kontexte der Popmusik, die gleichwohl von der Rock-Ästhetik inspiriert und beeinflusst sind, finden sich im Werk von europäischen Mainstream-Popmusikern wie dem italienischen Sänger Eros Ramazotti, Musikern, die dem als »Soft-Rock« bezeichneten Klangidiom sehr nahe kommen. Dieses schwer definierbare, aber weit verbreitete musikalische Idiom des späten 20. Jahrhunderts, das unter Namen wie »Soft-Rock«, »Middle-of-the-road«, »Easy listening« oder schlicht und einfach »Pop« läuft, ist eines der besten Beispiele für den Einfluss der RockÄsthetik. Diese – freilich so gut wie nie als »Rock« bezeichneten – audiovisuellen Machwerke, deren Spektrum vom showbetonten Pop des russischen Stars Alla Pugatschowa bis zur Musik des malaysischen Stars Sheila Majid reicht, sind mit ihrer Verwendung von elektrischer und elektronischer Instrumentation und einigen der visuellen Images, die bei der Vermarktung der Stars zum Einsatz kommen, der Rock-Ästhetik zutiefst verpflichtet. Ein wichtiger emblematischer Fall dieser Art der vom Rock inspirierten Popmusik ist der als Cantopop bezeichnete chinesische Musikbetrieb. »Cantopop« bezieht sich auf eine zeitgenössische Kategorie der Popmusik, die seit den 1970er-Jahren in Hongkong entstanden ist. Es handelt sich nicht wirklich um einen musikalischen Stil, sondern eher um einen kulturellen Kontext für die Produktion und den Konsum von Popmusik. Das einzige wichtige Definitionsmerkmal des Cantopop ist nach Witzleben (1999) die Verwendung der kantonesischen Variante des Chinesischen (viele Musiker bringen allerdings auch Aufnahmen in Mandarin, Japanisch und Englisch heraus). Das einzige wichtige Charakteristikum, das Cantopop zu einem auffälligen Beispiel der Welt-Popmusik macht, ist seine enorme Popularität in China, Japan, Singapur und in der chinesischen Diaspora überall auf der Welt. Cantopop-Musiker wie Anita Mui Yim-Fong, Faye Wong, Jacky Cheung Hok-Yau und Leon Lai Ming setzen Alben und Konzerttickets in riesigen Stückzahlen in ganz Südostasien und darüber hinaus ab. Leise elektrische Gitarren, sanfte Synthesizer, gelegentlich eine volle Orchestrierung, romantische Songtexte, gut aussehende Ausführende, die nicht mit den Autoren identisch sind und, was am wich-
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tigsten ist, ein klarer und angenehmer Gesang – all diese Kernelemente des zentralen musikalischen Idioms des Cantopop sorgen dafür, dass er – von westlichen Ohren – als »Soft Rock« oder »Easy listening« rezipiert wird. Trotzdem argumentiert Witzleben (1999), dass man angesichts der politischen und kulturellen Beziehungen zwischen Hongkong und dem chinesischen Mutterland im Cantopop einen authentischen lokalen Ausdruck von Identität oder gar Opposition sehen sollte – denn so würden es die asiatischen Hörer empfinden. Man (1997) behauptet in ihrer Analyse dieser Musik, dass es »Anzeichen« dafür gebe, »dass im Cantopop der 1970er-Jahre Hybridisierungsprozesse wirksam werden und dass eine genauere Analyse noch weitere Wege offen legen könnte, wie angloamerikanische und chinesische musikalische Elemente bei der Produktion einer einheimischen Popmusik in Hongkong auf neue Weise eingesetzt wurden« (Man 1997: 54). Worauf es mir bei der Erörterung der Nicht-Rock-Stile letztlich ankommt, ist die Betonung der Tatsache, dass die Verwendung ästhetischer Elemente aus dem Rock all diesen verschiedenen Stilen einen gewissen gemeinsamen Nenner verleiht, sodass sie auch für fremde Ohren vertraut klingen. Auf diese Weise machen beim Hören der lokalen, vom Rock inspirierten Popmusik aufmerksame wie flüchtige Zuhörer Bekanntschaft mit klanglichen Texturen, die durch elektrische und elektronische Instrumente sowie durch die Produktionsästhetik des Aufnahmestudios geschaffen wurden. Wenn also Popmusik aus fremden ethnischen, regionalen oder nationalen Kulturen erklingt, die Elemente der Rock-Ästhetik enthält, dann wirken diese Klänge für die meisten Menschen spontan gewissermaßen vertraut. Selbst wenn wir Sprache, melodische Struktur oder rhythmische Muster nicht kennen, erkennen wir oft die zur Übermittlung dieser Elemente verwendete Klangtypik. Anders gesagt, weil die Rock-Ästhetik allgegenwärtig ist, hat sich das Gefühl eines total fremden musikalischen Klangs aus einer völlig anderen Welt stark reduziert – jenes Gefühl, das die Musik aus fremden Kulturen in der Vergangenheit ausstrahlte. Ein solches Gefühl gibt es kaum noch. Und wenn dies schon für musikalische Genres gilt, die üblicherweise nicht unter die Kategorie »Rockmusik« fallen, so gilt es erst recht für alle Musikstile, die eindeutig zum konventionellen Rock-Begriff passen. Zum Ethno-Rock (oder World-Beat) Jene Stile und Genres, die von den Musikern und ihren Zuhörern, aber auch von der kosmopolitischen Gemeinschaft der Rock-Kenner konventionellerweise als »Rock« empfunden und anerkannt werden, lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen. Die erste Kategorie
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umfasst jene Stile, die angloamerikanischen Pop und Rock weitgehend nachahmen, jedoch nicht in englischer, sondern in lokalen Sprachen gesungen werden. Dazu gehören Metal- und Heavy-Metal-Rockbands in vielen Ländern der Welt (Harris 2000), aber auch Hiphop und verschiedene Reggae-Stile (Mitchell 1996), weibliche und männliche Vokalgruppen, die sich an den neuesten Trends im MainstreamPop ausrichten, sowie die lokalen Varianten der Electro-Dance-Trends wie House und Techno. Meiner Meinung nach sind die kulturell interessantesten Genres jedoch jene der zweiten Kategorie: Genres, die Rock-Elemente mit lokalen Traditionen zu neuen hybriden Formen verbinden. Das Ergebnis wird normalerweise als »Ethno-Rock« oder »World-Beat« bezeichnet. Dies ist der kulturelle Kontext, in dem Musiker und Publikum in vielen Ländern Rockmusik als Ausdrucksmittel für ihre Kritik an lokalen konservativen und traditionellen Kulturen und an autoritären Regimes einsetzen, auch als Ausdruck ihrer Rebellion – allerdings immer verbunden mit einem Engagement für einheimische Stile und Idiome (Regev 1997). Zugleich dient ihnen die Rock-Ästhetik als kreativer Kontext für die Erkundung innovativer musikalischer wie aufführungstechnischer Muster. Die Ausweitung des Klangvokabulars der traditionellen Instrumente durch Elektrifizierung und Verstärkung, der Einsatz von elektrischen Gitarren in von einheimischer Folklore inspirierter Musik und die Hybridisierung von Elementen des lokalen Musikerbes mit Rock-Stilen – dies sind nur einige der schöpferischen Praktiken, die durch die Rock-Ästhetik legitimiert wurden. Der Kontext des ethnischen Rock ist eindeutig derjenige, in dem auf der kulturellen Grundlage der Rock-Ästhetik kulturelle Vielfalt bewusst gefördert wird. Die Liste der zugehörigen Stile, Genres und Musiker ist lang und vielfältig. Sie umfasst Musiker wie Thomas Mapfumo aus Simbabwe, die kongolesische Band Zaiko Langa Langa aus Zaire, die chinesischen Rocker Cui Jian und Xu Wei, die australische Aborigines-Band Yothu Yindi, die frühe Musik des Jugoslawen Goran Bregovic und seiner Band Bijelo Dugme, die Thai-Bewegung pleng phua chiwit (Lieder für das Leben), die Musiker, die im algerischen Genre des Rai und seiner anderen nordafrikanischen Derivate arbeiten, aber auch die lebendige Szene des »Rock en Español«, die von Mexiko bis nach Argentinien und Chile floriert, und Hubert von Goisern mit den »Alpinkatzen«, jene österreichische Band, die man am ehesten mit dem begriff »Alpenrock« in Verbindung bringt. Erwähnenswert ist in diesem Kontext auch die Arbeit der frühen britischen Folk-Rockbands und -Musiker, besonders die von Richard Thompson – als ursprünglicher Ausgangspunkt für die Praxis der Verschmelzung von Rock und ethnischen Stilen. Musik, die derselben kulturellen Logik folgt, wird
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indes – kaum überraschend – in Großbritannien und Westeuropa »Folk-Rock« genannt, dagegen »Ethno-Rock«, wenn sie aus anderen Ländern stammt. Von ihrem Anbeginn in den 1970er-Jahren an hat sich die Logik des ethnischen Rock zu einer wichtigen schöpferischen Praxis für Musiker in zahlreichen Ländern entwickelt; ihre Reichweite nimmt weiterhin zu. Selbst die Popmusik in Indien, die sich bislang als ziemlich resistent gegen die Rock-Ästhetik erwies, wendet sich ihr neuerdings zu: »Bis in die jüngste Vergangenheit gab es drei unterschiedliche Musikgenres: die klassische Musik, die westliche Popmusik und die [indische] Filmmusik. Diese drei Genres vermischten sich eigentlich niemals richtig. Man musste zu den alten Nawabis gehören, um ein Fan der klassischen [indischen] Musik zu sein. Wer jung und im Trend war, stand auf Pop. Und, nun ja, wer Hindi-Filmmusik mochte, musste Desi und nicht ganz hip sein. Heute bröckelt diese Hierarchie der Kasten. Eine neue Art von Sängern mit unterschiedlichen Gesangsstilen bevölkert die gar nicht mehr so junge Indipop-Industrie; sie kreieren einen ganz neuen ›Sound‹, der seinerseits die Hindi-Filmmusik radikal verändert. Diese historische Unausweichlichkeit hat ein neues Genre hybrider Musik entstehen lassen. […] Ash Chandler [einer der erfolgreichen Musiker dieses neuen Genres] sagt: ›Ich habe als Kind Deep Purple und die Beatles gehört. Da ist es doch ganz natürlich, dass diese Musik meine Songs beeinflusst hat.‹«1 Ein stets wiederkehrendes Element in der künstlerischen Ideologie der Musiker, die im weiten stilistischen Kontext des ethnischen Rock oder World-Beat arbeiten, ist ihre beharrliche Selbsteinstufung als RockMusiker, nicht unbedingt als Folk-Kuriositäten für westliche Ohren. Wenn sie Rockmusik und Rock-Ästhetik als wichtigen Einfluss, als zentrale Inspirationsquelle und sozialen Bezugspunkt ansehen, so dient dies ihrer Selbstwahrnehmung als Kosmopoliten. Die Übernahme der Rock-Ästhetik gilt ihnen als ein Akt des Beitritts zur Moderne, der sie zu gleichberechtigten Mistreitern an der schöpferischen, künstlerischen Pionierfront der Popmusik macht. Nehmen wir zum Beispiel Angelique Kidjo aus Benin (Westafrika), die sagt, sie sei mit Musik von James Brown, Santana und dem Klang der heimatlichen Trommeln aufgewachsen. In der Toronto Sun vom 2. August 1996 wird ihr 1996 herausgekommenes Album Fifa als »ein zu Kopf steigendes Gebräu aus dichtem Funk, Pop und indigenen Rhythmen aus Benin« beschrieben. In einem Interview bestand Kidjo auf ihrer Identität als Rock-Künstlerin: »Ich werde nicht die traditionellen Trommeln schlagen und mich kleiden wie die Leute aus dem Busch. Ich werde meinen Hintern für keinen weißen Mann zur Schau stellen. Ich verlange ja auch von Amerikanern nicht, dass sie nur Country-Musik spielen. Doch die haben das Gefühl, dass ein Afrikaner nur afrikanische Musik machen darf. Sie können mir nicht
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vorschreiben, was ich tun soll.« Und in einem anderen Interview sagte sie: »Die Leute kommen zu mir und fragen: ›Glauben Sie, dass das, was Sie da machen, afrikanisch ist?‹ Aber sie haben keine Ahnung von Afrika und sie haben keine Ahnung von meinem Hintergrund. Die meiste Zeit müssen afrikanische Künstler immer und immer wieder erklären, warum sie gerade solche Musik machen. Aber einem angelsächsischen oder französischen Künstler stellen sie niemals solche Fragen. Die müssen nie erklären, was sie tun oder warum sie das tun.«2 Timothy Taylor schreibt in seinem Buch Global Pop: World Music, World Markets über Kidjo und den senegalesischen Musiker Youssou N’Dour, dass diese beiden (wie auch viele andere Musiker) »in den westlichen Forderungen nach Authentizität auch die untergründige Forderung sehen, sie und ihre Länder sollten in der Vormoderne oder in der Moderne verharren, während sich der Rest des Globus weiter bewegt, hin zu einer postindustriellen, spätkapitalistischen, postmodernen Kultur. N’Dour und Kidjo wollen ganz bewusst globale Bürger werden und sie zeigen sich als solche, indem sie demonstrieren, dass ihre Länder und ihr Kontinent weder rückständig noch prämodern sind und dass sie selbst genauso in der Lage sind, (post)moderne Kulturformen zu schaffen, wie die Leute im Westen« (Taylor 1997: 143). Dennoch wird diese Musik, auch wenn in den diversen Genres des World-Beat die Rock-Elemente unverkennbar sind und angloamerikanische Einflüsse zugegeben werden, auch als authentisch und einheimisch dargestellt. Die Zuerkennung »lokaler Authentizität« erfüllt hier einen doppelten Zweck. Sie gibt der Musik und den Musikern einen Platz im Reich individueller Kreativität und Autorschaft, der für die künstlerische Ideologie im Rahmen der Rock-Ästhetik so bedeutsam ist. Und sie verortet die Musik im Projekt der kollektiven Identität ihrer Schöpfer, einem Projekt, dessen Ziel die »Produktion von Einzigartigem« ist, und bewahrt sie somit vor dem Vorwurf reiner Imitation. So wird zum Beispiel der Song »Ich habe nichts« (»Yi Wu Suo You«) des prominenten chinesischen Rockmusikers Cui Jian in der chinesischen Zeitung People’s Daily wie folgt charakterisiert: »Was dieser Song zum Ausdruck bringt, ist das Gefühl einer ganzen Generation: ihre Traurigkeit, ihre Perplexität. […] Die Verwendung des tiefen, verzweifelten Tons der Volksmusik aus der nordwestlichen Hochebene in diesem Lied und seine rauen Rhythmen passen gut zu diesem Zweck. […] In ›Ich habe nichts‹ kann man auch die Keimzelle des chinesischen Rock sehen. Es verschmilzt europäischen und amerikanischen Rock mit traditioneller chinesischer Musik. Dabei entsteht Rockmusik mit einer stark chinesischen Aura.«3
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Und der Musikwissenschaftler Mao-Chun Liang schreibt in seiner Einordnung von »Ich habe nichts« in den »Xi-bei-feng«(»Nordwestwind«)-Stil, wobei er die direkte Verbindung dieses Stils mit der traditionellen Volksmusik aus dem Nordwesten Chinas betont und die »Integration von Elementen des chinesischen Stils und des westlichen Rockmusikstils« hervorhebt, dieser Song sei »eines der erfolgreichsten Ergebnisse einer solchen Integration von Rockmusik und chinesischer Musik« (Liang 1997). In einigen Fällen, in denen Ethno-Rockmusiker lange Zeit aktiv waren, wurde ihr Prestige als Exponenten lokaler Authentizität und kultureller Einzigartigkeit genauso kanonisiert, wie wir es von Kunstmusikern oder Musikern aus den Bereichen der traditionellen Volksmusik kennen. Mit anderen Worten, auch Ethno-Rockmusiker symbolisieren für ihre Zeitgenossen ein Gefühl lokaler oder nationaler Einzigartigkeit – was der Ansicht widerspricht, sie seien nur »amerikanisierte« oder in globalem Sinne homogenisierte Musiker. Darüber hinaus galten im Fall der russischen (de facto ex-sowjetischen) Rockmusiker (vgl. Cushman 1995) und des argentinischen Rock die lokalen Musiker als Bewahrer des ursprünglich subversiven Geistes der Rockmusik, der im angloamerikanischen Rock längst verloren gegangen ist oder »ausverkauft« wurde. Ein solches Beispiel ist der argentinische Musiker Leon Gieco. Sei erstes Album kam 1973 heraus. In den nachfolgenden 14 Alben, die im Laufe eines Vierteljahrhunderts erschienen, wechselte er beständig zwischen akustischem Folk und Elektrogitarren-Rock hin und her; oft kombinierte er beide Stile. Er wurde zu einer der Schlüsselfiguren der Rock-nacional-Bewegung, die die verbreitete Kritik am argentinischen Militärregime der späten 1970er-Jahre zum Ausdruck brachte. Sein Name und seine Musik wurden in ganz Lateinamerika bekannt, als die Sängerin Mercedes Sosa seinen, einer Hymne gleichenden Antikriegssong »Solo le pido a Dios« aufnahm (»Ich bitte nur Gott«, ursprünglich in Giecos viertem Album aus dem Jahre 1978 enthalten). Das folgende Zitat stammt aus einer Konzertbesprechung, die Giecos Statur knapp und treffend umreißt: »Es reicht nicht aus, über ihn als Popmusiker zu sprechen. Aber es ist ebenso unmöglich, ihn als einen Chronisten unserer Zeit zu definieren. […] Leon Gieco ist mit seiner Musik ein Verteidiger unseres kollektiven Gedächtnisses. […] Leon Gieco ist ein Rocker und als solcher versieht er seine Songs mit allem, was dieser Bewegung verloren gegangen ist, als sie vom Markt aufgesogen wurde. Nämlich mit einer Art, die Welt zu betrachten und zu lesen, ohne je konform zu werden. […] Das Auditorium in Mar del Plata ist brechend voll. Mehr noch, es sind viele Leute da, die keinen Sitzplatz haben und die Show im Stehen, an die Wand gelehnt verfolgen. Ganze Familien, junge Paare und zeitlose Rocker sind zu einer populären Fiesta vereint, wie es keine zweite gibt.«4
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Ich meine, dass inzwischen klar geworden ist, dass die Ausbreitung der Rock-Ästhetik keineswegs mit einer Homogenisierung der Musik der Welt identisch ist, wie es so viele Kommentatoren immer wieder befürchtet haben. Die unter der Kategorie World-Beat zusammengefassten Stile und Genres zeigen, dass mit der Rock-Ästhetik trotz ihrer Allgegenwart keine Homogenisierung verbunden ist. Das hat in erster Linie mit der eklektischen Logik im Zentrum der Rock-Ästhetik zu tun. Diese Logik ermuntert permanent zur Erkundung neuer Klangtexturen und Hybridmuster. Das Ergebnis ist darum eine andere, vielleicht neue Form kultureller Vielfalt und musikalischer Variationsbreite – eine Vielfalt, die auf einer breiten Gemeinsamkeit ruht, aber von Gleichförmigkeit weit entfernt ist. Produktion und Rezeption lokaler Rock-Stile fördern eine Art dualer Identität – lokal und kosmopolitisch zugleich. Man spürt die Verbindung zur lebendigen Musikszene, einem transnationalen künstlerischen Feld und fühlt sich doch mit der je eigenen Kultur eng verbunden. Eine Möglichkeit, die weltweite Annäherung der Popmusik an den Rock darzustellen, besteht in ihrer Interpretation als Ausbreitung eines internationalen Feldes der Popmusik, das sich an der RockÄsthetik orientiert. Anders gesagt, die »Rockisierung« impliziert die Konvergenz disparater sozialer Räume der Musikproduktion in einem einzigen sozialen Raum, der sich über den ganzen Globus erstreckt. Das heißt, dass die sich verändernden Grenzen der Klang- und Stilinnovationen im Rock für die Popmusik auf der ganzen Welt zur »Avantgarde« geworden sind. In der Tat wird der Ethno-Rock oder World-Beat seit dem globalen Erfolg des Reggae in den 1970er-Jahren von vielen führenden Popmusik-Kommentatoren als eine der Avantgarde-Positionen auf dem Gebiet der Popmusik verstanden, also als eines der Felder, in denen Innovationen und Erkundungen von Klang und Stil stattfinden, die später von anderen Positionen in diesem Feld übernommen werden können. Natürlich waren auch lokale und traditionelle Musik niemals so »authentisch«, wie man das bisweilen gern annimmt. Musikethnologen haben immer wieder gezeigt, dass die Volksmusikstile verschiedener Länder und Regionen aus der Hybridbildung und Verschmelzung von musikalischen Komponenten erwachsen sind, die verschienen Quellen entlehnt wurden. In diesem Sinne fügt sich auch die weltweite »Rockisierung« der Popmusik in eine lange Geschichte der Hybridbildung und Verschmelzung ein, die es im Bereich der Volksund Populärmusik schon immer gegeben hat. Der wesentliche Unterschied ist, dass bei der Rock-Ästhetik allmählich eine gemeinsame Plattform errichtet wird, die die musikalischen Stile und Idiome der Welt miteinander zu einem einzigen Netz verbindet, das nur einer
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einzigen kulturellen Logik folgt und so zum Habitus, zur Gewohnheit wird.
Anmerkungen 1 India Today vom 7. August 2000. 2 The Peak vom 6. September 1996. Es handelt sich um eine Studentenzeitung der Simon Fraser University in Burnaby, British Columbia. 3 Zitiert bei Jones 1992: 134. 4 Daniel Amiano in La Nacion vom 24. Januar 1997.
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300 | Rob Kroes
Das Internet: Instrument der Amerikanisierung? Rob Kroes
Einmal im Jahr wird in den Niederlanden die Woche des Buches gefeiert. Jedes Jahr erhält ein Autor den Auftrag, ein Buch zu schreiben, normalerweise eine Novelle oder Short Story, die jeder als Geschenk erhält, der im Laufe dieser Woche ein Buch kauft. Bislang waren die Autoren aus verständlichen Gründen Holländer. Im Jahre 2000 indes war das Thema der Buchwoche »Schreiben zwischen den Kulturen« und der Autor, der die Einladung erhielt, war Salman Rushdie, eine Größe des interkulturellen Schreibens schlechthin. Das Buch, das er schrieb, wurde übersetzt und kam in den Niederlanden unter dem Titel Woede (dt. Wut, engl. Fury) heraus. Es ist die Geschichte eines Mannes, der von seiner privaten Version der antiken griechischen Furien gehetzt wird, abgeschnitten von seiner Vergangenheit, seinen Freunden, seiner Frau und seinem Sohn, und der schließlich im selbst gewählten Exil in New York endet. Dort versucht er, seine schöpferischen Kräfte wiederzufinden, und erfindet sich eine imaginäre Welt namens Galileo-1, die von menschlichen Wesen und deren Cyborg-Repliken bevölkert wird, die in einer komplexen Saga von Krieg und Endsieg die urtümlichen Sagen nachspielen, wie sie jede Kultur der Welt kennt. Mit Hilfe einer seltsamen Gruppe junger Computerfreaks verwandelt sich die Erzählung in eine CyberspaceGeschichte, die auf einer Website zugänglich ist. Sie wird umgehend zum weltweiten Hit. Sofort brechen die Figuren aus ihren fiktionalen Käfigen aus und beginnen, die Straßen der Welt zu bevölkern. Von überallher kommen Nachrichten von gigantischen Abbildungen der Helden, die an den Wänden von Hochhäusern kleben. Sie tauchen bei Prominenten-Events auf, singen die Nationalhymne bei Baseballspielen, veröffentlichen Kochbücher und werden in die Talkshow von David Letterman eingeladen. In einer ironischen Seitenbemerkung meint der Protagonist des Buches, Malik Solanka:
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»Überall auf der Welt […] waren die Menschen besessen von dem Gedanken an Erfolg in Amerika. […] In Indien war man sehr stolz auf die Erfolge von U.S.-Indern in der Musik, im Verlagswesen, […] in Silicon Valley und in Hollywood. Die britische Hysterie stieg sogar noch höher. Britischer Journalist findet Arbeit in den USA! Unglaublich! Superstar! Britischer Crossdressing-Comedian gewinnt zwei Emmys! Fabelhaft – wir wussten schon immer, dass britische Transvestiten die besten sind! Erfolg in Amerika war zum einzigen Maßstab für den eigenen Wert geworden« (Rushdie 2003: 330-331). Und nun ist ihm das Gleiche geschehen. Mit all dem Hype und dem damit verbundenen Merchandising stellt die Saga von Galileo-1 neue Rekorde auf. Diesmal allerdings wird die globale Manie nicht durch Film oder Fernsehen ausgelöst, sondern durch eine Website. Rushdies Erzählung liefert uns eine sehr aktuelle Illustration und einen ironischen Kommentar zum Thema des vorliegenden Beitrags. Sie weist den USA die Rolle als Zentrum der globalen Massenkultur zu und sieht das Land im Brennpunkt eines weltweiten Strebens nach Erfolg und Berühmtheit. Die Konsum- und Unterhaltungskultur, die von diesem Angelpunkt der Welt ausgeht, mag mit ihrer schamlosen Kommerzialisierung und aggressiven Vermarktung typisch amerikanische Züge tragen, aber jeder kann von überallher auf der ganzen Welt einen kreativen Beitrag dazu leisten. Aus dieser Sicht ist Amerika ein hungriger Allesfresser, der unterschiedslos alles verschlingt und verdaut, was ihn von fremden Gestaden erreicht, um es anschließend in einer amerikanisierten Version wieder von sich zu geben, fertig für den globalen Konsum. Die Erzählung zeigt Amerika überdies als Beherrscher der Massenkommunikationsmedien – Film, Fernsehen und neuerdings Internet. Indes, auch wenn der Name »World Wide Web« globale Reichweite und gleichberechtigten Zugang signalisiert, dafür aber die Themen kulturelle Handlungsmacht und kulturelle Hegemonie schweigend übergeht – das Web ist von allen gegenwärtig zur Verfügung stehenden Kommunikationsmitteln sicher das amerikanischste. Heißt das nun, dass es notwendigerweise ein Instrument für die weitere Amerikanisierung einer sich abzeichnenden globalen Kultur ist? Diese Frage soll im Folgenden erörtert werden. Aus einer bestimmten Sicht erscheint das Internet als neue Super-Mall für alle »Einkäufer«, die nach Gemeinschaften Gleichgesinnter Ausschau halten – zumal wenn sie dabei aus realen Rahmenbedingungen für Affiliationen ausbrechen können, die ihnen als von außen aufgezwungen und lähmend vorkommen mögen. Demnach wäre das Internet der neue globale Ort für den Aufbau von Gemeinschaften, die imaginativ und buchstäblich virtuell sind, weil sie nur auf den Computerbildschirmen der Beteiligten lebendig werden. Aus einer anderen Perspektive indes könnte das Internet nicht nur befreiend sein – als Angebot einer unendlichen Vielfalt von Möglichkeiten
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für den Aufbau neuer Formen von Cyberspace-Affiliationen –, sondern auch das neueste Medium für die globale Verbreitung einer Kultur, die auf entscheidende Weise amerikanisch geprägt ist. Statt Vehikel für eine Vervielfältigung der Verbindungen unter den Menschen zu sein, könnte es deren Optionen im Gegenteil gerade einschränken und die Nutzer insgeheim einer Amerikanisierung unterwerfen. So lautet meine zentrale Frage also, wie amerikanisch das Internet mit seinen Möglichkeiten zur Beeinflussung der Nutzer tatsächlich ist. Für eine definitive Antwort ist es noch zu früh. Das Internet ist, so wie es sich jetzt entwickelt, noch zu jung und seine Auswirkungen auf die Nutzer ändern sich weiterhin laufend, während das Netz sich weltweit ausbreitet. Meine Untersuchung bezieht sich deshalb auf das Potenzial des Internets, seine Versprechungen und potenziellen Bedrohungen, so wie sie der Gemeinschaft der Nutzer erscheinen. Ich werde das Potenzial des Internets im Lichte der Träume betrachten, die es für Amerikaner und Nichtamerikaner bereithält. Immer handelt es sich dabei um Träume von der perfekten Information, so wie sie dem klassischen Bild des Homo politicus und des Homo oeconomicus zugrunde liegen, wenn nicht gar dem des Homo universalis – dem Bild des vollkommen informierten Bürgers, Konsumenten und kultivierten Menschen. Hinsichtlich des Letztgenannten widme ich mich dem Traum, dass das Internet potenziell das gesamte menschliche Wissen wiederherstellen könne – dem Traum der perfekten Intertextualität oder, anders gesagt, dem Traum von der verlorenen Bibliothek als Schatzkammer des Wissens. Doch zunächst werde ich untersuchen, wie das Internet unsere politischen und wirtschaftlichen Träume beeinflussen kann, und dabei immer die mögliche amerikanische Färbung im Blick behalten, die diese Träume durch das Internet erhalten können.
Träume von Demokratie Angesichts seiner Auspizien und seiner frühen Geschichte könnte das Internet durchaus als ein Paradox erscheinen, wenn nicht gar als Oxymoron. Denn in seinen Anfängen war es ein Instrument des Kalten Krieges, ein militärischer Schachzug, um es dem Gegner unmöglich zu machen, die Kommando- und Kommunikationsstrukturen der amerikanischen Regierung mit einem gezielten Vernichtungsschlag zu zerstören. Genau dies geschah jedoch – und hier liegt das Paradox – in einem Akt der Vorwegnahme. Statt dem Feind zu gestatten, das eigene Nervenzentrum zu treffen, entschieden sich die Pentagon-Planer dafür, das Zentrum selbst zu entfernen und es durch ein Hydra-
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ähnliches Kommunikationsnetz mit mehreren Zentren zu ersetzen. Ermöglicht wurde dieser Schritt durch die Entwicklung der Netzwerktechnologie mit untereinander verbundenen Computern. Das Arpanet, wie sich die frühe, geheime militärische Version des Internets nannte, hatte mit der späteren öffentlichen Version des Internets viele zentrale Merkmale gemein. Es war ein dezentrales, wenn nicht gar zentrumsloses System – ein Netz, das die Kommunikationsströme einfach umleiten sollte, falls Teile des Netzes beschädigt würden. Das Paradoxe liegt, wie schon gesagt, darin, dass sich die Regierung ihr eigenes Zentrum nahm und dafür eine ihrem Wesen nach anarchische Struktur entwickelte. Beseitigt wurden hierarchische Strukturen der Überund Unterordnung, und potenziell wurden dafür eine Äquivalenz von Sendern und Empfängern sowie eine Gleichheit der Informationsströme etabliert. Dieses Potenzial des Systems kam erst vollständig zur Geltung, nachdem das Netz geöffnet worden war: zuerst für die Universitäten und später für die Öffentlichkeit.1 Nachdem sich das Internet von seinen militärischen und strategischen Entstehungsbedingungen emanzipiert hatte, wurde es zum bevorzugten Tummelplatz einer akademischen Gemeinschaft meist junger Intellektueller, die dem System eine Ideologie der Freizügigkeit im Sinne der späten 1960er-Jahre verpassten. Trotz des neueren Internet-Wachstums aus kommerziellen Motiven ist uns die frühe Sicht des Internets als eines Reiches der Freiheit und Gleichheit und eines Hortes antiautoritärer, wenn nicht gar regierungsfeindlicher Gefühle bis heute erhalten geblieben. Ein krasses Beispiel für diesen zur Subversion gegen alles Staatliche neigenden, freizügigen Geist der Hemmungslosigkeit ist das Treiben der so genannten Hacker, die die Codes knacken, welche die geheimen Datenbanken der Regierung schützen: Diese Hacker setzen also das Netz gegen die Regierung ein. Es handelt sich hier zwar um einen Extremfall, doch um einen, der ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Grundeinstellung einer größeren Zahl von Internet-Nutzern wirft. Gemeinsam haben diese Nutzer dem Internet ein eigentümlich amerikanisches Flair gegeben, eine Prägung, die die hergebrachte Rhetorik des amerikanischen Republikanismus widerspiegelt: Sie sehen im Internet – und besonders im World Wide Web – nicht nur eine virtuelle Gemeinschaft, sondern auch eine Gemeinschaft der Tugendhaften. Zugegeben, diese idealistische Sicht der Internet-Gemeinschaft steht eher für einen Traum als für die Realität. Denn zum einen ist die Zahl jener Internet-Nutzer groß, die sich am Internet-Geschehen mit völlig anderen Zielen und Motiven als mit solchen republikanischen Gesinnungen beteiligen. Wichtiger noch ist allerdings, dass der Traum vom Republikanismus, der Traum von einer die ganze Menschheit umfassenden Gemeinschaft – was der Begriff »World
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Wide Web« doch wohl zum Ausdruck bringen soll –, von der Realität meilenwert entfernt ist. Tatsächlich bilden, weltweit gesehen, die Internet-User nur eine kleine, privilegierte Gruppe – durchaus repräsentativ, nur eben dafür, wie im Allgemeinen die Früchte der westlichen Zivilisation unter der Weltbevölkerung verteilt sind. Trotzdem lässt sich nicht bestreiten, dass der Zugang zum Internet allmählich auch auf zuvor ausgeschlossene Gruppen ausgeweitet wird. Dabei wird diesen Gruppen vielleicht der Geschmack an aktiver Beteiligung an einer virtuellen Gemeinschaft vermittelt – einem Bürgerrecht, das ihnen in ihren realen Lebenssituationen bislang stets vorenthalten worden war. Ich habe bei diversen Gelegenheiten, bei denen junge Akademiker aus Ländern der Zweiten und Dritten Welt zusammenkamen, zahlreiche Berichte über die befreiende Wirkung des Internet-Zugangs gehört – etwa auf junge Forscherinnen in islamischen Ländern oder junge Akademiker in den lähmenden bürokratischen und hierarchischen Universitätsstrukturen in Teilen der früheren Sowjetunion. Weil sich das Sammelbecken des Webs ausweitet und weil es dabei immer repräsentativer für die Menschheit auf der ganzen Welt wird, ist es auch eine der zentralen Kräfte in einem Prozess, den man gemeinhin als Globalisierung bezeichnet. Aus dieser Sicht erhebt sich also – wie bei anderen Diskussionen über die Globalisierung – die Frage, ob es sich auch um eine Kraft handelt, die die Welt amerikanisiert. Anders gefragt, in welchem Maß können wir das Web als Übertragungsmedium ansehen, das kulturelle Werte und einen mentalen Habitus vermittelt, die erkennbar amerikanisch sind?
Wie amerikanisch ist das Internet? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, an diese Frage heranzugehen. Ein pragmatischer Weg besteht darin, die relative Nutzungsdichte im Internet zu ermitteln. In einer graphischen Darstellung der Verkehrsdichte in den Kommunikationskanälen, die das Internet bereitstellt, würden die USA eindeutig als der herausragende Knotenpunkt des Netzes erscheinen, während es an anderen Stellen des Netzes nur kleinere, weniger wichtige Knoten gäbe. Diese wären untereinander verbunden, in dem Sinne, dass Verkehrsströme durch die Verbindungsleitungen zwischen diesen Knoten fließen, doch nicht im Entferntesten mit jener Dichte, die für die Knotenpunkte selbst typisch ist. Das heißt, die tatsächliche Nutzung des Internets für die interpersonale Kommunikation tendiert immer noch zur Konzentration auf die nationalen Gesellschaften, wie sie unsere heutige Welt kennt. Die Amerikaner neigen dazu, untereinander über das Internet wesentlich
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mehr zu kommunizieren als mit der Welt außerhalb Amerikas, und dasselbe Muster scheint auch für die anderen nationalen Gesellschaften zu gelten. Es mag durchaus sein, dass in anderen Gesellschaften die Zahl der Internet-Anschlüsse pro Kopf, also der Grad der Vernetzung, größer ist als in den Vereinigten Staaten. Finnland zum Beispiel ist enger vernetzt als die USA, doch hinsichtlich der absoluten Verkehrsdichte im Internet ist Finnland gegenüber den Vereinigten Staaten nur ein kleinerer Knoten. Unsere imaginäre graphische Darstellung würde also Amerikas zentrale Rolle deutlich hervorheben, so wie Amerika auch auf vielen anderen Gebieten eine Spitzenstellung einnimmt – man kann somit ohne allzu große Übertreibung von einer imperialen Position der USA sprechen. Amerika bildet das Zentrum, in diesem wie in vielen anderen Bereichen; es ist ein Zentrum der weltumspannenden Kommunikationsstrukturen. Den anderen Teilnehmern kommt demgegenüber nur eine relativ untergeordnete Bedeutung an der Peripherie zu. Amerika ist eher Sender als Empfänger – weitgehend so, wie ehemals Rom im Zentrum seines Imperiums stand.2 Aus dieser Sicht ist das Internet also immer noch weitgehend ein Kommunikationsmittel, dessen sich die Amerikaner weit mehr bedienen als jede andere Nation der Welt. Sie waren die Ersten, die das Net nutzten, und sie tragen immer noch den Löwenanteil zur Kommunikation im Net bei. Wenn man nun die Urheberrolle der USA bedenkt und die amerikanischen Auspizien, unter denen große Teile der heutigen Internet-Kommunikation ablaufen, bedeutet das auch, dass die Amerikaner in der Lage waren und sind, einen für Internet-Konversationen charakteristischen Tonfall zu etablieren? Anders gefragt, konnten die Amerikaner dem Einsatz des Internets durch Nutzer außerhalb Amerikas ihren kulturellen Stempel aufprägen? Diese Frage legt einen zweiten Untersuchungsansatz nahe. Bezüglich des Tons und der Anlage der Botschaften, die via Internet übermittelt werden, möchte ich zwei Merkmale hervorheben, die man als »amerikanisch« klassifizieren könnte. Zum einen ist es die zunehmende Informalität der Kommunikation, zum anderen die größere »Demokratisierung« oder Enthierarchisierung der Kommunikation, die das Net anscheinend mit sich bringt. Ein Vergleich mit zwei älteren Kommunikationsformen, mit der Kunst des Briefschreibens und dem Telefongespräch, kann verdeutlichen, was ich meine. In puncto Anredeformen und Sprachmodus ist ein herkömmlicher Brief wesentlich stärker stilisiert und deutlich formeller als die durchschnittliche Internet-Kommunikation. Denn im Net kommt die Informalität der gesprochenen Sprache stärker zum Ausdruck als der formale Code schriftlicher Kommunikation. So besteht eine größere Nähe zur Direktheit von Telefongesprächen. Andererseits zögern viele
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Leute gerade wegen dieser Direktheit, die manchmal den Charakter des sozial Aufdringlichen hat, in Situationen sozialer Ungleichheit, zum Beispiel in hierarchisch strukturierten Umgebungen, zum Telefonhörer zu greifen. Neuere Forschungen (van den Hoof 1997) belegen, dass man in solchen Situationen schneller eine E-Mail schreibt. Die Empfänger solcher Botschaften können sie zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl lesen und beantworten. In diesem Sinne sorgt die Kommunikation per E-Mail für eine Absenkung sozialer Schwellen und für einen erleichterten Austausch über hierarchische Grenzen hinweg. E-Mail-Botschaften nehmen also eine Mittelstellung zwischen den älteren Kommunikationsarten des Briefschreibens und Telefonierens ein. Mit ihrer größeren Informalität von Ton und Stil ähneln sie einem Telefongespräch, während sie als Kommunikationsmittel über hierarchische Grenzen hinweg einem Brief näher stehen, nur dass sie schneller und darum auch effizienter sind. Wenn Informalisierung und Demokratisierung der Kommunikation tatsächlich Merkmale des E-Mail-Austauschs sind, können wir dann auch den Schluss ziehen, dass diese Entwicklung unter amerikanischen Auspizien stattgefunden hat? Könnten wir nicht auch mit Marshall McLuhan argumentieren, dass das Medium die Botschaft sei, anders gesagt, dass die Natur des Mediums über seine sozialen und kulturellen Auswirkungen entscheide, unabhängig davon, wer als Erster den Ton dieses Mediums festgelegt hat? Wie bei vielen anderen Beispielen der Modernisierung ist es wahrscheinlich nicht möglich, sauber zwischen alternativen Erklärungsmöglichkeiten zu trennen. Wir können nur vermuten, wie typische E-Mails heute aussähen, wenn die Idee und ihre Umsetzung in Frankreich oder Japan statt in den USA ihren Ausgang genommen hätten. Und doch, wie die Geschichte vieler moderner Erfindungen zeigt (etwa bei Autos, Kameras oder beim Film), unterschied sich Amerika darin systematisch von europäischen Ländern, dass man dort immer danach strebte, diese Neuheiten massenhaft zugänglich zu machen, statt sich auf die oberen Zehntausend zu beschränken. In Amerika ging es um Benutzerfreundlichkeit, Massenmarketing und Massenwerbung, während man in Europa dafür sorgte, dass diese Erfindungen die etablierten Sozialhierarchien eher bestärkten als umstießen. Groß war die Zahl der peinlich berührten Beobachter aus Europa, die zur Kenntnis nahmen, wie durch die Art und Weise, wie Amerikaner ihre Autos benutzten oder wie sie in Scharen zu den neuesten Filmen in die Kinos strömten, die sozialen Schranken außer Kraft gesetzt wurden. Sehr häufig hatten sie das Gefühl, hier zeichneten sich bereits die ominösen Umrisse von Europas Zukunft ab, und in vielen Fällen hatten sie durchaus Recht. Die Freuden des Massenkonsums sollten Europa in der Tat später erreichen; und danach war die ursprüngliche Nutzung techni-
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scher Erfindungen zur Stützung des symbolischen Kapitals der sozialen Eliten nicht mehr ohne weiteres möglich. Es ging also niemals allein darum, dass Europa bei einer Parallelentwicklung zur Konsumgesellschaft mit Amerika Schritt halten konnte. In der Mehrzahl der Fälle hatten europäische Durchschnittsbürger, bevor sie sich den Luxus von Massenkonsumgütern leisten konnten, bereits Geschmack daran und an den damit einhergehenden demokratischen Freuden gefunden – unter dem Eindruck der Bilder und Ansichten vom guten Leben, die sie aus Amerika erreichten: in Filmen, Fotos, journalistischen Berichten und Briefen von Freunden und Verwandten, die nach Amerika ausgewandert waren. Wenn dies bereits für Erfindungen galt, die mehr oder weniger gleichzeitig auf beiden Seiten des Atlantiks eingeführt wurden, in wie viel stärkerem Maße musste es dann für neuartige Kommunikationsmittel wie das Internet gelten – ein Medium, das, von Amerikanern erfunden und von deren Geist des Egalitarismus durchdrungen, die Nichtamerikaner in einer Form erreichte, deren amerikanische Prägung bereits fest etabliert war? Trotzdem kann die andere Lesart, dass das Medium die Botschaft sei, nicht in Bausch und Bogen abgetan werden. Eine bestimmte Kommunikationsart bedingt in gewisser Weise auch Form und Ton, die dort herrschen, wenn man sich ihrer bedient. Ein Telefongespräch wird niemals mit der Floskel »Mit freundlichen Grüßen« enden, noch beginnt man einen Brief normalerweise mit »Hallo, hier schreibt …« Es könnte also durchaus sein, dass eine dem Medium inhärente Logik für die größere Informalität und Gleichheit beim E-Mail-Austausch verantwortlich ist. Wenn dies zutrifft, dann dürfte die E-Mail aus sich heraus als eine Kraft der Informalisierung und Demokratisierung weltweit wirksam werden. Das ist, wie Sellar und Yeatman (1930) sagen würden, natürlich »eine gute Sache«. Doch wenn E-Mail die Kommunikationsqualität positiv beeinflussen kann, ist dann auch das Gegenteil möglich? Sorgen bereitet etwa die Vergänglichkeit, das Ephemere der EMail-Kommunikation. Wenn E-Mails nicht angemessen gespeichert werden, elektronisch oder auf altmodische Art durch Papierausdruck, hinterlassen sie keine Spuren. Auch hierin gleichen sie Telefonaten. Aus Sicht des Historikers muss dies Folgen für unser Geschichtsbewusstsein und für unsere Fähigkeit haben, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Natürlich, man kann auch Archive in den Reißwolf geben oder Tonbandmitschnitte von Gesprächen im Oval Office anfertigen; man kann als Beteiligter Kommunikationsprozesse manipulieren, oftmals um den eigenen Platz in den Geschichtsbüchern zu manipulieren und zu kontrollieren. Aber solche aktiven Eingriffe folgen nicht logisch aus dem Wesen des jeweiligen Kommunikationsmediums. Bei E-Mail oder Telefongesprächen indes ist das anders: Hier hat
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das Medium direkte Auswirkungen auf den historischen Quellenstatus der Botschaft. Im Zusammenhang unserer Erörterung entbehrt dies nicht einer gewissen Ironie. Gut, das Medium mag inhärent und unabhängig vom Benutzer über die Vergänglichkeit der ausgetauschten Botschaften entscheiden. Aber wenn sich die amerikanische Gesellschaft derart massiv gerade dieser speziellen Kommunikationsform bedient, mit allem Gedächtnisschwund, den sie impliziert, dann mag dies Außenstehenden auch wie eine Bestätigung dessen vorkommen, was in älteren Formen der Kulturkritik über Amerika schon seit eh und je geäußert wird: dass die amerikanische Kultur ihrem Wesen nach ahistorisch sei und dass ihr ein Gespür dafür fehle, dass die Gegenwart zum Fundus der Geschichte Wesentliches beizutragen hat. Womit wir wieder bei der Frage wären, wie amerikanisch das Internet wirklich ist. Ein stets wiederkehrendes Thema bei kritischen Beobachtungen von Europäern zur amerikanischen Kultur ist die Geschichtsvergessenheit, die muntere Orientierung allein an Gegenwart und Zukunft. Und so hätte das Internet, das, als es zum bevorzugten Kommunikationsmittel der Amerikaner wurde, diese früheren Einstellungen schon in sich trug, wohl auch auf ältere Beobachter den Eindruck des »typisch Amerikanischen« gemacht. Aus dem inhärenten Wesen des Internet-Austauschs ergibt sich logisch noch eine weitere Konsequenz, die wie eine Bestätigung negativer Ansichten zur amerikanischen Kultur wirkt. Es scheint sich dabei um die Kehrseite des demokratischen Meinungsaustauschs zu handeln, den das Internet ermöglicht. Aus dieser Sicht sind nämlich alle Botschaften, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, gleichwertig. Es gibt keine Überprüfungsinstanz, wie sie verantwortlichere, ältere Formen der Nachrichtenübermittlung, etwa das Pressewesen, kennen. Alles ist möglich, jeder kann mitmachen. Es sieht so aus, als würde die Wahrheit ihre Bestätigung jetzt nur noch durch andauernde Wiederholung der Botschaften erfahren anstatt durch traditionelle Kontrollformen wie Quellenüberprüfung, Versions- und Meinungsvergleiche, und so weiter. Auf diese Weise haben sich Gemeinschaften gleichgesinnter Internet-User gebildet, die im Konsens eine Sicht der Realität teilen, die schon an Verschwörungstheorien grenzt. In überraschend hohem Maß teilen zum Beispiel schwarze Amerikaner den Glauben an eine Verschwörung der Weißen, wonach die AIDS-Epidemie Ergebnis der Machenschaften weißer Rassisten ist. Auf ähnliche Weise können Individuen unter Einsatz ihres berühmten Namens und ihrer vermeintlichen Autorität wildesten Gerüchten Glaubwürdigkeit verleihen und dieser quasi verbrieften Lesart bestimmter Ereignisse den Stempel der Wahrheit verleihen. So schaffte es Pierre Salinger mit seiner im Internet verbreiteten Ente, ein ziviles Flugzeug
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der TWA sei im Juli 1996 vor der Küste Long Islands von einer Rakete abgeschossen worden, in die Schlagzeilen. Ein anderes schlimmes Beispiel ist der Drudge Report, eine elektronische Zeitung, die ein wildes Durcheinander von Ausschnitten aus etablierten Zeitungen, Gerüchten und Klatsch verbreitet. Der Herausgeber, Matt Drudge, verteidigt seine Editionspolitik mit der Bemerkung, Gerüchte und Klatsch seien lediglich noch unbestätigte Informationen. Noch ein weiterer Internet-Trend bereitet vielen Beobachtern erhebliche Kopfschmerzen: Chatgroups und Websites, die sich auf Hassbotschaften und rechtsradikale Bigotterie spezialisiert haben. Dies sind nur einige wenige Beispiele für eine bestimmte Sicht des Internets, die in jedem Nutzer einen Journalisten sieht, der berechtigt ist, seine Ansichten im Internet zu verbreiten, weil er die gleichen Rechte hat wie alle anderen User. Hier zeigen sich die Fallstricke einer ins Extrem getriebenen Demokratie, und solche Exzesse wirken nur wie die neueste Bestätigung von de Tocquevilles düsteren Ansichten zum üblen Potenzial einer Gesellschaft, die allein von egalitären Prinzipien geleitet wird. Gleichwohl verfügen solche Gesellschaften, wie optimistischere Beobachter einwenden würden, über genügend Vitalität und eine ganze Bandbreite von Korrekturmöglichkeiten, um solchen Exzessen entgegenzutreten. Ältere und respektablere Stimmen der öffentlichen Meinung, zum Beispiel gedruckte Presseorgane, warnen vor solchen Trends in eigenen Analysen.3 Im Net gibt es für jede Chatgroup oder Website, die bestimmte Ansichten propagiert, immer auch rivalisierende Sites, die gegenteilige Ansichten verkünden. Auch bieten die etablierten juristischen Instanzen Geschädigten die Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Zum Beispiel wurde im Herbst 1997 Drudge wegen Verleumdung des ehemaligen Journalisten und Clinton-Beraters Sidney Blumenthal angeklagt, nachdem er diesem Gewaltanwendung in der Ehe vorgeworfen hatte. Mit allen genannten Mitteln lässt sich eine Balance herstellen zwischen der Freiheit im Internet und einem Verhaltenskodex, der sich an moralischen Grundsätzen und verantwortlichem Handeln orientiert – so wie er schon lange in den älteren Medien gilt, die die öffentliche Meinung prägen. In der Tat wurden in den USA unter Regierungsauspizien schon mehrfach Versuche zur Regulierung des Internets unternommen. Sosehr das Net den frühen Enthusiasten auch als Werkzeug einer regierungsfeindlichen Freizügigkeit erschienen sein mag, die Regierung könnte jetzt zum Gegenschlag bereit sein. Ihr erster derartiger Versuch hatte mit einem Anliegen zu tun, das viele Amerikaner teilen: der Unterbindung der Verbreitung von obszönem Material über das Internet. Die Regierung versuchte, Kontrollmaßnahmen nach dem Communications Decency Act durchzusetzen, kam damit jedoch nicht durch. Im Juni 1997 erklärte der
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Supreme Court das Gesetz für verfassungswidrig. Doch allein der Versuch einer gesetzgeberischen Intervention ließ den selbst ernannten Wächtern der frühen libertären Internet-Kultur bereits die Haare zu Berge stehen.
Ein Freiheitlicher schlägt zurück Eine Stimme, die sich zugunsten der republikanischen Vision des Internets erhob, ist die von John Perry Barlow, einem Angehörigen jener frühen Generation von Internet-Pionieren, die man zu Recht als »Cybergurus« bezeichnet. Er steht für den frühen Pioniergeist der »Cybercowboys« oder »Cybernauts« und zählt zu den Mitbegründern einer Computer-Bürgerrechtsorganisation, die sich für die Interessen der Bürger des Cyberspace einsetzt: der Electronic Frontier Foundation (EFF). Aus dem selbstgewählten Zürcher Exil protestierte er gegen die Versuche der US-Regierung, die Freiheiten des Cyberspace zu regulieren. Das Mittel seiner Wahl war die Veröffentlichung eines Manifests im Internet, einer Declaration of the Independence of Cyberspace.4 Es handelt sich um eine bemerkenswerte Melange aus klassischer amerikanischer politischer Rhetorik in der geheiligten Tradition der Unabhängigkeitserklärung, versetzt mit Antiamerikanismus. Das vorherrschende regierungsfeindliche Sentiment, das in den USA eine lange Tradition hinter sich hat, wendet sich nunmehr gegen die amerikanische Regierung. Einige Zitate können dem Leser einen treffenden Eindruck vermitteln: »Ihr Regierungen der industriellen Welt, ihr matten Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich euch, die ihr der Vergangenheit verhaftet seid, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid unter uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, endet eure Souveränität. Wir haben keine gewählte Regierung, noch werden wir wahrscheinlich je eine haben. Darum wende ich mich an euch mit keiner größeren Autorität als jener, mit der die Freiheit immer spricht. Ich erkläre den globalen sozialen Raum, an dem wir bauen, für von Natur aus unabhängig von den Tyranneien, die ihr uns auferlegen wollt. Ihr habt kein moralisches Recht, uns zu regieren, und ihr verfügt auch nicht über Durchsetzungsmethoden, die wir wirklich fürchten müssten. Regierungen leiten ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten her. Ihr habt die unsrige weder gesucht noch erhalten. Wir haben euch nicht zu uns gebeten. Ihr kennt weder uns noch unsere Welt. Der virtuelle Raum (Cyberspace) liegt nicht innerhalb eurer Grenzen. […]
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Wir schließen unseren eigenen Sozialkontrakt. Und diese Selbstregierung wird nach den Bedingungen unserer, nicht eurer Welt erfolgen. Unsere Welt ist anders. Der Cyberspace besteht aus Transaktionen, Beziehungen und dem Denken selbst, arrangiert wie eine stehende Welle im Netz unserer Kommunikationen. Unsere Welt ist eine, die überall und zugleich nirgends ist, aber sie befindet sich nicht dort, wo die Körper leben. Wir schaffen eine Welt, zu der jedermann Zutritt hat, eine Welt ohne Privilegien oder Vorurteile, die sich nach Rassen, wirtschaftlicher Macht, militärischer Stärke oder Geburt richten. Wir schaffen eine Welt, in der jeder überall seine oder ihre Überzeugungen äußern kann, ganz gleich wie unkonventionell diese sein mögen, ohne Angst, zum Schweigen gebracht oder zur Konformität gezwungen zu werden. Wir glauben, dass unsere Selbstregulierung sich aus der Ethik, aus aufgeklärtem Eigeninteresse und dem Gemeinwohl ergeben wird. […] In den Vereinigten Staaten habt ihr heute ein Gesetz geschaffen, den Telecommunications Reform Act, der eure eigene Verfassung zurückweist und den Träumen von Jefferson, Washington, Mill, Madison, Tocqueville und Brandeis Hohn spricht. Diese Träume müssen bei uns zu neuem Leben erweckt werden. Eure zunehmend obsoleten Informationsindustrien möchten sich am liebsten dadurch ewiges Leben sichern, dass sie in Amerika wie anderswo Gesetze vorschlagen, die den Anspruch erheben, die Meinungsäußerungen auf der ganzen Welt zu besitzen. Solche Gesetze würden am liebsten auch Ideen zu Industrieprodukten erklären, die nicht edler sind als Roheisen. In unserer Welt indes kann alles, was der menschliche Geist zu schaffen in der Lage ist, unendlich und kostenlos reproduziert und verbreitet werden. […] Diese zunehmend feindseligen und kolonialistischen Maßnahmen bringen uns in dieselbe Lage wie frühere Liebhaber der Freiheit und Selbstbestimmung, die die Autorität entfernter, uninformierter Mächte zurückzuweisen hatten. Wir müssen unser virtuelles Selbst als immun gegen eure Souveränität erklären, selbst wenn wir eurer fortdauernden Herrschaft über unsere Körper weiterhin zustimmen. Wir werden uns über den ganzen Planeten verbreiten, sodass niemand unsere Gedanken einkerkern kann. Wir werden im Cyberspace eine Zivilisation des Geistes errichten. Möge sie humaner und gerechter sein als die Welt, die eure Regierungen bislang geschaffen haben.« Wenn wir nun auf die Frage zurückkommen, wie amerikanisch das Internet ist, so lässt sich Barlows Unabhängigkeitserklärung als neueres, wenngleich paradoxes Zeugnis für das Fortleben amerikanischer politischer Träume verstehen. Dieses Dokument ist mit seiner anti-
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amerikanischen Stoßrichtung zwar paradox, aber dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass es mit seinen Ansichten zum Cyberspace – als einem Reich republikanischer Tugenden, das von »Netzbürgern« (»netizens«) bevölkert wird, die eine über nationale Grenzen weit hinausgehende Gemeinschaft bilden – eine Sprache erkennen lässt, die unmissverständlich amerikanisch geprägt ist. Doch wie schon gesagt, das Internet ist auch noch aus ganz anderen Gründen amerikanisch. Jeder, der im Internet surft, wird in eine Welt der Informationen hineingezogen, die kommerzielle Botschaften mit anderen Inhalten verbindet und die in den meisten Fällen eindeutig amerikanischen Ursprungs, zumindest aber amerikanisch geprägt ist. Allem potenziellen Egalitarismus zum Trotz steht das Internet in seiner gegenwärtigen Form zweifellos für eine Netzstruktur mit einem Zentrum, das eine Anzahl peripherer Bereiche dominiert. Diese Sicht führt uns zur Frage zurück, ob der durch das Internet erleichterte Globalisierungsprozess nicht zugleich als Instrument für eine vom Zentrum ausgehende Amerikanisierung der Peripherien dient. Gibt es in Anbetracht des offenen Zugangs zum Internet vielleicht eine Möglichkeit für die Peripherien, zurückzuschlagen und direkt ins Zentrum der Verbreitung amerikanischer Massenkultur einzudringen?
Amstel Light – Die Peripherie schlägt zurück Im Frühjahr 1997 schickte mir ein amerikanischer Freund einen Zeitungsausschnitt aus einer, wie er sie nannte, »alternativen Wochenzeitung« aus Washington, DC: dem Washington City Paper. Aufgrund dieser Beschreibung dachte ich an eine recht kleine Leserschaft mit Vorlieben und Ansichten, die von denen des Mainstream deutlich abwichen; anders gesagt, mit einem Publikum, das man auf eine Art und Weise ansprechen konnte, die für die Mehrheit der Bevölkerung undenkbar gewesen wäre. Der Zeitungsausschnitt war eine Art Weckruf, ausgehend von einer Gruppe, die sich selbst »Garrison Boyd and Americans for Disciplined Behavior« nannte (Garrison Boyd und die Amerikanische Initiative für diszipliniertes Verhalten). Für mich klang das wie irgendein Ableger der Christlichen Koalition. In fetten Lettern sprang die Botschaft »IMPENDING DOOM« (»DROHENDER UNTERGANG«) einen förmlich an. Überraschenderweise folgte dann jedoch ein Angriff auf die Stadt Amsterdam, auf ihre »widerliche Offenheit« und ihre »spontanen gesellschaftlichen Umgangsformen«. Damit einem die Botschaft auch wirklich eingehämmert wurde, ging es im Ton moralischer Entrüstung weiter: »Fragen Sie sich selbst: Wollen Sie Amsterdams rücksichtslose Kultur der ›Offenheit für alles‹
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hier haben? Nein!« Gleichwohl schien der Weltuntergang unmittelbar bevorzustehen. Wie sich schließlich herausstellte, sollte besagte Botschaft die Amerikaner vor Amstel-Bier als »der wahren Verkörperung von Amsterdams rücksichtslos offenem Verhalten« warnen: »Sie müssen sich der Verführung dieser Leute widersetzen. Sie müssen nein sagen zu den Amstels aus Amsterdam!« Schließlich wurde noch auf eine Website verwiesen (www.g-boyd.com), die, nachdem man sie geöffnet hatte, weitere strenge Warnungen vor dem Übel der diversen Amstel-Biere enthielt.5 Wie ich bald darauf erfuhr, handelte es sich nicht um irgendeine kleine Anzeigenkampagne, die sich mit ironischem Unterton an eine zahlenmäßig kleine Gruppe von Weltläufigen wandte, sondern um eine 20-Millionen-Dollar-Kampagne, die auf Amerikaner jeglicher Couleur abzielte. Wie ein Artikel auf der Medienseite der Village Voice (Savan 1997) klar machte, war die Kampagne sogar bis zum Times Square in New York mit seinen riesigen Anzeigentafeln vorgedrungen, und damit ins Allerheiligste der amerikanischen Werbeindustrie. Außer diesen Tafeln wurden auch die Vordächer von Kinos in der 42nd Street, die kurz zuvor noch absolut nicht jugendfreie Filme gezeigt hatten, in den Dienst der Kampagne gegen die moralische Korruption aus Amsterdam gestellt: »Schauen Sie nicht hin. Schützen Sie Ihre Augen.« »Offenheit bedeutet Gefahr.« Indem ein holländischer Brauereikonzern seine Produkte im Licht böser Verführung erscheinen ließ und die Öffentlichkeit dazu aufrief, seine Biere um jeden Preis zu meiden, hatte er sich in Zusammenarbeit mit einer amerikanischen Werbeagentur für eine ironische Umkehrung der üblichen Werbestrategien entschieden und dabei den Kreuzzugston moralischer Entrüstung parodiert, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten große Teile des öffentlichen Diskurses in den USA geprägt hatte. Interessant ist dieser Fall aus mehreren Gründen. Zunächst sollte der Multimedia-Aspekt dieser Kampagne nicht übersehen werden: Von den klassischen Zeitungsanzeigen über Anzeigentafeln und Kinovordächer bis zum World Wide Web – Amstels listenreicher Werbung konnte man sich praktisch nirgends entziehen. Überall wurden die Konsumenten behämmert. Hinzu kommen aber noch weitere Gesichtspunkte, die für meine Argumentation unmittelbare Bedeutung haben. In vielen neueren Untersuchungen über die Rezeption verschiedener Produkte und Formen der amerikanischen Massenkultur im Ausland wird besonders der Aspekt der Freiheit beim Rezeptionsvorgang hervorgehoben. Aufgezeigt werden viele erfindungsreiche, phantasievolle Möglichkeiten, die Bedeutung der amerikanischen Massenkultur beim Rezeptionsvorgang zu verdrehen und neu zu definieren, um sie im weiter gefassten kulturellen Kontext des eigenen Alltags verwendbar zu ma-
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chen. Bei allen derartigen Rezeptionsstudien liegt der Schwerpunkt auf der kreativen Aneignung amerikanischer Massenkultur durch ein Publikum, das diesem Einfluss außerhalb der amerikanischen Landesgrenzen ausgesetzt ist. Auf diese Weise diente die Untersuchung von Problemen einer angeblichen Amerikanisierung anderer nationaler Kulturen außerhalb der USA auch dazu, das Problem neu zu definieren – im Sinne des kreativen Aktes kultureller Übertragung. Angesichts der zahlreichen nationalen Rezeptionskontexte hat sich der Schwerpunkt auf das Bemühen verlagert, jene Prozesse zu verstehen, die man auch als Nationalisierung der amerikanischen Kultur bezeichnen könnte. So stellt sich etwa für ein Land wie die Niederlande das Problem nicht so sehr als Amerikanisierung der holländischen Kultur dar, sondern als Niederländisierung der amerikanischen Massenkultur. Interessanterweise führt uns die Amstel-Werbekampagne noch einen Schritt weiter. Das zu verkaufende Produkt war nicht amerikanisch, sondern holländisch, wie auch die Auftraggeber der Werbekampagne. Statt dass hier Ausländer dem Verführungspotenzial amerikanischer Images ausgesetzt wurden, zielte die Amstel-Kampagne auf die Amerikaner. Sie basierte auf den bei Amerikanern vorherrschenden Images, denen zufolge die holländische Kultur übermäßig offen und permissiv ist. Die Kampagne entschied sich dafür, diese Images ironisch zu recyceln, wobei die apokalyptische Sprache der zur »moralischen Mehrheit« zählenden Teile der amerikanischen Öffentlichkeit parodiert wurde. Dieses Verfahren belegt eine unheimlich genaue Kenntnis der amerikanischen Kultur bei Außenseitern, die, statt sich mit der Rolle passiver Rezipienten amerikanischer Kulturwerte zu begnügen, diese kreativ nutzen, indem sie amerikanische kulturelle Sorgen in Form einer Parodie auf die amerikanische Öffentlichkeit zurückfallen lassen. Wir haben es hier, wie ich sagen möchte, mit einem Fall zu tun, in dem die Peripherie gegen das Empire zurückgeschlagen hat.
Träume von einem perfekten Markt Wie das Beispiel der Amstel-Biere zeigt, wird das Internet in zunehmendem Maße für kommerzielle Zwecke genutzt, für die Werbung, für Einkauf und Verkauf und für die Geschäftsorganisation. Dieser Trend ist noch sehr neu, sein Ergebnis nur schwer vorherzusagen. Aber so viel ist klar: Das Internet verleitet nicht nur zu Demokratieträumen, sondern auch zu Träumen von einem völlig transparenten Markt. Wenn das Internet das Versprechen einer größeren demokratischen Teilhabe bereithält, so verspricht es ebenfalls einen unfassende-
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ren Zugang zum wirtschaftlichen Markt sowie eine größere Offenheit des Marktes. Abermals könnte dies in den Augen von Nichtamerikanern Ausdruck einer amerikanischen Eigenheit sein: der Tendenz, die Sphären von Politik und Wirtschaft nicht auseinander zu halten, sondern auch in der Öffentlichkeitssphäre der demokratischen Politik einen Markt zu sehen, der sich nicht wesentlich von jenem unterscheidet, auf dem sich die Bürger als Konsumenten treffen.6 Noch ein weiterer Aspekt des Internets passt zu einem typischen Merkmal der amerikanischen Gesellschaft. In puncto geographische Mobilität der Bevölkerung oder, ökonomisch gesprochen, Flexibilität des Arbeitsmarktes übertreffen die Vereinigten Staaten andere Gesellschaften noch immer bei weitem, und diese Rastlosigkeit und Mobilität auf dem nationalen Territorium könnte ihre genaue Entsprechung im Internet finden. Dazu sagte der Chef (CEO) einer nach Bozeman, Montana, verlegten Hightech-Firma: »Ich hatte bereits eine Firma in New York und in Silicon Valley geleitet. Aber mir ist klar geworden, dass das Internet letztlich die geographische Lage als Standortbeschränkung aufhebt.«7 Diese Entlokalisierung der Wirtschaft wird durch das Internet ermöglicht, mit dessen Hilfe sich kooperierende Teams über das ganze Land, wenn nicht gar auf dem ganzen Globus verteilen können. Die treibende Kraft hinter einer solchen Rekonfiguration der betrieblichen Praxis sind die Vereinigten Staaten, eben wegen der Wahlverwandtschaft zwischen der amerikanischen Denkweise und den strukturellen Eigenheiten des Internets. Unbestreitbar hat das Net die Art und Weise beeinflusst, wie die Wirtschaft Produktion, Distribution und Marketing organisiert. Es hat für größere Transparenz und Effizienz auf allen genannten Gebieten gesorgt. Möglicherweise hat es in den 1990er-Jahren auch zum Produktivitätsfortschritt und zur Kostenkontrolle beigetragen. Doch zugleich könnte die wachsende Kommerzialisierung des Internets den freien Informationsfluss, wie wir ihn kennen, auch negativ beeinflussen. Bislang ist die freie (abgesehen von den Telefongebühren kostenlose) Kommunikation im Internet noch im ganzen Net möglich. Jeder User kann von jedem Zugangspunkt aus jede Site erreichen, ganz gleich, welchen Weg die Botschaften über die Leitungen nehmen. Es gibt keine mautpflichtigen Datenautobahnen, die Gebühren für die Übermittlung verlangen. Doch seit die Nachfrage nach Downloads umfangreicher Dateien, etwa von ganzen Spielfilmen oder Musikvideos, zunimmt, ist auch der Bedarf an kostenaufwendigen Breitbandkanälen gestiegen. Die kostenlose Bereitstellung solcher schnellen, leistungsstarken Internetverbindungen könnten die Provider in Zukunft für Datenübertragungen verweigern, die nichts mit ihren Geschäftsinteressen zu tun haben. So könnte die Logik von Kommerz und Markt das Golde Zeitalter der freien Kommunikation – frei von Kosten, frei
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von Beschränkungen – schon bald beenden.8 Diese Marktrationalität könnte auch dazu führen, dass manche Leute recht unsanft aus ihren Demokratie-Träumen gerissen werden. Allerdings haben übertriebene Erwartungen an die Marketing-Möglichkeiten des Internets auch zu einer Spekulationsblase geführt, die der holländischen Tulpen-Manie im 17. Jahrhundert ähnelt. Es ist durchaus denkbar, dass man die Träume von astronomischen Gewinnen im Internet noch rechtzeitig aufgibt, ehe die Kommunikationsfreiheiten dahin sind, deren man sich jetzt noch erfreuen kann.
Der Traum von der verlorenen Bibliothek des Wissens Im Folgenden möchte ich mich auf einen anderen Traum konzentrieren, der genauso hochtrabend ist wie der von der Demokratie und von einer res publica im Cyberspace. Neben anderen Träumen hat das Internet auch solche von einer Rückkehr zu einer Welt der totalen Intertextualität inspiriert, einer Wiedererrichtung des Gesamtcorpus menschlichen Denkens und Schreibens. Es wäre eine Rückkehr zur »Stadt der Worte«, jener labyrinthischen Bibliothek, welche die menschliche Phantasie seit der mythischen Bibliothek von Babylon stets aufs Neue wie eine nostalgische Erinnerung beflügelt hat. Tony Tanner (1971) hat die Metapher »Stadt der Worte« benutzt, um in seinem Buch die zentrale Sinnsuche in der literarischen Imagination des 20. Jahrhunderts zu charakterisieren. Einer der für Tanner exemplarischen Autoren, die für diese Suche stehen, ist Jorge Luis Borges. Seine Geschichten sind von seltsamsten Architekturen geprägt, wozu auch jene endlose Vielfalt lexikalischer Architektur gehört, der sich die Menschen im gesamten Verlauf der Geschichte immer wieder extensiv gewidmet haben – philosophische Theorien, theologische Dispute, Enzyklopädien, religiöse Überzeugungen und Glaubensvarianten, kritische Interpretationen, Romane, Bücher aller Art. Während Borges einerseits ein tiefes Gespür für die gestalterischen und abstrahierenden Kräfte des menschlichen Geistes hat, ist ihm andererseits auch zutiefst bewusst, wie alptraumhaft die daraus resultierenden Strukturen werden können. In einer seiner Geschichten [»La Bibliotheca de Babel« in Ficciones] bezeichnet der Erzähler die Bibliothek von Babel als »Universum«, und man kann Borges’ Erzählung als metaphysische Parabel lesen für all die Schwierigkeiten, die es bereitet, menschliche Begegnungen im Leben zu entziffern. Andererseits bleibt der Turmbau zu Babel das berühmteste Beispiel für den Wahnsinn des menschlichen Architekturstrebens, und Bücher sind letztlich nur eine andere Form des Bauens. In dieser Bibliothek findet sich jede denkbare Kombination von Buchstaben und Worten – mit dem Ergebnis,
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dass Sinnfragmente durch »sinnlose Kakophonie, verbalen Mischmasch und Inkohärenzen meilenweit« voneinander getrennt sind. Die meisten Bücher sind »reine Buchstabenlabyrinthe«. Weil alles, was man mit Sprache tun und ausdrücken kann, sich irgendwo in dieser Bibliothek findet, »erwartete man auch […] die Klärung der grundlegenden Geheimnisse des Menschseins«. Die »erforderlichen Vokabulare und Grammatiken« müssen in der lexikalischen Totalität erkennbar sein. Gleichwohl führt der Entdeckungs- und Entschlüsselungsversuch zu Wahnsinn und Frustration. Borges’ Erzählung ist erfüllt von der Traurigkeit, Krankheit und Verrücktheit mitleiderregender Figuren, die in der Bibliothek herumstreifen wie in einem riesigen Gefängnis (Tanner 1971: 41). Was haben uns Borges’ Phantasien über das prometheische Potenzial einer wiederhergestellten Stadt der Worte im Cyberspace zu sagen? Bei einem internationalen Kolloquium an der Bibliothèque nationale de France in Paris (am 3./4. Juni 1998) erörterten Wissenschaftler und Bibliotheksdirektoren die Implikationen einer virtuellen Form des Gedächtnisses, einer Internet-Datenbank, welche die Bestände aller großen Bibliotheken der Welt miteinander verbindet. Einige Teilnehmer sahen darin die Erfüllung eines Menschheitstraumes. In seiner Eröffnungsansprache bezog sich Jean-Pierre Angremy auf die Bibliothek von Babel, wie sie Borges sich vorgestellt hatte, allerdings unter Ausblendung der alptraumhaften Seiten: »Als man verkündete, dass diese Bibliothek alle Bücher enthalten werde, war die erste Reaktion übertriebene Euphorie. Ein jeder hatte das Gefühl, jetzt einen unberührten und geheimen Schatz in seiner Verfügungsgewalt zu haben.« Diese Sicht, so Angremy, war in der Tat extravagant: das gesamte Wissen der Welt zur eigenen Verfügung – wie eine endlose Schriftrolle, die man über den Computerbildschirm scrollen kann. Andere Teilnehmer, wie Jacques Attali, der geistige Vater der Idee, die Bestände der neuen Bibliothèque nationale zu digitalisieren, nahmen einen ähnlich positiven Standpunkt ein. Ganz gleich in welcher Form, ob real oder virtuell, die Bibliothek würde immer ein »Bücherreservoir« bleiben. Andere waren sich da nicht so sicher. Sie sahen eine Veränderung unserer traditionellen Beziehung zum geschriebenen Text voraus, eine Veränderung von der Art, dass neue Manipulationen und Kompetenzen unsere gegenwärtigen Lesegewohnheiten so antiquiert erscheinen lassen würden, wie uns heute das Lesen von Papyrusrollen erscheint. Ironischerweise sind – worauf andere Teilnehmer hinwiesen – die Texte, wie sie heute auf unseren Computerbildschirmen erscheinen, wie ein Rückfall in die Zeiten der Papyrusrollen, und schon diese Art zu lesen könnte unser Gefühl für die einzelne Seite als Einheit beeinträchtigen. In einem gedruckten Buch steht jede Seite in ihrem eige-
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nen Kontext – im Kontext der Seiten, die vorangingen, und derer, die noch folgen werden –, und daraus ergibt sich ein Gefühl diskursiver Kontinuität. Auf dem Bildschirm dagegen ist die Seite nur noch austauschbares Element einer virtuellen Datenbank, die man mit Hilfe von Schlüsselwörtern durchsucht, wobei viele Bücher gleichzeitig geöffnet werden. Alle Informationen erscheinen auf diese Weise auf derselben Ebene, ohne die logische Hierarchie einer sich entfaltenden Argumentation. Wie Michel Melot, langjähriges Mitglied des Conseil supérieur des bibliothèques, darlegte, wird dabei das Zufallsprinzip zur Regel. Die Kohärenz traditioneller diskursiver Darstellungen wird tendenziell dem Fragmentarischen, Unvollständigen, Disparaten, wenn nicht gar Inkohärenten weichen. Seiner Meinung nach wird sich auf diese Weise der Patchwork-, Collage- oder Montage-Ansatz zur vorherrschenden Kompositionsmethode entwickeln.9 Diese eher düsteren Aussichten bringen uns zurück zu meinen früheren Äußerungen bezüglich der amerikanischen Prägung des Internets. Denn auf seltsame Weise erinnern diese Befürchtungen an die ältere europäische Kulturkritik hinsichtlich der Art und Weise, wie die amerikanische Kultur die europäische Zivilisation beeinflussen werde. Speziell der wahrgenommene Kontrast zwischen dem Lesen traditioneller Bücher und dem Lesen von Texten, die aus dem Internet heruntergeladen wurden, erinnert an einen Gegensatz zwischen Europa und Amerika, wie er im Werk vieler europäischer Kritiker der amerikanischen Kultur immer und immer wieder auftaucht. In deren Sicht steht Europa für einen organischen Zusammenhang, für logische und stilistische Geschlossenheit, während Amerika mit munterer kultureller bricolage zur Fragmentierung und Neukombination neigt, wobei ein jeglicher kultureller Kanon, der in Europa herrscht, letztlich nur in die Brüche gehen kann. Darüber hinaus ist auch die traditionelle europäische Angst vor der amerikanischen Kultur als Nivellierungsinstanz erkennbar: Dort würden kulturelle Gegenstände auf reine Oberflächlichkeit und Austauschbarkeit reduziert, deren intrinsischer Wert ebenso unbeachtet bleibe wie die kulturelle Hierarchie von Hoch- und Trivialkultur.10 Gleichwohl ist in den oben zitierten Ansichten der Bibliothekare mit keinem Wort von Amerika die Rede. Hat dies damit zu tun, dass von französischen Intellektuellen Amerika als Subtext oder Code sogleich mit empfunden wird, wenn vom Internet die Rede ist? Oder damit, dass die Logik des Internets und der digitalen Intertextualität aus sich heraus einen kulturellen Einfluss ausübt – einen Einfluss, der jenem der amerikanischen Kultur ähnelt, sich in diesem Fall jedoch unabhängig von jeglichen amerikanischen Handlungen vollzieht? Ich würde an diesem Punkt nicht weiter gehen, als mit Max Weber den Versuch einer Antwort zu unternehmen. Es scheint unbestreitbar so
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zu sein, dass zwischen der Logik des Internets und der amerikanischen Geistesverfassung eine Wahlverwandtschaft besteht, die dazu führt, dass Amerikaner das neue Medium leichter, unbesorgter akzeptieren und verwenden als eine bestimmte Sorte von Europäern. Mir scheint, es gibt noch eine weitere Möglichkeit, diese Wahlverwandtschaft zu erkunden. Der größte Teil der Diskussionen auf dem Pariser Kolloquium konzentrierte sich auf die Verwendung von über das Internet verfügbaren Texten, und nicht auf die Produktion von Texten; anders gesagt: auf das Lesen, und nicht auf das Schreiben. An einer Stelle kam allerdings die Frage auf, ob die Logik des Internets nicht auch zu neuen Formen der Literatur führen könne. Im Bericht in Le Monde hieß es dazu nur, niemand könne die möglichen Auswirkungen auf das kreative Schreiben vorhersehen. Doch etwas mutiger könnte man, wie ich meine, bei seinen Spekulationen durchaus sein. Aus der Perspektive des Bibliothekars mag das Internet im Cyberspace durchaus eine virtuelle Bibliothek geschaffen haben, die alle verfügbaren, jemals von Autoren verfassten Texte miteinander verbindet. Durch die Verwendung von Schlüsselwörtern und verwandten Suchtechniken kann sich jeder Besucher dieser Bibliothek seinen eigenen Weg durch das lexikalische Labyrinth bahnen und eine Textcollage produzieren, die seinen individuellen Bedürfnissen entspricht. Es sind in diesem Fall also individuelle Leser, die sich auf der Grundlage verfügbarer Texte ihr individuelles Rearrangement von Textfragmenten zusammenstellen. Der logisch als nächster folgende Schritt wäre demnach die Produktion eines ebensolchen Corpus von Textfragmenten in einem Akt kreativen Schreibens. Diesmal würde der Autor die Schlüsselwörter, so genannte Hyperlinks, bereitstellen, die es dem Leser ermöglichen, durch die Textfragmente zu navigieren und diese in beliebiger Anzahl immer wieder neu zu kombinieren. Das Ergebnis wäre etwas, das man als Hypertext-Roman bezeichnen könnte. Einer derartigen kreativen Herausforderung haben sich manche bereits gestellt, denn es gibt bereits Hypertext-Romane – nicht in den Regalen realer Bibliotheken irgendwo auf der Welt, jedoch in der virtuellen Bibliothek im Cyberspace. Diese Texte können in Form zahlreicher Fragmente heruntergeladen werden und dann, indem man auf die vom Autor eingebauten Hyperlinks klickt, vom individuellen Leser am eigenen Computer nach eigenem Gusto neu angeordnet werden.11 Dieser kreative Sprung in den Cyberspace hat etwas Prometheisches an sich. Er lädt den Leser ein, sein eigener Autor zu werden und einen Traum auszuagieren, der für ein postmodernes Zeitalter, das den Tod des Autors verkündet hat, von zentraler Bedeutung ist. Allem Anschein nach ist der Leser im Hypertext-Roman nicht mehr an die allein vom Autor vorgegebenen Formen und Strukturen
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des Erzählflusses gebunden. Allein schon die Logik des HypertextRomans verlangt vom Leser, dass er oder sie sich seinen/ihren Text aktiv zusammenkonstruiert. Und wieder würde ich argumentieren, dass es typischerweise amerikanische Schriftsteller waren, die diesen waghalsigen Schritt als Erste unternahmen. Abermals scheint so etwas besser zur Geisteshaltung der Modulbauweise zu passen, die man gehäuft bei den Amerikanern antrifft: In Amerika ist man eher bereit, ein zusammenhängendes Ganzes aufzubrechen und es individuellen Konsumenten zu überlassen, die Fragmente nach Belieben neu zusammenzusetzen. Und doch scheint die Idee eines Hypertext-Romans wagemutiger zu sein als jedes tatsächliche Beispiel, das ich seither zu sehen bekommen habe. Die Idee fügt sich ein in den Traum von der verlorenen Bibliothek, wonach ein Autor nicht mehr zu tun hätte, als den Leser auf eine Reise durch das Labyrinth der menschlichen Imagination zu schicken, in unvermessenes Territorium hinaus. Die Idee ist die eines strukturell offenen Textes, der an den Rändern ausfranst und Hyperlinks ins Unbekannte setzt. Der Hypertext in seiner gegenwärtigen Form ist jedoch von einer Realisierung dieser Idee noch meilenweit entfernt. Er ist ein völlig in sich geschlossenes System, das lediglich auf seine konstitutiven Bestandteile zurückverweisen kann und kein Ausbrechen über die vom Autor gesetzten strukturellen Grenzen hinaus zulässt. Das Ganze erinnert ein wenig an die Versuche, einen Roboter zu konstruieren, der nicht nur eine einfache Replik eines menschlichen Wesens wäre, sondern eine Fortentwicklung unseres gegenwärtigen evolutionären Zustands darstellen würde. Indes, das Ergebnis solcher Bemühungen war schon immer ein Prometheus, der als Strafe für seine Hybris an einen Felsen geschmiedet dahinsiechen musste. Auf ähnliche Weise ist auch der Hypertext-Roman nicht mehr als eine unbeholfene Replik des Lesevorgangs, wie wir ihn schon immer gekannt und praktiziert haben. Denn der Akt des Lesens von Texten in ihrer traditionellen Form ist schon immer einer gewesen, bei dem im Kopf des Lesers aktiv übergreifende Verbindungen (Hyperlinks) geschaffen wurden. Ein Buch erinnert uns stets auch an andere Bücher. Unser Geist produziert seine eigenen Links und Assoziationen. Wenn wir ein Buch lesen, stehen wir manchmal auf und öffnen andere Bücher, um unsere Assoziationen zu verifizieren. Wir hören die Stimmen anderer Autoren, wie sie im Gleichklang mit der Stimme des Autors, den wir gerade lesen, nachklingen. Manchmal ist der Widerhall auktorial beabsichtigt, manchmal eher darauf zurückzuführen, dass der Geist des Lesers umherschweift. Doch im Prinzip ist alles Lesen intertextuell, ist jede Fiktion ein Hypertext. Die Europäer haben schon immer Fiktionen geschaffen, die sich ihrer eigenen Intertextualität bewusst waren, von Shakespeare und Cervantes bis zu Julian
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Barnes und Julián Ríos. Gleiches gilt für die Amerikaner. In den kulturellen Spielen der Amerikaner experimentieren diese vielleicht auf eine Art und Weise, die Europäern als typisch amerikanisch erscheint, und doch ist der Traum vom Leben im Cyberspace die zeitgenössische Version der Träume, die wir alle teilen. Oder bin ich hier vielleicht zu postmodern, indem ich die Verbindungen der Menschen untereinander auf den mentalen Zustand des individuellen, sich selbst genügenden, gebildeten Geistes reduziere, auf eine Intertextualität in unserem Bewusstsein, die uns mit anderen Geistern aus Gegenwart und Vergangenheit verbindet – ganz gleich wo wir gerade sind und unter welchen Bedingungen dies geschieht? Als Antwort auf diese Zweifel kommen mir unwillkürlich einige der großen Gefängniserzählungen in den Sinn, Werke von Autoren wie Arthur Koestler, Antonio Gramsci oder George Orwell. Wie darin deutlich wird, mag die Härte von Isolation und Folter noch so groß sein, der menschliche Geist findet in seiner Verbundenheit mit dem Geist anderer menschlicher Wesen, in Form von Erinnerungen an deren Worte und Werke, wohl doch immer wieder Ressourcen zum Überleben. Die Zivilisation ist letztlich vor allem ein Geisteszustand, ein zerbrechliches und kostbares Werk der Kultur. Sie stützt uns, erhält uns – oder sollen wie sagen: das Beste von uns – aufrecht angesichts eines Zusammenbruchs der Zivilgesellschaft, wenn wir mit allen Härten konfrontiert sind, die uns von jenen auferlegt werden, die ihr Heil in totalitären Projekten suchen und die versuchen, unsere Verbindungen mit der Vergangenheit und mit einer Gemeinschaft verwandter Geister zu zerreißen. Tötungs- und Hinrichtungsstätten gibt es überall auf der ganzen Welt, von den Gaskammern der Nazis über den sowjetischen GULag, den Völkermord in Kambodscha bis hin zu den tödlichen ethnischen Säuberungen im früheren Jugoslawien. Und doch hat es immer Menschen gegeben, deren Geist niemals gebrochen wurde, die zivilisierte Bürger der Welt blieben, als alles, was ihnen noch geblieben war, die Stadt der Worte in ihrem Inneren war.
Anmerkungen 1 Ich bin mir bewusst, dass dies nur eine von mehreren Lesarten für die Anfänge des Internets ist. Eine gute Diskussion dieser unterschiedlichen Entstehungsversionen findet sich bei Rosenzweig 1998. 2 Ein kürzlich erschienenes Buch über Telekommunikation und das Internet bestätigt das hier skizzierte Bild. Die Studie TeleGeography 1999 wurde von der in Washington, DC, ansässigen Forschungsfirma TeleGeography Inc. verfasst, als Analyse der heutigen Kommunika-
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tionslandschaft für Industriefirmen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse findet sich bei Shannon 1999: 7. In einem interessanten Artikel zu diesem Themenkomplex schreibt John Carr: »Bezüglich der Selbstorganisation des Internets sowie bei den Werten und Annahmen, die dem Net zugrunde liegen, fällt eine Tatsache besonders auf: Das Net ist amerikanisch. […] Mehr als die Hälfte der heutigen Internet-Nutzer lebt in den USA« (Carr 1999). 3 Die New York Times etwa kritisierte in einem Leitartikel unter dem Titel »WWW.Internet.anarchy« Drudges journalistischen Stil (zitiert in Le Monde, Sélection hebdomadaire, 2547, vom 30. August 1997). 4 http://numedia.tddc.net/scott/declaration.html 5 Washington City Paper vom 27. Juni 1997. 6 Ausführlicher habe ich diese Verquickung im 5. Kapitel von Kroes 1996 dargestellt: »The Fifth Freedom and the Commodification of Civic Virtue«. Einen ausgezeichneten Überblick über die Art und Weise, wie sich die Wirtschaft in zunehmendem Maße des Internets bedient, bietet eine Sonderbeilage des Economist vom 26. Juni 1999 unter dem Titel »Business and the Internet: The Net Imperative« (44 Seiten im Anschluss an S. 72). 7 »Bozeman, the Next Silicon Valley?«, Tributary vom April 2001, S. 10. 8 Eine gute Erörterung dieser Probleme findet sich in dem Beitrag »Upgrading the Internet« in The Economist Technology Quarterly vom März 2001, S. 30-35. 9 Meine Zusammenfassung der Ergebnisse des Pariser Kolloquiums basiert auf einem Bericht in Le Monde, Sélection hebdomadaire, 2589, vom 20. Juni 1998, S. 13. 10 Eine ausführlichere Analyse der metaphorischen Tiefenstruktur, die der europäischen Kritik an der amerikanischen Kultur zugrunde liegt, findet sich bei Kroes 1996. 11 Eine auf Hypertext-Romane spezialisierte Website ist zum Beispiel www.eastgate.com.
Literatur Carr, John (1999), »Age of Uncertainty: Anarchy.com«. Prospect (Juni). (www.unnu.com/newhome/Gallery/etexts/anarchycom.htm, eingesehen am 10. Juni 2003) Hoof, van den, Bart J. (1997), Incorporating Electronic Mail: Adoption, Use and Effects of Electronic Mail in Organizations. Amsterdam: Otto Cramwinckel Uitgever.
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Kroes, Rob (1996), If You’ve Seen One, You’ve Seen the Mall: Europeans and Mass Culture. Urbana/Chicago: University of Illinois Press. Rosenzweig, Roy (1998), »Wizards, Bureaucrats, Warriors and Hackers: Writing the History of the Internet«. American Historical Review 103: 1530-1552. Rushdie, Salman (2001), Woede. Amsterdam: Uitgeverij Contact. [Original: Fury. London: Cape, 2001. Dt. Übers. Wut. Berlin: Kindler, 2002. Reinbek: Rowohlt, 2003.] Savan, Leslie (1997), »Morality Plays on 42nd Street«. Village Voice (June 16). Sellar, Walter C./Robert Julian Yeatman (1930), 1066 and All That: A Memorable History of England. London: Methuen. Shannon, Victoria (1999), »What’s Lurking behind Those Slow Downloads«. International Herald Tribune (May 27): 7. Tanner, Tony (1971), City of Words: American Fiction 1950-1970. London: Cape.
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Epilog
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) T04_00 respekt.p 31500998738
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Was heißt nun Amerikanisierung? Roland Robertson
Die Probleme bei der Analyse des gegenwärtigen Ausmaßes der globalen Amerikanisierung sind wesentlich komplexer, als uns viele Intellektuelle, Politiker und Journalisten auf der ganzen Welt glauben machen wollen. Das gilt auch für die von ihnen Beeinflussten, die nur zu gern praktisch alles auf der Welt, das ihnen nicht gefällt, »Amerika« zur Last legen. In Wirklichkeit umfasst »Amerika« natürlich alle Länder Nord- und Südamerikas, von Kanada im Norden bis Argentinien und Chile im Süden. Darum ist es keine Trivialität, auf begrifflicher Präzision zu bestehen, denn wenn von »Amerikanisierung« die Rede ist, ist fast immer »US-Amerikanisierung« gemeint. Jedenfalls sind in der gegenwärtigen Epoche nach dem Ende des Kalten Krieges, einer Epoche, in der die Vereinigten Staaten nach übereinstimmender Ansicht als einzige Supermacht weltweit ein nie dagewesenes Ausmaß an politischer und wirtschaftlicher Durchschlagskraft besitzen, die Behauptungen besonders intensiv, alles und jedes werde »amerikanisiert«. Manches an diesem Gerede könnte man regelrecht als Hysterie bezeichnen (wobei diese Übertreibungen weitgehend die US-interne Hysterie bezüglich der Welt jenseits der eigenen Grenzen ergänzen und widerspiegeln). Diese sehr negativ geprägte Einstellung den USA gegenüber wurde durch die beunruhigenden Begleitumstände der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom November 2000 noch beträchtlich verschärft. Die Schadenfreude über diese Wahleskapaden wurde in zahlreichen Kommentaren außerhalb der USA mehr als deutlich. Dramatisch verschärft und akzentuiert wurde diese Situation natürlich durch die Angriffe vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York City und das Pentagon in Washington, DC, sowie den Absturz des entführten Flugzeugs in der Nähe von Pittsburgh, Pennsylvania. Damals schien es, als sei die etwas unglücklich so benannte Antiglobalisierungsbewegung nun moralisch ernsthaft
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diskreditiert. Offenbar, weil sie in gewisser Weise eine amerikanische Bewegung war – trotz der antiamerikanischen Gefühle, die überwiegend in Rhetorik und Aktionen der praktisch weltweiten Proteste gegen die kapitalistische Globalisierung zum Ausdruck kamen. (Dabei wurde diese Form der Globalisierung gegenüber anderen Formen und Dimensionen bewusst herausgehoben.) Die Ereignisse vom 11. September fielen also in eine Zeit des wachsenden Antiamerikanismus. In großen Teilen der Welt wurde diese Einstellung daraufhin zwar deutlich abgemildert – aber nur vorübergehend, wie sich zeigen sollte. Meine erste Intuition hinsichtlich der Unterminierung der Antiglobalisierungsbewegung erwies sich als nicht sehr hellsichtig. Denn einige Zweige dieser Bewegung verwandelten sich rasch in eine Friedensbewegung, andere Elemente dagegen ließen sich Zeit für ambivalente Äußerungen und für die Vermengung von Stellungnahmen zu den Angriffen auf New York, Washington und Pennsylvania mit recht militanten »anti-US plus anti-globalen« Gefühlen. Insbesondere ließen Mitleid und Sympathie für die USA schnell wieder nach, was dann innerhalb von rund zwei Jahren zu einer mehr oder weniger weltweiten antiamerikanischen Einstellung führte. So wurde dieser kurze Beitrag zwar weitgehend vor dem 11. September in Auftrag gegeben und geschrieben, aber sein Inhalt ist inzwischen bestimmt tiefgreifend von diesem Problemkomplex beeinflusst – vor allem, weil die Ereignisse vom 11. September und alles, was darauf folgte, die springenden Punkte des Amerikanismus wie des Antiamerikanismus deutlich haben hervortreten lassen. Das gilt natürlich vor allem für die extensiv und intensiv geführte Irak-Kontroverse, die sich zum Zeitpunkt, da dieser Essay abgeschlossen wurde (Anfang März 2003), gerade im entscheidenden Stadium vor Kriegsausbruch befand. Mein Anliegen ist hier gleichwohl in erster Linie methodologischer Natur. Genauer gesagt, mir geht es in erster Linie darum, die Schlüsselaspekte zu artikulieren, auf die wir uns konzentrieren müssen, wenn von Amerikanisierung, Antiamerikanismus, amerikanischem Imperialismus oder den USA als exemplarischer Gesellschaft, wenn von »globalem Amerika« und Ähnlichem die Rede ist. Und diese Schlüsselaspekte sind unabhängig von den speziellen historischen Umständen immer relevant. Man könnte sogar sagen, dass sie in der welterschütternden Zeit seit dem 11. September 2001 noch relevanter geworden sind – als Möglichkeit, sich analytische Distanz zu bewahren. In gewissem Sinne versuche ich hier absichtlich, diese Themen in all ihrer Komplexität anzusprechen, um langfristig gesehen knappere Formulierungen zu ermöglichen. Ja, die These, dass man zunächst die ganze Komplexität einer Sache aufzeigen müsse, um zu einem praktikablen Maß an Verknappung gelangen zu können – zu Einfachheit im
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besten Sinne, also zu einer Einfachheit, die sich der Ambivalenz und Vieldeutigkeit bewusst ist –, ist im gegenwärtigen Kontext geradezu mein Leitthema. Dass es sich dabei durchaus nicht um eine obskure Angelegenheit handelt, wird illustriert durch die Unterschiede zwischen der amerikanischen Vorliebe für Direktheit und Eindeutigkeit und der wesentlich größeren Toleranz für indirekte Vieldeutigkeit, die in anderen soziokulturellen Umfeldern herrscht. Wir müssen uns hier letztlich mit einer Form des Gegensatzes von Orientalismus und Okzidentalismus auseinandersetzen, von östlicher und westlicher Weltsicht – in dem Sinne, dass sich US-amerikanische Vorstellungen von Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika weitgehend auf den empfundenen Mangel an Klarheit einerseits sowie auf Seltsamkeit und Exotik andererseits konzentrieren. Dem steht auf der Gegenseite die negative, abwertende Haltung zu weiten Teilen des amerikanischen Lebens gegenüber – eines Lebensstils, der auf Trivialität, Naivität und auf Mangel an Subtilität basiere. Ich habe hier weder die Absicht, die USA gegen die vielen Vorwürfe zu verteidigen, die gegen dieses Land erhoben werden, noch ein rosiges Bild der amerikanischen Gesellschaft zu zeichnen. Als jemand, der seit über drei Jahrzehnten rund die Hälfte seines Lebens in Großbritannien und die andere Hälfte in den USA verbracht hat und der ziemlich regelmäßig zwischen beiden Ländern hin und her gependelt ist, überwiegend zwischen den USA und Europa, aber auch in verschiedene Teile Asiens, Lateinamerikas und Afrikas, bin ich mir meiner eigenen Ambivalenz bezüglich Fragen der Nationalität, Loyalität und ähnlicher Punkte nur zu sehr bewusst. Meine eigenen Lebensumstände haben mir zweifellos wertvolle Erfahrungen mit der Transnationalität beschert, und sie haben mich für soziokulturelle Unterschiede besonders sensibel gemacht. Für den Fall, dass diese Aussagen etwas überheblich klingen, möchte ich betonen, dass Ambivalenz ein zentrales psychosoziales Merkmal unserer Zeit ist – wenn auch gewiss nicht ohne negative Kehrseiten. Während Ambivalenz eindeutig eine Begleiterscheinung, sogar eine funktional notwendige Begleiterscheinung der Risikogesellschaft ist (Beck 1986), besteht andererseits ein genauso starkes Bedürfnis nach revidierbarer oder reflexiver Gewissheit angesichts der in weiten Teilen der Welt zunehmenden Ungewissheiten. Und dies gilt nicht nur auf der »Makroebene« der Weltpolitik und des »Terrors«, sondern ganz offensichtlich auch im Alltagsleben der Individuen bei ihrem Versuch, sich einen Weg durch das Dickicht der rasch zunehmenden Ungewissheiten zu bahnen (Beck 2000). Doch analytische Selbstgewissheit darf, so unentbehrlich sie sein mag, nicht zu einem fundamentalistischen Reduktionismus verkommen – womit die hartnäckige Weigerung gemeint ist, einen einmal eingeschlagenen ideologischen oder religiösen
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Weg zu modifizieren oder gar zu verlassen. Tatsächlich ist der Fundamentalismus – ungeachtet der eher ungenauen Verwendung dieses Begriffs als analytische Kategorie – unausweichlich zu einem Merkmal der gegenwärtigen Globalisierung geworden, im multidisziplinären Sinn des letztgenannten Themas. Die Frage des gegenwärtigen Ausmaßes der Amerikanisierung der Welt erfordert eine Art methodischer Umsicht und Differenziertheit, auf die man nur selten trifft – nicht zuletzt, seit das Problem der Al-Qaida und des »Kriegs gegen den Terrorismus« mit dem Thema des »Regimewechsels im Irak« vermengt wird. Häufig spielen bei dieser brisanten Mischung auch noch pro- oder antiisraelische Gefühle eine Rolle. Jedenfalls halte ich es, ohne meine eigene Position hier im Detail darzulegen, für analytisch angemessen, den Slogan »Frieden« (ohne nähere Spezifizierung) als im Grunde genommen fundamentalistisch zu charakterisieren, wenn er auch vielleicht nicht ganz so fundamentalistisch ist wie der Kreuzzugsgeist bei den Falken im Kreis um Präsident George W. Bush und bei seinen lautstarken Anhängern auf der christlichen Rechten. Als Ausgangspunkt bei meiner Suche nach mehr analytischer Strenge und Klarheit soll mir eine elementare Typologie der Grundeinstellungen zu den USA dienen – eine Typologie, die sich gleichermaßen auf Amerikaner wie auf Nichtamerikaner anwenden lässt. (Wobei ich mir natürlich bewusst bin, dass »Amerikaner« und »Nichtamerikaner« äußert simplistische und instabile Begriffe sind.) 1. Proamerikanisch: bestreitet die These einer starken Amerikanisierung der Welt. 2. Proamerikanisch: stimmt der These einer starken Amerikanisierung der Welt zu. 3. Antiamerikanisch: bestreitet die These einer starken Amerikanisierung der Welt. 4. Antiamerikanisch: stimmt der These einer starken Amerikanisierung der Welt zu. Offensichtlich sind die Positionen zwei und vier im gegenwärtigen Kontext am relevantesten. Die Positionen eins und drei dürfen zwar keinesfalls vernachlässigt werden, aber sie können hier nicht behandelt werden. Ich konzentriere mich somit auf jene Orientierungen, die entweder Proamerikanismus mit der Zustimmung zu der These verbinden, dass wir auf dem Weg zu einem »globalen Amerika« weit fortgeschritten seien, oder Antiamerikanismus mit der Bejahung der These, dass die Welt einer raschen Amerikanisierung unterliege. Zunächst muss allerdings noch auf weitere Analyseprobleme hingewiesen werden, verbunden mit einigen relevanten empirischen
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Beobachtungen. Generell muss bei der Behandlung des Themas »Amerikanisierung« – das hier ganz bewusst begrifflich von der »Globalisierung« getrennt wird (vgl. dazu Robertson 1992) – analytisch differenziert werden zwischen den kulturellen, sozial-kommunikativen, politischen und ökonomischen Dimensionen des Gegenstands. Wenn wir also nach dem Ausmaß der Amerikanisierung fragen, müssen wir diese vier Aspekte getrennt erörtern, dabei allerdings zugestehen, dass die vier Dimensionen sich in Wahrheit wechselseitig durchdringen. Empirisch, nicht analytisch gesehen, sind sie schwer voneinander zu trennen. Im Bereich der direkten Empirie können wir – sehr selektiv – einige der oft vernachlässigten Aspekte der Amerikanisierungs-These betrachten.1 Gegenwärtig ist die Populärmusik, die in den USA starken Eindruck hinterlässt, eher eklektisch, wobei Großbritannien, Lateinamerika, Deutschland, Frankreich und sogar Island auf neueren Bestsellerlisten für CDs und DVDs erscheinen. In der Modeszene dominiert eindeutig Europa, und im Broadway-Theater ist Großbritannien sehr präsent. Während Hollywood anscheinend in den Bereichen Fernsehen und Film weiterhin stark dominiert, wird der tatsächliche Hollywood-Einfluss meistens beträchtlich übertrieben dargestellt. Ganz abgesehen von der zunehmenden Bedeutung lateinamerikanischer Fernsehprogramme in den USA, abgesehen auch von der Tatsache, dass viele von ihnen in spanischer Sprache gesendet werden, spricht vieles dafür, dass gegenwärtig unter dem Strich eher die europäischen Einflüsse gegenüber den amerikanischen vorherrschen – zumal wenn man bedenkt, dass viele (aber natürlich nicht alle) der in den USA populärsten Fernsehshows, insbesondere das so genannte »Reality-TV«, tatsächlich europäischer Herkunft sind. In der Tat sind Herkunfts- und Ursprungsfragen höchst kompliziert. Denn Hollywood wurde weitgehend von Juden gegründet und entwickelt, die aus Mittel- und Osteuropa eingewandert waren, und nur wenige amerikanische Filmstudios befinden sich heutzutage noch vollständig in amerikanischem Besitz (Gabler 1988; vgl. Portuges 1998). Wenn auch Hollywoods Einfluss auf der ganzen Welt zweifellos hoch zu veranschlagen ist, so sind doch die Produzenten und Regisseure der Schauspieler in den Hollywood-Filmen auf jeden Fall immer »kosmopolitischer« geworden (Robertson und White 2003). In der Tat muss angesichts der häufigen Neigung, die These von der »Amerikanisierung der Welt« an »Hollywood« festzumachen, gerade die hochinteressante Mischung von Kosmopolitismus (im weiteren Sinn) und »strammem« Amerikanismus zur Kenntnis genommen werden, die in Hollywood herrscht. Diese Sachlage stellt seriöse Forscher, die sich mit der Stellung der USA in der Welt befassen, durchaus vor ernste, gewichtige Probleme. Anscheinend muss sich jede Generation erneut mit diesem
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Thema auseinandersetzen, innerhalb der USA genauso wie außerhalb. Wenn wir die Trennung zwischen Globalisierung und Amerikanisierung aufrechterhalten – was meiner Meinung nach erforderlich ist –, dann kann man mit guten Gründen argumentieren, dass die Globalisierung ein Prozess ist, der mit der Expansion der Aufmerksamkeit für ein sehr weites Spektrum kultureller Themen zu tun hat. In diesem Zusammenhang sollte auf jeden Fall zwischen einerseits der Distribution von amerikanischem »Schund« und andererseits einem amerikanischen Einfluss von weit differenzierterer Art unterschieden werden, ganz gleich ob von Oper und Ballett, ästhetisch hochwertigen Filmen, Architektur, »Fusion«-Cuisine oder von weiteren Arten kulturellen Schaffens die Rede ist. Es wäre jedenfalls schon fast pervers, wollte man argumentieren, dass das Guggenheim-Museum in Bilbao in dieselbe Kategorie gehöre wie Sylvester Stallone (übrigens ein Amerikaner italienischer Abstammung), wenn es darum geht, weltweiten amerikanischen Einfluss (»Amerikanismus«) zu diagnostizieren – wie es leider nur allzu oft geschieht. Sofern mit dem Begriff »Amerikanisierung« eine kulturelle Homogenisierung von Amerika aus gemeint ist, so ist dieses Argument durchaus nicht klar. Es ist wesentlich akkurater zu sagen, dass die Welt hybrider (oder auch, wenigstens in mondäner Hinsicht, kosmopolitischer) wird, doch beides resultiert eher aus der Globalisierung als aus der Amerikanisierung. Andererseits kann man natürlich auch argumentieren, dass die USA selbst die vollendete Verkörperung der Globalisierung sind. Ein wesentlicher Punkt, der immer mit bedacht werden sollte, wenn es um Ideen wie »Amerikanisierung« oder »globales Amerika« geht, ist die Tatsache, dass die kulturelle Diversität innerhalb der USA rasch zunimmt und dass die USA, kulturell gesehen – auch wenn es bei oberflächlicher Betrachtungsweise anders aussehen mag – selbst immer heterogener werden. Unter diesem Aspekt ergibt die Idee von den »globalen Vereinigten Staaten« oder von der Welt als Extrapolation der USA sogar einigen Sinn. Meine bisherigen, weitgehend empirischen Kommentare haben sich größtenteils mit der kulturellen Dimension des Problems beschäftigt. Ich werde mich nun kurz den sozialen, politischen und ökonomischen Dimensionen zuwenden. Wenn es im kulturellen Bereich vieles gibt, was unter das Stichwort »Amerikanisierung« fällt, dann sollte man doch erwarten, dass auch bei den sozialen Interaktionsmustern eine ähnliche Amerikanisierung zu verzeichnen wäre. Meiner Ansicht nach sind zwar auch hier gewisse Indizien für eine Amerikanisierung zu beobachten, aber bei weitem nicht im gleichen Ausmaß wie im kulturellen Bereich. Zweifellos ist die Welt weder hin-
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sichtlich ihrer Religiosität, ihrer magischen oder chiliastischen Tendenzen (wobei es sich hauptsächlich um kulturelle Phänomene handelt), oder ihrer Grußrituale im Begriff, amerikanisiert zu werden, noch hinsichtlich ihrer erotischen Ausdrucksmöglichkeiten – wo die USA mit ihrem Puritanismus, einschließlich ihres pornographischen Puritanismus, eine Sonderstellung einnehmen – oder hinsichtlich der Lautstärke der verbalen Interaktion, und so weiter. Obgleich der so genannte globale Teenager möglicherweise sozial wie kulturell einen deutlich erkennbaren amerikanischen Einschlag aufweist, ließe sich dasselbe auch von verschiedenen anderen Einflüssen behaupten, die ihrem Wesen nach hauptsächlich, aber nicht ausschließlich westlich sind (wobei auch Lateinamerika zum Westen gehört). Jedenfalls ließen sich zahlreiche Beispiele für soziale Interaktionsstile anführen, die in weiten Teilen der Welt immer mehr in den Vordergrund treten, die aber trotzdem nicht »amerikanischen« Ursprungs sind. Man denke nur an das beidseitige Küsschen auf die Wangen zur Begrüßung, das weit verbreitet ist, speziell zwischen Männern und Frauen in lateinamerikanischen Ländern, im Mittleren Osten, und immer häufiger auch in Europa und anderswo. In den USA fasst dieses Ritual nur sehr langsam Fuß – außer natürlich in den rasch wachsenden Kreisen der Prominenten-Subkultur sowie in den lateinamerikanischen und mittelöstlichen Bevölkerungsteilen. Kurz gesagt, die soziale Amerikanisierung hat in den letzten Jahren nicht gerade spektakuläre Fortschritte gemacht. In der Tat spricht eher vieles dafür, dass die Vereinigten Staaten, wenigstens sozial gesehen, ent-amerikanisiert werden (vgl. den Beitrag von Ulrich Beck in diesem Band). Bei der Betrachtung der ökonomischen Dimension des Problems begeben wir uns auf etwas komplexeres Territorium. Denn hier geht es nicht nur um Amerikanisierung im Sinne eines US-amerikanischen Einflusses, einer Verbreitung amerikanischer Kultur oder gesellschaftlicher Gepflogenheiten aus den USA, sondern auch – und zwar klarer als in den Sphären von Kultur und Gesellschaft – um Macht- und Herrschaftsfragen. Offenkundig verfügen, soweit man das Ökonomische empirisch vom Kulturellen trennen kann, die Vereinigten Staaten in außerordentlichem Maße über hegemoniale Macht. Doch wurde, wie Giddens festgestellt hat, während des Kalten Krieges »die wirtschaftliche Macht Amerikas gestützt durch ein globales Netzwerk von Militärbündnissen, durch zahlreiche Formen der Intervention und durch die Förderung von ›Stellvertreter-Kriegen‹ an diversen Orten« (Hutton und Giddens 2000: 61). Indes, heute verfolgen die USA solche strategischen Interessen und Konsequenzen nicht mehr (wenngleich die Umstände nach dem 11. September 2001 diese Situation inzwischen abermals verändert haben). So ist also das Aus-
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maß der übermäßigen US-Kontrolle über das, was oft als »globale Ökonomie« bezeichnet wird, durchaus umstritten, auch wenn dies nicht ins Bild alt-linker Ansichten passt. Wenn ich mich nun der vierten unter den genannten Hauptdimensionen zuwende, der politischen, so haben wir es mit einem Gebiet zu tun, auf dem das eben zur ökonomischen Dimension Gesagte weitgehend analog gilt. Diese Ähnlichkeit besteht in der Tatsache, dass wir sowohl über die politisch-militärische Macht der USA in der gegenwärtigen Welt nachdenken müssen als auch über das Ausmaß, in dem andere Nationalstaaten amerikanische Regierungsmodelle und amerikanische Konzepte zur Vertretung des Eigeninteresses übernehmen oder daran festhalten. In letzterer Hinsicht ist vielleicht erwähnenswert, dass »Realpolitik« keine amerikanische Erfindung ist. Im Gegenteil, in ihren frühen Jahren waren die Vereinigten Staaten auf einzigartige Weise an Weltpolitik nicht interessiert. Zweifellos haben die USA auf die Welt als Ganzes mit ihrem Verfassungsstaat und mit der Form (wenn auch nicht unbedingt mit dem Inhalt) ihrer Demokratie enormen Einfluss ausgeübt. Die Vereinigten Staaten haben die Konstitutionalität, wie wir sie heute kennen, mehr oder weniger aus der Taufe gehoben – mit einer Verfassung, die trotz offenkundiger Fehler und trotz aller hämischen Kommentare zur zweifellos fehlerhaften Präsidentschaftswahl im Jahre 2000 ein bemerkenswert einflussreiches Vorbild für andere Länder geworden ist. Bezüglich ihrer politisch-militärischen Stärke kann es absolut keinen Zweifel geben, dass die Vereinigten Staaten in der Epoche seit 1989 die weitaus stärkste Nation der Welt sind. Gleichwohl sollten die jüngsten Entwicklungen – etwa die geplante Schaffung eines europäischen Militärbündnisses, die zunehmende militärische Stärke Chinas und die tatsächliche wie potenzielle Zunahme von Ländern mit nuklearem, biologischem oder chemischem Waffenpotenzial – jene, die munter und dogmatisch weiterhin von einer amerikanischen Beherrschung der Welt sprechen, einen Augenblick zum Innehalten veranlassen. Dies ist, wie gesagt, zu einem weltpolitischen Zeitpunkt Anfang 2003 zu konstatieren, da das Geschehen enorme globale Bedeutung erlangt hat. Schon seit dem Zweiten Weltkrieg befinden sich die USA in einer Art Zwickmühle – einer Situation, in der sie, was immer sie tun, nicht gewinnen können. Neigt das Land dem Isolationismus zu, wie zum Beispiel in den ersten Monaten der Präsidentschaft von George W. Bush, so müssen sich die Vereinigten Staaten Kritik gefallen lassen, weil sie ihrer internationalen Rolle nicht gerecht werden. Wenn die USA jedoch versuchen, den Weltpolizisten zu spielen, und wenn sie sich in die Angelegenheiten anderer Länder einmischen, werden sie des Imperialismus bezichtigt. Der Imperialismus-Verdacht hat in
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letzter Zeit allerdings auch viel mit den autoritären, expansionistischen Ansichten im inneren Zirkel der Ratgeber von Präsident Bush zu tun, sowie mit der Feigheit der amerikanischen Linken und weiter Teile der amerikanischen Presse. Zum Abschluss meiner Bemerkungen möchte ich die Sozialwissenschaftler zu mehr Umsicht und analytischer Sorgfalt aufrufen, wenn sie ihre Ansichten über das wichtige Thema der Amerikanisierung zum Ausdruck bringen. Angesichts der Weite des Themenfelds konnte ich nicht auf alle wichtigen Punkte eingehen, zum Beispiel nicht auf das in stetem Wandel befindliche Wesen der USA selbst, speziell mit Bezug auf ihre Transnationalität.2 Wer von »Amerikanisierung« oder einem »globalen Amerika« spricht, muss doch zunächst einiges über die soziologischen Merkmale der USA selbst wissen. Indes, solch fundiertes Wissen kommt bei denen, die mit solchen Begriffen schnell zur Hand sind, leider nur selten zum Ausdruck. Vernünftigerweise kann man sagen, dass »Antiamerikaner« nicht beides zugleich haben können: Sie können, logisch gesehen, nicht gleichzeitig behaupten, die USA dominierten die Welt und man verwende zuviel Aufmerksamkeit auf die amerikanische Gesellschaft. Gegenwärtig scheinen sich die Vereinigten Staaten in einer Phase zu bewegen, in der die verschiedenen ethnischen und kulturellen »Gemeinschaften« des Landes sich immer weniger an das »Kern-Amerika« binden wollen und sich entsprechend stärker auf ihre außerhalb der USA liegenden Ursprünge besinnen (einschließlich der »Wurzeln ihrer Wahl«). Wer von der Amerikanisierung der Welt spricht, täte gut daran, zuvor über diesen und verwandte Sachverhalte nachzudenken.
Anmerkungen 1 Dieser und der folgende Absatz basieren zum Teil auf Micklethwait und Wooldrige 2000. In starkem Kontrast dazu steht Galtung 2001 – als Beispiel für einen (meiner Meinung nach hysterischen) wissenschaftlichen Antiamerikanismus. 2 Diese Begrifflichkeit wurde angeregt durch Lind 1995: 259-298. Ich stimme allerdings nicht in allen Punkten mit Lind überein.
Literatur Beck, Ulrich (1986), Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. [Engl. Übers. World Risk Society. London: Sage, 1992.]
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Die Autoren dieses Bandes
Ulrich Beck lehrt Soziologie an der Universität München und an der London School of Economics and Political Science. Er ist Herausgeber der Buchreihe »Edition Zweite Moderne« im Suhrkamp Verlag. Zu seinen Buchpublikationen gehören: Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne (1986); Das ganz normale Chaos der Liebe (1990, mit Elisabeth Beck-Gernsheim); Die Erfindung des Politischen: Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung (1993); Riskante Freiheiten: Individualisierung in modernen Gesellschaften (1994, mit Elisabeth Beck-Gernsheim); Die feindlose Demokratie: Ausgewählte Aufsätze (Reclam Verlag, 1995); Reflexive Modernisierung: Eine Kontroverse (1996, mit Anthony Giddens und Scott Lash); Was ist Globalisierung? (1997); Schöne neue Arbeitswelt (Campus Verlag, 1999); Freiheit oder Kapitalismus – Gesellschaft neu denken (2000, mit Johannes Willms); Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter: Neue weltpolitische Ökonomie (2002). Gerard Delanty ist Professor für Soziologie an der University of Liverpool. 1998 war er Gastprofessor an der York University in Toronto, 2000 an der Doshisha University in Kyoto; er hat auch an Universitäten in Irland, Deutschland und Italien gelehrt. Zu seinen Buchpublikationen gehören: Inventing Europe: Idea, Identity, Reality (1995); Rethinking Irish History: Nationalism, Identity, Ideology (1998, mit Patrick O’Mahoney); Social Science: Beyond Constructivism and Realism (1997); Social Theory in a Changing World (1999); Modernity and Postmodernity: Knowledge, Power, the Self (2000); Citizenship in a Global Age (2000); Challenging Knowledge: The University in the Knowledge Society (2001); Nationalism and Social Theory (2002, mit Patrick O’Mahoney). Eva Illouz ist Senior Lecturer an der Hebrew University in Jerusalem. Sie schrieb Consuming the Romantic Utopia: Love and the Cultural Contradictions of Capitalism (1997). Gegenwärtig arbeitet sie an Oprah Winfrey and the Glamour of Misery (Columbia Press) und Flat Identities
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and Thick Relations: The Rise of Homo Communicans (University of California Press). Rob Kroes ist Professor für American Studies an der Universität Amsterdam. 1992-1996 war er Präsident der European Association for American Studies. Zu den 31 von ihm verfassten und herausgegebenen Buchpublikationen gehören: The Persistence of Ethnicity (1992); If You’ve Seen One, You’ve Seen the Mall: Europeans and American Mass Culture (1996) und Them and Us: Questions of Citizenship in a Globalizing World (2000). Er ist Herausgeber zweier in Amsterdam erscheinender Reihen: »European Contributions to American Studies« und »Amsterdam Monographs in American Studies«. Richard F. Kuisel ist Professor für Geschichte am Center for German and European Studies der Georgetown University in Washington, DC. Zuvor war er Professor für Geschichte an der State University of New York in Stony Brook (1980-2000) und Assistant Professor für Geschichte an der University of California in Berkeley (1970-1980). Er wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Preis der New York State Association of European Historians für das beste Buch zur europäischen Geschichte (1995) und mit dem Gilbert Chinard Prize (1993). Zu seinen Buchpublikationen gehören: Le miroir américain: 50 ans de regard français sur l’Amérique (1996); Seducing the French: The Dilemma of Americanization (1993); Le capitalisme et l’état en France:Modernisation et dirigisme au XXe siècle (1984); Capitalism and the State in Modern France: Renovation and Economic Management in the 20th Century (1981); Ernest Mercier: French Technocrat (University of California Press, 1967). Jan Nederveen Pieterse ist Professor für Soziologie an der University of Illinois in Urbana-Champaign. Zuvor war er Associate Professor für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Den Haag. Er lehrte in Ghana und in den Vereinigten Staaten, war Gastprofessor in Japan und Indonesien und hat in zahlreichen Ländern Vorträge gehalten. Zu seinen Buchpublikationen gehören: Development Theory: Deconstructions/Reconstructions (2000); White on Black: Images of Africa and Blacks in Popular Culture (1992) und Empire and Emancipation (1989). Empire and Emancipation erhielt 1990 den J.C. Ruigrok-Preis der Niederländischen Gesellschaft der Wissenschaften. Zu den von ihm herausgegebenen Büchern gehören: Global Features: Shaping Globalization (2000); Globalization and Collective Action (2000); World Orders in the Making: Humanitarian Intervention and Beyond (1998); The Decolonization of Imagination (1995, mit Bhikhu
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Die Autoren | 339
Parekh); Emancipations, Modern and Postmodern (1992) und Christianity and Hegemony (1992). Aihwa Ong ist Professorin für Anthropologie am Zentrum für Südostasien-Studien der University of California in Berkeley. Zu ihren Buchpublikationen gehören: Flexible Citizenship: The Cultural Logics of Transnationality (1999); Ungrounded Empires: The Cultural Politics of Modern Chinese Transnationalism (Hg., 1997); Bewitching Women, Pious Men: Gender and Body Politics in Southeast Asia (Hg., 1995); Spirits of Resistance and Capitalist Discipline: Factory Women in Malaysia (1987). Motti Regev ist Senior Lecturer im Department of Sociology, Political Science and Communication der Open University of Israel. Publikationen: Popular Music and Israeli Culture (mit Edwin Seoussi; erscheint demnächst in der University of California Press); »Rock Aesthetics and Musics of the World«, Theory, Culture & Society 14 (1997); »Producing Artistic Value: The Case of Rock Music«, Sociological Quarterly 35 (1994). George Ritzer ist Professor für Soziologie an der University of Maryland, wo er für seine Forschungen und seine Lehre mehrfach ausgezeichnet wurde. Er war Fulbright-Hays Fellow, Fellow am Netherlands Institute for Advanced Study in the Social Sciences und Inhaber des UNESCO-Lehrstuhls für Gesellschaftstheorie an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Buchpublikationen gehören: Sociology: A Multiple Paradigm Science (1975); Toward an Integrated Sociological Paradigm (1981); Metatheorizing Sociology (1991); The McDonaldization of Society (1993); Expressing America: A Critique of the Global Credit Card Society (1995); The McDonaldization Thesis: Explorations and Extensions (1998) und Enchanting a Disenchanted World: Revolutionizing the Means of Consumption (1999). Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt; allein The McDonaldization of Society wurde oder wird in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Er ist Mitherausgeber des Handbook of Social Theory (2001, mit Barry Smart). Roland Robertson ist Professor für Soziologie an der University of Aberdeen. Zuvor war er Professor für Soziologie und Religionswissenschaft an der University of Pittsburgh. Er ist Autor oder Koautor zahlreicher Bücher, darunter: Meaning and Change; International Systems and the Modernization of Societies; The Sociological Interpretation of Religion and Globalization. Todd Stillman ist graduierter Student am Department of Sociology der
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340 | Die Autoren
University of Maryland in College Park. Seine Hauptinteressen liegen in den Gebieten Gesellschaftstheorie und Konsumforschung. Er ist Koautor von Artikeln über »Guy Debord and the Situationists«, über Casinos in Las Vegas und Kundenservice. Natan Sznaider lehrt Soziologie am Academic College in Tel Aviv, Israel. In seinen Publikationen setzt er sich mit theoretischen Fragen bezüglich moralischer Empfindungen, kollektiver Erinnerungen und der Populärkultur auseinander. Er veröffentlichte eine Untersuchung zur Sozialgeschichte der Gefühle, The Compassionate Temperament: Care and Cruelty in Modern Society (2000), und schrieb Über das Mitleid im Kapitalismus (2000). Zusammen mit Daniel Levy verfasste er die vergleichende Studie Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust (2001). John Tomlinson ist Professor für Kultursoziologie und Direktor am Centre for Research in International Communication and Culture (CRICC) der Nottingham Trent University. Er ist der Verfasser von Cultural Imperialism (1991) und Globalization and Culture (1999); beide Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Rainer Winter ist Soziologe, Professor für Medien- und Kulturtheorie und Vorstand des Instituts für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt, Österreich. Er ist Sprecher der Sektion Medien- und Kommunikationssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Zu seinen neuesten Veröffentlichungen gehören: Die Kunst des Eigensinns: Cultural Studies als Kritik der Macht (2001); Mitherausgeber: Kultur, Medien, Macht: Cultural Studies und Medienanalyse (1999, 2. Aufl.); Widerspenstige Kulturen: Cultural Studies als Herausforderung (1999); Politik des Vergnügens (2000); Die Fabrikation des Populären (2001) und Die Werkzeugkiste der Cultural Studies (2001).
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Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
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