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German Pages 340 Year 2023
Jürgen Wacker Camilla Rothe Maryam En-Nosse Hrsg.
Globale Frauengesundheit Gynäkologie und Geburtshilfe unter unterschiedlichen globalen Bedingungen
Globale Frauengesundheit
Jürgen Wacker • Camilla Rothe Maryam En-Nosse Hrsg.
Globale Frauengesundheit Gynäkologie und Geburtshilfe unter unterschiedlichen globalen Bedingungen Unter Mitarbeit von Laeticia Nwaeburu, Eva J. Kantelhardt, Abdoulaye N’Diaye
Hrsg. Jürgen Wacker ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal Bruchsal, Deutschland
Camilla Rothe Oberärztin Klinikum der LMU München Med. Klinik IV Abt. f. Infektions- und Tropenmedizin München, Deutschland
Maryam En-Nosse Luisenhospital Aachen Uniklinik Freiburg Freiburg, Deutschland
ISBN 978-3-662-66080-5 ISBN 978-3-662-66081-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat/Planung: Sabine Gehrig Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Geleitwort
Das jetzt vorliegende, sehr praktische und zugleich wissenschaftliche Buch, welches von Jürgen Wacker, Camilla Rothe und Maryam En-Nosse herausgegeben wurde unter der Mitarbeit von Laeticia Nwaeburu, Eva Kantelhardt und Abdoulaye N’Diaye, fusst auf dem ebenfalls von Jürgen Wacker publizierten bekannten Lehrbuch „Geburtshilfe unter einfachen Bedingungen“ und auf dem Therapiehandbuch Gynäkologie und Geburtshilfe, welches inzwischen in 3 Auflagen erschienen ist, wie auch auf dem Manual „Obstetrics unplugged“. Diese inzwischen zu Standardwerken gewordenen Bücher waren auch integraler Bestandteil als Basis für die vor zwei Jahren, vor den SARS-CoV2-bedingten Restriktionen, erfolgreich von Prof. Jürgen Wacker in Bruchsal organisierte Jahrestagung der AG Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit (FIDE), bei der ca. 200 Studierende, Ärzte und andere verwandte Berufsgruppen in Bruchsal über Themen wie Globale Frauengesundheit, Bevölkerungsentwicklung, Ernährung der Menschen und Weiterentwicklung der Landwirtschaft , Familienplanung, Klimaveränderung, Verletzungen durch Geburt und Vergewaltigungen, medizinische und ethische Fragen intensiv diskutiert haben. Die erste Auflage des Buches „Globale Frauengesundheit“ beschäftigt sich mit allgemeinen Themen, wie Bevölkerungsentwicklung, Klimaveränderungen, dem Einfluss von Religionen und Traditionen, Female Genital Mutilation (FGM), dem Recht auf selbstbestimmte Familienplanung der Frau usw., die alle weltweit die Gesundheit von Frauen bedrohen. Anhand ausgewählter konkreter Beispiele wie Präeklampsie, Geburtsverletzungen, Leitung der Geburt, Mammakarzinom etc. geht das Buch sehr kompetent und in klarer Sprache auf die internationalen Leitlinien und die unterschiedliche Durchsetzung in den reichen und armen Ländern ein. Die Autoren dieses Buches werden aber immer erkennbar von der Einsicht getragen, dass die moderne, westliche Medizin nicht einfach den Kolleginnen und Kollegen in ärmeren Ländern unserer Welt, wie z. B. Afrika, aufgedrängt werden soll. Kollege Jürgen Wacker als ehemaliger Entwicklungshelfer hat sicher in seinem jahrzehntelangen Engagement, z. B. als Leiter eines Krankenhauses in Burkina Faso von 1986–1988, selbst die Erfahrung gemacht, dass wir auch als deutsche Ärzt*innen durch unsere Tätigkeit in ärmeren Ländern z. B. in Afrika vieles gelernt haben, welches wir dann bei uns in Deutschland in der Geburtshilfe, aber auch in
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der Palliativmedizin und der Behandlung von Patient*innen mit Krebs anwenden können. Voraussetzung dieses Prozesses des gegenseitigen voneinander Lernens ist die wissenschaftliche Aufarbeitung auch der Geburtshilfe unter einfachen Bedingungen, was Jürgen Wacker mit seinem Team vor allem anhand der Präeklampsie- Thematik überzeugend demonstriert hat. Er zitiert in diesem Zusammenhang den Leitspruch: „Helfen und Lernen in Übersee“ sowie das treffende afrikanische Sprichwort: „Die Weisheit gleicht dem Stamm eines Baobab-Baumes: Ein Mensch allein kann ihn nicht umfassen!“ An jedem Tag sterben etwa 800 Frauen an verhinderbaren Ursachen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt, ungefähr 280.000 pro Jahr und davon etwa 99 % dieser Todesfälle in LMIC. Darüber hinaus erleiden ca. 10 Mio. Frauen jährlich lebensbedrohliche Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt, manchmal mit lebenslangen Behinderungen als Folge. Mütterliche Gesundheit ist eng verknüpft mit einer Vielzahl von Themen wie Familienplanung, Migration sowie ökonomischem Wachstum, und die Friedens- Nobelpreis-Trägerin 2011 und Präsidentin von Liberia Ellen Johnson Sireleaf hat dies in dem Satz zusammengefasst „ A Nation thrives when mothers survive – we must strive to keep them alive.“ Das Millennium Development Goal Nr. 5 fokussiert auf die Reduzierung der Mütterlichen Sterblichkeit (MMR) um 75 % zwischen 1990 und 2015. Die Müttersterblichkeit ist ein Indikator für die Wertschätzung einer Gesellschaft gegenüber ihren Frauen, und Ungleichheiten basierend auf Geschlecht, Ethnizität, sozioökonomischem Hintergrund und regionaler Herkunft können für jedes Land analysiert werden. Es gab eine deutliche Verbesserung in der mütterlichen Mortalität von 550.000 Todesfällen in 1990 auf 280.000 in 2010 durch große internationale Anstrengungen seit der Safe Motherhood Initiative im Jahre 1987. Die International Federation of Gynecology and Obstetrics, die 1954 in der Schweiz gegründet wurde und in der ich 6 Jahre lang als Officer und Honorary Treasurer dienen durfte, hat signifikanten Einfluss auf diese Entwicklung genommen, z. B. mit folgenden Resolutionen in dieser Zeit: Female Genital Mutilation (Montreal 1994), Violence Against Women (Copenhagen 1997), Women’s Rights Related to Reproductive and Sexual Health (Washington DC 2000), Women’s Sexual and Reproductive Rights – A Social Responsibility for Obstetricians- Gynecologists (Santiago 2003), FIGO Professional and Ethical Responsibilities concerning Sexual and Reproductive Rights (Santiago 2003). Bei den Non-Communicable Diseases kommen 80 % der kardiovaskulär- und diabetesbedingten Todesfälle und ungefähr 90 % der Todesfälle durch chronisch- obstuktive Lungenerkrankungen in Low- und Middle-income countries (LMIC) vor. Von Female Genital Mutilation (FGM) mit seinen negativen Folgen schwere Schmerzen, Hämorrhagie, Tetanus, Infektionen, Sepsis, Unfruchtbarkeit sowie psychologischem und sexuellem Trauma sind weltweit 200 Mio. Frauen betroffen. Der Rückgang der Sterblichkeit von Müttern und Säuglingen weltweit in den letzten Jahren zeigt trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge, dass die kollektive
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und durch die Sustainable Development Goals (SDGs) geförderte Anstrengung einzelner Regierungen, Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) und der Teams vor Ort eine sichtbare Veränderung bewirkt hat und weiter erreichen kann. Das jetzt vorliegende Buch von Jürgen Wacker, Camilla Rothe und Maryam En- Nosse ist somit ein wichtiger Beitrag zu Maternal/Fetal Health, für den wir sehr dankbar sind. Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult Wolfgang Holzgreve, MBA Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Klinikums der Universität Bonn
Vorwort
‚Wisdom is like baobab – no-one can embrace it‘ (African saying)
Der Baobab (Adansonia digitata oder Affenbrotbaum) ist einer der charakteristischen Bäume der afrikanischen Steppe. Er kann bis zu 2000 Jahre alt werden und das Sprießen seiner Blätter, am Ende der Trockenzeit, kündigt die nahe Regenzeit an. Der Heidelberger Psychiater und Philosoph Karl Jaspers (23.02.1883 bis 26.02.1969) sagte einmal: ‚Niemand hat die Wahrheit, wir alle suchen sie!‘
Die Autoren des vorliegenden Buches ‚Globale Frauengesundheit‘ arbeiten in unterschiedlichen Disziplinen und sitzen gewissermaßen unter einem Baobab, dem Baum der Erkenntnis, um gemeinsam Antworten auf die Fragen der globalen Frauengesundheit zu finden. Einige der Autorinnen und Autoren dieses Buches arbeiteten bereits an den Lehrbüchern ‚Geburtshilfe unter einfachen Bedingungen‘, dem Manual ‚Obstetrics unplugged‘ und dem Therapiehandbuch ‚Gynäkologie und Geburtshilfe‘ mit und trugen gemeinsam zum Erfolg dieser Bücher bei. Die Idee, ein Buch über Globale Frauengesundheit zu schreiben, entstand im Februar 2020, im Rahmen der 25. Jahrestagung der AG Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit (FIDE), die vom 6.–9. Februar 2020 in Bruchsal stattfand. Diese 25. FIDE-Tagung vor dem Coronapandemie-bedingten Lockdown führte ca. 200 Studierende, Ärzte und Angehörige anderer verwandter Berufsgruppen in der Bruchsaler Fürst-Stirum-Klinik und im Bruchsaler Bürgerzentrum zusammen. In zahlreichen Vorträgen und Diskussionsforen wurden vielfältige Themen der internationalen Zusammenarbeit behandelt, die Eingang in das vorliegende Buch fanden. Der Träger des Alternativen Nobelpreises, der Bauer Yacouba Sawadogo aus Ouahigouya in Burkina Faso, schilderte eindrücklich seinen nachhaltigen Einsatz für die Aufforstung eines Waldes mitten in der erodierten Trockensavanne des Sahel. ‚Er griff die regional übliche Anbaumethode »Zaï« auf – bei der in wochenlanger Knochenarbeit Löcher für die Hirsekörner in die Erde geschlagen werden –, um nicht nur Getreide, sondern in jahrzehntelanger Anstrengung auch viele tausend Bäume zu pflanzen. Anfangs wurde er noch als Verrückter und Ketzer verunglimpft, weil er es wagte, die quasi sakrosankten agrarischen Traditionen zu verändern‘. IX
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Vorwort
Die Erkenntnisse der modernen Medizin können nur im Einklang mit und im Respekt vor der Natur zum Erhalt der Gesundheit von Frauen und Männern erfolgreich angewendet werden. Was bedeutet für uns Globale Gesundheit? Globale Gesundheit ist die Gesundheit der Bevölkerung im weltweiten Kontext. Globale Frauengesundheit steht für die moderne Gynäkologie und Geburtshilfe unserer Zeit, die sich in Zusammenarbeit mit anderen Fachrichtungen zum Wohle unserer Patientinnen und zum Erhalt der Gesundheit von Frauen einsetzt. Die Umsetzung der Ideen der Globale Frauengesundheit berücksichtigt die aktuellen Veränderungen des Klimas, die Folgen der Corona-Pandemie, die zunehmend schwierigeren Bedingungen der Menschen in den armen Ländern und die weltweit feststellbare Verknappung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen. Global bedeutet, dass wir im ständigen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Kontinente unseres Planeten Erde stehen, um gegenseitig voneinander zu lernen, um Krankheiten besser zu verstehen und Behandlungen erfolgreicher durchführen zu können. ‚Global‘ ist nicht synonym mit ‚totalitär‘ und darf nicht damit verwechselt werden! Wir beabsichtigen nicht, deutsche, europäische Erfahrungen in andere Regionen unserer Erde zu exportieren oder gar anderen Menschen aufzuzwingen! Wir haben im Zuge unseres Einsatzes im Rahmen der humanitären Hilfe für uns selbst vieles gelernt. Es gilt weiterhin der Leitspruch: ‚Helfen und Lernen in Übersee!‘ Die Autorinnen und Autoren dieses Buches sind davon überzeugt, dass gegenseitiges Verstehen und partnerschaftliches einander Helfen die wichtigsten Grundlagen für ein friedliches und faires Miteinander – weltweit – darstellen. Albert Schweitzer fasste in seinem Buch ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ diese Erkenntnis wie folgt zusammen: ‚Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will!‘
Was wir alle brauchen, ist gegenseitiges Verständnis und gegenseitiges voneinander Lernen. Davon sind alle Autoren dieses Buches beseelt, und davon ist in allen vorliegenden Kapiteln zu lesen. Aus aktuellem Anlass habe wir die ukrainische Sprache in unser Glossary am Ende des Buches über die wichtigsten geburtshilflichen Begriffe aufgenommen. Wir können als Ärzte, Wissenschaftler und Hebammen ‚keine schweren Waffen‘ zur Abwehr eines Angriffskrieges liefern, aber statt Waffen Hilfe und Hoffnung für leidende Frauen und Männer anbieten! Bruchsal, Deutschland München, Deutschland Freiburg, Deutschland Juli 2022
Jürgen Wacker Camilla Rothe Maryam En-Nosse
Inhaltsverzeichnis
1
Einführung in das Thema: Globale Gerechtigkeit angesichts der Rekolonisierung in Afrika, des Klimawandels, des Ukrainekrieges und der Corona Pandemie�������������������������������������� 1 Jürgen Wacker
2
Bevölkerungsentwicklung weltweit: Ernährung der Menschen und die Weiterentwicklung der Landwirtschaft ������������������������������������ 15 Azadeh Farajpour Javazmi und Tobias Orthen
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Über die selbstbestimmte Familienplanung der Frauen in armen Ländern und Migrantinnen in reichen Ländern�������������������� 27 Laura Häusler, Jürgen Wacker, Zoubeida Saidane und Yacouba Zanré
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Globaler Klimawandel und Frauengesundheit �������������������������������������� 43 Bhargavi Chekuri, Natasha Sood, Cecilia Sorensen und Maryam En-Nosse
5
Eine holistische Sicht auf Frauengesundheit in einer sich schnell verändernden Welt������������������������������������������������������������������������ 63 Detlev Ganten und Britta Rutert
6
Der Einfluss der Religionen auf die Frauengesundheit�������������������������� 71 Ulrich Hemel
7
Frauengesundheit, Kultur und Ethik – Anthropologische, ethnomedizinische und sozialethische Aspekte in Global Health���������� 83 Walter Bruchhausen
8
Müttersterblichkeit: Stand, Fortschritt, und Ausblick�������������������������� 95 Claudia Hanson und Ali Saidi
9
Wichtige Tropenerkrankungen mit Relevanz für Frauengesundheit und Geburtshilfe�������������������������������������������������� 111 Camilla Rothe und Jürgen Wacker
10 Pandemien�������������������������������������������������������������������������������������������������� 123 Camilla Rothe und Laeticia Nwaeburu XI
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Inhaltsverzeichnis
11 Leitung der Geburt������������������������������������������������������������������������������������ 137 Anne Fritz, Grace Komuhangi, Anne-Kathrin Klotzsch, Madeleine Da, Ramata Edvige Ilboudo, Margret Bauer und Jürgen Wacker 12 Behandlung von Geburtsverletzungen und Fisteln�������������������������������� 157 Jürgen Wacker, Peggy Seehafer und Kees Waaldijk 13 Die Behandlung der Präeklampsie in armen und reichen Ländern ���� 173 Jürgen Wacker, Laeticia Nwaeburu und Abdoulaye N’Diaye 14 Die Durchführung des Kaiserschnitts in armen und reichen Ländern (Misgav-Ladach-Sectio, „der sanfte Kaiserschnitt“)�������������� 187 Michael Stark, Jürgen Wacker und Judith Lindert 15 Auswirkungen der modernen Geburtshilfe auf die Entwicklung des Menschen am Beispiel der vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft���������������������������������������������������������������������������������� 205 Michel Odent, Michael Stark und Jürgen Wacker 16 Maligne Erkrankungen der Frau weltweit���������������������������������������������� 215 Antje Henke, Jürgen Wacker, Abdoulaye N’Diaye und Eva J. Kantelhardt 17 Die Behandlung des Mammakarzinoms in armen und reichen Ländern �������������������������������������������������������������������������������� 229 Maria Eleni Hatzipanagiotou, Abdoulaye N’Diaye, Leonie Ströbele und Jürgen Wacker 18 Die Rolle der Palliativmedizin in armen und reichen Ländern������������ 245 Jürgen Wacker 19 Erstellen von Leitlinien für arme und reiche Länder – was ist unverzichtbar?�������������������������������������������������������������� 259 Rosemarie Burian, Eva J. Kantelhardt und Jürgen Wacker 20 Qualitätsverbesserung und Patientensicherheit: systemische Ansätze und Prozesse�������������������������������������������������������������������������������� 277 Michael Marx 21 Female Genital Mutilation������������������������������������������������������������������������ 293 Maryam En-Nosse und Jürgen Wacker 22 Gesundheit in der Migration: Einflussfaktoren „rund um die Geburt“ in Deutschland���������������������������������������������������� 309 Tobias Vorburg, Melanie Marwitz und Nicole C. Schmidt Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Autorenverzeichnis
Margret Bauer Frauenklinik, Deutschland
Fürst-Stirum-Klinik
Bruchsal,
Bruchsal,
Prof. Dr. med. Walter Bruchhausen Sektion Global Health, Institut für Hygiene und Public Health, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland Dr. med. Rosemarie Burian Basel, Schweiz Bhargavi Chekuri, MD Department of Family Medicine, Columbia University, Aurora, USA Madeleine Da Hebammenschule Saint-Edvige, Ouagadougou, Burkina Faso Dr. med. Maryam En-Nosse Luisenhospital Aachen, Uniklinik Freiburg, Freiburg, Deutschland Dr. Azadeh Farajpour Javazmi betterSoil e.V., Ulm, Deutschland Anne Fritz Akademie für Gesundheitsberufe gGmbH, Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. med. Detlev Ganten Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), Berlin, Deutschland PhD MD Claudia Hanson Department of Global Public Health, Karolinska Institutet, Stockholm, Sweden Dr. med. Maria Eleni Hatzipanagiotou Departement of Gynecology and Obstetrics, University Medical Centre Regensburg, Regensburg, Deutschland Dr. med. Laura Häusler Mannheim, Deutschland Prof. Dr. Ulrich Hemel Weltethos-Institut, Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland Dr. med. Antje Henke Global & Planetary Health AG, Institut für Med. Epidemiologie, Biometrie u. Informatik, Proflizentrum Gesundheitswissenschaften, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland
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Ramata Edvige Ilboudo Hebammenschule Burkina Faso
Autorenverzeichnis
Saint-Edvige,
Ouagadougou,
Prof. Dr. med. Eva J. Kantelhardt Global & Planetary Health AG; Klinik und Poliklinik für Gynäkologie, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitätsklinikum Halle (Saale), Halle (Saale), Deutschland Anne-Kathrin Klotzsch Hebamme, Bachelor of Science in International Midwifery Studies, Berlin, Deutschland Anna Koch Graben-Neudorf, Deutschland Diethard Kokoska Bruchsal, Deutschland Grace Komuhangi Duisburg, Cham, Deutschland Dr. med. Judith Lindert Klinik für Kinderchirurgie der Universität Rostock, Hamburg, Deutschland Melanie Marwitz HebaVaria g.e.V., München, Deutschland Prof. Dr. med. Michael Marx Heidelberger Institut für Global Health, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland Dr. med. Abdoulaye N’Diaye Frauenklinik, Hopital Saint Camille, Ouagadougou, Burkina Faso Département de gynécologie, Hôpital Saint Camille de Ouagadougou, Centre de Santé Saint Camille, Ouagadougou, Burkina Faso Dr. med. Laeticia Nwaeburu Klinikum Ingolstadt, Frauenklinik, Ingolstadt, Deutschland Dr. med. Michel Odent London, Großbritannien Dr. Tobias Orthen Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung, FAW/n Ulm, Ulm, Deutschland Priv. Doz. Dr. med. Camilla Rothe Oberärztin Klinikum der LMU München Med. Klinik IV, Abt. f. Infektions- und Tropenmedizin, München, Deutschland Dr. med. Britta Rutert Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), Berlin, Deutschland MD Ali Saidi Muhimbili National Hospital, Muhimbili University of Health and Allied Health Science (MUHAS), Dar es Salaam, Tanzania Dr. med. Zoubeida Saidane Frauenklinik der Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland Prof. Dr. med. Nicole C. Schmidt Fakultät für Soziale Arbeit, Katholische Stiftungshochschule München (KSH), München, Deutschland Abteilung für Gynäkologie, Universitätsfrauenklinik Genf (HUG), Genf, Schweiz
Autorenverzeichnis
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Cecilia Sorensen, PhD MD Mailman School of Public Health, Columbia University, New York, USA Peggy Seehafer Hamburg, Deutschland Natasha Sood, MD, MPH, MEd Pennsylvania State University College of Medicine, Columbia University, Hershey, USA Prof. Dr. Michael Stark c/o Regus (NESA), Unter den Linden, Berlin, Deutschland Dr. med. Leonie Ströbele Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, UKGM Standort Gießen, Gießen, Deutschland Tobias Vorburg Fachbereich „Früherkennung besonderer Schutzbedarfe und psychischer Erkrankungen“, Refugio München, München, Deutschland Dr. med. Kees Waaldijk HC Gennep, Niederlande Prof. Dr. med. Jürgen Wacker ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland Dr. Yacouba Zanré Hôpital Schiphra, Ouagadougou, Burkina Faso
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Einführung in das Thema: Globale Gerechtigkeit angesichts der Rekolonisierung in Afrika, des Klimawandels, des Ukrainekrieges und der Corona Pandemie Jürgen Wacker Inhaltsverzeichnis 1.1 E inführung in das Thema 1.2 Vom Elendsgebiet der Armen und Rohstofflager der Reichen zu Afrotopia 1.3 Geschichte der Entwicklungspolitik – Dekaden in der Entwicklungszusammenarbeit 1.4 Zeitenwende 1.4.1 Angriffskrieg in der Ukraine 1.4.2 Folgen der Corona-Pandemie 1.4.3 Klimawandel 1.5 Globale Frauengesundheit 1.6 Nachtrag nach Durchsicht des Drucksatzes und nach Besuchen in Burkina Faso (November 22), Äthiopien (Januar 23) und Tansania (Februar 23) Literatur
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Die nachfolgende Abbildung zeigt den Rahmen und den Inhalt unseres Buches (Abb. 1.1). Wir widmen dieses Buch: Allen Frauen dieser Welt – jeder Herkunft, Religion, Hautfarbe
J. Wacker (*) ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_1
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Abb. 1.1 Gutes Zuhören und genaues Messen sind die Grundlagen des Globalen Denkens. (© Diethard Kokoska)
1.1 Einführung in das Thema Als ehemaliger Entwicklungshelfer des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) und Leiter des Bloc operatoire und der Maternité am CHR in Dori (Burkina Faso) lese und benutze ich regelmäßig den ‚Eine Welt Kalender‘ des Volker Harms Verlages. In der Ausgabe für das Jahr 2022 ist ein bemerkenswerter Artikel zur ‚Re- Kolonisierung des Sahel‘ von Dolly Katiutia Alima Afoumba veröffentlicht. Frau Afoumba ist Master in Geschichte, Friedens- und Konfliktforschung. Derzeit promoviert sie an der Philipps-Universität Marburg im Fachbereich Neue Geschichte. Frau Afoumba schreibt:
1 Einführung in das Thema: Globale Gerechtigkeit angesichts der Rekolonisierung…
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‚Die Sahelregion wird in den Medien häufig als Pulverfass (poudrière«) bezeichnet, ein im doppelten Sinne interessantes Sprachspiel: Es verweist einerseits auf die enorme Menge an Waffen und bewaffneten Akteuren in der Region und andererseits darauf, dass sich in diesem Risikogebiet jede Spannung schnell in einen allgemeinen Konflikt verwandeln kann. Doch die Metapher vom Pulverfass sagt nichts darüber aus, wer das Pulverfass befüllt und wer an seiner Lunte zündelt. Im Folgenden soll der Hypothese nachgegangen werden, dass sich hinter der Hypermilitarisierung des Sahel eine Kampagne der Rekolonisierung verbirgt, vorangetrieben von der zunehmenden Präsenz ausländischer Armeen, erweitert und gefestigt von der darauf folgenden Ansiedlung multinationaler Firmen‘. (Afoumba 2021)
Im Januar 2022 erhielt ich von ehemaligen Mitarbeitern des CHR Dori die Nachricht, dass in Gorgadji, einer kleinen Stadt in der Nähe von Dori, ca. 30 km entfernt, mehrere Terroristen etwa 60 Bewohner getötet hatten. Stolz berichteten sie, dass auch die Terroristen von den Verteidigern von Gorgadji getötet wurden. Am 15.01.2016 wurde mein chirurgischer Mentor, Dr. Ken Elliott, in Djibo (Sahel von Burkina Faso) zusammen mit seiner Frau von Islamisten entführt. Seine Frau, die an Diabetes mellitus litt, wurde kurze Zeit später von den Terroristen freigelassen. Bis heute ist das Schicksal von Ken Elliott unklar. Unser Entwicklungsdienst zwischen 1986 und 1988 begann, als kurz zuvor Mali am 23.12.1985 Burkina Faso den Krieg erklärte, weil anlässlich einer Volkszählung sieben kleine malische Dörfer im Bereich der Grenze zu Burkina Faso von den burkinischen Beamten mitgezählt wurden. Die Kriegshandlungen wurden aufgrund von Treibstoff- und Munitionsmangel auf beiden Seiten nach weniger als zwei Wochen eingestellt. Dieser sogenannte Weihnachtskrieg war bereits am 06.01.1986 beendet, als wir in Ouagadougou landeten. Zwar herrschte nun Sperrstunde von 18 Uhr abends bis 6 Uhr morgens und in den Straßen der Hauptstadt waren reichlich Militärkontrollen, aber es wurde nicht mehr geschossen, und wir konnten mit unserer klinischen Arbeit im OP und in der Maternité in Dori anfangen. Die Lage im Sahel von Burkina Faso verfolge ich nun seit 36 Jahren mit großem Interesse und zunehmender Sorge. Was ist in der Zwischenzeit geschehen, was hat sich verändert, dass diese friedliebenden Menschen im Sahel Angst haben müssen, die Märkte in Bani, Gorom-Gorom, Markoye, Oursi und Sebba zu besuchen, um dort Freunde und Verwandte zu treffen? Wir traten unseren Dienst in Burkina Faso mit der Überzeugung an, etwas Sinnvolles und Frieden Stiftendes für das Zusammenleben und den Zusammenhalt der Bevölkerung von Burkina Faso beizutragen, in dem wir als Ärzte und Hebammen für die Gesundheit der Menschen arbeiteten. Dolly Afoumba schreibt zu dem Kampf gegen den Terrorismus: ‚Was den bewaffneten Einsatz betrifft, so hat sich die G 5 Sahel (Tschad, Mali, Niger, Burkina Faso, Mauretanien) verpflichtet, eine afrikanische Armee zur Bekämpfung des Terrorismus zu bilden. Diese Initiative wird, nach Afoumba, allerdings nicht von den westlichen Mächten unterstützt‘.
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Wir wissen, dass die Bundeswehr seit Jahren mit hunderten von Soldaten in Gao, in Mali, stationiert ist. Diese Soldaten sind Teil einer der verlustreichsten Friedensmissionen in der jüngeren Geschichte der Vereinten Nationen. Bisher sind 250 Soldaten bei ihrem Einsatz getötet worden. Im Juni 2021 wurden 12 deutsche Soldaten schwer verletzt, als eine Autobombe in ihrem Lager explodierte. Inzwischen befinden sich russische Söldner in Bamako, der Hauptstadt von Mali, das nach wie vor von fortwährenden Putschen, Korruption und Terror gepeinigt ist. Im Mai 2022 wurde von dem Deutschen Bundestag über den Einsatz der Deutschen Bundeswhr in Mali debattiert. Konflikte wie aktuell in Mali und anderen Staaten Westafrikas lassen sich stets auf die dort herrschende Armut der Bevölkerung, deren schlechte medizinische Versorgung, die Korruption der Herrschenden und die Einmischung fremder S taaten, die meist ihre eigenen Interessen an den Bodenschätzen Afrikas verfolgen, zurückführen! Ein „Raus wie in Afghanistan im Sommer“ ist kein gutes Beispiel deutscher Unterstützung und Hilfe für die Menschen in Westafrika! Wir können, wir dürfen die Menschen dort nicht alleine lassen. Wir sollten ihnen helfen, selbst für ihre Interessen zu kämpfen und selbst ihr Schicksal zu bestimmen, wie sie ihre Staaten organisieren und ihre Regierungen wählen. Von Rudolf Virchow stammt der Satz: ‚Politik ist Medizin im Großen!‘ Virchow sieht in der Medizin eine soziale Wissenschaft, die dem Staat die Aufgabe zuweist, der Gesundheit der Menschen zu dienen (Fischer und Ganten 2021)! 1848 gründete Virchow die Medizinische Reform und formulierte seine Überzeugung, dass Bildung, Wohlstand und Freiheit die Garantien für die Gesundheit eines Volkes sind. Bereits 64 Jahre früher, im ersten Band des ‚Systemes einer vollständigen medicinischen Polizey´, der 1784 in Mannheim erschien, trat der Bruchsaler Spitalarzt Johann Peter Frank dafür ein: ‚…‘ „dass der Staat Verantwortung dafür übernehmen müsse, Seuchen von großen Teilen der Bevölkerung durch die Bereitstellung angemessener Wohn- und Arbeitsverhältnisse, aber auch durch sorgfältigen (hygienischen) Umgang mit unserem wichtigsten Lebensmittel, dem Trinkwasser, abzuwenden (Wacker et al. 2021).“ Virchow und Frank beschrieben die Situation der zu ihrer Zeit armen Bevölkerung in Deutschland und einigen anderen Staaten Europas. Mittlerweile hat sich die gesundheitliche Lage der meisten Menschen in Europa deutlich verbessert. Die allgemeine Globalisierung und die damit verbundenen Veränderungen haben die Fragen der allgemeinen Gesundheit zu einem Politikfeld gemacht. Die Dimensionen in der globalen Gesundheitspolitik haben sich verschoben, sie sind politischer geworden (Kickbusch 2013). Wir müssen begreifen, dass Globalisierung nicht bedeutet, dass die reichen Länder die armen Länder wieder oder erneut ‚re-kolonisieren‘, sondern dass wir alle nur gesund bleiben und überleben können, wenn wir gerechter die Ressourcen unseres Planeten Erde verteilen und sorgsamer mit der uns umgebenden Natur umgehen! Die globale Gesundheit beruht auf den 3 G’s: Gerechtigkeit – Gemeinschaft – Gemeinsinn Unser Fachgebiet der Gynäkologie und Geburtshilfe beschäftigt sich mit den 3 G’s (Wacker und Breitkopf 2008): Gebären – Gedeihen – Genesen
1 Einführung in das Thema: Globale Gerechtigkeit angesichts der Rekolonisierung…
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Die Herausgeber dieses Buches sind überzeugt, dass diese Aufgaben einer globalen Frauengesundheit in Zukunft nur bewältigt werden können, wenn wir ‚fachübergreifend mit anderen Disziplinen‘ zusammenarbeiten. Es gilt, den bereits jetzt hohen Standard der kurativen Medizin in den reichen Ländern zu erhalten, aber gleichzeitig in den armen Ländern Kliniken zu bauen, um die aktuelle Unterversorgung in der klinischen Medizin dort zu beseitigen. Für alle Fachrichtungen innerhalb der Medizin gilt, dass wir in Zukunft neben der Förderung der kurativen Medizin auch die ambulanten Maßnahmen zur Behandlung von chronischen Krankheiten und zur Prävention von vermeidbaren Erkrankungen stärken.
1.2 Vom Elendsgebiet der Armen und Rohstofflager der Reichen zu Afrotopia Vielfach wird beklagt, dass arme Länder, wie z. B. die meisten Staaten des afrikanischen Kontinentes, keinen wirtschaftlichen Fortschritt zeigen, obwohl sie bereits viele finanzielle Zuwendungen erhalten haben. Es ist bekannt, dass viele Fördergelder in dunklen, von der Korruption der Regierungen beherrschten schwarzen Kassen verschwinden. Wie das Beispiel Burkina Faso (wörtlich übersetzt: Land der Unbestechlichen) aber zeigt, können auch Länder, die in der Vergangenheit (Thomas Sankara) aktiv gegen die vorherrschende Korruption vorgegangen sind, wirtschaftlich nur wenig, wenn überhaupt, prosperieren. Ulricke Herrmann setzt sich in ihrem Artikel ‚Zum Freihandel gezwungen‘ mit diesem Problem auseinander: ‚Wie die Geschichte zeigt, kann es sehr sinnvoll sein, gezielt auf Protektionismus zu setzen. Dies gilt vor allem für Entwicklungsländer, die den technologischen Abstand zu den Marktführern aufholen wollen‘. Deutschland, Frankreich und die USA sind dafür beste Beispiele. Auch sie waren einmal Entwicklungsländer – im 19. Jahrhundert. Damals war Großbritanien das führende Industrieland, während die anderen Europäer und die USA diesen Vorsprung aufholen wollten. Um die eigenen Industriebetriebe gegen die überlegene britische Konkurrenz zu schützen, erhöhten z. B. die USA von 1820 bis zum Zweiten Weltkrieg die Zölle auf Werte zwischen 35 und 50 %. Die erhöhten Zölle wurden erst abgeschafft, wenn die eigene Industrie zu den Weltmarktführern gehörte (Herrmann 2019). Die heutigen Entwicklungsländer haben es, nach Herrmann, aber deutlich schwerer, die technologische Kluft zu überwinden, da bedingt durch den technologischen Fortschritt die Mindestgröße für eine neue Fabrik stetig gewachsen ist. Wir brauchen neue wirtschaftliche Instrumente, um diese Benachteiligung der armen Länder zu beseitigen. Fakt ist die Ausbeutung der Rohstoffe und der Natur des afrikanischen Kontinentes durch fremde Mächte wie China, den USA und einigen europäischen Ländern. Die folgende Karikatur zum Thema ‚Überfischung der Gewässer vor Afrika durch fremde Fangflotten‘ aus dem Eine-Welt-Kalender von 2022 zeigt diese Problematik eindeutig auf (Abb. 1.2).
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Abb. 1.2 Karikatur „Zwei Fischer“. (Mit freundlicher Genehmigung des Harms Verlag, Kiel)
Diese Ausbeutung Afrikas ist ungerecht, und die Bedingungen in den Förderstätten und Minen für die in der jeweiligen Region Afrikas lebenden Menschen inhuman und unerträglich! Im Rahmen eines fairen Miteinanders im Rahmen der globalen Zusammenarbeit müssen neue, gerechtere Wege unter der Beteiligung der lokalen Bevölkerung gefunden werden, um zukünftige Konflikte zu vermeiden. In seinem Buch ‚Afrotopia‘ – Afrika (neu) denken schreibt der in Niodior im Senegal geborene Schriftsteller und Professor für Wirtschaftswissenschaften Felwine Sarr: ‚Überlegungen über den gesamten afrikanischen Kontinent anzustellen, ist eine schwierige Aufgabe, bekommt man es doch mit hartnäckigen Gemeinplätzen, Klischees und Pseudogewissheiten zu tun, die sich wie ein Dunstschleier über die Realität legen. Seit den 1960er-Jahren und seit dem Morgen der Unabhängigkeit ist Afrika von der afropessimistischen Vulgata ohne Unterlass als der Kontinent beschrieben worden, der einen Fehlstart hingelegt hat und seitdem am Abdriften ist: ein sterbendes Ungeheuer.‘ Sarr stellt diesen pessimistischen Aussagen seinen Optimismus, seine ‚Afrotopia‘ entgegen: ‚Da sich der Wind gedreht zu haben scheint, ist in jüngerer Zeit eine Rhetorik der Euphorie und des Optimismus erblüht. Die Zukunft werde fortan afrikanisch sein. Der Kontinent mache Fortschritte in Sachen Wirtschaftswachstum und die Aussichten seien gut. Ökonomen zufolge wird Afrika das nächste Ziel der internationalen Kapitale sein, da diese dort mit höheren Profiten rechnen könnten als irgendwo sonst. Dank der Verfügbarkeit von natürlichen Ressourcen und Rohstoffen werde der afrikanische Kontinent das zukünftige Eldorado des Weltkapitalismus sein.‘ Zusammen mit Felwine Sarr bin ich mir nicht sicher, ob diese Entwicklung den Menschen in den großen Städten und in den ländlichen Regionen Afrikas hilft, ihre Armut zu überwinden.
1 Einführung in das Thema: Globale Gerechtigkeit angesichts der Rekolonisierung…
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Abb. 1.3 Karikatur „Drei zufriedene Fischer“. (© Diethard Kokoska)
Die folgende Abbildung zeigt drei zufriedene Fischer, die jeweils vor ihren Küsten Fische fangen und nicht in fremden Teichen (Abb. 1.3).
1.3 Geschichte der Entwicklungspolitik – Dekaden in der Entwicklungszusammenarbeit Um den derzeitigen Stand der Entwicklungszusammenarbeit einschätzen zu können und um aus alten Fehlern zu lernen, sei an dieser Stelle aus dem Übersichtsartikel von Hubertus Büschel zitiert, der die Zeit seit dem Beginn der modernen deutschen Entwicklungspolitik seit 1966 in verschiedene Dekaden einteilt (Büschel 2010): • Erste entwicklungspolitische Dekade (1960–1970): Man ging davon aus, dass zugeschossenes Kapital Wachstum und Wohlstand fördert (‚Trickle-down- Effekt‘), d. h. Durchsickern von Kapital an die Basis der Bevölkerung. • Zweite Dekade (1970–1980): Zeit der Revision. Zeit der Sicherung von Grundbedürfnissen Eine Grundbedürfnisstrategie wurde entwickelt, die als Basis von ökonomischem Wachstum die Befriedigung von Grundbedürfnissen der Menschen vor Ort erkannte. • Dritte Dekade (1980–1990): Viele Entwicklungsländer waren zu Beginn der 1980er-Jahre nahezu zahlungsunfähig. Die Ölkrise der 1970er-Jahre, die Wirtschaftskrise zu Beginn der 1980er-Jahre und fallende Rohstoffpreise führten zu einem starken Anstieg der Auslandsschulden der Entwicklungsländer. • Vierte Dekade (1990–2000): Streben nach Nachhaltigkeit; diese Dekade wurde stark von der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahre 1992, in deren Verlauf die Agenda 21 aufgestellt wurde, beeinflusst. Forderung nach Nachhaltigkeit und Hilfe zur Selbsthilfe. • Die Zeit nach 2000: Periode massiver Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit. Mehrere afrikanische Autoren kritisieren die bisherige Entwicklungszusammenarbeit. Diese fordern, jegliche Entwicklungshilfe sofort einzustellen, denn erst dann würden die Afrikaner beginnen, Verantwortung zu übernehmen
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und ihre wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Die Kamerunerin Axelle Kabou weist auf das unvermeidliche Machtgefälle zwischen ‚schwarzen Eliten‘ und weißen Helfern einerseits und den Empfängern von Entwicklungshilfe, den ‚kleinen Leuten‘ vor Ort, andererseits hin (Kabou 2001).
1.4 Zeitenwende Welche Periode in der internationalen (Entwicklungs-) Zusammenarbeit nach der Pandemie, Klimakrise und kriegsbedingten Zeitenwende steht uns jetzt bevor? Wir sollten fortan von globaler Gesundheit sprechen, im Wissen, dass wir im Norden und Süden unseres Globus voneinander lernen und uns gegenseitig helfen können! Wir müssen gemeinsam Ideen für unser gemeinsames, globales Überleben entwickeln. Aus aktuellem Anlass lassen Sie mich kurz auf die aktuellen Probleme eingehen, welche die Gesundheit von Frauen, Männern und Kindern gefährden:
1.4.1 Angriffskrieg in der Ukraine War dieser Krieg vorherzusehen? Am 09.03.2022 nimmt in einem Interview in der ARD Joachim Gauck, der ehemalige Präsident Deutschlands (2012–2017), dazu wie folgt Stellung: „Ja! Wir hätten den Ernst der Lage bereits 2014 anlässlich der Besetzung der Krim erkennen müssen. Begleitend wurden in zahlreichen Talk-Shows mögliche Kriegsszenarien im russischen Fernsehen öffentlich besprochen. Die meisten europäischen Regierungen und der amerikanische Präsident Trump nahmen diese Drohungen und die sich anbahnende russische Kriegsvorbereitung nicht ernst. Im Westen hatte man sich an den fortwährenden Frieden gewöhnt und sich der Illusion hingegeben, dass dieser Zustand einer friedlichen Koexistenz ewig währe. Joachim Gauck kennt aus eigener Erfahrung die Auswirkungen des ‚Panzer-Sozialismus‘ auf die Freiheit der Bürger, wenn Menschen im alltäglichen Leben bespitzelt, belogen und bedroht werden. Wir müssen die Menschen in der Ukraine unterstützen – ideell, materiell und, wenn harte Sanktionen gegen Putin-Russland nicht helfen und der Krieg weiter eskaliert, auch militärisch!“
Gauck führt aus, dass entgegen der verständlichen Angst, die sich besonders bei Deutschen rasch einstellt, ein Land gestärkt aus Zeiten der Not hervorgehen kann. Helfer helfen anderen Menschen, aber immer auch sich selbst. Die Menschen in der Ukraine kämpfen um ihre Rechte, um ihre Leben, letzten Ende aber auch um den Erhalt unserer gemeinsamen europäischen Werte und Bürgerrechte! Wir müssen zwar unseren derzeitigen Wohlstand einschränken, eher frieren statt schwitzen, aber was bedeutet schon unser ‚Frieren für die Freiheit‘ den Menschen in Kiew, Odessa, Mariupol und den anderen Städten gegenüber dem ungebremsten Morden in der Ukraine!
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In der Ausgabe der Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) vom 27.04.2022: finden sich auf der ersten Seite zwei Überschriften: links: Panzer für die Ukraine und rechts: Warnung vor Weltkrieg! Wir hatten uns an den Frieden in Europa gewöhnt, obwohl in Syrien und im Jemen weiter gekämpft und gestorben wird. Wir hatten vergessen, dass man auch aktiv für den Erhalt des Friedens eintreten muss. Passiver Pazifismus kann Kriege nicht verhindern. Als Entwicklungshelfer verstanden wir uns als ‚aktive Kämpfer‘ für den Erhalt des Friedenss, weil wir überzeugt waren, dass, wenn Armut und Unterdrückung irgendwann zu Konflikten und Kriegen führen, unsere Aufgabe darin besteht, diese Ursachen von Kriegen und Konflikten rechtzeitig, d. h. präventiv, zu beseitigen! Der von Russland begonnene Angriffskrieg auf die Ukraine hat keine nachvollziehbaren Ursachen. Dieser Krieg ist ganz allein durch das imperiale Streben seines Diktators verursacht worden. Es kann nicht hingenommen werden, dass Frauen und Mädchen systematisch und von der russischen Regierung zu Opfern sexueller Gewalt werden und Geburtskliniken durch gezielte russische Raketenangriffe zerstört werden!
1.4.2 Folgen der Corona-Pandemie Die Autorin des Kap. 10 (Pandemie), Camilla Roth, geht ausführlich auf die durch die Corona-Pandemie verursachten Kollateralschaden ein. An dieser Stelle findet sich deshalb nur ein kleiner Ausschnitt aus diesem Kap. 10: Der durch die COVID-19-Pandemie verursachte Kollateralschaden lässt sich schwer beziffern. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er erheblich ist. Insbesondere in Ländern Afrikas, wo die Pandemie insgesamt deutlich weniger schwer ausgefallen zu sein scheint als anderswo, ist anzunehmen, dass die teilweise drastischen Lockdown-Maßnahmen einen höheren ökonomischen, sozialen und medizinischen Schaden verursacht haben, als COVID-19 selbst. Die Pandemie hat in den meisten Ländern der Welt zu einer Verschlechterung der Patientenversorgung geführt, bedingt durch Lockdowns, Angst vor Ansteckung bei Kontakt zu medizinischen Einrichtungen, gesperrte Krankenhausbetten, überlastete Intensivstationen, Verschiebung elektiver Eingriffe und Ausfälle und Umbesetzung beim Personal. So zeigte sich in einer deutschen Studie ein Rückgang der Zahlen von stationären onkologischen Patientinnen um 6 % (Griewing et al. 2022). Die Anzahl der Geburten stieg demgegenüber um 11 %. Aus Israel wurde als Folge der lokalen „Stay at home policy“ eine höhere Rate an Totgeburten sowie an rupturierten Eileiterschwangerschaften berichtet. Aus Österreich wurde eine höhere Rate an operativen Entbindungen und postpartalen Komplikationen berichtet. Die vollen medizinischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Implikationen der Pandemie werden sich erst in einigen Jahren abschließend beurteilen lassen.
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1.4.3 Klimawandel Angesichts der Überschwemmungskatastrophe und den Verwüstungen im Ahrtal am 14.07.2021 und den dadurch bedingten längeren Stromausfall schrieb ich einen Artikel, auch auf Anfrage der Redaktion der Zeitschrift die Hebamme, mit dem Titel „Nachhaltigkeit im Kreißsaal“ (Wacker 2021). In diesem Artikel nannte ich Beispiele geburtshilflicher Methoden und Verfahren, die ohne oder zumindest mit einem geringeren Stromverbrauch auskommen, Obstetrics unplugged (Wacker et al. 2020). Cecilia Sorensen schreibt zu dem Thema Klimawandel in Kap. 4: Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit, einschließlich erhöhter Hitzebelastung, schlechter Luftqualität, extremer Wetterereignisse, veränderter Transmission von durch Vektoren übertragenen Krankheiten, schlechterer Wasserqualität und geringerer Ernährungssicherheit betreffen Männer und Frauen unterschiedlich, je nach lokalen kulturellen, sozioökonomischen und physiologischen Faktoren. Politische – häufig veränderbare – Maßnahmen, die auf diese Faktoren abzielen, können sowohl negative gesundheitliche Folgen verringern als auch die Bemühungen um Klimaanpassung und Abschwächung des Klimawandels verbessern. Es ist dringend notwendig, besser zu verstehen, wie sich der Klimawandel auf sexuelle und geschlechtliche Minderheiten auswirkt, und komplexere multidimensionale und nicht-binäre soziale Schnittstellen zu erforschen, die die Reaktionen von Gemeinschaften auf den Klimawandel bestimmen.
1.5 Globale Frauengesundheit Globale Gesundheit ist die Gesundheit der Bevölkerung im weltweiten Kontext. Globale Frauengesundheit steht für die moderne Gynäkologie und Geburtshilfe unserer Zeit, die sich in Zusammenarbeit mit anderen Fachrichtungen zum Wohle unserer Patientinnen und zum Erhalt der Gesundheit von Frauen einsetzt. Die Umsetzung der Ideen der Globalen Frauengesundheit berücksichtigt die aktuellen Veränderungen des Klimas, die Folgen der Corona-Pandemie, die zunehmend schwierigeren Bedingungen der Menschen in den armen Ländern und die weltweit feststellbare Verknappung von Nahrungsmittel und Rohstoffen. Global bedeutet, dass wir im ständigen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Kontinente unseres Planeten Erde stehen, um gegenseitig voneinander zu lernen, um Krankheiten besser zu verstehen und Behandlungen erfolgreicher durchführen zu können. Medizin bedeutet mehr als die Erkennung und Behandlung von Krankheiten! Wir wissen um die Bedeutung des familiären und sozialen Umfeldes der Patienten. ‚Global‘ ist nicht synonym mit ‚totalitär‘ und darf nicht damit verwechselt werden! Wir beabsichtigen nicht deutsche, europäische Erfahrungen in andere Regionen unserer Erde zu exportieren oder gar anderen Menschen aufzuzwingen!
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Aus Ehrfurcht vor dem Leben formulierte Albert Schweitzer: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will!
Für mich – uns – gilt dieser Spruch auch heute noch, nur dass in der Sicht der Globalen Frauengesundheit ‚inmitten‘ bedeutet, von einem weltweit verlaufenden Gesichtsfeld umgeben zu sein. Der Horizont unserer ärztlichen Verantwortung hat sich erweitert! In einem Gespräch mit der Wirtschaftswissenschaftlerin und Autorin Dolly Katiutia Alima Afoumba wurde der Spruch geprägt: Im Norden brauchen wir von allem weniger – im Süden von allem ein wenig mehr!
1.6 Nachtrag nach Durchsicht des Drucksatzes und nach Besuchen in Burkina Faso (November 22), Äthiopien (Januar 23) und Tansania (Februar 23) Burkina Faso im November 2022 Am 15.10.22 jährte sich das Attentat auf Thomas Sankara zum 35. Mal. Am 1. Oktober fand der zweite Putsch des Jahres 2022 in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, statt. Der neue Führer von Burkina Faso, Ibrahim Traoré, ist 34 Jahre alt und verehrt sich bereits jetzt als ‚Neuer Thomas Sankara‘ (Roger 2022). In einem Interview mit dem Journalisten Hubert Bado am 7.11.22, anlässlich des Richtfestes unserer Maternité in Ouagadougou, wurde ich gefragt, wie ich 1986 – 1988 als Arzt in der Maternité und des Bloc operatoire des Regionalkrankenhauses in Dori im Norden von Burkina Faso die von Sankara eingeführten politischen Veränderungen wahrgenommen habe (Bado 2022). In der Tat finde ich es immer noch richtig, dass Sankara seine Landsleute motivierte, aus eigener Kraft unabhängig von internationalen Geldgebern zu werden. Er strebte eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe an, und lehnte die Rolle des Almosenempfängers ab. Auf der Titelseite der burkinischen Zeitung Sidwaya vom 8. November 2022 steht über dem Titelbild, das Capitaine Traoré mit Soldaten im Sahel von Burkina Faso zeigt: ‚Lutte contre le terrorisme: Le Capitain Ibrahim Traoré au front‘. Eines der Zitate von Thomas Sankara im Memorial in Ouagadougou lautet: ‘Si nous ne nous battons pas pour nous libérer, ils se battront pour nous garder esclaves à vie’ (Wenn wir nicht kämpfen, um uns zu befreien, werden sie kämpfen, um uns lebenslang als Sklaven zu halten). Addis Ababa im Januar 23 Während wir in Ouagadougou das Richtfest für unsere neue Maternité durchführten, wurde ich nach Addis Ababa eingeladen, um ein eine neue Krebsklinik (Cancer Competence Center) zu besuchen und zu evaluieren. In der Tat fanden wir in Addis eine beispielhafte Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen äthiopischen und
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deutschen Ärzten. In einer gemeinsamen Sitzung wurde die neue Leitlinie für die Diagnostik und Therapie des Mammakarzinomes gründlich und auf hohem Niveau gemeinsam besprochen. Beeindruckend finde ich die Skyline von Addis mit den vielen Hochhäusern von Banken, Versicherungen und internationalen Verwaltungsgebäuden. Bemerkenswert ist, dass diese Gebäude während der ganzen Nacht beleuchtet sind, und die hohen Fassaden bis zum frühen Morgen als Leinwand für viele, bunten Reklamefilme dienen. In dem Ethiopian Herald vom 18.02.23 wurde der äthiopische Abbay Damm, der kurz vor der Fertigstellung steht, als gutes Beispiel zur wirtschaftlichen Entwicklung (‚It is a dam for development‘) für andere afrikanische Länder bezeichnet (Animut 2023). In Gesprächen mit äthiopischen Kollegen, wurde auf die wirtschaftliche Bedeutung der gerade gegründeten afrikanischen kontinentalen Freihandelszone (African Continental Free Trade Area AfCFTA) hingewiesen. Hauptziele des Abkommens sind, den innerafrikanischen Handel zu steigern, die Industrialisierung weiter voranzutreiben und regionale Wertschöpfungsketten aufzubauen. Langfristig strebt die afrikanische Staatengemeinschaft eine kontinentale Zollunion und einen afrikanischen Binnenmarkt mit freiem Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Personen an. Arusha in Tansania Bei einem Besuch eines der Maasai – Dorfes in Nord – Tansania erfahren wir von dem Umsiedlungsprogramm der Maasai. Die Maasai leben in Tansania und im benachbarten Kenia, im Ngorongoro Schutzgebiet sind es 110.000. Von diesen sollen 80.000 nach Ost – Tansania umgesiedelt werden, da die Maasai und ihre Tiere zu zahlreich geworden seien, und die Gefahr laut Regierung und internationaler Naturschutz -organisationen bestehe, dass das einzigartige Ökosystem im Ngorongoro Schutzgebiet zerstört werden könnte (Böhm 2023). Die Maasai wehren sich und blockierten im Frühjahr 2022 die Zufahrt zum Ngorongoro Conservation area. Es stellt sich die Frage: Wer bestimmt, wo und wie Natur bewahrt werden soll? Wer muß dafür weichen? Bedeutet ‚unberührte Wildnis‘ eine Natur ohne die Menschen, die dort seit Jahrhunderten leben? Fazit Die genannten Beispiele zeigen, dass einige Länder Afrikas erkannt haben, dass sie sich selbst helfen können und zunehmend weniger der Einmischung anderer fremder Staaten wie China, Europas, Rußlands und den USA bedürfen. Kolonialismus war vorgestern! Entwicklungshilfe war gestern! Die partnerschaftliche, wirtschaftliche und globale Zusammenarbeit auf Augenhöhe, ohne moralisierende Vorschriften und bei Wahrung gegenseitiger Interessen muss sobald als möglich beginnen!
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Literatur Afoumba DKA (2021) Rekolonisierung des Sahel aus Wissenschaft und Frieden Animut A (2023) Abbay Dam: Freeman advises Africans to emulate Ethiopia’s Vision. The Ethiopian Herald 18.01.2023 ; No 111 Bado H (2022) Un homme au service de la femme burkinabè Sidwaya – Sociéte & Culture ; 11.11.22. Böhm A (2023) Sie wollen hier nicht weg; Die ZEIT; N° 6; 2.02.2023 Büschel H (2010) Geschichte der Entwicklungspolitik; Version 1.0 in Docupedia – Zeitgeschichte, 11.02.2010 Fischer EP, Ganten D (2021) Die Idee des Humanen; Rudolf Virchow und Herrmann von Helmholtz. Das Erbe der Charité Hirzel, Stuttgart Herrmann U (2019) Zum Freihandel gezwungen – Entwicklungsländer müssten jungen Branchen gegen die Konkurrenz der Industrieländer schützen können. In: Atlas der Globalisierung – Welt in Bewegung. Mahlke S (Hrsg). Le Monde diplomatique Kabou A (2001) Weder arm noch ohnmächtig. Eine Streitschrift gegen schwarze Eliten und weiße Helfer. Basel, Kiel, Deutschland Kickbusch I (2013) A game change in global health: the best is yet to come. Public Health Rev 35(1):1–20 Roger B (2022) Burkina Faso – La Mission (presque) impossible du Capitaine Traoré. Jeune Afrique N°3118 – Novembre 2022 Wacker J (2021) Nachhaltigkeit im Kreißsaal. Die Hebamme 34:55–61 Wacker J, Breitkopf B (2008) Gebären, Gedeihen und Genesen. Regionalkultur, Ubstadt-Weiher Wacker J, Baldé MD, Bastert G (2020) Obstetrics unplugged. Regionalkultur, Ubstadt-Weiher Wacker J, Ebert A, David M (2021) Johann Peter Frank (1745 –1821) zum 200. Todestag: Geburtshilfliche Aspekte im System einer vollständigen medicinischen Polizey. Geburtshilfe Frauenheilkd 81:506–510
Weiterführende Literatur Afoumba DKA (2022) Rekolonisierung des Sahel. Eine Welt Kalender. Harms, Arbeitsgemeinschaft für Frienden - und Konfliktforschung (AFK); Hochschule Rhein-Waal; Kleve; Deutschland, S 35–48 Carstens P (2022) Raus aus Mali? FAZ 10.01.2022 Fischer M (2022) Afrika als Spielball der globalen Rohstoffausbeutung. Eine Welt Kalender 2022:27–34 Harms V (2022) Eine Welt Kalender. Harms, Kiel, Deutschland Sarr F (2019) Afrotopia. Matthes & Seitz, Berlin Wacker J, Barth A, Harlfinger W, Kantelhardt E, Kunz K, Lange R (2017) Deutsche Gynäkologen in Afrika: Handfeste Taten statt hohler Worte. Frauenarzt 58:970–975
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Bevölkerungsentwicklung weltweit: Ernährung der Menschen und die Weiterentwicklung der Landwirtschaft Azadeh Farajpour Javazmi und Tobias Orthen
Inhaltsverzeichnis 2.1 Die volle Welt 2.2 We are what we eat – Agriculture-Soil-Human-Health Nexus 2.3 Energieverbrauch, Böden und Emissionen 2.4 Balancierte Ungleichheit als Motor für Nachhaltigkeit 2.5 Was ist zu tun? Literatur
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Eingangsfragen
1. Wie viele Menschen leben aktuell auf unserer Erde und wie verteilen Sie sich auf die jeweiligen Kontinente? A. Insgesamt etwa 8 Mrd., davon 1 Mrd. in Afrika B. 6 Mrd., davon 3 Mrd. in Afrika C. 10 Mrd., davon 1 Mrd. in Afrika 2. Wie viel Prozent der Weltbevölkerung sind für etwa die Hälfte aller Treibhausgas-Emissionen verantwortlich? A. 30 % B. 40 % C. 10 % A. Farajpour Javazmi betterSoil e.V., Ulm, Deutschland e-mail: [email protected] T. Orthen (*) Forschungsinstitut für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung, FAW/n Ulm, Ulm, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_2
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3. Welches ist keines der vier Prinzipien für bessere Böden mit viel Humus? A. Agroforst B. Häufige Durchlüftung C. Kompost
2.1 Die volle Welt Im Ulmer Museum steht der „Löwenmensch“, eines der ältesten Kleinkunstwerke der Menschheit. Die Skulptur stammt aus dem Lonetal nahe Ulm und wurde vor etwa 40.000 Jahren aus Mammut-Elfenbein geschnitzt. Sie zeigt eine etwa 30 cm große Person mit dem Kopf eines Löwen. Die Menschen damals lebten von der Jagd, dem Fischfang und dem Sammeln allerlei Früchte, die die Natur bereithielt. Im Wesentlichen ging es um das Überleben in einer wilden Natur. Neben den Menschen hatte z. B. auch der ausgestorbene Höhlenbär Interesse an den Höhlen, die den Menschen Schutz boten. So stark sich das Leben der heutigen Menschen von denen unterscheiden mag, die den Löwenmenschen in der Jungsteinzeit geschaffen haben, wesentliche Herausforderungen bestehen noch immer. Damals wie heute ist die Ernährung der Menschheit ein Problem. Zwar haben technische und gesellschaftliche Innovationen, wie die Erfindung der „Land- und Kulturwirtschaft“ vor etwa 10.000 Jahren, dazu geführt, dass immer mehr Menschen ernährt werden können. Doch die erwirtschafteten Überschüsse kommen auch heute nicht allen Menschen gleichermaßen zu Gute: Während wenige Milliardäre im Jahr 2021 die Tür zum Weltall-Tourismus aufgestoßen haben, kämpfen hunderte Millionen von Menschen immer noch mit der Sorge, ob die nächste Ernte genug Ertrag bringen wird, um die eigene Familie zu ernähren. Im Unterschied zur Zeit der „Jäger und Sammler“ hätte die Menschheit aktuell jedoch die Möglichkeit, die Lebensbedingungen auf der Erde so zu gestalten, dass alle ihren Teil bekommen: Manche Wissenschaftler nennen das aktuelle Zeitalter das „Anthropozän“. Denn heute wirkt der Mensch ähnlich stark auf das Ökosystem Erde ein, wie es bislang nur übergeordnete physikalische Kräfte konnten, die z. B. für die vergangenen Eiszeiten verantwortlich sind. Die heutigen Probleme sind daher im Wesentlichen hausgemacht und hängen auch mit der steigenden Weltbevölkerung zusammen. Zu den wichtigsten zählen nicht überraschend der fortschreitende Klimawandel und seine Auswirkungen, sondern auch die konstant hohe Ungleichheit. Diese nimmt in Teilen der Welt sogar noch zu. Betrachtet man die Entwicklung der menschlichen Zivilisation über die letzten 2.000 Jahre, so stellt man fest, dass die Bevölkerung meistens nur sehr langsam gewachsen ist. Für das Jahr Null wird die Anzahl der Menschen auf etwa 200 Mio. geschätzt. Danach hat es 1.800 Jahre gedauert, bis die Zahl auf etwa eine Milliarde angewachsen ist. Zur Zeit der französischen Revolution lebten also fünfmal so viele Menschen als im Jahr Null, die Industrialisierung hatte in Teilen eingesetzt. Die Entwicklung in den letzten 200 Jahren war jedoch gewaltig. Heute leben knapp 8 Mrd.
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Menschen auf der Erde. Das sind achtmal so viele Menschen in einem Bruchteil der Zeit, die es für die Verfünffachung seit dem Jahre Null gebraucht hat. Aktuell kommt jährlich etwa die Bevölkerung Deutschlands dazu (rund 83 Mio. Menschen). Die Vereinten Nationen schätzen, dass sich die Weltbevölkerung in den nächsten 30 Jahren von derzeit 7,7 Mrd. auf knapp unter 10 Mrd. Menschen erhöhen wird (UN 2019). Das bedeutet, dass bis 2050 rund die Bevölkerungen Indiens, Deutschlands, der USA, Japans und Kanadas zusammen dazukommen werden (vgl. Abb. 2.1). Der exponentielle Anstieg der Weltbevölkerung ging einher mit technischen und gesellschaftlichen Innovationen. Im aktuellen wirtschaftlich-technischen System bedeutet mehr Wohlstand einen höheren Druck auf die Umwelt und insbesondere auch mehr Klimawandel. Das liegt daran, dass dieses System auf der Nutzung fossiler Energie aufbaut. Die (noch) wachsende Weltbevölkerung muss ernährt werden! Betrachtet man die Entwicklung der Landwirtschaft über die letzten 10.000 Jahre, so erkennt man sehr deutlich, dass Klima- und Temperaturschwankungen sowie regionale Wetterbedingungen zu den wichtigsten Faktoren zählen, die die Landwirtschaft und ihren Ertrag, die Ertragssicherheit, aber auch die Qualität der geernteten Produkte beeinflussen. Der Klimawandel und die steigenden Temperaturen haben dazu geführt, dass extreme Wetterbedingungen, wie langanhaltende Dürren, starke Regenfälle und Überschwemmungen, Erosion, Erdrutsche, Versalzung und der Verlust organischer Bodensubstanz, stark zugenommen haben. Während wir in Europa erst in den letzten Jahren durch extrem trockene Sommer und Starkregenereignisse hautnah erleben, dass es den Klimawandel wirklich gibt, gehört es für viele Menschen in trockeneren Regionen schon seit Jahrzehnten zum Alltag, mit seinen Auswirkungen zu leben.
Abb. 2.1 Vergleich zwischen dem Bevölkerungswachstum im Jahr 2019 und 2050. (Quelle: Welthungerhilfe 2022)
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In einer vollen Welt mit weiterwachsender Bevölkerung wirken sich diese Veränderungen negativ auf die Landwirtschaft, die Ertragssicherheit und die Ernährung aus. Wenn die Erdtemperatur um durchschnittlich 3,7 bis 4,8 °C ansteigt, wie es im Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) von 2014 heißt, werden diese negativen Auswirkungen auf die Gesellschaften bis zum Ende dieses Jahrhunderts drastisch zunehmen (IPCC 2014). Um den globalen Anstieg der Durchschnittstemperatur der Erde auf maximal 2 °C (besser 1,5 °C) zu begrenzen, haben sich die Staaten der Welt 2015 zusammengetan und nach jahrzehntelangem Ringen das Pariser Klimaabkommen geschlossen. Im selben Jahr wurden mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) weitere Punkte auf die internationale Agenda gesetzt. Die SDGs definieren in gewisser Weise, unter welchen Rahmenbedingungen der Klimawandel begrenzt werden soll – nämlich nicht durch die Begrenzung von Wohlstand. Das Ziel 8 strebt beispielsweise ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum für die ärmsten Staaten der Welt von 7 % an. Dieses Jahr (2022) jährt sich die sogenannte Welt-Umweltkonferenz von Stockholm zum 50. Mal. Dort wurde von den weniger reichen Staaten verlangt, dass wirtschaftlich-gesellschaftliche Entwicklung Vorrang haben soll vor Maßnahmen zum Umweltschutz, den die reicheren Staaten dort voranbringen wollten. Dieses Paradigma hat sich seitdem in der internationalen Zusammenarbeit verankert. Die SDGs, die auch Agenda 2030 genannt werden, zielen auf die drei Säulen der Nachhaltigkeit ab, nämlich dass Ökonomie, Ökologie und soziale Belange gleichzeitig realisiert werden sollen. Wie die inhärenten Wiedersprüche zwischen den einzelnen Bereichen aufgelöst werden sollen, wurde nicht besprochen. Ebenso ist die wachsende Weltbevölkerung dabei kein Thema, obwohl wichtige eng verwandte Aspekte adressiert werden: Dazu zählen z. B. reproduktive Gesundheit, Kindersterblichkeit und universelle Bildung. Wollen wir nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz gleichzeitig, so folgt, dass die Menschen möglichst schnell so reich werden müssen, dass sich die Anzahl der Kinder pro Familie auf unter 2 stabilisiert und die Bevölkerung perspektivisch wieder abnimmt. Der Wohlstand für die Menschen muss dabei derart gestaltet werden, dass die Natur nicht noch weiter aus dem Takt gebracht, sondern nach und nach wieder instand gesetzt wird. Gegenwärtig ist die Zunahme des Wohlstands jedoch mit einem höheren Ressourcenverbrauch verbunden. Die Grundlage für all das wird durch eine enorme Zunahme des Energieverbrauchs geleistet. Die Energieversorgung ist aber aktuell überwiegend fossilen Ursprungs, die CO2-Emissionen steigen also an. Das hat vor allem zur Folge, dass der Umstieg auf ein neues Energiesystem gelingen muss, das auf erneuerbaren Energien beruht. Auf dem Weg dahin muss CO2 überall dort abgefangen werden, wo es möglich ist und die Kapazität für technische und natürliche CO2-Senken so stark erhöht werden, wie es nur eben geht. Allerdings fehlt es aktuell an internationaler Koordination und Finanzierung, um den angestrebten Zuwachs an Wohlstand so zu gestalten, dass gleichzeitig die SDGs vorangebracht werden und die Begrenzung der Erderwärmung möglich erscheinen (Farajpour 2021).
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2.2 We are what we eat – Agriculture-Soil-Human-Health Nexus Der Boden (engl. Soil) überzieht den Planeten wie eine Haut. Diese dünne Schicht, die weniger als einen Meter dick ist, besteht aus Material, das für das menschliche Leben und die Gesundheit aller Tiere und Menschen überlebenswichtig ist. In dieser Schicht findet sich das komplizierteste System unterschiedlicher Biomaterialien auf der Erde. Sie ist komplexer als die Struktur des Menschen selbst. An der Erdoberfläche treffen Mensch und Boden aufeinander. Das bedeutet, dass der Mensch die Gesundheit des Bodens beeinflusst und der Boden die Gesundheit der Menschen beeinflusst (Pepper 2013)! Dies geschieht direkt und indirekt. One teaspoon of soil contains more living organisms than there are people in the world. Without this “biological diversity” there would be no terrestrial life on earth. (Capitals Coalition 2017)
Mikroorganismen, Bakterien und Pilze sind in den Böden zu Billionen vorhanden. Sie besiedeln Pflanzenwurzeln und haben keine pathogenen Auswirkungen auf die Pflanzen. Sie schützen die Pflanzenwurzeln, verbessern und stimulieren die Pflanzengesundheit und – was besonders wichtig für uns ist – sie fördern die menschliche Gesundheit durch ihre Stoffwechselprodukte. Es hat sich gezeigt, dass Endophyten neue Stoffwechselprodukte wie Antibiotika, Antimykotika, Immunsuppressiva und Krebsmittel produzieren können (Strobel und Daisey 2003). Insbesondere durch die Lebensmittelproduktion und die Qualität der angebauten Lebensmittel wirken Böden auf die Gesundheit der Menschen ein. Die Bodenqualität bestimmt den Nährwert und die Produktionssicherheit sowie die Qualität der Lebensmittel (Zhu 2009). Die gesundheitliche Sicherheit kann z. B. beeinträchtigt werden, wenn Schwermetalle sowie Pathogene eines kontaminierten Bodens von Pflanzen aufgenommen werden und darüber langsam in die Nahrungskette gelangen. Von Natur aus enthalten Böden viele verschiedene Elemente, die sowohl für die Gesundheit und das Wachstum von Pflanzen als auch für die Gesundheit der Menschen notwendig sind. Auf einer Seite wirkt sich die hohe Konzentration von diesen Mineralien negativ auf die Gesundheit aller Tiere und Menschen aus. Auf der anderen Seite kann ein Mangel dieser Mineralien problematisch sein. So können beispielsweise fluoridhaltige Bodenminerale, die in natürlicher Weise im Grundwasser vorhanden sind, bei mäßigen Konzentrationen (0,7–1,2 mg/l) zur Vorbeugung von Zahnkaries beitragen. Bei einer Konzentration von mehr als 4 mg/l Wasser können sie schädlich sein und zu schädlicher Fluorose führen (Burt und Tomar 2007). Ähnliches gilt für Mineralkomplexe mit Kalzium, Magnesium sowie Selen. Wenn die Konzentration dieser Mineralkomplexe durch landwirtschaftliche Aktivitäten im Boden überschritten wird, können diese das Grundwasser verschmutzen und Schaden anrichten. Durch Bodenverlust und -erosion gehen auch die wichtigen Mineralien verloren.
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Der Klimawandel verstärkt Verlust und Erosion von Böden: Eine Studie der Universität Basel prognostiziert, dass die Bodenerosion durch Wasser und Regen bis 2070 um 30–66 % zunehmen könnte, z. B. durch Überschwemmungen und Starkregen (Borrelli et al. 2020). Bodenverlust durch zu wenig Wasser ist ebenfalls eine globale Herausforderung. In Europa könnte die Wüstenbildung sogar noch schneller voranschreiten, als den meisten Menschen bewusst zu sein scheint. Viele europäische Länder haben bereits erklärt, dass sie von Bodenerosion und Wüstenbildung stark betroffen sind. Mit dem fortschreitenden Klimawandel und Bodenverlust verringert sich die Nahrungsmittelproduktion, Widerstandsfähigkeit der Landflächen sowie die Wasser- und Lebensmittelqualität. Da der Mensch über die Landwirtschaft am stärksten auf die Böden weltweit einwirkt und mehr als 90 % unserer Lebensmittel aus dem Boden stammen, spielt die Art der Landwirtschaft eine entscheidende Rolle für das menschliche Wohlergehen.
2.3 Energieverbrauch, Böden und Emissionen Der weltweite Energieverbrauch hat sich von 1980 bis 2019 von mehr als 70.000 Terawattstunden (TWh) auf mehr als 136.000 TWh fast verdoppelt. Immer noch sind mehr als 80 % der Energie fossil. Im Gebäudesektor wird weltweit ein Drittel der Energie umgesetzt (Ahmad und Zhang 2020). Auch die Landwirtschaft und die menschliche Ernährung sind mit einem hohen Energieverbrauch verbunden. Sie verursachen rund 23 % der gesamten menschengemachten Treibhausgas-Emissionen. Würde die Landwirtschaft lediglich Emissionen erzeugen, wäre das das eine Sache. Allerdings werden auch wichtige Senken für solche Emissionen zerstört. Für die Landwirtschaft werden bspw. große Waldflächen in Ackerland umgewandelt, wobei zudem biologische Vielfalt verloren geht, aquatische Ökosysteme und das Grundwasser werden verschmutzt, durch die Art der Bodenbewirtschaftung gelangt gespeichertes CO2 in die Atmosphäre. Laut Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2015 haben sich die Treibhausgas- Emissionen aus Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei in den letzten 50 Jahren fast verdoppelt. Ohne größere Anstrengungen könnte der Wert bis 2050 um weitere 30 % steigen (FAO 2015). Jedes Jahr gehen 10 Mio. Hektar Ackerland und gute Böden verloren. Zur Veranschaulichung: Das entspricht dem Verlust von 14 Mio. Fußballfeldern pro Jahr (Pimentel und Burgess 2013). Auf einem Viertel des weltweiten Bodens gibt es weniger Humus und weniger Nährstoffe als noch vor 25 Jahren. Unsere Böden sind hungrig, so hungrig wie die vielen armen Menschen auf dem Planeten. Je nachdem, wie Land und Böden bewirtschaftet werden, verschärfen sie Probleme oder sind Teil der Lösung. Macht man es richtig, können Böden die Widerstandsfähigkeit gegenüber (Temperatur-) Veränderungen in einer Welt mit Wetterextremen und Klimawandel erhöhen, atmosphärische Treibhausgas-Emissionen entfernen sowie binden und die Gesundheit der Menschen verbessern. Allgemein können sie zu einer nachhaltigen Entwicklung, den SDGs, beitragen. Macht man es falsch, passiert das Gegenteil: Die negativen Auswirkungen des Klimawandels wer-
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den verschärft, die Gesundheit aller Menschen und Tiere gefährdet und Armut und Hunger verstärkt.
2.4 Balancierte Ungleichheit als Motor für Nachhaltigkeit Der Klimawandel und die Herausforderungen nachhaltiger Entwicklung sind eng mit ökonomischer Ungleichheit verwoben. Heute verdienen die reichsten 10 % der Weltbevölkerung etwa die Hälfte des globalen Einkommens; sie profitieren am meisten vom wirtschaftlich-technischen System, inklusive der globalen Regelsysteme, die dessen Stabilität gewährleisten sollen. Zwar hat sich die Weltwirtschaftsleistung seit dem zweiten Weltkrieg etwa verzehnfacht. Insbesondere durch den Aufstieg Chinas hat sich eine globale Mittelschicht gebildet. Dennoch hat sich die Ungleichheit seit Ende der 1980er-Jahre in vielen Staaten wieder erhöht. In manchen Staaten steigt sie immer noch. Misst man die Ungleichheit über alle Menschen der Welt, stellt man fest, dass sie so hoch ist wie in keinem Nationalstaat. Beim Vermögen ist die Situation noch einmal viel extremer als beim Einkommen. Die Verteilung finanzieller Ressourcen muss berücksichtigt werden, weil internationaler Klimaschutz und die Arbeit an den SDGs natürlich Geld kosten. UNCTAD schätzt, dass für den Zeitraum der SDGs von 2015 bis 2030 jährlich etwa 5–7 Billionen US-Dollar für deren Umsetzung notwendig sind (UNCTAD 2014). Dass so viel Geld aufgebracht wird, liegt jedoch in weiter Ferne. Nicht mal der Fonds für die Unterstützung der ärmeren Staaten bei der Anpassung an den Klimawandel, der im Rahmen des Paris-Abkommens beschlossen wurde, wird hinreichend befüllt. In diesen sollten die reichen Staaten lediglich jährlich 100 Mrd. US-Dollar einzahlen (UNFCCC 2011, 2019). Auf der Suche nach dem notwendigen Geld sollte man schauen, wer die Treibhausgas-Emissionen verursacht, die den Klimawandel verursachen. Historisch gesehen sind das die reichen Staaten, die sozusagen auf Kosten der Atmosphäre einen hohen Wohlstand erwirtschaftet haben. Die Staaten können das Problem aber alleine gar nicht stemmen. Deswegen sind die Verhandlungen bei den Klimakonferenzen auch so zäh. Der Privatsektor hingegen besitzt heute in etwa 5–7 Mal so viel Kapital wie die Staaten (Chancel et al. 2017). Emissionen sind dabei fast eins zu eins so ungleich verteilt wie das Einkommen. Daraus folgt, dass die reichsten 10 % der Weltbevölkerung etwa die Hälfte aller Emissionen verursachen, die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung hingegen nur etwa 10 % der Emissionen (Chancel und Piketty 2015). Aber nun Achtung vor vorschnellen Schlüssen: Eigentlich jeder, der in einem reicheren Land ein geregeltes Einkommen und einen festen Job hat, gehört weltweit zu den reichsten 10 %. Diese Angaben beziehen sich lediglich auf die Verursachung von Emissionen (Verursacherprinzip). Für eine gerechtere Betrachtung hingegen sollte man zusätzlich die individuelle Leistungsfähigkeit der Personen berücksichtigen. Denn innerhalb der reichsten 10 % der Weltbevölkerung befinden sich Menschen, die in ihren jeweiligen Heimatländern nicht gerade reich sind und z. B. überhaupt kein Vermögen haben. Dazu zählt die untere Hälfte der deutschen Einkommensverteilung. Die-
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sen Personenkreis sollte man aus sozialen Gründen besser nicht noch stärker mit Abgaben oder anderen Maßnahmen für mehr Klimaschutz in die Pflicht nehmen. Eine genauere Betrachtung dieser Frage kommt dazu, dass es am aussichtsreichsten wäre, die reichsten 30 % der Menschen in den reichen Staaten, die reichsten 10 % in den Staaten mittleren Einkommens und die reichsten 1 % in den ärmeren Staaten in die Verantwortung zu nehmen (Orthen 2021). Das wäre nicht nur gerecht, sondern würde auch in Bezug auf die finanziellen Ressourcen und den vorhandenen Einfluss, den diese Personen (die sog. Top-Emitter) haben, die größte Wirkung erzeugen. Außerdem profitieren die Top-Emitter am meisten von Fortschritten beim Klimaschutz und nachhaltiger Entwicklung, weil Maßnahmen in diese Richtung die Stabilität des globalen Wirtschaftssystems erhalten, von dem die Top-Emitter am meisten profitieren. Empirisch lässt sich beobachten, dass reiche Staaten ein bestimmtes Maß an Ungleichheit haben, nicht zu viel und nicht zu wenig. Wer sich anstrengt, wird belohnt, aber breiter Wohlstand wird durch eine funktionierende gesellschaftliche Anstrengung erzeugt. Spitzenverdiener können nur so stark profitieren, weil jeder seinen Beitrag leistet und man weiß, dass man nicht abgehängt wird. Global betrachtet müssen wir uns hin zu einer solchen balancierten Ungleichheit bewegen, alles andere ist ungerecht. Parallel dazu müssen wir aufpassen, dass diese balancierte Ungleichheit in den aktuell reichen Staaten nicht verlorengeht. Dass es wackelt, ist an Beispielen wie Donald Trump oder dem Brexit erkennbar. Gerät die Ungleichheit aus der Balance, bricht vermutlich auch die Stabilität des globalen wirtschaftlichen Systems auseinander. Stabilität ist aber notwendig, um die globalen Herausforderungen wirksam anzugehen.
2.5 Was ist zu tun? Der Agrarsektor ist in vielen Ländern das Rückgrat der Wirtschaft. Er ist auch der Schlüsselbereich der Entwicklungszusammenarbeit. Nachhaltige Praktiken müssen für Landwirte wirtschaftlich rentabel werden. Dazu ist es wichtig, dass die Landwirtschaft eine Senke für Treibhausgas-Emissionen wird, statt weiterhin Emissionen zu verursachen. Kohlenstoff muss in den Boden und dort dauerhaft gebunden werden. Für einen besseren Boden spielt die sogenannte „organische Substanz (Humus)“ eine zentrale Rolle. Die Gesamtheit der organischen Bodensubstanz wird als Humus bezeichnet. Also alles, was irgendwann einmal im Boden gelebt hat und gestorben ist oder dort noch lebt und aktiv ist. Humus ist für die Bodenfruchtbarkeit verantwortlich, besteht zu 58 % aus Kohlenstoff und zu 8 % aus Stickstoff (Dunst 2019). Global betrachtet sind Böden und Humus ein riesiger Kohlenstoffspeicher. Weltweit sind zwischen 1.500 und 2.400 Gigatonnen Kohlenstoff im Boden gebunden (Earth System Knowledge Platform o. J.) – mehr als dreimal so viel Kohlenstoff als sich in der Atmosphäre befindet und fünfmal so viel wie in der Pflanzenmasse der Welt (IPCC 2000). Humus kann die Bodeneigenschaften erheblich verbessern. Wenn sich ein „Ton-Humus-Komplex“ bildet, bleibt der Kohlenstoff über Jahrhunderte im Boden gebunden, was die Bodenfruchtbarkeit sichert.
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Durch Humusaufbau können die 10 Mio. Hektar guter, fruchtbarer Böden wieder aufbereitet werden, die jährlich weltweit verlorengehen. Die Humuswirtschaft kann gleichzeitig Lebensmittel produzieren, die atmosphärischen Treibhausgasemissionen reduzieren, die Gesundheit aller Menschen und Tiere fördern, sodass wir den SDGs näher kommen. Da sich die Klimakrise weiter zuspitzt, steigt das Interesse am Thema „Böden für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung“ in den letzten Jahren wieder an. Die Initiative „betterSoil – for a better world“ der Autoren hat in den letzten eineinhalb Jahren beispielsweise sehr viel Zuspruch gefunden. Namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und aus der Praxis unterstützen das Diskussionspapier zum Thema, das die herausragende Bedeutung der Böden hervorhebt. Vier wissenschaftliche Prinzipien für bessere Böden („better soils“) bilden die Säulen für die praktische Arbeit des betterSoil e.V.: (1.) die Art der Bodenbewirtschaftung, (2.) die Anwendung von Kompost, (3.) Pflanzenkohle und (4.) Agroforstsytemen. betterSoil e.V. ist bereits in mehreren Ländern aktiv, darunter Kenia, Iran, Malawi und Deutschland, und unterstützt Landwirte beim Humusaufbau zur Verbesserung ihrer eignen Lebensbedingungen, gleichzeitig wird das Klima geschützt (https://bettersoil.info). Ein wichtiger Bestandteil ist dabei die Wirtschaftlichkeit, damit die Arbeit an einem besseren Boden kein Zuschussgeschäft bleibt, sondern mittelfristig bessere Einkommen erzielt werden können. Wie Abb. 2.2 zeigt, hilft Humus dem Boden in vielerlei Hinsicht und kann die menschliche Gesundheit fördern. Ein gut mit Humus versorgter Boden hat eine hohe Aufnahmekapazität für Wasser und kann bis zu 150 l Wasser pro Stunde aufnehmen. Das liegt daran, dass solche Böden mit vielen Löchern sehr porös sind und
Globaler Kohlenstoffvorrat(GTC)
500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0 Wälder in Tropische gemäßigWälder ten Zonen
Boreale Wälder
Grasiand Wüsten in Tropische und Savannen gemäßig- Halbwüsten Zonen ten
Tundra
Ackerland
Vegetation
212
59
88
66
9
8
6
3
15
Boden
216
100
471
264
295
191
121
128
225
Vegetation
Boden
Abb. 2.2 Globale Kohlenstoffvorräte (Gt C) in Vegetations- und Bodenkohlenstoffpools bis zu einer Tiefe von 1 m. (IPCC 2000)
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bis zu 600 Regenwürmer pro Quadratmeter darin leben. Außerdem kann ein humusreicher Boden bis zu 400 m3 Wasser pro Hektar speichern. Diese Fähigkeiten helfen den Pflanzen während langer Trockenperioden, indem sie bei Regen Feuchtigkeit aufnehmen, den Wasserfluss in den Boden erleichtern und Überschwemmungen verhindern, während sie anschließend Wasser abgeben (Dunst 2019). In Zeiten globaler Erderwärmung sind das genau die Eigenschaften, die für eine stabilere Umwelt unerlässlich sind. Ökosysteme mit humusreichen Böden sind daher widerstandfähiger. Sie wappnen die Menschen für die extremen Auswirkungen eines sich schnell verändernden Klimas. „betterSoils“ leisten dadurch einen Beitrag zur Anpassung an den Klimawandel, aber auch zu dessen Abschwächung, weil sie Kohlenstoff aus der Atmosphäre ziehen. Solche Maßnahmen zur Förderung der Bodenqualität und andere naturbasierte Projekte, insbesondere in Kombination mit der Förderung der SDGs, sollten von den Top-Emittern finanziert werden. Hier gibt es interessante Anknüpfungspunkte zum freiwilligen Kohlenstoffmarkt, wie ihn die Allianz für Entwicklung und Klima (https://allianz-entwicklung-klima.de) voranbringt. Die Allianz wurde vom FAW/n in Ulm zusammen mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Herbst 2019 gegründet und zählt mittlerweile über 1.300 Unterstützer. Hier stellen sich Organisationen, Firmen, Städte, Bundesländer, Ministerien, aber auch Privatpersonen klimaneutral oder klimapositiv, indem sie CO2-Zertifikate mit hohen Standards kaufen und stilllegen. Weitere interessante Verbindungen gibt es auch zum Gebäudesektor, der durch Stahl und Zement ein großer CO2-Emittent ist. Gesunde und starke Böden sind die Voraussetzung für die Produktion nachhaltiger, nachwachsender Rohstoffe, vorrangig Holz, das vermehrt im Gebäudesektor zum Einsatz kommen muss. Wir haben heute bereits gute Erfahrungen damit gemacht, Stahl und Zement an vielen Stellen durch belastbare, beständige und feuerfeste Holzkonstruktionen zu ersetzen. Die Initiative „Bauhaus der Erde“ (https://bauhausdererde.org) von Hans Joachim Schellnhuber widmet sich diesem Thema intensiv und hat es mit der Einrichtung eines High-Level Roundtable „New European Bauhaus“ bereits bis auf die europäische Ebene geschafft. Böden, Holz und Gebäude bilden ein wichtiges Dreieck für die neue „gebaute Umwelt“ und für die Säuberung der Atmosphäre von Treibhausgas-Emissionen. Fazit
Um den Druck einer wachsenden Weltbevölkerung auf unseren Planeten zu reduzieren, müssen massive Fortschritte im Bereich der SDGs und des internationalen Klimaschutzes erzielt werden. Der Umbau des Energiesystems sowie die Verbesserung der Qualität der Böden und des Zustands der natürlichen Kohlenstoffsenken allgemein, inklusive Schutz der (Regen-) Wälder und Wiederaufforstung, spielen dabei eine besondere Rolle für die Lebensgrundlage und die Ernährung der Menschen. Um die Finanzierung solcher Maßnahmen zu ermöglichen, sollten die Top-Emitter stärker in die Verantwortung genommen werden, sodass die Weltgesellschaft durch eine balancierte Ungleichheit außerdem gerechter wird.
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Antworten auf die Eingangsfragen
1. A. Gesamt fast 8 Mrd., davon 1 Mrd. in Afrika 2. C. 10 % 3. B. Häufige Durchlüftung
Literatur Ahmad T, Zhang D (2020) A critical review of comparative global historical energy consumption and future demand: the story told so far. Energy Rep 6:1973–1991 Borrelli P et al (2020) Land use and climate change impacts on global soil erosion by water (2015-2070). Proc Natl Acad Sci 117(36):21994–22001 Burt BA, Tomar SL (2007) Changing the face of America: water fluoridation and oral health. In: Ward JW, Warren C (Hrsg) The history and practice of public health in twentieth century America. Oxford University Press, Oxford Capitals Coalition (2017) One teaspoon of soil contains more living organisms than there are people in the world. https://capitalscoalition.org/one-teaspoon-of-soil-contains-more-living- organisms-than-there-are-people-in-the-world/. Zugegriffen am 31.08.2017 Chancel L et al. (2017) World inequality report 2018. World Inequality Lab. http://wir2018.wid. world. Zugegriffen am 17.03.2023. Chancel L, Piketty T (2015) Carbon and inequality: from Kyoto to Paris. Paris School of Economics, Dunst G (2019) Humusaufbau: Chance für Landwirtschaft und Klima, 2. erw. Aufl. Sonnenerde Gerald Dunst Kulturerden GmbH, Riedlingsdorf Earth System Knowledge Platform. (o. J.) Die Wissensplattform des Forschungsbereichs Erde und Umwelt der Helmholtz-Gemeinschaft. https://www.eskp.de/klimawandel/boeden-senken- oder-quellen-fuer-treibhausgase-935758/ FAO (2015) Soils help to combat and adapt to climate change by playing a key role in the carbon cycle. Food and Agriculture Organization. https://www.fao.org/documents/card/ en/c/39058c2c-991b-4a24-a0bd-ccd0544e8320/ Farajpour A (2021) Humuswirtschaft und klimapositive Landwirtschaft – Brücke zwischen nachhaltiger Entwicklung und internationalem Klimaschutz. In: Gottwald F-T, Radermacher F J, Plagge J (hrsg) Klimapositive Landwirtschaft; Mehr Wohlstand durch naturbasierte Lösungen, Nomos Verlagsgesellschaft IPCC (2014) Climate change: mitigation of climate change. Contribution of working group III to the fifth assessment report of the intergovernmental panel on climate change. Edenhofer O et al. (hrsg). Cambridge University Press, Cambridge IPCC (2000) Global carbon cycle Overview. International Panel on Climate Change. https://archive.ipcc.ch/ipccreports/sres/land_use/index.php?idp=3 Orthen TC (2021) Klimawandel, Ungleichheit und Top-Emitter – Wirkungszusammenhänge und die Rolle des wohlhabenden Privatsektors für Klimaschutz und eine nachhaltige Zukunft. Open Access Repositorium der Universität Ulm und Technischen Hochschule Ulm. Dissertation. https://doi.org/10.18725/OPARU-38785 Pimentel D, Burgess M (2013) Soil erosion threatens food production. Agriculture 3(3):443–463 UNCTAD (2014) World investment report 2014. Investing in the SDGs: an action plan. United Nations Conference on Trade and Development UNFCCC (2011) Report of the conference of the parties on its sixteenth session. FCCC/CP/2010/7/ Add.1. United Nations Framework Convention on Climate Change
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A. Farajpour Javazmi und T. Orthen
UNFCCC (2019) Eighth report of the green climate fund to the conference of the parties to the United Nations framework convention on climate change. FCCC/CP/2019/3. United Nations Framework Convention on Climate Change Strobel G, Daisey B (2003) Bioprospecting for microbial endophytes and their natural products. Microbiol Molec Biol Rev 67:491–502 UN (2019) Global issues population. United Nations. https://www.un.org/en/global-issues/ population Welthungerhilfe (2022) Bevölkerungswachstum. https://www.welthungerhilfe.de/informieren/ themen/gesunde-ernaehrung-sichern/bevoelkerungswachstum-definition-entwicklung/ Zhu YG (2009) Soil science in the understanding of the security of food systems for health. Asia Pac. J. Clin. Nutr. 18:516–519 Pepper IL (2013) The Soil Health-Human Health Nexus Critical Reviews in Environmental Science and Technology 43(24) 2617-2652 10.1080/10643389.2012.694330
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Über die selbstbestimmte Familienplanung der Frauen in armen Ländern und Migrantinnen in reichen Ländern Laura Häusler, Jürgen Wacker, Zoubeida Saidane und Yacouba Zanré
Inhaltsverzeichnis 3.1 D ie Bedeutung der Familienplanung weltweit 3.2 Welche Methoden werden weltweit eingesetzt zur Familienplanung? 3.2.1 Natürliche Familienplanung in Entwicklungsländern 3.2.2 Long acting reversible contraceptives (LARC) 3.2.3 Depot-Gestagene 3.2.4 Sterilisation der Frau 3.2.5 Die „Pille“ 3.2.6 Das Kondom 3.2.7 Notfallkontrazeption 3.3 Welche Möglichkeiten gibt es, den Zugang zur Familienplanung zu erleichtern? Literatur
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L. Häusler (*) Mannheim, Deutschland J. Wacker ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] Z. Saidane Frauenklinik der Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] Y. Zanré Hôpital Shiphra, Ouagadougou, Burkina Faso © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_3
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Eingangsfragen
1. Wie viele Frauen haben weltweit Zugang zur selbstbestimmten Familienplanung (Angabe in %)? A. 20 % B. 60 % C. 80 % 2. In welchem Kontinent finden sich derzeit die meisten ungewollten Schwangerschaften? A. Asien B. Afrika C. Lateinamerika 3. Welche Faktoren verhindern in Deutschland die Anwendung von modernen Methoden der Familienplanung bei Migrantinnen? A. Mangelnde Sprachkenntnisse B. Religiöse Vorschriften C. Fehlende Emanzipation der Frau D. Alle Antworten sind richtig
3.1 Die Bedeutung der Familienplanung weltweit Familienplanung rettet Leben. Durch die Verhinderung ungewollter Schwangerschaften sowie durch Verlängerung des Abstands zwischen Geburt und erneuter Konzeption kann moderne Familienplanung die mütterliche und kindliche Mortalität senken. In den vergangenen 20 Jahren konnte allein durch die Verringerung ungeplanter Schwangerschaften sowie durch die Reduktion von Risikoschwangerschaften die Anzahl mütterlicher Todesfälle in Entwicklungsländern um 40 % gesenkt werden (Cleland et al. 2012; Mbizvo und Phillips 2014). Der Anteil an Frauen, die ein modernes Verhütungsmittel nutzen, hat sich zeitgleich in den letzten 50 Jahren verdoppelt und liegt aktuell bei fast 60 %. Dennoch haben weltweit gemäß dem Weltbevölkerungsbericht der Vereinten Nationen immer noch bis zu 217 Mio. Frauen einen ungedeckten Bedarf an moderner Kontrazeption und nur jede zweite Frau kann selbstbestimmt über ihre körperliche Unversehrtheit und sexuelle Gesundheit entscheiden. Auffallend ist hierbei, dass Frauen eher auf die Verwendung von Verhütungsmitteln Einfluss haben, als „nein“ zu Sex sagen zu können. Zum besseren Verständnis dieser Thematik und zur Darstellung der Grenzen selbstbestimmter Familienplanung haben wir die folgende Karikatur als Abb. 3.1 eingefügt: Selbstbestimmte Familienplanung erlaubt neben gesundheitlichen Aspekten eine zunehmende Emanzipation der Frau (Okigbo et al. 2018). Stand 2021 genießen Frauen weltweit nur 75 % der gesetzlichen Rechte, die Männern zustehen. Die rechtliche und wirtschaftliche Benachteiligung von Frauen mindert deren finanzielle und gesellschaftliche Unabhängigkeit und somit ihre Möglichkeit, eigenständig
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Abb. 3.1 Selbstbestimmte Familienplanung. (© Diethard Kokoska)
über Themen wie Sexualität, Verhütung und Gesundheitsversorgung zu entscheiden. In besonderem Maße sind hierbei jugendliche Mädchen gefährdet, vor allem wenn diese nicht verheiratet sind, denn Familienplanung ist in vielen Ländern auch heutzutage ausschließlich Ehepaaren vorbehalten. Sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe werden nicht anerkannt, was zu illegalen und riskanten Schwangerschaftsabbrüchen führt. Darüber hinaus besteht in der Altersgruppe Schwangerer unter 20 Jahren eine signifikant höhere Müttersterblichkeit. Erfreulicherweise ist die Geburtenrate unter Jugendlichen weltweit rückläufig, es bestehen jedoch große regionale Unterschiede. So entfallen 95 % der Geburten unter Heranwachsenden aus armen Ländern. Im B esonderen ist hierbei die Subsahara-Region betroffen mit jährlich etwa 100 Geburten je 1000 Frauen in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen. Tab. 3.1 zeigt die Zusammenhänge zwischen moderner Familienplanung und dem Auftreten mütterlicher Komplikationen in der Schwangerschaft und unter der Geburt (Cleland et al. 2012).
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Tab. 3.1 Selbstbestimmte Familienplanung – wichtige Fakten auf einen Blick. (Cleland et al. 2012) Der zunehmende Einsatz moderner Kontrazeptiva ist für 75 % der Fertilitätsabnahme in Entwicklungsländern innerhalb der letzten 6 Jahrzehnte verantwortlich. Im Jahr 2017 hatten weltweit 217 Mio. Frauen keinen Zugang zur modernen Familienplanung.
2003 gab es circa 42 Mio. Schwangerschaftsabbrüche, wovon knapp 50 % unter unsicheren Bedingungen erfolgten. 2017 fanden 25,5 Mio. Schwangerschaftsabbrüche unter unsicheren Bedingungen statt, 97 % davon in Entwicklungsländern. Die mütterliche Mortalität ist höher bei jugendlichen Müttern insbesondere vor dem 15. Lebensjahr, bei älteren Schwangeren, bei Multiparität (> 4 Kinder) sowie rascher Schwangerschaftsfolge unter 18 Monaten. Das Risiko für Frühgeburtlichkeit und kindliche Mangelentwicklung sowie für ein niedriges Geburtsgewicht steigt signifikant bei einem Schwangerschaftsintervall unter 18 Monaten. Stand 2021 besitzen Frauen weltweit nur 75 % der Rechte, die Männern zustehen. Durch häufigere Schulabbrüche unter jugendlichen Schwangeren nimmt deren wirtschaftliche Marginalisierung und finanzielle Abhängigkeit zu.
Dies bedeutet eine deutliche Reduktion der Müttersterblichkeit durch Familienplanung. Exemplarisch konnte diese im Zeitraum von 1990 bis 2008 um 40 % gesenkt werden. Wenn alle Frauen in Entwicklungsländern, die eine Schwangerschaft verhindern wollen, Zugang zu Verhütungsmitteln hätten, wäre eine weitere Abnahme der mütterlichen Todesfälle um bis zu 30 % möglich. Dies führte 2003 zu 47.000 Todesfällen, entsprechend 13 % aller mütterlichen Todesfälle in diesem Jahr, die durch Verwendung von modernen Kontrazeptiva vermeidbar gewesen wären.
Durch den Einsatz moderner Verhütungsmittel können Risikoschwangerschaften reduziert und die mütterliche Mortalität gesenkt werden: um 4,8 Todesfälle pro 100.000 Geburten für jeden Prozentpunkt Zunahme an Verwendung moderner Kontrazeptiva. Durch Vergrößerung des Schwangerschaftsintervalls auf 2 Jahre sinkt in Entwicklungsländern das Risiko für Tod im Säuglingsalter (< 1 Jahr) um 10 % und das für Kinder zwischen dem 1. und 4. Lebensjahr um 21 %. Selbstbestimmte Familienplanung gibt Frauen die Möglichkeit, zumindest teilweise über ihren Körper zu bestimmen, und ist damit ein Schritt in Richtung Gleichstellung der Geschlechter.
Neben den regionalen Faktoren spielen Bildungsgrad und Wohlstand eine große Rolle. So zeigt sich eine niedrigere kontrazeptive Prävalenz bei Frauen, die arm sind, auf dem Land leben oder über eine geringe Bildung verfügen. Besonders eklatant sind diese Unterschiede in afrikanischen Ländern. Nur durch konzentrierte Maßnahmen zum Ausbau der Familienplanungsangebote können sie überwunden werden. Solche staatlichen Programme finden sich in Bangladesch, Bhutan, Kambodscha und Thailand. Dies belegt unter anderem der Weltbevölkerungsbericht der Vereinten Nationen mit einer rückläufigen Geburtenrate vor allem in Asien und Lateinamerika. In der afrikanischen Subsahara-Region hingegen zeigte sich nur ein geringfügiger Abfall der Rate von 6,6 auf 5,2 Kinder pro Frau zwischen 1960 und 2010. Trotz des Fortschrittes im Bereich der Familienplanung in vielen Regionen
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der Welt stagniert der weltweite Anteil an Frauen, die Zugang zu Methoden der modernen Verhütung haben, seit 2015 bei 80 %. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, welche teilweise zu einem verringerten Leistungsangebot von Gesundheitseinrichtungen sowie einer reduzierten Nachfrage seitens der Patientinnen aus Angst vor Ansteckung geführt hat, könnten zu dieser Stagnation beigetragen haben. So sind auch heute bis zu 43 % aller Schwangerschaften in Entwicklungsländern vor allem in Afrika ungeplant, dies entspricht schätzungsweise 89 Mio. Frauen, die jährlich ungewollt schwanger werden. Daraus folgen bis zu 48 Mio. Abtreibungen pro Jahr, welche in bis zu 50 % illegal sind und unter unsicheren Bedingungen erfolgen. Auch in Europa sind die kontrazeptive Prävalenz sowie das Alter bei Geburt des ersten Kindes von wirtschaftlichen Faktoren und dem Bildungsgrad abhängig. Dies betrifft in besonderem Maße Migrantinnen aus ärmeren Ländern (Helfferich 2013). Die Studie „Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Frauen“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) untersuchte das Verhütungsverhalten bei Migrantinnen aus der Türkei und den ehemaligen GUS-Staaten. Hierbei zeigte sich nicht nur eine niedrigere kontrazeptive Prävalenz im Vergleich zur deutschstämmigen Bevölkerung, sondern auch eine höhere Rate an Schwangerschaftsabbrüchen, ein jüngeres Alter der Frauen bei Geburt des ersten Kindes und ein niedrigeres Heiratsalter. Sexualität ist in zahlreichen Kulturen noch immer an die Ehe gekoppelt, in der Ehe wiederum werden Kinder erwartet. So wird in vielen Kulturkreisen erst nach dem ersten oder zweiten Kind verhütet. Auch eine retrospektive Studie am Universitätsspital Basel zeigte bei Migrantinnen eine um den Faktor 2,5 erhöhte Rate an Interruptiones bedingt vor allem durch einen Mangel an Kontrazeption. Die wichtigsten Gründe für den fehlenden Einsatz eines Verhütungsmittels schienen hierbei sprachlicher und finanzieller Natur zu sein (Kurth et al. 2010). Hinzu kommen aufenthaltsrechtliche Themen, welche auch bei der Beratung der Migrantinnen durch die lokalen Behörden im Vordergrund stehen. So fehlt ein niederschwelliges Angebot, um den Zugang zu präventiven Maßnahmen des Gesundheitssystems wie der Familienplanung zu vereinfachen (Keygnaert et al. 2014). Darüber hinaus erschweren kulturelle Faktoren sowie Desinformation den Zugang zu Familienplanungsangeboten. Rasch et al. beobachteten in einer Fall- Kontroll-Studie an sieben dänischen Kliniken, dass vor allem unter Migrantinnen große Unwissenheit bezüglich modernen Verhütungsmethoden bestand. Viele Frauen hatten Angst vor Nebenwirkungen oder bereits schlechte Erfahrung mit Kontrazeptiva gemacht. Beides war assoziiert mit einer erhöhten Rate an Schwangerschaftsabbrüchen. Insbesondere unter den Migrantinnen war auch häufig eine ablehnende Einstellung des Partners gegenüber dem Einsatz von Verhütungsmitteln zu beobachten (Rasch et al. 2007). Auch von der Existenz der „Pille danach“ wissen viele Migrantinnen nicht, wie eine weitere Studie zeigen konnte (Wolff et al. 2008). Zusammenfassend ist die unzureichende Verbreitung der selbstbestimmten Familienplanung unter Migrantinnen in westlichen Industriestaaten multifaktoriell bedingt. Im Vordergrund stehen sprachliche, finanzielle und kulturelle Barrieren, die fehlende Emanzipation der Frau sowie Unwissenheit über Methoden der modernen Kontrazeption. Der Zugang zur Verhütungsberatung und die selbstbestimmte
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Familienplanung gehören zu den sexuellen und reproduktiven Rechten jedes Menschen und die Bereitstellung entsprechender Programme ist eine staatliche Pflicht. Die wachsende Gruppe an Migrantinnen mit unterschiedlichem soziokulturellem Hintergrund muss stärker in den Fokus rücken. Um diese heterogene Gruppe an Frauen und ihre Partner zu erreichen, sind lokale und an die jeweiligen kulturellen Hintergründe angepasste Aufklärungskampagnen notwendig.
3.2 Welche Methoden werden weltweit eingesetzt zur Familienplanung? Der wichtigste Schritt zur Verhinderung ungewollter Schwangerschaften ist der Einsatz eines Verhütungsmittels. 2012 verursachten knapp 20 % aller Frauen ohne Kontrazeption über 60 % aller ungewollten Schwangerschaften (Darroch 2013). Der Wechsel zu einer Verhütungsmethode mit höherer kontrazeptiver Wirksamkeit ist ebenfalls von Bedeutung. Lang wirksame reversible Kontrazeptiva können hierbei aufgrund eines geringeren Anwenderfehlers als sicherer betrachtet werden. Letzteres fällt vor allem im Vergleich mit dem Kondom sowie oralen Verhütungsmitteln ins Gewicht. Die „Pille“ beispielsweise hat im Mittel eine Wirksamkeit von 99,7 % bei perfekter Anwendung, jedoch werden bei typischer Anwendung, das heißt unter Berücksichtigung von Einnahmefehlern wie dem „Vergessen der Pille“, jährlich 9 % der Frauen ungewollt schwanger (Trussell 2011). Weltweit bestehen deutliche Unterschiede nicht nur die kontrazeptive Prävalenz betreffend, sondern auch die Verteilung der Verhütungsmethoden. Während in westlichen Industrieländern sowie in einigen nordafrikanischen Ländern die „Pille“ und das Kondom die häufigsten Verhütungsmittel sind, ist in Süd-Asien, Lateinamerika und den Karibik-Ländern die weibliche Sterilisation die beliebteste Methode. In Zentral- und Westasien hingegen sind Intrauterine Devices wie vor allem die Kupferspirale am weitesten verbreitet. Lang wirksame hormonelle Methoden wie Depot-Gestagene werden vornehmlich in der Subsahara-Region und Südostasien verwendet (Darroch 2013). Insgesamt fällt auf, dass in Entwicklungsländern eine geringere Auswahl an verschiedenen Methoden der Familienplanung besteht und somit weniger Alternativen geboten werden. Dies senkt die kontrazeptive Prävalenz zusätzlich und führt zu häufigeren Abbrüchen der Verhütungsmethode ohne Wechsel auf ein anderes Verhütungsmittel (Dagnew et al. 2021).
3.2.1 Natürliche Familienplanung in Entwicklungsländern Eine weit verbreitete Verhütungsmethode besonders in afrikanischen Entwicklungsländern ist die natürliche Familienplanung. Nicht selten sind mit dem Thema Verhütung Ängste und Aberglaube verbunden. So scheitern externe Familienplanungsprogramme mit per se hochsicheren Methoden wie der „Pille“ auch aufgrund kultureller Gegebenheiten. Im Gegensatz dazu erfreut sich die natürliche Familienplanung einer hohen Akzeptanz in der Bevölkerung dieser Länder. Je nach Studie
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und Methode wurde ein Versagen der natürlichen Familienplanung in bis zu 5 % der Fälle bei perfekter Anwendung beobachtet, bei typischer Anwendung wird allerdings schätzungsweise ein Viertel der Frauen innerhalb eines Jahres ungewollt schwanger (Trussell 2011). Trotz der hohen Versagerquote kann die natürliche Familienplanung allein aufgrund ihrer breiten Akzeptanz in der Bevölkerung vieler Entwicklungsländer zur Reduktion der Anzahl ungewollter Schwangerschaften beitragen. Ein weiterer Vorteil ist die Kosteneffizienz, welche selbst bei aufwändiger Anfangsbetreuung gegeben ist. Neben der auch in westlichen Ländern verbreiteten Billings-Methode wurden vereinfachte Konzepte der natürlichen Familienplanung für Frauen in Entwicklungsländern entworfen. Die Modified-Mucus-Methode (MMM) ist auf die indische Ärztin Dorairaj zurückzuführen und hatte als initiale Zielgruppe Analphabetinnen aus den ärmsten Bevölkerungsschichten Indiens. Die Tage mit vermehrtem und spinnbarem Zervixschleim sowie die zwei darauffolgenden Tage werden als fruchtbarer Zeitraum festgelegt, in dem auf Geschlechtsverkehr verzichtet werden soll (Dorairaj 1991). Auf einer einfachen Kalendermethode hingegen basiert das Prinzip der Geburtenkontrollkette, welche 1989 von der Wiener Ärztin und Entwicklungshelferin Maria Hengstberger während eines Aufenthaltes in Äthiopien entwickelt wurde. Sie besteht aus 30 tropfenförmigen Perlen in unterschiedlichen Farben: eine rote Perle für den ersten Tag der Menstruation, drei rot-gelbe für die durchschnittliche Blutungsdauer, elf gelbe Perlen für die unfruchtbaren Tage und achte blaue, welche die fruchtbare Zyklusphase repräsentieren, sowie 7 halbblaue Perlen für die Übergangsphasen zwischen den sicher fruchtbaren und unfruchtbaren Tagen. An der Kette ist ein kleiner verschiebbarer Ring befestigt, der jeden Tag weitergeschoben wird und der Nutzerin so anzeigt, in welcher Zyklusphase sie sich aktuell befindet. Hauptproblem dieser Methode ist, dass sie nur für Frauen mit sehr regelmäßigem Zyklus und einer Zykluslänge von 26 bis 32 Tagen geeignet ist (Arévalo et al. 1999). Die von Frau Hengstberger entwickelte Geburtenkontrollkette zeigt die nachfolgende Abb. 3.2. Eine weitere in Entwicklungsländern verbreitete Möglichkeit der natürlichen Familienplanung ist die Laktationsamenorrhö. Diese Methode bietet bei korrekter Anwendung eine hohe kontrazeptive Sicherheit von bis zu 98 %. Mutmaßlich durch den regelmäßigen Saugreiz an der Brust der Mutter wird die Eizellreifung gehemmt. Konsekutiv kommt es zur Amenorrhö, das heißt dem Ausbleiben der Menstruation. Dabei ist die kontrazeptive Sicherheit nur so lange gegeben, wie alle drei Voraussetzungen der Laktationsamenorrhö-Methode erfüllt sind: die persistierende Amenorrhö, das Alter des Neugeborenen unter sechs Monaten und exklusives Stillen des Kindes Tag und Nacht. Mittels der Laktationsamenorrhö-Methode kann der Abstand zwischen Geburt und erneuter Schwangerschaft vergrößert werden, dabei sollte die Zeit genutzt werden, um ein anschließendes Verhütungsmittel zu wählen. Darüber hinaus wird durch diese Methode das Stillen gefördert, ein für die Gesundheit des Neugeborenen wichtiger Aspekt, insbesondere in Entwicklungsländern, in denen sauberes Wasser zur Herstellung von Babynahrung nicht immer verfügbar ist. Limitiert ist diese Methode vor allem durch die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen in vielen Entwicklungsländern (Vekemans 1997).
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Abb. 3.2 Geburten kontrollkette, von Maria Hengstberger entwickelt
3.2.2 Long acting reversible contraceptives (LARC) Lang wirksame reversible Kontrazeptiva können in hormonelle und Hormon- unabhängige Verhütungsmittel unterteilt werden. Zu den hormonellen Methoden gehören Gestagen-Implantate wie das Etonogestrel-haltige Implanon® und Intrauterinsysteme mit Levonorgestrel. Das Kupfer-Intrauterinpessar (IUP), die Kupferkette und der Kupfer-Ball gehören zur Gruppe der hormonfreien Verhütungsmethoden. Großer Vorteil aller long acting reversible contraceptives ist, dass kein Unterschied zwischen perfekter und typischer Anwendung besteht. Das heißt die kontrazeptive Wirksamkeit der Methode ist unabhängig von der Nutzer-Compliance. Intrauterine Devices (Kupfer- oder Hormonspirale) 2015 verhüteten 14 % aller verheirateten oder in einer Beziehung lebenden Frauen im reproduktiven Alter mittels Intrauterine Device (IUD). Damit stellen IUDs nach der weiblichen Sterilisation die zweithäufigste Verhütungsmethode in dieser Gruppe dar. Doch die Prävalenz der IUD-Nutzerinnen unterliegt starken regionalen Schwankungen. Über 60 % der Frauen, welche mittels Spirale verhüten, leben in China. In den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt hingegen nutzen weniger als 1 % der Frauen ein IUD. Besonders niedrig ist die Prävalenz in Afrika mit Ausnahme einiger nordafrikanischen Länder (Cleland et al. 2017). Mögliche Gründe für die seltene Anwendung der Verhütungsmethode in vielen Entwicklungsländern könnten die aufwändige Einlage bei zeitgleich fehlender Expertise des Gesundheitspersonals und die
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Notwendigkeit einer Lagekontrolle sein. Darüber hinaus sind staatliche Reglementierungen und Familienplanungsprogramme von Bedeutung. Notwendig wären regelmäßige Trainings des Gesundheitspersonals sowie die finanzielle Subventionierung von IUDs und eine Aufweichung der Richtlinien, wer zur deren Einlage befugt ist. In Ägypten beispielsweise, ein Land, in dem 38 % der Frauen mittels Spirale verhüten, fallen die Einlage und der Wechsel des IUDs nicht ausschließlich in den Verantwortungsbereich von Gynäkologen, sondern können auch durch Pflegepersonal, Hebammen oder Hausärzte erfolgen (Buhling et al. 2014). Weiterhin ist die Zulassung der Kupferspirale in vielen Ländern eingeschränkt. Davon betroffen sind Nullipara, Jugendliche ebenso wie unverheiratete und promiskuitive Frauen insbesondere aus Sorge vor einer erhöhten Rate an Eierstockentzündungen unter Kupferspiral-Trägerinnen mit nachfolgender Sterilität (Ali et al. 2019). Dabei wurde die initiale Empfehlung, die Kupferspirale nur bei Frauen mit mindestens einem Kind einzusetzen, mittlerweile von der FDA, der WHO und anderen internationalen Gesundheitsbehörden widerrufen. Das Infektionsrisiko scheint nur in den ersten 30 Tagen leicht erhöht, was mutmaßlich auf vorbestehende Infektionen zurückzuführen ist (Bahamondes et al. 2020). Auch religiös-kulturelle Hintergründe können bei der Entscheidung eine Rolle spielen, wenn Blutungsstörungen unter IUDs als hinderlich bei religiösen Aktivitäten empfunden werden (Salem et al. 2006). Großes Potenzial zur Vermeidung von Risikoschwangerschaften aufgrund einer raschen Schwangerschaftsfolge oder von Multiparität bietet die Einlage eines Kupfer- Intrauterinpessars unmittelbar nach Geburt, auch als post-partum IUP (PPIUP) bezeichnet. Damit sich der mütterliche Körper von der Schwangerschaft erholen kann, sollte der Abstand zwischen Geburt und erneuter Konzeption mindestens 18 Monate betragen. Ein kürzeres Schwangerschaftsintervall birgt zahlreiche Risiken wie das Auftreten einer Muttermundsschwäche mit Frühgeburtlichkeit oder einer Uterusruptur bei Zustand nach Kaiserschnitt. Zudem kommt es häufiger zur Mangelentwicklung sehr rasch aufeinanderfolgender Kinder (Cleland et al. 2012). Aus diesem Grund bedarf es nach der Entbindung zunächst einer sicheren Verhütungsmethode. Hierfür bietet sich das PPIUP an: Eingesetzt wird die Kupferspirale TCu 380A, welche von der FDA für 10 Jahre zugelassen wurde, in mehreren Studien jedoch eine nachgewiesene Wirksamkeit von mindestens 12 Jahren besitzt. Kupferspiralen entfalten ihre kontrazeptive Wirkung vor allem über spermizide Effekte sowie eine sterile Entzündung in der Gebärmutter (Bahamondes et al. 2020). Dabei ist das Kupfer-IUP abgesehen vom Kondom das einzige von der WHO unmittelbar postpartal zugelassene moderne Verhütungsmittel für stillende Mütter. Die Einlage eines Kupfer-IUPs innerhalb von 48 h nach Geburt ermöglicht die Initiierung einer zuverlässigen Verhütungsmethode im Rahmen der stationären oder ambulanten peripartalen Betreuung. Hierdurch wird den Betroffenen ein zusätzlicher Arztbesuch erspart, was nachweislich die Compliance erhöht (Mohamed et al. 2003). Auch die non-profit Organisation Jhpiego (Jhon Hopkins Program for International Education in Gynecology and Obstetrics) und die United States Agency for International Development (USAID) haben das Potenzial des PPIUPs erkannt und entsprechende Programme in mehreren Entwicklungsländern aufgezogen. Durch
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eine spezielle Insertions-Technik erfolgt die Einlage hoch fundal, um so das Risiko einer Ausstoßung des IUPs möglichst gering zu halten. Die Expulsionsraten lagen nach sechs Wochen zwischen 1,7 und 3,7 % und waren somit vergleichbar mit denen beim Einsetzen zu einem späteren Zeitpunkt (Pfitzer et al. 2015). Es ist jedoch anzumerken, dass die Nachbeobachtungszeit in den beschriebenen Programmen nur sechs Wochen betrug. Insgesamt ist wahrscheinlich von etwas höheren Expulsionsraten als bei späterer Intervall-Einlage auszugehen. Generell ist die Expulsionswahrscheinlichkeit in den ersten drei Monaten nach Einlage am höchsten. Celen et al. beschrieben bei einem Nachbeobachtungszeitraum von 12 Monaten eine durchschnittliche Expulsionsrate von 12,3 % bei dennoch sehr hoher Anwenderzufriedenheit (Celen et al. 2004). Die Infektionsrate, welche im Mittel bei 1 % lag, ist beim PPIUP nicht erhöht. Auch kommt es nach aktuellem Wissensstand nicht zum gehäuften Auftreten uteriner Perforationen (Kapp und Curtis 2009; Pfitzer et al. 2015). Limitationen der Kupferspirale sind vor allem, dass sie keinen Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten bietet. Zudem kommt es unter der Kupferspirale häufig zu Blutungsstörungen wie Hyper- und Dysmenorrhö (Ali et al. 2019). Auch die Hormonspirale wird von manchen Fachgesellschaften wie dem American College of Obstetricians and Gynecologists (ACOG) für die unmittelbar postpartale Einlage empfohlen. Andere empfehlen die Insertion des Levonorgestrel- IUDs bei stillenden Müttern erst ab sechs Wochen nach Entbindung. Auch bei Nullipara kann die Hormonspirale zur Kontrazeption verwendet werden. Die Einlage erfolgt dann meist im Rahmen der Menstruation, um eine Schwangerschaft auszuschließen, ist prinzipiell jedoch zu jedem Zeitpunkt des Zyklus möglich. International verfügbar ist die Hormonspirale mit 52 mg Levonorgestrel. Sie hat eine Wirkdauer von mindestens fünf bis sieben Jahren. Ihre kontrazeptiven Effekte entfaltet die Hormonspirale über eine Verdickung des Zervixschleims mit Behinderung der Spemienaszension, sie hemmt die Endometrium-Proliferation und teilweise den Einsprung. Durch die antiproliferative Wirkung am Endometrium kann das 52 mg LNG-IUD auch therapeutisch bei Blutungsstörungen und Endometriose eingesetzt werden. Darüber hinaus bewirkt das LNG-IUD eine Reduktion des Risikos für Endometrium- und Ovarialkarzinome (Bahamondes et al. 2020). Trotz der positiven Nebeneffekte und der hohen kontrazeptiven Wirksamkeit wird die Hormonspirale in Entwicklungsländern wenig eingesetzt. Dies könnte mitunter an den höheren Kosten und an der begrenzten Verfügbarkeit im öffentlichen Gesundheitssektor vieler Länder liegen (Ali et al. 2019; Buhling et al. 2014; Pace et al. 2013). Gestagen-Implantate Das Gestagen-Implantat Implanon® mit 68 mg Etonogestrel ist für drei Jahre von der FDA zugelassen. Die Einlage des Implantats erfolgt subkutan im Bereich der Oberarm-Innenseite. Mit einem Pearl Index von 0,05 gilt es als das sicherste Verhütungsmittel. Seine kontrazeptive Wirkung entfaltet es primär über eine Hemmung des Eisprungs, zusätzliche Gestagen-Effekte erhöhen die kontrazeptive Sicherheit. Trotz der hohen kontrazeptiven Wirksamkeit spielen Gestagen-Implantate weltweit gesehen eher eine untergeordnete Rolle in der Familienplanung. Dabei bietet Implanon® weitere Vorteile wie eine einfache Einlage mit geringem Aufwand sowie
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die Sicht- und Tastbarkeit mit entsprechend möglicher Lagekontrolle durch die Trägerin und die Zulassung während des Stillens ab 6 Wochen postpartal. Zeitgleich beobachteten mehrere Studien eine hohe Abbruchrate unter Implanon®-Nutzerinnen in Entwicklungsländern. Als Hauptgründe wurde hierfür das Auftreten von Blutungsstörungen genannt, aber auch die mangelhafte Aufklärung über mögliche Nebenwirkungen und die Vorteile von Implanon® sowie das fehlende Angebot alternativer kontrazeptiver Methoden spielen eine wesentliche Rolle (Aziz et al. 2018; Dagnew et al. 2021; Mrwebi et al. 2018). Zudem dürfte der Kostenfakor bei Implanon® von Bedeutung sein, auch wenn in einigen afrikanischen Ländern wie Äthiopien eine staatliche Subventionierung erfolgt (Aziz et al. 2018).
3.2.3 Depot-Gestagene Während Depot-Gestagene in Europa eher eine untergeordnete Rolle spielen, werden sie von 38 % der Nutzerinnen eines modernen Verhütungsmittels in der Subsahara-Region und von 47 % in Südafrika verwendet. Das drei-monatlich intramuskulär oder subkutan applizierte Depot-Medroxyprogesteron Acetat (DMPA) wird am häufigsten eingesetzt (Fok und Blumenthal 2017; Smith et al. 2020). Depot-Gestagene entfalten ihre kontrazeptive Wirkung über eine Hemmung der Follikelreifung und zum Teil des Eisprungs sowie über die Verdickung des Zervixschleims mit Unterdrückung der Spermienaszension. Vorteile sind die hohe kontrazeptive Sicherheit, eine einfache Applikation sowie der Kostenfaktor. Auf der anderen Seite bedarf es einer höheren Compliance als bei LARCs aufgrund der kürzeren Wirkdauer. Zudem sind mehrere unerwünschte Ereignisse unter Depot-Gestagenen zu nennen. Nicht zu vernachlässigen ist die Wirkung auf den Knochen mit einer möglichen Abnahme der Knochendichte unter DMPA, weshalb eine Langzeitverhütung über 2 Jahre nur bei Kontraindikationen für andere Verhütungsmittel erfolgen sollte. Aufgrund fehlender Langzeitdaten zur Beurteilung der Wirkung auf den Knochen bei Jugendlichen sind Depot-Gestagene in dieser Gruppe kontraindiziert. Weitere Nebenwirkungen sind ein gering erhöhtes Thrombose-Risiko, ungünstige Effekte auf den Glukose-Insulin-Haushalt und ein mutmaßlicher Anstieg des Mammakarzinom-Risikos. Darüber hinaus gab es in der Vergangenheit Hinweise, dass unter DMPA das Ansteckungsrisiko für HIV zunehmen könnte. 2019 wurde daraufhin die randomisiert-kontrollierte ECHO-Studie (Evidence for Contraceptive Options and HIV) veröffentlicht. Diese verglich das HIV-Ansteckungsrisiko bei DMPA-Nutzerinnen mit dem von Frauen, welche mittels Kupfer- oder Hormonspirale verhüteten. Eine dramatische Risikoerhöhung höher als 50 % für DMPA-Nutzerinnen konnte ausgeschlossen werden. Dennoch scheint eine geringfügige Zunahme der Ansteckungsgefahr für HIV unter DMPA nicht unmöglich. In Anbetracht der hohen HIV-Prävalenz in vielen Entwicklungsländern könnte auch ein geringfügiger Risikoanstieg von Bedeutung sein. Dieser Aspekt sollte bei entsprechender HIV-Prävalenz in die Beratung der Patientin mit eingehen. Auf der anderen Seite stehen die gesundheitlichen Risiken einer ungeplanten Schwangerschaft bei Absetzen von DMPA ohne Wechsel auf eine andere kontrazeptive Methode (Smith et al. 2020).
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Entsprechend entschied sich die WHO nach Publikation der ECHO-Studie, die Empfehlung für DMPA wieder von Level zwei auf Level eins zu erhöhen (Polis und Curtis 2013).
3.2.4 Sterilisation der Frau Die weibliche Sterilisation stellt auch heute noch die häufigste Verhütungsmethode unter verheirateten oder in einer Beziehung lebenden Frauen dar. Nach Einführung und Verbreitung der lang wirksamen reversiblen Kontrazeptiva hat sie jedoch an Bedeutung verloren. Die höchste Rate an weiblichen Sterilisationen findet man in Ländern wie Indien sowie in Lateinamerika und der Karibik (Fang et al. 2021). In vielen Teilen Afrikas hingegen spielt die Sterilisation eine untergeordnete Rolle, mitunter aufgrund der fehlenden Infrastruktur in den ärmsten Entwicklungsländern mit schwieriger Erreichbarkeit eines chirurgischen Zentrums. Hinzu kommen hohe Kosten und fehlende Expertise des Gesundheitspersonals bei seltener Durchführung der Operation (Mbizvo und Phillips 2014).
3.2.5 Die „Pille“ Orale Kontrazeptiva werden vor allem in westlichen Industrieländen sowie in den nordafrikanischen Ländern Marokko, Algerien und Tunesien zur Familienplanung eingesetzt (Dimassi et al. 2017). Bedeutender Nachteil aller oralen Verhütungsmittel ist, dass die kontrazeptive Sicherheit von der Nutzer-Compliance abhängt. Viele Frauen insbesondere in Entwicklungsländern sind unzureichend über orale Kontrazeptiva informiert. Häufig sind diese frei in Apotheken verkäuflich, ohne Beratung bezüglich einer korrekten Einnahme beziehungsweise vorherigem Ausschluss von Kontraindikationen (Mobark et al. 2019). Dies erhöht nicht nur das Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen, sondern wirkt sich auch negativ auf eine zuverlässige Einnahme der „Pille“ aus und senkt damit die kontrazeptive Wirksamkeit. Weiterhin herrschen Desinformation und Aberglaube bezüglich hormoneller Kontrazeptiva. Ein dramatischer Irrglaube ist, dass diese zu dauerhafter Unfruchtbarkeit führen. In vielen Ländern, in denen der Wert einer Frau maßgeblich von der Anzahl ihrer gesunden Nachkommen abhängig ist, hat dies tiefgreifende Folgen für den Fortschritt der Familienplanung (Williamson et al. 2009).
3.2.6 Das Kondom Neben oralen Kontrazeptiva stellt in Deutschland gemäß der BZgA das Kondom das zweithäufigste Verhütungsmittel dar. Unter Entwicklungsländern ist es vor allem in Zentralafrika verbreitet (Darroch 2013). Dabei wird das Kondom in vielen Regionen der Welt eher mit dem Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten in Verbindung gebracht und seltener zur Vermeidung ungewollter Schwangerschaften
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eingesetzt. Entsprechend steht es häufig für Promiskuität. Dies führt dazu, dass viele Frauen, die Benutzung eines Kondoms durch ihren Partner nicht einfordern (Williamson et al. 2009). Weiterhin lehnt ein bedeutender Teil der Männer das Kondom ohnehin ab, da es als unangenehm und lusthemmend empfunden wird. Dies spiegelt auch der Pearl Index wider, welcher bei zwei liegt im Falle einer perfekten Anwendung, jedoch bei 12 bei typischer Anwendung. Dennoch ist das Kondom für die sexuelle und reproduktive Gesundheit essenziell, da es ein einfach zugängliches und kostengünstiges Verhütungsmittel darstellt, das Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten bietet.
3.2.7 Notfallkontrazeption Die „Pille danach“ ist Bestandteil der WHO Liste für essenzielle Medikamente. Leider ist sie in vielen armen Ländern nur begrenzt verfügbar und wird häufig nicht in staatlichen Gesundheitsprogrammen aufgeführt. Hinzu kommt, dass in ärmeren Ländern vornehmlich Levonorgestrel-basierte Notfallkontrazeptiva angeboten werden, da Ulipristalacetat teurer ist. Letzteres hat allerdings auch eine höhere Wirksamkeit vor allem bei größerem Abstand zum ungeschützten Geschlechtsverkehr und bei übergewichtigen Frauen. Die sicherste Notfallverhütung ist die Kupferspirale, welche bis 7 Tage nach ungeschütztem Verkehr zugelassen ist (Glasier 2013; Westley et al. 2013)
3.3 Welche Möglichkeiten gibt es, den Zugang zur Familienplanung zu erleichtern? Abschließend kann festgestellt werden, dass der ungedeckte Bedarf an Familienplanung sowohl global gesehen als auch in Deutschland rückläufig ist. Dennoch herrscht vielerorts ein Mangel an modernen Verhütungsmitteln vornehmlich unter Frauen mit niedrigem sozioökonomischem Status und Bildungsgrad. Von Bedeutung sind hierbei nicht nur die hohen gesundheitlichen Risiken einer Schwangerschaft und Geburt vor allem in Entwicklungsländern mit hoher Muttersterblichkeit, sondern auch die finanzielle und gesellschaftliche Abhängigkeit vom Partner, in die sich Frauen durch eine Schwangerschaft begeben. Auch in Deutschland gibt es Nachholbedarf im Bereich moderner Familienplanung insbesondere unter Migrantinnen und marginalisierten Gruppen. Diesen fehlt ein niederschwelliger Zugang zum Gesundheitssystem. Zwar existieren hierzulande allgemein zugängliche Beratungsstellen, doch da Berater*innen kein geschützter Begriff ist, verfügen diese über sehr unterschiedliche Qualifikationen. Gleichzeitig sind die Beratungsstellen unzureichend mit Frauenärzt*innen vernetzt. In den gynäkologischen Praxen hingegen fehlt häufig die Zeit für die aufwändige Verhütungsberatung vulnerabler Gruppen. Hier ist eine bessere Zusammenarbeit zwischen Beratungsstellen und Frauen*ärztinnen gefragt. Denkbar wäre auch eine regelmäßige Rotation von Ärzt*innen in die entsprechenden Beratungsstellen zur Unterstützung
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und Schulung des Personals vor Ort. In Zeiten zunehmender Migration bedarf es eines allzeit online oder telefonisch verfügbaren Dolmetscherdienstes im Gesundheitswesen, um die häufig bestehende sprachliche Barriere zu überwinden. Ebenso wäre es sinnvoll, das Gesundheitspersonal im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu schulen, um ein besseres Verständnis für kulturelle Gegebenheiten zu schaffen und so den Zugang zu entsprechenden Patientinnen zu vereinfachen. Nicht zu vergessen ist der Kostenfaktor. Neben einer professionellen und individualisierten Verhütungsberatung ist die Kostenübernahme der Kontrazeptiva für vulnerable Gruppen vorauszusetzen. Ohne Verhütungsberatung fällt die Wahl eines geeigneten Kontrazeptivums schwer. Selbstbestimmte Familienplanung und damit auch Verhütungsberatung sind Menschenrechte. Diese gilt es konsequent umzusetzen, um die Gesundheit und das Wohlergehen von Millionen Frauen und Mädchen zu schützen und darüber hinaus ihre Gleichberechtigung voranzutreiben. Antworten auf die Eingangsfragen
1. C. 80 % 2. B. Afrika 3. D. Alle Antworten sind richtig
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Globaler Klimawandel und Frauengesundheit Bhargavi Chekuri, Natasha Sood, Cecilia Sorensen und Maryam En-Nosse
Inhaltsverzeichnis 4.1 E inführung 4.1.1 Begriffserläuterungen 4.2 Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit von Frauen 4.2.1 Allgemein 4.2.2 Extreme Temperaturen 4.2.3 Klimabedingte Katastrophen und erzwungene Migration 4.2.4 Ernährungsunsicherheit 4.2.5 Unsichere Wasserversorgung und Abwasserentsorgung 4.2.6 Infektionskrankheiten und durch Vektoren übertragene Krankheiten 4.3 Die Rolle von Geschlecht in der Klimapolitik und -planung 4.4 Zusammenfassung Literatur
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B. Chekuri Department of Family Medicine, Columbia University, Aurora, USA e-mail: [email protected] N. Sood Pennsylvania State University College of Medicine, Columbia University, Hershey, USA C. Sorensen Mailman School of Public Health, Columbia University, New York, USA e-mail: [email protected] M. En-Nosse (*) Luisenhospital Aachen, Uniklinik Freiburg, Freiburg, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_4
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Eingangsfragen
1. Für welche Gruppen verschlechtert der Klimawandel die derzeitigen globalen Gesundheits-Outcomes? A. Nicht-schwangere Frauen B. Sexuelle und geschlechtliche Minderheiten C. Schwangere Frauen D. Männer E. Alle oben genannten Gruppen 2. Welcher der folgenden Faktoren ist der wichtigste für die geschlechtsspezifischen Gesundheitsunterschiede, die sich durch den Klimawandel noch verschärfen? A. Schwangerschaftsstatus B. Geografische Lage C. Geschlechterungleichheit D. Exposition gegenüber Hitze E. Belastung durch klimabedingte Katastrophen 3. Welche der folgenden Strategien für Klimamaßnahmen tragen dazu bei, geschlechtsspezifische Gesundheitsunterschiede zu verringern? A. Erhebung geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselter Daten B. Förderung der Gleichstellung der Geschlechter C. Geschlechtsspezifische Politik D. Geschlechtsspezifisches Mainstreaming E. Alles, was oben genannt wurde
4.1 Einführung Es ist bekannt, dass der Klimawandel die gegenwärtigen globalen gesundheitlichen Ungleichheiten verschärft, und es wird zunehmend anerkannt, dass geschlechtsspezifische Auswirkungen mehr Verständnis und Aufmerksamkeit erfordern. Dieses Kapitel befasst sich mit geschlechtsspezifischen Unterschieden der gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels sowie mit Hinweisen auf Anpassungs- und Eindämmungsmaßnahmen, die die Gesundheit von Frauen und anderen sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten (SGM) fördern und schützen können. Diese Gruppen sind aufgrund einer Kombination direkter und indirekter Expositionen, die Unterschiede in den Gesundheitsbedürfnissen sowie Unterschiede in Verhaltensweisen, sozialen und kulturellen Konstrukten widerspiegeln, unverhältnismäßig stark von den Gesundheitsrisiken des Klimawandels betroffen. So haben Frauen beispielsweise besondere reproduktive Bedürfnisse und leben zudem häufiger in Armut, was sie anfällig für klimabedingte Gesundheitsrisiken wie Überschwemmungen, extreme Wetterereignisse, hitzebedingte Krankheiten, Dürren und sich verändernde Infektionskrankheiten macht. Dies gilt insbesondere für Länder mit
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niedrigem und mittlerem Einkommen, low and middle income countries (LMIC), in denen die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Regel am größten sind (WHO 2014). Es gibt große, nicht hinnehmbare Forschungslücken in Bezug auf die Auswirkungen des Klimawandels auf SGM, die aufgrund zusätzlicher Probleme wie Diskriminierung auf der ganzen Welt besonders gefährdet sein können (Goldsmith et al. 2021; Van Daalen et al. 2020). Obwohl Klimawandel, Armut und geschlechtsspezifische Ungleichheit komplexe globale Probleme sind, die sich gegenseitig verstärken können, bietet die Nutzung der einzigartigen Fähigkeiten und sozialen Rollen von Frauen und anderen SGM erhebliche Möglichkeiten für die Anpassung an den Klimawandel und den Klimaschutz (UNFCCC 2015). Die Integration geschlechtsspezifischer Perspektiven in Klimaschutzmaßnahmen und -programme hilft dabei, bestehende geschlechtsspezifische Unterschiede zu beseitigen, und bietet außerdem kostengünstigere, nachhaltigere Klimaschutzpläne, die eine verstärkte politische und soziale Zusammenarbeit fördern (Burns et al. 2017; Cook et al. 2019; UNFCCC 2015).
4.1.1 Begriffserläuterungen Biologisches Geschlecht (Sex) bezieht sich auf die biologischen Merkmale, die Menschen als weiblich oder männlich definieren. Geschlecht (Gender) bezieht sich auf die sozial konstruierten Eigenschaften, Normen, Rollen und Verhaltensweisen, die Frauen, Männern, Mädchen, Jungen und nicht-binären Menschen zugeschrieben werden. Da das Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, variieren die Vorstellungen darüber in Gesellschaften und über die Zeit (WHO o. J.). Sexuelle und geschlechtliche Minderheiten, sexual and gender minorities (SGM), beziehen sich im weiteren Sinne auf Bevölkerungsgruppen, deren sexuelle Orientierung und/oder Geschlechtsidentität sowie reproduktive Entwicklung außerhalb kultureller, gesellschaftlicher oder physiologischer Normen liegt (NIH o. J.; O’Malley und Holzinger 2018; Rushton et al. 2019). Gleichstellung der Geschlechter, gender equality, bezieht sich auf die gleichen Rechte, Pflichten und Möglichkeiten aller Geschlechter (U N Women o. J.; UNDP 2015). Geschlechtergerechtigkeit, gender responsive, bezieht sich auf Ergebnisse und Bemühungen zur Förderung einer gleichberechtigten Beteiligung sowie einer gleichberechtigten und fairen Verteilung von Vorteilen, die ein Verständnis von Geschlechterrollen und Ungleichheiten widerspiegeln (UNDP 2015). Gender-Mainstreaming wird von den Vereinten Nationen definiert als „der Prozess der Bewertung von Auswirkungen geplanter Maßnahmen auf Frauen und Männer, einschließlich Gesetzgebung, Politik oder Programme, in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Es handelt sich um eine Strategie, die darauf abzielt, die Belange und Erfahrungen von Frauen und Männern zu einem integralen Bestandteil der Ge-
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staltung, Umsetzung, Überwachung und Bewertung von Politik und Programmen in allen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen zu machen, damit Frauen und Männer gleichermaßen davon profitieren und Ungleichheiten nicht fortbestehen. Oberstes Ziel ist es, die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen.“ (U N Women o. J.; UNDP 2015).
4.2 Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit von Frauen 4.2.1 Allgemein Der Klimawandel wirkt sich auf die Gesundheit über verschiedene Expositionswege aus, darunter eine verschlechterte Luftqualität, veränderte Muster von durch Vektoren übertragenen Krankheiten, vector borne diseases (VBD), extreme Wetterereignisse, Waldbrände und Dürren. Diese Expositionswege verschärfen bestehende physiologische, kulturelle und sozioökonomische Vulnerabilitäten und wirken sich unverhältnismäßig stark auf die Gesundheit von Frauen auf der ganzen Welt aus. Zwar sind sowohl Männer als auch Frauen für die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels anfällig, doch sind Frauen aufgrund ihrer besonderen gesundheitlichen Bedürfnisse, wie z. B. der Ernährungsbedürfnisse während der Schwangerschaft, einem höheren Risiko ausgesetzt, unter klimabedingten Ereignissen zu leiden. Darüber hinaus sind Frauen in höherem Maße von Armut betroffen, was ihr Risiko für klimabedingte Expositionen zusätzlich erhöht. In 2015 lebten weltweit 736 Mio. Menschen in extremer Armut, mit dem größten geschlechtsspezifischen Gefälle (gender gap) in LMIC sowie unter Frauen im reproduktionsfähigen Alter (Weltbank 2018). Es wird erwartet, dass der Klimawandel bis 2030 weitere 32 bis 132 Mio. Menschen in extreme Armut treiben wird (Jafino et al. 2020). Ein Mangel an Daten über die Besonderheiten der Klimaauswirkungen auf Frauen führt unter diesen Umständen zu einem mangelnden Bewusstsein für ihre besonderen Bedürfnisse und Reaktionen (Sorensen et al. 2018). Die Messung der Krankheitslast durch klimasensible Ereignisse ist von entscheidender Bedeutung, um mehr Ressourcen für Klimaschutz- und Anpassungsleistungen für Frauen bereitzustellen (Chersich et al. 2020). Um die Gesundheit von Frauen in unserem sich verändernden Klima zu schützen, ist es entscheidend, dass sich lokale, nationale und sogar globale Entscheidungsträger und Mitarbeiter des Gesundheitswesens für geschlechtsspezifische Lösungen einsetzen (U N Women o. J.).
4.2.2 Extreme Temperaturen Der vom Menschen verursachte Klimawandel wird durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe verursacht, die zu einem beispiellosen Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre geführt hat, die inzwischen 410 Teile pro Million, parts per mil-
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lion (ppm), überschreitet (IPCC 2021a). Der Anstieg der CO2-Konzentration hat zu einer Erwärmung der Erdoberfläche um 1,1 °C gegenüber der vorindustriellen Zeit und zu einer Zunahme der Häufigkeit und Intensität extremer Hitzeereignisse geführt (IPCC 2021b). Extreme Hitzeereignisse führen zu einer Vielzahl gesundheitsschädlicher Auswirkungen, von denen viele Frauen unverhältnismäßig stark betroffen sind, was letztlich zu einem Anstieg ihrer Morbidität und Mortalität im Rahmen dieser Ereignisse führt (Van Steen et al. 2019) Bei Hitzewellen haben Frauen ein höheres Sterberisiko, was in erster Linie auf indirekte Effekte im Zusammenhang mit ungleicher Ressourcenverteilung zurückzuführen ist. Mit Ausnahme der reproduktiven Outcomes legt die globale Variabilität der Gesundheit von Frauen, die extremer Hitze ausgesetzt sind, nahe, dass gesundheitliche Ungleichheiten eher mit Unterschieden in den zugrundeliegenden sozialen und kulturellen Normen und mit der Gleichstellung der Geschlechter zusammenhängen als mit physiologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern (Global Gender and Climate Alliance 2016; „Mapped“ 2020). Es wurden einige Möglichkeiten beschrieben, wie sich soziale und kulturelle Normen auf die geschlechtsspezifischen Gesundheitsergebnisse von Personen auswirken können, die extremer Hitze ausgesetzt sind. Wenn Frauen während extremer Hitzeereignisse aufgrund sozialer und kultureller Normen isoliert sind, können sie außerdem eine höhere Sterblichkeitsrate als Männer haben (Sorensen et al. 2018). Die Auswirkungen hoher Temperaturen während der Schwangerschaft sind besonders schädlich, da die Hitzeexposition zu zahlreichen akuten und subakuten negative Folgen führen kann, wie z. B. Frühgeburt (Kuehn und Cormick 2017), angeborene Fehlbildungen, schwangerschaftsbedingter Bluthochdruck und Präeklampsie, niedriges Geburtsgewicht und peripartale Blutungen (Chersich et al. 2020; Cil und Cameron 2017). Der zeitliche Abstand zwischen der Hitzeexposition und dem Auftreten der Schäden kann Monate bis Jahre und Jahrzehnte betragen (Chersich et al. 2020). Hitze kann über die folgenden Mechanismen das Risiko hitzebedingter Morbidität und Mortalität bei Schwangeren erhöhen: • Schwangerschaftsbedingte physiologische und anatomische Veränderungen limitieren die Fähigkeit zur Thermoregulation und erhöhen die Anfälligkeit für Dehydrierung, maternale Hitzeerkrankungen und vorzeitige Wehentätigkeit (Bekkar et al. 2020; Chersich et al. 2020; Roos et al. 2021) • Hormonelle Veränderungen erhöhen die Produktion vasoaktiver Substanzen, die den Blutdruck beeinflussen, die Blutviskosität erhöhen und die Funktion der Endothelzellen beeinträchtigen. Dies verändert den Blutfluss in der Plazenta und kann die Neigung zu hypertensiven Krisen und Totgeburten erhöhen (Ha et al. 2017a). • Eine zusätzliche Exposition gegenüber übermäßiger Hitze kann den Blutfluss in der Gebärmutter verringern, was den Austausch zwischen Plazenta und Fötus und das fötale Wachstum weiter beeinträchtigt (Ha et al. 2017c).
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• Mit fortschreitender Schwangerschaft steigt die interne Wärmeproduktion mit dem fetalen und plazentaren Stoffwechsel an; diese erhöhte Körpermasse erfordert zusätzliche externe Kühlmaßnahmen (Chersich et al. 2020) • Hyperthermie ist teratogen und stört die normale Abfolge der Genaktivität während der Organogenese (Van Zutphen et al. 2012). Dies kann zu einem frühen Absterben des Fötus und Neuralrohrdefekten führen (Auger et al. 2017). Erhöhte Temperaturen können auch zu einem vorzeitigen Blasensprung (Ha et al. 2018), einer verminderten Fruchtwassermenge (Bekkar et al. 2020) oder einer vorzeitigen Plazentalösung führen (He et al. 2018). Studien zeigten, dass die Wahrscheinlichkeit einer Frühgeburt während Hitzewellen um das 1,16-Fache (95 % Konfidenzintervall 1,10 bis 1,23) erhöht ist (Chersich et al. 2020). Höhere Umgebungstemperaturen wurden auch mit erhöhten Raten von Infektionen mit Streptokokken der Gruppe B und kardiovaskulären Ereignissen bei schwangeren Frauen in Verbindung gebracht (Dadvand et al. 2011; Ha et al. 2017b). Schwangere Frauen mit Risikofaktoren wie jungem Alter, Schwangerschaftsbluthochdruck und Schwangerschaftsdiabetes sind einem erhöhten Risiko für Hitzeerkrankungen ausgesetzt (Basu et al. 2017). Infolge dieser Gesundheitsrisiken werden schwangere Frauen während Hitzewellen häufiger in die Notaufnahme eingeliefert (Davis und Novicoff 2018). Extreme Hitzeexposition in den letzten Wochen der Schwangerschaft scheint die größte Bedeutung für Frühgeburten und Totgeburten zu haben (Chersich et al. 2020). Einiges deutet darauf hin, dass schwangere Frauen in LMIC während der gesamten Schwangerschaft extremer Hitze ausgesetzt sind, da sie weniger Zugang zu gekühlten Orten und anderen Maßnahmen zur Hitzereduktion haben. In Ländern mit hohem Einkommen ist die Anfälligkeit für Hitze möglicherweise in den letzten Wochen der Schwangerschaft am stärksten ausgeprägt. (Chersich et al. 2020). Der Zusammenhang zwischen Hitze und ungünstigen Schwangerschaftsergebnissen ist in LMIC besonders ausgeprägt (Chawanpaiboon et al. 2019). Ein niedriger sozioökonomischer Status erhöht das relative Risiko einer hitzebedingten Frühgeburt weltweit, und in den hochentwickelten Ländern haben ethnische Ungleichheiten einen ähnlichen verstärkenden Effekt (Basu et al. 2017; Chersich et al. 2020). Dies kann auf historisch bedingte Ungleichheiten in Bezug auf das berufliche Umfeld, die Wohnsituation und andere Erscheinungsformen der Marginalisierung aufgrund von systemischem Rassismus zurückzuführen sein (Cushing et al. 2022). Externe Faktoren wie begrenzter Zugang zu Schatten, insbesondere in städtischen Gebieten (Cushing et al. 2022), Abkühlung und Hindernisse beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und zur Schwangerenvorsorge vergrößern die Anfälligkeit von Frauen für hitzebedingte Gesundheitsauswirkungen. Darüber hinaus können Frauen in den LMIC, die während der Schwangerschaft häufig weiterhin den Großteil der Hausarbeit verrichten (z. B. Holz- und Wasserbeschaffung, Landwirtschaft), über längere Zeiträume extremer Hitze ausgesetzt sein (Chersich et al. 2020). Die
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Exposition gegenüber extremer Hitze bei landwirtschaftlichen oder anderen Arbeiten im Freien kann bereits vor der Feststellung der Schwangerschaft erfolgen. Spät in der Schwangerschaft arbeiten Frauen möglicherweise über ihre Hitzetoleranzgrenze hinaus, um Lohneinbußen zu vermeiden (Flocks et al. 2013). Extreme Hitze hat erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen und kann während der Schwangerschaft besonders schädlich sein. Assoziationen zwischen sozioökonomischem Status, strukturellem Rassismus, ethnischen Minderheiten und hitzebedingten Krankheiten während der Schwangerschaft sind besonders ausgeprägt.
4.2.3 Klimabedingte Katastrophen und erzwungene Migration Klimabedingte Katastrophen, darunter Wirbelstürme, Waldbrände, Dürren und Überschwemmungen, haben seit 1970 um das Fünffache zugenommen (Zhongming und Wei 2021). Von 2017 bis 2019 stieg die Zahl der von Naturkatastrophen betroffenen Menschen von 129 Mio. auf 134 Mio., und ein Viertel der Betroffenen waren Frauen im gebärfähigen Alter (UNOCHA 2017). Bereitschaftspläne, die speziell auf die Bedürfnisse von Frauen in Katastrophen- und Notfallsituationen eingehen, sind unterentwickelt, dabei sind Frauen sowohl in ressourcenarmen als auch in ressourcenreichen Umfeldern unverhältnismäßig stark betroffen (Sorensen et al. 2018). Weltweit leiden Frauen unverhältnismäßig stark unter Katastrophen, und weibliche Überlebende haben eine geringere Lebenserwartung als männliche (Erman et al. 2021). Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Katastrophen stehen in direktem Zusammenhang mit der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und dem sozioökonomischen Status (Neumayer und Plümper 2007). In LMIC sterben Frauen häufiger durch extreme Katastrophen als in Ländern mit hohem Einkommen, High Income Countries (HIC) (WHO 2002), aufgrund der eingeschränkten Mobilität und des eingeschränkten Zugangs zu Informationen über die Katastrophenvorsorge und zu öffentlichen Notunterkünften (Erman et al. 2021). Diese Faktoren werden noch erschwert durch den Gesundheitszustand, den Alphabetisierungsgrad, Kommunikationsbarrieren in Sprache oder Dialekt, den wirtschaftlichen Status und durch Betreuungsaufgaben, die ihre Fähigkeit zur sofortigen Flucht im Katastrophenfall beeinträchtigen (Global Gender and Climate Alliance 2016; Moosa und Tuana 2014). Nach einer Katastrophe kann Ernährungsmangel bei Frauen zu schlechteren Outcomes und erhöhter Vulnerabilität führen (Raham 2013). Schwangere Frauen, die nach einer Katastrophe entbinden, haben ein höheres Risiko für Komplikationen wie Präeklampsie und niedriges Geburtsgewicht (Tong et al. 2011). Beschädigte Einrichtungen führen zu einer beeinträchtigten pränatalen und peripartalen Versorgung (Harville et al. 2009). Kulturelle und soziale Normen und Überzeugungen im Zusammenhang mit der Menstruation werden mit Gesundheitsproblemen wie Infektionen im Genitalbereich und Harnwegsinfektionen aufgrund fehlender sanitärer Einrichtungen in Verbindung gebracht (WHO 2002).
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Mehr als die Hälfte, d. h. 21 Mio., der Binnenvertriebenen Ende 2018 waren Frauen und Mädchen, und die meisten von ihnen stammten aus LMIC (Cazabat 2020; UNHCR 2021). Erzwungene Migration und wiederholte Umzüge über kurze Entfernungen sind für die gesundheitlichen Folgen besonders für Frauen bedeutsam, da sie soziale Unterstützungssysteme und Familiennetzwerke unterbrechen (WHO 2002). Dies wird bei niedrigem sozioökonomischem Status noch verschärft. Darüber hinaus sind Frauen möglicherweise nicht in der Lage, in Gebiete mit besseren wirtschaftlichen Lebensbedingungen zu migrieren, und diejenigen, die migrieren, müssen sich auf der Durchreise oder in ungewohnten neuen Umgebungen um ihre Kinder und älteren Menschen kümmern (Lemery et al. 2021). Frauen werden auch tendenziell von der Erwerbsbevölkerung nach einer Katastrophe ausgeschlossen und leiden unter einer stagnierenden wirtschaftlichen Lebenssituation (Sorensen et al. 2018). Dies ist physiologisch und psychologisch belastend und führt zu schlechten gesundheitlichen Outcomes, die durch den Mangel an Gesundheitsdiensten, Unterkünften und sanitären Einrichtungen während der Migration noch verschlimmert werden (Sorensen et al. 2018). Nach klimabedingten Katastrophen sind Mädchen, Frauen und andere SGM einem höheren Risiko für sexuelle Gewalt, sexuelle Ausbeutung, körperlichen und sexuellen Missbrauch, Menschenhandel sowie einem höheren Risiko für häusliche Gewalt und Gewalt in der Partnerschaft ausgesetzt (IFRC 2007; Velasco und Dupar 2021). Frauen und Mädchen können im Tausch gegen Grundbedürfniss wie Nahrung, Unterkunft und Sicherheit zu Sex gezwungen werden (WHO 2002). Infolgedessen besteht für Frauen ein erhöhtes Risiko, sich mit HIV zu infizieren, vor allem in ressourcenarmen Gebieten, und sie haben möglicherweise keinen Zugang zu den üblichen Medikamenten, was zu schwerwiegenden Komplikationen der HIV-Infektion führen kann (Joshi et al. 2020). Frauen können auch einen eingeschränkten Zugang zu Verhütungsmitteln (Ellington et al. 2013), Familienplanungseinrichtungen und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen haben, wenn die Kliniken beeinträchtigt sind (Joshi et al. 2020; Leyser-Whalen et al. 2020). Zuletzt treten bei Frauen auch häufiger psychische Störungen wie Depressionen, Angstzustände und posttraumatische Belastungsstörungen nach klimabedingten Katastrophen auf, insbesondere bei Frauen mit geringer sozialer Unterstützung (McGuire et al. 2018).
4.2.4 Ernährungsunsicherheit Ernährungssicherheit ist erreicht, wenn eine Person physischen und wirtschaftlichen Zugang zu ausreichender, sicherer und nahrhafter Nahrung hat, die den Anforderungen eines gesunden Lebens entspricht (FAO 2019). Die LMIC tragen die globale Last der Unterernährung und der Ernährungsunsicherheit. Dennoch ist die Ernährungssicherheit wichtig für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen sowohl in den HIC als auch in den LMIC (FAO 2011).
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Obwohl Frauen einen wichtigen Beitrag zur lokalen und globalen Ernährungssicherheit leisten – sie produzieren die Hälfte der weltweiten Nahrungsmittel – gehören sie zu den am stärksten von Ernährungsunsicherheit betroffenen Bevölkerungsgruppen (Visser und Wangu 2021). Die COVID-19-Pandemie hat die akute Ernährungsunsicherheit in den Jahren 2020/2021 drastisch erhöht (Visser und Wangu 2021). Derzeit sind 60 % der chronisch hungernden Menschen in der Welt Frauen und Mädchen (Visser und Wangu 2021) und sie sind in allen Aspekten der Ernährungssicherheit gefährdet: Verfügbarkeit, Zugang, Nutzung und Stabilität (OXFAM 2019). Obwohl Frauen eine entscheidende Rolle bei der Nahrungsmittelproduktion und der Ernährungssicherheit der Haushalte spielen (durch unbezahlte Arbeit in landwirtschaftlichen Familienbetrieben und in der häuslichen Pflege sowie durch bezahlte Hausarbeit sind weniger als 13 % des landwirtschaftlichen Bodens im Besitz von Frauen, was auf soziopolitische, diskriminierende Maßnahmen und Praktiken bezüglich des Zugangs zu Landbesitz zurückzuführen ist (UN 2020; UNDP 2016). Dies hat zur Folge, dass Frauen von landwirtschaftlichen Verträgen, Landbesitz, Zugang zu Technologie und finanziellen Anreizen ausgeschlossen sind (FAO 2011). Darüber hinaus schränken festgefahrene Geschlechternormen die Möglichkeiten von Frauen im landwirtschaftlichen Bereich ein, ebenso in der Entscheidungsfindung in Bezug auf Ressourcen, Haushaltseinkommen und -ausgaben, und begrenzen ihren Zugang zu Krediten (Visser und Wangu 2021). Der Klimawandel droht diese bestehende Ungleichheit in der Ernährungssicherheit zu verschärfen, da er steigende Temperaturen und sich verändernde Niederschlagsmuster fördert, die Ernteerträge von Feldfrüchten, Viehzucht und Fischerei beeinträchtigt und die Ernährungssicherheit auf der ganzen Welt gefährdet (Lemery et al. 2021). Weltweit leiden Frauen von Anfang an unter höheren Raten von Anämie und Unterernährung und sind aufgrund ihres erhöhten Nährstoffbedarfs während der Menstruation, Schwangerschaft und Stillzeit besonders anfällig für klimabedingte Ernährungsunsicherheit. Ernährungsunsicherheit wurde mit einer geringeren Aufnahme von Mikronährstoffen bei Frauen in Verbindung gebracht (Ivers und Cullen 2011). Die Ernährungsunsicherheit kann durch kulturelle Praktiken noch verschärft werden, die der Ernährung von Männern und Kindern Vorrang vor der von Frauen einräumen, was zu einer Zunahme von Anämie bei Frauen führt (FAO 2019). Anämie wird mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen, chronischer Müdigkeit, depressiver Stimmung, ungünstigen kardiovaskulären Ereignissen und erhöhter matenler Morbidität und Mortalität in Verbindung gebracht (Benson et al. 2021). Schlechte Schwangerschaftsoutcomes im Zusammenhang mit Ernährungsunsicherheit können auf einen erhöhten Nährstoffbedarf, Schwierigkeiten bei der Nahrungszubereitung und die Notwendigkeit für schwangere Frauen zurückzuführen sein, später in der Schwangerschaft aus dem Berufsleben auszuscheiden, was zu einer finanziellen Belastung führt (Laraia et al. 2006). Frauen stellen in den LMIC mehr als 40 % der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte weltweit, was die Nahrungsmittelknappheit sowohl zu einem gesundheitli-
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chen als auch zu einem wirtschaftlichen Problem macht. Da sich die klimatischen Bedingungen negativ auf die landwirtschaftlichen Erträge auswirken, wird der Zugang von Frauen zu Nahrungsmitteln und wirtschaftlichem Wohlstand weiter eingeschränkt (FAO 2011). Frauen in LMIC und ländlichen Gebieten sind auch mit geschlechtsspezifischen Mobilitätseinschränkungen konfrontiert (Diiro et al. 2018), was ihre Abhängigkeit von Männern bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln erhöht. Frauen, die einer anhaltenden Ernährungsunsicherheit ausgesetzt sind, erleben mit größerer Wahrscheinlichkeit Gewalt zu Hause und/oder sind gezwungen, mittels Sexarbeit Nahrung für sich oder ihre Kinder zu sichern (Miller et al. 2011; Weiser et al. 2007). Hindernisse beim Zugang zu Bildung rund um Ernährung verschlimmern die Ernährungsunsicherheit bei Frauen (Visser und Wangu 2021). Frauen sind aufgrund geschlechtsspezifischer und kultureller Normen besonders anfällig für Ernährungsunsicherheit, vor allem in LMIC. Die Beseitigung dieser Hindernisse ist entscheidend für das Verständnis der gesundheitlichen Herausforderungen, die Ernährungsunsicherheit für Frauen darstellt, und bietet eine Grundlage für die Schaffung widerstandsfähiger Ernährungssysteme.
4.2.5 Unsichere Wasserversorgung und Abwasserentsorgung In den LMIC tragen Frauen und Mädchen die Hauptverantwortung für die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung im Haushalt, Water Sanitation Hygiene (WASH) (UN 2021b). Die Situation der Süßwasserressourcen ist weltweit angespannt, und in der Nähe von Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte herrscht zunehmende Knappheit. Bis zu 1,7 Mrd. Menschen haben derzeit keinen Zugang zu einer angemessenen Frischwasserversorgung (UN 2021a). Dies führt weltweit zu einer hohen Krankheitslast durch unsicheres Wasser, schlechte sanitäre Einrichtungen und mangelnde Hygiene (WRI 2019). Da die Zahl der Menschen, die in wasserarmen Gebieten leben, zunimmt, führt die Wasserknappheit zu einer Vielzahl von Auswirkungen. Es wird geschätzt, dass eine fünfköpfige Familie 100 Liter Wasser pro Tag benötigt, welche100 kg wiegen (WHO 2014). Frauen sind weitgehend für die Beschaffung und Nutzung von Wasser im Haushalt verantwortlich, wobei die durchschnittliche Transportzeit für das Wasserbeschaffen bis zu 54 min beträgt (Holvoet et al. 2016). In einigen Regionen kann das Wasserholen bis zu 85 % der täglichen Energiezufuhr einer Frau verbrauchen (Duncan 2006). Da sich die Wasserverfügbarkeit ändert, können Frauen gezwungen sein, Wasser aus geografisch und biologisch gefährlicheren Quellen zu holen. Frauen sind beim Wassertransport oder bei der Abwasserentsorgung einem erhöhten Risiko von Missbrauch oder Angriffen ausge-
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setzt, da sie häufig nachts die Abwassereimer leeren, was die Gefahr von Gewalt und sexuellen Übergriffen erhöht (UN 2021b; Winter et al. 2019). Der Begriff Wassersicherheit berücksichtigt vier Bereiche: Verfügbarkeit, Zugang, Nutzung und Stabilität des Zugangs über die Zeit (Young et al. 2021). Wasserunsicherheit liegt vor, wenn in einem dieser Bereiche Barrieren auftreten. Frauen sind besonders anfällig für das Fehlen einer sicheren und ausreichenden Wasserversorgung, da sie die zeitaufwändige Verantwortung für die Suche und den Transport von Wasser tragen, wodurch ihnen weniger Zeit für andere Aktivitäten wie Beschaffung des Lebensunterhalts, Bildung und andere Tätigkeiten bleibt (UN 2021b; Shiva und Jalees 2005). Dies erhöht gleichzeitig ihre Exposition gegenüber Umweltstressoren wie hitzebedingten Krankheiten oder Dehydrierung, was in der Schwangerschaft besonders schädlich ist (Kuehn und McCormick 2017). Als Hauptwasserversorgerinnen sind Frauen einem erhöhten Risiko für muskuloskelettale Schäden ausgesetzt (Geere et al. 2018). Darüber hinaus kann der begrenzte Zugang zu Ressourcen für die Menstruationshygiene und die Bedürfnisse während der Schwangerschaft Frauen und Mädchen dazu zwingen, aus Angst vor Gewalt, Übergriffen oder Stigmatisierung keine Hygiene zu praktizieren (Winter et al. 2019). Weltweit erhöhen schlechte WASH-Praktiken das Risiko von durch Wasser übertragene Krankheiten (z. B. Cholera, bakterielle Infektionen) (Mahamud et al. 2012). Die Abhängigkeit von biologisch verunreinigtem Wasser kann sowohl zur Übertragung von Krankheiten als auch zur direkten Aufnahme von Giftstoffen führen (Duncan 2006), was durch Wasserknappheit, noch verstärkt wird. Kulturelle Beschränkungen, die die Bedürfnisse von Männern und Kindern in den Vordergrund stellen, gefährden Frauen in Folge der Wasserknappheit am meisten (Lemery et al. 2021). Weltweit kann der wirtschaftliche Zugang zu Wasser durch Armut, die Kastenzugehörigkeit, Vorschriften für Frauen, die ohne Begleitung außerhalb des Hauses leben, oder andere gesellschaftspolitische Prozesse eingeschränkt sein (Young et al. 2021). In Nordamerika sind vor allem Schwarze (Black), Indigene (Indigenous) und People of Colour (BIPOC) von Wasserunsicherheit betroffen (Meehan et al. 2020; Young et al. 2021). Frauen sind übermäßig häufig belastet durch einen schlechten Zugang zu WASH, was sich in einer unverhältnismäßig hohen Gesundheitsbelastung für Frauen niederschlägt. Es muss mehr getan werden, um die Intersektionalität zwischen Wasser und Geschlecht zu verstehen, denn die Beseitigung der WASH-Ungleichheiten, denen Frauen ausgesetzt sind, ist ein entscheidender Faktor für die Verwirklichung von Geschlechter- und Gesundheitsgerechtigkeit im 21. Jahrhundert.
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4.2.6 Infektionskrankheiten und durch Vektoren übertragene Krankheiten Infektionskrankheiten und VBD stellen eine große Belastung für LMIC dar, wobei HIC ebenso gefährdet sind. Steigende globale Temperaturen und veränderte Niederschlagsmuster verändern die geografische Verteilung von Vektoren, die menschliche Krankheiten übertragen. VBD können durch Arthropoden wie Moskitos, Zecken und Flöhe auf den Menschen übertragen werden. Die Prävalenz von VBD wie Malaria, Borreliose, Dengue-Virus und Zika-Virus nimmt zu und breitet sich auf neue geografische Gebiete aus. Frauen sind aus verschiedenen physiologischen und kulturellen Gründen überproportional anfällig für VBDs. Da Frauen die Hauptverantwortlichen für die Wasserbeschaffung sind, halten sie sich häufig in der Nähe von stehenden Wasserquellen und anderen Bereichen auf, die sie in engen Kontakt mit Mückenbrutstätten bringen können (Gunn et al. 2018). Schwangere Frauen sind besonders anfällig für durch Moskitos übertragene Krankheiten, da sie während der Schwangerschaft mehr CO2 produzieren (CO2 ist ein Chemo-Lockstoff für Moskitos) und der periphere Blutfluss erhöht ist. Schwangere Frauen sind anfälliger für Moskitostiche und haben daher ein höheres Risiko, sich mit VBD zu infizieren (Lindsay et al. 2000; Mbonye et al. 2006). Einmal infiziert, besteht für schwangere Frauen ein höheres Risiko für Komplikationen und schwerere Erkrankungen durch eine Vielzahl von Krankheiten wie Malaria, Zika und Dengue-Fieber. Schwangere Frauen haben ein höheres Risiko, an schwerer Malaria zu erkranken, als infizierte nicht schwangere Frauen (O’Kelly und Lambert 2020), und die Entwicklung von hämorrhagischem Dengue-Fieber ist bei schwangeren Frauen um das 3,4-Fache erhöht (Machado et al. 2013). Dengue-Virus-Infektionen in der Schwangerschaft sind mit einem erhöhten Risiko für intrauterine Wachstumsstörungen, Eklampsie, Kaiserschnittentbindung und postpartale Blutungen verbunden. Hormonell bedingte Veränderungen des Immunsystems führen bei einer Malariainfektion zu einer höheren Intensität der Parasitämie (Lindsay et al. 2000; Mbonye et al. 2006). Das Zika-Virus, das verheerende Auswirkungen auf den Fötus hat, darunter Mikrozephalie, Fehlbildungen des Zentralnervensystems und eine beeinträchtigte kognitive Entwicklung (Petersen et al. 2016), hat in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen. Mütterlicherseits kann eine Infektion während der Schwangerschaft zu akutem Hautausschlag, Fieber und Myalgien und selten zu neurologischen Komplikationen wie dem Guillain-Barré-Syndrom führen. (Pomar et al. 2019). Der eingeschränkte oder gänzlich fehlende Zugang zu pränataler und geburtshilflicher Versorgung verschlechtert die Schwangerschafts- und Geburtsergebnisse in diesem Umfeld weiter. Die Auswirkungen von extremer Hitze, Luftverschmutzung, extremen Wetterbedingungen (z. B. Katastrophen, erzwungene Migration) und durch Vektoren übertragenen Krankheiten auf Frauen sind in der Abb. 4.1 zusammengefasst.
Abb. 4.1 Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit von Frauen nach Expositionspfaden. (Created by: Natasha Sood, MPH, Emily Sbriolo, MD, Celilica Soerensen, MD)
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4.3 Die Rolle von Geschlecht in der Klimapolitik und -planung Frauen und andere geschlechtsspezifische Minderheiten spielen eine wesentliche Rolle bei der Abschwächung des Klimawandels und der Anpassung daran, da sie unschätzbare Fachkenntnisse und Führungsqualitäten mitbringen, die notwendig sind, um Fortschritte in den miteinander verknüpften Bereichen Armut, gesundheitliche Ungleichheiten, Wassersicherheit, Ernährungssicherheit, Energiewende und Gleichstellung der Geschlechter zu erzielen. Die Einbeziehung geschlechtsspezifischer Minderheitenperspektiven in alle klimapolitischen Maßnahmen durch Gender-Mainstreaming ist entscheidend für die Verbesserung der Gesundheit in den Gemeinschaften auf der ganzen Welt. Die Verbesserung des aktuellen Wissensstandes über die geschlechtsspezifischen Auswirkungen des Klimawandels und die Durchführung umfassender Bewertungen der Stärken, Schwachstellen, Chancen und Gefahren für Frauen und andere Minderheiten ist ein grundlegender Schritt, um Fortschritte zu erzielen. Wenn Frauen in die Entwicklung von Klimalösungen einbezogen und befähigt werden, Führungspositionen einzunehmen, verbessert sich die Gleichstellung der Geschlechter und die Wirksamkeit von klimabezogenen Projekten und Maßnahmen (Cook et al. 2019). Einige Studien haben beispielsweise gezeigt, dass Länder, in denen mehr Frauen in Führungspositionen sind, einen geringeren nationalen Kohlenstoff-Fußabdruck oder mehr geschützte Landflächen haben (Global Gender and Climate Alliance 2016). Ebenso ist es wahrscheinlicher, dass Unternehmen Informationen über Kohlenstoffemissionen offenlegen, wenn mehr Frauen in Unternehmensvorständen vertreten sind (Global Gender and Climate Alliance 2016). Wenn Frauen nicht an diesen Prozessen beteiligt sind, sind Klimaaktionspläne hingegen oft weniger wirksam und bestehende geschlechtsspezifische Unterschiede werden noch größer (Buckingham et al. 2005; UNFCCC 2015).
4.4 Zusammenfassung Der Klimawandel verschärft die derzeitigen geschlechtsspezifischen Gesundheitsunterschiede durch eine Vielzahl von Expositionswegen. Diese Ungleichheiten sind in erster Linie auf bestehende soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische geschlechtsspezifische Ungleichheiten zurückzuführen. Schwangerschaft und andere Bedürfnisse an die reproduktive und sexuelle Gesundheit stellen eine zusätzliche Gefährdung für Frauen und andere sexuelle und geschlechtliche Minderheiten dar. Die Erkenntnisse darüber, wie sich der Klimawandel auf Frauen auswirkt und wie das Fachwissen von Frauen genutzt werden kann, um die Gesundheitsoutcomes und die Klimaschutzmaßnahmen zu verbessern, müssen gestärkt werden. Gender- Mainstreaming ist die von der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen und anderen internationalen Gremien beschlossene Politik zur Verbesserung der geschlechtsspezifischen Unterschiede im Gesundheitsbereich. Wenn sich Staaten zum Gender-Mainstreaming verpflichten, werden Klimamaßnahmen nachweislich häu-
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figer und nachhaltiger durchgeführt. Es ist dringend notwendig, besser zu verstehen, wie sich der Klimawandel auf Frauen und andere sexuelle und geschlechtliche Minderheiten auswirkt, und komplexere multidimensionale und nicht-binäre soziale Schnittstellen zu erforschen, die die Klimareaktionen von Gemeinschaften vorantreiben. Schließlich ist das Gender-Mainstreaming zwar ein wesentlicher Weg zur Gleichstellung der Geschlechter, aber der Fortschritt wird gebremst, wenn die Nationen weiterhin nur langsam Fortschritte bei der Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 °C machen. Antworten auf die Eingangsfragen
1. E. Alles oben Genannte. Der Klimawandel verschlechtert die globalen Gesundheitsergebnisse für Männer, Frauen und andere sexuelle und geschlechtliche Minderheiten. Der Klimawandel verschlimmert auch die bestehenden geschlechtsspezifischen Gesundheitsunterschiede. 2. C. Geschlechtergleichheit. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist der Grund für die bestehenden geschlechtsspezifischen globalen Gesundheitsunterschiede, die sich durch den Klimawandel noch verschärfen. 3. E. Alles oben Genannte.
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Eine holistische Sicht auf Frauengesundheit in einer sich schnell verändernden Welt Detlev Ganten und Britta Rutert
Inhaltsverzeichnis 5.1 Einführung – Frauengesundheit in einer sich schnell verändernden Welt 5.2 Globale Gesundheit und der World Health Summit 5.3 Gesundheit ist mehr als Medizin: eine Formel, die Gesundheit neu definiert 5.4 Die Gesundheit von Frauen in Kontext der globalen Gesundheit 5.5 Zusammenfassung Literatur
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5.1 Einführung – Frauengesundheit in einer sich schnell verändernden Welt Die Welt verändert sich aktuell schneller denn je. Die COVID-19-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, Waldbrände in Kalifornien oder Brandenburg, Hochwasser und Starkregen in allen Teilen der Welt – kaum ein Tag vergeht ohne neue bedrohliche Schlagzeilen in den Medien und deren reale Auswirkungen auf die gesamte Welt, einzelne Staaten und Gemeinschaften. Immer sind Gesundheit und Leben von Familien und einzelnen Menschen, Frauen, Männern und Kindern direkt betroffen. In fast allen Ländern tragen Frauen mit ihren Kindern die größte Gefahr und schwerste Last für Leib, Leben und Gesundheit. Klimawandel, zunehmende Umweltzerstörung in vielerlei Hinsicht und menschenunwürdige Lebensbedingungen in Städten und auf dem Lande sowie immer wieder auftretende Epidemien zeigen,
D. Ganten · B. Rutert (*) Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), Berlin, Deutschland e-mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_5
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D. Ganten und B. Rutert
dass ein Umdenken stattfinden muss, um die Zukunft dieses Planeten zu sichern und menschenwürdige Lebensbedingungen zu ermöglichen. Die Auswirkungen der zunehmenden lokalen und globalen Krisen beeinflussen alle Sphären des Lebens, von Wirtschaft und Politik zu Verkehr und Mobilität, bis in das Gesundheits- und Bildungssystem. Wenn Gesundheit nicht mehr als verlässliche Komponente gesellschaftlichen Lebens angeboten werden kann, können die verschiedenen Bereiche der gesellschaftlichen Funktionen nicht mehr stabil agieren und die Funktionalität von Gesellschaft und Individuum ist grundsätzlich gefährdet. Gesundheit des Menschen ist nur möglich auf einem gesunden Planeten, daher ist es notwendig, um ein Überleben der nachfolgenden Generationen zu sichern, das Thema Gesundheit ganzheitlich, holistisch, stärker im Bewusstsein und Handeln der globalen Politik zu verankern. Die Gesundheit von Frauen ist dabei stets besonders gefährdet und besonders wichtig in der Fürsorge für die Kinder und die Familie. Insbesondere Frauen des globalen Südens sind, wie dieses Buch zeigt, oftmals besonders vulnerabel. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit globaler Gesundheit und besonders mit der Rolle von Frauen in einer sich stark und immer schneller verändernden Welt. Dabei wird Bezug genommen auf den World Health Summit (WHS) in Berlin, der sich der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen (UN) im Sinne einer holistischen Sicht auf Gesundheit in besonderer Weise verschrieben hat. Um mit der Komplexität des breiten Themas globale Gesundheit besser und systematischer umgehen zu können, wurde eine „Gesundheitsformel“ entwickelt und kürzlich publiziert (Ganten und Rutert „Neustart! Für die Zukunft unseres Gesundheitswesens“ (2021), Niehaus und Ganten „Die Gesundheitsformel“ (2014)). Diese Formel schafft natürlich nicht auf wundersame Weise Gesundheit, sondern sie hilft, die Komplexität dieses großen Bereiches in neuer Systematik zu erfassen, besser zu verstehen und an spezifischen Punkten anzusetzen, um zu einer Verbesserung der Situation beizutragen, ohne die holistische Komplexität aus dem Auge zu verlieren. Die Nachhaltigkeitsziele der UN in Verbindung mit der Gesundheitsformel können so helfen, die Gesundheit von Frauen von einer ganzheitlichen Sicht aus zu betrachten, in der Umwelt, Biologie und Verhalten eine genauso große Rolle spielen wie sozio-ökonomische Ungleichheiten. Sie können so als ein spezifischer Ansatz für Interventionen und für praktische Verbesserungen dienen.
5.2 Globale Gesundheit und der World Health Summit Der World Health Summit (WHS) findet seit 2009 jährlich in Berlin statt und bringt bis zu 6000 Delegierte aus der ganzen Welt zusammen. Ziel ist es, über die Entwicklungen und Herausforderungen globaler Gesundheit zu diskutieren. Der WHS hat sich einer holistischen Sicht auf Gesundheit verpflichtet. Das heißt, globale Gesundheit wird hier in einem interdisziplinären Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik, privatem Sektor und Zivilgesellschaft gesehen, Verbesserungen diskutiert und die Ergebnisse für alle Menschen zugänglich gemacht.
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Der World Health Summit wird von der Charité in Berlin organisiert und ist eingebunden in das internationale, weltweite akademische Netzwerk der „M8 Allianz“ von über 30 akademischen Gesundheitszentren, Universitäten und weltweit allen 130 Akademien der Wissenschaften und der Medizin. Mit den WHS Regional Meetings in aller Welt, verschiedenen Symposien von Experten und den M8 Alliance Statements beeinflusst der WHS maßgebliche Entwicklungen der Globalen Gesundheit in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in Forschung und Praxis verschiedene holistische Ansätze entwickelt, die sich alle explizit mit der Komplexität, dem Kontinuum und den Zusammenhängen zwischen biologischen, sozioökonomischen und ökologischen Systemen im Bereich Gesundheit befassen: „One Health“ behandelt vorrangig die wechselseitigen Abhängigkeiten von menschlicher Gesundheit, Pflanzengesundheit und Tiergesundheit; „Planetary Health“ betont die Zusammenhänge zwischen der menschlichen Gesundheit und einer intakten Umwelt, insbesondere auch die Folgen des Klimawandels; „Global Health“ stellt darüber hinaus die gesundheitliche Chancengleichheit und umfassende Gesundheitsstrategien auf dem gesamten Planeten in den Mittelpunkt. Koplan et al. (2009) definieren globale Gesundheit als “… an area for study, research, and practice that places a priority on improving health and achieving health equity for all people worldwide”. Mit dieser Definition unterscheidet sich globale Gesundheit von weiteren Begrifflichkeiten wie internationaler Gesundheit (international health) oder öffentlicher Gesundheit (public health) durch den Blick auf den gleichen Zugang zu Gesundheitsversorgung für alle (Beaglehole und Bonita 2010). Ansätze wie Universal Health Coverage, der universale Zugang zu Gesundheitsversorgung (WHO 2021), oder der health-in-all-policy-approach, der Versuch, Gesundheit flächendeckend in alle wichtigen politischen Strategien zu integrieren (HiaP approach 2014), werden vom World Health Summit unterstützt. Gesundheitsversorgung sollte für alle Menschen in gleichem Maße zugänglich sein und muss daher in alle Bereiche des Lebens einbezogen werden. Diese Ansätze sind auch zentrale Schritte in dem Versuch, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Die 2015 durch die Vereinten Nationen definierten Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) haben globale Gesundheit zu einem der zentralen Themen gemacht. Die insgesamt 17 Ziele decken eine breite Palette von Themen ab. Handlungsfelder sind beispielsweise der verstärkte Einsatz für Frieden und Rechtsstaatlichkeit (SDG 16), Bildung für alle (SDG 4), der Schutz unseres Klimas und unserer Ressourcen (SDG 13) oder Geschlechtergleichheit (SDG 5). „Gesundes Leben und Wohlergehen für alle“ (SDG 3) ist mit allen anderen Zielen verbunden. Krankheit ist beispielsweise sowohl Ursache als auch Konsequenz von Armut, und Gesundheit ist eine wichtige Grundlage für wirtschaftliche Entwicklung. Wegen dieser engen Verknüpfung können nur durch ganzheitliche Ansätze, die die Wechselwirkungen berücksichtigen, Fortschritte im Hinblick auf die einzelnen Ziele erzielt werden.
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5.3 Gesundheit ist mehr als Medizin: eine Formel, die Gesundheit neu definiert Gesundheit ist ein komplexes Gebilde. Und doch, wie es der Literatur- und Theaterkritiker Ludwig Börne im 19. Jahrhundert ausdrückte: „Es gibt tausend Krankheiten, aber nur eine Gesundheit“ (Börne 1862, S. 195). Was genau ist aber nun diese Gesundheit (van der Eijk et al. 2021)? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte Gesundheit als einen „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und die Abwesenheit von Krankheit“ (WHO 2006). Diese Definition beinhaltet einen optimalen Zustand, der jedoch kaum je erreicht wird und der die kulturellen Aspekte des Gesundheitsverständnisses sowie (Umwelt-)Bedingungen außen vorlässt. In diesem Kapitel wird daher eine weitere Definition von Gesundheit angeboten, die Determinanten einbezieht, die in der WHO-Definition fehlen. Ganten und Niehaus (2014) haben in dem Buch „Die Gesundheitsformel: Die großen Zivilisationskrankheiten verstehen und verhindern“ (2014) eine alternative, evolutionäre Definition von Gesundheit diskutiert. Diese Gesundheitsformel ist der Versuch, eine komplexe Gegebenheit wie Gesundheit in einer Formel zusammenzufassen, die die Komplexität auf das Wesentliche zusammenfasst. Gesundheit ist mehr als Medizin und Biologie (Ganten und Rutert 2021). Gesund leben kann ein Mensch nur dort, wo die Bedingungen es zulassen. Größtmögliche Gesundheit wird für den Einzelnen und für eine Gesellschaft nur erreichbar sein, wenn Lebensbedingungen, Verhalten und Umwelt bestmöglich nach menschlichen biologischen Möglichkeiten und Bedürfnissen ausgerichtet sind. Biologie, Umwelt und Verhalten sind jeweils für sich höchst komplex und variabel. Aber Gesundheit hängt von jedem einzelnen Parameter und vom komplexen Zusammenspiel von Biologie, Umwelt und Verhalten ab. In eine einfache Formel gefasst, wird Gesundheit definiert als eine Funktion unserer ererbten Biologie, der Umwelt, in der wir leben, und unseres Verhaltens: Gesundheit = Funktion (f) (Biologie (B) × Umwelt (U) × Verhalten (V)) oder noch einfacher: G = f (B × U × V). Die Biologie umfasst dabei alles Lebendige, vom Genom bis zur Zellfunktion, den Organen und der gesamten Körperfunktion. Die Umwelt umfasst Land, Wasser, Atmosphäre, Klima, aber auch die sozio-ökonomische und andere Lebenswelten. Verhalten in Bezug auf Gesundheit ist wesentlich gekennzeichnet u. a. durch Bildung, Ernährung und Bewegung (Ganten und Rutert 2021, S. 260). Aus konzeptioneller Sicht sind Biologie, Umwelt und Verhalten und deren Interaktionen entscheidende Parameter, weil die Evolution des Lebens insgesamt durch sie bestimmt ist. Diese Gesundheitsformel ist somit zugleich umfassend und bietet eine holistische, evolutionäre Sicht auf das Leben und auf die Gesundheit.
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5.4 Die Gesundheit von Frauen in Kontext der globalen Gesundheit Was bedeutet der holistische Zugang zu Medizin und Gesundheit in der Umsetzung für eine vulnerable Gruppe wie die der Frauen in Ländern des globalen Südens, die als Gebärende und physisch Schwächere besonders stark von den Auswirkungen von Krisen wie Epidemien, Klimawandel und Kriegen betroffen sind und deren Lebens- und Verhaltensweisen durch sozio-kulturelle Einflüsse, Ernährungsregeln oder Umwelteinflüsse sehr stark determiniert sind? Man wird kaum vermitteln können, dass sich Frauen besser ernähren oder mehr bewegen sollen, also ihr Verhalten gesundheitlich optimieren sollen, wenn sie sich in einem sozio-kulturellen Raum befinden, der Bewegung jenseits der Haus- und Hofarbeit nicht gestattet. Wenn sich Frauen in einer Umgebung befinden, die von Dürre oder Überschwemmungen betroffen ist, oder einfach unter Haushaltsbedingungen, die es kaum ermöglichen, gesund zu leben (z. B. wegen rußender Holzfeuer im Innenbereich, ein häufiger Faktor für Atemwegsinfektionen und Lungenerkrankungen). Diesen moralischen Anspruch kann man kaum einfordern. Vielmehr sollten hier die äußeren Bedingungen als Parameter für eine Verbesserung der gesundheitlichen Bedingungen betrachtet werden. Gerade in Krisenzeiten sollte ein ganz besonderes Augenmerk auf diese Bedingungen gelegt werden. Denn nur in einer gesunden Umgebung kann gesundes Leben stattfinden. Frauen nehmen nicht nur wegen restringierender Umgebungen einen besonderen Stellenwert in der globalen Gesundheit ein, sondern gerade durch sich verändernde Umweltbedingungen. Insbesondere als Gebärende und Mütter sind sie in Krisenzeiten, Dürren, Überschwemmungen oder Bränden den Umweltbedingungen vulnerabel ausgesetzt. So werden z. B. die Wege zu lebensnotwendigen Ressourcen wie Nahrungsmitteln, Holz oder Wasser aufgrund ausgetrockneter Quellen oder vertrockneter Wälder länger. Durch diese explizit durch Klimaveränderungen hervorgerufenen Bedingungen sind sie unter anderem einem höheren Risiko des physischen Missbrauchs ausgesetzt (Sorensen et al. 2018). Obwohl die Forschungsdaten in dem Gebiet noch erweitert werden müssen, ist die Tatsache, dass Frauen dem Klimawandel gesundheitlich anders ausgesetzt sind als Männer, wissenschaftlich belegbar. Es sind vor allem die physisch schwächere Position und die Geburten, die Frauen vulnerabler machen. Trotz signifikanter Verbesserung in den letzten 20 Jahren sterben weltweit noch immer täglich ca. 800 Frauen an den Folgen von Geburtskomplikationen. Die COVID-19-Pandemie hat leider zu Rückschlägen geführt, weil Hebammen nicht arbeiten konnten oder durften, Transport nicht zur Verfügung stand oder ganze Kliniken geschlossen waren (UNICEF 2021). Auch sozio- ökonomische Ungleichheit verstärkt die Vulnerabilität. Frauen arbeiten in weiten Teilen der Welt als unbezahlte Kräfte in der Pflege von Kindern oder (älteren) Familienangehörigen und sind somit ausgeschlossen von bezahlter Arbeit oder auch von Stellen auf Führungsebene. Sie können seltener in Unabhängigkeit von Männern leben und sind auf diese angewiesen. Nicht selten werden Situationen der Abhängigkeit in brutaler Weise geschaffen und verstetigt. Dies zu ändern, ist ein wichtiger Schritt, um das SDG 5 „Geschlechtergleichheit“ zu erreichen (Datt et al. 2017).
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Dies ist auch eines der zentralen Ziele der Organisation „Women in Global Health“ (WGH), die sich unter anderem dafür einsetzt, dass Frauen im gleichen Maße in Führungsrollen im Bereich Gesundheit zu Wort kommen wie Männer. Bildung ist essentiell zur Bewältigung von Geschlechterungleichheit. Bildung bedeutet zum Beispiel, die Zusammenhänge zwischen Umweltschutz und Gesundheitsschutz oder auch das Recht auf Gesundheit zu verstehen. Frauen und junge Mädchen sind öfter als junge Männer von Bildungsinstitutionen wie Schulen ausgeschlossen. Hilfreich wären hier internetbasierte Lern- und Trainingsprogramme (Ganten und Rutert 2021, S. 271), die über Mobiltelefone für alle zugänglich sein könnten. Das Internet ist für Mädchen und Frauen in Ländern des globalen Südens teilweise besser zu erreichen als die Schule. Hier käme auch das Nachhaltigkeitsziel 4 „Bildung für alle“ zum Tragen. Bildung meint aber nicht nur Faktenwissen, sondern auch „Schöpfung, Kreativität, Formung. Bildung geht durch den Menschen hindurch. Sie versetzt eine Person durch Erklärung und Deutung in die Lage, über sich selbst und die Welt um sich herum zu reflektieren, sich mit größerer Unabhängigkeit und Freiheit in jeder Hinsicht zu positionieren“ (Ganten und Rutert 2021, S. 272). Diese Ebene der Bildung ist nur schwer zu erreichen, wenn sie nicht gewünscht wird. Daher ist SDG 4 als formales politisches Ziel so bedeutsam, denn solche politisch und international autorisierten Leitlinien erhöhen die Chance, diese Ziele stückweise zu erreichen. Deutlich wird, dass die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen alle miteinander verwoben sind. Das dritte SDG „Gesundheit und Wohlergehen für alle“ kann kaum gedacht werden, ohne die anderen Ziele mit einzubeziehen. Gesundheit ist nur in einer intakten Umwelt mit der entsprechenden Bildung, die wiederum Verhaltensweisen beeinflussen kann, wirklich erreichbar. Gerade in Zeiten des steten globalen Wandels ist es umso wichtiger, mit Optimismus an der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele zu arbeiten, insbesondere dort, wo die vulnerabelsten Gruppen, Frauen und Kinder, am meisten unter den Folgen einer sich verändernden Welt leiden. Die Verantwortung für die sich verändernden Lebensbedingungen kann nicht den Frauen aufgebürdet werden. Stattdessen müssen im Sinne der zuvor beschriebenen Gesundheitsformel die (Umwelt-)Bedingungen konsequent verbessert werden. Planetary Health mit einer Betonung der Bedeutung von Klima ist insofern unmittelbar mit Global Health verbunden. Schlussendlich bedeutet Klimaschutz und Naturschutz auch Gesundheitsschutz. Gesundheit kann also nur mit einer holistischen Perspektive gedacht und erreicht werden.
5.5 Zusammenfassung Über Frauengesundheit wurde bereits viel geforscht, gesagt und geschrieben. Daher wurde in diesem Artikel der Fokus auf die ganzheitliche Sicht der Gesundheitsformel gelegt und damit auf die Verbesserung äußerer Bedingungen sowie besonders auch auf die Bildung der Frauen. Bildung ermöglicht es den Frauen, sich selber in ihrer Umgebung zu reflektieren und zu positionieren und sich entsprechend ihrer Gesundheit bewusster zu werden. Auch wenn dies ein langer Prozess ist, der von
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vielen Herausforderungen gesäumt ist, so ist es gerade im Zuge der vielen Veränderungen, die Klimawandel und Pandemien mit sich bringen, unerlässlich, immer wieder daran zu arbeiten, das SDG 3 „Gesundheit und Wohlergehen für alle“ erreichbar zu machen. Die Gesundheit von Frauen und Müttern wurde global gesehen bereits vielversprechend verbessert, aber es bleibt noch viel zu tun. Die Umsetzung der SDGs muss daher bis 2030 noch viel stärker vorangetrieben werden. Der World Health Summit sieht sich auch weiterhin verpflichtet, als ein internationales Forum den holistischen Zugang zu Gesundheit und die Nachhaltigkeitsziele zu postulieren und an deren Umsetzung unter dem Schirm der globalen und planetaren Gesundheit maßgeblich zu arbeiten. Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht Teilaspekte der Nachhaltigkeitsziele oder spezielle Anstrengungen bei ganz speziellen Problemen weniger wichtig wären. Jeder Fortschritt zum großen Ziel ist wichtig und bedarf der Unterstützung. Jede Krankheit, die behandelt oder verhindert werden kann, bedeutet ein besseres und glücklicheres Leben. Die große Herausforderung der Zukunft ist jedoch der Umgang mit Komplexität. Dazu gehört auch die globale Gesundheit. Holistische Konzepte können soziale, sozio-ökonomische und umweltbezogene Probleme und Aufgaben in ihrer Interdependenz wirksamer angehen. Die Verbesserung der globalen Gesundheit ist eine solche humanitäre, noble Aufgabe. Für den einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes gibt es nichts Wichtigeres als Gesundheit. Frauen spielen hierbei eine große Rolle, denn sie bedürfen als vulnerable Gruppe des ganz besonderen Schutzes. Daher sollte die holistische Sicht auf Gesundheit in politischen Strategien und Richtlinien noch stärker hervorgehoben werden.
Literatur Beaglehole R, Bonita R (2010) What is global health? Glob Health Action 2010:3. https://doi. org/10.3402/gha.v3i0.5142 Börne L (1862) Gesammelte Schriften von Ludwig Börne. Neue vollständige Auflage. Bd 7. Hoffman & Campe, Hamburg Dhatt R, Theobald S, Buzuzi S, Ros B, Vong S, Muraya K, Molyneux S, Hawkins K, González- Beiras C, Rosin K, Lichtenstein D, Wilkins K, Thompson K, Davis K, Jackson C (2017) The role of women’s leadership and gender equity in leadership and health system strengthening. Global Health Epidemiol Genomics 2:e8. page 1 of 9. https://doi.org/10.1017/gheg.2016.22 van der Eijk P, Ganten D, Marek R (2021) Was ist Gesundheit? Interdisziplinäre Perspektiven aus Medizin, Geschichte und Kultur. De Gruyter Humanprojekt 18, Warsaw/Berlin Ganten D, Niehaus J (2014) Die Gesundheitsformel: Die großen Zivilisationskrankheiten verstehen und verhindern. Albrecht Knaus, München Ganten D, Rutert B (2021) Gesundheit ist mehr als Medizin. Die Gesundheitsfomel. In: Klapper B, Cichon I (Hrsg) Neustart! Für die Zukunft unseres Gesundheitswesens. Medizinische Verlagsgesellschaft, Berlin Health in all policies (HiAP) framework for country action (2014) Health Promot Int 29(Suppl. 1):19–28. https://doi.org/10.1093/heapro/dau035 Koplan JP, Bond TC, Merson MH, Reddy KS, Rodriguez MH, Sewankambo NK et al (2009) Towards a common definition of global health. Lancet 373:1993–1995 Sorensen C, Murray V, Lemery J, Balbus J (2018) Climate change and women’s health: impacts and policy directions. PLoS Med 15(7):e1002603. https://doi.org/10.1371/journal. pmed.1002603
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Unicef (2021) Maternal and newborn health and COVID-19. https://data.unicef.org/topic/ maternal-health/covid-19/ World Health Organization (2006) Definition of health. https://www.who.int/governance/eb/who_ constitution_en.pdf World Health Organization (2021) Factsheet: universal health coverage. https://www.who.int/ news-room/fact-sheets/detail/universal-health-coverage-(uhc)
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Der Einfluss der Religionen auf die Frauengesundheit Ulrich Hemel
Inhaltsverzeichnis 6.1 R eligionen als Akteure der Zivilgesellschaft und das Zusammenleben in religiöser Vielfalt 6.2 Weltreligionen, Gesundheit und Krankheit 6.3 Weltreligionen und Frauengesundheit 6.4 Die Rolle von Religionen bei der Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten Literatur
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Eingangsfragen
1. Zu den fünf Weltreligionen gehören: Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und das Judentum. Welche beiden der genannten Weltreligionen haben mehr als eine Milliarde Anhänger? A. Buddhismus und Judentum B. Hinduismus und Buddhismus C. Christentum und Islam D. Islam und Hinduismus 2. Welche beiden Weltreligionen fordern ihre Anhänger zum Missionieren Andersgläubiger auf? A. Hinduismus und Judentum B. Buddhismus und Hinduismus C. Islam und Judentum D. Christentum und Islam
U. Hemel (*) Weltethos-Institut, Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_6
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3. In stark naturwissenschaftlich ausgerichteten Krankenhäusern fehlen oft der Platz und die Zeit für die Ausübung von Religion und von Spiritualität für die kranken Menschen! Beispiel für praktizierte religiöse Rituale bei schwerkranken Patienten sind: A. Besuch des Klinikseelsorgers B. Empfangen der Sterbesakramente C. Valet- oder Abschiedssegen D. Rituelle Waschungen Religionen haben massiven Einfluss auf die körperliche und seelische Gesundheit von Menschen, und damit auch von Frauen, werden aber in der Medizin und speziell auch in der Entwicklungspolitik häufig übersehen. So erwähnen die weithin bekannten 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (17 SDG) zwar Geschlechtergerechtigkeit (SDG 5) und hochwertige Bildung (SDG 4). Mögliche Auswirkungen durch Mitgliedschaft und Ausübung von Religionen werden jedoch nicht genannt – und dies, obwohl über 80 % der Menschen religiös geprägt sind, vor allem durch die sogenannten Weltreligionen. Religionen werden als wesentliche Akteure der Zivilgesellschaft folglich in ihrer Wirkung bis heute unterschätzt oder eher als hemmende Faktoren moderner medizinischer Praxis wahrgenommen. Sie können aber auch als deren Verbündete wirken.
6.1 Religionen als Akteure der Zivilgesellschaft und das Zusammenleben in religiöser Vielfalt Anlass für diesen Artikel ist eine Betrachtung des Rollenwechsels von Religionen. Sie mutierten vom Gegenspieler des Staates wie im mittelalterlichen Europa zum verantwortlichen Akteur der globalen Zivilgesellschaft. Dieser Begriff verdient eine ausdrückliche Abgrenzung. In der Begrifflichkeit des 2009 von Ulrich Hemel gegründeten Instituts für Sozialstrategie (www.institut-fuer-sozialstrategie.org) gilt als Akteur der Zivilgesellschaft jede Person oder Institution, die nicht vom Staat getragen oder durch das organisierte Verbrechen geprägt ist (Hemel 2019a). Diese Definition geht über eine bislang verbreitete Umschreibung von Zivilgesellschaft hinaus, die diese vor allem durch Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) und aktivistische Gruppierungen repräsentiert sieht. Vorteilhaft an einer solchen breiten, aber klar abzugrenzenden Definition ist es, dass auch Sport, Musik, Kunst, Unternehmen aus der Wirtschaft und Religionen als Akteure der Zivilgesellschaft begriffen werden können. Religiöse Vielfalt, religiöser Wettbewerb, weltweite Migrationsströme und die globale Kommunikation fordern das friedliche Zusammenleben ein. Zu tolerieren sind unterschiedliche Religionen mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen über Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, Ernährung und Geschlechterrollen (Höpflinger et al. 2021). In diesem Zusammenhang entsteht derzeit eine Diskussion rund um die mögliche Einführung eines 18. Nachhaltigkeitsziels der Vereinten Nationen (SDG 18), namentlich um das Thema „gute religiöse und weltanschauliche Praxis“
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(Hemel 2022). Gute religiöse und weltanschauliche Praxis kann über die folgenden Stichworte angezeigt werden: 1. Religionsfreiheit 2. Gottesdienstfreiheit 3. Bekehrungsfreiheit 4. Religiöse Toleranz als Freiheit für und als Freiheit von Religion 5. Abkehr von menschenrechtsfeindlicher religiöser Praxis Religionen folgen ihrer eigenen, spezifisch religiösen Logik. Sie beschäftigen sich mit grundsätzlich wahrheitsfähigen, aber nicht entscheidbaren Fragen wie etwa dem Leben nach dem Tod, der Stellung des Menschen in der Welt, aber auch dem „guten Leben“ und moralischen Pflichten gemäß den Vorstellungen einer Religionsgemeinschaft. Religionen wirken sich folglich massiv auf Erziehung, Bildung und Handeln, aber auch auf Gesundheit und gesundheitsrelevantes Verhalten aus, auch bei und von Frauen. Die Besonderheit der Forderung nach guter religiöser und weltanschaulicher Praxis (SDG 18) besteht zum einen darin, dass dieses Ziel den möglichen Wahrheits- und Geltungsanspruch einer Religion nicht aufhebt. Sie verbindet diesen vielmehr zugunsten des guten Zusammenlebens aller mit einem aus der Eigenlogik der jeweiligen Religion so verstandenen „Rechts auf Irrtum und Vorläufigkeit“. Schließlich ist es entweder wahr, dass beispielsweise Jesus Christus der Sohn Gottes und Erlöser der Welt oder aber Mohammed der letztgültige Prophet Gottes ist. Wir können diese Fragen nicht entscheiden, aber gut zusammenleben, wenn wir sie nicht dem Druck politischer Durchsetzung unterwerfen. Die Sichtweise von Religionen als Akteuren der Zivilgesellschaft entspricht nicht immer dem Selbstverständnis in bestimmten Interpretationen religiöser Weltund Lebensgestaltung. Dieses ist speziell in fundamentalistischen Strömungen so umfassend, dass kein Raum für Alternativen bleibt. In solchen Fällen kommt es regelmäßig zu religiösem Zwang und zu religiös motivierter Gewalt, auch gegen Frauen. Ein Beispiel wäre hier die aus dem Alten Testament und aus dem Islam bekannte Steinigung von Frauen speziell im Fall von Ehebruch (Bar 2021). Die zivilisatorische Wirkung demokratischer Lebensverhältnisse mit ihrer Forderung nach einer demokratiefähigen Religion ist der Hintergrund der Ausformulierung von Grundsätzen „guter religiöser und weltanschaulicher Praxis“. Denn sie umfasst zu gewährende und zu duldende Freiheitsrechte, etwa beim freiwilligen Religionswechsel (der Konversion), aber auch bei agnostischen oder atheistischen Menschen, die ohne Religion leben wollen. Auch die Forderung nach Abkehr von menschenrechtsfeindlicher Praxis wird von allen Religionen grundsätzlich geteilt, wie die sogenannten Weltethos-Werte zeigen (Hemel 2019a; Ziebertz 2010). Diese wurden 1993 und 2018 vom Parlament der Weltreligionen unter Beteiligung zahlreicher Religionsgemeinschaften inklusive aller Weltreligionen verabschiedet (Kuschel 2019). Ob aber die Beschneidung von Knaben (Zirkumzision) als Körperverletzung oder als wertvolle und menschenrechtskonforme religiöse Praxis gelten kann, bleibt gleichwohl umstritten.
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Weltreligionen werden hier als besonders wirkmächtige und besonders verbreitete Religionen definiert. Zu diesen gehören folglich nicht nur das Christentum und der Islam, die zusammen etwa die Hälfte der Menschen beeinflussen, sondern auch der Hinduismus und Buddhismus mit insgesamt ebenfalls über einer Milliarde Anhängern und Anhängerinnen. Zu den Weltreligionen gehört ebenfalls das zahlenmäßig kleinere Judentum (mit rund 15 Mio. Religionsangehörigen weltweit), weil dieses im Grunde die Wurzel für Christentum und Islam ist. Der Urvater Abraham findet in diesen drei Weltreligionen Anerkennung, so dass diese oft auch als „abrahamitische Weltreligionen“ bezeichnet werden. Das Parlament der Weltreligionen umfasst darüber hinaus zahlreiche andere religiöse Gemeinschaften älteren und neueren Datums, von den Bahai bis zu den Sikhs, von schamanistischen Naturreligionen bis zum Caodaismus in Vietnam. Darüber hinaus gibt es innerhalb großer Religionen zahlreiche Konfessionen, Strömungen und abgegrenzte Gemeinschaften bis hin zu Sekten. Gemeinsam ist ihnen allen ein massiver Einfluss auf Ernährung, auf den weiblichen Körper, auf die Erziehung und das Selbstbild von Mädchen und somit auf Frauengesundheit. In der soziokulturellen Praxis mischen sich regelmäßig unterschiedliche Einflüsse. Wenn es um religiöse Vorstellungen geht, spricht man hier vom „Synkretismus“ als einer Form der Vermischung traditioneller Vorstellungen mit den Praktiken einer Weltreligion. Für die Frage nach Frauengesundheit viel wesentlicher ist aber eine Vermischung von religiösen, politischen und traditionellen gesellschaftlichen Vorstellungen etwa zum Verhältnis von Männern und Frauen. Sowohl im Christentum als auch im Islam gibt es beispielsweise eine rege Diskussion darüber, wie weit patriarchalische Vorstellungen aus der Zeit Jesu und Mohammeds Bestandteil authentischen religiösen Glaubens oder eher zeitbedingte Elemente sind, die heute keinen normativen Anspruch mehr haben können. Es ist Aufgabe der theologischen Forschung, die eigene religiöse Tradition nach bestem Wissen und Gewissen auf ihren Wert und ihre Geltung im Kontext der Zeit ihrer Entstehung und ihre Anschlussfähigkeit in die jeweilige Zeit auszulegen. Ähnliches gilt auch für zeitbedingte wissenschaftliche oder im engeren Sinn naturphilosophische Vorstellungen, die heute geradezu anstößig wirken. Wenn der Samen des Mannes als Übermittler menschlichen Lebens gilt, dann rückt die Masturbation oder „Onanie“ (gemäß der biblischen Gestalt des Onan) in die Nähe des Massenmords: Sie wird zur „sträflichen Vergeudung der schöpferischen Lebenskraft“ (Levinson 1984). Im Judentum wurde aus ähnlichen Gründen der Coitus Interruptus kritisch betrachtet (Levinson 1984). Wenn umgekehrt der Körper der Frau lediglich als Gefäß für die Entfaltung des vom Mann gespendeten Lebens gilt, weil eben die Zusammenhänge der Genetik vor Gregor Mendel nicht bekannt waren, dann liegen patriarchalische Vorstellungen von der Überlegenheit des Mannes über die Frau nahe. Bis Religionen solche Schatten der Vergangenheit in ihrer Praxis überwinden, dauert es oft Jahrzehnte bis Jahrhunderte. Die Eigenlogik der Religionen hängt jedoch überraschend wenig von der Überwindung zeittypischer Engführungen ab. Religionswandel ist daher immer wieder mit teilweise drastischen Veränderungen religiöser Überzeugungen verbunden, ohne dass dies vordergründig erkannt oder anerkannt würde. Ein bekanntes, natür-
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lich auch gesundheitsrelevantes Beispiel ist die Todesstrafe. Sie war beispielsweise im Katechismus der Katholischen Kirche lange für Extremfälle akzeptiert, wurde aber inzwischen aus ihm gestrichen und als Maßnahme religiös geächtet.
6.2 Weltreligionen, Gesundheit und Krankheit Religionen bieten ihren Angehörigen eine komplexe symbolische Weltdeutung und eine Reihe spezifischer religiöser Praktiken an, die dem einzelnen Menschen Orientierung, Sinn und Halt geben sollen. Ihr ganzheitlicher Deutungsanspruch spiegelt sich in der Entfaltung und Übermittlung eines reichhaltigen symbolischen Universums, einer lebensprägenden „Erzählung“ oder Narration und einer häufig genug verhaltenssteuernden Alltagsrelevanz wider. Dazu gehören unter anderem Selbstund Weltbilder, Körper- und geschlechtsbezogene Rollenbilder, aber auch Auffassungen über die „richtige“ soziale Ordnung, über Anstand und Moral, Macht und Ohnmacht, Ernährung und Sexualität. Typisch ist dabei die Verknüpfung eines äußeren Ereignisses mit einer spezifischen Deutung. Im Lauf der Zeit zeigt sich aber häufig, dass auch andere und alternative Deutungen möglich sind, so dass einem Ereignis unterschiedliche Erklärungsmodelle zugeordnet werden können. Das Ereignis „Krankheit“ kann dann beispielsweise als „Prüfung Gottes“ oder aber als „Strafe“ gedeutet werden, so zuletzt etwa beim Aufkommen von AIDS. Weil AIDS ursprünglich stark in der Homosexuellen-Szene auftrat, die von vielen religiös geprägten Menschen als unnatürlich abgelehnt wird, wurden einige religiöse Deutungen laut, die AIDS als Strafe für homosexuelle Praktiken betrachteten. Dieser hoch umstrittene Gedanke konnte aber nicht durchgehalten werden, als klar wurde, dass sich schon Kinder im Mutterleib anstecken konnten. Bis heute sind Fragen der richtigen Ernährung, der sexuellen Orientierung, des Selbstbildes von Jungen und Mädchen und der sozialen Ordnung von Macht und Ohnmacht in einer Gesellschaft prägend für das Verhältnis von Religion, Gesundheit und Krankheit. Eine besondere Rolle spielt dabei das jeweilige Verständnis dessen, was als Natur und was als natürlich gilt. Homosexualität bei Männern und Frauen wurde etwa als behandlungsbedürftige Krankheit angesehen. Sie wurde erst im Jahr 1973 aus dem in den USA verwendeten Handbuch der psychiatrischen Störungen (DSM) und im Jahr 1992 aus der von der WHO herausgegebenen Klassifikation der Krankheiten (ICD) gestrichen (Wolf 2004). Aktuell zeigt sich ein solcher Sachverhalt beispielsweise im Verhältnis religiöser Gemeinschaften zu Personen einer nicht-binären sexuellen Orientierung. LGBQTI*-Personen wurden (und werden) in ihren Anliegen nicht ernst genommen, sondern aufgrund ihres vermeintlich sündigen Lebenswandels diskriminiert (Gräve et al. 2021). Dagegen regt sich inzwischen Widerstand, der auch theologisch begründet wird. Dann wird beispielsweise argumentiert, primär gelte es, den Menschen als von Gott gewollte Person zu würdigen. Welche sexuelle Orientierung er oder sie hat, ist dann von untergeordneter Bedeutung.
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Eine weitere Verknüpfung ist die Verbindung von Gesundheit und Krankheit mit dem wirklichen oder vermeintlichen Willen Gottes, oft verbunden mit patriarchalischen Ordnungen. Bei vielen Religionen wird dann ein Tun-Ergehens- Zusammenhang angesprochen, bei dem aus guten Taten ein gutes Leben, aus schlechten Handlungen ein schlechtes Leben folgt. Das Juden, Christen und Muslimen bekannte Buch Hiob greift diesen im realen Leben nicht durchhaltbaren Zusammenhang auf und argumentiert differenziert: Wenn sogar ein gerechter Mensch wie Hiob von Schicksalsschlägen getroffen wird, dann sollten diese eben nicht unreflektiert als „Strafe Gottes“ gedeutet werden. Die erstaunte Rückfrage, warum nicht jeder Raucher und jede Raucherin früher als andere stirbt oder warum jemand trotz bester Fitness zu früh von uns geht, lässt sich noch heute beobachten. Die Betrachtung des männlichen und des weiblichen Körpers spielt ebenfalls bis heute eine Rolle. Wer hat wann welche Rechte über den eigenen Körper? Am Beispiel der Menstruation lässt sich zeigen, wie ein biologisches Ereignis (BE) mit religiösen Deutungen (RD) zum Thema Reinheit und Geschlechterrolle verbunden wurde. Schon im alttestamentlichen Judentum galt für die Frau die Pflicht zur Ganzkörperhygiene, zum Bad und rituellen Tauchbad nach der Menstruation, für den Mann die Pflicht, die Frau zu deren leiblichem und seelischem Wohl zu befriedigen (Levinson 1984). Gerade die naheliegende Verbindung von Frauengesundheit und Weitergabe des menschlichen Lebens führte darüber hinaus in zahlreichen religiösen Kontexten zu lebhaften Kontroversen rund um Empfängnisverhütung und Abtreibung (Jütte 2003; Maguire 2003). Regelungen zur Sexualität dienen ebenso wie Normen rund um die Ernährung oder zum Umgang mit Besitz und Eigentum nicht nur der Aufrechterhaltung einer gewissen sozialen Ordnung, sondern auch einem spirituellen Zweck. In moderner Sprache könnten wir von dem Training der Selbststeuerung sprechen. Ob es generell um das Fasten oder speziell um die Separierung von Milch- und Fleischspeisen wie im Judentum, um die Vermeidung von Schweinefleisch und Alkohol im Islam oder um andere Speisevorschriften rund um heilige Tage und heilige Zeiten geht – grundsätzlich ist klar, dass die von einer Gemeinschaft getragenen Ernährungsgewohnheiten physiologische Folgen haben, die sich ebenso wie die Prävalenz von Schönheits- und Körperidealen auf die individuelle und kollektive menschliche Gesundheit auswirken. Im Rahmen einer religiösen Weltsicht geht es immer wieder darum, die Ereignisse der physischen und sozialen Realität mit Blick auf den Willen und das Handeln Gottes zu hinterfragen. Das Privileg des Heilens war in einer Reihe von vorgeschichtlichen Kulturen dem Schamanen zugeordnet. Religiöse Rituale wurden und werden auch in medizinischen Kontexten praktiziert (Brauer 2020). Körperliche und seelische Gesundheit wurden lange vor aller Psychosomatik in religiösen Weltsichten als verbunden betrachtet. Dabei lohnt sich auch ein Blick auf die Grenzlinien zwischen Weltreligionen und offiziell nicht anerkannten religionsaffinen Praktiken wie etwa der Magie, der Geistheiler und der Gebetsheilungen. Dass sich im Rahmen solcher Praktiken Effekte einstellen, ist unbestritten. Kontrovers ist jeweils die Deutung der Ursachen, die vom Placebo- und Nocebo-Effekt bis zu psychologisch wirksamen Kausalketten von Verfluchung und Segnung reichen.
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Der Unterschied zwischen Weltreligionen und magischen Praktiken liegt dann darin, dass Weltreligionen keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einem bestimmten religiösen Handeln und seinem gewünschten Erfolg wie z. B. der Heilung von einer Krankheit konstruieren, sondern in ihrer eigenen religiösen Logik auf den unerforschlichen Ratschluss des göttlichen Willens verweisen. Schließlich ist der Einfluss der Weltreligionen auf die Entstehung eines modernen Gesundheitswesens nicht zu unterschätzen. Krankenhäuser entstanden zuerst entlang der Pilgerwege, eben weil Pilgerinnen und Pilger nicht in häuslicher Pflege betreut werden konnten. Ferner wurden spezifisch religiöse Motive im Gesundheitswesen wirksam, so etwa der Dienst am Kranken als einem Dienst am Nächsten, der im Christentum als „ein anderer Christus“ zum Medium der Gottesbegegnung wurde. Soziale Gestalt erhielten solche Vorstellungen durch die Gründung von Ordensgemeinschaften mit dem Zweck der Krankenpflege und Armenfürsorge.
6.3 Weltreligionen und Frauengesundheit Religionen sind in ihrer sozialen Praxis besonders stark auf hervorgehobene Lebenssituationen ausgerichtet. Durch Initiationsriten, Rituale und Sakramente markieren sie Übergänge und helfen, Lebenskrisen zu bewältigen. Im Vordergrund steht jeweils die Einordnung von Lebensereignissen in einen übergreifenden Zusammenhang. Das „Framing“, also die Zuordnung einer gegebenen Situation zu einer bestimmten Klasse von Ereignissen (Goffman 1974), wird so zur Tür für die Bewältigung konkreter Lebensaufgaben, die auch „Coping“ genannt werden kann (Eckenrode 1991; Hemel 2019b; Hemel 2020). Wesentlicher Effekt ist die erfahrene Selbstwirksamkeit einer Person oder einer Gemeinschaft, erfahrbar beispielsweise beim Gebet für eine kranke Person. Die besondere Eigenlogik jeder Religion erfordert ein grundlegendes Maß an religiöser Kompetenz im Sinn von Grundkenntnissen einer Religion, gleich ob es sich um einen christlichen, islamischen oder hinduistischen Hintergrund handelt. Im klinischen Alltag wird hier oft von „interkultureller Kompetenz“ oder einer interkulturell sensiblen Ethikberatung gesprochen (Grützmann 2015). Tatsächlich überschneiden sich hier aber zumindest drei Themenkreise: der spezifische religiöse Hintergrund (also z. B. der einer alevitischen Türkin in einer deutschen Frauenklinik), der sprachliche und soziokulturelle Hintergrund (etwa die Rolle einer alevitischen Frau in der türkischen Ursprungsgesellschaft) und der I nteraktionshintergrund im eigenen Land (beispielsweise bei einer evangelisch-lutherisch geprägten Gynäkologin). Zu fordern ist folglich ein Dreiklang der Sensibilisierung in der Resonanz auf drei wesentliche Facetten: • je nach religiöser Religion oder Konfession (Beispiel: eine Alevitin), • je nach sprachlich-kultureller Herkunft (Beispiel: türkischer Kultur) und • je nach religiösem und kulturellem Kontext der Interaktion (Beispiel: deutsche evangelische Gynäkologin).
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Nehmen wir das gewiss krasse Beispiel der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM). Sie ist besonders stark im westlichen und nordöstlichen Afrika, aber teilweise auch in Asien verbreitet, wird aber illegal auch in Deutschland (je nach Schätzung rund 3000 bis 10.000 Fälle) und Europa praktiziert. Frauen-, Kinder- und Menschenrechtsorganisationen verurteilen die entsprechende Praxis einhellig. Sie führt zum Tod vieler junger Frauen und Mädchen, zu physischem und seelischem Leid. Nun wird die Genitalverstümmelung nicht in allen islamischen Ländern praktiziert. Sie ist Ergebnis des Zusammenwirkens lokaler, patriarchalischer Traditionen mit bestimmten religiös-islamischen Deutungen. In der Zwischenzeit gibt es eine Fatwa, also eine bindende islamische Rechtsauskunft, die die FGM verurteilt. Die Einbeziehung von Religion macht den Kampf gegen eine menschenrechtsfeindliche religiös motivierte Praxis insofern wirksamer und erfolgversprechender. Da Frauen Kinder auf die Welt bringen, ist die religiöse Deutung von Praktiken der Familienplanung, der Empfängnis und der Empfängnisverhütung, der Geburt, der künstlichen Befruchtung, aber auch der Abtreibung und der Leihmutterschaft ein universelles Feld religiöser Einflüsse auf die Frauengesundheit. In vielen Religionen, so wie etwa dem Judentum und dem Islam, herrscht hier eine pragmatische Einstellung vor. Die Entscheidung über die gewählte Praxis obliegt überwiegend der Frau. Im Kontext des Christentums wirkte hingegen die nicht so sehr biblische, sondern spätantike Leibfeindlichkeit lange nach. Sie führte in Verbindung mit einem normativ verengten Begriff von Natur und Natürlichkeit zu einer sehr restriktiven Sicht auf Sexualität und zur jahrzehntelangen Ablehnung vieler Formen von Empfängnisverhütung speziell in der katholischen Kirche, von der Pille bis zum Kondom (Aschmann 2021; umfassend: Maguire 2003). In der Zwischenzeit wird aber auch kirchenoffiziell anerkannt, dass Sexualität nicht nur auf die Zeugung von Leben unter Ehepartnern verengt werden darf, sondern auch Ausdruck von Liebe und Zuneigung bei einem Paar sein soll. Das klingt selbstverständlich, hat aber unmittelbar Auswirkungen auf sexuelle Praxis und Frauengesundheit, weil so beispielsweise Familienplanung auch im Kontext katholischer Glaubens- und Sittenlehre grundsätzlich legitim wird. Besonders kontrovers, für Frauengesundheit aber von großer Bedeutung, ist der legale Zugang zu einer Abtreibung. Auch auf diesem Feld mischen sich wissenschaftliche, religiöse und politische Betrachtungen. So bezeichnet der jüdische Begriff „Nefesch“ eine eigenständige Person. Der Fötus im Mutterleib gilt aber bis zu seiner Geburt gerade nicht als Person, sondern als Teil der Mutter. Daraus folgt eine vergleichsweise liberale Haltung zur Abtreibung. Im Hinduismus und Buddhismus stellt sich hingegen die Frage, ob eine Abtreibung im Kreislauf der Wiedergeburt für das ungeborene Leben schädlich sein könnte (Lecso 1987; Poggendorf- Kakar 2017). Speziell im katholischen Christentum wird hingegen jede Form menschlichen Lebens als von Anfang an beseelte Person wahrgenommen, so dass eine Abtreibung auch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium grundsätzlich als Tötung unschuldigen Lebens gilt und ganz überwiegend abgelehnt wird.
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Im Islam gilt das ungeborene Leben als „Eigentum des Schöpfers“ (Sure 10, 68). Mensch wird der Embryo aber erst mit der Ausbildung von Gliedmaßen und der „Einhauchung der Seele“, die je nach Rechtsschule ab Tag 40 oder ab Tag 120 einer Schwangerschaft angenommen wird (Tworuschka 1984). Ohne triftigen Grund ist eine Abtreibung auch im Islam verboten. Die Regeln im Einzelnen variieren aber sehr stark. So kennen Tunesien und Marokko eine weit gefasste medizinische Indikation mit einer Fristenlösung und größerem Verständnis für Notfälle, in denen es um Leben und Gesundheit der Mutter geht (Tworuschka 1984). Weltreligionen wirken sich auf die körperliche und die seelische Frauengesundheit unmittelbar aus. Ein sprechendes Beispiel ist die Bewertung der Jungfräulichkeit, etwa verbunden mit Vorstellungen von „Reinheit“ oder „Anstand“ und „Ehre“. Nach der Hochzeitsnacht muss dann beispielsweise ein mit Hymen-Blut beflecktes Tuch als Beweis von Jungfräulichkeit öffentlich gezeigt werden. Entsprechende Praktiken wurden z. B. sowohl aus Sizilien wie aus arabischen Ländern berichtet, und zwar sowohl im christlichen als auch im islamischen Umfeld. Wie im Fall der weiblichen Genitalverstümmelung spielen Weltreligionen hier eine ambivalente Rolle, weil sie einerseits über lange Zeit bestimmte frauenfeindliche soziokulturelle Praktiken legitimierten, sich von diesen aber im Lauf der Zeit auch zu distanzieren wussten. So haben sich z. B. viele Religions- und Rechtsgelehrte des Islam 2006 auf einer Konferenz der Universität in Kairo für das Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung ausgesprochen (Mauer 2009). Anders gesagt: religiöse und theologische Argumentationen haben sowohl zugunsten der Unterdrückung als auch zugunsten der Befreiung von Frauen aus patriarchalischen, die Frauengesundheit belastenden Verhältnissen beigetragen. Diese Wandlungsfähigkeit namentlich der Weltreligionen unterscheidet diese deutlich von magischen oder von traditionellen, soziokulturell-ethnischen Praktiken ohne religiöse Hintergründe. Ein Beispiel für diesen Zusammenhang bietet die christliche Auferstehungserzählung. Jesus erschien zuerst den Frauen, obwohl diese damals gar kein Zeugnisrecht vor einem Gericht hatten (Heiler 1977). Heute gilt dies als starkes Argument zugunsten einer Gleichberechtigung von Männern und Frauen etwa in der katholischen Kirche bei der Diskussion um die Zulassung zum Priesteramt (Leimgruber 2021). Aus diesem Grund lohnt sich die Einbeziehung von Weltreligionen in Themen rund um die Frauengesundheit auch mit Blick auf mentale Aspekte der Frauengesundheit. Denn bis heute sind Frauen starke Akteurinnen auf dem Feld der Erziehung, auch der religiösen Erziehung in der Familie. Wie belastend beispielsweise die traditionelle Verurteilung einer homosexuellen Orientierung im Erleben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bis heute sein kann, zeigen aktuelle Berichte (Gräve et al. 2021). Religionen spiegeln dabei zwar gesellschaftliche Entwicklungen, können diese aber zugleich befördern oder hemmen. Dies gilt für den Umgang mit dem eigenen Körper und mit Sexualität ebenso wie für Fragen von Ernährung oder für die Bewertung von Gesundheit und Krankheit, Zuerkennung von Wert und Selbstwert oder eben von Verurteilung und Missachtung.
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6.4 Die Rolle von Religionen bei der Bekämpfung von Seuchen und Krankheiten Die im engeren Sinn diakonische Seite von Religionen kommt speziell durch deren Aktivitäten im Bereich der Kranken- und Altenpflege und bei der Bekämpfung von Seuchen zum Ausdruck. Dies gilt zwar im Grunde für alle Religionen, ist im Christentum durch die Forderung nach dem Einklang von Selbst- und Nächstenliebe aber besonders stark ausgeprägt. Die Gründung öffentlicher Krankenhäuser, die Aktivitäten karitativ tätiger Ordensgemeinschaften, aber auch Hospize und Angebote für spezielle Zielgruppen wie kranke Obdachlose, Prostituierte (z. B. die Initiative Solwodi) oder straffällig gewordene Frauen (Halbhuber-Gassner und Pravda 2013) sprechen hier eine deutliche Sprache. Malteser, Johanniter, Grüner Halbmond und Rotes Kreuz sind Beispiele für entsprechende, häufig spezifisch religiös motivierte Organisationen. Körperliche und seelische Gesundheit gehen dabei Hand in Hand. Religionen bieten beispielsweise durch das Angebot sinnstiftender Rituale eine Form des Umgangs mit eigenen belastenden Lebenssituationen an, die als spezifische Form von Spiritual Care einen Beitrag auch zur Frauengesundheit leisten (Peng-Keller 2021; Kühn 2021). Sinngebung durch strukturierte Rituale und spirituelle Praxis wirken sich dabei in der Regel günstig auf die Bewältigung schwieriger Lebenssituationen aus. Ein Beispiel aus dem christlichen Kontext ist hier etwa die Krankensalbung, früher verstanden als Trost durch die Sterbesakramente. Solche und andere Formen des Coping wirken sich auch in zunehmend säkularisierten Gesellschaften positiv aus. Dabei kann Spiritualität als Verbundenheit jedes Menschen mit dem Universum verstanden und von spezifischen Formen religiöser Identität und Identifikation unterschieden werden. Anders gesagt: Die Förderung mentaler Gesundheit durch geeignete Formen spiritueller Praxis kann auch dann positive Wirkungen entfalten, wenn eine Person sich selbst nicht als religiös versteht. Ein Beispiel aus dem Feld der Frauengesundheit ist die Mastektomie oder die Hysterektomie. Solche Eingriffe führen zwangsläufig zu Rückfragen an das eigene Körperbild und den eigenen Selbstwert. Dort, wo Religionen glaubhaft vermitteln, dass weder die berufliche Leistungsfähigkeit noch die Erfüllung von Fruchtbarkeits- und Schönheitsidealen den Wert einer Person bestimmen, können sie mentale Lasten vermindern und einen effektiven Beitrag zur seelischen und letztlich auch körperlichen Gesundheit betroffener Frauen leisten. Der Einfluss von Religionen auf die Frauengesundheit wird wie oben erwähnt bis heute in aller Regel unterschätzt. Dies gilt besonders dann, wenn die Eigenlogik einer Religion im großen Zusammenhang umfassender Selbst- und Weltdeutung nicht erkannt oder gar aktiv ignoriert wird. Aus medizinischer und zivilgesellschaftlicher Sicht lohnt es sich insbesondere, Religionen als Verbündete im Interesse der Frauengesundheit und der Durchsetzung von Menschenrechten zu begreifen. Dies gilt auch dann, wenn die bestimmten soziokulturellen Praktiken fragwürdig erscheinen und womöglich mit Blick auf eine neue religiöse Deutung aufgebrochen werden könnten.
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Gerade Weltreligionen sind grundsätzlich enorm wandlungsfähig und selbst Akteure sozialen und religiösen Wandels. Erforderlich ist dann nicht nur eine Veränderungsbereitschaft in den Religionen, sondern auch eine religionsfähige Öffentlichkeit, die ein Mindestmaß an Fachwissen und Verständnis für die gesellschaftliche Relevanz von Religionen aufbringt. Künftige Generationen von Mädchen und Frauen werden es den Beteiligten an solchen förderlichen und menschenfreundlichen Veränderungen danken. Antworten zu den Eingangsfragen
1. C. Christentum und Islam 2. D. Christentum und Islam 3. Alle Antworten sind richtig
Literatur Aschmann B (2021) Liebe und tu, was du willst? Die „Pillenenzyklika“ Humanae Vitae von 1968 und ihre Folgen. Brill-Schöningh, Paderborn Bar S (2021) Death by stoning in the Hebrew Bible and in post-Biblical traditions. Old Testament Essays 34:789–805 Brauer S (2020) Glaube und Rituale im medizinischen Kontext. Theologischer Verlag, Zürich Eckenrode J (1991) The social context of coping. Plenum Press, New York Goffman E (1974) Frame analysis. An essay on the organization of experience. Northeastern University Press, Boston Gräve M, Johannemann H, Klein M (Hrsg) (2021) Katholisch und queer. Bonifatius, Paderborn Grützmann TT (2015) Interkulturelle Kompetenz in der klinisch-ethischen Praxis. LIT, Münster Halbhuber-Gassner L, Pravda G (Hrsg) (2013) Frauengesundheit im Gefängnis. Lambertus, Freiburg im Breisgau Heiler F (1977) Die Frau in den Religionen der Menschheit. De Gruyter, Berlin Hemel U (Hrsg) (2019a) Weltethos für das 21. Jahrhundert. Herder, Freiburg im Breisgau Hemel U (2019b) Mentale Architektur und Wirtschaftsanthropologie – eine Zukunftsaufgabe. In: Kießig S, Kühnlein S (Hrsg) Anthropologie und Spiritualität für das 21. Jahrhundert. Festschrift für Erwin Möde. Pustet, Regensburg, S 335–350 Hemel U (2020) Kritik der digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss. Herder, Freiburg im Breisgau Hemel U (2022) Wie gelingt gutes Zusammenleben der Religionen? „Gute religiöse Praxis“ (SDG 18) als Ziel der globalen Zivilgesellschaft. In: Braun K, Ratzinger G, Zörb R (Hrsg) Zum 95. Geburtstag, Festschrift der Gesellschaft zur Förderung christlicher Verantwortung e. V. für den Heiligen Vater em. Benedikt XVI. GcV, Rohrbach, S 126–146 Höpflinger AK, Jeffers A, Pezzoli-Olgiati D (Hrsg) (2021) Handbuch Gender und Religion, 2. Aufl. V& R, Göttingen Jütte R (2003) Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung von der Antike bis zur Gegenwart. C. H. Beck, München Kühn L (2021) Liturgie im Krankenhaus. Plurale Feierformen in der Begleitung kranker und sterbender Menschen. Kohlhammer, Stuttgart Kuschel KJ (2019) Weltreligionen im Dialog über Weltprobleme. Die Erklärung des Parlaments der Weltreligionen in Chicago. In: Hemel U (Hrsg) Weltethos für das 21. Jahrhundert. Herder, Freiburg im Breisgau, S 39–54 Lecso PA (1987) A buddhist view of abortion. J Relig Health 26:214–218
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Frauengesundheit, Kultur und Ethik – Anthropologische, ethnomedizinische und sozialethische Aspekte in Global Health Walter Bruchhausen
Inhaltsverzeichnis 7.1 Sozial- und Kulturanthropologie bzw. Ethnologie und Frauengesundheit 7.2 Ethnomedizin und Frauengesundheit 7.3 Sozialethik und Frauengesundheit 7.4 Schluss und Schlüsse Literatur
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Eingangsfragen
1. Welche Antwortmöglichkeiten treffen nicht zu? Sozial- und Kulturanthropologie bzw. Ethnologie beschäftigt sich mit: A. Patriarchalen Machtverhältnissen mit möglichem Einfluss auf Frauengesundheit B. Den häufigsten Erregern von Infektionen im Wochenbett C. Institutionen zur Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit der Frauen D. Einflussfaktoren auf gesundheitsrelevantes Verhalten von Frauen E. Häufigkeiten von Frauenkrankheiten in Abhängigkeit von der physischen Umgebung
W. Bruchhausen (*) Sektion Global Health, Institut für Hygiene und Public Health, Universitätsklinikum Bonn, Bonn, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_7
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2. In welchem Bereich wurden aus dem Globalen Süden internationale Programme als besonders bevormundend und eurozentrisch, ja sogar neokolonial kritisiert? A. Familienplanung B. Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen C. Eisensupplementierung D. Folsäuresupplementierung E. Notfallkaiserschnitt 3. Was ist kein Gebiet von Ethnomedizin in der Frauengesundheit? F. Kulturabhängige Vorstellungen von Schwangerschaft G. Pflanzliche und rituelle Mittel zur Beschleunigung der Geburt H. Gesellschaftliche Verhaltensnormen für das Wochenbett I. Erklärung geburtsunmöglicher Kindslagen J. Gebärhaltungen Dass menschliche Gesundheit nicht nur von naturgesetzlichen Gegebenheiten, sondern auch von menschengemachten Normen abhängt, ist in kaum einem Bereich so deutlich wie der Frauengesundheit. Das gilt für die Verhütung wie die Behandlung von Krankheiten. Die enormen weltweiten Unterschiede im Umgang mit Schwangerschaft und Geburt zeigen die soziokulturelle Spannbreite, die vielleicht noch größeren Unterschiede in der Müttersterblichkeit belegen die ungleiche und damit auch ungerechte Verteilung der personellen, technischen und finanziellen Ressourcen für den guten Ausgang einer Schwangerschaft. Damit ist die Frauengesundheit auch ein wichtiges und entsprechend häufig untersuchtes Gebiet der Sozial- und Kulturanthropologie, insbesondere ihrer Schnittstelle mit Medizin und Gesundheitswissenschaften in Form der Ethnomedizin, und ebenso der Sozialethik, die sich jenseits individualethischer Fragen von möglichen Verboten bestimmter Handlungsweisen auch der globalen Gerechtigkeit widmet. Um Beides, Kultur und Ethik, als unerlässliche Teile des neuen interdisziplinären, Praxis und Wissenschaft verbindenden Gebiets Global Health, soll es in diesem Beitrag gehen. Nur wenn partikulare soziokulturelle Normen und universale moralische Ansprüche gleichzeitig im Blick sind, können die medizinischen Möglichkeiten zur Verbesserung der Frauengesundheit in angemessener Weise angewandt werden. Alles andere würde Menschen als Glieder einer bestimmten Gesellschaft und der ganzen Menschheit nicht gerecht werden.
7.1 Sozial- und Kulturanthropologie bzw. Ethnologie und Frauengesundheit Als sich in der frühneuzeitlichen Expansion Europas auf alle Kontinente das Interesse an den Maßnahmen fremder Völker zu Gesundheitsschutz und Heilung intensivierte, war die Frauengesundheit keineswegs an erster Stelle im Blick. Denn die Schiffsbesatzungen waren weitgehend männlich, geburtshilfliche Expertise von ihren Schiffsärzten also nicht erwartet, und von den Entbindungen einheimischer Frauen beka-
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men die Europäer entsprechend wenig mit. Im Vordergrund des Interesses standen Heilpflanzen für die bedrohlichen Fiebererkrankungen aus Eigeninteresse und die exotischen Heilungsrituale, häufig aus vielleicht eher religiöser Perspektive. Erst mit steigenden Zahlen von Missionaren, Missionsärzten und -schwestern sowie Kolonialärzten im Kolonialimperialismus des späten 19. Jahrhunderts werden Berichte über den einheimischen Umgang mit Schwangerschaft und Geburt häufiger. Angesichts der zentralen Bedeutung von Fortpflanzung für die Entwicklung des Menschen verwundert es nicht, dass die „Lehnstuhlethnologen“, die zumeist ohne eigene Tropenaufenthalte aus den zugesandten Berichten ihre Werke schrieben, auch Zeugungsvorstellungen und Geburtspraktiken erfragten und abhandelten. Dabei fanden nicht zuletzt Gebärstühle ethnographisches Interesse. Über das Themenfeld Geburt hinaus sind an älteren ethnologischen Werken auch die Ausführungen zur Stellung von Frauen in der Gesellschaft für Frauengesundheit interessant. Denn es lässt sich beobachten, dass eine stärkere gesellschaftliche Position von Frauen zu mehr Aufmerksamkeit für ihre medizinische Versorgung führen kann. Manche matrilineare oder matrilokale Gesellschaften, in denen also Eigentum, Führungsrollen oder Wohnsitz über die weibliche Linie, nicht aber unbedingt an Frauen selbst vergeben werden, deuten in diese Richtung. Ein wirkliches Matriarchat, das ein Gegenstück zu den bekannten patriarchalen Strukturen wäre, gibt es trotz gelegentlicher weiblicher Oberhäupter kaum. Wenn sich jedoch Frauen von ihren Männern jederzeit trennen können, weil sie aufgrund matrilinearer Besitzverhältnisse (Moser 1997) oder etwa ihres eigenen Erfolgs als Marktfrauen wirtschaftlich von ihnen unabhängig sind, können sie auch Entscheidungen über Ausgaben für medizinische Behandlung und andere Maßnahmen für ihre eigene Gesundheit selber treffen. Eng verbunden mit der Stellung der Mädchen und Frauen in einer Gesellschaft ist die höchst gesundheitsrelevante Frage sexueller Beziehungen. Sind Frauen hier genügend selbstbestimmt oder aber durch autoritäre Strukturen zum Schutz von vorehelicher Jungfräulichkeit und ehelicher Treue bestimmt, wird ungewollter bzw. ungeschützter Geschlechtsverkehr mit den Folgen sexuell übertragbarer Erkrankungen, Verletzungen durch sexualisierte Gewalt und Schwangerschaften eher verhindert. Hingegen sind bei starker wirtschaftlicher oder sozialer Abhängigkeit, z. B. von Lehrern, Vorgesetzen und männlichen Familienangehörigen, die Durchsetzungsmöglichkeit von Mädchen und Frauen sehr begrenzt. Die überragende Rolle, die Empfängnisfähigkeit, Schwangerschaft und Geburt für den Fortbestand einer Gruppe spielt, haben zu zahlreichen weiblichen Initiationsritualen geführt, die an manchen Punkten Pendants zum männlichen Weg aufweisen. Diese Rituale sind zumeist Aufgabe älterer Frauen, von denen nicht wenige ebenfalls als Geburtsbegleiterinnen fungieren, und beinhalten mancherorts eingreifende, schmerzhafte, gefährliche und folgenreiche Manipulationen an den Geschlechtsorganen, die als weibliche Genitalverstümmlung (FGM) Gegenstand eines anderen Beitrags in diesem Band sind. Insgesamt dienen die Rituale dazu, die Mädchen vor oder an dem Zeitpunkt ihrer Geschlechtsreife oder unmittelbar vor der Hochzeit auf ihre Rolle als Frau und Mutter vorzubereiten, was Information, Warnung, Reinigung, Einübung und Schutzvorkehrungen beinhalten kann. Letzteres ist
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dann nach Eintritt einer Schwangerschaft noch einmal besonders wichtig, weil diese zusammen mit Geburt und Wochenbett als besonders gefährliche Lebensphase wahrgenommen wird. Tabubrüche und Flüche, wie der böse Blick, können das Kind vorgeburtlich schädigen oder die Mutter unter der Geburt versterben lassen und verlangen entsprechende Verzichte und Gegenmaßnahmen. Wenn vor oder in der Schwangerschaft etwa ein Ei zu Kahlköpfigkeit des Kindes oder der Verzehr bestimmter Tiere zu entsprechenden Missbildungen wie einer Hasenscharte führen soll, kann dies Proteinmangel verschärfen. Deshalb sind einschlägige Kenntnisse örtlicher Sitten auch ernährungsmedizinisch wichtig. Ein wichtiger jüngerer Zweig der Ethnologie aus Global Health-Perspektive ist die Entwicklungsethnologie, die geplante und politisch geförderte Veränderungsprozesse in Gesellschaften und ihren Institutionen untersucht (Bierschenk 2014). Auch in dieser Perspektive stellt die Frauenbildung und -emanzipation einen nicht unerheblichen Faktor dar, da die klassische Rolle der Frau als Fürsorgerin der Familie zu ihrer größeren Aufmerksamkeit für Grundbedürfnisse führt, darunter die Gesundheit. Frauen gelten entsprechend häufig als Schlüssel zur Entwicklung. Wenn man sie von der Sinnhaftigkeit bestimmter Prozesse, etwa im Bildungs- oder Gesundheitsbereich, überzeugt und dazu ermächtigt, werden diese in den Haushalten eher umgesetzt. Gesundheitskompetenz, wie „health literacy“ zunehmend statt mit Gesundheitsmündigkeit übersetzt wird, hat gerade bei Frauen eine Auswirkung weit über die eigene Person hinaus.
7.2 Ethnomedizin und Frauengesundheit Das ethnologische Interesse am Gebären wurde schon angesprochen. Auch wenn Geburt im weitaus größten Teil der Fälle ein physiologischer Vorgang und damit nicht Gegenstand der Medizin ist, hat sich – wie zunehmend die europäische Medizin selbst seit der Frühen Neuzeit – auch die Ethnomedizin intensiv mit Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Kindspflege beschäftigt, dabei selbstverständlich vorwiegend mit den kulturell unterschiedlichen Vorstellungen und Praktiken dazu (Sich 1980; Schievenhövel 1995; Binder-Fritz 2003, S. 99–102). Diese Ethnomedizin ist als interdisziplinäres Gebiet zwischen Ethnologie, heute Sozial- und Kulturanthropologie, und Medizin bzw. Gesundheitswissenschaften seit den 1950er-Jahren entwickelt worden und hat in ihrer Erforschung des Umgangs mit Krankheit und Heilung weitgehende Parallelen zur weitaus größeren Medical Anthropology im anglophonen Raum. Ähnlich wie sich in der akademischen europäischen Medizin die Frauenheilkunde erst langsam aus der Geburtshilfe entwickelt hat, lässt sich auch in der sogenannten traditionellen Medizin anderer Erdteile kaum ein eigener Bereich von Frauenkrankheiten jenseits von Schwangerschaft und Geburt ausmachen. Beschwerden, die in Deutschland in die Gynäkologie führen würden, können also sowohl von traditionellen Hebammen als auch allgemeinen Heilkundigen verschiedener Art behandelt werden.
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Ein Bereich von frauenspezifischen Problemen, der in traditioneller Medizin größte Aufmerksamkeit erfährt, ist hingegen die Infertilität. Die Unfähigkeit einer Frau, Kinder zu bekommen, kann dazu führen, dass sie nicht dauerhaft einen Mann bekommt, also entweder erst gar nicht zeremoniell heiratet oder vom Mann verlassen wird. Männliche Infertilität, also Impotentia generandi, als Grund für Kinderlosigkeit von Paaren wird weitaus seltener angenommen, außer natürlich im offenkundigen Fall von Impotentia coeundi. In Gesellschaften mit dia- oder synchroner Polygamie können ja Männer ihre entsprechende Fähigkeit beweisen, aber auch Frauen versuchen in verschiedenen Gesellschaften nicht selten, ihrem Unglück durch Verkehr mit anderen Männern zu entkommen. Kinderlosigkeit ist so ein großes Unglück, dessen Ursache Anlass zu vielen Vermutungen gibt. Für die Frau besonders schlimm wäre der Verdacht, sie habe ein Tabu gebrochen oder Ahnengeister erzürnt, sei also selber schuld an diesem Schicksal. Wohl häufiger entsteht der Verdacht der Verhexung oder Verfluchung, dass also missgünstige Mitmenschen, z. B. Nebenfrauen und verärgerte Schwiegermütter, absichtlich oder unabsichtlich diesen Zustand mit geheimen Kräften verursacht haben. Diese auch in der europäischen Volksmedizin bzw. -religion gängigen Vorstellungen führen dann gewöhnlich zu Versuchen, die vermeintlich Schuldigen zu identifizieren und mit öffentlichen oder ebenfalls geheimen Mitteln zu neutralisieren. Experten für die Behebung von weiblicher Unfruchtbarkeit sind also entsprechend gefragt und teuer. Sie sind deshalb in asiatischen oder afrikanischen Großstädten auch für die moderne Reproduktionsmedizin einschließlich In-Vitro- Fertilisation zu finden (Hörbst 2012). In meiner Feldforschungsregion im ländlichen Südosten Tansanias ergab eine Umfrage in über einhundert Haushalten zur Zugänglichkeit von Behandlung allgemein, dass von allen Gesundheitsproblemen und Therapieangeboten die Behandlung von Unfruchtbarkeit durch einen muslimischen Schriftgelehrten die teuerste wäre (Bruchhausen 2006, S. 264). Angesichts der zentralen Rolle, die Müttersterblichkeit in der Missions- und Kolonialmedizin, später in Primary Health Care (PHC) und International Health spielt, haben die sogenannten traditionellen Hebammen auch ethnomedizinisch besondere Aufmerksamkeit erfahren. Entsprechende Studien haben enorme Unterschiede im Professionalisierungsgrad und entsprechend im Wissen dieser Frauen erwiesen, was von nicht formal gelernter Nachbarschaftshilfe mit vielleicht ein oder zwei Geburtsbegleitungen im Jahr bis zu mehrjähriger Lehrzeit mit späterer geradezu beruflicher Tätigkeit reicht. Trotz dieser sehr unterschiedlichen Voraussetzung wurden im Rahmen des PHC-Konzepts, personelle Ressourcen aus der traditionellen Praxis in das Ziel „Gesundheit für alle“ einzubinden, in vielen Ländern solche Frauen zu sogenannten „Traditional Birth Attendants“ (TBA) ausgebildet. Der Begriff soll sie von den „Midwives“, oft entsprechend weitergebildete Krankenschwestern, als biomedizinisch ausgebildete Beschäftigte des Gesundheitswesens unterscheiden. Ihre Ausbildung bestand besonders in Hygienemaßnahmen bei der Leitung physiologischer Geburten sowie Erkennung von fehlendem Geburtsfortschritt und geburtsunmöglichen Kindslagen zur rechtzeitigen Verlegung ins Krankenhaus (Bruchhausen 2006, S. 512–518). Entsprechend sind sie sowohl an biomedizinischen Attributen wie Handschuhen oder Scheren zur Durchtrennung der
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Abb. 7.1 „Traditional Birth Attendant“ mit moderner Hygieneausstattung und traditionellen Initiationsritualen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett (Gemälde von Steve Malolo, Tansania, 2001)
Nabelschnur als auch Durchführung der ortsüblichen Rituale in den verschiedenen Phasen von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu erkennen, wie die folgende Darstellung eines tansanischen Malers zeigt (Abb. 7.1). Obwohl die TBA-Programme im Hinblick auf den Verbleib der ausgebildeten Frauen in ihren Dörfern und die Akzeptanz in der Bevölkerung als großer Erfolg gesehen werden können, also das gesundheitssystemische Bewertungskriterium „Responsiveness (to people’s non-medical expectations)“ (World Health Report 2000, S. 25) in hohem Maße erfüllten, bleibt ihr zukünftiger Beitrag zur Senkung der Müttersterblichkeit zu eng begrenzt. Denn die meisten Todesursachen entstehen unvorhergesehen unter der Geburt und sind daher nur in Gesundheitseinrichtungen beherrschbar, nicht aber bei häuslichen Geburten. Deshalb haben WHO und UNICEF zusammen mit UNFPA und der Weltbank die Fortführung der Programme zur eigenständigen Geburtsleitung nicht befürwortet (WHO/UNFPA/UNICEF/ World Bank 1999). Weitere wichtige Themengebiete der Ethnomedizin zur Frauengesundheit und insbesondere zum zeitlichen Umfeld der Geburt sind die Einführung neuer wissen-
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schaftsbasierter Technologien und die Migration. Ersteres hat sich auch in westlichen Gesellschaften intern ergeben und wurde unter Begriffen wie „Medikalisierung von Schwangerschaft, Geburt und Menopause“ intensiv diskutiert und teilweise kritisiert (Pfleiderer 1997). Beides, neue Techniken und neue Kontexte, ergibt sich aber insbesondere in der durch Globalisierung forcierten Wanderung von Menschen, Methoden und Material rund um den Globus. Denn überall in der Welt sind heute auch die Maßnahmen zur Vor- und Nachbereitung der Entbindung vom Aufeinandertreffen internationaler mit lokalen oder verschiedener nationaler Erwartungen und Praktiken geprägt. So untersuchten ethnographische Studien, wie der Transfer des vorgeburtlichen Ultraschalls nach Ostafrika (Müller-Rockstroh 2010) oder die Entbindung von Chinesinnen in einem deutschen Krankenhaus (Kotte 2010) die Erfahrungen von Schwangerschaft und Wochenbett verändern.
7.3 Sozialethik und Frauengesundheit Sehr kontrovers ist die Frage diskutiert worden, welche ethische Berechtigung und eventuell sogar Verpflichtung besteht, in kulturell fest etablierte Verhältnisse und Praktiken einzugreifen, wenn sie für Frauen gesundheitlich schädigend wirken können. Hier zeigten sich etwa bei FGM auch Unterschiede zwischen Ethnologen und den immer zahlreicher werdenden Ethnologinnen, was die große Bedeutung der eigenen gesellschaftlichen Positionierung für ethnologische Perspektiven belegt. In der moralphilosophischen Debatte entstand hier ein Streit zwischen absolutistischem Universalismus einerseits, der sowohl in folgenorientiert-utilitaristischen als auch in pflichtenethischen Konzeptionen dominiert und weltweit einheitliche Normierungen favorisiert, und stärker relativ argumentierendem Partikularismus andererseits. Denn der nimmt eher die Verwirklichung von Normativität in konkreten und damit sehr unterschiedlichen Lebensverhältnissen in den Blick. Zur letzteren Richtung gehört nicht zuletzt die feministische Care-Ethik (Gilligan 1993), die eine starre Befolgung universaler Pflichten als Eigenschaft des weißen, männlichen Protestanten in den USA herausgearbeitet hat und persönliche Beziehungen gegenüber rein abstrakten Verpflichtungen stärker in den Vordergrund stellt. Dass sie mit dieser Betonung von Beziehung auch vielen moralischen Konzepten als traditionell angesehener Gruppen und Gesellschaften entspricht, warnt vor vorschnellen Zuordnungen und Parteinahmen im Sinne einer vermeintlich klaren Dichotomie von Tradition und Moderne. Da die beiden Richtungen auf recht unterschiedlichen Ebenen argumentieren, müssen sie nicht unversöhnlich bleiben, sondern sind in einen gegenseitigen Lernprozess eingetreten (Bruchhausen 2003). Der Universalismus kann lernen, wie er unterschiedliche Lebenswelten z. B. von Geschlechtern und ethnischen Gruppen berücksichtigen muss, um nicht eventuell kontraproduktiv zu werden – eine Entscheidung muss immer zugleich „recht und billig“, nicht nur dem Wortlaut nach korrekt sein. Und jeder Partikularismus muss real wirksame Normen immer wieder an den allgemeinen Ansprüchen des gemeinsamen Menschseins messen lassen,
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z. B. universalen Frauenrechten. Damit sind wir von den Verpflichtungen zu den korrespondierenden Ansprüchen in Form von Rechten gekommen. Auch wenn sich die rechtliche Gleichstellung von Frauen in westlichen Gesellschaften erst spät und langsam durchsetzt, ist sie heute doch eine international anerkannte Voraussetzung von Rechtsstaatlichkeit, die sich auch in Verfassungen im Globalen Süden findet. Dabei ging in Europa und Nordamerika – wie meistens in Demokratien – die moralische Forderung gewöhnlich der gesetzlichen Umsetzung voraus, während gleichzeitig in verschiedenen Gesellschaften aller Erdteile die herrschende Moral nicht selten hinter dem rechtlichen Anspruch hinterherhinkt. Mit solchen starken Diskrepanzen zwischen Norm und Wirklichkeit der Lage von Frauen hat es auch die Frauengesundheit zu tun. International ist das wohl wichtigste normative Instrument zur Verbesserung von Frauengesundheit das Menschenrecht auf den bestmöglichen Gesundheitszustand, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg in der Präambel zur Konstitution der Weltgesundheitsorganisation und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert wurde. Besonders einflussreich ist inzwischen der völkerrechtlich verbindliche Kommentar Nr. 14 zum Recht auf Gesundheit aus dem Jahr 2000, weil er auf mögliche Spannungen zwischen verschiedenartigen Ansprüchen recht deutlich eingeht: Es geht um Rücksicht auf die Kultur von Individuen und von Gruppen und auf alle Altersstufen und Geschlechter, es darf also nicht das eine einfach gegen das andere ausgespielt werden (CESCR 2000). Der Menschenrechtsansatz ist immer besonders da erforderlich, wo es um schwache und vulnerable Gruppen geht, weil gesellschaftlich Starke auch ohne einen solchen Schutz ihre Interessen durchsetzen. Zu den vulnerablen Gruppen gehören entsprechend Frauen und Kinder, denn ihre physische, soziale und wirtschaftliche Unterlegenheit ist vielfach eklatant. So besagt die Bestimmung des Kommentars, dass Gesundheitseinrichtungen die Kultur von Gruppen und Individuen respektieren müssen, ausdrücklich auch, dass dies nicht geschlechts- und lebensaltersbezogene Rechte beeinträchtigen darf. Die Gesundheitsansprüche von Frauen und Kindern dürfen also nicht kulturellen Bräuchen geopfert werden. Überkommene Regeln, dass Männer für ihre Frauen und Eltern für ihre Kinder über Behandlung und Gesundheitsschutz auch gegen deren Willen und Interessen bestimmen dürfen, werden also durch das Menschenrecht auf Gesundheit in Frage gestellt. Wie das dann im konkreten Fall auszusehen hat, ist jeweils zu entscheiden. Menschenrechte sind als abstrakte Normen eben keine detaillierten Gebrauchsanweisungen, sondern verbindliche Ansprüche, die in jeweiligen Bedingungen verwirklicht werden müssen, nicht in einem nie existenten Vakuum. Neben der Notwendigkeit der Konkretisierung, die jede Norm hat, ist die besondere Herausforderung der Menschenrechte die Orientierung am Bestmöglichen. Ist es doch häufig nicht der fehlende Wille, sondern die fehlende Möglichkeit, die das medizinisch eigentlich Gebotene in Frauenheilkunde und Geburtshilfe verhindert. Das empfindet man bei ärztlichen Auslandseinsätzen besonders stark. Die sichersten Anästhesie- und Überwachungsmethoden sind oft nicht verfügbar, hygienische Bedingungen und Qualifikationsmängel des Personals bedeuten zusätzliche Gefährdungen. Dann aber einfach nichts zu tun, weil die bestmöglichen Standards
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aktuell nicht zu erfüllen sind, wäre zynisch und sicher nicht im Interesse der Betroffenen. Aber sich dauerhaft mit enormen, lebensgefährlichen Unterschieden in den Standards abzufinden, wäre dies ebenso. Weitere ethische Herausforderungen für globale Frauengesundheit liegen in den Spannungen zwischen europäischen und jeweiligen einheimischen Wertvorstellungen. Denn gerade in der Bewertung von Fruchtbarkeit und Kinderzahl sind – auf jeden Fall waren – deutliche Unterschiede festzustellen, nicht zuletzt, weil in den Überlebenschancen geborener Kinder und der Altersversorgung gravierende Ungleichheiten fortbestehen. Die höhere Kinderzahl in verschiedenen afrikanischen, asiatischen und indigenen lateinamerikanischen Gesellschaften ist keineswegs nur ungewollt, also fehlendem Zugang zu hormonellen oder mechanischen Kontrazeptiva geschuldet. Auch in Westeuropa sank die Kinderzahl schon vor der Einführung entsprechender naturwissenschaftlich entwickelter Mittel mit Beginn der Rentenversicherung und sinkender Kindersterblichkeit um 1900. Deutlich wurde der Interessengegensatz 1974 auf der Weltbevölkerungskonferenz in Bukarest, als der Vorwurf aus dem Globalen Süden lautete, der Norden wolle eher Arme verhindern als Armut, also das beseitigen, worin andere Länder reicher sind, nämlich Kinder. Formal gelöst wurde diese Spannung 1994 auf der Nachfolgekonferenz in Rom, wo – statt staatlichem und internationalem Druck – der Zugang zu Verhütungsmitteln als Recht formuliert wurde. Doch die Verdächtigung europäischer Interessen bleibt, wie das immer wieder, zuletzt in Nordnigeria aufkommende Gerücht zeigt, Impfstoffen seien unfruchtbar machende Mittel beigemischt, nun oft verkürzt zur inzwischen auch in Europa geläufigen Behauptung, Impfungen machten unfruchtbar.
7.4 Schluss und Schlüsse In den vorangegangenen Ausführungen und Beobachtungen hat sich wiederholt gezeigt, wie sehr die Frauengesundheit einer globalen und einer auch soziokulturellen Perspektive bedarf. Bei den Determinanten der Gesundheit spiel die Lebenssituation von Frauen, die wiederum von sozialen Strukturen und kulturellen Normen bestimmt ist, eine entscheidende Rolle. In ethischer Perspektive sind wir im globalen Vergleich solcher „harter“ Daten wie Müttersterblichkeit, Ratio von qualifiziertem Personal und Gesundheitseinrichtungen pro Kopf oder Anzahl institutioneller Entbindungen von globaler Gerechtigkeit und Gleichheit („health equity“) weit entfernt. Im Gesundheitswesen selbst sind die behandelten kultur- und sozialanthropologischen Fragen alleine gegenüber den verheerenden Auswirkungen von Unterfinanzierung und Brain Drain in vielen Ländern vielleicht die weniger hohen Hürden für die Nutzung von Gesundheitseinrichtungen und die dadurch mögliche Steigerung der Überlebenschancen Schwangerer und ihrer Kinder. Sie werden aber mit zunehmender Verfügbarkeit („availability“), Zugänglichkeit („accessability“) und Leistungsfähigkeit („quality“) der Gesundheitsdienste noch einmal wichtiger. Denn zum Menschenrecht auf Gesundheit gehört (nach dem „AAAQ approach“) ausdrücklich neben diesen drei Bedingungen für Gesundheitseinrichtungen auch als
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W. Bruchhausen
Antworten auf die Eingangsfragen
Spätestens vor dem Hintergrund dieser Ausführungen sind hoffentlich die zutreffenden Antworten auf die eingangs gestellten Fragen klar geworden: 1E, 2A und 3D. Als kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplin beschäftigt sich die Sozial- und Kulturanthropologie und damit auch die Ethnomedizin mit den soziokulturellen Umgebungsfaktoren von Gesundheit, nicht mit den naturwissenschaftlich untersuchbaren Eigenschaften von Krankheitserregern und anderen physischen Krankheitsursachen und auch nicht mit biologischen Vorgängen im menschlichen Körper. Bei den Debatten um die Aufnahme westlicher Maßnahmen in ehemaligen Kolonialgebieten waren medizinische Maßnahmen, die in der Schwangerschaft und unter der Geburt das Leben von Mutter und Kind direkt schützen, weitgehend unstrittig. Die Argumentation, dass weniger Geburten durch Familienplanungsmaßnahmen („spacing of births“) die Gesundheit von Mutter und Kindern verbessern, wurde hingegen in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlicher religiöser Ausrichtung und ethnischer Prägung als europäische Einflussnahme anfangs kritisch bis ablehnend aufgenommen.
vierte die Annehmbarkeit („acceptability“), also die Anpassung an die soziokulturell bestimmten Erwartungen, Bedürfnisse und Möglichkeiten der Menschen.
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Müttersterblichkeit: Stand, Fortschritt, und Ausblick Claudia Hanson und Ali Saidi
Inhaltsverzeichnis 8.1 8.2 8.3 8.4
Einführung: Müttersterblichkeit auptursachen der Müttersterblichkeit H Wie wird Müttersterblichkeit gemessen? Eine kurze historische Perspektive: Von den Anfängen 1980 bis zum Ende der Millenniumentwicklungsziel-Periode 2015 8.5 Bestandsaufnahme am Ende der Millennium-Entwicklungsziel-Periode 8.6 Herausforderungen heute: Die Zeit der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) nutzen 8.7 Hebammenausbildung und Verbesserung von Mütterund Neugeborenengesundheit 8.8 Respektvolle geburtshilfliche Versorgung 8.9 Auditing von Mütter- und Neugeborenensterbefällen und Qualitätsverbesserung 8.10 Ein kurzer Ausflug zur Neugeborenengesundheit Literatur
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C. Hanson (*) Department of Global Public Health, Karolinska Institutet, Stockholm, Sweden e-mail: [email protected] A. Saidi Muhimbili National Hospital, Muhimbili University of Health and Allied Health Science (MUHAS), Dar-es-Salam, Tanzania © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_8
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Eingangsfragen
1. Mütterliche Mortalität (Maternal Mortality Ratio) bezeichnet die Anzahl mütterlicher Todesfälle während der Schwangerschaft, unter der Geburt und in den sechs Wochen danach bezogen auf die: A. Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes B. Anzahl der Frauen im gebärfähigen Alter C. Anzahl der Lebendgeburten zur gleichen Zeit und Gebiet 2. Welche Kombinationen von Faktoren führen zu den höchsten Müttersterblichkeitsraten? A. Asien und Unterdrückung von Frauen B. Afrika und Armut C. Amerika und restriktive Gesetzgebungen zu Aborten D. Konflikte, Armut und nicht funktionierende Gesundheitssysteme 3. Welche Strategie wird zurzeit als am wichtigsten gesehen, um mütterliche Mortalität am stärksten senken? E. Verbesserung der Qualität der geburtshilflichen Versorgung F. Verbesserung der Zugangswege zu den jeweiligen Entbindungskliniken G. Bessere Aufklärung der Schwangeren
8.1 Einführung: Müttersterblichkeit Sterbefälle während der Schwangerschaft, der Geburt und den sechs Wochen des Wochenbettes – sogenannte Müttersterbefälle – sind weiterhin eines der dringendsten und beschämendsten Probleme unserer Zeit. Im Jahr 2017, dem letzten Jahr, für welches wir derzeit Daten haben (März 2022), starben 295.000 Frauen (Unsicherheits-Intervall [UI]: 279.000 zu 340.000) während der Schwangerschaft, Geburt oder im Wochenbett. Die globale Müttersterblichkeitsrate wurde auf 211 von 100.000 Lebendgeburten im Jahr 2017 geschätzt – mit sehr großen regionalen Unterschieden: Afrika hatte südlich der Sahara 2017 eine Müttersterblichkeitsrate von 542 (UI 498 zu 649). Im Vergleich: Die Subregion südliches Asien hatte eine Rate von 157 auf 100.000 Geburten. Dies war ein Rückgang von 384 auf 157 in den 17 Jahren seit 2000, eine Verbesserung von 5,3 % pro Jahr (WHO et al. 2019) (Abb. 8.1)! In absoluten Zahlen haben Nigeria und Indien die meisten Müttersterbefälle zu verzeichnen, ungefähr ein Drittel aller weltweiten Sterbefälle: 67.000 beziehungsweise 35.000 Fälle fanden nach Schätzungen in diesen beiden Ländern im Jahr 2017 statt (WHO et al. 2019). Aber es gibt auch Positives zu berichten: Das globale Risiko eines 15-jährigen Mädchens, während der Schwangerschaft, Geburt und des Wochenbettes zu s terben, ist zwischen den Jahren 2000 und 2017 von 1 unter 100 auf 1 Todesfall unter 190 Mädchen gesunken.
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Abb. 8.1 Müttersterblichkeit 2017 und Fortschritt seit 2000, adaptierte WHO-Karte 2019 (CC- BY-NC-SA 3.0 License). Kartenlegende: Nordamerika (+52 %), Lateinamerika und die karibischen Staaten (−23 %), Afrika südlich der Sahara (−38 %), zentral und südliches Asien (−60 %) und Ostasien (−50 %). (Mit freundlicher Genehmigung von WHO)
8.2 Hauptursachen der Müttersterblichkeit Die Hauptursachen von Müttersterblichkeit sind Blutungen vor und nach der Geburt (27 % der Sterbefälle), hypertensive Erkrankungen (14 %), Sepsis (11 %), und Aborte (Fehlgeburten und Schwangerschaftsabbrüche, (8 %), Embolismus (3 %) und andere direkte Ursachen (10 %). Dazu kommen sogenannte indirekte Ursachen wie eine Malaria oder HIV-Infektionen oder Anämie (Say et al. 2014). Die Hauptursachen haben sich in den letzten Jahren wenig verändert. Vorerkrankungen, oftmals wegen eines höheren Alters der Mutter, spielen in reicheren Ländern eine größere Rolle, aber Blutungen bleiben Haupttodesursachen (Graham et al. 2016).
8.3 Wie wird Müttersterblichkeit gemessen? Alle Müttersterblichkeitsdaten sind grobe Schätzungen, deshalb werden sie mit dem sogenannten Unsicherheitsintervall veröffentlicht. Die Unsicherheit muss man unterscheiden von den Konfidenzintervallen, die man aus der Epidemiologie kennt. Die Unsicherheiten gehen weiter als die bekannten 95 % Konfidenz-Unsicherheiten, die durch Stichproben kommen: Die meisten Studien in armen Ländern nutzen indirekte Methoden wie die sogenannte Schwester-Methode. Hier fragt man in Haushaltsstudien Schwestern zum Überleben von Schwestern unter der Annahme, dass
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Schwestern über ein ganzes Leben Kontakt halten und Auskunft geben können (WHO und UNICEF 1997). Direkte Methoden, zum Beispiel die direkte Haushaltmethode, die in Haushaltsstudien Mütter zu Kinder- und Neugeborenen-Sterbefälle befragt, sind ebenfalls schwierig für Müttersterblichkeitsmessungen: Zum einen gibt es glücklicherweise weniger Mütter- als Säuglingssterbefälle – somit bräuchten direkte Messungen sehr große Stichproben, und zweitens lösen sich Haushalte oft auf, wenn eine Mutter stirbt. In Ländern in Europa, Australien, den USA und anderen reicheren Ländern kommen die Daten aus den staatlichen Geburts- und Sterbefällen-Registern. Diese sind zwar auch nicht vollständig, aber geben weit genauere Daten als die indirekten Messungen. Es ist also wichtig, Müttersterbefälle immer als Schätzungen und nie als absolute gültige Zahlen zu sehen (Hanson 2011). Er gibt drei Indikatoren, die man unterscheiden sollte, auch wenn dies in einigen Sprachen, wie der deutschen Sprache, schwierig ist, weil Rate und Ratio nicht unterschieden werden. Im Prinzip bezieht sich eine „Rate“ auf Todesfälle innerhalb eines Zeitraumes – während eine Ratio ein einfacher Quotient ist. Die Müttersterberate, die Zahl der Todesfälle in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett auf 100.000 Lebendgeburten am gleichen Ort und zur gleichen Zeit (englisch: Maternal Mortality Ratio, MMR) ist der am meisten genutzte Indikator. Diese Messung beschreibt das Risiko einer Frau, wenn sie schwanger ist, zu sterben. Dann gibt es eine zweite Müttersterberate, die ebenfalls die Todesfälle in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett misst, aber diese auf 100.000 Frauen im gebärfähigen Alter bezieht (englisch: Maternal Mortality Rate, MM-rate). Diese Rate misst das Risiko, schwanger zu werden und im Laufe von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu sterben. Damit sinkt diese Rate oft schnell, wenn Familienplanung die Zahl der Schwangerschaften pro Frau verringern. Eine dritte Messung ist das Lebensrisiko, bei dem oft das Risiko einer 15-Jährigen, im Laufe von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu sterben, angegeben wird. Auch dies misst die Zahl der Schwangerschaften wie auch das Risiko, während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu sterben.
8.4 Eine kurze historische Perspektive: Von den Anfängen 1980 bis zum Ende der Millenniumentwicklungsziel-Periode 2015 Während Familienplanung und Kindergesundheit seit den 1960er-Jahren einen festen Platz in der internationalen Diskussion und Entwicklungszusammenarbeit hatten, kam das Problem der weltweiten Müttersterblichkeit erstmals 1987 mit der ersten internationalen Konferenz in Nairobi auf die internationale Agenda (Moller et al. 2019). Hier wurde zum ersten Mal das Ziel festgelegt, Müttersterblichkeit zu
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reduzieren, ein Ziel, welches auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 (United Nations 1994) nochmals betont wurde: Die Halbierung der Muttersterblichkeit innerhalb von 15 Jahren (Moller et al. 2019). Anfang der 1990er-Jahren schätzte man die Müttersterblichkeit auf ungefähr 850 auf 100.000 Lebendgeburten in Afrika und 410/100.000 in Südostasien. In den meisten armen Ländern entbanden weniger als 40 % der Frauen in Gesundheitseinrichtungen und nur 1–2 % bekamen ein Kaiserschnitt. Diese Daten zeigten klar, dass viele Frauen mit Komplikationen nicht erreicht wurden. Im Jahre 1994 veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation ein erstes Strategie-Dokument, das Mütter-Kind-Paket (Mother-baby Package). Dieses Papier definierte vier Hauptpfeiler für die Versorgung von Frauen und ihrer Neugeborenen: i) Familienplanung, ii) Schwangerenvorsorge, iii) saubere und adäquate Hausgeburtshilfe, zumeist von Dorfhebammen angeboten, und iv) Zugang zu Geburtshilfe für Komplikationen, unter anderen zu Kaiserschnitten (WHO 1996). Diese vier Pfeiler waren eingebunden in das Primärgesundheitsprogramm (WHO 1978), welches die Weltgesundheitsorganisation seit dem Jahre 1978 vorschlägt, um Gesundheit zu verbessern. In der 1990er-Jahren wurden viele Programme unterstützt, welche Dorfhebammen ausbildeten. Schwangerenvorsorge wurde eingeführt bzw. ausgeweitet. Auch das Angebot von Familienplanung wurde in vielen Ländern mit umfassender internationaler Hilfe ausgeweitet, um Frauen die Möglichkeit zu geben, nicht-gewollte Schwangerschaften zu verhindern. Darüber hinaus ermöglicht Familienplanung, Risikoschwangerschaften zu vermeiden: Schwangerschaften in sehr jungem oder hohem Alter, nach zu rascher Geburtenfolge oder Mehrgebärende (Royston und Armstrong 1990). In Asien waren Familienplanungsprogramme sehr erfolgreich. In den meisten Ländern in Asien liegt die Zahl der Schwangerschaften pro Frau heute nur wenig über zwei Kindern. Ende der 1990er wurden Dorfhebammen und Schwangerenvorsorge-Programme jedoch vermehrt als zu wenig zielführend erachtet, da die Müttersterblichkeit nicht wie gehofft abnahm. Die Idee des Mütter-Kind-Pakets basierte auf der Annahme, dass man Hochrisikoschwangerschaften mit genügender Sicherheit identifizieren konnte. Frauen ohne Risiko wurde dann eine Hausgeburt mit einer Dorfhebamme empfohlen, welche im besten Fall Basishygienemaßnahmen anwenden konnte. Dazu gehörte die Nutzung einer ungenutzten, desinfizierten Rasierklinge zum Durchtrennen der Nabelschnur, Seife zum Händewaschen und eine saubere Unterlage. Risikoschwangerschaften sollten nur im Krankenhaus stattfinden. Dieses Prinzip kam jedoch an seine Grenzen, da es schwierig war, exakt die Risikoschwangerschaften zu identifizieren (Jahn et al. 1998). So konnten zum Beispiel die meisten Zwillingsgeburten nicht herausgefiltert werde, da es keinen Ultraschall gab und klinische Methoden zu ungenau waren (Hanson et al. 2019). Die einfachen Risikofaktoren wie erste Geburt und viele vorherige Geburten haben aber eine niedrige Vorhersagekraft für das Auftreten von Komplikationen. Das Prinzip der Risikoiden-
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tifizierung zeigte sich damit als wenig geeignet, Müttersterbefälle im größeren Rahmen zu verringern. Ende der 1990er wurden mehrere Studien publiziert, die untersuchten, wie Länder in Europa Müttersterblichkeit im letzten Jahrhundert reduzierten, wie zum Beispiel in Schweden (Högberg 1985). Diese Studien wiesen darauf hin, dass Dorfhebammen zu wenig Erfahrung und Ausbildung mitbringen, um Müttersterblichkeit zu verringern. Nur wenn vollausgebildete Hebammen die Geburtshilfe übernahmen, verringerte sich die Müttersterblichkeit (De Brouwere et al. 1998; Högberg und Wall 1986; Loudon 1992). Dies wurde dann in den sogenannten Millennium-Zielen als Haupt-Indikator aufgenommen. Neben der Reduzierung der Müttersterblichkeit zwischen 1990 und 2015 um 75 % war nun das wichtigste Ziel, allen Frauen eine Geburt mit einer ausgebildeten Fachkraft zu ermöglichen (United Nations 2015). Dies führte dann zu einer starken Ausweitung von Ausbildungsprogrammen. Allerdings wurden die Fachkräfte oft nur ein bis zwei Jahre ausgebildet und können damit nicht als vollständig ausgebildete Hebamme angesehen werden (Adegoke et al. 2012; Utz et al. 2013). Da die Programme oft in Basisgesundheitsprogramme integriert wurden, wurden oft sogar Krankenschwestern mit nur 6-monatiger geburtshilflicher Ausbildung angestellt (Abb. 8.2). Parallel gab es wichtige Stimmen, die anmahnten, dass ein verbesserter Zugang zu geburtshilflicher Notfallversorgung notwendig sei. Der Begriff „geburtshilfliche Notfallversorgung“ (englisch: Emergency Obstetric Care) konzentrierte sich vor allem auf die Hauptursachen der Müttersterblichkeit wie post-partale Blutungen, Eklampsie, Infektionen und Schwangerschaftsabbrüche (WHO et al. 2009). Viele Programme seit den frühen 2000ern versuchen vor allem, besseren Zugang zur Versorgung von Komplikationen zu schaffen, i) durch Ausbildung von Gesundheitspersonal, um Kaiserschnitte in allen Krankenhäusern anzubieten, ii) verbesserter Bereitstellung essentieller Medikamente wie Oxytocin zur Vorbeugung und Behandlung von Blutungen nach der Geburt und Magnesiumsulfate zur Behandlung der (Prä-)Eklampsie und iii) Ausbildung zum Management von Komplikationen. Als dritter Pfeiler wurde die Schwangerenvorsorge umgestaltet – weg von dem primären Ziel der Risikoanamnese zu einem größeren Fokus auf die Initiierung von wichtigen präventiven Maßnahmen wie der Gabe von präventiven Malaria- Medikamenten und Moskitonetzen. Zeitgleich wurden HIV-Präventionsmaßnahmen verstärkt und das Testen jeder Schwangeren auf HIV wurde Standard. Zunächst wurden Medikamente gegeben, die bei der Geburt dazu führen sollten, dass sich das Risiko einer Übertragung auf das Kind reduzierte; später wurde dann eine einfache Therapie bereits in der Schwangerschaft initiiert. Heute haben viele Länder begonnen, lebenslange präventive HIV-Therapie in der Schwangerschaft zu initiieren, um den Virus maximal zu reduzieren. Dies hat die Weitergabe von HIV unter der Geburt stark reduziert.
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Abb. 8.2 Timeline der Erfolge mit Hebammenausbildung in Schweden im Vergleich zu anderen Ländern. (Graphik produziert mit Gapminder: Schweden führte im frühen 19. Jahrhundert das Hebammenwesen landesweit ein. Daraufhin reduzierte sich Müttersterblichkeit von circa 800 auf 500 verstorbene Frauen auf 100.000 Lebendgeburten. Nach den Studien von Semmelweis wurden dann auch aseptische Maßnahmen eingeführt, welche die Müttersterblichkeit weiter reduzierten. Es zeigten sich sehr große Unterschiede zwischen Schweden auf der einen Seite und auf der anderen Seite Großbritannien und den USA, die eine klinischere Geburtshilfe durch Ärzte bevorzugen. Nach der Jahrhundertwende erhöhte sich die Müttersterblichkeit auch in Schweden, vermutlich wegen einer hohen Zahl von septischen Schwangerschaftsabbrüchen. Im weiteren Verlauf sank dann die Müttersterblichkeit in allen drei Ländern drastisch. Moderne Medizin mit Antibiotika, Oxytocin zur Behandlung von Blutungen und Bluttransfusionen neben anderem zeigten hier Erfolge). (Quelle: Gapminder World, Download am 11.10.2013)
8.5 Bestandsaufnahme am Ende der Millennium-Entwicklungsziel-Periode Die globale Müttersterblichkeit stand 2015 bei 216 (UI 206 bis 249) auf 100.000 Lebendgeburten (WHO et al. 2015). Dieses war ein Rückgang um 44 % zwischen den Jahren 1990 und 2015 – also weit unter dem Ziel eines Rückgangs von 75 %, oder 5,5 % pro Jahr, wie in den Millennium Entwicklungszielen vorgeschlagen. Weiterhin fanden 99 % der Todesfälle in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen statt. Insgesamt 66 % der Todesfälle fielen auf Afrika südlich der Sahara. Die Zentralafrikanische Republik, der Chad, Nigeria, Südsudan, Somalia, Liberia, Burundi – also alles Länder mit großer innenpolitischer Instabilität – hatten
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die höchsten Müttersterblichkeitsraten, über 700 auf 100.000 Lebendgeburten (WHO et al. 2015). Die Strategien zur Verbesserung des Zugangs zu ausgebildeten Fachkräften hatten aber durchaus Erfolg: Die Zahl der Entbindungen unter Begleitung von ausgebildeten Fachkräften begann um das Jahr 2010 steil zu steigen. Montagu errechnete in einem 2017 publizierten Papier, dass Geburten in Gesundheitseinrichtungen im ländlichen Afrika zwischen ungefähr 2005 und 2015 durchschnittlich um 15 % zugenommen hatten (Montagu et al. 2017). Einige ländliche Gegenden, wie zum Beispiel im südlichen Tanzania, zeigten sogar eine Verdopplung, eine Zunahme von 40 auf 80 % aller Geburten in Gesundheitseinrichtungen (Hanson et al. 2015). Wichtig ist aber zu bedenken, dass diese Zunahme oft in schlecht ausgestatteten Primärgesundheitseinrichtungen mit nur begrenzt ausgebildetem Personal stattfand (Straneo et al. 2021). Die Kaiserschnittraten zeigten ein zweigeteilter Erfolg im Jahr 2015: In Ländern mit mittlerem Einkommen, wie Iran, Brasilien, der Dominikanischen Republik und vielen anderen, schnellten die Kaiserschnittraten auf über 30 % hoch. Im ländlichen Afrika verblieben sie aber weiterhin oft unter 5 % (Betrán et al. 2016). Dieser Trend der starken Zunahme der Kaiserschnittraten geht fast ungebremst weiter. Vor allem in Lateinamerika und den karibischen Staaten werden über 40 % der Frauen per Kaiserschnitt entbunden. Aber auch viele Gegenden und Länder in Asien hatten Zuwachsraten von 30–40 % in den letzten 30 Jahren (Betran et al. 2021). Diese Analyse von Betran et al. weist auch auf die zu erwartenden negativen Folgen der hohen Kaiserschnittraten auf die Gesundheit von Müttern hin wie auch auf die Kosten für die Gesundheitssysteme.
8.6 Herausforderungen heute: Die Zeit der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) nutzen Die Zeit der Millennium-Entwicklungsziele bis zum Jahre 2015 kann man charakterisieren als zwei Jahrzehnte, in denen vor allem ein verbesserter Zugang zu geburtshilflichen Einrichtungen im Vordergrund stand. Im Jahre 2015 – auch unter der wieder zurückgebliebenen Hoffnung auf einen einschlägigen Rückgang von Müttersterblichkeit – begann nun eine Periode, in der die Qualitätsverbesserung im Zentrum steht. In einer vielzitierten Publikation beziffert Kruk nun mehr Todesfälle durch mangelnde qualitative Versorgung anstatt von Problemen, Gesundheitsdienste zu erreichen (Kruk et al. 2018). Zum Beispiel, viele Frauen sterben, weil eine hypertensive Erkrankung in der Schwangerschaft nicht erkannt wurde, obwohl sie Schwangerenvorsorge in Anspruch genommen hat. Viele Programme versuchten durch verbesserte Trainings-, und Ausbildungsmethoden(Alwy Al-beity et al. 2019; Ameh et al. 2019), Qualitätsmanagement (Qua-
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lity of Care Network 2021; Waiswa et al. 2017) sowie dem etablierten Auditing von Mütter- und Neugeborenentodesfällen die Qualität der geburtshilflichen Versorgung zu verbessern.
8.7 Hebammenausbildung und Verbesserung von Mütter- und Neugeborenengesundheit Die Ausbildung von Gesundheitsmitarbeitern in geburtshilflicher Versorgung steht, wie bereits zuvor erwähnt, im Zentrum der Anstrengungen, Müttersterblichkeit zu reduzieren. Die 2018 formulierte Definition einer „Fachkraft unter der Geburt“ definiert nicht nur Aspekte des Wissens und der Kompetenzen, sie definiert auch ein unterstützendes Arbeitsfeld (WHO et al. 2018). Dies hat auch eine Diskussion initiiert, ob Geburten in Primärgesundheitseinrichtungen stattfinden sollten oder nur in gut ausgestatteten Krankenhäusern (Hanson und Schellenberg 2019; Hanson et al. 2020; Nimako et al. 2021). Die Diskussion wirft offene Fragen auf: Können Frauen in ländlichen Gebieten Afrikas und auch Asiens nun aufgrund guter ökonomischer Entwicklungen eine Fahrt zum 15–20 km weit entfernten Krankenhaus bezahlen? Kommen sie rechtzeitig? Können wir Schwangerenvorsorge im Jahr 2020 mit Ultraschall anbieten, sodass Mehrlingsgeburten im Krankenhaus stattfinden? Ein Konzept des Hebammen-geleiteten Kreissaals, angesiedelt zwischen Primärgesundheitsdiensten und Krankenhäusern, könnte eine Alternative sein. Aber in einem solchen Konzept muss eine funktionierende Risikoanamnese und -untersuchung möglich sein, damit zum Beispiel Frauen mit hypertensiven Erkrankungen oder Mehrlingsgeburten früh genug weitergeleitet werden. Zudem muss die Kooperation mit den Krankenhäusern funktionieren, Ambulanzen brauchen genügend Ausstattung. Das Lancet-Papier in der Serie zu Müttergesundheit aus dem Jahr 2016 diskutiert auch dies (Campbell et al. 2016). Eine weitere internationale Diskussion ist, ob nun weiter Krankenschwestern mit Zusatzausbildung im geburtshilflichen Bereich ausgebildet werden sollten oder speziell Hebammen. In Ländern mit hohem Einkommen gibt es viele verschiedene Ausbildungsprogramme und nicht selten ist das Hebammenwesen eine Spezialisierung nach einer Krankenschwesternausbildung. Dies bedeutet, dass eine Hebamme erst als Krankenschwester voll ausgebildet wird, und danach eine Spezialausbildung zur Hebamme macht. Dies aber führt zu langjährigen Ausbildungen und hohen Kosten. In Schweden wird zum Beispiel, darüber nachgedacht, wieder eine Hebammenausbildung als Primärausbildung (englisch: direct entry) zu schaffen. Auf jeden Fall ist international in den letzten Jahren zu sehen, dass viele Programme nun begonnen haben, dezidierte Ausbildungsprogramme für Hebammen anzubieten (UNFPA 2021). Aber dies braucht größere Investitionen, nicht nur in
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Ausbildungsprogramme, sondern auch Regulierung und Zertifizierung. In Ländern wie Indien, in denen Geburtshilfe oft im privaten Sektor stattfindet, trifft dies auf große Schwierigkeiten (Mayra et al. 2021).
8.8 Respektvolle geburtshilfliche Versorgung In den letzten 5–10 Jahren kam das Problem von respektlosem Umgang unter der Geburt, wie Anschreien, Schlagen, Treten, aber auch Alleinlassen vermehrt auf die internationale Agenda (Bohren et al. 2015, 2019). Die WHO, aber auch die Internationale Organisation für Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO) haben Policy- und Strategiepapiere veröffentlicht, um diese inakzeptablen Umgangsformen zu beenden (Homer et al. 2014; Lalonde et al. 2019). Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass Über- und Unterversorgung oft gleichzeitig stattfinden: Zu späte, inkorrekt indizierte und nicht nach internationalen Standards ausgerichtete Kaiserschnitte finden oft zusammen mit unnötigen geburtshilflichen Eingriffen statt (Miller et al. 2016). Kommunikation und Aufklärung ist nicht gut genug, um Frauen das Gefühl zu geben, gut versorgt zu sein, und dass sie verstehen, was mit ihnen passiert (Kwezi et al. 2021).
8.9 Auditing von Mütter- und Neugeborenensterbefällen und Qualitätsverbesserung Das Besprechen von Müttersterbefällen in Gesundheitseinrichtungen hat eine lange Tradition. Da Müttersterbefälle selbst dort, wo wir noch hohe Zahlen sehen, nicht täglich stattfinden, ist das Diskutieren von Ursachen und Faktoren in einer Runde mit allen, die beteiligt waren, eine gute Management-Komponente zur Qualitätsverbesserung. Das erste Buch dazu wurde von der WHO schon im Jahre 2004 herausgegeben (AbouZahr et al. 2004). Inzwischen gibt es viele weitere Bücher und Anleitungen von WHO und FIGO, welche die jahrelangen Erfahrungen in armen Ländern eingearbeitet haben (WHO et al. 2013). Wichtig ist, dass heute nicht nur Mütter- sondern auch Neugeborenen-Sterbefälle besprochen werden sollen und das System auch zum Zählen von Mütter- und Neugeborenensterblichkeit idealerweise genutzt wird (englisch: Maternal and Perinatal Death Surveillance and Response, MPDSR) (World Health Organization 2021). Wichtig in dieser nun veröffentlichten Handreichung ist, dass auch vermehrt darauf hingewiesen wird, dass nur dann, wenn die ausgearbeiteten Verbesserungsvorschläge auch implementiert werden, sich Qualität wirklich verbessert. In mehreren Publikationen wurde in den letzten Jahren aufgeführt, dass das Auditing selbst nicht zu verbesserter Implementierung führt (Said et al. 2021a, b). Parallel zu dem Auditing von Sterbefällen wurden in vielen Ländern auch vermehrt andere Qualitätsverbesserungskonzepte eingeführt. Das bekannteste ist sicher das WHO und UNICEF unterstützte „Quality of Care network“, welches in vielen Ländern in Afrika aktiv ist (Tanzania, Malawi, Uganda etc.) (Quality of Care
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Network 2021). Das Prinzip basiert auf dem „Plan-Do-Study-Act-Cycle“. Verschiedene Evaluierungen haben auf das Potenzial, aber auch auf Schwierigkeiten in der Implementierung hingewiesen (Waiswa et al. 2017; Zamboni et al. 2021).
8.10 Ein kurzer Ausflug zur Neugeborenengesundheit Ein Kapitel zu Müttersterblichkeit, ohne auf die weiterhin ebenfalls so beschämende Neugeborenensterblichkeit hinzuweisen, ist unvollständig: Das dringendste Gesundheitsproblem sind die vielen Totgeburten, die auch weiterhin nicht in irgendwelchen internationalen Zahlen registriert werden. Jedes Jahr kommen geschätzt über 2 Mio. Babys tot auf die Welt (Hug et al. 2021). Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass um 2,4 Mio. Neugeborene jedes Jahr in den ersten 28 Lebenstagen sterben. Hauptgründe sind Frühgeburtlichkeit und Komplikationen unter der Geburt (Perin et al. 2021; UN Inter-agency Group for Child Mortality Estimation 2021). Auf die negativen Auswirkungen auf Mütter und ihre Familie dieses oft unnötigen Sterbens wird viel zu wenig hingewiesen (Heazell et al. 2016; Lawn et al. 2016). Es ist wichtig, dass nun Programme zur Reduzierung von Müttersterblichkeit endlich stärker auch umfassende Qualitätsverbesserungen während der Schwangerschaft und Geburt ins Auge fassen. Pädiater haben das sehr erfolgreiche Programm des „Helping Babies Breathe“ in vielen Ländern eingeführt (Dol et al. 2018), nun ist es an der Zeit, dass Schwangerenvorsorge und geburtshilfliche Versorgung sich stärker auf die Reduzierung von Totgeburten und Neugeborenen- Sterbefälle konzentrieren. Antworten auf die Eingangsfragen
1. C. Anzahl der Lebendgeburten zur gleichen Zeit und Gebiet 2. D. Konflikte, Armut und nicht funktionierende Gesundheitssysteme 3. A. Verbesserung der Qualität der geburtshilflichen Versorgung
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Wichtige Tropenerkrankungen mit Relevanz für Frauengesundheit und Geburtshilfe Camilla Rothe und Jürgen Wacker
Inhaltsverzeichnis 9.1 E inleitung 9.2 Malaria 9.2.1 Einführung und Epidemiologie 9.2.2 Erreger und Transmission (Übertragung) der Malaria 9.2.3 Klinischer Verlauf der Malaria 9.2.4 Immunität gegen Malaria 9.2.5 Malaria in der Schwangerschaft 9.2.6 Malariadiagnostik 9.2.7 Malariatherapie 9.2.8 Malariaprävention 9.3 Schistosomiasis (Bilharziose) 9.3.1 Einleitung 9.3.2 Schistosomiasis – Epidemiologie 9.3.3 Lebenszyklus der Schistosomen 9.3.4 Krankheitsbild und Bedeutung für die Frauengesundheit 9.3.5 Diagnostik der urogenitalen Schistosomiasis 9.3.6 Therapie der Schistosomiasis 9.4 Zika 9.4.1 Einleitung 9.4.2 Erreger und Epidemiologie von Zika 9.4.3 Transmissionwege von Zika 9.4.4 Klinik der Zikavirusinfektion und Bedeutung für die Frauengesundheit 9.4.5 Diagnostik von Zika
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C. Rothe (*) Oberärztin Klinikum der LMU München Med. Klinik IV, Abt. f. Infektions- und Tropenmedizin, München, Deutschland e-mail: [email protected] J. Wacker ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_9
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C. Rothe und J. Wacker
9.4.6 9.4.7 9.4.8 9.4.9 iteratur L
ikadiagnostik für Paare mit Kinderwunsch Z Vorsorge von Schwangeren nach möglicher Zikaexposition Zikatherapie Prävention von Zika
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Eingangsfragen
1. Welche Auswirkungen hat die Malaria auf die Schwangerschaft? A. Die Schwangere hat ein erhöhtes Risiko für eine Malaria mit schwerem Verlauf. B. Die Rate an Frühgeburten ist erhöht. C. Mutter und Kind leiden an Blutarmut. D. Alle sind richtig. 2. Welche Komplikationen verursacht eine urogenitale Schistosomiasis für die Frau? A. Gebärmutterhalskrebs B. Erhöhe Rate an Zwillingsschwangerschaften C. Chronische Unterbauchschmerzen D. Schwere embryonale Fehlbildungen 3. Welche Komplikationen kann eine Zikavirusinfektion in der Schwangerschaft haben? E. Schwersten Krankheitsverläufe bei der Mutter F. Mikrozephalie beim Kind G. Präeklampsie H. Erhöhtes Risiko für einer Placenta praevia
9.1 Einleitung Im folgenden Kapitel werden drei Tropenkrankheiten vorgestellt, die eine besondere Bedeutung für die globale Frauengesundheit und Geburtshilfe haben: Die Malaria ist die wichtigste parasitäre Infektion des Menschen, sie kann sowohl Schwangere als auch ungeborene Kinder gefährden. Die Schistosomiasis verursacht bei Millionen von Frauen in Afrika vielfältige gynäkologische Beschwerden und wird dennoch in ihrer Bedeutung extrem unterschätzt. Die Zikavirus-Infektion kann schwerste fetale Entwicklungsstörungen hervorrufen.
9.2 Malaria 9.2.1 Einführung und Epidemiologie Malaria ist eine potenziell schwerwiegende parasitäre Infektion, die durch Mücken übertragen wird.
9 Wichtige Tropenerkrankungen mit Relevanz für Frauengesundheit und Geburtshilfe 113
Rund 240 Mio. Menschen erkrankten weltweit 2020 an Malaria, mehr als 620.000 Menschen starben daran. Rund 95 % aller Malariafälle und Todesfälle entfallen allein auf Sub-Sahara Afrika; die Mehrzahl der Malariatoten sind Kinder unter 5 Jahren (WHO 2021). Eine Malaria in der Schwangerschaft kann negative Auswirkungen für die Gesundheit von Mutter und Kind haben. Rund 11,6 Mio. Schwangerschaften in Afrika waren 2020 einem Malariarisiko ausgesetzt. Am höchsten war der Anteil in Westund Zentralafrika mit rund 40 % (WHO 2021). Auch in Asien, Ozeanien und Lateinamerika gibt es Malaria, in vielen dieser Regionen sind die Fallzahlen jedoch rückläufig.
9.2.2 Erreger und Transmission (Übertragung) der Malaria Malariaparasiten sind Einzeller von der Gattung Plasmodium. Sie werden durch dämmerungs- und nachtaktive weibliche Anopheles-Mücken übertragen. Die gefährlichste Form der Malaria bezeichnet man als „Malaria tropica“. Sie wird durch den Erreger Plasmodium (P.) falciparum verursacht. Die Malariaplasmodien wandern nach ihrer Injektion in den Körper zunächst durch die Leber, wo sie sich exponentiell vermehren. Nach rund einer Woche werden die Parasiten ins Blut abgegeben. Sie befallen die roten Blutkörperchen (Erythrozyten). In den Erythrozyten vermehren sie sich weiter, die infizierten Zellen zerfallen und geben Parasiten ins Blut frei, die weitere rote Blutkörperchen infizieren. Die infizierten Erythrozyten tragen auf ihrer Oberfläche Merkmale (Antigene). Damit docken sie an Oberflächenstrukturen von zahlreichen Zellen an. Dies verursacht komplexe Entzündungsreaktionen. Kleinste Blutgefäße werden durch die parasitierten Blutzellen blockiert. Dies gefährdet die Durchblutung lebenswichtiger Organe inklusive der Plazenta in der Schwangerschaft.
9.2.3 Klinischer Verlauf der Malaria Die Inkubationszeit der Malaria tropica beträgt ca. 7–30 Tage, kann aber auch länger sein (Ashley et al. 2018). Fieber ist das Schlüsselsymptom. Darüber hinaus kommen Schüttelfrost, Kopf- und Gliederschmerzen sowie Durchfall vor. Wird eine Malaria nicht rechtzeitig behandelt, kommt es bei Menschen ohne Teil-Immunität (s. u.) nach wenigen Tagen zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes (sog. schwere Malaria). Patienten mit schwerer Malaria können in ein Koma fallen und ein Multiorganversagen entwickeln. Die Letalität ist hoch.
9.2.4 Immunität gegen Malaria Bewohner von Malariahochrisikogebieten werden in der Regel von Kindheit an mit der Krankheit konfrontiert, viele sterben daran. Überleben sie dank zeitiger Therapie mehrere Malariaepisoden, so bildet sich mit der Zeit eine sog. Teilimmunität gegen die Er-
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krankung aus (White et al. 2014). „Teil-Immun“ bedeutet, dass eine Infektion mit Malariaerregern zwar noch möglich ist, schwere Erkrankungsverläufe jedoch ausbleiben.
9.2.5 Malaria in der Schwangerschaft Schwangere Frauen erleiden mehr Mückenstiche und haben daher ein erhöhtes Malariarisiko. Eine Teilimmunität gegen Malaria ist in den ersten beiden Schwangerschaften nicht wirksam (Rogerson et al. 2018). Schwangere erkranken daher häufiger an schwerer Malaria. Im Verlauf weiterer Schwangerschaften nimmt das Risiko schwerer Verläufe ab. Es entwickelt sich eine Immunität gegen schwangerschaftsspezifische Antigene des Parasiten. Zudem verursacht eine Malaria in der Schwangerschaft eine Blutarmut (Anämie) bei Mutter und Kind. Diese verstärkt oft eine vorbestehende Anämie, die z. B. durch Mangelernährung und Wurmerkrankungen bedingt sein kann. Malaria in der Schwangerschaft gefährdet die Durchblutung der Plazenta und damit die Versorgung des Kindes mit Sauerstoff und Nährstoffen. Die betroffenen Kinder weisen oft ein niedriges Geburtsgewicht auf. Wachstumsverzögerungen können auch nach der Geburt anhalten (Abb. 9.1).
Abb. 9.1 Einfluss der Malaria auf die Schwangerschaft und auf die Gesundheit von Mutter und Kind. (Aus: Rogerson et al. 2018)
9 Wichtige Tropenerkrankungen mit Relevanz für Frauengesundheit und Geburtshilfe 115
Durch den verminderten Transfer von Antikörpern durch die Plazenta weisen die Kinder eine erhöhte Infektanfälligkeit auf und reagieren auf Schutzimpfungen mit einer verminderten Immunantwort. Die Neugeborenen- und Säuglingssterblichkeit der betroffenen Kinder ist erhöht (Chua et al. 2021; Rogerson et al. 2018). Bei Malaria in der Schwangerschaft steigt zudem die Rate an Fehlgeburten und Totgeburten. Frühgeburten kommen häufiger vor, was vor dem Hintergrund der eingeschränkten neonatalen Versorgung in vielen Ländern des globalen Südens besonders problematisch ist.
9.2.6 Malariadiagnostik Goldstandard für die Malariadiagnostik in Deutschland ist die Mikroskopie eines Bluttropfens zum Nachweis der Parasiten in den Erythrozyten. Auch molekularbiologische Methoden wie die Polymerase-Kettenreaktion (PCR) kommen bei der Diagnostik zum Einsatz. In Afrika werden heute vorzugsweise Malariaschnelltests verwendet. Die Tests weisen Proteine des Erregers im Blut nach. Malariaschnelltests haben im globalen Süden die Malariadiagnostik revolutioniert, da sie sehr einfach durchzuführen sind. Man benötigt keinen Strom, kein Wasser, kein Labor und keine Fachkräfte. Die Malariadiagnostik bei Schwangeren unterscheidet sich nicht von der Diagnostik bei Nicht-Schwangeren (WHO 2022).
9.2.7 Malariatherapie Malaria ist gut behandelbar, sofern sie frühzeitig diagnostiziert wird. Je länger die Diagnosestellung verschleppt wird, desto schlechter ist das Resultat. Dies gilt im Besonderen für Menschen ohne Teil-Immunität (kleine Kinder und Primigravidae in Malariagebieten, Reisende). DieTherapieerfolgtlautWHOmitsogenanntenArtemisinin-Kombinationspräparaten (ACT). Diese werden als Tabletten über die Dauer von drei Tagen verabreicht. Sie sind hochwirksam und sehr gut verträglich. Eine schwere Malaria mit Organversagen ist akut lebensbedrohlich. Sie wird primär mit intravenösen Malariamedikamenten behandelt und sollte, wenn möglich, auf einer Intensivstation versorgt werden. Dies ist in den meisten Malariahochrisikogebieten oft aufgrund der sehr geringen Anzahl an vorhandenen Intensivbetten nicht möglich. In der Schwangerschaft wird eine Malaria genauso behandelt wie bei Nicht-Schwangeren: ACTs dürfen während der gesamten Schwangerschaft verabreicht werden (WHO 2022).
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9.2.8 Malariaprävention Der Schutz vor Malaria bei Menschen in Malariaendemiegebieten beruht auf der Verwendung von mit Insektiziden imprägnierten Bettnetzen und einer zeitigen Behandlung der Malaria. Für Schwangere in Endemiegebieten wird zudem die mehrmalige vorsorglichen Einnahme von Malariamedikamenten empfohlen („intermittent preventive treatment in pregnancy“, IPTp) (WHO 2022). Schwangere, die nicht in Malariaregionen leben, sollten von (Urlaubs-)reisen in Malariarisikogebiete absehen (Rothe et al. 2021a). Reisen ist in der Regel elektiv, das Risiko einer Malaria in der Schwangerschaft unnötig groß. Zudem sind zwei der drei in Deutschland zur Chemoprophylaxe einer Malaria empfohlenen Medikamente in der Schwangerschaft kontraindiziert. Das einzige verfügbare, Mefloquin, verursacht potenziell schwere neuropsychiatrische Nebenwirkungen. Für Kinder in Malariaendemigebieten empfiehlt die WHO seit 2021 eine Impfung gegen Malaria, welche das Risiko einer Infektion senkt (Alonso und O’Brien 2022). Im reisemedizinischen Kontext ist die Impfung nicht empfohlen, auch nicht zur Malariaprävention in der Schwangerschaft. An speziellen Impfstoffen gegen Malaria in der Schwangerschaft wird derzeit jedoch geforscht (Chua et al. 2021).
9.3 Schistosomiasis (Bilharziose) 9.3.1 Einleitung Schistosomiasis ist eine tropische Wurmerkrankung mit großer Bedeutung für die Frauengesundheit. Die Erkrankung wurde vom deutschen Parasitologen Theodor Bilharz entdeckt, sie wird daher auch als „Bilharziose“ bezeichnet. Schistosomiasis wird durch sog. Pärchen-Egel (Schistosomen) verursacht, die in den venösen Blutgefäßen des Menschen leben. Die Eier der Parasiten verursachen im Gewebe eine chronische Entzündungsreaktion (Colley et al. 2014). Schistosomiasis des Urogenitaltraktes kann zu vielfältigen gynäkologischen Problemen führen.
9.3.2 Schistosomiasis – Epidemiologie Mehr als 230 Mio. Menschen weltweit sind mit Schistosomiasis infiziert. Ca. 40–50 Mio. Frauen leiden an einer urogenitalen Schistosomiasis (Bustinduy et al. 2022). Sie wird durch Schistosoma (S.) haematobium verursacht. Dieser Parasit ist nur in Afrika, auf der arabischen Halbinsel und seit wenigen Jahren auch auf Kor-
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sika heimisch (Holtfreter et al. 2014; Rothe et al. 2021b). Schistosomiasis ist zudem eine der wichtigsten Tropenerkankungen bei Migranten aus Afrika (Buonfrate et al. 2018). Trotz ihrer Bedeutung zählt sie zu den vernachlässigten Tropenkrankheiten (englisch: neglected tropical diseases, NTDs).
9.3.3 Lebenszyklus der Schistosomen Die Infektion erfolgt durch Kontakt mit Süßwasser, z. B. beim Baden, Fischen oder beim Wasserholen, was für viele Frauen und Mädchen in Afrika ohne Zugang zu fließendem Wasser eine tägliche Aufgabe ist. Im Wasser finden sich Schistosomenlarven (sog. Zerkarien; Abb. 9.2). Diese penetrieren die Haut. Im menschlichen Körper gelangen sie durch den Blutstrom in die Lunge und von dort aus in den Blutkreislauf. Die Parasiten reifen heran; männliche und weibliche Parasiten leben als Paare in den Venengeflechten von Leber und Urogenitaltrakt. Das Weibchen legt täglich viele tausend Eier. Die Eier werden mit dem Urin ausgeschieden, bei anderen Formen der Schistosomiasis auch im Stuhl. Manche Eier verursachen auf ihrem Weg durch den Körper eine Entzündungsreaktion. Diese kann zum Gewebsumbau und zum Funktionsverlust von Organen führen (s. u.). Der Lebenszyklus des Parasiten kann sich nur dann schließen, wenn menschlicher Urin oder Fäkalien ungefiltert in Süßwasser gelangen, in dem andere Menschen baden. Betroffen sind daher oft Regionen, wo Menschen in extremer Armut leben (Hotez et al. 2019a). Abb. 9.2 Lebenszyklus von Schistosoma haematobium, dem Erreger der urogenitalen Schistosomiasis. (Aus: Bustinduy et al. 2022)
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9.3.4 Krankheitsbild und Bedeutung für die Frauengesundheit Als Frühsymptom der urogenitalen Schistosomiasis tritt oft blutiger Urin auf. Chronische Schistosomiasis kann Blasenkarzinome und Nierenversagen nach sich ziehen. Die Schistosomeneier können in Scheide, Gebärmutter, am Muttermund und in den Eierstöcken abgelagert werden. Die lokale Entzündungsreaktion führt zu Bauchschmerzen, Dyspareunie, Blutungen beim Geschlechtsverkehr, Beeinträchtigungen der Fruchtbarkeit, vaginalem Ausfluss, Eileiterschwangerschaften und irreguläreren Menstruationsblutungen. Es gibt Hinweise, dass Frauen mit genitaler Schistosomiasis ein erhöhtes Risiko für eine HIV-Infektion haben. Schwangere, die an HIV- und Schistosomiasis leiden, haben zudem ein erhöhtes Risiko, die HIV-Infektion auf das Kind zu übertragen (Hotez et al. 2019b). Man schätzt, dass 33–75 % der Frauen und Mädchen mit einer Schistosomiasis urogenitale Beschwerden haben, rund 40–50 Mio.. Damit ist die urogenitale Schistosomiasis eine der häufigsten gynäkologischen Erkrankungen in Afrika (Hotez et al. 2019a).
9.3.5 Diagnostik der urogenitalen Schistosomiasis Die Schistosomen-Eier sind im Urin mikroskopisch nachweisbar. Bei einer Blasenspiegelung, Kolposkopie, oder einer Bauchspiegelung können entzündliche Veränderungen und Verkalkungen des Gewebes nachgewiesen werden. Auch in Biopsien betroffener Gewebe können Schistosomen-Eier und die typische Entzündungsreaktion detektierbar sein (Colley et al. 2014; Kjetland et al. 1996). Entzündungsherde sind jedoch u. U. auch nicht sichtbar oder einfach zugänglich. Serologische Bluttests können auf eine aktuelle oder zurückliegende Schistosomiasis Hinweis geben. In der Realität haben viele Frauen in tropischen Schistosomiasisgebieten jedoch keinerlei Zugang zu einer Diagnostik der Infektion. Ihre Beschwerden werden oft falsch interpretiert oder ignoriert.
9.3.6 Therapie der Schistosomiasis Es gibt aktuell nur ein einziges Medikament, mit dem man Schistosomiasis behandeln kann: Praziquantel (Biltricide). Praziquantel tötet die erwachsenen Egel ab, die Eier und ihre Entzündungsreaktion können jedoch nicht durch das Medikament eliminiert werden. Chronische Veränderungen sind damit nicht rückgängig zu machen. Die Therapie ist daher nur dann erfolgsversprechend, wenn sie frühzeitig erfolgt.
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In Gegenden mit hoher Krankheitslast an Schistosomiasis werden Schulkinder ein- oder zweimal im Jahr mit Praziquantel im Rahmen einer Behandlungskampagne behandelt. Kindern und Jugendlichen, die nicht (mehr) zur Schule gehen, entgeht diese Therapie. Jenseits der Kampagnen ist ein Zugang zum Gesundheitssystem oft schwierig. Dies erklärt, warum viele Millionen Frauen weltweit an chronischen Gesundheitsproblemen infolge einer urogenitalen Schistosomiasis leiden.
9.4 Zika 9.4.1 Einleitung Zika ist eine grippeähnliche Virusinfektion, die vorwiegend durch Mücken übertragen wird. Zika sorgte für Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass eine Zikainfektion in der Schwangerschaft zu schweren Schädigungen des fetalen Nervensystems führen kann.
9.4.2 Erreger und Epidemiologie von Zika Das Zikavirus (ZIKV) wurde 1947 im Zikawald in Uganda erstmalig beschrieben. Das Virus breitete sich in den Jahrzehnten nach seiner Entdeckung in Asien und der Pazifikregion aus. Zunächst wurde Zika jedoch keine große Beachtung geschenkt, da es lediglich als harmlose fieberhafte Erkrankung galt. 2015 kam es zum ersten Mal zu einem großen Zikaausbruch in der westlichen Hemisphäre. Erstmalig wurde beobachtet, dass eine Übertragung von der Mutter auf das Kind vorkommt und diese zu schwersten kindlichen Fehlbildungen führen kann. Heute zirkuliert Zika in vielen Ländern in den Tropen und Subtropen, gelegentlich kommt es zu Ausbrüchen.
9.4.3 Transmissionwege von Zika Das Zikavirus wird primär durch die „Tigermücke“ (Aedes aegypti), übertragen. Ungewöhnlich für ein solches Virus ist, dass Zika auch von der Mutter auf das Kind übertragen werden kann (s. u.) und auch sexuell übertragen wird (Musso et al. 2019): Infektiöse Viruspartikel sind im Sperma für ca. 30 Tage nachweisbar (Musso et al. 2019). Eine Übertragung von Frauen auf Männer ist vergleichsweise selten. Zikavirus-Übertragungen durch Bluttransfusionen wurden beschrieben (Chen und Hamer 2018). Obwohl ZIKV in der Muttermilch nachweisbar ist, wurden Übertragungen durch Stillen bislang nicht dokumentiert (Eppes et al. 2017; Musso et al. 2019).
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9.4.4 Klinik der Zikavirusinfektion und Bedeutung für die Frauengesundheit Die Inkubationszeit von Zika beträgt 3–14 Tage. Nur 20–50 % der Infizierten entwickeln Symptome. Zika verläuft meist als milder grippaler Infekt mit Fieber, einem Hautausschlag, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen und Bindehautentzündung. Die Symptome sind von kurzer Dauer. 2015 wurde im Rahmen eines Zikaausbruchs in Brasilien bekannt, dass eine Übertragung von der Mutter auf das Kind vorkommt und dann schwere fetale Fehlbildungen auftreten können: In 4–7 % kommt es zu einer Fehl- oder Totgeburt, 5–14 % der Kinder weisen ein kongenitales Zikavirussyndrom mit Mikrozephalie auf (Musso et al. 2019). Ca. 70–90 % der infizierten Neugeborenen zeigen zunächst keine Symptome, wobei mittel- oder längerfristige Schäden wie neurokognitive Entwicklungsverzögerungen, epileptische Anfälle, Gehörschädigung, Augenschädigung oder Schluckstörungen oft erst im späteren Verlauf diagnostiziert werden. Eine Mutter-Kind-Übertragung des Zikavirus kann in jedem Trimenon der Schwangerschaft erfolgen, das Risiko ist im ersten Trimenon am höchsten. Bei Schwangeren selbst verläuft die Erkrankung nicht schwerer als bei Nichtschwangeren. Die Übertragung ist unabhängig davon, ob die Mutter selbst Symptome aufweist.
9.4.5 Diagnostik von Zika Das Virus ist im Blut für rund 2–10 Tage mittels PCR nachweisbar. Im Urin ist es im Schnitt 2 Wochen länger detektierbar als im Blut (Eppes et al. 2017). Ein serologischer Nachweis von ZIKV ist üblicherweise 2–12 Wochen nach Beginn der Symptomatik möglich. Da die Zikavirämie kurz ist, schließt auch ein negatives Ergebnis einer Fruchtwasserpunktion die Infektion nicht aus. Eine Fruchtwasseruntersuchung zum Nachweis einer Zikainfektion wird daher nicht primär empfohlen. Sie kann jedoch zum Ausschluss anderer Ursachen für Fehlbildungen beim Kind dienen (z. B. andere Infektionen, genetische Ursachen). Wesentlicher Bestandteil der Schwangerenvorsorge bei Zika-Infektion der Mutter sind regelmäßige Ultraschallkontrollen durch einen erfahrenen Untersucher (Eppes et al. 2017).
9.4.6 Zikadiagnostik für Paare mit Kinderwunsch Paare in der Familienplanung wünschen nach Rückkehr von einer Tropenreise oft einen Zikaausschluss vor einer geplanten Empfängnis. Leider existiert aktuell kein Test zum sicheren Ausschluss einer kürzlich stattgehabten Zikavirusinfektion. Ein präkonzeptionelles Screening für Paare mit Kinderwunsch nach Aufenthalt eines oder beider Partner in einem Gebiet mit Zikaviruszirkulation wird daher nicht empfohlen.
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Stattdessen sollten Männer nach Reisen in Zikagebiete für mindestens 3 Monate auf ungeschützten Geschlechtsverkehr verzichten, Frauen für mindestens 8 Wochen (Chen und Hamer 2018).
9.4.7 Vorsorge von Schwangeren nach möglicher Zikaexposition Schwangere sollten sich nach Rückkehr aus einem Gebiet mit aktuellen Zikafällen auf eine Zikainfektion untersuchen lassen, selbst wenn sie selbst keine Symptome hatten. Empfohlen werden ein PCR-Test aus Blut bzw. Urin und ein Antikörpertest. Zudem wird eine engmaschige Ultraschallüberwachung alle 3–4 Wochen empfohlen (Musso et al. 2019).
9.4.8 Zikatherapie Die Behandlung erfolgt symptomatisch. Neugeborene und Säuglinge mit angeborenem Zikavirussyndrom benötigen die Betreuung durch ein multidisziplinäres Team, welches das Kind begleitet und neurokognitive Entwicklungsverzögerungen erkennen und ggf. frühzeitig behandeln kann. Unterstützungsangebote für betroffene Familien spielen bei der Betreuung der Kinder eine wichtige Rolle (Musso et al. 2019).
9.4.9 Prävention von Zika Eine Impfung gegen Zika gibt es aktuell nicht. Es wird an Impfstoffen geforscht, es ist jedoch nicht absehbar, ob und wann diese Marktreife erlangen. Mückenschutz ist damit die wichtigste Prävention. Schwangere oder Paare mit Kinderwunsch aus Nicht-Endemiegebieten sollten Reisen in tropische oder subtropische Gebiete vermeiden. Antworten auf die Eingangsfragen
1. D. Alle sind richtig. 2. C. Chronische Unterbauchschmerzen 3. B. Mikrozephalie beim Kind
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Pandemien
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Inhaltsverzeichnis 10.1 E inleitung – Pandemien: Definition und Geschichte 10.2 HIV/AIDS 10.2.1 Geschichte der HIV-Pandemie 10.2.2 Epidemiologie von HIV 10.2.3 Übertragung von HIV und Besonderheiten bei Frauen 10.2.4 Verlauf der HIV-Infektion 10.2.5 HIV-Therapie 10.2.6 HIV-Prävention 10.2.7 HIV in der Schwangerschaft 10.2.8 Globale Therapieziele 10.3 COVID-19 10.3.1 Verlauf der SARS-CoV2-Infektion in der Schwangerschaft 10.3.2 Einfluss von COVID-19 auf die Schwangerschaft 10.3.3 Mutter-zu-Kind-Übertragung von SARS-CoV2 10.3.4 Covid-19-Impfung in der Schwangerschaft 10.3.5 Kollateralschaden durch COVID-19? Literatur
124 125 125 126 126 128 128 129 130 131 131 131 132 132 133 134 135
C. Rothe (*) Oberärztin Klinikum der LMU München Med. Klinik IV, Abt. f. Infektions- und Tropenmedizin, München, Deutschland e-mail: [email protected] L. Nwaeburu Klinikum Ingolstadt, Frauenklinik, Ingolstadt, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_10
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Eingangsfragen
1. Wieviel Prozent der Menschen mit HIV leben in ressourcenlimitierten Ländern? A. 5 % B. 25 % C. 50 % D. 95 % 2. Wie hoch ist das Risiko einer Mutter-zu-Kind-Übertragung von HIV, wenn keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden? A. 6.8 Mio4
HIV = Humanes Immundefizienz-Virus, 3 SARS = Severe Acute Respiratory Syndrome, 4 Stand März 2023; 2 erste Fälle wurden 1981 bekannt, die Pandemie begann vermutlich einige Jahrzehnte früher 1
10.2 HIV/AIDS 10.2.1 Geschichte der HIV-Pandemie 1981 wurden in den medizinischen Fachzeitschriften erstmals Häufungen ungewöhnlicher Infektionskrankheiten und Tumoren bei homosexuellen Männern in den USA und Europa berichtet. Die Patienten wiesen einen deutlichen Mangel an CD4-T-Helferzellen auf, die wichtig für die Infektabwehr sind. Noch war nicht klar, dass die Erkrankungsfälle bei einer damals sozial stigmatisierten Randgruppe Ausdruck einer bereits fortgeschrittenen Pandemie waren. Einer Pandemie, die nicht nur homosexuellen Männern, sondern auch vielen Millionen Frauen und Kindern das Leben kosten würde, und deren Ende auch über vierzig Jahre später noch nicht abzusehen ist. Bald darauf wurden auch aus Zaire (heutige Demokratische Republik Kongo) Fälle von auffälligen Immunschwächeerkrankungen berichtet. Betroffen waren diesmal Frauen und Männer. Auch die afrikanischen Patienten hatten auffällig wenige CD4-T-Helferzellen im Blut (Piot et al. 1984). Die Anzahl der Patienten war groß, die Letalität hoch. 1983 identifizierten eine französische und eine US-amerikanische Forschergruppen die Ursache des Immunschwäche-Phänomens: ein Retrovirus, welches später als Humanes Immundefizienz-Virus (HIV) bezeichnet wurde (Barre-Sinoussi et al. 1983).
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Genetische Analysen ergaben, dass HIV seinen Ursprung in Zentralafrika genommen hatte und aus dem Tierreich stammt. Es ist eng verwandt mit dem Primatenvirus SIV (Simian Immunodeficiency Virus). Jäger in Zentralafrika mit engem Kontakt zu Primaten waren vermutlich die ersten Infizierten.
10.2.2 Epidemiologie von HIV Ca. 38 Mio. Menschen waren 2020 weltweit mit HIV infiziert. 95 % lebten in ressourcenlimitierten Ländern, zwei Drittel allein in Afrika (UNAIDS 2021). Rund die Hälfte der Menschen mit HIV weltweit sind Frauen. In Ländern des globalen Nordens machen Frauen hingegen nur einen kleinen Anteil der HIV- Infizierten aus. In Deutschland waren z. B. 2020 nur knapp 20 % der rund 91.400 Menschen mit HIV weiblich (Heiden et al. 2021). Dies liegt daran, dass sich die Übertragungswege von HIV in verschiedenen Regionen der Welt unterscheiden. In Europa, Nordamerika und Japan ist der wichtigste Übertragungsweg der Geschlechtsverkehr unter Männern (men having sex with men, msm). In Afrika, wo die Mehrzahl der Menschen mit HIV leben, ist der wichtigste Transmissionsweg der heterosexuelle Geschlechtsverkehr (Abb. 10.1). Frauen und Männer sind dort gleichermaßen betroffen. Risikogruppen finden sich dort nur bei bestimmten Berufsgruppen: bei Prostituierten (Sex Workers) sowie auch in Berufen, die sich durch eine hohe Mobilität auszeichnen, wie z. B. Fernfahrer, Fischer, Polizei und Militär. Insbesondere junge Frauen von 15–24 Jahren sind in den Hochprävalenzregionen in Afrika von HIV-Infektionen deutlich häufiger betroffen als gleichaltrige Männer. Die Ursachen hierfür sind komplex. Ein Grund ist, dass junge Frauen sexuellen Übergriffen deutlich ungeschützter ausgesetzt sind als junge Männer. Subtile ökonomische Abhängigkeiten gegenüber älteren Männern („Sugar Daddies“) spielen auch eine Rolle (Wyrod et al. 2011).
10.2.3 Übertragung von HIV und Besonderheiten bei Frauen Weltweit häufigster Übertragungsweg von HIV ist der ungeschützte Geschlechtsverkehr. HIV wird auch durch IV-Drogengebrauch mit Austausch von Injektionsbesteck („Needle Sharing“) übertragen. Die Mutter-zu-Kind-Übertragung ist im globalen Norden extrem selten geworden, aber in Afrika noch immer bedeutsam (Abschn. 10.2.7). Transmissionen durch Blutprodukte sind heutzutage selten. Für medizinisches Personal sind Nadelstichverletzungen eine mögliche Ansteckungsquelle, ebenso wie Schleimhautkontakte mit Blut von HIV-positiven Patienten. Bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr haben Frauen ein höheres Risiko, sich mit zu HIV infizieren, als Männer. Dies liegt daran, dass die exponierte Schleimh-
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Abb. 10.1 Risikogruppen für eine HIV-Übertragung im Vergleich von Sub-Sahara Afrika mit dem Rest der Welt. Homosexuelle Männer, Transgender-Personen oder IV-Drogenabhängige machen in Sub-Sahara Afrika einen geringen Anteil an den Menschen mit HIV aus. Die in Afrika dominierende „übrige Bevölkerung“ („Remaining Poulation“) sind heterosexuelle Männer und Frauen sowie Kinder HIV-positiver Mütter (mit freundlicher Genehmigung: Joint United Nations Programme on HIV/AIDS 2021, S. 12., UNAIDS 2021)
autoberfläche des weiblichen Genitale größer ist als beim Mann. Zudem entstehen beim Sexualkontakt oft kleine Läsionen auf der weiblichen Genitalschleimhaut, die das Eindringen des Virus erleichtern. Die Viruskonzentration im Sperma ist darüber hinaus höher als in der weiblichen Vaginalflüssigkeit. In Sub-Sahara Afrika verbreitete Sexualpraktiken wie „Dry Sex“ begünstigen zusätzlich die HIV-Infektion. Hierbei wird die Scheide durch Einführen z. B. von Blättern trocken gehalten, wodurch sich für den Mann beim Geschlechtsverkehr der Reibungswiderstand und vermeintlich der Lustgewinn erhöhen. Daraus folgen schmerzhafte Verletzungen der Scheidenhaut. Die Verletzungen machen die Frauen anfälliger für HIV und andere Erreger (Schwandt et al. 2006).
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10.2.4 Verlauf der HIV-Infektion Das HI-Virus befällt die menschlichen T-Helferzellen (CD4-Zellen), deren Anzahl im Verlauf der Infektion zunehmend sinkt. Mit schwindender CD4-Zellzahl sinkt die Fähigkeit des Körpers, sich gegen bestimmte Infektionen und Tumoren zur Wehr zu setzen. Menschen mit HIV werden nicht durch das Virus selbst krank, sondern durch die Krankheiten, die sich durch die Immunschwäche ergeben. Das fortgeschrittene Stadium der HIV-Infektion wird als „Acquired Immunodeficiency Syndrome“, AIDS, bezeichnet. Die Zeitdauer zwischen der Erstinfektion mit HIV und dem Auftreten von AIDS ist sehr variabel und beträgt unbehandelt in der Regel mehrere Jahre. Durch eine rechtzeitige Therapie kann das Auftreten von AIDS gänzlich verhindert werden. Eine unbehandelte HIV-Infektion bei Frauen verläuft anders als bei Männern. Hierbei scheinen hormonelle Faktoren eine Rolle zu spielen: Direkt nach einer HIV-Erstinfektion generieren Frauen eine stärkere Entzündungsantwort als Männer. Die Viruslast im Blut steigt daher nicht so stark an, und die CD4-Zellen fallen nicht so deutlich ab wie bei Männern. Im weiteren Verlauf jedoch zeigen Frauen eine raschere Progression ins Stadium AIDS (Addo und Altfeld 2014).
10.2.5 HIV-Therapie HIV ist heute gut behandelbar, jedoch nicht heilbar. Es ist zu einer chronischen Krankheit geworden. Die antiretrovirale Therapie (ART) besteht in der Regel aus drei Medikamenten. Diese können heute als fixe Medikamentenkombination in einer Tablette verabreicht werden. Alternativ werden auch injizierbare antiretrovirale Therapien mit Depotwirkung zunehmend verfügbar. Eine hochwirksame HIV-Kombinationstherapie existiert seit 1996. Erst rund 10 Jahre später wurde die antiretrovirale Therapie schrittweise auch für Menschen im globalen Süden verfügbar. Ausschlaggebend hierfür waren große Initiativen von internationalen Gebern. Ohne diese Geberkonsortien wäre auch heute noch in vielen Ländern des globalen Südens keine flächendeckende Versorgung von HIV- Patienten mit Medikamenten möglich. Ursprünglich behandelte man nur Menschen mit fortgeschrittener HIV-Infektion. Seit 2015 gilt jedoch das Prinzip „Test and Treat“: Jeder Menschen mit HIV weltweit soll nach Diagnose sobald als möglich eine ART beginnen. Die ART von heute ist gut verträglich und einfach einzunehmen. Rund drei Monate nach Beginn einer antiretroviralen Therapie liegt die Viruslast unter der Nachweisgrenze und die betroffene Person ist (nahezu) nicht mehr infektiös. Dies ist auch für die Verhinderung der Mutter-zu-Kind-Übertragung von HIV ausschlaggebend (s. u.).
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10.2.6 HIV-Prävention Frauen haben vielerorts nach wie vor nicht die Selbstbestimmung über ihren Körper und sind Männern und ihren Bedürfnissen ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund sind bei der HIV-Prävention diejenigen Methoden für Frauen attraktiv, die autonom eingesetzt werden können. Kondome schützen vor HIV und anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen; sie dienen zudem der Familienplanung. Zur ihrer Verwendung sind Frauen jedoch auf die Kooperation des männlichen Partners angewiesen. Mikrobizide sind Substanzen, die HIV und andere Erreger unschädlich machen. Sie werden meist lokal als vaginale Gels, Gleitcremes, Diaphragmen oder Vaginalringe angewandt. Sie sind also von den Frauen autonom applizierbar. Die WHO empfiehlt z. B. einen mit einem antiretroviralen Medikament beschichteten Vaginalring. Studienergebnisse zur Wirksamkeit von Mikrobiziden sind jedoch insgesamt eher enttäuschend. Mikrobizide sollten daher stets in Kombination mit anderen Maßnahmen zur HIV-Prävention angewandt werden. Zwei Konzepte haben sich in den letzten Jahren als bahnbrechend für die HIV-Prävention erwiesen: Die „Therapie zur Prävention“ (englisch: Treatment as Prevention, TasP) beruht auf der Erkenntnis, dass die Infektiosität mit der HIV-Viruslast korreliert, also der Anzahl an Viruskopien im Blut. Rund drei Monate nach Beginn der antiretroviralen Therapie liegt die HI-Viruslast unter der Nachweisgrenze. Eine geringe Viruslast bedingt eine geringe Übertragungswahrscheinlichkeit. Eine HIV-negative Frau mit einem erfolgreich behandelten und therapietreuen HIV-positiven Partner hat daher dank TasP ein sehr geringes HIV-Infektionsrisiko, und eine HIV-positive Mutter hat unter wirksamer antiretroviraler Therapie gute Chancen, ihr Baby nicht mit HIV zu infizieren (siehe Abschn. 10.2.7). Die antiretrovirale Therapie ist so zugleich zur wichtigsten Säule der HIV-Prävention geworden. Unter HIV-Präexpositionsprophylaxe („PrEP“) versteht man die Einnahme antiretroviraler Medikamente (ARVs) von HIV-negativen Menschen zum eigenen Schutz vor HIV. Die Einführung der PrEP hat dafür gesorgt, dass die HIV-Neuinfektionsrate bei msm im globalen Norden deutlich zurückgegangen ist (Nwokolo et al. 2017) Auch für Frauen, insbesondere in den Hochrisikogebieten in Sub-Sahara Afrika, wäre die PrEP-Strategie potenziell attraktiv als Methode zur selbstbestimmten HIV-Prävention. Studien zur PrEP bei afrikanischen Frauen brachten jedoch bislang eher enttäuschende Ergebnisse (Van Damme et al. 2012). Als Ursache wurde eine niedrige Einnahmetreue der Studienteilnehmerinnen aufgeführt. Die weibliche PrEP setzt eine tägliche Tabletteneinnahme voraus. Bei Männern ist auch eine intermittierende
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Einnahme vor und nach dem Geschlechtsverkehr möglich, da die Medikamente in der Analschleimhaut eine höhere Konzentration erreichen als in der Vaginalschleimhaut. Potenziell vielversprechend könnte daher eine PrEP mit einem injizierbaren langwirksamen antiretroviralen Medikament (Cabotegravir) werden, welches eine Depotwirkung von zweimonatiger Dauer entfaltet. In einer Studie reduzierte die Gabe von Cabotegravir das Risiko einer HIV-Infektion um 89 % im Vergleich zur Einnahme einer oralen PrEP (Delany-Moretlwe et al. 2022). Unter HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP) versteht man die Einnahme von antiretroviralen Medikamenten nach einem Risiko-Ereignis (z. B. Vergewaltigung durch eine HIV-positive Person, Nadelstichverletzung). Die antiretroviralen Medikamente müssen möglichst bald nach der Exposition, vorzugsweise innerhalb der ersten 72 h und für die Dauer von 4 Wochen eingenommen werden (WHO 2021). Eine Impfung gegen HIV wird intensiv beforscht, ist aber auch vier Jahrzehnte nach Erstbeschreibung von HIV nicht verfügbar.
10.2.7 HIV in der Schwangerschaft HIV-diskordante Paare, also Paare, bei denen ein Partner HIV-positiv ist, können gemeinsam Kinder bekommen. Wichtig ist, dass der HIV-positive Partner bzw. die HIV-positive Partnerin eine wirksame antiretrovirale Therapie einnimmt und die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt. Der HIV-negative Partner bzw. die Partnerin kann sich zusätzlich durch eine PrEP schützen. Ist die werdende Mutter selbst HIV-positiv, ist es von zentraler Bedeutung, die Übertragung von HIV auf das Kind zu verhindern. Ohne jede Schutzmaßnahme werden bis zu 45 % der Kinder mit HIV infiziert (Bailey et al. 2018). Die Übertragung kann sowohl in utero als unter der Geburt oder durch Stillen stattfinden (Knapp 2022). Wichtigste Maßnahme zur Verhinderung der Mutter-zu-Kind-Übertragung von HIV ist die erfolgreiche antiretrovirale Therapie der Mutter. Unter einer wirksamen ART während Schwangerschaft und unter der Geburt und mit Stillverzicht liegt die Übertragungsrate in Industrienationen bei 35 Jahre,
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Tab. 10.2 Symptome der COVID-19-Erkrankung in der Schwangerschaft. (Elshafeey et al. 2020) Symptom Fieber Husten Dyspnoe Halsschmerz Fatigue Myalgie Moderate Leberwerterhöhung Thrombozytopenie Geruchs-/Geschmacksstörungen
Häufigkeit 67 % 66 % 7 % 7 % 7 % 6 % 5 % 1 % 64–89 %
Adipositas mit einem BMI >30, chronische Hypertension, vorbestehender Diabetes, Gestationsdiabetes, Präeklampsie und Vorliegen einer Risikoschwangerschaft (Allotey et al. 2020) Die genauen Pathomechanismen, die einen schweren Krankheitsverlauf der SARS-CoV-2-Infektion bei manchen Patientinnen erklären, sind noch nicht vollständig verstanden. Es gibt jedoch zunehmende Evidenz, dass das Virus eine Endothelschädigung im Endorganbereich mit Gerinnungsaktivierung verursacht (Varga et al. 2020). In der Plazenta konnten deziduale Arteriopathien und vermehrte intervillöse Thrombosierungen nachgewiesen werden (Shanes et al. 2020).
10.3.2 Einfluss von COVID-19 auf die Schwangerschaft Schwangere Frauen mit COVID-19 weisen eine höhere Frühgeburtenrate auf. Die Rate der Neugeborenen von Müttern mit COVID-19, die auf einer neonatologischen Intensivstation betreut werden mussten, ist ebenfalls erhöht (Allotey et al. 2020). Eine SARS-CoV-2-Infektion in der Schwangerschaft ist zudem mit einer erhöhten Präeklampsie-Inzidenz und gehäuften thromboembolischen Ereignissen assoziiert (Jering et al. 2021)
10.3.3 Mutter-zu-Kind-Übertragung von SARS-CoV2 Vor dem Hintergrund erhöhter Antikörper- und Zytokinspiegel im Blut von Neugeborenen SARS-CoV-2-positiver Mütter und von COVID-typischen histopathologischen Plazentaveränderungen wurde die Möglichkeit eine transplazentaren Virustransmission diskutiert (Dong et al. 2020). Die Vaginalschleimhaut scheint nicht an der Virusübertragung oder -replikation beteiligt zu sein. Virale RNA wurde jedoch in Stuhlproben nachgewiesen; dies muss bei einer vaginalen Entbindung als mögliche Kontaminationsquelle in Betracht gezogen werden. Das Risiko einer Infektion des Neugeborenen mit SARS-CoV-2 ist
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gering, der Outcome meist günstig; auch scheint das Transmissionsrisiko nicht erhöht, wenn das Neugeborene im Zimmer der Mutter bleibt, anstatt in einem separaten Raum betreut zu werden. Unklar ist, ob eine postpartale Transmission von der Schwere der mütterlichen Infektion abhängt. Eine Trennung von Mutter und gesundem Kind ist bei SARS-CoV-2 Infektion bzw. COVID-19 Erkrankung daher nicht zwingend erforderlich, sofern Hygieneregeln und Maßnahmen zur Vermeidung einer Virusübertragung eingehalten werden: Haut-zu-Haut-Kontakt zwischen Mutter und Kind soll unter Einhaltung der Hygieneregeln und -maßnahmen ermöglicht werden. (Händedesinfektion, Mund-Nasen- Schutz, kein Schleimhautkontakt, u. a. kein Küssen) Das Risiko einer Übertragung von SARS-CoV-2 durch die Muttermilch ist bei Einhaltung der Hygieneempfehlungen sehr gering. Als Hauptübertragungsweg des Virus auf das Neugeborene während des Stillens gilt die maternale Tröpfchen- bzw. Aerosolbildung (Williams et al. 2020). Eine praktische Anleitung zu den speziellen Hygieneregeln und -maßnahmen beim Stillen ist obligat. Neben den bekannten Vorteilen des Stillens ist zudem ein möglicher passiver Immunschutz durch das Stillen denkbar.
10.3.4 Covid-19-Impfung in der Schwangerschaft Die Impfung gegen COVID-19 in der Schwangerschaft wird von der Ständigen Impfkommission (STIKO) ab dem zweiten Trimenon mit einem mRNA-basiertem Impfstoff empfohlen. Auch Wöchnerinnen und Stillende sowie deren enge Kontaktpersonen sollen gegen COVID-19 geimpft werden (RKI 2021). Eine Stillpause oder -verzicht ist nicht erforderlich. Eine akzidentelle Impfung gegen COVID-19 im ersten Trimenon oder perikonzeptionell ist keine Indikation für eine Schwangerschaftsbeendigung. Durch Impfung gebildete maternale Antikörper stellen einen potenziellen Infektionsschutz des Säuglings dar. Auch mütterliche IgG-Antikörper nach durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion korrelieren positiv mit den Antikörperspiegeln ihrer Neugeborenen. In der Muttermilch von Frauen mit aktiver oder durchgemachter SARS-CoV-2- Infektion in der Schwangerschaft konnten virusspezifische Antikörper nachgewiesen werden (Gao et al. 2020). Ob diese einen Nestschutz schaffen, ist aktuell jedoch noch unklar. Untersuchungen zum Nebenwirkungsprofil nach Impfung mit einem mRNA- Impfstoff von Frauen im gebärfähigen Alter erbrachten, dass Menstruationsstörungen häufig berichtet wurden. Die COVID-19-Immunisierung in Schwangerschaft und Stillzeit hingegen zeigte keine verstärkten oder abweichenden Nebenwirkungen. Tendenziell waren sowohl lokale als auch systemische Impfreaktionen bei Schwangeren sogar seltener als bei den Nicht-Schwangeren. Geäußert wurden Beschwerden an der Injektionsstelle, Müdigkeit, Kopfschmerz, Myalgien und Schüttelfrost. Es gibt bis jetzt keine Hinweise darauf, dass die COVID-19-Impfung
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Schwangerschaft und Geburt negativ beeinflusst oder gar Geburtskomplikationen nach sich zieht (Leik et al. 2021). In vielen Ländern hat sich jedoch ein Widerstand gegen eine COVID-19-Impfung entwickelt (Schmelz und Bowles 2021). Eine deutsche Erhebung unter befragten Schwangeren erbrachte lediglich eine Impfbereitschaft von 11 % im Vergleich zu 64 % strikter Impfablehnung. Frauenärzte sollten an der Impfbereitschaft der Schwangeren bzw. Frauen im gebärfähigen Alter arbeiten, da eine Infektion mit SARS-CoV-2 während der Schwangerschaft ein Risikofaktor für schwere Erkrankungen und Komplikationen der Mutter ist (s. o.). Aufklärung und fundierte Beratung zur COVID-19-Impfung während der Schwangerschaft können dazu beitragen, die relativ geringe Akzeptanz der Impfung durch die Mutter zu verbessern. Entscheidend ist es, die Sorgen und Ängste der Frauen ernst zu nehmen und gezielt aufzuklären.
10.3.5 Kollateralschaden durch COVID-19? Der durch die COVID-19-Pandemie verursachte Kollateralschaden lässt sich schwer beziffern. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er erheblich ist. Insbesondere in Ländern Afrikas, wo die Pandemie insgesamt deutlich weniger schwer ausgefallen zu sein scheint als anderswo, ist anzunehmen, dass die teilweise drastischen Lockdown-Maßnahmen einen höheren ökonomischen, sozialen und medizinischen Schaden verursacht haben als COVID-19 selbst. Die Pandemie hat in den meisten Ländern der Welt zu einer Verschlechterung der Patientenversorgung geführt, bedingt durch Lockdowns, Angst vor Ansteckung bei Kontakt zu medizinischen Einrichtungen, gesperrte Krankenhausbetten, überlastete Intensivstationen, Verschiebung elektiver Eingriffe und Ausfällen und Umbesetzung beim Personal. So zeigte sich in einer deutschen Studie ein Rückgang der Zahlen von stationären onkologischen Patientinnen um 6 % (Griewing et al. 2022). Die Anzahl der Geburten stieg demgegenüber um 11 %. Aus Israel wurde als Folge der lokalen „Stay at home policy“ eine höhere Rate an Totgeburten sowie an rupturierten Eileiterschwangerschaften berichtet. Aus Österreich wurde eine höhere Rate an operativen Entbindungen und postpartalen Komplikationen berichtet. Die vollen medizinischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Implikationen der Pandemie werden sich erst in einigen Jahren abschließend beurteilen lassen. Antworten auf die Eingangsfragen
1. D 2. C 3. B
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Anne Fritz, Grace Komuhangi, Anne-Kathrin Klotzsch, Madeleine Da, Ramata Edvige Ilboudo, Margret Bauer und Jürgen Wacker
Inhaltsverzeichnis 11.1 E inführung 11.2 Respektvolle Geburtshilfe 11.2.1 Begleitperson unter der Geburt 11.2.2 Mobilität unter der Geburt 11.2.3 Nachbesprechung der Geburt 11.2.4 Eins-zu-eins-Betreuung 11.3 Das Partogramm für die schnelle Entdeckung von Geburtsstillständen 11.4 Auskultation der kindlichen Herztöne 11.5 Die WHO Safe Childbirth Checklist 11.6 Geburtshilfliches Personal 11.7 Gesundheitsdienste für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in Uganda
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A. Fritz (*) Akademie für Gesundheitsberufe gGmbH, Heidelberg, Deutschland e-mail: [email protected] G. Komuhangi Duisburg, Cham, Deutschland A.-K. Klotzsch Hebamme, Bachelor of Science in International Midwifery Studies, Berlin, Deutschland M. Da · R. E. Ilboudo Hebammenschule Saint-Edvige, Ouagadougou, Burkina Faso M. Bauer Frauenklinik, Fürst-Stirum-Klinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] J. Wacker
ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_11
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138 11.8 B edeutung der Geburtshilfe in der humanitären Hilfe am Beispiel: Gambia 11.8.1 Definition humanitäre Hilfe 11.8.2 Das Land Gambia 11.8.3 Geburtshilfliche Aspekte in der humanitären Hilfe 11.8.4 Aufgaben von Hebammen im Einsatz 11.8.5 Wichtige Prinzipien in der humanitären Arbeit 11.9 Zusammenarbeit zwischen Hebammen, Ärzten und Dorfhebammen Literatur
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Eingangsfragen
1. Die Anzahl der weltweit geborenen Kinder pro Jahr beträgt: A. 140 Mio. B. 14 Mio. C. 1,4 Mio. D. Andere Zahl 2. In welchem Kontinent werden weltweit die meisten Kinder jährlich geboren? A. Asien B. Afrika C. Amerika D. Europa E. Australien 3. Wieviel der weltweit registrierten Geburten werden von Hebammen betreut? (Angaben in %) F. 81 % G. 75 % H. 60 % I. 50 %
11.1 Einführung Die Geburt eines Kindes wird als eine der grundlegenden Erfahrungen im Leben einer Frau beschrieben und das Ziel jeglicher Betreuung vor, während und nach der Geburt sollte der Erhalt und die Stärkung der Gesundheit von Mutter und Kind sein. An diesem Ziel sollte sich das Handeln aller am Geburtsprozess beteiligten Personen messen lassen (Bundesministerium für Gesundheit 2017). Hebammenarbeit ist entscheidend für die Gesundheit von Mutter und Kind, da ein Großteil der mütterlichen Mortalität und Morbidität verhindert werden könnte, wenn Frauen in den sensiblen Lebensphasen Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett uneingeschränkt Zugang zu fachkundiger Betreuung durch Hebammen sowie zu ärztlichem und in manchen Länder auch hierfür speziell ausgebildetem pflegerischem Personal hätten (UNFPA/United Nations Populations Fund 2021).
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Die fachkundige Begleitung in einer sensiblen Lebensphase spiegelt sich schon in den Berufsbezeichnungen der Hebammen wieder. Der englische Begriff Midwife bedeutet mit oder bei der Frau zu sein und betont den Beistand für die werdende Mutter. Die französische Bezeichnung sage-femme, die weise Frau, hebt das Wissen der Hebammen hervor. Die deutsche Bezeichnung Hebamme kommt vom althochdeutschen Begriff hevianna = die Ahnin, die das Kind aufhebt/hält, und ältere Hebammentexte beschreiben, dass es die Aufgabe der Hebamme sei, den Frauen in ihrer schweren Stunde beizustehen (Burger 1996; Grabrucker 1989). Um diesen Beistand bzw. diese Betreuung soll es im nachfolgenden Kapitel gehen, in dem ausgewählte Aspekte der Geburtsbegleitung behandelt werden. Zu Beginn wird das Thema der respektvollen Geburtshilfe behandelt, ebenso wie das Partogramm, die intermittierende Auskultation der kindlichen Herztöne, die WHO Safe Childbirth Checklist und das geburtshilfliche Personal. Danach werden konkrete Erfahrungen und Umsetzungen der oben genannten Themen am Beispiel von Uganda und Gambia aufgegriffen, bevor abschließend die Zusammenarbeit zwischen Hebammen, Ärzten und Dorfhebammen beleuchtet wird.
11.2 Respektvolle Geburtshilfe Bedingt durch die hohe Müttersterblichkeit in Schwellen- und Entwicklungsländern haben sich internationale Organisationen wie die WHO und nationale Gesundheitssysteme lange lediglich auf die Bereitstellung der Basis- und Notfallversorgung in der Geburtshilfe konzentriert, ohne dass die Qualität der Betreuung sowie die Arbeits- und Lebensbedingungen des Personals ausreichend betrachtet wurde. Allerdings fanden weltweit durchgeführte Studien heraus, dass ein großer Anteil von Frauen unterschiedliche Formen von Gewalt und Missachtung in Gesundheitseinrichtungen erlebt. Folgende Formen von Geringschätzung und Gewalt wurden identifiziert: körperliche Misshandlung, tiefe Demütigung und verbale Beleidigung, aufgezwungene oder ohne ausdrückliche Einwilligung vorgenommene medizinische Eingriffe (darin eingeschlossen die Sterilisation), Missachtung der Schweigepflicht, Nichteinhaltung der Einholung einer vollumfänglich informierten Einverständniserklärung, Verweigerung der Schmerzbehandlung, grobe Verletzung der Intimsphäre, Verweigerung der Aufnahme in medizinische Einrichtungen, Vernachlässigung von Frauen unter der Geburt, was bei diesen zu lebensbedrohlichen, vermeidbaren Komplikationen geführt hat, sowie das Festhalten von Frauen und ihren Neugeborenen in geburtshilflichen Einrichtungen nach der Geburt, da diese nicht zur Zahlung von Gebühren in der Lage waren (Bohren et al. 2019; Bowser und Hill 2010; Sheferaw et al. 2017; World Health Organization 2015a). Besonders betroffene Gruppen sind unter anderem Jugendliche, unverheiratete Frauen, Frauen mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status, Frauen, die einer ethnischen Minderheit angehören, Frauen mit Migrationshintergrund und mit HIV infizierte Frauen (Bowser und Hill 2010). Wichtig ist hierbei zu betonen, dass dies ein weltweites Problem ist und reiche wie arme Länder betroffen sind, da die Ursachen für Geringschätzung und Gewalt, die diskutiert werden, viele Länder betreffen, wie z. B. ho-
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hes Arbeitsaufkommen bei geringer Entlohnung, unzureichende Versorgung und Ausstattung der Geburtsstationen mit Material und Medikamenten, schwierige bis unsichere Arbeitsbedingungen vor allem für Frauen sowie starre Hierarchien und wenig Wertschätzung der Hebammenarbeit (World Health Organization 2016a). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat daher 2015 die Erklärung „Vermeidung und Beseitigung von Geringschätzung und Misshandlung bei Geburten in geburtshilflichen Einrichtungen“ veröffentlicht und Kriterien genannt, anhand derer u. a. wertschätzende Gesundheitsfürsorge während der Geburt gemessen werden kann, wie z. B. soziale Unterstützung durch eine von der Frau ausgewählte Begleitperson, Mobilität, Zugang zu Essen und Trinken, Einhaltung der Schweigepflicht und der Intimsphäre, Einholung einer vollumfänglich informierten Einverständniserklärung, Information der Frauen über deren Rechte, Entschädigungsmechanismen nach Verstößen gegen deren Rechte und die Sicherstellung eines hohen professionellen Standards in der klinischen Versorgung (World Health Organization 2015a). Auf einige Punkte dieser Erklärung soll auch im Hinblick auf Aus- und Fortbildung eingegangen werden.
11.2.1 Begleitperson unter der Geburt Die Anwesenheit einer Begleitperson schützt Gebärende vor Übergriffen (Sheferaw et al. 2017) und wurde und wird auch in der aktuellen Corona-Pandemie trotz verschärfter Hygienevorschriften in vielen geburtshilflichen Einrichtungen ermöglicht. Die Person des Vertrauens, die die Gebärende begleitet, kann für sie einstehen, wenn sie es selbst aufgrund starker Wehen nicht mehr kann. Dies sollte aber auch der Anspruch der betreuenden Hebamme sein und wird im Englischen mit dem Begriff „Advocacy“ beschrieben und meint hier das Einstehen für die Interessen der Frau und den Schutz von Mutter und Kind gerade in der vulnerablen Situation der Geburt. Die Sensibilisierung hierfür sollte schon in der Ausbildung beginnen, z. B. durch regelmäßige Reflektion erlebter Geburtsbegleitungen. Die folgende Abb. 11.1 zeigt eine Gebärende mit Partner im Stehen.
11.2.2 Mobilität unter der Geburt Die Mobilität unter der Geburt und das Gebären in aufrechten Gebärpositionen gelingen besser, wenn entsprechende Räumlichkeiten und Einrichtungen wie leicht verstellbare Betten oder Gebärhocker vorhanden sind. Aber auch ohne diese können Positionen wie der Vierfüßlerstand oder das Stehen für die Verarbeitung der Wehen oder die Geburt gewählt werden. Hier zeigt sich aber auch, dass gerade die Geburt in aufrechten Gebärpositionen nicht nur gelehrt, sondern praktisch geübt werden muss, damit sich die betreuende Hebamme darin sicher fühlt. Hier können lebenspraktische Tipps hilfreich sein, wie z. B. dass im Vierfüßlerstand der Kopf für die Entwicklung der vorderen Schulter erst gehoben und dann gesenkt werden muss, also genau umgekehrt wie in Rückenlage, oder dass es günstig ist, wenn sich bei der
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Abb. 11.1 Gebärende mit Partner im Stehen. (© Diethard Kokoska)
Geburt im Stehen die Frau nach der Entwicklung des Kopfes hinkniet, um die Entfernung zum Boden zu verkürzen und diesen am besten mit Kissen u. ä. auszupolstern oder ein zweites Paar Hände zur Verfügung zu haben, das den Rumpf stützen kann, um das Kind sicher auf eine saubere, weiche Unterlage entwickeln zu können.
11.2.3 Nachbesprechung der Geburt In kritischen Situationen, die schnelles Handeln während der Geburt erfordern, bleibt häufig sehr wenig bis keine Zeit, um Frauen über die vorgenommenen Handlungen aufzuklären oder die oben genannte vollumfängliche informierte Einverständniserklärung einzuholen, was für Gebärende verstörend sein kann oder als
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gewaltvoll empfunden wird. In diesem Fall hat sich das Nachgespräch über die Geburt bewährt, das idealer- aber nicht notwendigerweise von den an der Geburt beteiligten Personen geführt wird, um der Mutter zu helfen, das Geburtserlebnis besser einzuordnen und Unklarheiten und Fragen zu klären (Deutscher Hebammenverband e.V. 2021a). Auch dieser Punkt sollte in der Ausbildung schon gelehrt und geübt werden, z. B. in der Betreuung des frühen Wochenbetts.
11.2.4 Eins-zu-eins-Betreuung Die Sicherstellung eines hohen professionellen Standards in der klinischen Versorgung muss einhergehen mit den Verbesserungen der Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals, das sein Potenzial erst voll entfalten kann, wenn es in einer sicheren, förderlichen und wertschätzenden Umgebung arbeitet (World Health Organization 2016a). Dies ist auch in vielen Industrienationen nicht der Fall, wo viele Hebammen die Kreißsaalarbeit aufgeben, da sie aufgrund des hohen Arbeitsanfalls und der Notwendigkeit, regelmäßig 3–4 Frauen gleichzeitig unter der Geburt betreuen zu müssen, den Ansprüchen an ihre eigene Arbeit nicht mehr gerecht werden und die klinische Tätigkeit einstellen (Deutscher Hebammenverband e.V. 2021b). Die Eins-zu-eins-Betreuung ermöglicht Hebammen, auf die Bedürfnisse der Gebärenden eingehen und Komplikationen schnell erkennen zu können, und erhöht die ZufriedenheitderMütterundderHebammen(DeutscherHebammenverbande.V.2021b). Durch den weltweit bestehenden Hebammenmangel von ca. 900.000 Hebammen (UNFPA/United Nations Populations Fund 2021) ist die kontinuierliche Eins-zu-eins- Betreuung häufig jedoch nicht möglich und es wird aus gesundheits- und berufspolitischer Sicht einen langen Atem brauchen, um diese durchzusetzen. Trotzdem sollte dieses Ziel weiterverfolgt werden. Unter dem Motto „A midwife for every woman“ (eine Hebamme für jede Frau) gründete Dr. Catherine Hamlin, die weltbekannte Expertin für die Behandlung geburtsbedingter Fisteln, 2007 die Hebammenschule „Hamlin College of Midwives“ in Äthiopien. Die Hebammenstudentinnen, die gezielt aus ländlichen Gebieten ausgewählt und nach einem fundierten Studium des Hebammenwesens mit einem hohen praktischen Ausbildungsanteil zurück in ihre Heimatregion entsandt werden, haben einen entscheidenden Anteil an der Senkung der mütterlichen Morbidität und Mortalität in den ländlichen Gebieten. Der Erfolg ihrer Arbeit liegt auch darin begründet, dass neu ausgebildete Hebammen immer zu zweit in eine ländliche Geburtsstation geschickt werden, jederzeit Rücksprache mit einer Gynäkologin/einem Gynäkologen und einer erfahrenen Hebamme halten können und Zugang zu einem Ambulanzfahrzeug für Verlegungen haben (Hamlin Fistula Ethiopia 2011, 2021).
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11.3 Das Partogramm für die schnelle Entdeckung von Geburtsstillständen Das Partogramm ist die graphische Darstellung des Geburtsverlaufs, in dem die Muttermundseröffnung sowie das Tiefertreten des vorangehenden Kindsteils auf einer Zeitachse eingetragen wird. Weitere Aspekte, die dokumentiert werden können sind u. a. der kindliche und mütterliche Vitalitätszustand, die Wehenhäufigkeit und -stärke, der Blasensprung und die Beurteilung des Fruchtwassers. Das Partogramm wurde in Zimbabwe entwickelt, um Hebammen ein einfaches, aber effektives Mittel an die Hand zu geben, um Geburtsstillstände rechtzeitig zu erkennen und Gebärende zügig in eine Gesundheitseinrichtung verlegen zu können, in der wehenunterstützende Maßnahmen wie die Gabe von Oxytocin durchgeführt werden konnten (Hofmeyr et al. 2021; Wacker 2021). Durch die Einführung einer Achtungs- und Aktionslinie konnte gleichsam auf einen Blick erkannt werden, ob die Gebärende und der Geburtsverlauf erhöhte Aufmerksamkeit oder aktive Unterstützung durch das geburtshilfliche Personal benötigen. Dies ist besonders wichtig in Regionen, in denen der Anfahrtsweg bei einer Verlegung in die nächstgelegene Gesundheitseinrichtung weit und Transportmittel nicht durchgehend vorgehalten und kostenfrei genutzt werden können und daher deutlich länger dauern, als dies in Industrienationen üblich ist. Partogramme gibt es in unterschiedlichen Ausführungen, angepasst an die Bedarfe des jeweiligen Gesundheitssystems. Allen gemein ist jedoch, dass zur routinierten Anwendung das korrekte Ausfüllen nicht nur gelehrt, sondern auch praktisch geübt werden muss, z. B. durch das Erstellen von Geburtsdokumentationen in der Ausbildung, die die Auszubildenden zusätzlich zur Kreißsaaldokumentation anfertigen und zu denen sie Rückmeldung durch die Lehrkräfte erhalten. 2021 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das herkömmliche Partogramm grundlegend überarbeitet (Hofmeyr et al. 2021). Der Labour Care Guide enthält keine Achtungs- und Aktionslinie mehr, dafür aber evidenzbasierte Zeitlimits für jeden Zentimeter Muttermundseröffnung, um der individuellen Geburtsdauer Rechnung zu tragen. Die aktive Eröffnungsphase wird hier ab 5 cm Muttermundseröffnung definiert. Zudem wurden ein Abschnitt für die intensivere Überwachung in der Austrittsphase eingefügt sowie Spalten für wichtige Aspekte der respektvollen Geburtshilfe wie Begleitung durch eine vertraute Person, Schmerzmittelgabe, orale Flüssigkeitsaufnahme und Gebärhaltungen und -positionen. Abweichungen vom normalen Verlauf und deren Behandlung können hier jetzt ebenfalls dokumentiert werden (Hofmeyr et al. 2021). Eine Modifikation eines runden Partogrammes (Sonnenpartogramm) ist in der nachfolgenden Abb. 11.2 dargestellt.
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12 Uhr 11
10 cm 9
Ausgangsbefund Achtungspirale Aktionsspirale Partus: 3 h
1
8 7 6 5
10
2
4 3 2 1
3
9
4
8
5
7 6
Abb. 11.2 Das Sonnenpartogramm. Die einzelnen Kreise entsprechen der Muttermundsweite. Bei der Aufnahme der Gebärenden wird auf dem dem jeweiligen Muttermundsbefund entsprechenden Kreis zur tatsächlichen Uhrzeit eine Markierung eingetragen. Um 2 h versetzt wird auf dem gleichen Kreis der Beginn der „Achtungsspirale“ farbig markiert. Diese wandert pro Stunde um einen Kreis mit einer Geschwindigkeit von 1 cm/h nach außen. Eine Aktionsspirale beginnt auf dem gleichen Kreis um weitere 4 h versetzt. (Aus: Wacker 1994)
11.4 Auskultation der kindlichen Herztöne Die neue S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin (Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe und Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft 2020) beschreibt, dass die strukturierte intermittierende Auskultation der kindlichen Herztöne bei Niedrig-Risiko-Geburten mehr Vorteile biete als die Überwachung mit dem Cardiotokogramm (CTG), dem Herzton-Wehenschreiber. Hierfür müssten aber folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
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• Ab der aktiven Eröffnungsphase (Muttermundöffnung circa 4–6 cm oder Kreißsaal-Aufnahme) Eins-zu-eins-Betreuung • Geburtshilfliches Personal, das geschult und erfahren ist mit der Auskultation. • Sorgfältige, lückenlose Dokumentation der Herztöne sowie weiterer relevanter geburtshilflicher Befunde. Die Leitlinie empfiehlt, dass die fetalen Herztöne mit Pinard-Hörrohr oder einem Dopplersonografiegerät nach einer Wehe über eine Minute auskultiert werden sollen bei gleichzeitiger Messung des Mutterpulses, um sicher zwischen beiden unterscheiden zu können. Die Auskultation soll in der Eröffnungsphase alle 15–30 min und in der Austrittsphase alle 5 min erfolgen. In den Industrienationen ist es seit Jahrzehnten üblich, in der klinischen Geburtshilfe die Herztöne mit dem CTG zu überwachen, oft auch aus forensischen Gründen. Daher hat das Klinikpersonal hier häufig kaum Routine in der Auskultation der kindlichen Herztöne und die Umsetzung der Leitlinie würde Schulung und Begleitung des Klinikpersonals erfordern, wohingegen in Schwellen- und Entwicklungsländern das Personal in der Regel über viel Erfahrung und Routine mit der Auskultation verfügt. Beiden gemeinsam ist allerdings, dass der Personalmangel die oben genannte Eins-zu-Eins-Betreuung häufig unmöglich macht.
11.5 Die WHO Safe Childbirth Checklist Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization 2015b) hat die Safe Childbirth Checklist entwickelt, um Gesundheitspersonal weltweit unabhängig von der Art der Gesundheitseinrichtung ein leicht handbares Instrument zur Verfügung zu stellen, damit entscheidende Maßnahmen an kritischen Zeitpunkten während der Geburtsbetreuung sicher durchgeführt werden. Die Liste enthält Maßnahmen, die erwiesenermaßen dazu geeignet sind, um Mutter und Kind vor schwerwiegenden Komplikationen zu schützen. Das geburtshilfliche Personal soll an vier Zeitpunkten („pause points“) während und nach der Geburt innehalten, die Checkliste durchgehen und entsprechende Maßnahmen durchführen. Die vier Zeitpunkte sind die Aufnahme in einer Gesundheitseinrichtung, direkt vor der aktiven Austrittsphase bzw. vor dem Kaiserschnitt, in der ersten Stunde nach der Geburt und vor der Entlassung aus der Gesundheitseinrichtung. Die Checkliste für die aktive Austrittsphase umfasst die eventuell notwendige Gabe von Antibiotika bei Anzeichen einer Infektion und Magnesiumsulfat bei Bluthochdruck sowie die Bereitstellung essentieller Materialien für die Geburt. Für die Mutter sind dies Handschuhe, Händedesinfektionsmittel, sauberes Wasser und Oxytocin 10 IE und für das Kind ein sauberes Handtuch, Nabelband oder -klemme, eine sterile Klinge, um die Nabelschnur zu durchtrennen, eine Absaugvorrichtung und ein Beatmungsbeutel mit Maske. Die Checkliste empfiehlt das aktive
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anagement der Nachgeburtsphase mit schneller Gabe von Oxytocin und rascher M Entwicklung der Plazenta sowie Massage der Gebärmutter, bis diese gut kontrahiert ist. Allerdings wird die Uterusmassage in den Empfehlungen von 2018 nicht mehr routinemäßig angeraten (World Health Organization 2018b). In der ersten Stunde nach Geburt des Kindes umfasst die entsprechende Checkliste neben eventuell nötiger Antibiotika- und Magnesiumsulfatgabe zunächst die Blutungskontrolle bei der Mutter und die Beurteilung des Vitalitätszustandes des Kindes, wobei hier vor allem auf den Haut-zu-Hautkontakt mit der Mutter und die Unterstützung des frühen Stillens geachtet werden soll (World Health Organization 2015b).
11.6 Geburtshilfliches Personal Die Betreuung der Geburt sollte von fachkundigem Personal aus dem Bereich der mütterlichen und kindlichen Gesundheit durchgeführt werden, das gemäß nationaler und internationaler Standards ausgebildet und reguliert wird (World Health Organization 2018a). Vorwiegend übernehmen Hebammen diese Aufgabe in Kooperation mit ärztlichem Personal aus den Bereichen Gynäkologie, Pädiatrie und Anästhesie. In manchen Ländern ist hierfür aber auch speziell ausgebildetes Pflegepersonal zuständig. Obwohl der Hebammenberuf für viele ein klassischer Frauenberuf ist, gibt es in vielen Ländern einen höheren Anteil männlicher Hebammen als dies hierzulande üblich ist. Dies scheint im Widerspruch zu vielen Kulturen zu stehen, in denen Männer während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett traditionell nicht involviert sind. Allerdings hat die Autorin selbst gute Erfahrung mit männlichen Hebammen im Ausland gemacht, die unter schwierigen Umständen die Gebärenden empathisch betreut haben. Besonders bemerkenswert war hier, dass der ursprüngliche Berufswunsch der männlichen Hebammen zum Teil die Krankenpflege gewesen war. Diesen Berufswunsch konnten sie nicht umsetzen, da Ausbildungsplätze in den verschiedenen Gesundheitsberufen zentral zugeteilt wurden, ohne dass die Bewerber darauf Einfluss nehmen konnten. Aus der privaten Korrespondenz der Autorin ergab sich, dass Frauen vor allem die Fachkompetenz des Personals wichtig ist und weniger das Geschlecht, und dass die Hoffnung besteht, dass durch männliches Personal im Kreißsaal die Leistung, die Frauen unter der Geburt erbringen, auch gesamtgesellschaftlich mehr wertgeschätzt wird. Abb. 11.3 zeigt eine Hebammentasche mit wichtigen Instrumenten zur Überwachung einer Geburt: Pinard-Stethoskop, Blutdruckmanschette und Erwachsenen Stethoskop.
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Abb. 11.3 Hebam mentasche
11.7 Gesundheitsdienste für Geburtshilfe und Frauenheilkunde in Uganda Im nachfolgenden Kapitel sollen wichtige Aspekte der geburtshilflichen Versorgung aufgegriffen und am Beispiel Ugandas verdeutlicht werden. Uganda hat eine hohe Müttersterblichkeitsrate von 336 pro 100.000 Lebendgeburten aufgrund von geburtshilflichen Notfällen (Ssebagereka et al. 2021). Die direkten Ursachen hierfür sind Blutungen (34 %), gefolgt von Bluthochdruck (19 %), Abtreibungen (9 %), Sepsis (8 %) sowie indirekte Ursachen wie Malaria, Anämie, HIV (Humanes Immundefizienzvirus) und andere Infektionen (18 %). Gemäß dem Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG) 3.1 wurden Maßnahmen ergriffen, um die Sterblichkeitsrate bis 2030 auf 70 % zu senken. Diese umfassen v. a. ein Programm zur nationalen sicheren Mutterschaft und Wiederbelebung der Familienplanung, den verbesserten Zugang zur Schwangerenbetreuung und die Verbesserung des Zugangs zur geburtshilflichen Notfallversorgung. Diese Maßnahmen erfordern ausreichend Personal. Der Mangel an Krankenschwestern und Hebammen ist allerdings erheblich. Das Verhältnis Krankenschwester/Hebamme zu Patientinnen und Patienten von 6:100.000 verdeutlicht den allgemeinen Mangel an medizinischem Personal in Uganda, der im Vergleich zu den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 2,5:1000 niedrig ist (Kumakech et al. 2020). Hebammen hingegen haben entscheidend dazu beigetra-
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gen, die Mütter- und Neugeborenensterblichkeit in Uganda zu senken, da sie den Großteil der Mütter- und Neugeborenenversorgung übernehmen. In Uganda gibt es mehrere Wege zur Zulassung als Hebamme. Diese umfassen sowohl Diplom- als auch Bachelorstudiengänge für die grundlegende Versorgung sowie Bachelor- und Masterstudiengänge für die erweiterte Versorgung, die auch die Leitung von schwierigen Geburten einschließen (Copestake et al. 2020; Edwards et al. 2018; Isangula et al. 2021; Kemp et al. 2018; Kumakech et al. 2020; Telfer et al. 2021). Hebammen in Uganda betreuen auch zahlreiche geflüchtete Frauen aus den Nachbarländern, die häufig von FGM/FGC (= weibliche Genitalverstümmelung oder -beschneidung) betroffen sind, was eine der Hauptursachen für Geburtskomplikationen ist, wie postpartale Blutungen aufgrund von Dammrissen. Die ugandischen Hebammen entwickelten eine Entbindungsposition, bei der sich die Mutter in Rückenlage befindet, wobei ein Bein angewinkelt und das andere gerade ist, und zwar zum Zeitpunkt der Geburt, wenn der längste Durchmesser des kindlichen Kopfes durch den Geburtskanal gehen soll. Dies würde die Wahrscheinlichkeit von Dammrissen verringern und somit mehr Frauen vor Vaginal- und Dammrissen bewahren. Dafür gibt es bisher jedoch keine Belege. Wenn während der Geburt ein Dammriss-Risikofall festgestellt wird, wenden die meisten Hebammen in verschiedenen Einrichtungen im ganzen Land diese Methode an. Die Einhaltung der SPIC (Standard Precautions for Infection Control) ist entscheidend für die Verhinderung von peripartalen Infektionen bei Müttern in allen Gesundheitseinrichtungen (Abdulraheem et al. 2012; Bedoya et al. 2017). Die WHO (2016b) empfiehlt nachdrücklich Asepsis in sechs Bereichen, einschließlich einer sauberen Entbindungsoberfläche, sauberer Hände des Geburtshelfers, eines sauberen Dammes der Mutter, eines sauberen Nabelschnurschneideinstruments, einer sauberen Nabelschnurligatur und einer sauberen Nabelschnurpflege. In Uganda werden die meisten Entbindungen von Hebammen in unteren Gesundheitseinrichtungen durchgeführt, und alle sind verpflichtet, die WHO- und nationalen Richtlinien zur Infektionsprävention und kontrolle einzuhalten. Alle schwangeren Frauen in Uganda erhalten ein Entbindungspaket, das oft als „Mama-Kit“ bezeichnet wird. Das Entbindungspaket enthält ein steriles Entbindungsset, das sie mitbringen müssen, wenn sie in einer Gesundheitseinrichtung entbinden wollen. Das sterile Entbindungsset besteht aus etwa vier Paar sterilen Handschuhen, Nabelschnur-Ligaturen, einer Rasierklinge, einem sterilen Handtuch, einer gummierten Unterlage und einem Stück Seife. Dies ist auch als Reserve für den Notfall gedacht, etwa wenn zu Hause oder unterwegs die Wehen einsetzen. Eine weitere wichtige Maßnahme zur Verringerung von Geburtskomplikationen ausgelöst durch Geburtsstillstände ist das Führen eines Partogramms. Das ugandische Gesundheitsministerium passte 1990 das Partogramm der Weltgesundheitsorganisation an die lokalen Bedürfnisse im Bereich der Müttergesundheit an (Ogwang et al. 2009) und modifizierte es, um den lokalen Bedürfnissen gerecht zu werden. Die Änderung umfasste die Einführung eines Codes für die Eliminierung der HIV-Übertragung von der Mutter auf das Kind (EMTCT), der einen Indikator für den HIV-Serostatus der Mutter darstellt. Diese Codes geben an, ob die Mutter beraten, getestet und mit einer hochaktiven antiretroviralen Therapie (HAART) begonnen hat. Auf diese Weise können alle betreuenden Hebammen schnell erkennen,
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welche Vorsichtsmaßnahmen während des Geburtsvorgangs zu treffen sind. Außerdem fügte das Gesundheitsministerium Buchstabencodes für die Nationalität der Mutter ein, um die Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten, sowie eine zusätzliche Seite für Einzelheiten zur Betreuung während des Geburtsvorgangs.
11.8 Bedeutung der Geburtshilfe in der humanitären Hilfe am Beispiel: Gambia 11.8.1 Definition humanitäre Hilfe Weltweit herrschen Zustände, in denen Menschen Leid durch Naturkatastrophen, Krisen und Konflikte erleben. Im Rahmen von humanitärer Hilfe werden Unterstützungsmöglichkeiten geschaffen, um diese Notlagen zu bewältigen und den Menschen Sicherheit, Perspektiven und Verbesserungen in Würde zu gewährleisten. Trotz Herausforderungen und Schwierigkeiten, wie z. B. sich schnell ändernde politische Lagen vor Ort, soll humanitäre Hilfe stets den Prinzipien der Unabhängigkeit, Neutralität und Unparteilichkeit folgen und unerwünschte Nebeneffekte (Do- not-harm-Prinzip) bestmöglich vermeiden (Auswärtiges Amt 2020).
11.8.2 Das Land Gambia Am Beispiel von Gambia herrscht aktuell keine akute Krise, dennoch sind Probleme wie Armut, Hunger, Dürre, wirtschaftliche Instabilität, hohe Arbeitslosigkeit oder Krankheiten wie Malaria allgegenwärtig. Auch unter der Corona-Pandemie hat Gambia, wie so viele andere Schwellen-und Entwicklungsländer, maßgeblich zu leiden. Das kleinste Land des afrikanischen Festlandes, mit seinen 2,2 Mio. Einwohner*innen, gelegen an der Westküste und eingeschlossen vom Senegal, bringt es auf Platz 172 von 189 im UN-Index der menschlichen Entwicklung. Im Durchschnitt bekommt eine Frau schätzungsweise 3,13 Kinder und ist zur ersten Geburt erst 20,7 Jahre jung. 597 Mütter auf 100.000 Lebendgeburten versterben um die Geburt herum (weltweit Platz 13); 35,9 Säuglinge auf 1000 Lebendgeburten erleben ihren ersten Geburtstag nicht (The World Factbook 2022). 75,7 % der Frauen im Alter von 15–49 sind von FGM/C (weibliche Genitalverstümmelung/-beschneidung) betroffen und 44 % der Frauen glauben daran, diese Praxis auch weiterzuführen (28 Too Many 2018).
11.8.3 Geburtshilfliche Aspekte in der humanitären Hilfe All diese Fakten, wenn auch nur Schätzungen, verdeutlichen die Notwendigkeit, Geburtshilfe sowie Frauengesundheit in den Fokus zu setzen. Es gibt über 100 registrierte NGOs (Non-Governmental Organizations), die sich vor Ort unter anderem
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auch im medizinischen Bereich engagieren. Der Schwerpunkt der Unterstützung sowie der Bedarf variieren dabei stark. Während im städtischen Gebiet rund um der Hauptstadt Banjul Krankenhäuser bis hin zu wenigen modernen Privatkliniken existieren, haben Menschen, je östlicher sie leben, in ihren Siedlungen nicht einmal Zugang zu Trinkwasser und Strom. Um die Mütter- sowie Säuglingssterblichkeit zu minimieren, ist es das oberste Ziel, einen Zugang zur medizinischen Versorgung flächendeckend sicherzustellen. Dazu gehört es zunächst, ein System der Schwangerenvorsorge zu etablieren, welches alle Basisuntersuchungen sowie die Möglichkeit zur Diagnostik und Behandlung von chronischen Begleiterkrankungen beinhaltet, wie Diabetes oder Bluthochdruck, die sich negativ auf eine Schwangerschaft auswirken könnten. Für die Geburt ist es wichtig, eine sichere und besonders auch hygienische Umgebung zu schaffen, um in Begleitung von geschultem Gesundheitspersonal zu gebären. In den l ändlichen Gebieten dominiert derzeit noch die Betreuung durch traditionelle Geburtshelferinnen, die sehr erfahren sind, vor allem die Gebärende emotional zu unterstützen, jedoch über keine medizinische Ausbildung verfügen. Lange und nicht adäquat geleitete Geburtsverläufe erhöhen nicht nur Komplikationen für das ungeborene Kind, sondern auch das mütterliche Risiko für Fistelbildung mit weitreichenden gynäkologischen Folgen wie Inkontinenz (Siebenkotten-Branca 2020). Nach der Geburt sollen deswegen mögliche Geburtsverletzungen korrekt und hygienisch versorgt werden, vor allem auch in dem Sinne, FGM/C nicht weiter zu praktizieren. Bevor eine Frau in das häusliche Wochenbett entlassen wird, was üblicherweise wenige Stunden nach der Geburt passiert, muss sie grundlegende Informationen über Abweichungen im Wochenbett und Hygieneempfehlungen erhalten und dafür sensibilisiert werden, wann eine medizinische Einrichtung erneut konsultiert werden sollte. Ein Gesprächsangebot zur weiteren Familienplanung kann hier ebenso stattfinden. Stillen als erste Wahl der Ernährungsform des Säuglings ist in der Regel gegeben. Empfehlenswert ist es, offene Fragen zu diesem Zeitpunkt noch zu besprechen. Zur Vereinfachung der Ausführung aller Tätigkeiten haben wichtige Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen e.V. (MSF), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und auch das nationale Gesundheitsministerium praktische und einfach zugängliche Richtlinien, Empfehlungen und Dokumente formuliert. Ein wichtiges Dokument ist unter anderem „The WHO Partograph“, das den Verlauf der Geburt schriftlich festhält und protrahierte Verläufe zeitnah erkennen lässt. Dokumentationshilfen zwischen Medizinpersonal und den zu betreuenden Patientinnen sind oftmals visualisiert (z. B. morgendliche Medikamenteneinnahme mit Symbol der aufgehenden Sonne), da Englisch als internationale Sprachen nicht immer erwartet werden kann und auch in bestimmten Gebieten eine hohe Rate an Analphabetismus herrscht. Ein weiterer, bedeutungsvoller Aspekt der Versorgung beinhaltet die Informations- und Aufklärungsarbeit zu Themen wie FGM/C, Hygiene, Impf- bzw. Immunisierungsprogrammen, Gewalt gegenüber Frauen, Möglichkeiten der Verhütung, frühe (Zwangs-)heirat und Polygamie.
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11.8.4 Aufgaben von Hebammen im Einsatz Das mögliche Aufgabenfeld von Hebammen ist vielfältig. Die eben beschriebenen Tätigkeiten können durch aktive Mitarbeit und Einbringen der eigenen Erfahrungen umgesetzt werden. Hervorzuheben ist, dass in Ländern wie Gambia gewisse Arbeiten professionsübergreifend eingebunden sind. So ist es als Hebamme möglich, in humanitären Programmen auch übliche pflegerische Tätigkeiten einer Krankenschwester, wie beispielsweise eine Wundversorgung, zu übernehmen oder in der Apotheke bei der Medikamentenvergabe zu assistieren. Hebammen aus Deutschland sowie anderen europäischen Ländern haben die Möglichkeit, in verschiedenen Gesundheitseinrichtungen im Auftrag von NGOs oder anderen offiziellen Institutionen vor Ort einen entsprechenden Zeitraum tätig zu sein. Je länger der Einsatz, desto günstiger ist das Resultat für das Einsatzland. Kurz-Einsätze sollten dabei hinsichtlich der Sinnhaftigkeit zunehmend kritisch betrachtet werden. Die humanitären Akteure erhalten zwar einen ersten Eindruck vom Leben in einem anderen Land, einen Perspektivenwechsel, und gewinnen an persönlicher Bereicherung dazu; für die einheimische Bevölkerung ist der Nutzen hingegen eher unwesentlich. Kurz-Einsätze bringen die Gefahr des Geschäftsmodells des Helfertourismus mit sich, der sogar weitreichende Schäden anrichten kann. Langfristig ausgelegte Projekte sind zu präferieren. Vorteile für einen längeren Einsatz umfassen ein gegenseitiges Kennenlernen und eine Vertrauensbasis und garantieren Kooperations- und Netzwerkmöglichkeiten sowie Weiterentwicklungen.
11.8.5 Wichtige Prinzipien in der humanitären Arbeit Einer der wichtigsten Leitsätze in der humanitären Arbeit bezieht sich auf die Zusammenarbeit mit den nationalen Mitarbeitern vor Ort und die Förderung des einheimischen Gesundheitspersonals durch Schulungen und andere Weiterbildungsmöglichkeiten. Beim Wissenstransfer sollte jedoch keine ausschließliche und einseitige Lehrhaltung eingenommen werden. Anzustreben ist, zunächst eine beidseitige Vertrauensbasis zu schaffen, um gemeinsam den internationalen Wissenstand zu erarbeiten, zu reflektieren und diesen anschließend an die lokale Kultur und die Ressourcen zu adaptieren. In der humanitären Arbeit geht es darum, nachhaltig und langfristig Unterstützung zu gewähren mit dem Ziel, das jeweilige Land unabhängig von fremder Hilfe zu machen und die eigenen, individuellen Bestrebungen des Landes zu respektieren. Der Austausch zwischen allen Beteiligten sollte stets auf Augenhöhe stattfinden. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, Kritik oder Verbesserungsvorschläge äußerst sensibel zu kommunizieren und gemeinsam reflektiert zu erarbeiten. So wurde beobachtet, dass die nationalen Hebammen in ihrer Geburtsleitung ausschließlich die flache Rückenlage als Gebärposition forciert haben, obwohl aktuelle Evidenzen die Vorteile einer aufrechten Gebärposition belegen (World Health Organization 2018b).
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Um die Bedeutung der globalen Frauengesundheit und des internationalen kollegialen Austauschs zu betonen, soll dieser Beitrag mit einem Zitat einer gambischen Hebamme abschließen, die mich in der gemeinsamen Arbeit nachhaltig geprägt hat: „I am Fatou Gaye, a nurse midwife. The education of girls inspired me to dedicate my life to care for women and their children. Because: If you educate a boy, you will educate an individual; but if you educate a girl, you will educate a nation!”
11.9 Zusammenarbeit zwischen Hebammen, Ärzten und Dorfhebammen Es ist kein Zufall, dass sich viele der ehemaligen Entwicklungshelfer des Deutschen Entwicklungsdienstes (DED) nach Ableistung des Entwicklungsdienstes für das Fachgebiet Gynäkologie und Geburtshilfe entschieden haben. Dies ist sicherlich nicht allein durch die Bedeutung der Geburtshilfe in einem Distriktkrankenhaus im ländlichen Raum Afrikas begründet, sondern beruht auf Faktoren wie der Effizienz manueller Eingriffe, die keiner großen technischen Apparate bedürfen und sogar ohne Strom auskommen. Aus diesem Grund konnten wir bei der täglichen Arbeit viele praktische Erfahrungen sammeln, die wir, zurück in den deutschen Kreißsälen, anwenden konnten. Diese Möglichkeiten einer Geburtshilfe unter einfachen Bedingungen, von Obstetrics unplugged, haben wir in zwei Manualen (Wacker et al. 1994; Wacker et al. 2020) beschrieben. Ohne Strom oder mit deutlich weniger Strom energiesparend zu arbeiten, gewinnt auch in europäischen Ländern im Sinne der Nachhaltigkeit immer mehr an Bedeutung (Wacker 2021). Auch mit einfachen Methoden können wir rechtzeitig, korrekt und ohne vermehrt auftretende Komplikationen einen Kaiserschnitt, auch aus kindlicher Indikation, im Distriktkrankenhaus im ländlichen Afrika durchführen (Wacker 2008, 2009). Um die Hebammen vor Ort für den Gebrauch des Partogramms zu begeistern, entwickelten wir ein modifiziertes, besser verständliches “Sonnenpartogramm“ (Wacker 2009) Die Kunst der korrekten Indikationsstellung verinnerlichten wir von Anfang an und konnten somit die Sectiorate in einem vernünftigen, vertretbaren Rahmen halten (Wacker 1994, 2010, 2020). Dabei halfen uns die folgenden Methoden und Maßnahmen: • • • • •
Überwachung der kindlichen Herztöne (Pinard-Stethoskop; Dopton) Anwendung eines Partogramms (‚Sonnenpartogramm‘) Hand-Vakuumgerät mit manueller Saugpumpe; Naegele Forzeps Spinalanästhesie Sectio-Technik nach Misgav-Ladach ohne Wunddrainagen
Eindrücklich war die gute Zusammenarbeit mit den Hebammen in den jeweiligen Kreißsälen. Es ist deshalb kein Zufall, dass die frühere leitenden Hebammen der Maternité von Dori im Jahre 1986–1988, Frau Ramata Edvige Ilboudo, und dass Madeleine Da, die ehemalige Leiterin der Kinderstation am CHU Yalgado Oue-
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draogo in Ouagadougou Ko-Autorinnen dieses Kapitels sind. Entscheidend für den Erfolg der stationären Geburtshilfe war die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Dorfhebammen (Traditional Birth Attendants), die die Gebärenden aus den weit entfernt gelegenen Dörfern in unsere Maternité begleiteten. Diese Traditional Birth Attendants bildeten wir in zahlreichen Fortbildungen weiter aus, die wir auch nach Ende meiner Dienstzeit in Dori im Jahre 1988 nahezu jährlich weiter durchführten. Themen der Fortbildungen waren: Leitung der Nachgeburtsperiode, Präeklampsie mit Einführung in die Messung des Blutdruckes, Erkennen eines Geburtsstillstandes, Verlegungskriterien in die Klinik, Abschaffung der FGM, Erkennen der Patientinnen mit vesicovaginaler Fistel bei Harninkontinenz etc. Zum Weiterlesen empfehlen wir die Quellen in der Literaturliste und die Kapitel in diesem Buch zu Kaiserschnitt, Präeklampsie und Geburtsverletzungen. Antworten auf die Eingangsfragen
1. A. 140 Mio. (https://ourworldindata.org/births-and-deaths) 2. A. Asien (https://ourworldindata.org/births-and-deaths) 3. A. 81 % Anstieg um 64 % seit 2000–2006 (https://www.who.int/data/gho/ data/indicators/indicator-details/GHO/births-attended-by-skilled-health- personnel-(-)
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Behandlung von Geburtsverletzungen und Fisteln
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Jürgen Wacker, Peggy Seehafer und Kees Waaldijk
Inhaltsverzeichnis 12.1 12.2 12.3 12.4
Einführung efinition und Klassifikation von Geburtsverletzungen und Fisteln D Häufigkeit von Geburtsverletzungen und Fisteln Diagnostik 12.4.1 Diagnostik bei Geburtsverletzungen 12.4.2 Symptome und Diagnostik bei Fisteln (VVF/RVF) 12.5 Behandlung 12.5.1 Behandlung und Versorgung von Geburtsverletzungen 12.5.2 Behandlung und operative Versorgung geburtshilflich bedingter Fisteln 12.6 Prävention 12.6.1 Prävention von Geburtsverletzungen 12.6.2 Prävention der vesicovaginalen Fisteln Literatur
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J. Wacker (*) ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] P. Seehafer Hamburg, Deutschland e-mail: [email protected] K. Waaldijk HC Gennep, Niederlande © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_12
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Eingangsfragen
1. In Deutschland verlaufende vaginale Entbindungen ohne Geburtsverletzung: A. 70 % B. 50 % C. 38 % D. 18 % 2. Begünstigende Faktoren für das Entstehen einer Geburtsverletzung sind: A. Größe und Form des kindlichen Kopfes B. Höhe des Damms C. Geburtsposition der Mutter D. psychische Situation der Mutter 3. Vesicovaginale Fisteln treten in LIC (Afrika) im Vergleich zu den reichen Ländern häufiger auf: A. weil die Erstgebärenden jünger sind B. aufgrund der schlechten Ernährung C. wegen der geringen und wenig kompetenten Unterstützung während der Geburt D. weil die Sectiorate in den armen Ländern (LIC) zu hoch ist
12.1 Einführung Auch bei bester Betreuung der Gebärenden können Geburtsverletzungen entstehen. So kommt es bei mehr als der Hälfte aller vaginal Gebärenden zu einer Verletzung im Vulva- und Dammbereich. Die Chance, dass Damm und Vagina intakt bleiben, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Bis zum Durchtritt des vorangehenden Teils lässt sie sich auch nicht korrekt einschätzen. Je nach Beschaffenheit des mütterlichen Gewebes und in Abhängigkeit vom Geburtsverlauf kann es immer zu Verletzungen des weichen Geburtsweges kommen. Folgende Faktoren entscheiden mit (Samuelsson et al. 2002; Fitzgerald et al. 2007; Meister et al. 2016): • • • • • • •
Größe und Form des kindlichen Kopfes, insbesondere bei Einstellungsanomalien Durchtrittstempo des kindlichen Kopfes Form des Schambogens Höhe des Damms Elastizität des Dammgewebes Geburtsposition der Mutter Psychische Situation der Mutter
Das Alter der Mutter, die Körpergröße, ihre geografische Herkunft und genetische Dispositionen sind Einflussfaktoren, die unveränderbar sind. Mit der Verbreitung der modernen Geburtshilfe und der flächendeckenden Einrichtung geburtshilflicher Abteilungen – vor allem auch im ländlichen Bereich – ist das Auftreten einer Blasenscheidenfistel in Deutschland seltener geworden. Im Ge-
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gensatz dazu ist in den armen Ländern Afrikas das Auftreten einer vesicovaginalen Fistel aufgrund protrahierter Geburtsverläufe und dem gleichzeitigen Mangel an intakten geburtshilflichen Einrichtungen immer noch ein erhebliches gynäkologisches Problem. Die „Geburtsfistel“, sei es eine vesicovaginale oder rektovaginale Fistel, ist so alt wie die Menschheit und war schon immer eine Quelle des Elends für die betroffenen Frauen. Obwohl geburtshilflich bedingte Fisteln in den Ländern mit hohem Einkommen aufgrund des hohen Standards der Geburtshilfe fast verschwunden sind, sind sie in den Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen, in denen das System der Geburtshilfe lückenhaft ist, immer noch weit verbreitet und stellen nach Kees Waaldijk ein großes Problem der öffentlichen Gesundheit dar, für das noch keine nachhaltige Lösung gefunden wurde. Wie in den Kap. 8 (Mütterliche Mortalität) und 13 (Präeklampsie) schon erwähnt wurde, gibt es zahlreiche andere Faktoren, die zum Tod und Leiden von Müttern führen können. Auch sind postpartale Blutungen (Atonie), wie wir an anderer Stelle schon publiziert haben, eine der häufigsten Ursachen mütterlicher Todesfälle (Bräuer et al. 2014). Das vorliegende Kapitel widmet sich dem Schicksal der „unlucky survivors“ unter den oft jungen Müttern Afrikas.
12.2 Definition und Klassifikation von Geburtsverletzungen und Fisteln Spontane Geburtsverletzungen entstehen von selbst, wobei die einwirkenden Geburtsfaktoren ursächlich dazu beitragen. Zu diesen Geburtsverletzungen gehören: Scheidenriss, Zervixriss, Dammriss, Uterusruptur, Labienriss, Klitorisriss, Levator(an)riss, Symphysenruptur, Steißbeinverletzungen. Die Tab. 12.1 zeigt die Klassifikation der Geburtsverletzungen. Die Fistel ist zwar das sichtbarste und beunruhigendste Phänomen, aber sie ist nur ein Teil eines weitaus komplexeren geburtshilflichen Traumas, des komplexen geburtshilflichen Traumas. Die Vielfalt der geburtshilflichen Fisteln innerhalb des komplexen geburtshilflichen Traumas ist immens und reicht von einer winzigen Fistel mit minimalem Gewebeverlust bis hin zu einer Kloakenbildung in einem leeren Becken mit ausgedehnten intrapelvinen/vaginalen Läsionen und (sub)totalem Verlust der intrapelvinen Weichteile. Dazu kommen weitere extravaginale Läsionen, durch den ständigen Abgang von Urin induzierte Läsionen und neurologische Läsionen, die durch intrapelvine/vaginale Drucknekrosen verursacht werden. Die Episiotomie ist eine iatrogene Geburtsverletzung. Sie wird als geburtshilfliche Prozedur in Verbindung mit einem Hauptdiagnosecode verwendet wird und stellt keine eigene Diagnose dar (WHO 2022a). Gemäß der Klassifikation nach den Leitlinien des RCOG würde sie unter JB09.1 Geburtsverletzung 2. Grades klassifiziert werden.
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Tab. 12.1 Klassifikation (von Peggy Seehafer). Alle Diagnosen im ambulanten und stationären Bereich müssen nach ICD-11 verschlüsselt werden. Die Diagnosen für Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett finden sich in Kap. 18. (WHO 2022b) Code-Nr. Definition JB09 Perineale Verletzungen durch die Geburt JB09.0 Geburtsverletzung 1. Grades
JB09.1
Geburtsverletzung 2. Grades
JB09.2
Geburtsverletzung 3. Grades
JB09.3
Geburtsverletzung 4. Grades
JB09.Z
Dammriss unter der Geburt, nicht näher bezeichnet Spontangeburt eines Einlings
QA46.0
Eingeschlossen Episiotomie mit nachfolgendem Weiterreißen
Ausgeschlossen Hoher Vaginalriss (JB0A.4)
Verletzung, Ruptur oder Riss des Perineums (mit Beteiligung von): • Frenulum labiorum pudendi • Haut • Labien • Vagina • Vulva Verletzung, Ruptur oder Riss des periurethralen Gewebes Verletzung, Ruptur oder Riss des Perineums, wie unter JB09.0 angegeben, außerdem mit Beteiligung von: • M. bulbocavernos • M. transversus perinei • Septum rectovaginale Verletzung, Ruptur oder Riss des Perineums, wie unter JB09.1 angegeben, außerdem mit Beteiligung von: • M. sphincter ani externus • M. sphincter ani internus Verletzung, Ruptur oder Riss des Perineums, wie unter JB09.2 angegeben, außerdem mit Beteiligung von: • Analkanal • Rektumschleimhaut
Periurethraler Einriss mit Beteiligung der Urethra (JB0A.6)
Keine oder minimale geburtshilfliche Maßnahmen Normale Geburt Spontangeburt aus Schädellage Spontane Vaginalgeburt eines Einlings
Beteiligung des Sphincter ani (JB09.2)
Beteiligung der Analoder Rektumschleimhaut (JB09.3)
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12.3 Häufigkeit von Geburtsverletzungen und Fisteln In Deutschland werden die Geburten in den Kliniken bundesweit vom Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) ausgewertet. Sie machen 98 % aller stattfindenden Geburten aus. Dabei wird nicht nach Erst- und Mehrgebärenden unterschieden. Für die Auswertung der außerklinischen Geburten ist die Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe e.V. (QUAG) verantwortlich. Die Tab. 12.2 zeigt die Häufigkeit von Geburtsverletzungen in Deutschland. Wie unsere Arbeitsgruppe im Rahmen einer Studie in Ouagadougou herausfand, gibt es hinsichtlich des Auftretens von Dammrissen in großen burkinischen Kliniken in Ouagadougou und deutschen Kliniken keine großen, klinisch relevanten Unterschiede (Wacker et al. 2020). Dies liegt unter anderem an der guten Ausbildung der Hebammen in Burkina Faso. Im Gegensatz dazu finden sich aber in den ländlichen Regionen Afrikas aufgrund der deutlich längeren Geburtsverläufe, auch bei festgestelltem Geburtsstillstand, erheblich mehr höhergradige Geburtsverletzungen und geburtshilflich bedingte Fisteln (Waaldijk 1994, Wacker et al. 2020). Nach Kees Waaldijk und zahlreichen anderen Autoren liegt die Häufigkeit einer vesico-/rektovaginalen Fistel im ländlichen Raum Afrikas etwa bei 2–3/1000 Geburten (Waaldijk 1994). Aus den Zahlen des Gesundheitsministerium von Burkina faso ergibt sich eine Häufigkeit von 4–6 VVF auf 1000 Totgeburten (Ministere de la Santé; Burkina Faso, 2012). Tab. 12.2 Geburtsverletzungen bei vaginalen Geburten in der klinischen Geburtshilfe, Deutschland 2020. Quelle: IQTIG (2021)
Geburtsverletzungen Ohne 1. Grades 2. Grades Episiotomie 3. Grades 4. Grades Andere Risse (LR, SR)
Häufigkeit in der klinischen Geburtshilfe 42 % 17,7 % 22,2 % 16,2 % 1,7 % 0,1 %
Häufigkeit in der außerklinischen Geburtshilfe n = 15.412 44 % 19,9 % (o. LR, SR) 17,5 % 3,2 % 1,0 % 20,8 %
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12.4 Diagnostik 12.4.1 Diagnostik bei Geburtsverletzungen Hebammen und Geburtsmedizinerinnen müssen in der Lage sein, den gesamten Umfang einer Geburtsverletzung richtig einzuschätzen. Aktuelle Studien belegen die Wirksamkeit des Vier-Augen-Prinzips zum Vorteil der Frau SBU (2021) Förlossningsbristningar. Unzureichend versorgte Geburtsverletzungen beeinträchtigen Frauen und auch ihre Familien für den Rest ihres Lebens. Die meisten Frauen, die gerade geboren haben, sind im Genitalbereich sehr berührungsempfindlich. Es ist sinnvoll, der Frau vor der Diagnostik eine angemessene Analgesie zukommen zu lassen, um den gesamten Umfang der Verletzung korrekt zu diagnostizieren. Ein vor Schmerzen zusammengekniffener Po bedeutet nicht unbedingt, dass der Schließmuskel intakt ist. Eine Traumatisierung an dieser Stelle des Perineums sollte nicht gering geschätzt werden (Garthus-Niegel et al. 2012). Um nach der Geburt eine präzise Diagnose zu stellen, werden sowohl palpatorische als auch visuelle Fertigkeiten gebraucht. Eine systematische Inspektion der Vulva, der Vagina und des Perineums von anterior nach posterior hat sich bewährt, um keine Verletzung zu übersehen (Kindberg und Seehafer 2022). BU: Darstellung der zu palpierenden Bereiche um sicherzustellen, dass die Muskelsubstanz intakt ist Palpieren Sie zwischen Daumen und Zeigefinger den M. bulbocavernosus zwischen 02:00 Uhr und 10:00 Uhr rund um den Introitus, um sicherzustellen, dass Sie überall Muskelsubstanz oder einen Defekt aufspüren können. Nach jeder vaginalen Geburt muss durch eine rektale Untersuchung sichergestellt werden, dass der Schließmuskel intakt ist und keine Verletzung übersehen wurde. Heben Sie während der rektalen Untersuchung mit dem Zeigefinger den Ringmuskel von innen in Richtung Ihres Daumens an und tasten Sie systematisch zwischen 10 Uhr und 2 Uhr die Dicke des M. sphincter ani externus auf Substanzverlust ab. Ein intakter externer Sphinkter ist etwa 0,5 cm dick. Ist der M. sphincter ani internus intakt (DR IIIb), stellt er sich als weißlich glänzende Struktur auf dem Grund der Wunde dar (Kindberg und Seehafer 2022). Tiefliegende Rissverletzungen der Zervix oder ein hoher Scheidenriss können nur instrumentell dargestellt werden. Gefäßverletzungen, die zu oberflächlichen oder tieferliegenden, infralevatoriellen und supralevatoriellen Hämatomen führen, oder An- bzw. Abrisse von Levatormuskeln sind äußerlich nicht erkennbar und bedürfen bei Bedarf einer umfangreichen Diagnostik. Eine gute Diagnostik ist nicht nur durch die systematische Inspektion und die sichere Klassifikation der Verletzung gekennzeichnet. Zu einer guten Diagnostik gehören auch die Dauer der Untersuchung, der Umgang mit dem Gewebe der Frau, die Beachtung der Schmerzfreiheit während der Maßnahme und die angemessene Kommunikation mit der Frau.
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12.4.2 Symptome und Diagnostik bei Fisteln (VVF/RVF) Das führende Symptom der vesicovaginalen Fistel ist der ständige und unwillkürliche Verlust von Urin. Die meisten Patientinnen kommen im Alter von 24–26 Jahren aufgrund ihrer Symptome (Harninkontinenz, Hautveränderungen im Genitalbereich und sonstiger Beschwerden) zur Vorstellung in einer Fistelklinik (Kammerer 2007). Bei den meisten Patientinnen trat die vesicovaginale Fistel bei der ersten Schwangerschaft auf (Hancock 2005; Kammerer 2007). Die Zeitspanne zwischen dem klinischen Auftreten der fistelbedingten Symptome und der Vorstellung in einer Fistelklinik beträgt nach Hancock in Uganda im Durchschnitt 6 Jahre (Hancock 2005). Die Folgen des ständigen Harnverlustes, die vom Urin durchtränkten Kleider und der sich rasch überall verbreitende üble Geruch führen zur sozialen Ausgrenzung der betroffenen Frauen, die wir an anderer Stelle ausführlich dargestellt haben (Kammerer 2007). Bei der Inspektion des äußeren Genitale findet sich bei vielen Patientinnen mit vesicovaginaler Fistel eine „Harndermatitis“. Die Veränderungen der Haut im Genitalbereich sind durch die ständige Kontamination der betroffenen Hautareale mit konzentriertem Harn bedingt. Nach Hancock fand sich bei einer Untersuchung in Uganda aufgrund einer vollständigen Zerstörung der vorderen Vaginalwand keine Öffnung der Harnröhre in 2 % der untersuchten Patientinnen mehr. Bei der gynäkologischen Untersuchung müssen neben der Länge der Vagina, der Größe und Lokalisation der Fistel auch die Größe und Beschaffenheit der Zervix beschrieben werden. Besteht bei einer Patientin unwillkürlicher Harnabgang ohne sichtbare und tastbare Fistelöffnung, so empfiehlt sich das folgende Vorgehen: Untersuchung in Steinschnittlage, Einsetzen von Sims/Auvard-Spekula, Hustenstresstest bei gleichzeitiger Inspektion der vorderen Vaginalwand. Zum Ausschluss kleinster Fisteln wird der sog. Dye-Test („Dye don’t lie“) durchgeführt: Legen eines Foley-Katheters und Instillieren von 50–100 ml mit Kochsalz verdünnter Methylenblau – oder Gentianaviolettlösung in die Harnblase. Vor der Durchführung des Testes werden 2–3 feuchte Tupfer in die Scheide eingelegt. Ist nach dem Test der erste Tupfer ohne Blaufärbung, der zweite aber blau gefärbt, ist das Vorliegen einer Fistel bewiesen (Wacker et al. 2009).
12.5 Behandlung 12.5.1 Behandlung und Versorgung von Geburtsverletzungen Oberflächliche, nicht blutende Risse, bei denen keine Muskulatur betroffen ist, können ohne Naht ausheilen, wenn die Wundränder anatomisch korrekt aufeinander zu liegen kommen. Verletzungen, die bis in die Muskulatur reichen, sollten immer ge-
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nähat werden. Es werden zwar immer wieder Überlegungen angestellt, Dammrisse von selbst ausheilen zu lassen. Laut aktuellen Ergebnissen von Meta-Analysen ist dies jedoch „wahrscheinlich wirkungslos oder sogar schädlich“ (Frohlich und Kettle 2011). Der Zeitpunkt der Nahtversorgung kann nach die erste Bondingphase gelegt werden, die nicht gestört werden sollte (UNICEF, WHO 1992). Häufig ist es notwendig, eine Blutung zu stillen, sodass sich der Zeitpunkt dafür nicht hinausschieben lässt. Bevor eine Geburtsverletzung chirurgisch versorgt wird, muss jeder Frau eine angemessene Analgesie angeboten werden, deren Wirkungseintritt unbedingt abgewartet werden soll. Da das Schmerzempfinden individuell sehr unterschiedlich ist, muss mit jeder Frau einzeln ausgehandelt werden, welche Form der Analgesie für sie ausreichend ist. Die Lagerung muss sowohl für die Frau bequem sein als auch dem Operateur ermöglichen, sich so entspannt wie möglich der Naht zuzuwenden. Für ein langfristig gutes Ergebnis bei der Wundheilung ist es wichtig, dass der Operierende unter ruhigen Bedingungen nähen kann, um Muskeln und Faszien korrekt zu identifizieren und zu adaptieren. Dafür hat es sich als vorteilhaft erwiesen, die Frau in die Steinschnittlage zu bringen. Für die Frau ist es komfortabler, wenn sie ihre Beine in einen Beinhalter legen kann, statt sie nur aufgestellt selbst halten zu müssen. Die Steinschnittlagerung ermöglicht es, bei optimalen Lichtverhältnissen das Ausmaß des Wundgebietes ausreichend darzustellen und die Verletzung richtig zu erkennen (Kindberg und Seehafer 2022). Aufgrund der vorhandenen Studienlage gibt es keine ausreichenden Evidenzen, die für oder gegen die Nahtversorgung kleinerer Geburtsverletzungen bis zum Dammriss II. Grades sprechen. Dammrisse III. und IV. Grades hingegen erfordern zwingend eine angemessene Nahtversorgung. Mediane Episiotomien sind anatomisch mit einem Dammriss II. Grades gleichzusetzen. Mediolaterale Episiotomien verletzen in der Regel größere Blutgefäße, weshalb eine Naht unumgänglich ist. Folgende Vorteile der Naht konnten in Studien festgestellt werden (Fleming et al. 2003): • eine schnellere Wundheilung, • ein kosmetisch ansprechenderes Ergebnis; • eine möglicherweise fehlerhafte Diagnostik kann durch die Nahtversorgung unter entsprechenden Bedingungen revidiert werden. Ob genäht oder nicht genäht wurde, blieb ohne Auswirkungen auf eine mögliche Harninkontinenz und die Wiederaufnahme der sexuellen Aktivität (Langley et al. 2006). Zu der Frage, wie sich nicht vernähte Muskelenden auf eine mögliche Inkontinenz, das sexuelle Erleben, die Körperhaltung, Rückenschmerzen usw. mehrere Jahre nach der Geburt auswirken, liegen bisher keine Untersuchungen vor. Obwohl die Studienlage nicht eindeutig ist, sind sich die meisten GeburtsmedizinerInnen einig darin, jede Dammverletzung mit einer Naht zu versorgen, wenn Muskeln betroffen sind. Die Muskeln des Beckenbodens stehen unter Spannung und ziehen sich, wenn sie zerreißen, in ihre Faszie zurück. Das bedeutet, sie adaptieren sich nicht von allein aneinander und können so auch nicht mehr miteinander verwachsen und die Spannung des Beckenbodens wieder aufbauen.
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In der Versorgung von Geburtsverletzungen wird heute fast ausschließlich synthetisches, resorbierbares Material verwendet, sodass die Fäden nicht gezogen werden müssen. Das passendste Nahtmaterial löst sich genau dann auf, wenn die Wunde auszuheilen beginnt, ohne Entzündungsreaktionen hervorzurufen. Es wird zumeist als fertiges Päckchen angeboten und enthält eine atraumatische Nadel und den Faden aus Polyglactin, einem synthetischen Zucker. Allergien auf das Nahtmaterial selbst sind sehr selten. Manchmal werden Unverträglichkeiten auf die Art der Sterilisation des Materials beobachtet. Für die Naht einer Geburtsverletzung I. Grades eignet sich ein synthetischer, dünner, schnell resorbierbarer Faden. Das könnte z. B. Velosorb fastTM oder Vicryl rapidTM 3–0 sein. Für Geburtsverletzungen 2. Grades gibt unterschiedliche Meinungen unter den klinischen ÄrztInnen darüber, wie viel Zugfestigkeit im Nahtmaterial erforderlich ist. Es eignen sich Fadenstärken zwischen 2–0 und 0–0. Das überwiegend eingesetzte beschichtete Polyglactin 910 (z. B. VicrylTM, NovosynTM)) verliert innerhalb von 21 Tagen die Hälfte seiner Fadenstärke, ist nach 28 Tagen aufgelöst und nach 57–70 Tagen komplett vom Gewebe resorbiert. Das am häufigsten verwendete Nahtmaterial für Sphinkterverletzungen ist VicrylTM oder PDSTM, also ein sich langsam auflösender Faden. Eine randomisierte Studie verglich die beiden Materialien miteinander und fand nur geringfügige klinische Unterschiede in Bezug auf die Notwendigkeit einer Sekundärnaht, auf Infektionsraten oder eine spätere Inkontinenz. Für den Wiederaufbau des M. sphincter ani externus können sowohl monofilamentes Nahtmaterial wie Polidioxanone (PDSTM) als auch geflochtene Nahtmaterialien wie Polyglactin (z. B. VelosorbTM) gewählt werden. Die Ipswich Childbirth Studie von 1992–1994 belegte mit 1780 teilnehmenden Erst- und Mehrgebärenden, dass eine transkutane Naht am Perineum sowohl kurzfristig als auch längerfristig zu signifikant mehr Schmerzen führt als eine Subkutannaht und dass aufgrund der Schmerzen nach einer transkutanen Naht häufiger Fäden vorzeitig entfernt werden müssen. Während sich die fortlaufende Nahttechnik für Nähte bewährt hat, die an der Oberfläche liegen, ist es in manchen Fällen bei tieferliegenden Nähten von Vorteil, sie einzeln zu verknüpfen. Transkutane Einzelknopfnähte sollten vermieden werden. In internationalen Richtlinien wird bei der Versorgung von Geburtsverletzungen II. Grades der fortlaufenden Nahttechnik der Vorzug gegeben, weil sie in der Heilungsphase mit weniger Schmerzen einhergeht. Bei einigen Rissen kann es jedoch schwierig sein, das Wundgebiet zu überschauen. In solchen Fällen kann eine gemischte Nahttechnik aus Einzelknopfstütznähten und einer fortlaufenden Naht besser geeignet sein. Dabei wird das Vaginalepithel mit einer fortlaufenden Naht versorgt, die Muskelenden von M. bulbocavernosus und M. transversus perinei werden paarweise mit Einzelknopfnähten adaptiert und die Haut wird anschließend mit einer fortlaufenden Subkutannaht verschlossen. Wenn sich ein Vaginalriss sehr tief darstellt, kann es sein, dass die rektovaginale Faszie verletzt ist. Ist sie gerissen, muss sie mit einer eigenen (fortlaufenden) Naht versorgt werden, bevor das Vaginalepithel verschlossen wird.
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Bei Sphinkterverletzungen kann die End-to-End-Technik angewendet werden, bei der beide Sphinkterenden auf Stoß mit Einzelknopfnähten verbunden werden. Die überlappende Nahttechnik kann nur bei einem komplett gerissenen M. sphincter ani externus Anwendung finden. Dafür werden beide Sphinkterenden übereinander gelegt und vernäht. Im internationalen Kontext findet sich kein Nachweis dafür, welche Nahttechnik für Dammrisse IV. Grades am besten geeignet ist. Die Nähte werden so durch die anorektale Schleimhaut gesetzt, dass die Wundkanten End-to- End direkt aneinander zu liegen kommen. Ob dabei transmukös oder submukös genäht wird, entscheidet jeder Operateur nach eigenen Fertigkeiten und Erfahrungen. Der M. sphincter ani internus wird bei dieser fortlaufenden Naht mitgefasst. Wundinfektionen nach einer Sphinkterverletzung können zur Ausbildung von Fisteln führen oder Naht- bzw. Wunddehiszenzen zur Folge haben. Dammrissen III. und IV. Grades empfiehlt ebenso wie die Green-top-Guideline die routinemäßige intra- und post-operative Gabe von Breitband-Antibiotika zur Vermeidung von Wundinfektionen und Dehiszenzen. Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2014 fand nicht ausreichend Evidenz für eine routinemäßige Antibiotikaprophylaxe bei Geburtsverletzungen III. und IV. Grades (Buppasiri et al. 2014). Das Risiko für eine Wundinfektion nach einer vaginalen Geburt liegt einem systematischen Review von 2019 zufolge bei 0,1–23,6 %. Das Risiko einer Nahtdehiszenz steigt mit einer Episiotomie auf das Dreifache an. In Abhängigkeit vom Verlauf und Ausmaß der Geburtsverletzung kann es zu größeren Blutansammlungen im Wundspalt kommen. Kleinere Hämatome werden während des Heilungsprozesses abgebaut. Größere Hämatome führen neben dem Druckschmerz unter Umständen zu einer Dehiszenz und müssen möglicherweise ausgeräumt werden. Etwa 1–2 % aller Nähte gehen (partiell) auf, bevor sie verheilt sind. Eine Nahtdehiszenz kann in den ersten 14 bis 21 Tagen post partum durch eine frühzeitige Sekundärnaht versorgt werden. Dafür sollte das Wundgebiet sauber und ohne sichtbare Entzündungen sein. Erfahrungen nach mehr als 30.000 im frühen Wochenbett begutachteten Frauen und mehr als 350 Sekundärnähten an der Universitätsfrauenklinik Aarhus zeigen, dass frühe Sekundärnähte so gut ausheilen wie Primärnähte. Als Grund dafür wird die besonders gute Heilfähigkeit des maternalen Körpers in der Wochenbettperiode angenommen. Frauen, die bei der Geburt größere Verletzungen erlitten haben, fühlen sich nachhaltig verwundet. Viele von ihnen begeben sich selbst bei Harn- und Stuhlinkontinenz nicht in ärztliche Betreuung, wenn sie nicht explizit darauf hingewiesen werden. Deshalb wird empfohlen, Frauen mit Geburtsverletzungen III. und IV. Grades nach drei bis sechs Monaten routinemäßig in eine speziell dafür vorgesehene Sprechstunde mit einem Beckenbodenspezialisten wieder einzubestellen. So ist es möglich, bei Inkontinenzproblemen frühzeitig zu reagieren. Bei allen Frauen sollte in den ersten drei Wochen der Geburtsverletzung genügend Aufmerksamkeit geschenkt werden, damit im Falle einer Dehiszenz, einer Infektion oder bei ungeklärten Schmerzen unmittelbar klinisch abgeklärt werden kann, ob eine frühe Sekundärnaht – insbesondere nach einer Sphinkterverletzung – notwendig ist. Das kann in Deutschland bei den Hausbesuchen durch die Hebamme gewährleistet werden.
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Heilung Bei sauberen und gut adaptierten Wundrändern ist die Bindegewebsneubildung minimal und der primäre Wundverschluss erfolgt gerade postpartum schnell und komplikationslos. Bei auseinanderklaffenden Wundrändern kommt es zu einer verzögerten, sekundären Wundheilung, bei der der Gewebedefekt durch Granulationsgewebe und eine ausgedehnte Narbenbildung aufgefüllt wird. Oberflächliche Geburtsverletzungen, wie Labienrisse, Scheidenrisse und Dammrisse I. Grades, heilen erfahrungsgemäß innerhalb gut einer Woche aus. Dammrisse II. Grades sind nach etwa zwei Wochen oberflächlich verheilt. Eine Episiotomie heilt langsamer als eine spontane Verletzung. Durch die Schnittführung werden mehr Nerven und Kapillargefäße verletzt als bei einem spontanen Riss. Ein Dammschnitt schmerzt dadurch häufig auch mehr, weil in der Exsudationsphase um die Episiotomie herum größere Hämatome und Schwellungen entstehen (Jiang et al. 2017). Sphinkterverletzungen brauchen ungefähr vier Wochen, bis sie ausgeheilt sind. Es ist normal, wenn die Frauen noch einige Wochen nach der Geburt Schwellungen haben und ein Druckgefühl sowie leichte Schmerzen verspüren. Bis zur Nachuntersuchung nach sechs bis acht Wochen post partum sollte die Naht dann komplett verheilt und schmerzfrei sein. Wie lange die Muskeln brauchen, um endgültig auszuheilen, ist bisher nicht bekannt (Soerensen et al. 2008; Kindberg und Seehafer 2022). Das kurzfristige Auftreten von Schmerzen im Bereich des Perineums und ein Brennen beim Wasserlassen sind aufgrund der starken Dehnung während der Geburt als normal zu betrachten. Je größer aber eine Geburtsverletzung ist, desto häufiger und länger leiden Frauen nach der Geburt an Schmerzen. Das Nahtmaterial löst sich im Verlauf von ein bis zwei Monaten vollständig auf. ▶▶
Die unmittelbare Gabe von 1 g Paracetamol supp. nach Abschluss der Naht führt zu geringeren Schmerzen innerhalb der ersten 24 h post partum und zu einem geringeren Schmerzmittelgebrauch innerhalb der ersten 48 h nach der Geburt (Hedayati et al. 2003). Sie kann somit als Routinemaßnahme empfohlen werden. Falls die Frau weiterhin einer medikamentösen Schmerzlinderung bedarf, kann sie bis zu viermal täglich 1 g Paracetamol und 3 × 400 mg Ibuprofen über einige Zeit einnehmen.
12.5.2 Behandlung und operative Versorgung geburtshilflich bedingter Fisteln Die operative Versorgung der vesicovaginalen Fistel steht im Ruf, anspruchsvoll und technisch schwierig zu sein. Auch die erfahrensten „Fistelchirurgen“ können nicht jede Fistel verschließen; sie weisen Erfolgsraten zwischen 90 und 95 % auf, wobei bei etwa 10 % der Eingriffe 2 oder 3 Operationen zum definitiven Fistelverschluss notwendig sind (Hancock 2005). Bei etwa 25 % der vesicovaginalen Fisteln handelt es sich um einfache Fisteln, die jeder erfahrene Gynäkologe oder Chirurg behandeln kann, wenn er einen ent-
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sprechenden Workshop – am besten in einem afrikanischen Land – unter fachkundiger Leitung besucht hat (Wacker et al. 2009). Im Folgenden werden einige operative Prinzipien der Fistelchirurgie dargestellt: • Bei der Auswahl der Instrumente und deren Anwendung bei den Operationen werden den oft einfachen Bedingungen der jeweiligen Krankenhäuser Rechnung getragen. • Folgende Instrumente haben sich uns bewährt: Allis-Klemmen statt Kocher- Klemmen; Präparationsschere, z. B. Metzenbaumschere; selbsthaltendes Auvard-Spekulum, Pinzetten, Gefäßklemmen, Skalpell und Metallsonde. Die Metallkathetersonde (Beniquet) dient zum Ausschluss von Blasensteinen und zur Beurteilung der Länge der Urethra. • Vor Beginn der Operation müssen folgende anatomische Voraussetzungen geklärt werden: Festlegung der Lokalisation und der Größe der Fistel, Bestimmung der Entfernung zwischen äußerer Urethraöffnung und distalem Rand der Fistel; Bestimmung zwischen proximalem Fistelrand und Zervix. • Anästhesie: Spinalanästhesie mit hyperbarem Bupivacain ist in der Regel ausreichend und wirkt für die Dauer der Operation. • Vor Beginn der Präparation Unterspritzen der Gewebeschichten mit physiologischer Kochsalzlösung; die posteriore Dissektion wird fortgeführt, bis mindestens 1 cm Abstand hinter dem Fistelrand mobilisiert sind. Danach erfolgt die anteriore Dissektion. • Der Verschluss der Fistelränder beginnt mit dem Vorlegen zweier Ecknähte. Der Verschluss der Fistelränder erfolgt durch eine einschichtige, einstülpende (die Blasenmukosa nicht mitfassende) Naht im Abstand von 4 mm mit resorbierbarem Nahtmaterial. • Am Ende der Operation wird die Dichtigkeit des Fistelverschlusses durch eine Auffüllung der Blase mit Blaulösung überprüft. Danach werden die vaginalen Wundränder mit Einzelknopfnähten versorgt. Bei der postoperativen Betreuung der Patientinnen ist die Sicherung des ungehinderten Urinabflusses von entscheidender Bedeutung. Kann der Harn nicht frei abfließen, führt dies zu einer Überdehnung der Harnblase und zu einer entsprechenden Spannung auf die Wundnähte. Außerdem sollten die Patientinnen viel trinken, um den Urin zu verdünnen, was der Prophylaxe von Harninfektionen dient. Da die Patientinnen in den ersten zwei Wochen nach der Operation immobilisiert sind, sollte dafür gesorgt werden, dass die Bettunterlagen trocken bleiben, um das Auftreten von nässebedingten Geschwüren (Dekubitus) zu vermeiden. Deshalb formulierten wir in Dori die 3 D der postoperativen Überwachung: • Dropping für die Sicherstellung eines ungehinderten Harnablusses via Dauerkatheter! • Drinking zur Sicherstellung einer ausreichenden Trinkmenge! • Drying zum Trockenhalten der Bettunterlagen!
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Zur weiteren Vertiefung der einzelnen Operationsschritte sei an dieser Stelle auf das Standardwerk von Kees Waaldijk: „step-by-step surgery of vesicovaginal fistulas; a full-colr atlas“ und auf unseren Übersichtsartikel (Wacker et al. 2009) hingewiesen.
12.6 Prävention 12.6.1 Prävention von Geburtsverletzungen Es ist hinlänglich untersucht, dass es für den Geburtsverlauf förderlich ist, wenn sich die Gebärende frei bewegen kann. Die eingenommene Körperhaltung wirkt sich aber mit Ausnahme der Steinschnittlage nicht auf das Ausmaß und die Häufigkeit von Geburtsverletzungen aus (Eason et al. 2000). Eine aufrechte Geburtsposition geht zwar im Vergleich mit der Rückenlage bzw. der Steinschnittlage mit weniger Episiotomien einher, dafür ist sie aber auch mit einer steigenden Zahl von Dammrissen II. Grades assoziiert. Als besonders günstig zur Vermeidung von Geburtsverletzungen werden die Seitenlage und der Vierfüßlerstand beschrieben (Meyvis et al. 2012).
12.6.2 Prävention der vesicovaginalen Fisteln Wie Waaldijk nachweisen konnte, entstehen die meisten geburtshilflich bedingten Fisteln durch protrahierte Geburtsverläufe und als Folge eines Geburtsstillstandes. Das Vorliegen eines Geburtsstillstandes von mehr als 6 h führt zu einem deutlichen Ansteigen der Häufigkeit vesicovaginaler Fisteln (Waaldijk 1994). Es ist deshalb, wie bereits in Kap. 11 (Leitung der Geburt) beschrieben, sinnvoll und notwendig, den Verlauf der Geburt, besonders im ländlichen Raum Afrikas, mittels eines Partogrammes zu dokumentieren und zu überwachen (Wacker 1994; Wacker et al. 1998). Darüber hinaus gilt es, besonders im ländlichen Raum Afrikas die flächendeckende Versorgung der gebärenden Frauen in gut erreichbaren und gut funktionierenden geburtshilflichen Einrichtungen versorgen.
Antworten zu den Eingangsfragen
1. C ist richtig 2. Alle sind richtig 3. A, B und C sind richtig
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J. Wacker et al.
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Die Behandlung der Präeklampsie in armen und reichen Ländern
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Jürgen Wacker, Laeticia Nwaeburu und Abdoulaye N’Diaye
Inhaltsverzeichnis 13.1 E inführung 13.2 Pathogenese der Präeklampsie 13.2.1 Endogene Faktoren 13.2.2 Exogene Faktoren 13.3 Diagnostik 13.4 Management der Präeklampsie 13.5 Therapie 13.5.1 Globale Frauengesundheit: Gleiche Guidelines für unterschiedliche Umstände bedingen andere Abläufe im klinischen Alltag 13.6 Behandlung in armen und reichen Ländern unterscheiden sich grundsätzlich (Laeticia Nwaeburu) Literatur
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Eingangsfragen
1. Die Präeklampsie ist eine Erkrankung in der Schwangerschaft, die besonders: A. junge Schwangere unter 20 Jahren betrifft B. ältere Schwangere über 35 Jahre betrifft C. häufig in der ersten Schwangerschaft auftritt D. deren Häufigkeit durch eine prophylaktische Gabe von ASS vermindert werden kann J. Wacker (*) ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] L. Nwaeburu Klinikum Ingolstadt, Frauenklinik, Ingolstadt, Deutschland A. N’Diaye Frauenklinik, Hopital Saint Camille, Ouagadougou, Burkina Faso © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_13
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2. Die Präeklampsie ist A. eine der häufigsten Ursachen der mütterlichen Mortalität weltweit B. stellt keine Erhöhung der mütterlichen Mortalität dar C. wird in reichen Ländern früher erkannt als in armen Ländern D. kann nur in Frauenkliniken mit Intensivstation behandelt werden 3. Wie unterscheiden sich die Guidelines für die Diagnostik und Therapie hypertensiver Schwangerschaftserkrankungen in armen und reichen Ländern? A. Überhaupt nicht B. Durch die empfohlenen Medikamente (Magnesium, Antihypertensivum) C. Durch die vorhandene Infrastruktur in den jeweiligen Kliniken D. Durch die Qualifikation des vorhandenen Personals
13.1 Einführung Weltweit sterben ca. 300.000 Frauen an Erkrankungen während der Schwangerschaft und an Komplikationen unter der Geburt. 99 % der Todesfälle ereignen sich in Entwicklungsländern (LDC). In diesen Ländern sind Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen die häufigste Todesursache bei Frauen im gebärfähigen Alter, siehe Kap. 8. Jeder mütterliche Tod ist eine Tragödie, es ist ein enormer Verlust für die Familie, die Gemeinschaft und die Gesellschaft, denn in den Händen der Frau liegt die Zukunft der Gesellschaften und Nationen dieser Erde. Deswegen ist Muttergesundheit ein Menschenrecht und deren Verbesserung gehört zu den Millenniumsentwicklungszielen der Vereinten Nationen.
Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen sind je nach Studie für ca. 10–15 % der Müttersterblichkeit verantwortlich, 90 % dieser Frauen sterben jedoch in armen Ländern. Die Erkrankung betrifft vor allem die junge Erstgebärende oder die ältere Erstgebärende. Die Ursachen ihrer Entstehung sind komplex und nicht vollständig geklärt, man weiß aber, dass sowohl endogene als auch exogene Faktoren eine Rolle bei der Entstehung dieser Erkrankung spielen. In den letzten Jahren wurde ein Ungleichgewicht zwischen Angiogenese und Antiangiogenese als wesentlicher Faktor in der Ursachenkette der Präeklampsie beschrieben.
13 Die Behandlung der Präeklampsie in armen und reichen Ländern
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Übersicht
Definition der Präeklampsie und Einteilung der hypertensiven Erkrankungen in der Schwangerschaft nach der International Society of Hypertension in Pregnancy (ISSHP) zitiert bei (Wacker 2020) • • • • • • •
Gestationshypertonie Präeklampsie: Hypertonie und Proteinurie mit/ohne Ödeme Schwere Verlaufsformen der Präeklampsie: HELLP-Syndrom und Eklampsie Chronische Hypertonie Pfropfpräeklampsie Sonstige hypertensiven Komplikationen Andere Erkrankungen mit hypertensiven Komplikationen; z. B. Kollagenosen, Hyperthyreosen
13.2 Pathogenese der Präeklampsie Das 20. Jahrhundert war nach Pierre-Yves Robillarda „le siècle des lumières“ für das Verständnis dieser komplexen Erkrankung. Es gab dafür wichtige Schritte: • Entdeckung der Blutdruckmanschette • Das Vorliegen erhöhter Blutdruckwerte sowohl bei präeklamptischen als auch bei eklamptischen Frauen • Die Beschreibung der Risikofaktoren einer Präeklampsie • Das Verständnis dafür, dass die Trophoblasten-Implantation bei Menschen viel tiefer ist als bei anderen Säugetieren • Die Assoziation der Organmanifestation mit der unspezifischen Endothelschädigung • Die immunologischen und vaskulären Hintergründe
13.2.1 Endogene Faktoren Heutzutage wissen wir, dass die Plazenta-Implantation eine wesentliche Rolle in der Entstehung der Erkrankung spielt. Es wird vermutet, dass die Implantation der Plazenta bei präeklamptischen Patientinnen sehr früh gestört ist. Die Trophoblasten- Invasion bei gesunden Schwangeren führt mittels Zelladhäsionsrezeptoren dazu, dass die Spiralarterien des Uterus ihre Elastizität verlieren und eine Insensibilität zu vasopressiven Substanzen (z. B. gegenüber Angiotensin II) entwickelt, was
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wiederum zu einer Erhöhung der Uterusperfusion führt. Bei hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen ist dieser Mechanismus gestört, was zu einer inadäquaten Durchblutung der Plazenta führt. Die daraus folgende Ischämie der Plazenta hat sowohl fetale als auch maternale Auswirkungen. In Plazentabettbiopsien präeklamptischer Frauen kann man eine fehlende Umwandlung der Spiralarterien in Niederdruckgefäßen nachweisen. Also, kurz gesagt, ist die Präeklampsie durch die fehlende schwangerschaftsbedingte Abnahme des Gefäßwiderstands in den uterinen Arterien gekennzeichnet. Daraus resultiert eine schlechte Plazentadurchblutung (Plazentainsuffizienz), logische Folge ist die intrauterine fetale Wachstumsrestriktion. Zudem finden sich auch noch systemische Veränderungen im Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) (Dietmar Schlembach 2015; Wacker 1992, 2020). Neben diesen beschriebenen endogenen und endokrinologischen Veränderungen, die zu dem klinischen Vollbild einer Präeklampsie führen, gibt es auch exogene Faktoren, die zum einen die Entstehung der Präeklampsie begünstigen oder den Verlauf einer bestehenden Präeklampsie aggravieren.
13.2.2 Exogene Faktoren Als Arzt im Rahmen des Entwicklungsdienstes (DED) EH im Sahel von Dori im Norden von Burkina Faso beobachtete ich, dass die Häufigkeit der Schwangeren mit schwerer Präeklampsie zum Ende der Trockenzeit deutlich zunahm! Grundlage der Ernährung der Frauen im Sahel war die Kolbenhirse, je nach Jahreszeit mit Saucen entsprechender Gemüse oder Blättern von Sträuchern und Bäumen angereichert. Beliebt, weil nahrhaft und wohlschmeckend, waren die frischen Blätter des Baobab-Affenbrotbaumes, die allein in der Regenzeit gepflückt werden konnten, weil in der Trockenzeit der Baobab seine Blätter verlor. In einer prospektiven Studie, durchgeführt an drei verschiedenen Krankenhäuser in Zimbabwe, konnten wir 1998 eine Korrelation zwischen Häufigkeit von Präeklampsie und klimatischen Veränderungen (Regenzeit) aufzeigen (Wacker et al. 1998b). Als Erklärung schlugen wir den Einfluss von Hitze und Luftfeuchtigkeit auf Blutgefäße und die Produktion vasoaktiver Substanzen vor. Offensichtlich verändern Trocken- und Regenzeiten auch die Vegetation der entsprechenden Länder und somit auch die Ernährung der dort lebenden Menschen (Wacker et al. 1998). Aufgrund dieser Ergebnisse und ausgehend von dem bereits bekannten unterschiedlichen Gehalt der Hauptnahrungsmittel (Hirse, Mais, Baobab-Blätter und anderen Nahrungsbestandteilen) an Vitaminen führten wir 1997 eine prospektive Untersuchung in der Antenatal Clinic des Mpilo Govermental Krankenhauses in Bulawayo, Zimbabwe, durch. Mit Hilfe des Erythrocyte Glutathione Reductase Activations Coeffinzienten Testes (EGRACT) bestimmten wir bei Schwangeren der Antenatal Clinic den Riboflavin Status. Es fanden sich statistisch signifikante Unterschiede des Riboflavinstatus zwischen Schwangeren mit einem normalen Verlauf der Schwangerschaft und Schwangeren, bei den im weiteren Verlauf der Schwangerschaft eine Präeklampsie auftrat (Wacker et al. 2000; Schulz and Wacker 2002). Die in dieser Studie gefundenen erniedrigten und unzureichenden Konzentrationen der Riboflavin abhän-
13 Die Behandlung der Präeklampsie in armen und reichen Ländern
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gigen Kofaktoren Flavin Adenin Dinucleotid (FAD) und Flavin Adenin Mononucleotid (FAM) könnten die in der Pathophysiologie der Präeklampsie bekannten Veränderungen wie Dysfunktion der Mitochondrien, vermehrter oxydativer Stress und die Störungen in der Freisetzung von NO erklären (Wacker et al. 2000). Es ist aus der Geschichte allgemein bekannt, dass Hungerkatastrophen zu einem dramatischen Anstieg von Präeklampsie bei unterernährten Schwangeren führen, wie dies im spanischen Bürgerkrieg in Madrid und im Zweiten Weltkrieg in dem von deutschen Truppen eingeschlossenen Leningrad zu beobachten war. Ausgehend von Publikationen von Chapell und Seed (1999) und Raijmakers und Dechend (2004) und der zunehmend berichteten Bedeutung von oxydativem Stress in der Pathophysiologie der Präeklampsie führten wir vom Mai 2004 bis zum Juni 2005 eine prospektive Doppelblindstudie (Plazebo vs. Riboflavin 15 mg) (Gruppengröße jeweils 815 Schwangere) in acht verschiedenen Primary Health Care (PHC-)Einrichtungen in Ouagadougou (Burkina Faso) durch. In dieser Studie fanden sich keine signifikanten Unterschiede in der Häufigkeit von Präeklampsie. In einer weiteren Studie in Venezuela ergänzten wir Vitamin C zu Vitamin B2 (Riboflavin) und fanden dort einen signifikanten Unterschied in der Ausprägung der Präeklampsie mit milderen Verläufen in der Gruppe mit Vitamin-Supplementierung (Elsen et al. 2012). Im Vergleich zu den untersuchten Schwangeren aus der in Burkina Faso durchgeführten Studie war bei den in Venezuela untersuchten Schwangeren der BMI höher und der Ernährungszustand der Frauen besser als in Burkina Faso! Dies könnte dadurch erklärt werden, dass Hunger und Unterernährung in der Entstehung einer Präeklampsie entscheidender sind als die bloße Substituierung von zugeführten Vitaminen!
13.3 Diagnostik Eine Präeklampsie kann für die Mutter und das Kind sehr gefährlich sein, deswegen ist die richtige und rechtzeitige Diagnostik unbedingt nötig. Leitsymptome dieser Erkrankung Eine Präeklampsie besteht bei jedem (auch vorbestehendem) erhöhten Blutdruck >140/90 mm Hg in der Schwangerschaft mit mindestens einer neu aufgetretenen Organmanifestation: Renal • • • •
Proteinurie > 300 mg/d/l Protein/Kreatinin > 30 mg/mmol Serum-Kreatinin > 0,90 mg/dl (79,6 μmol/l) Oligurie < 80 ml/4 h
Hepatisch • Oberbauchschmerzen • Erhöhung der Transaminasen (zweifach über den Referenzwerten)
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Neurologische Auffälligkeiten • • • • •
Kopfschmerzen Sehstörungen, Visusstörungen bis zur Blindheit Hyperreflexie, Kloni Konvulsionen (Eklampsie) Apoplex
Pulmonal • Respiratorische Insuffizienz • Pleuraerguss • Lungenödem Präeklampsie-spezifische Systeme • Veränderungen der angiogenen Faktoren (z. B. sFlt-1/PIGF) Im Laufe der Entwicklung der Präeklampsie-Forschung wurden bereits in den 1980er- und 1990er-Jahres des letzten Jahrhunderts einige Testverfahren beschrieben, um vor dem Erscheinen klinischer Symptome eine Präeklampsie vorauszusagen oder auszuschließen (Roll Over Test, Angiotensin II i.V. Test etc.) (Wacker et al. 1992). Aktuell dient die Bestimmung des Quotienten aus sFlt-1/PIGF aus dem peripheren Blut der Schwangeren zur frühen und präzisen Bestimmung des Auftretens einer Präeklampsie: Der Quotient sFlt-1/PIGF (sFlt= soluble fms-like tyrosine kinase 1, PIGF = placental growth factor) können als Frühmarker zur Vorhersage einer Präeklampsie eingesetzt werden, denn die Pathophysiologie der Entstehung diese Erkrankung führt zur Erhöhung dieses Quotienten vor der klinischen Manifestation. In einer prospektiven randomisierten klinischen Studie haben Zeisler et al. (2016) den effektiven Nutzen dieses Biomarker nachgewiesen. Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Verwendung des sFLT-1/ PIGF-Quotienten die richtige Diagnose erheblich verbessert, ohne die Entscheidung zur stationären Aufnahme zu beeinträchtigen.
13.4 Management der Präeklampsie Die Erstbeurteilung von Patientinnen mit hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen sollte durch dafür ausgebildetes Fachpersonal erfolgen (NICE guideline, 2019 S. NICE guideline). Die folgende Abb. 13.1 zeigt die einzelnen Komponenten des Managements bei Präeklampsie.
13 Die Behandlung der Präeklampsie in armen und reichen Ländern Abb. 13.1 Übersicht über das Management der Präeklampsie
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Screening, Prävention
Management
Präeklampsie
Diagnostik
Therapie
Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen gehören zu den häufigsten Risikofaktoren im Zusammenhang mit intensivmedizinischer Aufnahme in der Geburtshilfe. Trotz der enormen Fortschritte in der Erforschung von Ursache und Diagnostik der Präeklampsie bleibt die einzige kausale Therapie die Entbindung des Kindes und Entfernung der Plazenta. Vorrangige Ziele des Krankheitsmanagements sind • Schwangerschaftsprolongation, um die mit einer Frühgeburtlichkeit verbundenen fetalen Risiken zu reduzieren, zwischen der 24. und 34. SSW indiziert • Maternale Gefahr durch präeklamsiebedingte Komplikationen zu reduzieren Es muss ein Gleichgewicht zwischen maternalem und fetalem Benefit gefunden werden. Dafür soll man unterscheiden zwischen Management einer leichten, mittelschweren und schweren Präeklampsie. Eine ambulante Betreuung der Schwangeren ist möglich bei fehlenden Prodromi einer Präeklampsie und Blutdruckwerten unter 160/100 mm Hg. Bei den ambulanten Kontrolluntersuchungen müssen Blutdruck, Körpergewicht, Eiweißausscheidung im Urin und das allgemeine Befinden der Schwangeren engmaschig untersucht werden. Eine stationäre Einweisung in eine geburtshilfliche Abteilung ist notwendig bei Vorliegen der folgenden Befunde:
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• Blutdruckerhöhung > 160/100 mmHg • Rasche Gewichtszunahme (mehr als 1 kg/Woche, Gesichtsödeme) durch Flüssigkeitsretention bedingt • Pathologischer Quotient sFlt-1/PIGF >85 bzw. >110 • Klinische Manifestation bzw. Prodromalsymptome wie unklare Oberbauchschmerzen, Kopfschmerzen, Augenflimmern etc. • Hinweise auf eine fetale Bedrohung (abnehmende Kindsbewegungen, auffälliges CTG, pathologische Doppleruntersuchung, intrauterine Wachstumsretardierung (IUGR) und Oligohydramnion) • Mangelnde Compliance für eine ambulante Betreuung Geburtshilfliches Management nach Aufnahme in die Klinik: • • • •
Abklärung und Ausschluss eines akuten mütterlichen und fetalen Notfalls Kontinuierliche Blutdruckmessung Ultraschalluntersuchung des Kindes, kindliches Gewicht! Doppler Kontinuierliche CTG-Untersuchung obligat bei Beginn einer intravenösen, antihypertensiven Behandlung • Kontrolle der Eigenreflexe • Laborwerte und Eiweißausscheidung im Urin (Schnelltest und 24-h-Urin) • Ausschluss des Vorliegens eines HELLP-Syndroms Das HELLP-Syndrom ist eine schwere Verlaufsform der Präeklampsie. Abb. 13.2 zeigt die klinische Symptomatik bei Vorliegen eines HELLP. Syndromes. Das HELLP-Syndrom muss differentialdiagnostisch von den folgenden Erkrankungen abgegrenzt werden: • • • • • • • • • • •
Akute Schwangerschaftsfettleber (Acute Fatty Liver of Pregnancy/AFL) Appendizitis Hyperemesis gravidarum Idiopathische Thrombozytopenie Urolithiasis Gallensteinleiden Ulcus duodeni/Gastroenteritis Systemischer Lupus erythematodes Hämolytisch-urämisches Syndrom Hepatitis Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura
Um die Diagnose eines HELLP-Syndroms zu erhärten, müssen die folgenden Laborparameter, die Abb. 13.3 zeigt, bestimmt werden. Ist die Diagnose eines HELLP-Syndroms gesichert, muss eine zeitnahe Entbindung durchgeführt werden.
13 Die Behandlung der Präeklampsie in armen und reichen Ländern Abb. 13.2 Klinische Symptome bei HELLP- Syndrom. (Aus: Wacker 2020)
Abb. 13.3 Laborverän derungen bei HELLPSyndrom. (Aus: Wacker 2020)
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13.5 Therapie Ziele der Behandlung einer Präeklampsie sind die Vermeidung mütterlicher Komplikationen durch Hypertonie, Blutgerinnungsstörungen und einen eklamptischen Anfall und auch die Vermeidung kindlicher Komplikationen und die Folgen der Frühgeburtlichkeit. Für die Senkung des Bluthochdruckes gilt: ▶▶
Not too fast and not too far! Die bedeutet für die klinische Praxis: Um die kindliche Blutversorgung nicht zu gefährden: Blutdruck nicht mehr als 10 % des systolischen Ausgangswerte pro Stunde und nicht unter 140 mmHg senken!
Beispiel
Vorgehen bei hypertensiver Krise/Eklampsie in der Schwangerschaft und unter der Geburt: Urapidil i.v.; initial 6,25 mg langsam injizieren über 2 min. Danach 3–24 mg/h mit NaCl-Perfusor Magnesiumsulfat i.v.: Initial 4–6 g in 50 ml in 15–20 min als Kurzinfusion Erhaltungsdosis 1–2 g/h ◄ Die folgende Tab. 13.1 zeigt die Empfehlungen bei schwerer Hypertonie in der Schwangerschaft. Tab. 13.1 Medikamentöse antihypertensive Akuttherapie: Substanzen und Dosierung Medikament Urapidil
Labetalol
Nifedipin Dihydralazin
Dosierungsschema i.v. initial 6,25 mg i.v. langsam (2 min) danach 3–24 mg/h (über Perfusor) i.v. initial 50 mg i.v. langsam (1–3 min), evtl. Wdh. nach 30 min. Perfusor: 120 mg/h p.o. initial 5 mg p.o., ggf. Wdh. nach 20 min i.v. initial 5 mg i.v. (über 2 min) danach 2–20 mg/h (über Perfusor) oder 5 mg alle 20 min
Anmerkung Bessere Verträglichkeit und Steuerbarkeit Österreich, Schweiz
- geringere Steuerbarkeit Wirkeintritt nach 3–5 min, z. T. erst nach 20 min, insbesondere bei Bolusgabe (und dann häufig überschießend)
13 Die Behandlung der Präeklampsie in armen und reichen Ländern
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13.5.1 Globale Frauengesundheit: Gleiche Guidelines für unterschiedliche Umstände bedingen andere Abläufe im klinischen Alltag Wie in Kap. 19 beschrieben, gleichen sich die Guidelines zur Behandlung der hypertensiven Erkrankungen in der Schwangerschaft zwischen Burkina Faso, Deutschland, Kamerun und der Schweiz. Ärzte und Hebammen in diesen Ländern wissen, was zu tun ist, um Patientinnen mit Präeklampsie optimal zu helfen, verfügen aber über unterschiedliche finanzielle Ressourcen und dadurch bedingte unterschiedliche Ausstattungen ihrer Kliniken. Intensivstationen sind für die meisten Patientinnen in den armen Ländern weit weg und finanziell unerschwinglich. Trotz dieser Situation, die eine Folge der Armut in vielen Ländern Afrikas ist, gibt es ermutigende Ansätze: In vielen Ländern unserer Welt gibt es keine zuweisenden Fachärzte und ausgebildeten Hebammen, welche die erkrankten Schwangeren in eine Klinik einweisen können. Oft wenden sich die Schwangeren in den ärmsten Ländern an Dorfhebammen (Traditional Birth Attendants, TBAs), welche nur kurz ausgebildet wurden und häufig weder lesen noch schreiben können. Auch unter diesen Bedingungen der Armut gilt es, Schwangere mit hypertensiven Erkrankungen rechtzeitig in die nächst gelegene Geburtsklinik einzuweisen. In einer im Sahel von Burkina Faso durchgeführten Untersuchung konnten wir nachweisen, dass es möglich ist, die Blutdruckmessung im Rahmen der Vorsorge in der Schwangerschaft durch traditionelle Dorfhebammen durchführen zu lassen. Im Rahmen einer mehrtätigen Schulung in Dori wurden die Dorfhebammen in die Auskultation und die Handhabung einer Blutdruckmanschette eingeführt. Mittels eines mit roten Pfeilen gekennzeichneten Sphyg-Manometers lernten die Dorfhebammen die normalen und pathologischen Blutdruckwerte unterscheiden. Jede der zuweisenden Dorfhebammen des CHR Dori erhielt am Ende der Schulung ein Blutdruckmessgerät zur Anwendung in dem jeweiligen Dorf. Es konnte gezeigt werden, dass am Ende der Studie die Anzahl der eingewiesenen Schwangeren mit Präeklampsie auf das Vierfache der Zahl vor Durchführung der Studie gesteigert werden konnte (Wacker et al. 1998).
13.6 Behandlung in armen und reichen Ländern unterscheiden sich grundsätzlich (Laeticia Nwaeburu) Während das Management in reichen Ländern von Schnelligkeit, Prävention und besserem Outcome geprägt ist, ist es in armen Ländern ein Desaster, das viel von Verfügbarkeit des Geldes und Nähe zu einem Krankenhaus mit Ärzten abhängt. Die Präeklampsie stellt nicht nur ein Risiko in der Schwangerschaft dar, sondern ebenfalls Jahre danach, denn die Folgen einer stattgehabten Präeklampsie sind nicht zu vernachlässigen, wie dargestellt in dieser Metaanalyse. Daten von mehr als 3 Mio. Frauen zeigen, dass Frauen, die eine Präeklampsie hatten, ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben, mit fast vierfach erhöhtem Risiko für arterielle Hypertonie 14 Jahre nach einer durchgemachten Präeklampsie, zweifach erhöhtem Risiko für koronare Herzkrankheit und 1,8-fach erhöhtem Risiko für Schlaganfall jeweils nach 12 und 10 Jahre nach der Präeklampsie.
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J. Wacker et al.
Während die Indikation zur antihypertensiven Behandlung der Patientinnen mit schwerer Hypertonie in den Leitlinien aus Deutschland und Kamerun gleich ist, stehen aber den Ärzten in den beiden Ländern unterschiedliche Antihypertensiva zur Verfügung. Dabei fällt eine Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und klinischer Umsetzung auf. Bedenkt man, dass die große Multicenterstudie zum Vergleich der Verträglichkeit zwischen Dihydralazin und Urapidil bereits 2006 veröffentlicht wurde (Wacker et al. 2006), aber erst in der neuen Leitlinie von 2019 Urapidil als Mittel der ersten Wahl bei Vorliegen einer schweren Hypertonie anerkannt wurde, erkennt man ebenfalls eine Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und klinischer Umsetzung! Im ersten Fall ist diese Diskrepanz der immer noch bestehenden Armut der Bevölkerung in Kamerun geschuldet (Fomulu 2013), wogegen in Deutschland die verzögerte Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die klinische Praxis durch andere Faktoren erklärt werden muss. Antworten auf die Eingangsfragen
1. Alle Antworten sind richtig 2. A, B, C sind richtig 3. C ist richtig
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13 Die Behandlung der Präeklampsie in armen und reichen Ländern
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Die Durchführung des Kaiserschnitts in armen und reichen Ländern (Misgav-Ladach-Sectio, „der sanfte Kaiserschnitt“)
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Michael Stark, Jürgen Wacker und Judith Lindert
Inhaltsverzeichnis 14.1 E inleitung 14.2 Operationstechnik 14.2.1 Art des Bauchschnitts 14.2.2 Durchführung des Bauchschnittes 14.2.3 Eröffnen des Peritoneums 14.2.4 Uterotomie 14.2.5 Plazentalösung 14.2.6 Nähen der Uterotomie 14.3 Nahttechnik 14.3.1 Verschließen des Peritoneums oder besser Offenlassens des Peritoneums 14.3.2 Verschluss der Faszie 14.3.3 Verschluss der Haut 14.4 Schwierige Kindesentwicklung bei der Sectio caesarea 14.5 Strukturelle Voraussetzungen des Operationssaales für die Durchführung einer Sectio caesarea in einem Krankenhaus im ländlichen Raum Afrikas Literatur
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M. Stark c/o Regus (NESA), Unter den Linden, Berlin, Deutschland e-mail: [email protected] J. Wacker (*) ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] J. Lindert Klinik für Kinderchirurgie der Universität Rostock, Hamburg, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_14
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Eingangsfragen
1. Der Name Misgav Ladach bezeichnet: A. Erstbeschreiber der Methode B. Den Namen einer Klinik in Jerusalem C. Die erste Patientin D. Das erste durch diese Methode entbundene Kind 2. Welche zwei Vorteile dieser Methode werden von den meisten Autoren benannt? A. Geringerer Blutverlust B. Längere Operationsdauer C. Kürzere Operationsdauer D. Notwendigkeit höherer Analagetikagabe 3. Die Kindesentwicklung bei Sectio caesarea A. ist immer leichter als bei einer vaginalen Geburt B. sollte bei Frühgeburten bei stehender Fruchtblase durchgeführt werden. C. bei tief im Becken steckendem Kopf über eine umgekehrte BEL-Entwicklung durchzuführen D. erfordert eine gute Ausbildung und ständiges Training
14.1 Einleitung Jedes operative Verfahren setzt sich aus Hunderten von Bewegungen zusammen. Jede hat eine Herkunft und ihre Geschichte, jede dient einem bestimmten Zweck und sollte einen bestimmten Ausführungsweg haben. Es ist verwunderlich, dass bis heute keine standardisierte Methode der Sectio caesarea existiert, die durch die Methoden der evidenzbasierten Medizin begründet ist. Darüber hinaus werden sogar an den jeweiligen Geburtskliniken in armen und reichen Ländern verschiedene Variationen der Sectio caesarea durchgeführt. Heute existieren für die meisten abdominalen Operationen alternative endoskopischen oder robotergestützte Interventionen. So gesehen wird die Sectio caesarea die einzige indizierte Laparotomie auch in Zukunft sein. Das Resultat unserer Überlegungen zur Optimierung der einzelnen Operationschritte ist die sog. Misgav-Ladach-Sectiomethode. Die Misgav-Ladach-Methode hat sich seither als ein Operationsverfahren erwiesen, das mit wenigen, einfachen, optimierten Schritten viel bessere Ergebnisse erzielt als die bisher jahrzehntelang verwendeten traditionellen Methoden.
14.2 Operationstechnik Dieses Kapitel beschäftigt sich hauptsächlich mit der Operationstechnik des Kaiserschnitts und nicht mit der Routineverwendung von Antikoagulanzien, Antibiotika etc.
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Die Positionierung der Gebärenden in einer Trendelenburg-Position erleichtert den Zugang zur unteren Bauchhöhle und erübrigt die Verwendung von Bauchtüchern, da die Dünndarmschlingen nach hinten fallen. Der Gebrauch von Bauchtüchern verursacht Verwachsungen (Down et al. 1980). Fruchtwasser, das in der Bauchhöhle verbleibt, wirkt bakteriostatisch (Larsen und Davis 1984; Larsen und Galask 1975). Wenn man Bauchtücher verwendet, wird das Fruchtwasser von diesen aufgesaugt und dessen Schutz geht verloren. Die Trendelenburg-Position beeinflusst die Verbreitung der Regionalanästhesie (Setayesh et al. 2001). Luftembolie, auch wenn diese klinisch nicht in Erscheinung tritt, ist bei Kaiserschnitten häufiger, als man denkt (>50 %), und eine tiefe Trendelenburg-Position kann deshalb zu Schäden führen (Lowenwirt et al. 1984). Diese Faktoren muss man einkalkulieren, wenn man die Patientin positioniert, und sollte ein Embolieverdacht entstehen, so ist eine sofortige umgekehrte Trendelenburg- Positionierung herzustellen und die Bauchhöhle mit physiologischer Kochsalzlösung zu füllen. Da die meisten Kaiserschnitte unter Regionalanästhesie durchgeführt werden, sollte man auch die Bequemlichkeit der Patientin und die Einschätzung des Anästhesisten bezüglich der Steilheit der Lagerung abwägen. Die Beine der Gebärenden sollten parallel liegen. Werden diese abduziert, entsteht eine Spannung auf der Faszie, was den Verschluss erschwert. Es ist äußerst wichtig, dass die Faszie beim Nähen spannungslos ist. Dafür dürfen die Beine der Gebärenden nicht abduziert sein.
14.2.1 Art des Bauchschnitts Seit dem ersten beschriebenen Kaiserschnitt durch Ferdinand Kehrer am 25.09.1881 in Meckesheim bei Heidelberg (Nordbaden, Rhein-Neckar-Kreis), bei dem Mutter und Kind am Leben geblieben waren, hat man Bauchschnitte bei Kaiserschnitten traditionell mit Längsschnitt durchgeführt. Da in diesen Jahren die Uterotomie mittels Längsschnitt durchgeführt wurde, war dies eine logische und optimale Vorgehensweise. 1897 beschrieb Johannes Pfannenstiel einen Querschnitt als eine Alternative zu dem damalig üblichen Längsschnitt, die ästhetische Vorteile mit sich bringt (Pfannenstiel 1897). Hieran wird nun die Macht der Tradition offensichtlich. Viele Jahre hat man den Pfannenstiel-Schnitt angewandt, ohne jemals Vergleichsstudien durchzuführen. Erst 74 Jahre später haben Mowat und Bonnar Längsschnitte mit Pfannenstiel-Querschnitten bei Kaiserschnitten miteinander verglichen. Dabei wurden manche erwartete Vorteile des Querschnitts tatsächlich bestätigt (Mowat und Bonnar 1971). 1972 hat Joel-Cohen einen alternativen Querschnitt beschrieben, bei dem die Eröffnung der Faszie über der Linea arcuata erfolgt. Der Vergleich des dem Kaiserschnitt angepassten Joel-Cohen-Schnitts mit dem Pfannenstiel-Schnitt ergab, dass die febrile Morbidität und der Verbrauch an Schmerzmitteln deutlich geringer sind (Stark und Finkel 1994). Seit der Umstellung der Uterotomie von Längs- auf Querschnitte durch John Martin Munro-Kerr im Jahr 1924 (Hewitt 1961) werden
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Uterotomien weltweit in dieser Form durchgeführt. Die Kombination der Munro-Kerr- und der modifizierten Joel-Cohen-Schnitte bietet einen optimalen Zugangsweg zum unteren Uterinsegment.
14.2.2 Durchführung des Bauchschnittes Ein oberflächlicher Schnitt ausschließlich durch die Kutis wird innerhalb einer physiologischen Querlinie der Haut durchgeführt in einer Höhe von 3 cm unterhalb einer imaginären Linie, die die beiden Spinae iliacae anteriores superiores verbindet. Um einen genauen Querschnitt innerhalb einer Hautlinie zu erreichen, sollte man den Schnitt von vornherein genau planen und die Haut entsprechend markieren. Die Markierung ermöglicht dem (rechtshändigen) Operateur, den vorgesehenen Anfangspunkt nach links zu spannen und den Schnitt in Richtung der rechten Markierung zu führen, ohne einen asymmetrischen Schnitt zu verursachen. Die folgende Abbildung zeigt die Schnittführung bei der Misgav-Ladach- Sectio-Methode (Abb. 14.1): In der Mitte des Schnitts, wo keine bedeutenden Blutungen auftreten können, vertieft man die Öffnung durch einen Querschnitt bis zur Faszie. In der Faszie wird eine transverse Öffnung von 4–5 mm geschaffen, durch die man die Fasern der Mm. recti abdominis sehen kann.
Abb. 14.1 Schnittführung bei Sectio caesarea nach der Misgav-Ladach- Technik. (Aus: Wacker 2020)
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Eine gerade Schere mit abgerundeten Kanten wird an beiden Seiten der Faszie mit einer Öffnung von 2–3 mm angelegt, wobei eines der Scherenblätter über und eines unterhalb der Faszie angesetzt wird. Die Schere wird lateral nach links so weit geschoben, bis die Länge der geplanten Öffnung erreicht ist, anschließend in ähnlicher Weise nach rechts geschoben entlang des Verlaufs der Faszie, um diese nicht zu verletzen. So wird die Faszie unter den Blutgefäßen und dem Fettgewebe geöffnet. Die Öffnung in der Faszie wird in der Mitte des Schnitts mittels der zwei Zeigefinger nach oben und unten gezogen, was ermöglicht, dass der Operateur und sein Assistent jeweils ihre beiden Zeige- und Mittelfinger (der rechten Hand) unterhalb der Mm. recti platzieren können. Gemeinsam ziehen sie die Muskeln langsam zu sich heran und damit auch das Fettgewebe und die Blutgefäße, die eine laterale Elastizität aufweisen, beliebig weit, bis die gewünschte Breite der Öffnung erreicht ist. Eine Hämostase ist selten notwendig. Mit dieser Methode können mehrere Operationen ohne eine einzige Blutstillung durchgeführt werden. Falls die Zugkraft nicht reicht, wie es bei übergewichtigen Frauen oder einer Folgeoperation aufgrund von Adhäsionen der Fall sein könnte, kann jeder Operateur vier Finger für das Ziehen einsetzen. In einem solchen Fall sollten aber der Zeigefinger und der Mittelfinger der linken Hand unmittelbar auf dem Zeigefinger und dem Mittelfinger der rechten Hand aufgelegt werden und ein gemeinsamer Zug erfolgen. Der Grund dafür ist, dass Blutgefäße – ähnlich einer Saite auf einem Musikinstrument – zwar eine laterale Elastizität aufweisen, aber wenig Längselastizität. Ziehen mit vier Fingern nebeneinander bringt die Tendenz mit sich, dass sich die Finger der beiden Hände voneinander entfernen und so ein Spannen und Reißen der Blutgefäße eintreten kann.
14.2.3 Eröffnen des Peritoneums Das Peritoneum hat keine eigenen Blutgefäße. Da es die intraabdominalen Strukturen umhüllt, könnte eine blinde Eröffnung mit scharfen Instrumenten wie Schere oder Skalpell evtl. zu Verletzungen der Dünndarmschlingen führen. Durch wiederholte Dehnung des Peritoneums mittels zweier Zeigefinger entsteht eine kleine Öffnung (Stark 2009). Wird diese nach oben und unten gezogen, wird das Peritoneum quer eröffnet. Es ist wichtig, diesen Schritt weit oberhalb der Blase durchzuführen, um der Blase nicht zu schaden.
14.2.4 Uterotomie Der schottische Arzt John Martin Munro-Kerr (1868–1960) hat 1924 die Vorteile des Querschnitts im unteren Uterinsegment gegenüber dem damals traditionellen Längsschnitt nachgewiesen. Ein Vorteil dieser Umstellung ist der geringere Blutverlust. Außerdem treten in den Folgeschwangerschaften weniger Rupturen auf, da während der Entwicklung des unteren Segments die Fasern quer positioniert werden. Diese Queröffnung ver-
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läuft also relativ physiologisch entlang der Fasern und ist daher weniger traumatisch. Der Längsschnitt wird heute wegen der Risiken für Rupturen in Folgeschwangerschaften kaum verwendet (Borso 1957). Dennoch gibt es Situationen, in denen manche Geburtshelfer einen Längsschnitt im unteren Segment bevorzugen, wie z. B. bei Prämaturität oder Mehrlingen (Neeser et al. 1988). Die Frage, ob die Blase heruntergeschoben werden soll, ist noch offen. Auch wenn kurzfristige Vorteile bestehen, wenn man den Uterus über der Blasenumschlagsfalte eröffnet (Hohlagschwandtner et al. 2001), bedarf der langfristige Vergleich noch weiterer prospektiver Studien. Wir bevorzugen, den Uterus so tief wie möglich zu öffnen, da sich im tieferen Segment weniger Muskelfasern und mehr Bindegewebe (6,4 % Muskelgewebe im unteren Uterinsegment versus 68,8 % im Corpus uteri) befinden. Das verursacht weniger Schaden am Myometrium. Sowohl die Länge des Bauchschnitts als auch die Breite der Öffnung des unteren Segments müssen entsprechend der Gewichtsschätzung und der Position des Kindes geplant werden. Bei Beckenendlagen z. B. sollte man großzügig planen, um die Geburt untraumatisch durchführen zu können.
14.2.5 Plazentalösung Nach der Entwicklung des Kindes kann die Plazenta manuell oder mittels leichter Traktion der Nabelschnur mit Druck von oben abgelöst werden. Gemäß einem Cochrane Database Review verursacht eine manuelle Ablösung der Plazenta mehr Blutungen sowie häufigeres Auftreten von Endometritis (Wilkinson und Enkin 2000). Das stimmt sicherlich in den Fällen, in denen bereits ein frühzeitiger Blasensprung erfolgte (Lasley et al. 1997).
14.2.6 Nähen der Uterotomie Der Uterus kann mit Vorlagerung (Exteriosation) des Uterus oder innerhalb des Körpers genäht werden. Beide Methoden haben ihre Anhänger. Die Vorteile der Vorlagerung während des Nähens bestehen zum einen in der Möglichkeit, schneller nähen zu können (Darj und Nordström 1999; Hershey und Quilligan 1978; Wahab et al. 1999), und zum anderen darin, den Uterus manuell zu kontrahieren und dadurch den Blutverlust zu reduzieren. Weitere Vorteile sind ein besseres Sichtfeld auf Darmschlingen und die notwendige Inspektion der Ovarien.
14.3 Nahttechnik Für das Nähen des Uterus gibt es mehrere Varianten: eine zweischichtige Naht, bei der die eine Schicht kontinuierlich und die andere mit Einzelknopfnähten genäht wird, oder solche, bei denen vorher die Ecken separat genäht und dann zweischichtig kontinuierliche oder Einzelknopfnähte verwendet werden.
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Bereits in den 1970er-Jahren konnten Csucs et al. nachweisen, dass einschichtiges Nähen des Uterus anatomisch bessere Narben bildet (Csucs et al. 1972). Befürworter des einschichtigen Nähens waren auch Jelsemaet et al. (1993). Auch wenn es Behauptungen gibt, dass einschichtiges Nähen mehr Rupturen in den Folgeschwangerschaften verursachen kann (Bujold et al. 2002), gibt es zahlreiche Fallbeispiele dafür, dass einschichtiges Nähen keine Nachteile aufweist (Hudić et al. 2010). 2016 konnten Bennich et al. zeigen, dass eine zweischichtige Naht keinen Einfluss auf die Dicke der Uteruswand hat. Die Bevorzugung des einschichtigen Nähens beruht auf der physiologischen Tatsache, dass sich sofort nach der Geburt eine rigorose Involution des Uterus vollzieht. Das Nahtmaterial dient nur der Hämostase in den ersten Stunden. Später verliert das Myometrium an Volumen, und das Nahtmaterial liegt frei um das kontrahierte Gewebe. Je mehr Nahtmaterial verwendet wird, desto mehr Fremdkörperreaktionen treten auf, was wiederum zu einem erhöhten Schmerzmittelbedarf führt. Auch wenn diesbezüglich mehrere Prospektivstudien durchgeführt werden müssen, ist für uns der optimale Weg des Nähens eine einschichtige, kontinuierliche und überwendige Naht. Einzelne Nähte verursachen wegen der größeren Zahl von Knoten mehr Reaktionen des Gewebes, durch die die Narbe geschwächt wird. Je größer die Nadel ist, desto weniger Schritte braucht man, um Hämostase zu erreichen. Wir verwenden eine 80 mm runde Nadel mit einem 90 cm langen Faden. Je größer die Nadel ist, umso weniger Nahtmaterial braucht man. Weniger eingebrachtes Nahtmaterial bedeutet auch eine geringere Fremdkörperreaktion. Nach dem Nähen befinden sich Blut und Fruchtwasser in der Peritonealhöhle. Koagel kann man manuell entfernen, da keine Bauchtücher eingesetzt werden sollen. Flüssiges Blut wird durch das Peritoneum bzw. durch die Lymphwege resorbiert. Das Fruchtwasser wirkt bakteriostatisch bei höheren Temperaturen (Larsen und Davis 1984). Dennoch sollte bei Verdacht auf Amnionitis die Bauchhöhle mit einer physiologischen Salzlösung gespült werden.
14.3.1 Verschließen des Peritoneums oder besser Offenlassens des Peritoneums Die Chirurgen aller Disziplinen haben als selbstverständlich angenommen, dass jede anatomische Schicht in ihre Ausgangslage zurückverlegt werden soll. Diese Aufgabe wurde durch die Einführung der Anästhesie 1846 durch Morton erleichtert, wodurch die Chirurgen ohne den durch den Schmerz hervorgerufenen Leidensdruck ihrer Patientinnen operieren konnten. Das Peritoneum kann nicht durch Aneinanderfügen seiner Ränder genäht werden. Näht man das Peritoneum, so entstehen über dessen Rändern Brücken von Blutgefäßen, die zu Herden für Verwachsungen werden. Wie Ellis (1980) nachgewiesen hat, bilden die Coelumzellen schon innerhalb weniger Tage ein neues Peritoneum.
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1983 haben wir begonnen, das parietale Peritoneum und seit 1984 das viszerale Peritoneum offenzulassen. 1991 konnten wir nachweisen, dass bei wiederholten Kaiserschnitten signifikant weniger Verwachsungen in den Fällen gefunden werden, in denen man in der vorherigen Operation das Peritoneum offenlässt (Stark 1993). Der Verschluss des Peritoneums verlängert die Operationsdauer, verursacht mehr Fremdkörperreaktionen und dadurch auch mehr Schmerzen und Verwachsungen und sollte deshalb vermieden werden. Dies betrifft sowohl das parietale als auch das viszerale Peritoneum (Royal College of Obstetrics and Gynaecology – RCOG 2002). Der Verschluss des Peritoneums verlängert die Operationsdauer, verursacht mehr Fremdkörperreaktionen und dadurch mehr Schmerzen und Verwachsungen und sollte deshalb vermieden werden (Royal College of Obstetrics and Gynaecology – RCOG 2002).
14.3.2 Verschluss der Faszie Oberhalb der Linea arcuata ist die Faszie auf der lateralen Seite zweischichtig. Es ist bedeutend, beide Schichten in die Naht einzubinden. Wir fassen auf beiden Seiten die beiden Schichten der Faszie mit jeweils einer Péan-Klemme, und auf 3/4 des Weges zum Assistenten wird der kraniale und kaudale Teil der Faszie mit jeweils einer weiteren Péan-Klemme versehen. Die 1. Naht wird unterhalb der Faszie so durchgeführt, dass die beiden Schichten von innen nach außen und dann von außen nach innen genäht werden, sodass der Knoten unterhalb der Faszie liegt. So reduziert man Fremdkörperreaktionen und die lokale postoperative Empfindlichkeit unter der Haut. Nach dem Knoten näht man weiter, zunächst von innen nach außen und anschließend kontinuierlich in Richtung des Assistenten, der die beiden auf dem vorher genannten Ansatzpunkt befindlichen Péan-Klemmen hält. Dadurch ist gesichert, dass sich die Hände des Assistenten nicht mit den Händen des Operateurs kreuzen. Der Assistent sollte die Instrumente weder zu weit auseinander halten, damit keine Spannung auf der Faszie entsteht, noch zu nahe aneinander, um dem Operateur die Möglichkeit der Einsicht in den Bauchraum zu geben und um sicherzustellen, dass keine Schlingen oder ein Anteil des Omentum in die Naht eingefasst werden. Sobald die Naht beide Klemmen erreicht, nimmt der Assistent diese weg und hält die letzte Péan-Klemme, die die beiden Schichten auf seiner Seite zusammenhält. Es ist wichtig, auch an seinem Ende beide Schichten mit der Nadel zu fassen. Die Klemme wird entfernt, nachdem der Knoten gesetzt wurde. Ein weiterer Vorteil, von der Seite des Operateurs in Richtung des Assistenten zu nähen, besteht darin, dass der Operateur mit seiner linken Hand ständig die Spannung des Nahtmaterials bestimmen kann. Auch wird die Dynamik seines Vorgehens nicht unterbrochen.
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14.3.3 Verschluss der Haut Es gibt Studien, die die kosmetischen Ergebnisse verschiedener Nahtmethoden im traditionellen Kaiserschnitt vergleichen. Beim Verschluss eines Pfannenstiel- Schnitts hat die intrakutane Hautnaht die besten kosmetischen Ergebnisse gezeitigt (Lindholt et al. 1994). Es existieren aber keine Studien, die verschiedene Nahtmethoden bei dem modifizierten Joel-Cohen-Schnitt miteinander vergleichen. Wir glauben, dass die Drainage desto besser ist, je weniger Nähte man ansetzt, weil dadurch weniger Hämatome und Serome auftreten. Unsere eigene Version besteht darin, den Hautschnitt mit drei Nähten zu verschließen, zwei lateralen und einer medianen, die mit einer sehr großen schneidenden Nadel und tief, fast bis zur Faszie, angesetzt werden. Zwischen den Nähten werden für einige Minuten Allis-Klemmen auf den Schnittenden angebracht, um eine optimale Adaptation zu erreichen. Die lateralen Nähte werden nach 48 h entfernt. Nach der Operation entsteht eine Hautschwellung. Die unelastischen Nähte können nicht nachgeben, dadurch kommt es zu Druck und lokalem Schmerz und auch zu bleibenden Hautstreifen. All dies kann vermieden werden, wenn man die lateralen Nähte entfernt; und tatsächlich haben wir beobachtet, dass die Schmerzen an den lateralen Nahtstellen sofort nach der Nahtentfernung nachlassen. Die verbliebene Einzelnaht in der Mitte wird nach fünf Tagen entfernt. Error! Bookmark not defined.Die ersten Präsentationen und Publikationen des Misgav-Ladach-Kaiserschnitts (Stark und Finkel 1994; Stark et al. 1995) stießen auf große Resonanz, und seitdem hat diese Methode aufgrund ihrer Vorteile schnell weltweite Verbreitung gefunden. Es wurde bewiesen, dass • die Mobilisation der Patientin schneller erfolgt (sowohl nach unkomplizierten Operationen ohne als auch mit Komplikationen) (Björklund et al. 2000), • die Operationsdauer (Federici et al. 1997; Li et al. 2001) und die Krankenhausverweildauer (Federici et al. 1997) kürzer sind, • die Operation mit kurzfristiger Anästhesie durchgeführt werden kann (beispielsweise mit 2 „hyperbaric“ Mepivacain) • generell weniger Schmerzmittel gebraucht werden und • die Gesamtkosteneffizienz günstiger ist als bei anderen Methoden (Moreira et al. 2002); • weniger und schwächere Schmerzen (Belci et al. 2016) Auch wenn die Misgav-Ladach-Methode in einigen Ländern derzeit die meistverwendete Kaiserschnittmethode ist, müssen wir weiterhin jeden Arbeitsschritt kritisch prüfen und offen für neue Ideen sein, denn Beharren auf Traditionen und Stagnation ist eine große Gefahr für die Entwicklung der Chirurgie.
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14.4 Schwierige Kindesentwicklung bei der Sectio caesarea Wie oben ausführlich beschrieben, ist die Sectiorate in den meisten westlichen Ländern angestiegen. Dabei hat am meisten die Rate an sekundären Sectiones zugenommen. Auffallend ist dabei der Anstieg der Sectionen, die bei vollständig eröffnetem Muttermund durchgeführt werden. Diese Sectiones können technisch extrem schwierig sein, weil der kindliche Kopf häufig im kleinen Becken wie ein Sektkorken festklemmt und kaum Richtung Uterotomie zu luxieren ist. Die Entwicklung des Kindes ist deshalb mit nicht zu unterschätzenden Gefahren für Mutter und Kind verbunden. Es sei deshalb in diesem Kapitel auf Maßnahmen und das Vorgehen bei tief im Becken der Mutter impaktiertem kindlichen Kopf eingegangen. Aufgrund von mündlichen Mitteilungen meines burkinischen Kollegen Dr. Abdoulaye N’Diaye und auf Grundlage eines Übersichtsartikels von R. Zimmermann (2015) zu diesem Thema möchten wir dieses Problem der Kindesentwicklung bei impaktiertem kindlichen Kopf beschreiben: Nach R. Zimmermann handelt es sich ähnlich wie bei Vorliegen einer Schulterdystokie um einen Albtraum, da der fetale Kopf wie ein Sektkorken im kleinen Becken steckt und mit keiner der üblichen Maßnahmen herausgezogen werden kann. Zimmermann bezeichnet diesen Zustand als ‚Zephale Dystokie’. Komplikationen einer zephalen Dystokie: Nach Zimmermann können unkontrollierte Extraktionsversuche sowohl beim Kind als auch bei der Mutter gravierende Schäden verursachen. Bekannt sind Schädelfrakturen oder intrakranielle Hämatome beim Kind durch zu großen Druck auf den Kopf. Aber auch Plexusparesen oder Frakturen von Arm und Klavikula sind beschrieben. Bedingt durch die häufig stark verlängerte Uterotomie-Entwicklungszeit sind die Kinder deprimiert und azidotisch. Nach R. Zimmermann empfiehlt sich das folgende Prozedere: Vorbereitung Ist trotz vollständig eröffnetem Muttermund die Leitstelle für eine vaginal-operative Entbindung zu hoch und die Indikation zur Sectio gestellt, sollte der Eingriff mit erhöhter Dringlichkeit begonnen werden (maximal 20–40 min). Von großer Bedeutung ist die palpatorische oder sonographische exakte Bestimmung der Einstellung, insbesondere die Stellung des fetalen Rückens. Es empfiehlt sich, die Wehen bis zum Operationsbeginn mit einer ß-Mimetika-Tokolyse i.v. zu reduzieren. Die Lagerung auf dem Operationstisch erfolgt mit etwa 40° gegrätschten Beinen, um im Bedarfsfall einer Assistenzperson einen Zugang zur Vagina zu ermöglichen. Operationsbeginn Bei einer Sectio caesarea in der Austreibungsphase ist das untere Uterinsegment häufig stark ausgezogen. Bei einem Eingehen an gewohnter Stelle trifft man nicht selten auf die stark nach kranial verogene Vagina statt auf den Uterus. R. Zimmer-
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mann empfiehlt deshalb, bereits den Pfannenstiel-Hautschnitt etwa 2 cm weiter kranial als üblich durchzuführen. Die Uterotomie erfolgt zusätzlich etwa 4 cm höher als üblich. Durch dieses Vorgehen gewinnt man mehr Platz für die Kindesentwicklung und verhindert eine Eröffnung der Vagina. Vorgehen bei dorsoposteriorem Geradstand R. Zimmermann beschreibt in einem Übersichtsartikel 2015 die Entwicklung des Kindes aus umgekehrter Steißlage. Dieses Vorgehen geht auf den indischen Arzt zurück und wird auch von in Afrika tätigen Ärzten (mündliche Mitteilung von Abdoulaye N’Diaye; Berhan und Berhan 2014) praktiziert. Bei diesem Vorgehen werden zunächst die beiden kindlichen Arme schonend gelöst und vor die Bauchdecke der Mutter gebracht. Damit wird eine spätere, notwendige, schwierigere Armlösung vermieden. Nach der Armlösung werden die fetalen Füße aufgesucht und gelöst. Dabei kann zunächst häufig nur ein Fuß gelöst werden. Kranialer Zug der oberen Uterotomiehälfte durch den Assistenten kann bei engen Verhältnissen hilfreich sein. Bei sehr schwierigen Platzverhältnissen ist nach R. Zimmermann selten eine Erweiterung der Uterotomie – T- oder bogenförmig notwendig. Als dritter Schritt werden durch bestimmten und kontinuierlichen Zug an beiden Oberschenkeln der fetale Steiß und dann der kindliche Rumpf extrahiert. Beim letzten Schritt wird das Kind mit dem Bracht-Handgriff gefasst und der Kopf wird mit einer Drehbewegung aus dem Grad in den Querstand gedreht. Durch Druck von außen durch den Assistenten rutscht der Kopf mühelos durch die Uterotomie. Die folgende Abbildung aus dem Artikel von R. Zimmermann von 2015 zeigt dieses Vorgehen der Entwicklung des Kindes aus umgekehrter Steißlage in vier Schritten (Abb. 14.2): In vielen Kliniken wird der in das mütterliche Becken eingekeilte kindliche Kopf von vaginal aus mit der Hand bzw. mit Hilfe zweier Finger hochgeschoben. Bei dieser als Push-und-Pull-Methode beschriebenen Methode wird die Patientin primär in Steinschnittlagerung positioniert. Landesman und Graber beschrieben 1984 dieses Vorgehen. Da bei dem Hochschieben mit Fingern punktuell großer Druck auf den kindlichen Kopf mit der Gefahr für Schädelfrakturen und Hirnblutungen ausgeübt wird, hat R. Zimmermann als Alternative zu Hand/Fingern die Anwendung eines 60 mm Silc Cup Silikon Vacuum von Medela/Menox vorgeschlagen. Ursprünglich wurde dieses Gerät hergestellt, mit einem Vakuum am fetalen Kopf angebracht zu werden, doch in diesem Fall wird es als Schub-, nicht als Zuginstrument verwendet. Mit der Silikonkappe wird beim Hinaufdrücken der Druck wesentlich besser auf die Schädelkalotte verteilt. Die folgende Abbildung verdeutlicht das Vorgehen der Pull-und-Push Methode (Abb. 14.3).
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Abb. 14.2 Entwickeln des Kindes aus umgekehrter Steißlage. (Aus: Zimmermann 2015) Abb. 14.3 Pull-Push- Methode. (Aus: Zimmermann 2015)
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14.5 Strukturelle Voraussetzungen des Operationssaales für die Durchführung einer Sectio caesarea in einem Krankenhaus im ländlichen Raum Afrikas Setting, Strukturen, Standards in einem Krankenhaus im ländlichen Raum Afrikas Checkliste zum Aufbau eines Operationssaales Allgemeine Ziele für einen Operationssaal in einem sekundären Krankenhaus 1. Bereitstellung grundlegender chirurgischer Versorgung für die Gemeinden im Einzugsgebiet, einschließlich elektiver und Notfallversorgung mit den besten erreichbaren Ergebnissen. 2. Erhöhen Sie weiterhin die Erfahrung des Gesundheitspersonals 3. Erleichterung der lokalen Ausbildung aller an der chirurgischen Versorgung Beteiligten (Chirurg, Clinical Officer, Krankenschwester, Krankenschwester, Anästhesistin, Stationsschwester, Hebamme) 4. medizinische Weiterbildung, insbesondere chirurgische und perioperative Versorgung Preoperativ Patiententrage(n) Zwei gute Standard-Tragen werden benötigt, um die Asepsis zu beachten. Die eine Trage liefert den Patienten von der Station kommend am Eingang des Operationsbereiches ab und die andere Trage bringt den Patienten von dem Eingang des OP-Bereiches in den Operationssaal. Die Trage sollte mindestens folgende Eigenschaften aufweisen: • • • •
Ständer für Infusionsflaschen mit intravenösen Flüssigkeiten haben Einstellbar sein Hohe Flexibilität Kaufen Sie von einem Lieferanten, der eine niedrige Ressourcenflächengarantie gewährleistet Einige der besten Marken sind: Stryker, Hill-Rom, Avante
Perioperativ Operationstisch Dies ist das Zentrum des gesamten Operationsprozesses, da hier der Patient und der Chirurg miteinander verbunden sind und es eine gute Auswahl an Operationstischen gibt, die Folgendes bieten: • • • •
„Komfort“ für Chirurgen Patientenkomfort „Komfort“ für Anästhesisten Einstellbarkeit
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• Material leicht zu reinigen • Langlebigkeit und Wartung • Erschwinglichkeit Zu den verwendbaren Marken gehören: Skytron, Steris, Stryker Patientenmonitore An diesem Punkt müssen die Vitalfunktionen der Patienten (Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Pulsfrequenz, Atemfrequenz und Temperatur) und andere Perimeter während des gesamten operativen Eingriffs ständig überwacht werden, um eine sichere Operation zu gewährleisten. Ein weiterer Monitor wird für den postoperativen Beobachtungszeitraum benötigt, insbesondere bei schwierigen oder langen Verfahren. Zu den entsprechenden Markenspezifikationen gehören: Phillips, Aurora, Mindray. OP-Leuchten (40.000–160.000LUX) Diese liefern die für den chirurgischen Eingriff benötigte Beleuchtung. Sie können entweder fest (Decke), Prozedurlicht oder stehend tragbar oder/und Scheinwerfer sein. Diese Eigenschaften sollten bei der Auswahl der richtigen Leuchten berücksichtigt werden: • • • • •
Farbtemperatur Tiefe Schattenverdünnung Lampendauer und Verfügbarkeit von Ersatzlampen in Sierra Leone Spannungsstabilität
Einige chirurgische Scheinwerfer wären für bestimmte Verfahren und auch als Back-up im Falle eines Stromausfalls erforderlich, z. B. USB Charging nützlich, Life-Box Sauerstoffkonzentratoren Diese werden benötigt, um die entsprechende Menge an Gas bereitzustellen, da das Anästhesiegerät nicht verwendbar ist. Diamedica ist eine der Marken, die in den meisten afrikanischen Ländern aufgrund ihrer Funktionalität für kostengünstige Quellumgebungseinstellungen verwendet werden. Saugmaschinen Diese können von tragbaren bis zu nicht tragbaren Maschinen reichen und ihr Hauptzweck besteht darin, unerwünschte Flüssigkeit aus dem Betriebsbereich sowie für die Anästhesie abzulassen, für die zwei Maschinen benötigt werden. Zu den entsprechenden Markenspezifikationen gehören: De Vibiss, Allied, Medline
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Medikamentenschränke Diese werden benötigt, um Medikamente zu lagern und darauf zuzugreifen, die es dem Arzt und den Anästhesisten ermöglichen, sie zu verschreiben. Chirurgische Instrumente Je nach Leistungsorientierung bei Bellwether-Verfahren: Sectio, Laparotomie und Behandlung von offenen Frakturen Andere Die folgenden kleineren Geräte sind auch für den Operationssaal von entscheidender Bedeutung: • • • • • •
Mayo-Stände Handtische Patient Steigbügel Infusionsständer Chirurgische Instrumente und Vorratsbehälter Dach für die Hälfte der Fläche zum Trocknen, um das Trocknen von Op-Tüchern zu ermöglichen
Postoperativ Ein Autoklav, der für den Sterilisationsprozess von zentraler Bedeutung ist, wird benötigt. Antworten zu den Eingangsfragen
1. B 2. A, C, 3. B, C, D
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Auswirkungen der modernen Geburtshilfe auf die Entwicklung des Menschen am Beispiel der vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft
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Michel Odent, Michael Stark und Jürgen Wacker
Inhaltsverzeichnis 15.1 E inführung 15.2 Auswirkungen einer Verkürzung der Schwangerschaftsdauer durch Geburtseinleitung auf die menschliche Entwicklung. Über die physiologische Bedeutung der späten Schwangerschaftsphase 15.3 Überdenken der Traditionen 15.4 Verlorene Evolutionsvorteile 15.5 Ermutigende Erfahrungen und Perspektiven für die Zukunft Literatur
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Eingangsfragen
1. Welche Rolle könnte der Anstieg des Melatoninspiegels in der späten Phase vor der Geburt spielen? A. Komponente der Geburtsvorbereitung B. Synergie zwischen Melatonin und dem hemmenden Neurotransmitter GABA C. Mögliche Wechselwirkung mit Oxytocin
M. Odent London, Großbritannien M. Stark c/o Regus (NESA), Berlin, Deutschland e-mail: [email protected] J. Wacker (*) ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_15
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2. Was man von afrikanischen Müttern lernen kann: A. Intimste Art des Bonding von Mütter, die ihre von einem Tuch umschlungenen Säuglinge auf dem Rücken tragen B. Einnahme anderer, erfolgreicherer Gebärpositionen als die Rückenlage C. Lange anhaltendes Gedächtnis über den Geburtsverlauf erleben 3. Worin bestand das Desaster der Einführung von Milchpulver als Babynahrung an Stelle des natürlichen Stillens einer Schweizer Firma in den 1970er-Jahren und wie gelang es, diesen Missstand zu beenden? A. Durchfälle der Säuglinge B. Dehydrieren der Säuglinge C. Unterernährung der Säuglinge D. Afrikanische Hebammen und Ärzte wurden von Entwicklungshelfern unterstützt, sich gemeinsam und nachhaltig für eine Renaissance des natürlichen Stillens einzusetzen.
15.1 Einführung In seinem Buch „Der Kaiserschnitt“, in dem Michael Stark zusammen mit einigen Ko-Autoren, teilweise auch international bekannten Geburtshelfern, ausführlich die Themen um die Entbindung mittels des Kaiserschnitts, insbesondere die von ihm entwickelte Misgav-Ladach-Methode beschreibt, findet sich über dem Geleitwort von Joachim W. Dudenhausen der Satz des Heidelberger Philosophen Karls Jaspers: Niemand hat die Wahrheit, wir alle suchen sie!
Michel Odent beschreibt in Kap. 27 des Buches von Michael Stark ‚Der Kaiserschnitt‘ unter der Überschrift ‚Wie steht es um die Zukunft einer durch Kaiserschnitt entbundenen Zivilisation‘ mögliche Auswirkungen des Entbindungsmodus auf die emotionale und psychische Entwicklung des Menscnen (Michel Odent 2009). Der Autor dieses Kapitels, der französische Arzt und Geburtshelfer Michael Odent, wurde als Vertreter der von Frédérick Leboyer entwickelten „Sanften Geburt“ international bekannt. 1987 gründete er das Primal Health Research Centre in London, das den Einfluss vorgeburtlicher Erfahrungen auf die Gesundheit erforscht. In einem Abschnitt seines Kapitels mit der Überschrift „Vom nicht-menschlichen zum menschlichen Säugetier“ beschreibt Odent die Beobachtungen von Eugene Marais an Kaffir-Antilopen in Südafrika und die Studien von Krehbiel und Poindron an Mutterschafen, in denen jeweils die Mutterschafe unter der Geburt Chloroform oder eine Periduralanästhesie erhielten, und danach sich nicht um ihre eigenen Lämmer kümmerten (Marais 1937; Krehbiel et al. 1987). Für Odent sind und waren Ethologen wie Konrad Lorenz und Harlow wahre Pioniere, die zur stillschweigenden Übereinkunft gekommen waren, dass die Mutter-Kind-Beziehung den Prototyp der Liebe darstellt. Unter dem Abschnitt „Die Verantwortung der Pioniere“ schreibt Odent 2009: „Seit dem berühmten Einstein-Brief an Präsident Roosevelt im Oktober 1939 wurden Warnungen über vom Menschen ausgelöste Existenzrisiken von
15 Auswirkungen der modernen Geburtshilfe auf die Entwicklung des Menschen…
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denen ausgesprochen, die, als Vorreiter wissenschaftlicher oder technischer Fortschritte an der Wurzel der Gefahr standen.“ Weiter schreibt Michel Odent 2009 in konkretem Bezug auf das Buch von Michael Stark: „Heute ist es unsere Pflicht, als Vertreter der Gemeinschaft der Geburtsmediziner, sich in diesem von Michael Stark initiierten und herausgegebenen Buch auf die Bedrohungen zu konzentrieren, die von wissenschaftlich und medizinisch bewanderten Philosophen noch nicht wahrgenommen worden sind. Die Tatsache, dass Michael Stark den Autor Michel Odent gebeten hat, ausgerechnet ein Kapitel über die Zukunft einer Zivilisation zu schreiben, die mit Kaiserschnitt auf die Welt gekommen ist – ein Thema, das den Herausgeber sehr beschäftigt –, stellt an sich schon eine Warnung dar“. In der Frühphase unseres Buchprojektes „Globale Frauengesundheit“ und nach einem längeren Gespräch mit Michael Stark im Dezember 2021 stellten sich für mich, als Arzt, Autor und ehemaligem Entwicklungshelfer, ähnliche Fragen: • Was geschieht, wenn wir unsere westliche Medizin, die sich wortwörtlich in den Leitlinien unserer medizinischen Fachgesellschaften wiederspiegelt, einfach in andere Länder und Kontinente exportieren? • Was wissen wir über Erfahrungen anderer Kulturen über deren Umgang mit Geburt, Gesundheit, Krankheit und Tod? • Welche Möglichkeiten eines wissenschaftlichen und menschlichen Austausches auf Augenhöhe zwischen armen und reichen Ländern gibt es? • Wie kann es uns gelingen, unser medizinisches Wissen mit dem Wesen und Wirken der Natur in Einklang zu bringen? Michel Odent hat sich in seinem Leben intensiv mit der Medizin der Menschen anderer Kulturen und insbesondere mit deren Umgang mit der Geburt auseinandergesetzt. Als ich daraufhin Michel Odent im Dezember 2021 fragte, ob er zum Gelingen unseres Buchprojektes beitragen wolle, stimmte er sofort zu und schickte mir den folgenden Beitrag:
15.2 Auswirkungen einer Verkürzung der Schwangerschaftsdauer durch Geburtseinleitung auf die menschliche Entwicklung. Über die physiologische Bedeutung der späten Schwangerschaftsphase Im Rahmen der modernen Geburtshilfe wird es immer üblicher, die Dauer der Schwangerschaft durch Eingriffe wie Geburtseinleitung oder Kaiserschnitt vor der Geburt zu verkürzen. Laut den englischen Statistiken für den Zeitraum 2020–2021 lag die Rate der Geburtseinleitungen beispielsweise bei 34,4 % und die Rate der Kaiserschnitte vor dem Auftreten von Wehen und dem Beginn der Geburt bei 18,3 % (NHS Digital Maternity Statistics 2022). Aus diesem Grund fassen wir die Schlussfolgerungen aktueller Studien zusammen, die darauf hindeuten, dass die Bedeutung der kurzen Phase der „physiologischen Geburtsvorbereitung“ unterschätzt wird (Odent 2019).
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Ein spanisch-niederländisches Team hat nachgewiesen, dass es während der späten Schwangerschaft zu einer allmählichen Verringerung des Volumens der grauen Substanz kommt (Hoekzema et al. 2016). Die beobachteten Verkleinerungen sind nicht zufällig über das ganze Gehirn verteilt, sondern befinden sich in Bereichen der Hirnrinde, die eine Schlüsselrolle bei der Geselligkeit spielen. Es scheint, als würde das Bedürfnis nach Privatsphäre bereits in der Spätschwangerschaft zunehmen, bevor die Wehen einsetzen. Der Anstieg des Melatoninspiegels in der Phase vor der Geburt könnte auch als eine Komponente der Geburtsvorbereitung angesehen werden. Wir müssen uns die Synergie zwischen Melatonin, dem hemmenden Neurotransmitter GABA (Kivela 1991; Nakamura et al. 2001) und Oxytocin (Sharkey et al. 2009) vor Augen halten. Die Spitzenproduktion von ALLO (Allopregnanolon) durch die Plazenta in den Tagen vor der Geburt wird ebenfalls zu einem wichtigen Kapitel der physiologischen Geburtsvorbereitung. ALLO ist ein positiver Modulator von GABA (Children’s National Health System 2018). Solche Erkenntnisse und Ergebnisse der Forschung sind von größter Bedeutung in einer Zeit, in der das Konzept der neokortikalen Hemmung zu einem Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Natur im Allgemeinen und insbesondere der physiologischen Prozesse wie des Geruchssinns (Endevelt-Shapira et al. 2014) und der Geburt (Odent 1987) wird. Nach Tausenden von Jahren kultureller Konditionierung im Zusammenhang mit sozialisierten Geburten stehen uns die übereinstimmenden Schlussfolgerungen von Dokumenten über ethnische Gruppen zur Verfügung, die ihre paläolithische Lebensweise bis ins zwanzigste Jahrhundert beibehalten haben: Frauen haben sich zur Geburt isoliert (Everett 2008; Eaton et al. 1988; Shostak 1990; Schiefenhovel 1978). Interessanterweise wird in diesen Dokumenten der Tod im Säuglings- und Kleinkindalter als wichtiges Thema dargestellt, während Todesfälle bei Müttern und perinatale Todesfälle kaum erwähnt werden (ein Fall im Bericht von Daniel Everett, der mehr als zwanzig Jahre lang wie ein Pirahã/Pirrara im Amazonasdschungel lebte). Es gibt mehrere Erklärungen für die vergleichsweise sichere Geburt in der Altsteinzeit. Zunächst gab es die Auswirkungen einer hunderttausendjährigen natürlichen Selektion, so dass die Fähigkeit einer Frau, ihre Gene weiterzugeben, mit ihrer Gebärfähigkeit zusammenhing. Wir müssen auch bedenken, dass die erste Schwangerschaft in der Regel kurz nach der Pubertät eintrat. Darüber hinaus schützten sich die Frauen in der perinatalen Periode vor negativen kulturellen Eingriffen, indem sie ihr Bedürfnis nach Privatsphäre befriedigten. Die erste Voraussetzung, um Jahrtausende alte Traditionen und kulturelle Prägungen in Frage zu stellen, besteht darin, von der nützlichen Frage auszugehen, die nicht lautet: „Warum sind menschliche Geburten schwierig?“ Sie lautet: „Warum sind menschliche Geburten gelegentlich leicht und schnell, ungeachtet der individuellen morphologischen Besonderheiten?“ Wenn der Ausgangspunkt die nützliche Frage ist, liegt der Schwerpunkt nicht auf mechanischen Überlegungen, die bisher wahrscheinlich überschätzt wurden, sondern auf der reduzierten neokortikalen Kontrolle, als die Lösung, die die Evolution gefunden hat, um menschliche Geburten möglich und potenziell leicht zu machen. Selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert gibt es noch Menschen, die sich dieser Lösung bewusst sind. Sie wissen, dass
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sich Frauen nach einer einfachen und schnellen Geburt in der Regel nicht an Details erinnern können, abgesehen von den Auswirkungen einiger Sinneswahrnehmungen – insbesondere des Geruchs. Ihr Verhalten wäre in anderen Situationen für eine zivilisierte Frau inakzeptabel gewesen (z. B. Schreien oder Fluchen). Sie befanden sich in unerwarteten, bizarren und primitiven Körperhaltungen. Die neokortikale Kontrolle war offensichtlich reduziert. An dem Tag, an dem das Konzept der neokortikalen Hemmung als Schlüssel zum Verständnis der Geburt beim Menschen gilt, werden wir auf dem Weg sein, zu akzeptieren, dass eine gebärende Frau sich zunächst vor Reizen wie Sprache, Licht und allen Situationen, die die Aufmerksamkeit erhöhen, geschützt fühlen muss. Wir werden in der Lage sein, uns zu fragen, wie und bis zu welchem Punkt es noch möglich ist, menschliche Geburten zu entsozialisieren. Man wird sich für die Phase der physiologischen Geburtsvorbereitung interessieren. Die Untersuchung der menschlichen Geburt im Rahmen der Hirnphysiologie wird Gründe dafür liefern, veröffentlichte Informationen vor dem Vergessen zu bewahren, die trotz ihres großen wissenschaftlichen Wertes und ihrer wahrscheinlichen praktischen Auswirkungen nahezu unentdeckt geblieben sind. Ein Beispiel: Einer schwedischen Studie zufolge ist das Risiko, im Alter an Prostatakrebs zu erkranken, umso geringer, je länger ein Junge im Mutterleib verbracht hat (Ekbom et al. 2000). Die Autoren untersuchten eine große Kohorte von Männern, die zwischen 1889 und 1941 in Stockholm geboren wurden. In der Kohorte wurden zwischen 1958 und 1994 insgesamt 834 Fälle von Prostatakrebs festgestellt. In die Studie wurden 1880 Kontrollpersonen einbezogen. Die Gründe, warum diese Studie unbeachtet geblieben ist, liegen in der gegenwärtigen Phase der Geschichte der Informationstechnologie auf der Hand. Erstens wurde sie in einer seriösen, aber hochspezialisierten wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht, die von den meisten Praktikern im Gesundheitswesen nicht gelesen wird. Und selbst wenn der veröffentlichte Artikel die Praktiker erreicht hätte, ist es sehr wahrscheinlich, dass die meisten Leser nicht über den Titel hinausgegangen wären: Experten für Prostatakrebs interessieren sich nicht für die Länge des fötalen Lebens, während Geburtshelfer und Hebammen nicht darauf konditioniert sind, langfristig zu denken, und sich nicht für das Risiko interessieren, dass ein neugeborener Junge eines Tages an Prostatakrebs erkranken könnte. Die Untersuchung der Phase der „physiologischen Geburtsvorbereitung“ sollte ein Weg sein, um Zukunftsthemen zu identifizieren. So haben wir kürzlich erfahren, dass die Partikel der Vernix caseosa, die sich von der Haut des Fötus lösen und im Fruchtwasser schweben, vom Fötus verschluckt werden und an der Entwicklung der Darmflora beteiligt sind (Rinat 2017). Der neue Fokus liegt auf ihrem außergewöhnlichen Reichtum an gesättigten verzweigtkettigen Fettsäuren. Wir erinnern daran, dass Moleküle verzweigtkettiger Fettsäuren durch das Vorhandensein von einem oder zwei Methylresten (CH3) an der Kohlenstoffkette gekennzeichnet sind. Es besteht ein erneutes Interesse an der Vernix caseosa, seit wir erfahren haben, dass der Mensch nicht das einzige Säugetier ist, dessen Haut mit Vernix bedeckt ist: Meeressäuger wie Seelöwen und Robben entwickeln eine menschenähnliche Vernix (Wang 2018). Es gibt Anhaltspunkte für vergleichende Studien der menschlichen Darmflora und der Darmflora einiger Meeressäugerarten. Die Bedeutung der ver-
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zweigtkettigen Fettsäuren wurde bisher unterschätzt. Es sei nur eine Arbeit erwähnt, in der ihre antitumorale Aktivität in menschlichen Brustkrebszellen beschrieben wird, wobei der Schwerpunkt auf ihrer Wirkung auf die Fettsäurebiosynthese liegt (Sawitree Wongtangtintharn 2004). Im Zeitalter der Überspezialisierung ist es dringend erforderlich, neue Wege zur Klassifizierung wissenschaftlicher Daten zu entwickeln, um das Auffinden gesicherter Erkenntnisse mit praktischen Auswirkungen zu erleichtern. In der Zwischenzeit wäre es ein gefährliches Ziel, die Zahl der geburtshilflichen Eingriffe zu verringern (Odent 2004). Vorrangig sind die physiologischen Vorgänge zu untersuchen, einschließlich der Phase vor dem Einsetzen der Wehen.
15.3 Überdenken der Traditionen In einer Zeit, in der die Perinatalperiode als kritisch für die Entwicklung der Fähigkeit zu lieben angesehen wird, bedeutet ein Überblick über jene dokumentierte Rituale und Überzeugungen, deren Auswirkungen die physiologischen Prozesse stören, einen ersten Schritt, um den aktuellen Wendepunkt in der Geschichte unserer Spezies zu verstehen. Es legt das Ausmaß dessen offen, was für Jahrtausende ein kulturübergreifendes Phänomen darstellte. Heute beobachtet man die weibliche Genitalverstümmelung hauptsächlich in Afrika und unter einzelnen Immigrationenpopulationen in Europa (Momoh et al. 2001; Wacker und Zerm 2020). Laut einer WHO-Studie führen Genitalverstümmelungen schätzungsweise zu ein bis zwei perinatalen Todesfällen auf 100 Geburten, das Risiko steigt im Fall ausgedehnter Techniken (Banks et al. 2006). In Nigeria folgt der Genitalverstümmelung oft der „Gishiri-Schnitt“ unter der Geburt. Diese Operation wird von einer traditionellen Geburtsbegleiterin bei Frauen mit prolongierten Geburtsverläufen durchgeführt. Die Geburtsbegleiterin benutzt ein Messer, um einen Weichteilschnitt vorzunehmen, mit dem Ziel, den Geburtskanal zu vergrößern. Der Gishiri-Schnitt ist eine großes Risiko für das Auftreten genitaler Fisteln (Ampofo et al. 1990). Nach Michel Odent kommt es im Zuge der Geburtsleitung durch eine Hebamme zu einer Vermischung des kulturellen Milieus mit dem physiologischen Prozess. Eines der Grundbedürfnisse eines menschlichen Säugers unter der Geburt ist Privatsphäre, die geschützt werden muss. Das Schutzbedürfnis wurde ursprünglich durch die Nähe der Mutter der Gebärenden oder einer anderen familiären Mutterfigur der Gemeinde befriedigt. Dies war der Ursprung der Hebamme. In einer bestimmten Phase der Geschichte scheint in den meisten Gesellschaften die Hebamme tendenziell ihre Rolle gestärkt zu haben, mehr Einfluss zu nehmen und ein aktiver „Coach“ zu werden. Betsy Lozoff zeigte in ihrer Studie über 186 nicht-industrialisierten Gesellschaften, dass weniger als 2 % der Frauen in solchen Gesellschaften routinemäßig allein gebären und in nur weiteren 2 % dies den Frauen überhaupt gestattet ist (Lozoff 1983). In 62 % der 71 Gesellschaften versuchen Geburtsbegleiter aktiv, die Geburt zu beeinflussen: durch manuelle Manipulation, Massieren oder Dehnen der Zervix,
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sogar durch Sich-auf-den-Bauch-Werfen oder, überliefert von Brigitte Jordan bei der Dokumentation der Praktiken des Maya-Volkes in Yucatan, einfach durch Erklären des Geburtsprozesses (Jordan 1983). In einigen Kulturen leiteten die Geburtsbegleiter die wehenden Frauen an, indem sie ihnen mitteilten, wie sie atmen sollten. Sheila Kitzinger berichtete z. B., dass in Jamaika Frauen angewiesen werden, in der späten Eröffnungsphase oberflächlich zu atmen, da man glaubt, der Fetus könne in den mütterlichen Brustraum rutschen (Kitzinger und MacCormak 1982).
15.4 Verlorene Evolutionsvorteile Unter den Ärzten und Hebammen, die in den 1980er-Jahren ihren „Entwicklungsdienst“ in den unterschiedlichen Ländern Afrikas ableisteten, waren viele von den Berichten der Ethologen begeistert und von den Ideen von Sheila Kitzinger und Brigitte Jordan beseelt. Sie sehnten sich nach Exotik und fanden Extreme. Sie waren konfrontiert mit den Folgen der Armut, welche Krankheiten mit extremen Ausprägungen und geburtshilfliche Notfälle ungeahnten Ausmaßes hervorbrachten. Aus Romantikern wurden Realisten, getragen von der Demut, zu dienen, und getröstet von der Hoffnung, helfen zu können. Michel Odent schreibt dazu 2009 unter der Überschrift „Verlorene Evolutionsvorteile“: ‚Die weite Verbreitung der beschriebenen traditionellen Überzeugungen und Rituale lässt vermuten, dass diese bis jetzt, trotz ihrer Nachteile, einen evolutionären Vorteil hatten. In der Tat sind die Nachteile des Festhaltens an althergebrachten Ritualen enorm: Es gibt immer noch Hunderttausende mütterliche Todesfälle pro Jahr infolge von Blutungen, und eine postpartale Blutung ist fast immer Folge inadäquaten Eingreifens. Während einige von denen, die Wissenschaft mit Technologie verwechseln, verkünden, dass „das Ende der Wissenschaft“ schon erreicht sei (Horgan 2003), wird in der Tat unsere Hoffnung mehr denn je durch die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit getragen.
15.5 Ermutigende Erfahrungen und Perspektiven für die Zukunft Es gibt auch ermutigende Beispiele für ein gegenseitiges „voneinander Lernen“ in der Entwicklungszusammenarbeit. Nach dem Desaster der Einführung von Milchpulver als Babynahrung an Stelle des natürlichen Stillens einer Schweizer Firma in den 1970er-Jahren gelang es afrikanischen Hebammen und Ärzten, unterstützt von deutschen Entwicklungshelfern, gemeinsam nachhaltig die Renaissance des Stillens zu fördern und durchzusetzen! Wir haben von den afrikanischen Müttern die intimste Art des Bonding kennengelernt, als wir die Mütter, ihre von einem Tuch umschlungenen Säuglinge auf dem Rücken tragend, sahen.
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Wir haben von den afrikanischen Müttern gelernt, dass es andere, erfolgreichere Gebärpositionen als die Rückenlage gibt! Wir wurden von den afrikanischen Müttern überrascht, wie intensiv diese ihren Geburtsverlauf erleben, und diesen auch nach Jahren erinnern (Wacker et al. 1989; Wacker 2010)! Wir haben erfahren, dass wir menschliche Schicksale besser begreifen können, wenn wir die Natur und deren Gesetze respektieren. Heute brauchen wir eine echte Wissenschaft, nicht um die Natur herauszufordern, sondern um tief verwurzelte Überzeugungen in Frage zu stellen, um die Wahrheit in der Natur zu verstehen. Dies ist nach Odent ein notwendiger Schritt, um – mit Hilfe einer physiologischen Perspektive – die Grundbedürfnisse der Gebärenden und ihres Neugeborenen wiederzuentdecken.
Antworten zu den Eingangsfragen
1. Richtig: A, B, C 2. Richtig: A, B, C 3. Richtig: A, B, C, D
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Marais EN (1937) The soul of the white ant. Metuen, London Momoh C, Ladhani S, Lochrie DP, Rymer J (2001) Female genital mutilation: analysis of the first twelve months of a southern London specialist clinic. BJOG 108:186–191 Nakamura Y et al (2001) Changes of serum melatonin level and its relationship to feto-placental unit during pregnancy. J Pineal Res 30(1):29–33 NHS-Statistiken (2022). https://digital.nhs.uk/data-and-information/publications/statistical/nhs- maternity-statistics/2020-21# Odent M (1987) The fetus ejection reflex. Birth 14:104–105 Odent M (2004) Making sense of rising caesarean section rates: Die Senkung der Kaiserschnittraten sollte nicht das Hauptziel sein. BMJ 329. https://doi.org/10.1136/bmj.329.7476.1240-b. (Published 18 November 2004) Cite this as: BMJ 2004;329:1240.3 Odent M (2009) Wie steht es um die Zukunft einer durch Kaiserschnitt entbundenen Zivilisation. In: Stark M (Hrsg) der Kaiserschnitt. Urban & Fischer/Elsevier, S 396–411 Odent M (2004) Im Einklang mit der Natur – Neue Ansätze der sanften. Geburt Mabuse/Walter, Düsseldorf Odent M (2019) Die menschliche Geburtsvorbereitung. In: The future of Homo. World Scientific, Hackensack Schiefenhovel W (1978) Childbirth among the Eipos, New Guinea. Film presented at the Congress of Ethnomedicine. Gottingen Sharkey JT, Puttaramu R, Word RA, Olcese J (2009) Melatonin synergizes with oxytocin to enhance contractility of human myometrial smooth muscle cells. J Clin Endocrinol Metab 94(2):421–427. https://doi.org/10.1210/jc.2008-1723. Epub 2008 Nov 11 Shostak M (1990) Nisa. Earthscan, London Wacker J, Zerm C (2020) Über die Bedeutung von FGM bei schwangeren Migrantinnen. Geburth Frauenheilk 80:31–34 Wacker J, Ouedraogo G, Maier K et al (1989) Introduction of a labour chart in a regional hospital in Burkina Faso; effects on caesarean section rate and maternal mortality. Trop Med Parasitol 40:505 Wacker J (2010) Kaiserschnitt vs. Natürliche Geburt. Geburtshilfe Frauenheilkd 70:840−843 Wongtangtintharn S, Oku H, Iwasaki H, Toda T (2004) Effect of branched-chain fatty acids on fatty acid biosymyhesis of human brain cancer cells. J Nutr Science Vitaminol Tokyo 50(2):137–143
Maligne Erkrankungen der Frau weltweit
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Antje Henke, Jürgen Wacker, Abdoulaye N’Diaye und Eva J. Kantelhardt
Inhaltsverzeichnis 16.1 E inleitung 16.2 Epidemiologie maligner Erkrankungen von Frauen 16.2.1 Epidemiologie des Zervixkarzinoms 16.2.2 Epidemiologie des Mammakarzinoms 16.2.3 Epidemiologie weiterer gynäkologischer Krebserkrankungen bei Frauen 16.3 Risikofaktoren für maligne Erkrankungen von Frauen 16.4 Motivationsgründe der Frauen für die Krebsprävention 16.5 Präventionsstrategien und Vorsorge beim Zervixkarzinom 16.6 Krebsbehandlung bei Frauen in Ländern mit niedrigem bis mittlere Einkommen Literatur
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Drei Fragen, über die es sich lohnt nachzudenken, sollen an dieser Stelle gestellt werden. Die Antworten werden Sie am Ende dieses Kapitels finden. A. Henke (*) Global & Planetary Health AG, Institut für Med. Epidemiologie, Biometrie u. Informatik, Proflizentrum Gesundheitswissenschaften, Medizinische Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland e-mail: [email protected] J. Wacker ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] A. N’Diaye Frauenklinik, Hopital Saint Camille, Ouagadougou, Burkina Faso E. J. Kantelhardt Global & Planetary Health AG; Klinik und Poliklinik für Gynäkologie, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitätsklinikum Halle (Saale), Halle (Saale), Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_16
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Eingangsfragen
1. Weltweit sind die folgenden Erkrankungen am häufigsten: A. Infektionskrankheiten B. HIV, Malaria und Tuberkulose C. Krebserkrankungen D. Entzündliche Darmerkrankungen 2. Auf welchem Kontinent findet sich die höchste krankheitsspezifische Mortalität für maligne Erkrankungen in % der Bevölkerung A. Asien B. Afrika C. Amerika D. Europa E. Australien 3. Was ist der wichtigste Grund für die Zunahme an Krebserkrankungen weltweit? A. Moderner Lebensstil B. Bessere Diagnostik C. Altern der Bevölkerung D. Zunahme von Rauchen
16.1 Einleitung Gemäß der Internationalen Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation (IARC/WHO) gehören Krebserkrankungen zu den häufigsten Todesursachen der Welt und forderten allein im Jahr 2020 mehr als 10 Mio. Todesopfer (International Agency for Research on Cancer 2021). Mit einer prognostizierten Wachstumsrate von 64 % zwischen 2020 und 2040 werden Krebserkrankungen die globale öffentliche Gesundheit – besonders auch Frauen in Ländern mit begrenzten Ressourcen – in den folgenden Jahren zunehmend belasten. Es sterben mittlerweile mehr Menschen an malignen Tumoren als an Infektionskrankheiten (wie HIV, Malaria und Tuberkulose) weltweit. Die größte Herausforderung ist die Einführung und Qualitätssicherung einer umfassenden und interdisziplinären onkologischen Versorgung die alle Ebenen der Gesundheitssysteme umfasst. Das kann nur durch internationale Zusammenarbeit, Ausbildung und Wissenstransfer passieren. Die IARC erfasst die Krebsregisterdaten international und versucht auf dieser Grundlage Prognosen zur Epidemiologie zu treffen. So ermittelte die IARC für 2020 eine Anzahl von 19,1 Mio. Neuerkrankungen weltweit; 10 Mio. entfielen dabei auf Männer und 9,22 Mio. auf Frauen (International Agency for Research on Cancer 2021). Die IARC ist bestrebt, weltweit Krebsdaten so genau wie möglich zu erfassen. Das kann langfristig nur mit Unterstützung der Länder und deren Regierungen gelingen, die populationsbezogene Krebsregister in den jeweiligen Ländern einführen,
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fördern und schließlich Daten zur Verfügung stellen. Die Datenerhebungen der bevölkerungsbezogenen Krebsregister, die an die IARC melden, werden nach standardisierten Qualitätskriterien in Bezug auf Vollständigkeit und Vollzähligkeit geprüft. Gerade in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen (LMICs) fehlen hochqualitative Daten, da dazu Krebsregister mit gut ausgebildeten Dokumentaren benötigt werden, die auf der Grundlage von onkologischen Zentren mit ausreichendem Personal, diagnostischen Möglichkeiten und einer funktionierenden Dokumentation arbeiten. In vielen Ländern Sub-Sahara Afrikas werden Krebsregister erst nach und nach eingeführt; von den 49 Ländern verfügen 25 über valide Registerdaten aus insgesamt 35 Krebsregistern. Diese sind im Netzwerk Afrikanischer Krebsregister (AFCRN, www.afcrn.org) verbunden und melden ihre Daten an die IARC (Ferlay et al. 2018). Zu den Krebserkrankungen mit den meisten Todesfällen weltweit gehören Lungen-, Darm-, Magen-, Leber- und Brustkrebs. Jeder fünfte Mann und jede sechste Frau wird im Laufe seines/ihres Lebens Krebs entwickeln und bei jedem achten Mann bzw. jeder elften Frau sind maligne Tumore die Todesursache (Bray et al. 2018). Experten gehen aufgrund einer wachsenden und älter werdenden Bevölkerung, Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht, Bewegungsmangel und schlechter Ernährung von einer massiven Zunahme von malignen Erkrankungen aus: Bis 2040 wird mit einer Verdopplung der Inzidenz im Vergleich zu heute gerechnet. In vielen Ländern besteht trotz Möglichkeit der Prävention auch weiterhin eine hohe Last an onkogenen Infektionen z. B. durch das Human Papillomavirus (HPV), Hepatitis Bund C-Viren, Malaria und HIV-Infektionen (Bray et al. 2018; Morhason-Bello et al. 2013). Bei Frauen treten häufig maligne Tumore in der Brust (Mammakarzinome) und am Gebärmutterhals (Zervixkarzinome) auf. Mammakarzinome sind bei Frauen die häufigste diagnostizierte bösartige Erkrankung (24,2 %) und die häufigste krebsbedingte Todesursache. „Jedes Jahr wird bei mehr als 2 Millionen Frauen weltweit Brust- oder Gebärmutterhalskrebs diagnostiziert, doch der Wohnort, der sozioökonomische Status und die Lebensumstände einer Frau bestimmen weitgehend, ob sie an einer dieser Krebsarten erkrankt und letztlich überlebt. Für diese beiden häufigen Krebsarten gibt es bewährte und kosteneffiziente Behandlungsmöglichkeiten, doch für so viele Frauen ist der Zugang dazu unerreichbar. Diese Ungleichheiten verdeutlichen den dringenden Bedarf an nachhaltigen Investitionen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.“ (Ginsburg et al. 2017).
In Sub-Sahara Afrika (SSA) liegt die Fünf-Jahres-Überlebensrate bei Brustkrebs bei weniger als 40 % im Vergleich zu über 94 % in Europa. Das Zervixkarzinom liegt sowohl bei der Inzidenz (anteilig 6,6 % von allen Krebserkrankungen) als auch bei der Mortalität (anteilig 7,5 %) an vierter Stelle bei Krebserkrankungen der Frauen weltweit (Bray et al. 2018). Während die Inzidenz von Zervixkarzinomen in Ländern mit hohem Einkommen (HIC) deutlich zurückgeht, ist es in LMICs mit einem Viertel aller Krebsdiagnosen weiterhin die Hauptursache der Krebstodesfälle. Frauenspezifische Krebsarten werden in der nationalen Gesundheitspolitik in diesen Ländern oft übersehen (Stefan 2015).
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Aufgrund der enormen ungleichen Belastung bei frauenspezifischen Krebserkrankungen weltweit hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Mamma- und Zervixkarzinome neben den Krebserkrankungen bei Kindern zu einem globalen Gesundheitsproblem erklärt. Die Umsetzung der WHO-Krebsstrategien soll helfen, diese Erkrankungen umfassend zu bekämpfen. Die drei Säulen der von der WHO 2020 ins Leben gerufenen „Global Breast Cancer Initiative“ sind (Anderson et al. 2021): 1. Aufklärung und intensivierte Früherkennung 2. Zeitnahe Diagnostik 3. Umfassendes Krankheitsmanagement und einfacher Zugang zu Therapie Das WHO-Programm zur Elimination des Zervixkarzinoms hat folgende Ziele: 90 % der Mädchen bis zum Alter von 15 Jahren zu impfen; 70 % der Frauen zwischen 35 und 45 Jahren mindestens einmal mit einer adäquaten Methode zu screenen und 90 % der Frauen mit einer invasiven oder prä-invasiven Läsion adäquat zu therapieren. Um das umzusetzen, werden Aufklärungsstrategien, HPV- Impfkampagnen und Screening-Programme, Stärkung der Pathologie zur zeitnahen Diagnosesicherung und Überweisung zur multidisziplinären Behandlung vorgeschlagen. Zusätzlich ist für die Bekämpfung von Krebserkrankungen generell eine multidisziplinäre Annäherung erforderlich, die Prävention, Zugang zu Behandlungsoptionen sowie Palliativversorgung umfassen muss. Internationale Zusammenarbeit ist nötig, um die inhaltlichen, praktischen und finanziellen Herausforderungen anzugehen.
16.2 Epidemiologie maligner Erkrankungen von Frauen 16.2.1 Epidemiologie des Zervixkarzinoms Im Gegensatz zu anderen frauenspezifischen Krebserkrankungen wie Endometrium- und Ovarialkarzinom erkranken an einem Zervixkarzinom häufig auch jüngere Frauen (HPV-Impfleitlinie 2022). Weltweit werden jährlich 570.000 Zervixkarzinome neu diagnostiziert und etwa 311.000 Frauen versterben am Zervixkarzinom (Arbyn et al. 2020). Im globalen Vergleich sind die höchsten Inzidenzraten in SSA sowie in Süd- und Zentralasien und Südamerika zu finden (Bray et al. 2018). In Westasien, Nordamerika und Australien/Neuseeland sind die Inzidenzraten am niedrigsten (Bray et al. 2018). Die Raten der jährlichen Neuerkrankungen sind geographisch unterschiedlich: Sie reichen von 75/100.000 Frauen in Eswatini, gefolgt von 73/100.000 in Malawi (World Cancer Research Fund) bis zu niedrigeren Raten wie 4/100.000 in Deutschland oder 5/100.000 in Israel (Robert Koch Institut 2017; Fisher et al. 2016). Insgesamt treten 84 % der neuen Fälle und 87 bis 90 % der Todesfälle in LMICs auf. In Europa stand 2018 das Zervixkarzinom mit 3,8 % nur noch an siebter Stelle der neu diagnostizierten malignen Erkrankungen (Say et al. 2014). Frauen in SSA verlieren
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mehr Lebensjahre durch das Zervixkarzinom als durch jede andere Krebsart. Vielfach trifft es sie in einer Lebensphase, in der sie für die soziale und wirtschaftliche Stabilität ihrer Familien entscheidend sind (Denny und Anorlu 2012). Ursächlich für den Rückgang der Inzidenzrate in HICs ist die Erfolgsgeschichte der Früherkennungsprogramme: In vielen HICs wurden bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren flächendeckend Papanicolaou-Abstriche (Pap-Abstriche) eingeführt, die prä-invasive Läsionen detektieren. Nachdem in den 1990er-Jahren die wichtige Rolle der humanen Papillomaviren bei der Entstehung des Zervixkarzinoms erkannt wurde, wurde 2006 mit Gardasil der erste Impfstoff gegen HPV in der Europäischen Union zugelassen (Smith et al. 2015). Heutzutage ermöglichen HPV-DNA-Tests effizientere Präventionsprogramme. In SSA ist der Zugang zu diesen Präventionsmaßnahmen oft erschwert. Etwa 60 bis 75 % der betroffenen Frauen leben in ländlichen Gebieten; gerade für diese stellen lange Anfahrtswege, unzureichende Versorgungsstrukturen und Unwissen über Zervixkarzinome schwer zu überwindende Hindernisse dar (Denny und Anorlu 2012; Henke et al. 2021). Darüber hinaus bestehen kulturelle und sozio- ökonomische Barrieren, die eine umfassende Krebsprävention behindern (Denny und Anorlu 2012; Busolo und Woodgate 2015). In Asien, dem größten und bevölkerungsreichsten Kontinent mit seinen 48 Ländern, von denen die meisten als LMICs eingestuft werden, ist das Zervixkarzinom die dritthäufigste Krebsart. Mittel- und Südamerika (CSA), mit über 600 Mio. Einwohnern, tragen ebenfalls eine große Krebslast. Nach Daten von GLOBOCAN 2020 gab es dort über 59.000 neue Fälle von invasivem Zervixkarzinom und über 31.500 Todesfälle jährlich, womit die Krankheit in vielen Ländern der Region die erst- oder zweithäufigste Krebserkrankung bei Frauen ist (The Global Cancer Observatory 2021). Jüngste Prognosen deuten darauf hin, dass sich die Zahl der Fälle in den nächsten 15 Jahren fast verdoppeln wird, wenn keine weiteren Maßnahmen ergriffen werden. Diese Zahlen sind hoch im Vergleich zu Europa, wo die Versorgung in den letzten Jahrzehnten Fortschritte gemacht hat und zu einem erheblichen Rückgang der Inzidenz und zu deutlich besserem Überleben insbesondere bei frühen Stadien geführt hat.
16.2.2 Epidemiologie des Mammakarzinoms Die global häufigste Krebsneuerkrankung ist das Mammakarzinom mit 2,1 Mio. Fällen jährlich. Während die Versorgung von Brustkrebspatientinnen in HICs massive Fortschritte gemacht hat und in Europa eine Fünf-Jahres-Überlebensrate von 94 % erreicht wurde, bestehen global gesehen drastische Unterschiede. In fast allen LMICs ist das Mammakarzinom die häufigste Krebsneuerkrankung – wenn auch mit insgesamt geringerer bevölkerungsbezogener altersbereinigter Häufigkeit als in HICs. Trotzdem ist die bevölkerungsbezogene altersbereinigte Überlebenswahrscheinlichkeit z. B. in SSA nach fünf Jahren nur circa halb so groß wie in Europa oder Nordamerika (22,2 gegenüber 13 pro 100.000 Frauen in Afrika gegenüber Europa) (Adeloye et al. 2018; Joko-Fru et al. 2020a). Durch ungleichen
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Zugang zu Früherkennungsmaßnahmen weisen Frauen bei Erstdiagnose häufig ein höheres Krebsstadium auf und haben damit deutlich schlechtere Überlebenswahrscheinlichkeiten (Black und Richmond 2019; Kantelhardt et al. 2014). Die Verbesserung der Überlebensrate in Ländern mit hohem Einkommen wird auf die Früherkennung durch Screening und eine wirkungsvolle Behandlung zurückgeführt. Ein Bericht der IARC hat gezeigt, dass ein Mammographie-Screening bei Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren die Brustkrebssterblichkeit um 25 % verringert (Black und Richmond 2019). Leider sind bevölkerungsbezogene Mammographie-Screening-Programme in den meisten LMICs wegen der jungen Bevölkerungsstruktur nicht sinnvoll und aufgrund mangelnder Ressourcen und Kapazitäten auch für die ältere Population nicht möglich. Hauptursachen für die niedrigen Überlebensraten sowohl beim Zervixkarzinom als auch beim Mammakarzinom sind erschwerter Zugang zu medizinischen Einrichtungen und damit einhergehende späte Vorstellung mit den malignen Tumoren im Krankenhaus; schlechte Ernährung und Begleiterkrankungen, wie z. B. Anämie, Malaria und HIV-Infektion; lange Wartezeit für Diagnostik und Therapie und finanzielle Hindernisse, welche die Vollendung und sogar den Beginn einer Behandlung erschweren (Morhason-Bello et al. 2013; Joko-Fru et al. 2021). Zudem ist die Anzahl der Krebszentren in LMICs häufig beschränkt und die Versorgung von Krebspatienten meist nur in den urbanen Zentren möglich, die teilweise viele Stunden vom Wohnort der Frauen entfernt sind. Über Frauen im ländlichen Raum, die an Krebs erkranken, ist wenig bekannt – viele haben auch über einen langen Krankheitsverlauf hinweg keinen Zugang zur Krankenversorgung (Ayele et al. 2021).
16.2.3 Epidemiologie weiterer gynäkologischer Krebserkrankungen bei Frauen Das Ovarialkarzinom steht bei den Neuerkrankungen bei Frauen in LMIC an 4. bzw. 5. Stelle. Eine Vorsorge oder Früherkennung ist nicht möglich, operative und systemische Therapie müssen an Zentren durchgeführt werden (Piszczan et al. 2019). In Ländern mit höherer Prävalenz von HIV gibt es auch eine etwas größere Anzahl von Frauen mit Vulva- oder Vaginalkarzinomen im Vergleich zu Ländern mit geringerer HIV-Prävalenz. Auch diese werden oft nicht sofort erkannt, sondern in höheren Stadien diagnostiziert und zeigen somit ebenfalls geringe Überlebenswahrscheinlichkeiten (Kroeber et al. 2018). Dabei spielt die Ausbildung von Gynäko-Onkologen durch internationale Kooperationen eine erhebliche Rolle, um die auf Grund der Bevölkerungsstruktur oft jungen betroffenen Frauen zu therapieren.
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16.3 Risikofaktoren für maligne Erkrankungen von Frauen Das Zervixkarzinom, und teilweise das Vulvakarzinom, steht in ursächlichem Zusammenhang mit der Persistenz von Hochrisiko-HPV (insbesondere Typ 16 und 18). Es tritt am häufigsten bei Frauen zwischen 40 und 49 Jahren auf. Weltweit wird die HPV-Prävalenz bei Frauen zwischen 2 und 44 %, für Europa auf 8 bis 15 % geschätzt (Baseman und Koutsky 2005). Andere sexuell übertragbare Infektionen, wie z. B. Herpes-simplex-Viren oder Chlamydia trachomatis, welche chronische Entzündungen auslösen können, fördern das Auftreten von Zervix- und Vulvakarzinomen (Hawes und Kiviat 2002). Daneben erhöhen Infektionskrankheiten wie HIV, als auch Mangelernährung die Wahrscheinlichkeit, ein Zervixkarzinom zu entwickeln. Auch bestimmte Verhaltensweisen wie Rauchen erhöhen das Risiko. Weltweit haben Frauen mit niedrigem sozioökonomischem Status ein höheres Risiko, ein Zervix- und Vulvakarzinom zu entwickeln. Sie erleben im Vergleich zu Männern häufig gesellschaftliche Benachteiligung, insbesondere in Bezug auf Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Daneben sind mangelhafte hygienische Verhältnisse ein wichtiger Ko-Faktor. Soziokulturelle Faktoren, die das Risiko erhöhen, sich mit HPV zu infizieren, sind in einigen Ländern SSAs besonders verbreitet; zu diesen gehören frühe Heirat und viele Geburten. Zudem verdoppelt sich das Risiko, an HPV zu erkranken, bei Polygamie und wechselnden Partnerschaften. Schamgefühl in Bezug auf Gesundheitsvorsorge und ein dominierendes Entscheidungsrecht des Mannes über Gesundheitsfragen in der Familie können weitere Faktoren sein, die hinderlich für die Krebsprävention sind. Als Risikofaktoren für das Mammakarzinom gelten genetische Vorbelastung, eine hohe Dichte des Brustdrüsengewebes, hormonelle (postmenopausale Frauen sind häufiger betroffen) und reproduktive Faktoren (geringere Anzahl von Kindern, geringere Stillzeit) sowie Übergewicht, fehlende Bewegung, Rauchen und erhöhter Alkoholkonsum (World Health Organization (WHO) 2020). Diese Risikofaktoren für das Mammakarzinom treten in LMICs durch Lebensstilveränderungen und Änderung reproduktiver Faktoren zunehmend häufiger auf. So kann man einen durchschnittlichen jährlichen Anstieg der Neuerkrankungsraten von bis zu 8 % allein in SSA sehen (Joko-Fru et al. 2020b).
16.4 Motivationsgründe der Frauen für die Krebsprävention Die Faktoren, die Frauen weltweit zur Krebsprävention motivieren, sind vielfältig. Das Sicherstellen „guter“ Gesundheit, die Angst vor den Folgen von Gebärmutterhalskrebs und der Wunsch, eine gute Beziehung zum Gesundheitspersonal aufrechtzuerhalten, gehören zu den wichtigsten Motivationen für das Screening (Bukirwa et al. 2015). In sogenannten „Schamkulturen“ sind die Schamhaftigkeit vor einer möglichen Erkrankung, das Unbehagen mit dem Untersuchungsverfahren und das Unwohlsein bei der Entblößung des Intimbereichs – neben weiteren Barrieren (Zugang zum Ge-
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sundheitssystem, Gesundheitskosten, Transportwege, Unwissenheit über die Erkrankung) – die häufigsten Hinderungsgründe, um an der Krebsprävention teilzunehmen (Busolo und Woodgate 2015; Henke et al. 2021). Ein weiteres Hindernis für die Krebsprävention ist die Sorge, als HIV-positiv diagnostiziert zu werden, da dies ist in vielen Ländern mit einem hohen Stigma behaftet ist. Zudem fehlt oftmals die Ermutigung zum Screening von Gleichaltrigen und von Verwandten. Darüber hinaus erhalten Frauen teils nur unzureichende Informationen von Primärversorgern über Überweisungsverfahren und sie haben Angst während der Wartezeiten zwischen der Vorsorge und dem Erhalt der Ergebnisse (Momberg et al. 2017). Als weitere wichtige Einschränkungen werden in Studien in LMICs mangelnde Gesundheitskompetenz, respektlose Behandlung durch Mitarbeiter des Gesundheitswesens, Ablehnung durch den Ehemann, sozialer Einfluss, mangelndes Wissen über Screening und religiöser Einfluss genannt. Das Verhalten von Frauen bei der Inanspruchnahme einer Krebsvorsorge wird in hohem Maße durch Wissen/Bewusstsein und Einstellung beeinflusst. Insgesamt ist wenig Wissen über maligne Erkrankungen bei Frauen und bei Gesundheitsdienstleistenden vorhanden, teilweise sogar über verschiedene Bildungsniveaus hinweg (Henke et al. 2021). Zusätzlich zu den Bemühungen von Gesundheitsfachkräften können Gesundheitshelferinnen und -helfer eine wichtige Rolle spielen. Community Health Workers (CHWs) sind der Schlüssel zur Mobilisierung und Aufklärung der Gemeinschaft gegen Krankheiten, da sie in der jeweiligen Bevölkerung Vertrauen genießen und über große Erfahrung verfügen. In vielen Ländern werden bereits Aufklärungskampagnen zu Krebs durchgeführt (aufbauend auf die Erfahrungen z. B. mit HIV) – etwa werden Informationen über Radio und Fernsehen vermittelt und Gesundheitsfacharbeiter und CHWs gezielt in der Krebsprävention geschult (Mensah et al. 2020). ▶▶
Neben den infrastrukturellen Mängeln auf primärer und sekundärer Ebene der Gesundheitssysteme und dem ungenügend ausgebildeten Personal werden geringes Bewusstsein für Krebs, negative G esundheitsüberzeugungen, Zeitmangel und eine niedrige Gesundheitskompetenz (Health Literacy) auf individueller Ebene als Barrieren genannt, um an der Krebsprävention teilzunehmen. Angst vor der Krebsdiagnose, Stigmatisierung und wenig Kenntnisse über die Screening-Methoden sind weitere Hinderungsgründe für die Vorsorge. Eine HPV-Testung mit Selbstabnahme-Set kann zu deutlich höherer Akzeptanz führen (Gizaw et al. 2019).
16.5 Präventionsstrategien und Vorsorge beim Zervixkarzinom Die WHO stuft das Zervixkarzinom als globales Gesundheitsproblem ein. Die WHO-Leitlinien zu HPV-Impfungen, Screening-Programmen, Behandlungsoptionen und Palliativmedizin sollen den Mitgliedsländern helfen, die Ziele zur Bekämpfung des Zervixkarzinoms zu erreichen. In HICs wird empfohlen, das Zervixkarzinom-Screening mittels Pap-Abstrich oder HPV-DNA-Testung durchzu-
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führen. Bei suspekten Befunden wird eine Kolposkopie durchgeführt oder HPV- Screening und Zytologie müssen zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt werden. Daher hat sich die visuelle Inspektion der Zervix mit Essigsäure (VIA) und mit der Lugol‘schen Lösung als kostengünstige Alternative bewährt, die von verschiedenen geschulten Gesundheitsdienstleistenden in Trainings erlernt und durchgeführt wird. Nachweislich kann so die Inzidenz von präinvasiven Läsionen und auch dem Zervixkarzinom gesenkt werden. In LMICs, die über nationale Krebspläne verfügen, wird diese Methode häufig als „see and treat“-Methode empfohlen und vom öffentlichen Gesundheitswesen und internationalen Hilfsorganisationen genutzt. Mit dem Einsatz von einfachen Ressourcen (wie Essigsäure und einem Kryotherapie-Gerät) können damit präkanzeröse Läsionen erkannt und sofort behandelt werden. Zudem können bei diesen Einsätzen lokale Gesundheitsmitarbeiter zum VIA-Screening ausgebildet werden. Allerdings ist die VIA-Methode stark untersucherabhängig, sodass die WHO bei ausreichenden Ressourcen mittlerweile zu einer laborbasierten Präzisionstestung von HPV-DNA rät. Wegen der höheren Anforderungen dieser Methode an Infrastruktur und geschultes Personal gibt es in SSA noch keine flächendeckende Umsetzung (Gizaw et al. 2020). In diesem Kontext gewinnen Telemedizin, Telepathologie und Smartphone-enhanced Trainings immer mehr an Bedeutung. Auch die HPV-Impfung hat in einigen LMICs bereits Eingang in die nationalen Krebspräventionsleitlinien gefunden. Um die nationalen Impfkampagnen zu unterstützen, wurden 2011 von der WHO HPV-Impfprogramme für die Länder in SSA ins Leben gerufen, die durch die öffentlich-private Global Alliance for Vaccines and Immunization (GAVI-Alliance) unterstützt werden (GAVI. The Vaccine Alliance 2013). Nach Angaben der WHO waren im März 2017 in 71 Ländern (37 %) Impfstoffe für 11-jährige Mädchen und in 11 Ländern (6 %) auch für 11-jährige Jungen in die nationalen Impfprogramme aufgenommen worden – es wurden also weltweit mehr als 200 Mio. Dosen verabreicht!
16.6 Krebsbehandlung bei Frauen in Ländern mit niedrigem bis mittlere Einkommen Der erste Kontakt zum Gesundheitssystem findet in LMICs meistens in der Basisgesundheitsstation (auf Dorf-/Gemeindeebene) statt. Das Personal verfügt in diesen Einrichtungen über medizinische Grundlagenkenntnisse. Die begrenzte Zahl großer medizinischer Einrichtungen, beschwerliche Anfahrtswege und schlechte Kommunikation zwischen den Gesundheitseinrichtungen begünstigen späte Diagnosestellungen und lange Wartezeiten zwischen Diagnose und Therapiebeginn. Eine zusätzliche Herausforderung in SSA besteht im Glauben an traditionelle Medizin. So kontaktieren bis zu 80 % der Bevölkerung zuerst traditionelle Heiler, bevor sie Hilfe im öffentlichen Gesundheitssystem suchen, und verzögern damit den Zeitpunkt der Diagnosestellung und des Therapiebeginns. Der Mangel an Pathologen ist zudem ein großes Hindernis für die Sicherstellung einer Krebsdiagnose; die meisten afrikanischen Länder haben zwischen keinem und nur 4 Pathologen pro Millionen Einwohner, während diese Zahl in Europa und den
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USA bei 50 liegt (Ross 2008; Wilson et al. 2019). Die Stadieneinteilung beschränkt sich mangels diagnostischer Bildgebung häufig auf die klinische Untersuchung. In vielen LMICs gibt es kaum Möglichkeiten, eine Strahlentherapie durchzuführen. In fast der Hälfte der Länder in SSA sind keine strahlentherapeutischen Einrichtungen vorhanden. Dort, wo solche vorhanden sind, steht in der Regel ein Gerät pro mehrere Millionen Menschen zur Verfügung (so z. B. in Madagaskar, Nigeria, Sudan, Kenia, Senegal, Simbabwe und Kamerun). Auch adäquate Operationsmöglichkeiten als Bestandteil der Behandlung von Mamma- und Zervixkarzinomen fehlen häufig. Ein weiteres Problem ergibt sich, da beinahe alle onkologischen Zentren in Städten liegen, und die Therapie dort, insbesondere für die Landbevölkerung, oft mit hohen Kosten und langen Fahrtwegen verbunden ist. Der aktuell erhebliche Mangel an onko-chirurgisch und besonders an gynäko-onkologisch ausgebildeten Fachkräften wird in der Zukunft immer mehr zum Engpass der Versorgung beitragen (Griesel et al. 2021).
In LMICs ist bei gynäko-onkologischen Erkrankungen zu beobachten, dass Frauen bei Erstdiagnose oft ein fortgeschrittenes Stadium aufweisen und häufig nur limitierter Zugang zu umfassender Therapie besteht. Die daraus resultierenden schlechten Überlebenschancen gehen mit großem Leid für die betroffenen Frauen und ihre Familien sowie mit erheblichem wirtschaftlichem Schaden für die Gesellschaft einher. Die in den HICs etablierten Präventionsmaßnahmen sind aufgrund teils hoher Material- und Personalkosten nur bedingt auf LMICs übertragbar. Die stringente Implementierung angepasster und kosteneffizienter Versorgungsstrategien würde aber schon zu erheblich besserem Überleben führen.
Antworten auf die Eingangsfragen:
1. Mit 19,3 Mio. Neuerkrankungen und 10 Mio. Krebstodesfälle im Jahr 2020 weltweit haben Krebserkrankungen Infektionserkrankungen überholt. Insgesamt wird für beide Geschlechter geschätzt, dass die Hälfte aller Krebsfälle und 58,3 % der Krebstodesfälle im Jahr 2020 in Asien auftreten werden, wo 59,5 % der Weltbevölkerung leben. Auf Europa entfallen 22,8 % aller Krebsfälle und 19,6 % der Krebstodesfälle, obwohl es hier nur 9,7 % der Weltbevölkerung betrifft, gefolgt von Nord- und Südamerika mit 20,9 % der Inzidenz und 14,2 % der Mortalität weltweit (Arbyn et al. 2020). 2. Der Anteil der Krebstodesfälle in Asien (58,3 %) und in Afrika (7,2 %) ist höher als im Vergleich zu Europa, Amerika oder Australien, was auf die unterschiedliche Verteilung der Krebsarten und die höheren Sterblichkeitsraten in diesen Regionen zurückzuführen ist (Arbyn et al. 2020) 3. A, B und C sind richtig.
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Die Behandlung des Mammakarzinoms in armen und reichen Ländern Maria Eleni Hatzipanagiotou, Abdoulaye N’Diaye, Leonie Ströbele und Jürgen Wacker
Inhaltsverzeichnis 17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6
Epidemiologie weltweit ründe und Risikofaktoren für die Entwicklung eines Mammakarzinoms G Prävention und Screening Stadien des Mammakarzinoms und histologische Unterteilung Diagnostik Management operativer und medikamentöser Therapie der Primärerkrankung 17.6.1 Operative Therapie 17.6.2 Adjuvante endokrine Therapie 17.6.3 Chemotherapie und zielgerichtete anti-HER2-Therapie 17.6.4 Radiotherapie 17.7 Rezidiv und metastasiertes Mammakarzinom 17.8 Behandlung des Mammakarzinoms in Westafrika (am Beispiel Burkina Faso) 17.9 Ausblick Literatur
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M. E. Hatzipanagiotou (*) Departement of Gynecology and Obstetrics, University Medical Centre Regensburg, Regensburg, Deutschland A. N’Diaye Département de gynécologie, Hôpital Saint Camille de Ouagadougou, Centre de Santé Saint Camille, Ouagadougou, Burkina Faso L. Ströbele Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, UKGM Standort Gießen, Gießen, Deutschland J. Wacker ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_17
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M. E. Hatzipanagiotou et al.
Eingangsfragen
1. Das Mammakarzinom ist eine Erkrankung, die besonders A. junge Frauen betrifft B. eine familiäre Häufung aufweist C. häufig bei Frauen in der Postmenopause auftritt D. bei Frauen in reichen Ländern das häufigste Malignom darstellt 2. Das Mammakarzinom A. ist in den reichen Ländern zu 70 % heilbar B. wird in den armen Ländern spät erkannt C. kann in der Mammographie früh erkannt werden D. kann nur in Brustzentren behandelt werden 3. Wie unterscheiden sich die Guidelines für die Diagnostik und Therapie des Mammakarzinoms in armen und reichen Ländern? A. Überhaupt nicht B. Durch die Anwendung folgender Medikamente: Trastuzumab, Pertuzumab und Anthrazykline/Taxane C. Durch die vorhandene Infrastruktur in den jeweiligen Kliniken D. Durch die Qualifikation des vorhandenen Personals
17.1 Epidemiologie weltweit Das Mammakarzinom ist die häufigste Krebserkrankung der Frau weltweit (Gelband et al. 2015). Im Jahr 2020 wurden weltweit 2,3 Mio. Frauen mit Brustkrebs diagnostiziert und es gab 685.000 Todesfälle (World Health Organization o. J.-a). Es gibt jedoch beträchtliche globale Unterschiede, mit einer höheren Inzidenz in „high-income countries“ (HICs, 92 pro 100.000 in Nordamerika) als in „low- and middle-income countries“ (LMICs, 27 pro 100.000 in Mittelafrika und Ostasien) (Torre et al. 2016; Ginsburg et al. 2017). Die Inzidenz an Brustkrebs nimmt in fast allen Ländern der Welt stetig zu, während die Mortalitätsraten in HICs immer weiter sinken (Sung et al. 2021). Besonders in Sub-Sahara Afrika (SSA) nahmen die Brustkrebsinzidenzen in den letzten Jahrzehnten sehr schnell zu. Zwischen Mitte der 1990er- und Mitte der 2010er-Jahre stiegen die Inzidenzraten in Malawi (Blantyre), Nigeria (Ibadan) und den Seychellen um >5 % pro Jahr und in Südafrika (Ostkap) und Simbabwe (Harare) um 3 bis 4 % pro Jahr. Das altersstandardisierte relative 5-Jahres-Überleben in 12 afrikanischen Ländern südlich der Sahara betrug 66 % für Fälle, die zwischen 2008 und 2015 diagnostiziert wurden, im krassen Gegensatz zu 85 bis 90 % für Fälle, die zwischen 2010 und 2014 in HICs diagnostiziert wurden (Gelband et al. 2015).
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17.2 Gründe und Risikofaktoren für die Entwicklung eines Mammakarzinoms Risikofaktoren für die Entwicklung eines Mammakarzinoms können in nicht- modifizierbare, modifizierbare und genetische Risikofaktoren eingeteilt werden. Zu den nicht modifizierbaren Faktoren gehören das weibliche Geschlecht, das Alter, ein frühes Menarchenalter sowie ein spätes Menopausenalter (Winters et al. 2017). In HICs werden die meisten Mammakarzinome in einem Alter von 60–70 Jahren diagnostiziert, während das mittlere Alter bei Diagnose in LMICs zwischen 40–50 Jahren liegt (Winters et al. 2017). Ein hohes Einkommen sowie ein hoher Bildungsstatus sind mit einem besseren brustkrebsspezifischem Überleben assoziiert, verglichen mit Frauen mit niedrigem Einkommen und schlechter Bildung (Winters et al. 2017). Zu den modifizierbaren Risikofaktoren gehören Übergewicht, Bewegungsarmut und Alkoholkonsum (Danaei et al. 2005). Ein junges maternales Alter bei der Geburt des ersten Kindes, Multiparität sowie lange Stillperioden (>12 Monate) hingegen sind protektiv für die Entstehung eines Mammakarzinoms (Winters et al. 2017; Britt et al. 2007). Ca. 10 % der Brustkrebserkrankungen sind genetisch bedingt (Shiovitz und Korde 2015). Pathologische Mutationen in den bekannten Risikogenen führen zu einem kumulativen Risiko für die Entwicklung eines Mammakarzinoms bis zum 80. Lebensjahr von beispielsweise 72 % (BRCA1) bzw. 69 % (BRCA 2) (Kuchenbaecker et al. 2017). Bezüglich der genetischen Veränderungen bei Frauen mit Mammakarzinom in LMICs herrscht ein erheblicher Mangel an Daten, was vor allem auf eingeschränkte molekularbiologische Diagnosemöglichkeiten zurückzuführen ist (Sagna et al. 2019; Biancolella et al. 2021).
17.3 Prävention und Screening Für die Reduktion der Mortalität und Morbidität von Brustkrebs sind das Screening und die Früherkennung essenziell. In Deutschland soll bei Frauen ab 30 Jahren einmal pro Jahr eine klinische Brustuntersuchung durchgeführt werden (Albert und Co/Fallenberg und Co o. J.). Zusätzlich ist ein Mammographie-Screening für die Altersgruppe 50–69 Jahre im zweijährigen Intervall empfohlen. Es ist kontrovers, ob die für die HICS geltenden Brustkrebs-Screeningmethoden mit derselben Effektivität in den LMICs eingesetzt werden können, nicht zuletzt aufgrund wirtschaftlicher Aspekte (Mishra et al. 2021; Mandal und Basu 2018). Es gilt zusätzlich zu bedenken, dass mit einer wachsenden Anzahl von gescreenten Frauen auch die medizinische Weiterversorgung gewährleistet sein muss. Zudem ist die Population in LMICs häufig deutlich jünger und somit der Einsatz der Mammographie fraglich, da die Mammographie vor allem bei jungen Frauen mit konsekutiv dichterem Brustdrüsengewebe falsche Befunde liefern kann (Panieri 2012). Frauen mit einer
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Brustkrebserkrankung in LMICs stellen sich oft erst in späten Stadien vor (Jemal et al. 2011), was die Prognose deutlich limitiert. Gründe für die späten Konsultationen sind zum einen ein geringes Bewusstsein und mangelnde Kenntnisse über Brustkrebs, mythische Erklärungen sowie Misstrauen in das Gesundheitssystem (Gyedu et al. 2018). Zum anderen sind die schlechte Erreichbarkeit von Gesundheitseinrichtungen, hohe Kosten für Diagnostik und Therapie, schlechte Kenntnisse auch unter dem medizinischen Personal und ein Mangel an Krankenversicherungen Gründe für späte Konsultationen (Akuoko et al. 2017; Kantelhardt et al. 2015; Gadgil et al. 2015). Durch den schleichenden Prozess einer Brustkrebserkrankung, der zu Beginn meist schmerzlos ist, warten viele Frauen zu lange ab, bis sie eine Gesundheitseinrichtung konsultieren. Ein der Prävention zuträglicher Angriffspunkt ist besonders in den LMICs das Schaffen eines Bewusstseins („awareness creation“). Darin eingeschlossen ist die Implementierung von Ausbildungsprogrammen für Arbeitende im Gesundheitssektor. Ziel ist die Aufklärung der Zivilbevölkerung über Risikofaktoren (s. o.), das Erkennen von Symptomen und die Wichtigkeit, Symptome rechtzeitig abklären zu lassen. Selbsthilfegruppen für Überlebende und die Zusammenarbeit mit Gemeindegruppen können eine zentrale Rolle bei der Informationsvermittlung spielen und Frauen über Symptome und Behandlungsmöglichkeiten bei Brustkrebs informieren (Breast Cancer Initiative 2.5 o. J.-a).
17.4 Stadien des Mammakarzinoms und histologische Unterteilung Klarheit und Präzision über das Ausmaß der Krebserkrankung sind für die Prognose, Therapie und das Staging unerlässlich (O’Sullivan et al. 2017). Hierfür dient der pTNM-Status (lokoregionäre Tumorausbreitung, lokoregionärer Lymphknotenbefall, Fernmetastasierung) gemäß der aktuellen TNM-Klassifikation (Brierley et al. 2016). Davon ausgehend erfolgt die internationale Einteilung in UICC-Stadien 0 bis IV nach UICC (s. Tab. 17.1) (DKFZ o. J.). Der axilläre Lymphknotenstatus wird als stärkster Prognosefaktor für eine Rezidivfreiheit und das Gesamtüberleben beim Mammakarzinom gewertet. Bei neu diagnostiziertem Mammakarzinom ab dem UICC Stadium II sollte ein Staging (Lunge, Leber, Skelett) durchgeführt werden (Department of Health o. J.). Hier wird in HICs ein CT Thorax/Abdomen sowie eine Skelettszinzigraphie durchgeführt. Die pathomorphologischen Begutachtungen sind die wichtigsten Entscheidungsgrundlagen für die operative, strahlentherapeutische und vor allem für die Systemtherapie des Mammakarzinoms (Hammond et al. 2010; Wolff et al. 2013). Die Mammakarzinome werden anhand eines immunhistochemischen Algorithmus unterschieden, (Cheang et al. 2009; Hugh et al. 2009; Prat et al. 2013), der Grundlage für die weiterführende Therapie ist (Tab. 17.2).
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Tab. 17.1 UICC-Stadien Mammakarzinom UICC-Stadium 0 UICC -Stadium I A UICC -Stadium I B UICC-Stadium II A
UICC-Stadium II B
UICC-Stadium III A
UICC-Stadium III B
UICC -Stadium III C UICC-Stadium IV
In-situ-Karzinom ohne befallene Lymphknoten und ohne Metastasen (Tis N0 M0) Maximal 2 cm großer Tumor ohne Befall von Lymphknoten oder Fernmetastasen (T1 N0 M0) Kein oder maximal 2 cm großer Tumor mit Mikrometastasen in den Lymphknoten, aber ohne Fernmetastasen (T0/T1 N1mi M0) Kein oder maximal 2 cm großer Tumor mit wenig befallenen Lymphknoten, aber ohne Fernmetastasen (T0/1 N1 M0), oder größerer, aber maximal 5 cm großer Tumor ohne Lymphknotenbefall oder Fernmetastasen (T2 N0 M0) Größerer, aber maximal 5 cm großer Tumor mit wenig befallenen Lymphknoten, aber ohne Fernmetastasen (T2 N1 M0), oder Tumor größer als 5 cm, aber ohne Lymphknotenbefall oder Fernmetastasen (T3 N0 M0) Kein oder maximal 5 cm großer Tumor mit Lymphknotenbefall mittlerer Ausbreitung, aber ohne Fernmetastasen (T0–T2 N2 M0), oder Tumor größer als 5 cm, mit befallenen Lymphknoten, aber ohne Fernmetastasen (T3 N1/N2 M0) Tumor jeder Größe mit Ausdehnung auf Brustwand oder Haut, unabhängig vom Befall von Lymphknoten, aber ohne Fernmetastasen (T4 mit N0, N1 oder N2, M0) Ausgedehnter Lymphknotenbefall unabhängig von der Tumorgröße, aber keine Fernmetastasen (jedes T, N3, M0) Fernmetastasen vorhanden, unabhängig von Tumorgröße und Lymphknotenbefall (jedes T, jedes N, M1)
Tab. 17.2 Die wichtigsten molekularen Subtypen des Mammakarzinoms Luminal A Luminal B
HER2-positiv triple-negativ
ER- und/oder PgR-positiv und HER2-negativ und Ki-67 niedrig HER2-negativ: ER- und/oder PgR-positiv und HER2-negativ und Ki-67 hoch HER2-positiv: ER- und/oder PgR-positiv und HER2-positiv und Ki-67 hoch oder niedrig ER- und PgR-negativ und HER2-positiv ER-, PgR- und HER2-negativ
17.5 Diagnostik Sollte eine Frau Symptome und Beschwerden aufweisen, so sind eine klinische Untersuchung, bildgebende Verfahren wie Mammographie, Ultraschalluntersuchung, eventuell MRT sowie die Biopsie zur Diagnostik empfohlen (Leitlinienprogramm Onkologie o. J.). Bei unklaren oder suspekten Mamma-Befunden erfolgt
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eine invasive Abklärung mittels Stanz- oder Vakuumbiopsie, die prätherapeutisch notwendige tumorbiologische Faktoren zur Therapieplanung erfassen (Tumortyp, Grading, Hormonrezeptorstatus, HER2, Ki-67). Verfahren der Wahl zur Detektion von Hormonrezeptoren ist die Immunhistochemie. Die Testung des HER2-Rezeptors ist technisch aufwändiger, jedoch außerordentlich wichtig für die Therapieplanung (Breast Cancer Initiative 2.5 o. J.-b). Zur histologischen Abklärung suspekter Lymphknoten sollte die Stanzbiospie angewandt werden. Situation der Pathologie in LMICs: Eine kürzlich erschienene Lancet-Serie beleuchtete den Stand der Pathologie und Labormedizin in Ländern mit niedrigem Einkommen (Horton et al. 2018; Sayed et al. 2018; Wilson et al. 2018). Die Hauptprobleme, die die Qualität der Pathologie beeinträchtigen, lassen sich in mangelnder Ausrüstung, ineffizienter Organisation und unzureichend qualifiziertem Personal zusammenfassen. Die Mehrheit der Labore weisen nicht die erforderlichen Standards auf (ISO o. J.). Die derzeitige Zahl des Personals kann unmöglich den Bedarf einer wachsenden Bevölkerung decken. Viele pathologische Untersuchungen sind oft nicht durchführbar oder übersteigen die finanziellen Ressourcen. Aufgrund dessen werden bestimmte Untersuchungen von zahlungskompetenten Patient*innen ins Ausland verlagert (Ziegenhorn et al. 2020), was zu Abhängigkeiten führen und die Entwicklung von innerländlichen Pathologie-Dienstleistungen stagnieren lassen kann. Ein von Fleming et al. entwickeltes „Pathologie-Paket“ könnte politischen Entscheidungsträger*innen in LMICs dazu nutzen, Struktur und Qualität in die lokalen Pathologie-Dienstleistungen zu bringen. Das Paket ist in vier Ebenen gegliedert, von Ebene 1, bezogen auf die primäre Gesundheitsversorgung, bis Ebene 4, was das Versorgungsniveau von Universitätskrankenhäusern betrifft. Entscheidend bei dem „Pathologie-Paket“ ist, dass die Laboratorien der verschiedenen Ebenen als eine Organisation zusammenarbeiten sollten. Es ermöglicht die effiziente Überweisung von Patient*innen, die gemeinsame Nutzung und den Kauf von Labormaterial, den Austausch von Personal und Wissen, die Bereitstellung von Aus- und Weiterbildung sowie Forschungsmöglichkeiten. Gerade in Bezug auf die Bereitstellung einer erschwinglichen immunhistochemischen (IHC-)Technik, könnte die Umsetzung des Pakets durch die Unterstützung von Partner-Laboratorien wegbereitend sein (Fleming et al. 2017). Als weiteres dienliches Tool hat die Breast Health Initiative 2.5, je nach Level der Ressourcen, einen Strategie-Plan zur Diagnostik des Mammakarzinoms in LMICs entwickelt (Breast Cancer Initiative 2.5 o. J.-b). Die unterschiedlichen Ressourcenlevels sind in basic, limited, enhanced und maximal gegliedert (Tab. 17.3) (Yip et al. 2008). Für SSA gibt es von dem National Cancer Comprehensive Network für Prävention, Diagnostik und Therapie entwickelte Leitlinien (NCCN o. J.). Darüber hinaus hat das WHO-Regionalbüro Afrika (WHO-AFRO) einen Prozess zur Verbesserung der Laborqualität auf dem Weg zur Akkreditierung (Stepwise Laboratory Quality Improvement Process Towards Accreditation, SLIPTA) ins Leben gerufen (Datema et al. 2020). Zudem können bevölkerungsbasierte Krebsregister, die Patienten-, Pathologie-, Therapie- und Ergebnisdaten enthalten, Hinweise auf eine Verbesserung der Versorgung und des Überlebens im Laufe der Zeit liefern.
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Tab. 17.3 Strategieplan zur Diagnostik von Mammakarzinom für LMICs. (Modifiziert nach (Breast Cancer Initiative 2.5 o. J.-b)) Ressourcen Basic level Klinisch Anamnese Körperliche Untersuchung Klinische Brustuntersuchung Asservierung von Gewebsproben für weitere Diagnostik Bildgebung und Labortests
Pathologie
Diagnostik je nach Brusttumor mit passender Technik Pathologie-Bericht Hormonrezep torstatus TNM-Status
Limited Ultraschallgesteuerte Feinnadelaspiration von sonographisch suspekten axillären Lymphknoten SentinelLymphknotenbiopsie
Enhanced Mammographie oder ultraschall gestützte Biopsien SLN Biopsie mit Radiotracer
Maximal
Brustultraschall Röntgen-Thorax, Skelettszintigraphie Ultraschall der Leber Komplettes Blutbild
Mammographie CT Kardiologische Untersuchung
ER-Hormonrezep torstatus durch Immunohistochemie Resektionsgrenze, DCIS Lymphgefäßinvasion LK-Status
Messen der HER-2- Überexpression oder Genamplifikation PRHormonrezep torstatus durch Immunhisto chemie
PET, MammaMRT, BRCA 1 u. 2 Testung Mammogra phische Zweibegut achtung Immunhisto chemische Färbung von LK für Zytokeratin, um Mikrometas tasen zu detektieren Pathologische Zweitbegut achtung Genprofile anlegen
17.6 Management operativer und medikamentöser Therapie der Primärerkrankung 17.6.1 Operative Therapie Nach korrekter Mamma-, Axilla- und ggf. Ausbreitungsdiagnostik einschließlich der histologischen Aufarbeitung der präoperativ entnommenen Stanzen erfolgt die individuelle Therapieplanung. Die operative Therapie ist einer von mehreren Teilschritten bei der Behandlung des frühen Mammakarzinoms. Hier steht die komplette Entfernung des Tumors mit freien Resektionsgrenzen (R0) als Voraussetzung für ein niedriges Lokalrezidivrisiko im Vordergrund (Leitlinienprogramm Onkologie L 2021). Die brusterhaltende Therapie (BET) mit nachfolgender Radiatio der betroffenen Mamma ist hinsichtlich des Überlebens der alleinigen Mastektomie gleichwertig (Leitlinienprogramm Onkologie L 2021; Fisher et al. 2002). Bei klinisch und sonographisch unauffälligem axillären Lymphknoten erfolgt die
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Sentinellymphknoten-Biopsie. Eine Axilladissektion wird bei axillärem Lymphknotenbefall durchgeführt, entweder als primär operative Therapie oder nach Durchführung einer neoadjuvanten Chemotherapie (Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie o. J.). Die Art der chirurgischen Intervention muss an das verfügbare Fachwissen sowie die vorhandenen Ressourcen angepasst werden. In den ressourcenärmsten Umgebungen ist die modifizierte radikale Mastektomie inklusive einer Axilladissektion die chirurgische Standardbehandlung, da keine Radiotherapie verfügbar ist sowie keine Möglichkeiten zur pathologischen Evaluation der Schnittränder oder Markierung von Wächterlymphknoten besteht. Bereits auf der Ebene der Basisversorgung muss vielerorts erheblich in die Qualität der chirurgischen Versorgung investiert werden. Je mehr Ressourcen verfügbar sind, desto eher kommen die BET, die einer adjuvanten Radiatio der betroffenen Mamma bedarf, oder eine Sentinelbiopsie als mögliche Optionen in Betracht (Breast Cancer Initiative 2.5 o. J.-a).
17.6.2 Adjuvante endokrine Therapie Nach Bestimmung der Steroidhormonrezeptoren am OP-Präparat wird bei endokrin sensitiven Karzinomen eine adjuvante endokrine Therapie mit Aromataseinhibitoren (AI) oder Tamoxifen oder im Rahmen von Studien mit CDK4/6-Inhibitoren durchgeführt. Die Standarddauer beträgt 5–10 Jahre. Für die systemische adjuvante Therapie bietet Tamoxifen eine der kostengünstigsten Möglichkeiten. Die Kosten für AI können erheblich höher sein. Tamoxifen wird von der WHO als unentbehrliches Medikament aufgeführt, war bislang breit verfügbar, patentfrei und hat einen geschätzten Durchschnittspreis von 0,09 USD pro Tablette. In Regionen mit sehr niedrigen Ressourcen beschränkt sich die pathologische Testung lediglich auf die Bestätigung des Mammakarzinoms. In einigen Gebieten verschreiben Gesundheitsdienste Tamoxifen für alle Patient*innen mit Brustkrebs ohne vorherige Bestimmung der Hormonrezeptoren. Dies sollte kritisch betrachtet werden, da Frauen mit hormonrezeptornegativen Tumoren nicht von einer endokrinen Therapie profitieren und trotzdem den unerwünschten Nebenwirkungen und Kosten ausgesetzt sind. In HICs beträgt der Prozentsatz von hormonrezeptorpositiven Mammakarzinomen etwa 60–75 %, der von triple negativen Mammakarzinomen ca. 15–20 % der Brustkrebserkrankungen. Die Rate von triple negativen Mammakarzinomen in LMICs beträgt bis zu 40–55 %. Diese unterschiedliche Prävalenz unterstreicht die Wichtigkeit der korrekten pathologischen Diagnose. CDK4/6-Inhibitoren sind für Patient*innen in LMICs in der Regel nicht erschwinglich. Zudem erfordern diese Medikamente ein Therapiemonitoring durch spezialisierte Fachkräfte mit regelmäßiger Konsultation, was die Einsetzbarkeit dieser Medikamente weiter erschwert. Gesundheitssysteme und Fachpersonal auf allen Ressourcenebenen müssen ermitteln, welche Medikamente für ihre Patientengruppen geeignet sind und welche verfügbaren Ressourcen vorhanden sind, um Therapien zu ermöglichen (Breast Cancer Initiative 2.5 o. J.-c).
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Hintergründe für eine Fehlsteuerung in der Medikamentenversorgung Die ununterbrochen gesicherte, nachhaltige und weltweit uneingeschränkte Verfügbarkeit essenzieller Medikamente ist, gerade in einer mehrjährigen Krebstherapie wie beim Mammakarzinom, für die Heilungschancen essentiell. Dass dies leider nicht immer der Fall ist, zeigt sich am Beispiel von Tamoxifen, das seit Januar 2022 von mehreren Herstellern/Vertreibern nicht mehr vollumfänglich geliefert werden kann. Die genauen Gründe für den Lieferengpass sind noch nicht vollständig geklärt. Womöglich ist eine individuelle Bevorratung zu den Lockdowns während der COVID-19-Pandemie eine der Ursachen. Nicht zuletzt spielen jedoch auch wirtschaftliche Gründe eine große Rolle in der Arzneimittelproduktion, auf die in diesem Abschnitt aufmerksam gemacht wird. Tamoxifen ist ein sehr kostengünstiges Medikament und daher für die pharmakologischen Konzerne nicht profitabel. Dass gerade aber in der weltweiten nachhaltigen Medikamentenversorgung Abstand von Profitgedanken genommen werden sollte, erfordert ein Umdenken (German Board and College of Obstetrics and Gynecology o. J.).
17.6.3 Chemotherapie und zielgerichtete anti-HER2-Therapie Bei eindeutiger Indikation zur Chemotherapie soll die neoadjuvante Therapie bevorzugt werden. Bei HR+/HER2-Karzinomen mit „hohem Risiko” wird eine anthrazyklinhaltige Chemotherapie durchgeführt mit anschließender adjuvanter endokriner Therapie (s. o.). Bei triple negativen Karzinomen wird aufgrund der verbesserten Ansprechraten die Hinzunahme von Carboplatin empfohlen (Schneeweiss et al. 2019). Bei Her2-positiven Karzinomen erfolgt eine sequenzielle anthrazyklinbasierte oder anthrazyklinfreie Chemotherapie mit simultaner Gabe von zielgerichteter anti-HER2-Therapie (Piccart et al. 2021; Schneeweiss et al. 2013). Die Einführung des monoklonalen anti-HER2-Antikörpers Trastuzumab war einer der wichtigsten Schritte in der Brustkrebstherapie der letzten Jahre, trotzdem ist dieses Medikament in den meisten ressourcenarmen Umgebungen nicht verfügbar. Da die zielgerichteten Substanzen sehr teuer sind, ist die Einführung von Biosimilars die einzige Möglichkeit, diese Substanzen auch in LMICs flächendeckend verfügbar zu machen. Wenn eine zielgerichtete Anti-HER2-Therapie in einer Region verfügbar ist, muss auch die Infrastruktur zur Testung des HER2-Rezeptors verfügbar sein. In LMICs, wo bei Erstdiagnose des Mammakarzinoms häufig eine fortgeschrittene Erkrankung vorliegt und zudem die Rate an hormonrezeptornegativen Mammakarzinomen hoch ist, kann der Nutzen einer Chemotherapie erheblich sein. Wird eine Chemotherapie begonnen – in ruralen Gebieten teilweise auch ermöglicht durch finanzielle Unterstützung eines gesamten Dorfes – so sind die Abbruchraten vor Abschluss der Therapie hoch. Studien in LMICs können dazu führen, dass evidenzbasierte Medizin in diesen Umgebungen unter Nutzung und Optimierung der vorhandenen Ressourcen etabliert wird (Breast Cancer Initiative 2.5 o. J.-d). Sieben Chemotherapie-Substanzen (Carboplatin, Cyclophosphamid, Doxorubicin, Docetaxel, Fluoruracil, Methotrexat, Paclitaxel), die zur Behandlung von
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Brustkrebs eingesetzt werden, sind in der WHO-Liste der unentbehrlichen Arzneimittel von 2021 enthalten (World Health Organization o. J.-b). Die sichere und effektive Applikation von Zytostatika sollte durch speziell geschultes Personal stattfinden. In LMICs findet die Applikation jedoch oft durch Allgemeinärzte, Chirurgen oder Strahlentherapeuten statt, sodass spezialisierte onkologische Weiterbildungen für nicht-onkologisches Personal stattfinden und an die jeweilige Umgebung angepasste Protokolle und standardisierte Vorgehensweisen festgelegt werden sollten.
17.6.4 Radiotherapie Nach BET ist die adjuvante Radiatio der betroffenen Mamma obligat (Haviland et al. 2013). Nach Mastektomie soll bei >3 befallenen Lymphknoten, bei T3/T4- Tumoren sowie bei jungen Patientinnen mit hohem Rückfallrisiko eine Bestrahlung der Thoraxwand erfolgen. Eine Bestrahlung der Axilla soll bei eindeutig klinischem Befall oder positivem Sentinelstatus und nicht erfolgter oder inkompletter Axilladissektion erfolgen (Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie o. J.). In LMICs ist aufgrund der häufig bereits lokal fortgeschrittenen Brustkrebserkrankungen der Anteil der Frauen, die von einer Strahlentherapie profitieren würden, besonders groß, jedoch wächst die Lücke zwischen Nachfrage und verfügbarem Angebot zunehmend. Das geschätzte Defizit beträgt 7000 Radiotherapiegeräte weltweit. In 29 von 52 afrikanischen Ländern gibt es keine Bestrahlungseinheit. 85 % der Weltbevölkerung leben in LMICs, aber weniger als 35 % der weltweiten Strahlentherapieeinrichtungen befinden sich in diesen Ländern. Selbst in ressourcenarmen Umgebungen sollte es ein politisches Ziel sein, die Radiotherapie in kosteneffektiver Weise anzubieten und sie zugänglich für Patient*innen zu gestalten. Darüber hinaus ist auch hier geschultes Personal und ausreichend vorhandene Ausrüstung (z. B. Simulator, Planungscomputersystem, Tools für die Dosimetrie) Voraussetzung für die Implementierung. Die hohen Investitionskosten können durch moderne Finanzierungsansätze und gemeinsame Bemühungen mit internationalen Institutionen, Partnerschaften mit NGOs und öffentlich-privaten Organisationen minimiert werden, um die Behandlung für Brustkrebspatient*innen zu ermöglichen. Erkenntnisse der Lancet Oncology Commission konnten zeigen, dass die Investition in die Strahlentherapie nicht nur die Behandlung einer großen Anzahl von Krebspatienten ermöglicht, sondern auch die Mortalität senkt und positive wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt (Breast Cancer Initiative 2.5 o. J.-e).
17.7 Rezidiv und metastasiertes Mammakarzinom Bei Diagnose eines lokoregionären Rezidivs muss ein korrektes Staging (CT Thorax/Abdomen, Skelettszintigraphie) durchgeführt werden, da in etwa 20 % dieser Fälle Fernmetastasen nachgewiesen werden können.
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Handelt es sich um ein intramammäres Rezidiv nach BET, erfolgt die Mastektomie. Bei einem Thoraxwandrezidiv ohne Fernmetastasen wird die Tumorexzision durchgeführt. Ziel der operativen Therapie ist die R0-Resektion. Die Systemtherapie erfolgt in Analogie zur Primärerkrankung je nach vorliegendem histologischem Subtyp und unter Berücksichtigung der Vortherapien. Wird in der Bildgebung eine Metastasierung nachgewiesen, handelt es sich um eine palliative Situation. Als Therapieziele gelten nun vorrangig die Verbesserung der Lebensqualität durch Symptomkontrolle, eine Verlängerung des progressionsfreien Überlebens und auch zunehmend des Gesamtüberlebens. Systemische Therapieansätze stehen im Vordergrund, die Planung der Therapie sollte nach histologischer Evaluation einer Metastase erfolgen. Die Metastasierung findet vor allem in Lunge, Leber, Knochen und Lymphknoten statt. In HICs sind durch die Vielzahl an verfügbaren Substanzen auch in der Situation der nicht heilbaren Erkrankung Langzeitverläufe bei den meisten Patient*innen zu erwarten. Bei ossären Metastasen wird zusätzlich zur tumorspezifischen Therapie eine osteoprotektive Therapie zur Reduktion skelettaler Komplikationen und Knochenschmerzen durchgeführt (Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie o. J.). CDK4/6-Inhibitoren sind in HICs mittlerweile Standard in der Erstlinienbehandlung des metastasierten hormonrezeptorpositiven Mammakarzinoms (Gao et al. 2020). Beim Her2-neu-positiven Mammakarzinom kommen in der metastasierten Situation verschiedene zielgerichtete Substanzen, wie z. B Trastuzumab oder Pertuzumab, zum Einsatz. Beim triple-negativen Mammakarzinom haben neben den klassischen Chemotherapien mittlerweile Checkpointinhibitoren Einzug in die Erstlinientherapie gefunden. Ebenso wird kontinuierlich an neuen Substanzen geforscht, die wie Sacituzumab Govitecan in HICs zum Einsatz kommen. Für diese Therapie fallen beispielsweise Jahrestherapiekosten von ca. 260.000 EUR bzw. 310.000 USD an. Das entspricht pro Gabe rund 7650 € (DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. 2021/2022). Diese Kosten werden hier exemplarisch genannt, auch bei anderen neueren Medikamenten bewegen sich die Therapiekosten auf vergleichbarem Niveau (Information der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft o. J.), mit dem Nutzen einer Verlängerung des Überlebens um meist einige Monate. Demgegenüber steht die deutlich eingeschränkte Verfügbarkeit der tumorspezifischen Substanzen in LMICs. Verfügbare Medikamente in LMICs sind auch im Falle von Metastasen vor allem die endokrinen Therapien mit Tamoxifen und Aromataseinhibitoren, sowie Fulvestrant. Trastuzumab ist zwar seit 2018 als Biosimilar verfügbar, trotzdem beschränkt sich die exzellente Prognoseverbesserung durch zielgerichtete anti-HER2-Therapien weitestgehend auf HICs. In den LMICs profitieren nur die wenigsten Patient*innen von den großen Fortschritten, die in den letzten Jahren in den Bereichen des metastasierten Mammakarzinoms erzielt wurden. Neben der tumorspezifischen Therapie spielen die Symptomlinderung, psychosoziale Begleitung, spirituelle Aspekte und eine adäquate Schmerztherapie eine wichtige Rolle. Zumindest der Zugang zu Schmerzmitteln und das Management von psychosozialem Leiden sind aus ethischen Gründen als Priorität in jedem Gesundheitssystem zu betrachten. Diese Bereiche sollten auch in den Regionen mit sehr niedrigen Ressourcen unter Einbindung der Familie sowie der Dorfgemeinschaft verwirklicht werden können.
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17.8 Behandlung des Mammakarzinoms in Westafrika (am Beispiel Burkina Faso) In Burkina Faso gibt es keine etablierte Richtlinie für das Mammakarzinom, aber einen strategischen Plan für den Kampf gegen Krebs im Allgemeinen. Initiativen und Pläne gibt es von Verbänden zur Bekämpfung von Brustkrebs, die von medizinischen Onkologen geleitet werden. Nach Angaben der WHO im Jahr 2016 stellt Brustkrebs 12,3 % der häufigsten Krebsarten in Burkina Faso dar und steht nach dem Gebärmutterhals an zweiter Stelle. Laut einer aktuellen Untersuchung in Burkina Faso konnte Leonie Stroebele et al. 2018 eine Zunahme des Mammakarzinoms feststellen (Stroebele et al. 2018). 60 % des Budgets der medizinischen Ausgaben werden für Krebserkrankungen benötigt. Die Prävention im Land basiert vor allem auf der Sensibilisierung zur Reduzierung oder Eliminierung von Risikofaktoren und der Kommunikation zur sozialen Verhaltensänderung, insbesondere zur Selbstuntersuchung der Brüste. In Burkina Faso wird das Mammographie-Screening ab dem 40. Lebensjahr alle 2 Jahre empfohlen. Bei Auffälligkeiten soll eine Biopsie entnommen werden. Der Befund ist innerhalb von 2 bis 3 Wochen verfügbar. Politische Ziele sind die Förderung der Brustkrebsvorsorge durch: • • • • •
Aufklärungsmaßnahmen mit der Gemeinde zur Selbstuntersuchung der Brüste Systematisches Screening nach Brusttumoren in den Gesundheitsdiensten Verbesserung des Zugangs zur Mammographie ab dem 40. Lebensjahr Frühzeitige Behandlung von Tumoren der Brust Management von Brustkrebs durch Operation, Chemotherapie und Strahlentherapie
Die Unterschiede bei der Behandlung des Mammakarzinoms zwischen den großen Städten und den Provinzen im Land sind eklatant: • Onkologen und chirurgisch tätige Gynäkoonkologen gibt es lediglich in den beiden großen Städten Ouagadougou und Bobo Dioulasso. • Für Screening und Diagnose verfügen zwar viele regionale Krankenhäuser über Mammographieeinheiten, die meisten sind jedoch aufgrund von Personalmangel außer Betrieb. Dasselbe gilt für histologische Untersuchungsmöglichkeiten. Selbst in den beiden größten Städten ist die entsprechende Ausstattung nur in den nachgefragten großen Kliniken und Krankenhäusern verfügbar. Viele Spezialisten arbeiten aufgrund besserer Verdienstmöglichkeiten in privaten Kliniken und nicht in den öffentlichen Krankenhäusern. • Das einzige Strahlentherapiezentrum des Landes befindet sich in Ouagadougou (seit 2021). • Die durchschnittlichen Kosten einer Brustkrebsbehandlung liegen zwischen 2 und 3 Mio. CFA-Franken (ca. 3330 bis 5000 USD). Im Jahr 2020 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Burkina Faso rund 831 USD (Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2026).
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• Es gibt oft Schwierigkeiten beim Zugang zu Zytostatika. • Die allgemeine Krankenversicherung steckt noch in den Kinderschuhen, die meisten Patient*innen sind nicht krankenversichert und müssen für die Versorgung vollständig aufkommen. All diese Elemente tragen zur Verzögerung der Diagnose und Behandlung von Brustkrebs in Burkina Faso bei und führen dazu, dass die meisten Brustkrebsfälle im Land erst spät entdeckt werden. Durch eine intensivierte Bewusstseinsschaffung und Aufklärung zeigt sich jedoch eine langsame Tendenz zur früheren Diagnosestellung. Erst seit Anfang 2021 sind die drei wesentlichen Säulen zur Behandlung des Mammakarzinoms im Sinne der Operation, Chemotherapie und Strahlentherapie in Burkina Faso verfügbar und ermöglichen zumindest theoretisch einen kurativen Therapieansatz.
17.9 Ausblick Aktuell sind die Ziele für die Diagnostik und Therapie des Mammakarzinoms global sehr unterschiedlich. Dies ergibt sich durch den subjektiven Therapiewunsch einer jeden Frau, dem in HICs durch sehr teure Medikamente nachgekommen werden kann. Im Gegensatz dazu stehen die objektive globale Ungleichheit und ungleiche Verteilung der Ressourcen, welche zu den deutlichen Unterschieden im brustkrebsspezifischen Überleben führt. Offen bleibt weiterhin, welche Ziele man weltweit für das Mammakarzinom festlegen sollte, um globale Gerechtigkeit zu erreichen. Antworten auf die Eingangsfragen
1. Alle sind richtig 2. A, B und C sind richtig 3. C und D sind richtig
Literatur Akuoko CP, Armah E, Sarpong T et al (2017) Barriers to early presentation and diagnosis of breast cancer among African women living in sub-Saharan Africa. PloS One 12:e0171024. https://doi. org/10.1371/journal.pone.0171024 Albert und Co/Fallenberg und Co (o.J.) Diagnostik und Therapie früher und fortgeschrittener Mammakarzinome. Früherkennung und Diagnostik. https://www.ago-online.de/fileadmin/ago- online/downloads/_leitlinien/kommission_mamma/2021/Einzeldateien/2021D_03_Frueherkennung_und_Diagnostik_MASTER_final_20210302.pdf. Zugegriffen am 25.01.2022 Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie (o.J.) Empfehlungen gynäkologische Onkologie Kommission Mamma. https://www.ago-online.de/leitlinien-empfehlungen/leitlinien- empfehlungen/kommission-mamma. Zugriffsdatum 25.01.2022 Biancolella M, Ouédraogo NLM, Zongo N et al (2021) Breast cancer in West Africa. Molecular analysis of BRCA genes in early-onset breast cancer patients in Burkina Faso. Hum Genomics 15:65. https://doi.org/10.1186/s40246-021-00365-w
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M. E. Hatzipanagiotou et al.
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Die Rolle der Palliativmedizin in armen und reichen Ländern
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Jürgen Wacker
Inhaltsverzeichnis 18.1 K asuistik aus Burkina Faso 18.1.1 Reflexionen aus der Kasuistik 18.2 Entwicklung der Hospizbewegung und der Palliativmedizin 18.3 Grundsätze und Ziele der Palliativmedizin 18.3.1 Körperliche Nähe 18.3.2 Der Arzt als Schüler 18.3.3 Antworten auf Fragen 18.3.4 Behandeln von Beschwerden 18.3.5 Der Arzt als Teil der Familie 18.4 Palliativmedizin im Pflegeheim oder unterm Palmenhain (Wie weltweit alte, schwer kranke Menschen leben und sterben) Literatur
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Stein Husebo und Gebhard Mathis zitieren in dem Kapitel Ethik ihres Standardwerkes Palliativmedizin Ludwig Wittgenstein wie folgt (Husebo und Mathis 2017): „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen – man kann es nicht bemerken, weil man es immer vor Augen hat. Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf.“
J. Wacker (*) ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected]
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_18
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J. Wacker
Wie alles menschliche Handeln ist auch das Wirken des Arztes ethischen Bewertungen ausgesetzt. Jeder Mensch, jeder Arzt muss sich mit den folgenden Fragen beschäftigen:
Eingangsfragen
1. Wann beginnt das Leben? Gibt es ein Leben vor der Geburt? 2. Wann dürfen wir eine Therapie beenden? Dürfen wir die Hoffnungen der Patienten enttäuschen? 3. Ist die palliative Hilfe zum Leben mit der Krankheit eine Alternative zu jeglicher Form der Sterbehilfe? 4. Müssen lebensbedrohliche Komplikationen immer behandelt werden? 5. Was bedeutet für die moderne, globale Medizin der ethische Grundsatz von Albert Schweitzer: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will!“
18.1 Kasuistik aus Burkina Faso Aus Burkina Faso kenne ich das Schicksal einer etwa 40-jährigen Mutter zweier Kinder, die wir Aissatou Yameogo nennen, die aber einen anderen Namen trug. Sie war eine tüchtige und allseits beliebte Klinikmitarbeiterin, die eines Tages, in den frühen 1990er-Jahren, über zunehmende Müdigkeit und Erschöpfung klagte, was für sie, eine lebensbejahende und stets aktive Frau, ungewohnt war. Als danach Fieber, Husten und ein immer größerer Gewichtsverlust auftraten, suchte Aissatou einen Arzt in einem größeren Krankenhaus von Burkina Faso auf, der eine Lungenentzündung diagnostizierte. Aissatou bemerkte eine Schwellung der Lymphknoten und mehrere Warzen und Knoten im Bereich der Oberschenkel. Nach einer weiteren Blutuntersuchung wurde von dem Arzt die Diagnose AIDS gestellt und die Medikamente Abacavir und Lamivudin empfohlen, die die Patientin sich aber zum damaligen Zeitpunkt nicht leisten konnte. Da es sich bei der Pneumonie um eine schwere Form der Lungenentzündung handelte, einer Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie (PcP), benötigte Aissatou Pentamidin, ein weiteres teures Medikament, da die bisher eingesetzten Medikamente Cotrimoxacol und Prednisolon nicht ausreichten! Aissatou wurde auf die „Isolationsstation“, die AIDS-Station eines großen Krankenhauses in der Hauptstadt Ouagadougou, verlegt. Nach einer kurzzeitigen Besserung trat wieder hohes Fieber auf, und die Hustenanfälle ließen den geschwächten Körper von Aissatou erzittern. In Anwesenheit einer befreundeten Kollegin und ihrer beiden Kinder verstarb Aissatou an den Folgen von AIDS und der daraufhin aufgetretenen Pneumonie (Wacker 2011).
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18.1.1 Reflexionen aus der Kasuistik Bezüglich der HIV/AIDS-Erkrankung sei an dieser Stelle auf die ausführliche Beschreibung von Camilla Rothe in Kap. 10 (Pandemien) dieses Buches verwiesen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass bis jetzt 36 Mio. Menschen an den Folgen von HIV/AIDS verstorben sind. Sowohl Frauen als auch Männer sind von dieser Erkrankung betroffen. Es ist bekannt, dass HIV-positive und AIDS-kranke Patientinnen, wie in unserer Kasuistik Aissatou, durch eine Vielzahl bakterieller, parasitärer, viraler, mykobakterieller und mykotischer Erreger sowie verschiedene Tumor-Erkrankungen bedroht sind. Der Erreger der vorliegenden Pneumonie Pneumocyatis jiroveci ist ubiquitär verbreitet. Bis auf wenige Ausnahmen erkranken lediglich immunsupprimierte Patientinnen an dieser Form der Pneumonie. Die Symptomtrias der Pneumocystis- jiroveci-Pneumonie besteht aus: Fieber, unproduktivem Husten und progredienter Belastungsdyspnoe. Wie die meisten Patientinnen berichtete auch Aissatou vor Ausbildung dieser Trias über eine zunehmende Abgeschlagenheit und fehlende körperliche Belastbarkeit. Offensichtlich handelt es sich zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits um einen weit fortgeschrittenen Befund, da sich die typischen interstitiellen Infiltrate über die gesamte Lunge ausgebreitet hatten. Im vorliegenden Fall wurde die Behandlung mit einer hochdosierten Gabe von Trimethoprim/ Sulfamethoxazo (20 mg Trimethoprim/kg KG/Tag) begonnen. Da diese Therapie nicht zu einer Besserung des Zustandes beitrug, wurde mit einer intravenösen Behandlung mit Pentamidin (4 mg/kg KG/Tag) die Therapie weitergeführt. Im weiteren Verlauf des stationären Aufenthaltes verstarb die Patientin an den Folgen der Grunderkrankung AIDS. Es war aber im Nachhinein nicht ganz auszuschließen, ob nicht auch Nebenwirkungen der intravenösen Pentamidin-Behandlung wie Hypoglykämien, eine Niereninsuffizienz oder eine Arrhytmie zum qualvollen Tod der Patientin beigetragen haben. Wie oben bereits festgehalten, bemerkte Aissatou eine Schwellung der Lymphknoten und mehrere Warzen und Knoten im Bereich der Oberschenkel. Histologisch wurde das Vorliegen eines Kaposi-Sarkomes gesichert! Das Kaposi-Sarkom ist neben den Non-Hodgkin-Lymphomen die häufigste maligne Neoplasie HIV- Infizierter. Nach Jan van Lunzen bedeutet das Kaposi-Sarkom als gesellschaftliches Stigma nicht nur eine erhebliche seelische Belastung für die Patientinnen. Großflächige, konfluierende Tumormassen mit konsekutiven Lymphödemen, aber auch gastrointestinaler oder pulmonaler Befall kann die Patientinnen vor große körperliche Probleme stellen. Obwohl das Kaposi-Sarkom im Gegensatz zu vielen anderen AIDS-definierten Erkrankungen in jedem Stadium der HIV-Infektion auftreten kann, ist nach van Lunzen und Albrecht der Immundefekt bei den betroffenen Patientinnen meist ausgeprägt. Prädilektionsstellen des Kaposi-Sarkoms sind die ge-
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samte Hautoberfläche mit Betonung der unteren Extremitäten und der orogenitalen Schleimhäute, aber auch Lunge, Gastrointestinaltrakt und, deutlich seltener, das ZNS. Grundsätzlich kann jedes Organ befallen werden. Als erstes fallen kutane Kaposi-Sarkom-Herde zunächst als kleine, rötlich braune oder livide, oft elliptoide Flecken auf. Diese liegen parallel zu den Spaltlinien der Haut und können im Verlauf allmählich, jedoch auch schubweise an Größe und Farbintensität zunehmen. Aissatou starb, bevor die Knoten des Kaposi-Sarkoms ihren Körper und ihr Gesicht verunstalten konnten. Sie blieb ihren Kindern und ihren Freunden als die hübsche Freundin und freundliche Mutter in Erinnerung, die sie im Grunde ihres Herzens immer gewesen war. Als Entwicklungshelfer im Sahel von Burkina Faso war ich immer wieder von der Anteilnahme der Angehörigen am Wohlergehen ihrer kranken Verwandten beeindruckt. Diese Anteilnahme zeigte sich am geduldigen Warten vor der Tür, die in den OP-Saal führte, in der freudigen Erwartung der gerade entbundenen Mutter auf der Wochenstation und in der fürsorglichen Anteilnahme an dem bald sterbenden Familienmitglied. Ich musste diesen treu und fürsorgenden Familien keine Anweisungen geben, sie schienen alles ihnen zu Gebote stehende wie selbstverständlich zu tun. Sie massierten die Beine der „frisch Operierten“, als wollten sie damit eine praktische Thromboseprophylaxe durchführen, sie umschlossen die Hände der Patientinnen, als wollten sie selbst behandeln, und sie fächelten den Sterbenden mit Bastwedeln Luft zu, um deren Atmung zu erleichtern. Ich erlebte in dem einfachen Gebäude unserer Isolationsstation im CHR Dori eindrückliche „Traditionelle Palliativmedizin“ auf höchstem menschlischen Niveau, ich konnte nur zuschauen, bewundern und lernen! Auch als ich selbst Patient mit einem Anfall von Malaria tropica in Dori war, vor Erschöpfung und hohem Fieber nicht aufstehen konnte, von dem Gefühl immer mehr überwältigt wurde, bald sterben zu müssen, kam ich neben der Injektion von Quinimax (Chinin) in den Genuß dieser traditionellen afrikanischen Palliativmedizin. Ich wurde behandelt, berührt und meine heiße Stirn mit kostbarem, kaltem Wasser benetzt. „Fühlt sich der Tod so sanft an?“, fragte ich mich.
18.2 Entwicklung der Hospizbewegung und der Palliativmedizin Cicely Saunders und Elisabeth Kübler-Ross gelten als die Begründerinnen der modernen Hospizbewegung und der Palliativmedizin! In ihrem lesenswerten Artikel „Eine Lebensreise im Bereich der Therapie“ schildert Cicely Saunders eindrücklich die Entwicklung der modernen, medikamentösen Therapie. „Als ich 1941 im St. Thomas’s Hospital als Stationsschwester arbeitete, hatten wir damals eine sehr beschränkte Auswahl an Medikamenten, welche mit der Zeit Sulfonamide einschloss, aber keine anderen Antibiotika und nur wenige andere
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Mittel (Saunders 1996).“ Nach ihrer Ausbildung in Sozialarbeit in Oxford wirkte Cicely Saunders von 1947–1957 als medizinische Sozialarbeiterin am St. Thomas Hospital in London. Daneben arbeitete sie ab 1948 ein bis zweimal pro Woche ehrenamtlich im St. Luke’s Hospital in London. Dieses Krankenhaus war eines der wenigen, das sich auf unheilbar Kranke spezialisiert hatte. Es stellte damals 48 Betten für Menschen bereit, die schwer an Krebs erkrankt waren. „In St. Luke’s“ ließ man das Cannabis und auch das Kokain weg. Außerdem wurde dort die Morphium- Dosis den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten angepasst (Saunders 1996). Von 1951 bis 1957 studierte Saunders Medizin und arbeitete erneut im St. Thomas’s Hospital. „Damals tauchten revolutionäre neue Medikamente auf, mit denen man Symptome besser behandeln konnte. Als ich im Oktober 1958 im St. Joseph’s Hospice zu arbeiten begann, waren die ersten Pheneothiazine, Antidepressiva, Benzodiazepine, synthetische Steroide, und die nicht-steroidalen entzündungshemmenden Medikamente schon alle im Einsatz“ (Saunders 1996). Begleitend zu ihrer klinischen Tätigkeit im St. Joseph’s Hospital beschäftigte sich Saunders mit Forschung im Bereich der Schmerzbehandlung und Palliativ Care. 1960 formulierte Cicely Saunders die ersten Grundsatzpapiere zur Einrichtung eines Hospizes. Am 14. Juli 1967 wurde das St. Christopher’s Hospiz in London mit Forschungsabteilung eröffnet. 1969 richtete Saunders einen ambulanten Hospizdienst ein. Cicely Saunders starb am 14. Juli 2005, 87 Jahre alt, genau 38 Jahre nach der Eröffnung ihres Hospizes. Unvergessen bleibt ihr Einsatz für die Hospizbewegung und die Palliativmedizin und ganz besonders gelten ihre Zitate und Ratschläge immer noch für die heutige Praxis der Palliativmedizin: „Hospizarbeit und Palliative Care umfasst alles, was mit dem Verstand zusammenhängt – den gesamten wissenschaftlichen Anspruch, das Experimentieren, das Forschen und das Studieren. All das muss aber immer mit einer Freundschaft des Herzens verbunden sein – mit einer individuellen und persönlichen Fürsorge und Beziehung“. (Cicely Saunders 2009) „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“.
18.3 Grundsätze und Ziele der Palliativmedizin Was ist das Ziel einer Medizin, die Krankheiten nicht mehr besiegen, aber dem Menschen trotzdem helfen kann? 1. Körperliche Nähe 2. Der Arzt als Schüler 3. Antworten auf Fragen 4. Behandeln von Beschwerden 5. Der Arzt als Teil der Familie
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18.3.1 Körperliche Nähe Es gilt als „Old school“, wenn der Chefarzt die gut 40 Patientinnen im Laufe einer Chefarztvisite per Handschlag begrüßt. Natürlich gelten in Zeiten der Pandemie andere Hygieneregeln, aber irgendwann ist auch eine Corona-Pandemie vorüber! Was spricht dann dagegen, Patientinnen per Handschlag zu begrüßen, die Hände zu desinfizieren und einige wichtige Worte zu wechseln? Hygiene und Humanität schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander! Wir haben im klinischen Regelbetrieb nicht die Zeit, jeder Patientin so viel Zeit zu widmen, wie sie braucht oder zu benötigen meint. Unsere Aufgabe ist es, zu erkennen, welche Patientinnen mehr Gesprächsbedarf, mehr Zuwendung benötigen.
18.3.2 Der Arzt als Schüler Elisabeth Kübler-Ross wies schon sehr früh in ihrem Aufsatz von 1966 „The dying patient as teacher“ darauf hin, dass wir Pflegende und Ärzte sehr viel von unseren Lehrern, den Patientinnen, lernen können. Es scheint so, als hätten Sterbende einen klareren Blick für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens, oder sie lassen sich nicht so sehr von Äußerlichkeiten ablenken! Oder trauen sich Sterbende eher, einem die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, auch auf die Gefahr hin, den anderen damit zu verletzen? Oft haben Sterbende ein Gespür dafür, wann sie sterben werden. Wir Pflegende und Ärzte kennen theoretisch die vier Lebensphasen in der Palliativmedizin: Rehabilitationsphase – Präterminalphase – Terminalphase – Finalphase
Die Prognose für die letzte Finalphase lautet: einige Stunden bis ein Tag – „die letzten Stunden“. Ingeborg Jonen-Thielemann beschreibt in ihrem Kapitel „Terminalphase“ die Aktivität von Sterbenden in der Finalphase wie folgt: „Zustand in extremis, Mensch liegt im Sterben, Bewusstsein nicht auf Außenwelt gerichtet. Wie oft wähnten wir bettlägerige Patientinnen, die sich in sich selbst zurückgezogen hatten, in dieser finalen Phase, die oft mehrere Tage und gelegentlich auch ein oder zwei Wochen anhielt. Es scheint, als hätten wir Pflegende und Ärzte, aber auch die Patientinnen mit ihren Angehörigen das Gefühl für den nahenden Tod verloren. Wir müssen wieder lernen, die Natur und den Menschen zu beobachten und zu begreifen, dass Natur und Mensch sich gegenseitig beeinflussen.
18.3.3 Antworten auf Fragen „Werde ich Weihnachten noch bei meiner Familie sein?“, fragten mich im Laufe meiner ärztlichen Tätigkeit mehrere Patientinnen. Als junger Arzt rang ich mit mir, ob ich eine entsprechende Prognose über die voraussichtliche Lebensdauer abgeben
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solle. Mit den Jahren verstand ich die in der Frage der Patientin enthaltene Botschaft: „Ich möchte meine Familie wiedersehen, egal ob an Weihnachten oder an Ostern. Ich möchte mich von allen verabschieden!“ Auch der Sterbende sehnt sich nach Zuwendung, Liebe und Zärtlichkeit. Die meisten an uns gestellten Fragen zielen darauf, diese menschlichen Bedürfnisse zu erhalten. Wir dürfen dieses Nachfragen der Patientinnen nach Menschlichkeit nicht unbeantwortet lassen!
18.3.4 Behandeln von Beschwerden Atemnot (Dyspnoe) • Es gibt vielfältige Ursachen, die zu dem Symptom Atemnot führen: Lungenerkrankungen, kardiale Ursachen, neuromuskuläre Erkrankungen • Sonstige Ursachen: Anämie, Fieber, Schmerz, Angst, Rippenfrakturen, Aszites, Hepatosplenomegalie Bei kausal nicht behandelbarer Atemnot stützt sich das palliative Vorgehen auf zwei Konzepte (Watzke 2017): • die Beeinflussung der emotional-psychischen Folgen der Dyspnoe durch Coping- Strategien und • die Beeinflussung der Wahrnehmung der Dyspnoe im Bereich der Rezeptoren in Thoraxwand und Gehirn durch Opioide. Opioide haben einen wissenschaftlich nachgewiesenen lindernden Effekt auf Dyspnoe. Der Mechanismus beruht sehr wahrscheinlich auf der Besetzung von Opioidrezeptoren in Thoraxwand, Lungengewebe und Gehirn und hat mit einem oft behaupteten sedierenden Effekt von Opioiden nichts zu tun (Zebraski et al. 2000).
Opioiddosierung bei Atemnot (Watzke 2017)
Opioid naive Patienten: • Beginn mit oralem Morphin (oder Äquivalent) 2,5–5 mg • Zeit bis zur maximalen Opioidwirkung abwarten • Bei unzureichender Wirkung: Dosis wiederholen oder Dosis um 25–50 % erhöhen • Tagesdosis ermitteln und auf ein langwirksames Opioid umstellen • 5–15 % der Tagesdosis – stündlich bei Bedarf – als Therapie der Durchbruchsatemnot vorsehen Patienten bereits unter Opioiden: • Erhöhung der Opioiddosis um 25 %
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J. Wacker
Systemische medikamentöse Schmerztherapie Die Richtlinien der WHO zur Tumorschmerztherapie empfehlen nach sorgfältiger Anamnese, Untersuchung und Festlegung der Schmerzdiagnose eine medikamentöse, möglichst orale Schmerztherapie. Diese Empfehlungen wurden von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft bestätigt (WHO 1996). Abb. 18.1 zeigt das Stufenschema der WHO. Die wichtigsten Grundlagen der medikamentösen Schmerztherapie an das WHO-Stufenschema sind: • So einfach als möglich – vorzugsweise orale Gabe der Analgetika • Regelmäßige Einnahme nach festem Zeitschema, bevor erneut Schmerzen auftreten • Individuelle Dosierung • Kontrollierte Dosisanpassung • Prophylaxe von Nebenwirkungen durch Begleitmedikation Durch die konsequente Anwendung des 1986 erstmals empfohlenen 3-Stufenschemas der WHO lässt sich nach Nauck und Radbruch bei 75–90 % der Patientinnen mit Tumorschmerzen eine Reduktion der Schmerzen auf ein erträgliches Maß und somit eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität erzielen. Fieber und Infektionen Die Inzidenz von Fieber liegt bei Palliativpatienten zwischen 26 und 78 % und damit in der Häufigkeit noch vor der Dyspnoe. Fieber kann ein subjektiv und objektiv belastendes Symptom sein. Ein Temperaturanstieg führt zu Schüttelfrost und ein Temperaturabfall zu Schweißausbrüchen, allgemeiner Schwäche, Verwirrtheit und Benommenheit. Die folgenden Faktoren begünstigen das Auftreten von Infektionen bei Palliativpatientinnen: Gestörtes zelluläres Immunsystem, gestörtes humorales Immunsystem, Mangelernährung/Kachexie, defekte Hautbarrieren (Dekubitalulzera), Aszites/Pleuraer-
Stufe III
Stufe II
Stufe I NSAR Paracetamol Metamizol
Schwache Opioide (z.B. Tramadol etc.)
Starke Opioide (z.B. Morphin etc.)
Das WHO-Stufenschema (1986) Kombination von Stufe I + III
Kombination von Stufe I + II
Beginn mit Stufe I
Abb. 18.1 Medikamentöse Schmerztherapie – Das WHO-Stufenschema. (Aus: Husebo und Mathis 2017)
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güsse, Bettlägerigkeit/Immobilisation, Fremdkörper (Blasenkatheter, Portsysteme), Verdrängung der normaler Körperflora nach Antibiotikagabe. Grundsätzlich sollte bei der therapeutischen Entscheidung eine kausale Therapie mit einem antimikrobiellen Medikament angestrebt werden. Im Rahmen einer prospektiven Untersuchung über die Anwendung einer antimikrobiellen Behandlung stellten White et al fest, dass nur 21 % der Palliativpatienten sich für eine empfohlene antimikrobielle Behandlung entschieden. 31 % der Palliativpatienten lehnten eine antimikrobielle Untersuchung grundsätzlich ab. 48 % stimmten einer antimikrobiellen Behandlung nur zu, wenn durch die Infektion bedingte Symptome auftreten sollten. Es gilt, den oft dezidiert geäußerten Wunsch der Palliativpatienten nach Verzicht auf eine antimikrobielle Behandlung zu akzeptieren. Es gilt, sich an den Wünschen der Patienten zu orientieren, denn Fieber oder Schwitzen werden individuell sehr unterschiedlich als Belastung wahrgenommen. Die folgenden Basismaßnahmen haben sich bewährt: • Ausreichende Flüssigkeitszufuhr, pflegerische-physikalische Maßnahmen wie Kühlung der Leisten, Unterarme und Unterschenkel, sowie Waschungen mit Salbeitee. • Einsatz Nichtsteroidaler Antiphlogistika wie: Metamizol, Paracetamol und Glukokortikoide zur Coupierung febriler Zustände. • Das Neuroleptikum Chlorpromazin kann die Körpertemperatur sowohl bei Fieber als auch bei normaler Temperatur senken. • Medikamenteninduziertes Fieber und Schüttelfrost lassen sich in der Regel wirksam mit Pethidin behandeln. • Eine subjektiv störende leichte bis mittlere Schweißneigung kann erfolgreich mit Salbeiextrakt (Sweatosan N) behandelt werden.
18.3.5 Der Arzt als Teil der Familie Ruthmareike Smeding und Eberhard Aulbert beschreiben in dem Kapitel Trauer und Trauerbegleitung das Aufgabenorientierte Modell des Trauerprozesses nach JW Worden: I. Aufgabe: Die Realität des Verlustes akzeptieren II. Aufgabe: Den Trauerschmerz erfahren und durcharbeiten III. Aufgabe: Sich einer Umgebung anpassen, in der der Verstorbene fehlt IV. Aufgabe: Dem Verstorbenen emotional einen neuen Platz zuweisen und das eigene Leben wieder aufnehmen Da laut Smeding und Aulbert die empirische Forschung das Auftreten und die Abfolge der beschriebenen Phasen nicht generell bestätigen konnte, und andererseits die Umsetzung dieser Modelle in praktisch anwendbare Behandlungsstrategien nicht gelang, wurden diese Stufen- oder Phasenmodelle weitgehend verlassen. An deren Stelle traten Modelle ohne jede sequenzielle oder lineare Vorstellung des
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Ablaufes von Trauer, die eine mehr nach Komponenten gegliederte Struktur des Trauerprozesses bevorzugen (Smeding und Aulbert 2012). In dieser Trauergemeinschaft der Hinterbliebenen wird der Arzt zum Seelsorger, zum „pater familias“, der mittrauert und tröstet.
18.4 Palliativmedizin im Pflegeheim oder unterm Palmenhain (Wie weltweit alte, schwer kranke Menschen leben und sterben) Im Gegensatz zu den hohen Geburtenraten in armen Ländern weisen die reichen Länder eine niedrige Geburtenrate, aber einen dafür deutlich höheren Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung auf. Laut den Angaben im Atlas der Globalisierung liegt der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahren in Deutschland, Italien und Japan bei mehr als 21 % der Gesamtbevölkerung, wohingegen in den meisten Ländern Afrikas deutlich weniger als 5 % der Bevölkerung älter als 65 Jahre sind (Klingholz 2019)! Die frühere Annahme des „lebenssatten Menschen, der symptomarm und ohne lebensbedrohliche Erkrankung keiner palliativmedizinischen Betreuung bedürfe“ scheint weitgehend widerlegt (Husebo-Sandgathe und Husebo 2001). „Warum mußte Vater (und Mutter) unnötig und unendlich leiden?“ Glauben wir, dass Patienten mit Demenz keine Schmerzen haben, weil sie Schmerzen nicht beschreiben können, beschrieb eine erfahrene britische Ärztin (Ascolon 1998). Auf folgende Kriterien für Schmerzen und Unbehagen ist bei sterbenden Personen mit Demenz zu achten (Husebo-Sandgathe und Husebo 2017): • • • • • •
Rasche oberflächliche Atmung und rascher Puls Angespannter Ausdruck im Gesicht Unkontrolliertes Stöhnen und Rufen Unruhe in bestimmten Stellungen Abwehrreaktionen Verstärkung dieser Reaktionen während der Pflege oder unter Bewegungen
Die ersten Palliativstationen waren vorwiegend für Patienten mit fortgeschrittenem Krebsleiden eingerichtet worden. Viele Krebsleiden sind heute heilbar oder zumindest länger beherrschbar. Bei der Behandlung betagter onkologischer Patienten wird in der Klinikroutine gelegentlich vergessen, dass im Bereich der Onkologie schon immer palliative Therapien durchgeführt wurden! ▶▶
Das Unwort „austherapiert“ hat „ausgedient!“
Vor Jahrzehnten wurde Supportive Care fast zeitgleich mit den ersten erfolgreichen Chemotherapien eingeführt. Als Voraussetzung für gute Studien gilt best supportive care, deren Ziele sind (Mathis 2017):
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• Verbesserung der Voraussetzung für die Durchführbarkeit onkologischer Therapien • Verminderung des Auftretens von unerwünschten Nebenwirkungen von potenziell toxischen Therapien • Erhalt oder Steigerung der Lebensqualität der Patienten • Linderung krankheitsbedingter Symptome • Prognostische Verbesserung der Behandlungsergebnisse Während in einigen Ländern Europas die Hälfte der Bevölkerung in Pflegeheimen stirbt (Husebo 2017), ist dies in den Ländern Afrikas die Ausnahme, zumal es dort nur wenige Pflegeheime gibt. Dies liegt nicht nur an dem oben bereits erwähnten deutlich niedrigeren Anteil der Menschen über 65 Jahren, sondern vor allem an der Bereitschaft der afrikanischen Großfamilie, die Mutter und den Vater zu Hause, auch im Freien „im heiligen Palmenhain“ des Dorfes zu betreuen. Es gibt dazu noch keine uns vorliegenden Untersuchungen über die wirkliche Lebensrealität der alten Menschen in Afrika, aber der zugegeben subjektive Eindruck eines ehemaligen Entwicklungshelfers erinnert alte, mit sich zufriedene Frauen und Männer, die – vor der Hütte unter Palmen oder unter dem Baobab sitzend – ein Schwätzchen halten. Diejenigen alten Patientinnen und Patienten, denen wir im CHR Dori nicht mehr helfen konnten, ahnten in der Regel den nahen Tod und ließen die Angehörigen zu sich kommen. Unsere primitive Palliativstation bestand aus einem größeren Zimmer, in dem die Familie von ihren alten Eltern und Großeltern Abschied nehmen konnten. Aufgrund der Abgeschiedenheit und der dadurch bedingten großen Wegstrecken zu den einzelnen Dörfern in der Provinz Seno war ein Transport für die schwer kranken Patienten unmöglich. Die Angehörigen der Patienten wussten das und wichen in dieser Situation nicht mehr vom Sterbebett ihrer Mütter und Väter. Sie fächelten in der beinahe immer vorherrschenden großen Hitze den Sterbenden kühlende Luft zu und berührten deren Arme und Beine. Wir brauchten auf unserer primitiven Palliativstation weder Klimageräte noch Physiotherapeuten! Die Zuwendung und Behandlung unserer „Palliativpatienten“ lag in der Obhut der Familie, und deren praktizierte Liebe zu dem sterbenden Familienmitglied war die einzige uns mögliche Therapie, unsere Form von „Primitive Palliative Care“! Können wir Demut, den Einklang mit der Natur und die Ergebenheit in das Schicksal des Alterns von diesen weisen Frauen und Männern in den afrikanischen Dörfern lernen? Wie im Kap. 15 (Auswirkungen der modernen Geburtshilfe auf die Entwicklung des Menschen am Beispiel der vorzeitigen Beendigung der Schwangerschaft) gezeigt, haben wir als Geburtshelfer bei unserer Tätigkeit in Afrika als Tropical Doctor vieles gelernt und wissenschaftlich untersucht. Ich bin überzeugt, dass wir auch auf dem Gebiet der Palliativmedizin noch vieles lernen und bei uns anwenden können! Auf einem unserer Streifzüge, zwischen 1986 und 1988, durch den Sahel, zwischen Markoye und Tin-a-Koff, am Ufer des Beli, einem Nebenfluss des Niger, im Norden von Burkina Faso trafen wir Abou, den Touareg, der uns zum Tee- Zeremoniell vor seinem Zelt einlud. Er kochte die verzierte Teekanne aus Zinn drei
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Mal mit dem Holzkohle-Stövchen auf, um danach den heißen Tee aus großer Höhe in die bereit stehenden Teegläser zu füllen. Dabei erklärte er uns, für welche Lebensphasen die einzelnen Teeaufgüsse stehen: Das erste Glas ist bitter wie das Leben, das zweite süß wie die Liebe und das dritte sanft wie der Tod. Tuareg – Tee-Weisheit aus Afrika
Versuch, auf die fünf Eingangsfragen zu antworten
1. Wir wissen, dass für eine gesunde Schwangerschaft und ein gesundes Kind bereits die Gesundheit der Eltern bei der Zeugung des Kindes und selbstverständlich während der gesamten Schwangerschaft eine gesunde Lebensführung wichtige Voraussetzungen für eine gute und gesunde Entwicklung des Kindes sind. 2. „Austherapiert hat ausgedient“! Wir dürfen nie Hoffnungen enttäuschen, aber andererseits auch keine falschen Hoffnungen wecken! Das wichtigste Prinzip bei jeder Form von Behandlung ist, das Vertrauen der Patienten zu gewinnen und zu erhalten! 3. Cicely Saunders und Abert Schweitzer sprechen sich aus Erfurcht vor dem Leben gegen jede Form von Sterbehilfe aus. Ich kann deren Einstellung nur teilen, im Wissen, dass die moderne Palliativmedizin den Patienten helfen kann, schlimme Symptome ihrer jeweiligen schweren Erkrankung, bis auf wenige Ausnahmen, zu lindern und meist auch zu beherrschen. 4. Wenn ein Arzt zu einem lebensbedrohlichen Notfall eines ihm unbekannten Patienten gerufen wird, muss er handeln und den Patienten bei Bedarf auch reanimieren! Das gilt nicht, wenn der Patient vor Auftreten des medizinischen Notfalles ausdrücklich, schriftlich oder dem behandelnden Arzt glaubhaft mitgeteilt hat, dass er keine intensivmedizinischen, eventuell das Leben rettenden Maßnahmen, auch im Notfall, wünscht! 5. Was bedeutet für die moderne, globale Medizin der ethische Grundsatz von Albert Schweitzer: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will!“ Dieses Zitat von Albert Schweitzer gilt unverändert weiter und ist für mich die moderne Ergänzung zum alten Eid des Hippokrates! Inmitten steht inzwischen für die gesamte Menschheit auf unserer Erde. Globale gendergerechte Gesundheit beruht auf der Tatsache, dass der einzelne Mensch, das einzelne Volk und der einzelne Kontinent begreift, dass es uns selbst nicht gut gehen kann, wenn der Nachbar krank, das andere Volk der Ukraine durch einen Angriffskrieg überfallen wird und der benachbarte Kontinent Afrika weiterhin in Armut und wirtschaftlicher Abhängigkeit lebt!
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Literatur Ascolon CM (1998) Why? Pall Med 12:195–196 Husebo S, Mathis G (2017) Palliativmedizin, 6. Aufl. Springer, Heidelberg Husebo-Sandgathe B, Husebo S (2001) Palliativmedizin – auch im hohen Alter? Der Schmerz 5:350–357 Husebo-Sandgathe B, Husebo S (2017) Palliativmedizin im Pflegeheim – wie alte, schwer kranke Menschen leben und sterben. In: Husebo S, Mathis G (Hrsg) Palliativmedizin, 6. Aufl. Springer, Heidelberg Klingholz R (2019) Alternde Gesellschaften. In: Mahlke S (Hrsg) Atlas der Globalisierung. Welt in Bewegung Le Monde diplomatique, Paris S 52 Mathis G (2017) Palliative Onkologie – Möglichkeiten und Herausforderungen. In: Husebo S, Mathis G (Hrsg) Palliativmedizin, 6. Aufl. Springer, Heidelberg Saunders C (1996) A personal therapeutic journey. BMJ 313:1599–1601 Smeding R Aulberg E (2012) Trauer in der Palliativmedizin. In Aulbert, Nauck und Radbruch: Lehrbuch der Palliativmedizin S 1173–1188. Schattauer, Stuttgart Wacker J (2011) Isaaks Schwestern. Westkreuz, Berlin/Bonn, S 161 ff Watzke H (2017) Symptomkontrolle. In: Husebo S, Mathis G (Hrsg) Palliativmedizin, 6. Aufl. Springer, Heidelberg World Health Organization (1996) Cancer pain relief: with a guide to opioid availability, 2. Aufl. World Health Organization, Genf Zebraski SE, Kochenash SM, Raffa RB (2000) Lung opioid receptors pharmacology and possible target for nebulized morphine in dyspnoe. Lif Sci 66:2221–2231
Weiterführende Literatur Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (2007) Empfehlungen zur Therapie von Tumorschmerzen. Arzneiverordnung in der Praxis. 3. Aufl. Berlin, Deutscher Ärzte Verlag Aulbert E, Nauck F, Radbruch L (2012) Lehrbuch der Palliativmedizin, 3., Akt. Aufl. Schattauer, Stuttgart Bugen LA (1977) Human grief: a model for prediction and intervention. Am J Orthopsychiatry 2:196–206 Clemens KE und Klaschik E (2012) Respiratorische Symptome S 366–383. In Aulbert, Nauck und Radbruch: Lehrbuch der Palliativmedizin, Schattauer, Stuttgart, S 1173–1188 Jonen-Thielemann I (2012) Sterbephase in der Palliativmedizin, S 989–997. In Aulbert, Nauck und Radbruch: Lehrbuch der Palliativmedizin, Schattauer, Stuttgart, S 1173–1188 Klaschik E (2003) Schmerztherapie und Symptomkontrolle in der Palliativmedizin. In: Husebo S, Klaschik E (Hrsg) Palliativmedizin, 3. Aufl. Springer, Heidelberg, S 256–259 Kübler-Ross E (1969a) The dying patient as teacher. Chikago Theol Register 3:1–14 Kübler-Ross E (1969b) Interviews mit Sterbenden. Kreuz, Stuttgart Lunzen J, Albrecht H (2012) Erworbene Immunschwäche (AIDS): Therapie opportunistischer Erkrankungen in Aulbert, Nauck und Radbruch: Lehrbuch der Palliativmedizin, Schattauer Verlag Stuttgart, S 710–737 Mahlke S (2019) Atlas der Globalisierung; Welt in Bewegung. Le Monde diplomatique Morita T, Tsunoda J, Inoue S, Chihara S (1999) Contributing factors to physical symptoms in terminally ill cancer patients. J Pain Symptom Manage 18:338–346 Nauck F Radbruch L (2012) Systemische medikamentöse Schmerztherapie, S 175–207. In Aulbert, Nauck und Radbruch: Lehrbuch der Palliativmedizin, Schattauer, Stuttgart, S 1173–1188
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J. Wacker
Peters U, Maschmeyer G (2012) Fieber und Infektionen. S 410–418. In Aulbert, Nauck und Radbruch: Lehrbuch der Palliativmedizin, Schattauer, Stuttgart, S 1173–1188 Saunders C (2009) Sterben und Leben; Spititualität in der Palliative Care; Theologischer, Zürich; Übersetzung der englischen Originalausgabe von 2003: „Watch with me – inspiration for a life in hospice care” Mortal press White PH, Kuhlenschmidt HL, Vancura BG, Navarin RM (2003) Antimicrobial use in patients with advanced cancer receiving hospice care. J Pain Symptome Manage 25:438–443 Worden JW (2009) Grief counseling and grief therapy, 4. Aufl. Routledge, London
Erstellen von Leitlinien für arme und reiche Länder – was ist unverzichtbar?
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Rosemarie Burian, Eva J. Kantelhardt und Jürgen Wacker
Inhaltsverzeichnis 19.1 D efinition und Abgrenzung 19.2 Leitlinienentwicklung 19.2.1 Initiative und Vorbereitung 19.2.2 Sichtung und Beurteilung der Evidenz 19.2.3 Entscheidungsfindung und Formulierung der Leitlinien 19.3 Verbreitung und Umsetzung von Leitlinien 19.4 Synopsis der Leitlinien zum Thema hypertensive Erkrankungen in der Schwangerschaft des deutschsprachigen Raums, des zentralafrikanischen Landes Kamerun und der WHO 19.5 Zusammenfassung 19.6 Ressourcen – nützliche Weblinks Literatur
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R. Burian (*) Basel, Schweiz E. J. Kantelhardt Global & Planetary Health AG; Klinik und Poliklinik für Gynäkologie, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitätsklinikum Halle (Saale), Halle (Saale), Deutschland e-mail: [email protected] J. Wacker ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik Bruchsal, Bruchsal, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2_19
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Eingangsfragen
1. Was unterscheidet Leitlinien von Richtlinien? A. Es gibt keinen Unterschied, die Begriffe meinen beide das Gleiche und können wechselseitig benutzt werden. B. Richtlinien sind ein Richtwert, nach dem man sich richten kann; Leitlinien leiten einen Prozess und müssen befolgt werden. C. Leitlinien sind medizinische Entscheidungshilfen, von denen abgewichen werden darf, Richtlinien sind gesetzlich bindend. 2. Für welche Zielgruppen werden Leitlinien geschrieben? A. Für Privatpersonen B. Für Nichtregierungsorganisationen C. Für medizinische Berufsgruppen und politische Entscheidungsträger im Gesundheitswesen 3. Was ist bei der Erstellung von Leitlinien unverzichtbar? A. Von Anfang an die Zielgruppe und ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen und in den Entscheidungsprozess zu integrieren B. Eminenz wird höher bewertet als Evidenz C. Neben der transparenten und systematischen Erstellung gehört auch die Implementierung und kontinuierliche Evaluation zum Erstellungsprozess von Leitlinien Leitlinien haben in den letzten drei Jahrzenten in ihrer Bedeutung und in ihrer Anzahl weltweit kontinuierlich zugenommen. Entwickelt für die meist ärztliche Entscheidungsfindung in spezifischen klinischen Situationen, haben sie inzwischen sowohl klinische als auch gesundheitspolitische Bedeutung erlangt. Im deutschsprachigen Raum orientieren sich an diesen die Disease-Management-Programme z. B. für Brustkrebspatientinnen sowie das bundesweite Zertifizierungsverfahren der Brustzentren der deutschen Krebsgesellschaft (Nothacker et al. 2014). Im globalen Setting bieten die Leitlinien eine Grundlage für eine ökonomisch realistische und nachhaltige Planung für die für das jeweilige Krankheitsspektrum erforderlichen Infrastrukturen, Medikamente, Verbrauchsmaterialien und Personal. Gut und systematisch entwickelte Leitlinien beinhalten Informationen und Entscheidungshilfen, bieten wertvolle Kommunikationshilfen im Dialog mit den Patientinnen und erhöhen die Entscheidungstransparenz. Für die hierfür erforderlichen hochwertigen, allgemein akzeptierten und gut zugänglichen Leitlinien gehört zur Entwicklung daher auch immer ein Plan zu deren Implementierung und fortlaufender Evaluation. Unverzichtbar im Hinblick auf die spätere Implementierung ist daher neben einer rigorosen Methodik die frühe Einbeziehung der Zielgruppen: bei nationalen Leitlinien die Einbeziehung der verschiedenen Berufsgruppen und Patientenvertreter, bei internationalen Leitlinien die Einbeziehung der Vertreter der verschiedenen Länder und Regionen und der jeweils für die Implementierung relevanten Nichtregierungsorganisationen. In Deutschland hat sich die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), mit derzeit über 179 verschiedene Fachgesell-
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schaften der Medizin, als Forum für Leitlinien etabliert (MacDonald et al. 1985). Sie ist seit 1992 mit dem Ziel der Qualitätsverbesserung der klinischen Praxis und Forschung in der Leitlinienarbeit tätig. Auf ihrer Webseite sind derzeit über 805 Leitlinien der verschiedenen Fachgesellschaften publiziert. Hier ist auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, die DGGG, seit 1998 mit einer eigenen Leitlinienkommission vertreten, die die Qualität der Leitlinienentwicklung vorantreiben und eine Abstimmung mit den Empfehlungen der AWMF gewährleisten soll. Seit 2015 ist dies eine länderübergreifende Leitlinienkommission mit Vertretern der österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der OEGGG, und der schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der SGGG. Das Institute of Medicine (IOM), seit 2015 National Academy of Medicine, eine US-amerikanische Einrichtung, veröffentlichte in demselben Jahr, in dem die AWMF ihre Leitlinienarbeit aufnahm, ihre clinical practice guidelines (Field und Lohr 1992). Damals bereits empfahl das IOM, neben den klinischen Empfehlungen auch deren Kostenrelevanz anzugeben. Diese Empfehlung erhält im globalen Kontext eine besondere Relevanz, wenn es neben dem klinisch Möglichen auch um das im jeweiligen Länderkontext finanziell Machbare und Sinnvolle geht und die Leitlinien neben der klinischen Entscheidungsfindung auch den Ministerien für Gesundheit und Finanzen als Entscheidungsinstrument dienen. Im Jahr 2016 wurde „The African Cancer Coalition (ACC)“ gegründet, um als regionale Kooperation von 12 afrikanischen Ländern onkologische Leitlinien für die afrikanischen Länder südlich der Sahara zu verfassen (Mutebi et al. 2020). Entstanden sind die Leitlinien in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen National Comprehensive Cancer Network (NCCN) unter Berücksichtigung der örtlichen Bedürfnisse und des für die Regionen typischen Vorerkrankungsspektrums (Anderson 2020). Im August 2020 wurden auf der NCCN Internetseite 46 NCNN Harmonized Guidelines für Subsaharan Africa (SSA) veröffentlicht, die inzwischen alle ausnahmslos aktualisiert worden sind. Neben diesem Projekt wurden 2018 auch sieben onkologische NCCN Harmonized Guidelines für die Karibik veröffentlicht, die die Bedürfnisse und Ressourcen dieser Region berücksichtigen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verfasst und veröffentlicht seit Jahrzehnten Leitlinien zu weltweit medizinisch relevanten Themen. Manche Leitlinien werden von den WHO-Regionalbüros für die jeweilige Region verfasst, z. B. die beiden EMRO (Regional Office for the Eastern Mediterranean) Leitlinien zum Thema Mammakarzinom (WHO EMRO 2006); andere wie die aus dem Jahr 2018 stammende Leitlinie zur „Betreuung einer normalen Geburt für eine positive Geburtserfahrung“ sind explizit nicht für spezifische Länder oder Regionen geschrieben, sondern für die weltweite Anwendung konzipiert (WHO 2018a, b). Dieses Kapitel erläutert zunächst den Begriff der Leitlinie und den Prozess der Leitlinienentwicklung anhand der von der deutschen AWMF, des US-amerikanischen NCCN und der WHO genutzten Instrumente und hilft so, einen Einblick in die Methodik der Leitlinienentwicklung und -beurteilung zu gewinnen. Den globalen Aspekt veranschaulicht eine Synopsis dreier Leitlinien zum Thema „Hypertensive Erkrankungen in der Schwangerschaft“: der gemeinschaftlichen des deutschsprachigen Raums, der DGGG, OEGGG und der SGGG, der länderspezifi-
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schen Leitlinie aus Kamerun und der drei zu diesem Thema für den weltweiten Einsatz verfassten Leitlinien der WHO: Prävention und Therapie von Präeklampsie und Eklampsie; medikamentöse Therapie des schweren Bluthochdrucks in der Schwangerschaft und medikamentöse Therapie des nicht schwerem Bluthochdrucks in der Schwangerschaft.
19.1 Definition und Abgrenzung Leitlinie Leitlinien („guidelines“) werden systematisch entwickelt und unterstützen die Entscheidungsfindung von Ärzten und Patientinnen zur angemessenen Vorgehensweise bei konkreten Gesundheitsproblemen und die Entscheidungsträger im Gesundheits- und Finanzsektor bei der Bereitstellung und Finanzierung der erforderlichen Infrastruktur. ▶▶
Leitlinien unterstützen alle an der medizinischen Behandlung beteiligten Berufsgruppen und die Patientinnen bei Entscheidungen in spezifischen Situationen der Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge. Sie beschleunigen so u. a. den Transfer der bestverfügbaren Evidenz in den Versorgungsalltag und fördern die Transparenz medizinischer Entscheidungen. Entwickelt werden sie, indem zu speziellen Fragestellungen Wissen aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen und unter Berücksichtigung vorhandener Ressourcen gewertet wird. Die Identifizierung von Interessenskonflikten, die Diskussion gegensätzlicher Standpunkte und besonderer situativer Erfordernisse sind wichtige Bestandteile dieses Prozesses. AWMF-Leitlinien werden in drei Entwicklungsstufen eingeteilt (Tab. 19.1). Nur Stufe-3-Leitlinien gelten als evidenzbasiert. Die folgende Tab. 19.1 zeigt die Entwicklungsstufen von Leitlinien. ▶▶
Wichtig Leitlinien werden erstellt und publiziert von medizinischen
Fachgesellschaften und nicht vom Gesetzgeber. Sie entbinden nicht von der Überprüfung der individuellen Anwendbarkeit im konkreten Fall.
Tab. 19.1 Entwicklungsstufen von Leitlinien. (Stufenschema nach AWMF-Regelwerk) Stufe Stufe 3
Stufe 2 S2e S2k
Stufe 1
Kennzeichen Evidenz- und konsensbasierte Leitlinie mit allen Elementen der systematischen Entwicklung (Logik/klinische Algorithmen, repräsentatives Gremium, systematische Recherche, Auswahl und Bewertung der Literatur, strukturierte Konsensusfindung) Konstrukte von systematischen Konsensusprozessen Evidenzbasierte Leitlinie durch eine systematische Recherche, Auswahl und Bewertung von Literatur Konsensbasierte Leitlinie durch ein repräsentatives Gremium, strukturierte Konsensfindung Handlungsempfehlungen von Expertengruppen
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Sie sind rechtlich nicht verbindlich, sondern dienen als Entscheidungshilfen, von denen in begründeten Fällen nicht nur abgewichen werden kann, sondern sogar muss. Dies unterscheidet sie von Richtlinien, die vom Gesetzgeber oder untergesetzlichen Normgebern wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) oder der Bundesärztekammer erlassen werden (Muche-Borowski und Kopp 2015). Vom G-BA liegen die Mutterschafts- und die Krebsfrüherkennungsrichtlinie vor; die Bundesärztekammer hat Richtlinien zur assistierten Reproduktion und zur Transfusions- und Transplantationsmedizin veröffentlicht. Eine Verwechslung der beiden Begriffe begünstigt der amerikanische Sprachgebrauch: Hier wird der Begriff „guideline“ sowohl für Leitlinien als auch für Richtlinien verwendet. In der Amtssprache der EU wird hingegen nach Verbindlichkeit differenziert: • „guideline“ =,„Leitlinie“ • „directive“ = „Richtlinie“ Richtlinie Richtlinien („directives“) sind Regelungen des Handelns oder Unterlassens, die von einer rechtlich legitimierten Institution konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden. Sie sind für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich. Ihre Nichtbeachtung zieht definierte Sanktionen nach sich [Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), 1997]. ▶▶
Inwieweit Prinzipien der Leitlinienentwicklung auf die Formulierung von Richtlinien anwendbar sind, ist fraglich. Wie unterschiedlich die jeweiligen Vorgaben sein können, zeigte bis 2012 das Beispiel des Hyperglykämiescreenings in der Schwangerschaft. Während in der deutschen Mutterschafts-Richtlinie der Urintest zum Screening auf Gestationsdiabetes vorgegeben war, wurde dieser in keiner aktuellen Leitlinie mehr empfohlen. Im März 2012 wurde der leitliniengerechte Blutzuckertest zum Screening auf Gestationsdiabetes in die deutsche Mutterschafts-Richtlinie aufgenommen.
19.2 Leitlinienentwicklung Die obersten Gebote der evidenzbasierten Leitlinienentwicklung sind Systematik und Transparenz. Im nationalen und internationalen Kontext spielt neben der Methodentransparenz auch die Offenlegung von persönlichen Interessenskonflikten der an der Leitlinienentwicklung Beteiligten eine wichtige Rolle. Hinsichtlich Transparenz verlangt z. B. die NCCN eine sechsmonatliche Aktualisierung der Interessenskonflikte, die zusammen mit den Leitlinien veröffentlicht werden, und untersagt im Fall von Interessenskonflikten die weitere Beteiligung an der Entwicklung der jeweiligen Leitlinie. Auch die AWMF-Leitlinien enthalten im Methodikteil eine publizierte Übersicht der möglichen Interessenskonflikte der Leitlinienverfasser.
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Auf Systematik und im Vorhinein festgelegter Methodik basieren alle Schritte der Entwicklung von der Zusammensetzung der Panels über die Identifikation und Bewertung der Evidenz, Konsensfindung und Formulierung bis zur Implementierung (Übersicht „Zusammenfassung des Ablaufschemas der Leitlinienentwicklung“). Ein wichtiges Charakteristikum evidenzbasierter Leitlinien ist ihre befristete Gültigkeit und ihre turnusmäßige Revision. Hier gibt es eine gewisse Bandbreite: Die Gültigkeit der AWMF-Leitlinien ist auf fünf Jahre begrenzt. Die Leitlinienkommission der DGGG, SGGG und OEGGG hat ein flowchart zur Aktualisierung entwickelt, dass die Aktualisierung nach geringer Dringlichkeit und hoher Dringlichkeit gruppiert und eine entsprechende zeitnahe Aktualisierung vor Ablauf der eigentlichen 5-Jahres-Frist vorsieht und ermöglicht. Die NCCN sieht standardmäßig eine jährliche Sichtung der Evidenz ihrer onkologischen Leitlinien vor, mit ggf. erforderlicher Aktualisierung. Die WHO benennt keine spezifische Gültigkeitsdauer, sondern sichtet jährlich die Evidenz und empfiehlt eine Aktualisierung, sobald relevante neue Erkenntnisse identifiziert werden. Zusammenfassung des Ablaufschemas der Leitlinienentwicklung am Beispiel des WHO-Handbuchs für Leitlinienentwicklung
1. Identifizierung der relevanten Fragen und Ergebnisse 2. Suche der Evidenz 3. Beurteilung und Synthese der Evidenz 4. Formulierung der Empfehlungen 5. Planung der Verbreitung, Implementierung, Evaluierung und Aktualisierung
19.2.1 Initiative und Vorbereitung 19.2.1.1 Fragestellungen identifizieren und priorisieren Die klassische evidenzbasierte Medizin setzt sich mit einer spezifischen klinischen Frage einer individuellen Patientin auseinander. Im Vergleich dazu bieten Leitlinien Entscheidungshilfen für eine Vielzahl verwandter klinischer Fragestellungen und Patientengruppen. Die zu bearbeitenden Themen werden von den Fachgesellschaften bzw. Leitlinienherausgebern bestimmt. Die AWMF empfiehlt unter dem Stichwort „Logik“ die Anwendung klinischer Algorithmen zur Formulierung der Ausgangsfragen: Klinische Fragestellungen sollten in „endliche Schritte unter Verwendung von Wenn-dann-Bedingungen“ aufgegliedert werden und dabei sowohl typische als auch spezielle Patientengruppen berücksichtigen.
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19.2.1.2 Zusammensetzung von Leitliniengruppen Bei AWMF S3-, NCCN- und WHO-Leitlinien erfolgt eine interdisziplinäre Zusammensetzung der Leitliniengruppe mit Vertretern aller für das klinische Problem relevanten Fachgesellschaften, ggf. auch aus verschiedenen geographischen Regionen. Die Mitarbeit von Recherchespezialisten, Epidemiologen und eventuell auch Sozialpsychologen ist vorgesehen. Darüber hinaus werden mit Hinblick auf die Implementierung auch Patientenvertreter, Vertreter anderer Berufs- und Interessensgruppen, und im globalen Kontext auch Nichtregierungsorganisationen beteiligt. Über die fachliche Bereicherung hinaus erwartet man hiervon eine Verbesserung der allgemeinen Akzeptanz der Leitlinien. Bei der aktuellen WHO-Leitlinie zur „Betreuung einer normalen Geburt für eine positive Geburtserfahrung“, die für die weltweite Anwendung konzipiert wurde, gab es vier an der Entwicklung beteiligte Gruppen sowie eine fünfte mit Beobachterstatus. Das Rückgrat bildete der Lenkungsausschuss der WHO mit Vertretern der drei WHO-Abteilungen für Reproduktionsgesundheit und Forschung (RHR), für Mütter-, Neugeborenen-, Kinder- und Jugendlichengesundheit (MCA) und Familien-, Frauen- und Kindergesundheit (FWC). Dieser Lenkungsausschuss berief in die zweite Gruppe, die „Guideline Development Group“, 18 Experten aus den sechs WHO-Regionen. Für den späteren Peer Review wurden in eine dritte, die externe Review Group, sechs Experten berufen, die im Hinblick auf geographische Herkunft und Gender ausgewogen waren und keine relevanten Interessenskonflikte aufwiesen. Die vierte, die technische Arbeitsgruppe (Technical working group) bestand aus zwei Teams, eines aus der nördlichen (England) und eines aus der südlichen Hemisphäre (Argentinien). Die letzte und fünfte Gruppe, die lediglich Beobachterstatus hatte, bestand aus für die Veröffentlichung und Implementierung relevanten internationalen Partnern: Vertretern des Internationalen Verbands der Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO), der internationalen Vereinigung von Hebammen (IMC); des Royal College of Obstetricians and Gynaecology (RCOG) sowie des United Nations Population Fund (UNFPA) und des US-amerikanischen Amts für Internationale Entwicklung (USAID). Konkrete Handlungsempfehlungen sind das Ziel der Entwicklung einer Leitlinie. Hierfür müssen unterschiedliche Standpunkte, Diskrepanzen in der Datenlage und abweichende Positionen in der Gewichtung zu einem Konsens geführt werden. Zur Konsensusfindung stehen aus der Sozialpsychologie verschiedene wissenschaftlich begründete Formen zur Verfügung (Übersicht „Methoden der Konsensusfindung“). Die Art der Entscheidungsfindung muss vor Beginn der Gruppenarbeit festgelegt und in der Leitlinie beschrieben sein, um die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen zu gewährleisten (Koop 2010). Bei der S3-Leitlinie zum Mammakarzinom, die in ihrer aktuellen Form sowohl die Früherkennung als auch die Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms umfasst, wurde ein nominaler Gruppenprozess unter Leitung unabhängiger Moderatoren, bei der S2k-Leitlinie zu hypertensiven Schwangerschaftserkrankungen: Diagnostik und Therapie die Methode der Konsensuskonferenz gewählt.
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Methoden der Konsensusfindung
• Nominaler Gruppenprozess –– Gruppenentscheidungsprozess, bei dem zunächst von allen Teilnehmern schriftliche Antworten zu vorgegebenen Problemen verfasst werden –– Anschließend Veröffentlichung der Einzelmeinungen als anonyme Liste, Stellungnahmen aller Beteiligten nacheinander in einer Gesprächsrunde –– Gegebenenfalls mehrfache Wiederholung dieser Schritte • Delphi-Methode –– Interaktive Umfragemethode mit kontrolliertem Feedback und Befragung anonymisierter Experten –– Typisch sind mehrere Befragungsrunden mit zwischenzeitiger systematischer Zusammenfassung, Modifikation und Kritik der individuellen Meinungen • Konsensuskonferenz –– Offene Diskussion, z. B. in Arbeitsgruppen, nach ausführlicher Vorbereitung –– Versuch der Konsensfindung, anschließend offizielle Bekanntmachung, auch in Form einer Publikation in peer reviewed journals
19.2.2 Sichtung und Beurteilung der Evidenz 19.2.2.1 Literatursuche Vergleichbar der Literaturrecherche für systematische Übersichten erfordert die Evidenzsichtung auch für Leitlinien eine umfassende Suche nach Studien zu allen wesentlichen Fragestellungen, die in den klinischen Algorithmen formuliert werden, um eine unverzerrte Sicht zu gewährleisten. Im Gegensatz zur klassischen Leitlinienrunde, bei der die Protagonisten Studienmaterial eigener Wahl beitragen können, erfordern S3-Leitlinien eine Offenlegung der Quellen einschließlich einer elektronischen Suchstrategie. Hierfür empfiehlt es sich, Rechercheexperten hinzuzuziehen. 19.2.2.2 Bewertung der Evidenz und Einteilung der Evidenzgüte Die Hierarchisierung von Evidenz gehört zu den zentralen Kennzeichen einer evidenzbasierten Leitlinie. Hier hat über die Jahre eine deutliche Entwicklung stattgefunden. Inzwischen existieren mehrere Klassifikationssysteme nebeneinander. Ein typisches Beispiel einer Evidenzklassifikation der „1. Generation“ findet sich in Tab. 19.2 (McCormick und Fleming 1992). Die folgende Tab. 19.2 zeigt ein Beispiel einer Evidenzklassifikation.
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Tab. 19.2 Beispiel einer Evidenzklassifikation Stufe Evidenztyp Ia Wenigstens ein systematischer Review auf der Basis methodisch hochwertiger randomisierter, kontrollierter Studien (RCT) Ib Wenigstens ein ausreichend großer, methodisch hochwertiger RCT IIa Wenigstens eine hochwertige Studie ohne Randomisierung IIb Wenigstens eine hochwertige Studie eines anderen Typs quasiexperimenteller Studien III Mehr als eine methodisch hochwertige nichtexperimentelle Studie IV Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Autoritäten (aus klinischer Erfahrung); Expertenkommissionen; beschreibende Studien
Diese Einteilung bezieht sich auf die grundsätzliche Eignung eines Studiendesigns, durch Vermeidung systematischer Fehler (Bias) zu validen Ergebnissen zu kommen. Bei Fragen der Therapie oder Prävention ist die randomisierte klinische Studie diesbezüglich theoretisch das optimale Design. Für andere Fragestellungen gelten andere Kriterien. Daher ist das gezeigte Schema nicht ohne Weiteres auf Probleme der Diagnose, Prognose oder unerwünschten Wirkungen übertragbar. Auch bleibt unklar, wie Evidenz zu klassifizieren ist, wenn Studien wesentliche methodische Schwächen aufweisen oder mehrere Studien zur gleichen Fragestellung inkonsistente Ergebnisse zeigen (Heterogenität). Während die erste Version der Brustkrebsfrüherkennungs-Leitlinie noch eine ähnliche Klassifikation verwendete, nutzt die aktualisierte Version der Mammakarzinom-Leitlinie die wesentlich differenzierteren Empfehlungen des Oxford Centre for Evidence-based Medicine (CEBM). Diese berücksichtigen die Erfordernisse unterschiedlicher Fragestellungen, ermöglichen Abzüge bei methodischen Schwächen oder Heterogenität von Studienergebnissen und unterscheiden in ihrer aktuellen Version von 2009 zehn Evidenzgrade. Das ausführliche Schema findet sich auf www.cebm.net.
19.2.2.3 Stärke der Empfehlungen Einteilungen der Evidenzgüte beziehen sich auf die methodische Qualität der vorhandenen Evidenz. Die Stärke einer Empfehlung ist jedoch noch von weiteren Faktoren abhängig. Aus diesem Grund nehmen viele Leitlinienentwickler eine zusätzliche Klassifikation der Empfehlungsstärke vor. Die Klassifikation in Tab. 19.3 Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. wird häufig in Kombination mit der einfachen Klassifikation in Tab. 19.2 verwendet. Die folgende Tab. 19.3 zeigt die Klassifikation der American Society of Clinical Oncology. Unberücksichtigt bleiben dabei weiterhin die Stärke des Effektes, die Relevanz des untersuchten Endpunktes und die Abwägung von Wirksamkeit und möglichen Nebenwirkungen. Darüber hinaus sind die verfügbaren Ressourcen, ethische Überlegungen und die Praktikabilität und Anwendbarkeit im konkreten Umfeld als mögliche Einflussfaktoren denkbar (Werteebene).
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Tab. 19.3 Klassifikation der American Society of Clinical Oncology (ASCO). (Nach Desch et al. 1999) Grad Empfehlungsgrad A Evidenz der Güteklasse I oder konsistente Ergebnisse von vielen Studien der Klasse II, III oder IV B Evidenz der Güteklasse II, III oder IV mit weitgehend konsistenten Ergebnissen C Evidenz der Güteklasse II, III oder IV mit inkonsistenten Ergebnissen D Wenig oder keine systematische empirische Evidenz
19.2.3 Entscheidungsfindung und Formulierung der Leitlinien 19.2.3.1 Integration der Werteebene Die SIGN-Gruppe (Scottish Intercollegiate Guidelines Network) fasst die Aspekte, die bei der Formulierung von Leitlinien berücksichtigt werden müssen, wie folgt zusammen (Übersicht): In 2013 entschloss sich SIGN statt der bis dahin angewendeten ABCD-Klassifikation (Tab. 19.3) das GRADE-System (Abschn. 19.2.3.2) bei der Entwicklung von Leitlinien anzuwenden, welches auch bei der Entwicklung der WHO-Leitlinien zum Einsatz kommt. Relevante Aspekte der Leitlinienentwicklung (nach SIGN)
• • • •
Umfang, Qualität und Konsistenz der Evidenz Verallgemeinerbarkeit der Studienergebnisse Unmittelbarkeit des Bezugs auf die Zielgruppe der Leitlinie Klinische Wirkung – Ausmaß der Wirkung und der benötigten Ressourcen in der Zielgruppe • Durchführbarkeit – wie praktikabel ist die Umsetzung der Leitlinie im Kontext des jeweiligen Gesundheitssystems?
19.2.3.2 GRADE-System Um der Komplexität der Integration von methodischer Qualität, Effektstärke und Werteebene gerecht zu werden, bedarf es einer standardisierten Vorgehensweise, die die unterschiedlichen Aspekte berücksichtigt. Seit dem Jahr 2000 hat die internationale GRADE-Arbeitsgruppe (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) sich zur Aufgabe gemacht, die bisher nebeneinander existierenden Klassifikationen zu ordnen und weitere wichtige Aspekte wie Relevanz und Durchführbarkeit zu berücksichtigen (Atkins et al. 2005; Guyatt et al. 2008, 2011). Entwickelt wurden seither von der GRADE-Arbeitsgruppe drei wichtige Instrumente: 1. Das GRADE-System, das inzwischen von über 100 Organisationen weltweit, unter anderem von der WHO, der Cochrane Collaboration und des englischen National Institute for Health and Care Excellene (NICE), genutzt wird, ermög-
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licht eine Anpassung der Evidenzqualität an Qualität und Gesamtstudienlage unter Berücksichtigung der Werteebene in Bezug auf quantitative Evidenz. Auch hier wird die Evidenzqualität für eine Problemstellung grundsätzlich zunächst hoch klassifiziert, wenn RCTs vorliegen. Die Evidenz von Beobachtungsstudien wird als gering, sonstige Evidenzquellen werden als sehr gering klassifiziert. Zusätzlich sind Anpassungen je nach Studiengüte, Effektstärke und Umfang der Datenlage vorgesehen. So werden Abzüge erteilt für Fehler in Studiendesign und -ausführung, für Unsicherheiten in der Umsetzung und Übertragbarkeit der Ergebnisse und für inkonsistente Ergebnisse der betrachteten Studien. Umgekehrt führen ausgeprägte Effekte (sehr stark: RR >5,0 bzw. 2,0 oder 12 Monate) von der Kurzzeitmigration. Im räumlichen Kontext ist es wichtig, die internationale von der Binnenmigration zu unterscheiden. Während man unter der Binnenmigration die Wanderung innerhalb eines Staates versteht, bezeichnet die internationale Migration hingegen die räumliche Verlegung des Lebensmittelpunktes eines Menschen über die international anerkannten Staatsgrenzen hin-
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weg (DESTATIS 2021a, b). Obwohl der größte Anteil von weltweit migrierenden Menschen nicht über internationale Grenzen erfolgt, sondern innerhalb von Landesgrenzen, liegt der Fokus dieses Kapitels auf der internationalen Migration. Im Jahr 2020 waren nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 3,6 % der Weltbevölkerung internationale Migrantinnen und Migranten. Hierbei hatte sich im Vergleich zu 1990 die Anzahl fast als verdoppelt (von 150 Mio. auf 281 Mio.), wobei sich der prozentuale Anteil an der Weltbevölkerung relativ wenig verändert hat (von 2,9 auf 3,6 %) (McAuliffe und Triandafyllidou 2021). Unter den internationalen Migrantinnen und Migranten waren 48 % Frauen und fast drei Viertel im Arbeitsalter (d. h. zwischen 20 und 64 Jahren). Hauptzielregionen der Migration waren Europa und Asien, mit den europäischen Hauptzielländern Deutschland, Russische Föderation, England, Frankreich, Spanien und Italien (Mcauliffe und Triandafyllidou 2021). Beweggründe der internationalen Migration waren meist die Arbeitsmotivation mit der Sicherung des persönlichen und/oder familiären Lebensunterhaltes. So waren mehr als 40 % aller internationalen Migrantinnen und Migranten weltweit in Asien geboren, vor allem in Indien, China, aber auch Länder Südostasiens, wie Bangladesch, Pakistan oder Afghanistan. Weitere Ursachen der Migration waren neben Bildungsgründen auch politische, soziale und umweltbedingte Herausforderungen oder Konflikte. Hierbei leben die Migrantinnen und Migranten zumeist mit einer Aufenthaltserlaubnis im Land bzw. befinden sich im Prozess der Anerkennung. Diese Situation unterscheidet sich von jenen irregulären Migrantinnen und Migranten, die ohne Aufenthaltserlaubnis in einem Land leben, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen.
22.2 Internationale Migration in Deutschland In Deutschland lebten im Jahr 2020 21,9 Mio. Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund. Eine Person hat nach der in Deutschland gebräuchlichen Definition „einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde“ (DESTATIS 2021a, b). Bezogen auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland hatte also etwa ein Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. Etwa ein Drittel ist bereits in Deutschland geboren; zwei Drittel waren im Verlauf ihres Lebens nach Deutschland zugewandert. Hierbei stammten mehr als ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund aus Ländern der Europäischen Union (EU) und fast 30 % aus europäischen Staaten außerhalb der EU (wie z. B. der Türkei) und der Russischen Föderation (DESTATIS 2021a, b). Obwohl im Kontext von Migration oftmals von Menschen mit Fluchthintergrund gesprochen wird, waren zum Jahresende 2020 etwa 1,86 Mio. schutzsuchend. Damit waren lediglich etwa 9 % der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund (und etwa 2 % der Gesamtbevölkerung in Deutschland) als Schutzsuchende gemeldet. Von diesen hatten die meisten einen anerkannten Schutzstatus und mehr als 60 % kamen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Etwa ein Drittel der Schutzsuchenden war weiblich (DESTATIS 2021b).
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Dieser kritische Blick auf die Zahlen ist wichtig, um zu verdeutlichen, dass es sich bei Menschen mit Migrationshintergrund um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Diese kann einerseits spezifischen Gesundheitsrisiken ausgesetzt sein, aber andererseits auch über besondere gesundheitsrelevante Ressourcen, wie z. B. im Hinblick auf Ernährungsgewohnheiten oder Ablehnung von Substanzkonsum, verfügen (Lemmens et al. 2017). Auch migrieren oftmals jüngere, gesunde Menschen, die im Vergleich zur Bevölkerung des Ziellandes eine geringere Sterblichkeit aufweisen können (sog. „Healthy Migrant Effect“) (u. a. David und Razum 2019). Zu beachten ist jedoch auch, dass mit zunehmender Aufenthaltsdauer das Gesundheitsrisiko aufgrund einer lebensstilbedingten Akkulturation steigen kann (RKI 2020).
22.3 Einflussfaktoren auf die Gesundheit von Migrantinnen „rund um die Geburt“ in Deutschland – eine multiprofessionelle Perspektive Die meisten Professionellen im Bereich der Frauengesundheit können auf Erfahrungen beim Thema Migration „rund um die Geburt“ zurückgreifen. Im Folgenden werden Gedanken, Erfahrungen und Perspektiven der Autorinnen und des Autors dargestellt, die aus den Bereichen der Hebammenkunde, der Sozialen Arbeit und der Humanmedizin kommen. Strukturell betrachtet lassen sich laut der internationalen Organisation für Migration (IOM) vier Hauptbereiche identifizieren, die die Gesundheit von Migrantinnen und Migranten positiv oder negativ beeinflussen können (IOM 2019). Dies sind Einflüsse auf a) die individuelle Gesundheit von Migrantinnen („Migrant Health“) oder b) die Gesundheit der Gesamtbevölkerung durch Migration („Public Health“). Die weiteren zwei Bereiche sind Wirkungen auf die Gesundheit durch c) die nationale Gesundheitspolitik eines Landes bzw. d) die politische Antwort zwischen Staaten. In diesem Kapitel steht die individuelle Gesundheit von Migrantinnen „rund um die Geburt“ im Mittelpunkt, wobei Überschneidungen vor allem zum Bereich der nationalen Gesundheitspolitik erkennbar sind. Die individuelle Gesundheit von Migrantinnen „rund um die Geburt“ wird nicht erst im „Zielland“ beeinflusst, sondern bereits durch Einwirkungen der Migration auf das Individuum im gesamten Lebenslauf (vor, während, nach der Migration bzw. bei Rückkehr) (Spallek et al. 2011). Einflüsse im Heimatland (wie zum Beispiel Infektionskrankheiten wie die Tuberkulose, aber auch eine obst- oder gemüsereiche Ernährung) können positive oder negative Auswirkungen auf die Gesundheit im Zielland haben. Ebenso kann die Erfahrung während der Migration (wie zum Beispiel geschlechterspezifischer Gewalterfahrungen im Kontext von Flucht – und/oder irregulärer Migration) die psychische oder somatische Gesundheit beeinflussen. Im Zielland spielen individuelle Belastungen und Ressourcen, aber auch Unterschiede im Krankheitsverhalten eine zusätzliche Rolle, die auch generationsübergreifend berücksichtigt werden sollten (Spallek et al. 2011). So konnte die Berliner Perinatalstudie im Hinblick auf diese individuellen Faktoren zeigen, dass sich Unterschiede im Krankheits- bzw. Gesundheitsverhalten von Migrantinnen auch positiv auf die Schwangerschaft im
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Vergleich zur Bevölkerung des Ziellandes auswirken können. So zeigte sich unter anderem, dass sich Migrantinnen mit niedrigem Akkulturationsgrad in der Schwangerschaft im Hinblick auf den Zigarettenkonsum gesünder verhielten als Nichtmigrantinnen (David und Razum 2019). Mit Blick auf die Belastungs- oder Bewältigungsressourcen deuten Studien und Berichte aber auch darauf hin, dass sich gerade Frauen in der Migration in der Zeit der Schwangerschaft, Geburt und des Wochenbetts oftmals mit einer fehlenden Unterstützung durch die Familie konfrontiert sehen. Dies kann das Risiko für psychische Probleme erhöhen. Besonders hiervon belastet sind Frauen mit Fluchterfahrung, die ein größeres Risiko für perinatale oder postpartale Depressionen aufweisen (Tobin et al. 2019; zu Sayn-Wittgenstein et al. 2019). ▶▶
Wichtig Eine Generalisierung des Zusammenhangs Gesundheit von Migrantinnen „rund um die Geburt“ sollte vermieden werden, da die Gesundheit dieser heterogenen Gruppe durch ein komplexes Zusammenspiel von protektiven und schädigenden Faktoren beeinflusst wird.
Neben diesen individuellen Faktoren wird die Gesundheit von Migrantinnen in Deutschland jedoch auch – wie von der IOM beschrieben – durch die Bereiche des Gesundheitssystems ebenso wie durch die Integrations- und Gesundheitspolitik beeinflusst. Auch wenn Deutschland über ein hervorragendes Gesundheitssystems verfügt, können sich Migrantinnen während der Schwangerschaft und Geburt in Deutschland mit Unterschieden in der gesundheitlichen Versorgung im Vergleich zur Bevölkerung des Ziellandes konfrontiert sehen. Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung können sich angelehnt an Mielck und Hemmert unter anderem durch Unterschiede in der Krankenversicherung (bzw. Zusatzversicherungen), dem Aufenthaltsstatus, aber auch durch Unterschiede in der Arzt-Patienten- Kommunikation zeigen (Mielck und Hemmert 2016). Auch wenn die Studienlage nicht eindeutig ist, haben besonders Frauen im Asylverfahren oder in der irregulären Migration sehr wahrscheinlich ein höheres Risiko für ungünstige mütterliche Ergebnisparameter. Unter anderem berichteten Studien von einer höheren mütterlichen Morbidität unter Asylbewerberinnen (Gieles et al. 2019), einer geringeren Nutzung von Vorsorgeuntersuchungen während der Schwangerschaft bei Frauen in der irregulären Migration (David und Razum 2019; Eslier et al. 2020), einem höheren Risiko für Frühgeburten oder einem niedrigen Geburtsgewicht (Salmasi und Pieroni 2015). Als Ursache werden zum einen Unterschiede im Gesundheitssystem genannt (Bollini et al. 2009; El-Gamal und Hanefeld 2020). In Deutschland gehört hierzu beispielsweise ein eingeschränkter Zugang zu Gesundheitsleistungen für Asylbewerberinnen nach § 4 und § 6 Asylbewerberleistungsgesetz. Weiterhin bestehen Unterschiede im Hinblick auf das Gesundheitssystem, da Migrantinnen in Studien ein geringeres Wissen über vorhandene Strukturen bzw. eine niedrigere Gesundheitskompetenz zeigten (Quenzel et al. 2016). Zusätzlich sind Unterschiede im Zugang, aber auch der Inanspruchnahme aufgrund von Diskriminierungserfahrungen bzw. -risiken beschrieben (Bartig et al. 2021).
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Gerade Frauen im Kontext von Fluchterfahrungen stellen hierbei eine besonders vulnerable Gruppe dar. Dies soll im Folgenden anhand von zwei Fallbeispielen erläutert werden.
22.4 Herausforderungen schwangerer Frauen nach der Flucht Um die Herausforderungen schwangerer Frauen nach der Flucht zu verstehen und bei Schwierigkeiten gegebenenfalls intervenieren zu können, ist eine lebensweltnahe Betrachtung und kultursensible Herangehensweise erforderlich. Nachfolgend wird dies exemplarisch anhand von zwei Fallbeispielen aus der Praxis des Verfassers dargestellt. Hierbei wird sowohl die Situation von Frauen, die sich im Asylverfahren befinden, als auch von Frauen, die das Asylverfahren erfolgreich abgeschlossen haben, berücksichtigt. Fallbeispiel 1
Frau M. (28 Jahre alt) ist aus der Demokratischen Republik Kongo vor einer drohenden Zwangsheirat geflüchtet. Sie wurde gefangen gehalten und mehrfach sexuell missbraucht. Auch während der Flucht wurde Frau M. wiederkehrend Opfer sexualisierter Gewalt und war existenziellen Bedrohungen (Abhängigkeit von Menschenhändlern, Zwangsprostitution, Obdachlosigkeit etc.) ausgesetzt. In Deutschland wurde bei Frau M. unmittelbar nach ihrer Ankunft eine Schwangerschaft in der 10. Schwangerschaftswoche festgestellt, ebenso eine Infektion mit dem HI-Virus. Laut Angaben von Frau M. wäre beides auf eine der erlittenen Vergewaltigungen zurückzuführen. Frau M. zieht eine Interruptio in Erwägung und konsultiert den Sozialdienst der Erstaufnahmeeinrichtung. Frau M. ist aufgrund ihres ausländerrechtlichen Status nicht gesetzlich krankenversichert. Dadurch stellt die Anbindung an die Regelversorgung eine besondere Schwierigkeit dar, da zuvorderst entsprechende Kostenübernahmen vom Sozialamt geklärt und vorgelegt werden müssen. In der Folge wird Frau M. somit immer wieder dazu gezwungen, zu der Entstehung der Schwangerschaft Auskunft zu geben. Da sich zwischenzeitlich auch der psychische Zustand verschlechtert, erfolgt eine Anbindung an eine psychosoziale Beratungsstelle. Gegenüber dem Sozialarbeiter äußert Frau M., sie hätte mittlerweile das Gefühl, selbst eine Täterin zu sein. ◄ In Deutschland gibt es bisher kaum belastbare Zahlen zu ungewollten Schwangerschaften von geflüchteten Frauen als Folge sexualisierter Gewalt (Khan- Zvornicanin 2018; Ernst et al. 2017). Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass Frauen und Mädchen in ihrer Heimat und während der Flucht in besonderem Maße geschlechterspezifischer Gewalt ausgesetzt sind. Dies wird auch an dem dargestellten Fallbeispiel sichtbar und Professionelle sollten von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Daher ist es angezeigt, dieser Fallgruppe entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken.
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Eine Schwangerschaft im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt stellt eine extreme Form der Belastung für die betroffene Frau und alle weiteren Fallbeteiligten dar (Ernst et al. 2017). Die gynäkologische Versorgung kann daher nicht isoliert betrachtet werden, da die Behandlung der posttraumatischen Symptomatik ebenso notwendig erscheint und für den weiteren gynäkologischen Behandlungsverlauf von entscheidender Bedeutung ist. Ernst et al. beschreiben in ihrer Übersichtsarbeit zur Versorgungssituation gewaltbetroffener schwangerer Frauen mit Fluchthintergrund eine Konfliktlage, in der sich die Frauen befinden. Die Tatsache der „Nicht-Identifikation mit der Mutterrolle“ und dem gegenüberstehenden Gedanken des „Nicht-Töten-Wollen“ des Kindes treibt die Frauen in eine psychische Extremsituation. Dieser Aspekt wird auch anhand der geschilderten Fallvignette sichtbar. Darüber sollten sich Professionelle bewusst sein. Entscheidet sich die gewaltbetroffene Frau für die Fortsetzung der Schwangerschaft, stellen insbesondere die im Zuge der Schwangerschaft eintretenden körperlichen Veränderungen (Zunahme des Bauch- und Brustumfangs) sowie gynäkologische vaginale Untersuchungsmethoden entsprechende Trigger dar, die Flashbacks und Re-Traumatisierung provozieren können (ebd.). Zudem kompliziert der besondere ausländerrechtliche Status den Zugang zu medizinisch notwendigen Leistungen, diskriminiert diese Zielgruppe und kann, wie im Fallbeispiel dargestellt, zu einer zusätzlichen Traumatisierung führen (Lammers 2015). Demnach sollte eine traumasensibilisierte Herangehensweise innerhalb der Gynäkologie und Geburtshilfe, die in Zusammenarbeit mit psychosozialen Einrichtungen erfolgt, als Goldstandard zur gelingenden Versorgung verstanden und etabliert werden. Hinsichtlich der noch nicht vorhandenen niedrigschwelligen Zugangsmöglichkeiten sollten sich Fachverbände und Träger der freien Wohlfahrtspflege im Sinne einer patientenorientierten Arbeit parteiisch zeigen und für strukturelle Veränderungen innerhalb der Versorgungslandschaft geflüchteter Frauen eintreten. ▶▶
Wichtig Für Professionelle, die mit Frauen mit Fluchthintergrund zusammenarbeiten, ist es wichtig, sich multiprofessionell zu vernetzen, unter anderem mit Fachpersonal aus dem medizinischen, psychologischen, sozialen und juristischen Bereich, aber auch mit Vertreterinnen und Vertretern aus Communities ebenso wie Sprach- und Kulturmittlern.
Fallbeispiel 2
Frau T. (30 Jahre) aus Eritrea lebt seit 2015 in Deutschland. Ihr Asylantrag wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angenommen und ein Aufenthaltstitel wurde erteilt. Frau T. bezieht seither Leistungen vom örtlichen Jobcenter. Sie berichtet, dass das Erlernen der deutschen Sprache ihr schwerfalle, da sie in ihrer Heimat keine Möglichkeit gehabt habe, die Schule zu besuchen. Vor wenigen Monaten hat Frau T. entbunden und kommt nun mit einigen Briefen in die Beratungsstelle. Das Jobcenter hat sie unter Androhung von Sanktionen mehrfach dazu aufgefordert, Kindergeld als vorrangige Leis-
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tung bei der Familienkasse zu beantragen. Sie fühle sich mit dem Inhalt der Briefe überfordert und verstehe nicht, warum sie nun einen Antrag stellen müsse und was dies mit der Geburt ihres Kindes zu tun haben soll. Sie wäre zudem mit ihrem Kind überwiegend alleine, ihr Partner arbeite und soziale Kontakte bestünden nur eingeschränkt. Frau T. beschreibt Gefühle der Überforderung und Hilflosigkeit. In ihrer Heimat hätte sie als junge Mutter die Unterstützung ihrer Familie erfahren. Hier fühle sie sich alleine, was sie traurig stimme. Beim Einkaufen im örtlichen Supermarkt nehme sie zudem abfällige Blicke anderer wahr. Frau T. begründet dies damit, die Deutschen würden über sie denken, dass sie den Staat ausnutze, nicht arbeiten wolle und nur Kinder bekomme. Sie fühle sich zunehmend belasteter und habe an wenigen Dingen mehr Freude. ◄ Im oben beschriebenem Fallbeispiel wird sichtbar, dass Stressoren nach der Fluchtmigration und Schutzanerkennung nicht plötzlich verschwinden und soziale Integration nicht von allein geschieht (Schick 2019). Geflüchtete Frauen sind während oder nach der Schwangerschaft besonders anfällig, an Grenzen zu stoßen, da eine allumfassende Systemkenntnis selten gegeben ist. Zudem ist die hiesige Aufnahmegesellschaft nicht frei von Stereotypen und Rassismen. Allen voran bürokratische Hürden und die bestehende Intersektionalität (Frau, Migrantin, dunkelhäutig, kopftuchtragend etc.)1 mit damit einhergehenden Diskriminierungsgefühlen stellen Herausforderungen für diese Zielgruppe dar. Im Fallbeispiel versteht die Klientin nicht, dass aufgrund gesetzlicher Mitwirkungspflichten eine Antragstellung auf Leistungen bei vorrangigen Leistungsträgern – hier die Beantragung von Kindergeld bei der Familienkasse – beim Sozialleistungsbezug nach dem SGB II eine Pflicht (§ 12a SGB II) darstellt und bei Unterlassen als Folge Leistungen gekürzt oder gar ganz versagt werden können (§ 66 Abs.1 SGB I). Die Sicherung der Existenz in Eritrea erfolgt nach Aussage der Klientin durch die Familie und nicht durch staatliche Institutionen. Demnach scheint es nachvollziehbar, dass sich das hiesige System abstrakt und unverständlich anfühlt. Weiterhin erwähnt die Klientin im Beratungssetting, in ihrer Heimat habe sie in großfamilienähnlichen Strukturen gelebt, postmigrantisch lebe sie nun in einer Kleinfamilie. Der hier erfahrene Systemwechsel stellt insbesondere Mütter vor eine große Herausforderung, da in vielen Herkunftsländern im Rollenverständnis die Männer für die wirtschaftliche Absicherung zuständig sind, wohingegen die Frauen die gesunde Entwicklung der Kinder durch Versorgung und Betreuung sicherstellen. Allerdings fehlt hierzulande eben die bekannte und stabilisierende großfamilienähnliche Struktur und die Frauen sind bei dieser Aufgabe auf sich alleine gestellt (Abdallah-Steinkopff 2015). Die daraus resultierende Belastung kann zu depressiver Symptomatik führen, wie auch in dem Fallbeispiel ersichtlich wird. Ebenso werden Stereotypen und Diskriminierungsgefühle beschrieben, die einen exkludierenden Effekt nach sich zie Unter dem Begriff der Intersektionalität werden soziale Kategorien, wie z. B. Geschlecht, ethnischer Hintergrund, nationale Zugehörigkeit, nicht isoliert voneinander betrachtet, sondern die sich daraus ergebende soziale Benachteiligung in ihrer Wechselwirkung zueinander analysiert. 1
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hen. Diese lassen sich auch in anderen sozialen Strukturen finden, beispielsweise beim Arbeitsmarktzugang. So geben die Ergebnisse der im Rahmen des Citizen-Science-Projektes „Women‘s Science“ (Pallmann und Ziegler 2020) einen eindrucksvollen Einblick in die Situation von geflüchteten Frauen. Eine Teilnehmerin gab demnach an, der Angestellte des Arbeitsamtes hätte ihr gesagt, dass sie als verschleierte Frau gar nicht an ein Studium zu denken brauche. Die beschriebenen Problematiken (Bürokratie, veränderte Lebenswelt, Stereotypen und Rassismen) stellen für schwangere geflüchteten Frauen bzw. geflüchtete Frauen mit Kleinkindern erschwerende Faktoren hinsichtlich der sozialen Integration, auch nach positiv beendeten Asylverfahren, dar. ▶▶
Wichtig Bislang wird in der Forschung Frauen nach positiv beendeten Asylverfahren wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Professionelle sollten sich der Herausforderungen dieser Zielgruppe bewusst sein. Ebenso ist es von Nöten, die Schwierigkeiten empirisch genauer zu erfassen, um bedarfsgerecht interdisziplinär darauf reagieren zu können.
Die dargestellten Fallbeispiele verdeutlichen, dass es entscheidend ist, die Situation jeder Schwangeren, Gebärenden oder Wöchnerin individuell zu betrachten, um unterschiedliche Belastungsfaktoren und Bewältigungsressourcen zu verstehen. Abb. 22.1 stellt beispielhaft für die Hebammenversorgung vor, welche Fragen sich für Professionelle im Kontext „Migration rund um die Geburt“ zusätzlich ergeben können. Angelehnt an die bereits erwähnte lebenszyklische Epidemiologie nach Spallek et al. werden mögliche Einflussfaktoren im Lebensverlauf graphisch auszugsweise dargestellt (Spallek et al. 2011).
Migration in der ersten Generation Migration in der zweiten Generation Migration in der dritten Generation
Einflussfaktoren durch das Heimatland* („Primärmigrationsphase“, Spallek et al.)
Einflussfaktoren durch den Migrationsprozess („Migrationsphase“, Spallek et al.)
Einflussfaktoren im Ankunftsland ("Postmigrationsphase“, Spallek et al.)
1. Medizinische Versorgung
Migrationsgründe: aus eigenem wirtschaftlicher Antrieb zur familiären wirtschaftlichen Unterstützung Konflikt/ Umweltkatastrophen Einfluss Fremder (Verschleppung, falsche Versprechen) ….
Postmigrantischer Stress: Unterfüllte Erwartungen und/oder Enttäuschung über Mitmenschen, System oder Unterbringung Angst vor Abschiebung/ Rückwanderung Sprachbarriere und Gesundheitskompetenz … Akkulturationsprozess: Ausmaß des „Fremden und Neuen“ (gesellschaftlich, politisch, sozial, religiös,..) Unklare wirtschaftliche Situation und Zukunftschancen Fehlende Familie und Freunde Wo ist mein zu Hause? Wer bin ich? Woher komme ich?
ärztliche Versorgung traditionelle Medizin Versicherungssystem Impfempfehlungen 2. Ernährungslage 3. Politische Lage (Krieg, Folter,....) 4. Religionen/ Rituale/ FGM 5. Familiäre Verhältnisse 6. …. *hierunter wird der Ort verstanden, von dem die räumliche Verlegung des Lebensmittelpunktes erfolgt
Ereignisse im Rahmen der Flucht/ Migration Traumatische Erlebnisse z.B. Hunger, Durst, Bedrohung Zwangsprostitution zur Beschaffung der Fluchtkosten Sexualisierte oder geschlechtsspezifische Gewalt Betrug ….
Mögliche Folgen: 1. Chronische Erkrankungen, nicht oder schlecht ausgeheilte Verletzungen 2. Rachitis, Unterernährung 3. Psychische Beeinträchtigung, Traumatisierung, Angstzuständ, etc. 4. FGM, Gefährdung durch z.B. Voodo/Juju, …. 5. Verwandten-Ehen
….
Mögliche Folgen: Ungleichheit bei der Gesundheitsversorgung Psychische Beeinträchtigung, Traumatisierung, Flash Back, Angstzustände, Misstrauen, etc. Transgenerationale Traumata Ungesunde Lebensweise durch falsche Ernährung, Substanzabusus (Alkohol, Drogen, etc.) ……
Abb. 22.1 Erweiterte Anamnese zur Erhebung von Einflussfaktoren auf die Gesundheit von Migrantinnen. Modifiziert nach dem Lebenslaufmodell von Spallek et al. (2011) zur Unterstützung in der Hebammenversorgung
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22.5 Kommunikation „rund um die Geburt“ Zusätzlich zu den bisher beschriebenen Einflussfaktoren „rund um die Geburt“ soll noch einmal explizit auf die Bedeutung der Kommunikation eingegangen werden. Internationale Studien berichten, dass Sprachbarrieren zu negativen geburtshilflichen Ergebnissen führen. Genannt werden hierbei unter anderem ein höheres Risiko für Kaiserschnittentbindungen, aber auch Verlegungen der Neugeborenen auf Wochenbettstationen etc. (Almeida et al. 2013; Bastola et al. 2020). Die Berliner Perinatalstudie konnte für die innerhalb der Studie eingeschlossenen drei Krankenhäuser in Berlin allerdings keine erhöhte Kaiserschnittrate bei Migrantinnen bestätigen (David und Razum 2019). Es zeigte sich, dass Migrantinnen bei geringen deutschen Sprachkenntnissen „sogar ein insgesamt geringeres Risiko für beide Arten von Kaiserschnitten, insbesondere für den elektiven Kaiserschnitt“ hatten“ (David et al. 2015). Wie können diese Unterschiede erklärt werden? Aus Erfahrungen der Autorinnen und des Autors stellen Sprachbarrieren sowohl für die Schwangeren oder Wöchnerinnen als auch die Professionellen eine große Herausforderung dar. Ob vorhandene Sprachbarrieren mit negativen Auswirkungen für Migrantinnen einhergehen, hängt aktuell vor allem davon ab, wie Institutionen und Professionelle im Gesundheits- und Sozialwesen mit diesen umgehen. Da bisher in Deutschland keine bundeseinheitlich geregelte Kostenübernahme oder Organisation von Leistungen zur Überwindung von Sprachbarrieren innerhalb der Regelversorgung vorgesehen ist, hängt der Umgang mit Sprachbarrieren von Lösungsstrategien auf der Mikro-Ebene (z. B. des Individuums), Meso-Ebene (z. B. der Institution) oder der Makro-Ebene (z. B. Bundesland oder Bundesebene) ab. Gerade auf der Ebene des Individuums wird immer wieder auf die sogenannten ad-hoc Sprachmittler zurückgegriffen. Hierunter versteht man Personen, die spontan übersetzen, da sie sowohl die Sprache des Anbieters (z. B. Arzt oder Ärztin) und die des Nutzers (Patienten bzw. Klienten) sprechen. Es kann sich beispielsweise um Familienangehörige oder andere Professionelle in der Institution handeln, aber diese Personen sind meist nicht für die Aufgabe vorbereitet, haben keine entsprechende Ausbildung und es liegen im Vergleich zur professionellen Sprachmittlung keine Standards vor. Infolgedessen kann die Qualität der medizinischen Behandlung ungünstig beeinflusst werden, ebenso wie die Zufriedenheit mit der Arzt-Patienten-Kommunikation (Wasserman et al. 2014; Boylen et al. 2020). Sprachbarrieren können Unsicherheiten auf beiden Zeiten hervorrufen. Gerade auf Seiten der Patientinnen oder Klientinnen führen diese teilweise zu Ängsten oder Frustration. Vor dem Hintergrund dieser Probleme greifen Institutionen (Krankenhäuser, soziale Institution im Gesundheitswesen) zunehmend auf geschulte Dolmetscher entweder in Präsenz, per Telefon oder mittels Videos zurück. Auch bieten Institutionen, wie z. B. die Charité, die an der o. g. Berliner Perinatalstudie teilnahm, Fortbildungsreihen zum Thema interkulturelle und interprofessionelle Kompetenz an, wo u. a. der Umgang mit Sprachbarrieren bzw. die Arbeit mit professionellen Dolmetscherinnen und Dolmetschern behandelt wird. Hierbei übernehmen entweder die Institutionen selbst die Kosten bzw. kooperieren teilweise mit Städ-
22 Gesundheit in der Migration: Einflussfaktoren „rund um die Geburt“ in Deutschland 319
ten bzw. Kommunen (Meso- oder Makro-Ebene), die auf Antrag eine Kostenübernahme gewähren. Leider lassen sich diese Unterstützungsangebote zur Überwindung von Sprachbarrieren nicht immer einfach identifizieren. Aus diesem Grund sollten sich Professionelle im Gesundheits- oder Sozialwesen, die mit Migrantinnen arbeiten, darüber informieren, • inwieweit eine Institution Zugang zu professionellen Sprachmittlern ermöglicht, • welche Angebote zur Sprachmittlung auf der Ebene der Kommune oder des Landkreises existieren (Ansprechpartner der lokalen Gesundheits- oder Sozialämter stellen hier oftmals wichtige Informationen zur Verfügung), • ob es Unterstützungsangebote von lokalen Organisationen von Migrantinnen oder Migranten gibt, • welche anerkannten Informationsplattformen zum entsprechenden Themenbereich von anderen Organisationen oder Strukturen (wie beispielsweise das Webportal Zanzu2 der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung/BZgA) vorhanden sind.
22.6 Zusammenfassung • Migrantinnen „rund um die Geburt“ stellen eine sehr diverse, heterogene Gruppe in unterschiedlichen Lebenslagen dar. • Professionelle im Gesundheits- und Sozialwesen, die mit Migrantinnen arbeiten, sollten sich der unterschiedlichen Belastungsfaktoren/ postmigrantischen Stressoren und Bewältigungsressourcen bewusst sein und interdisziplinäre Netzwerke aufbauen. • Einflussfaktoren auf die Gesundheit in der kritischen Lebensphase „rund um die Geburt“ sollten individuell analysiert werden, um partizipativ Lösungsansätze zu erarbeiten. Antworten auf die Eingangsfragen
1. B. ca. 4–5 % (3.6 % nach McAuliffe und Triandafyllidou 2021) 2. B. Arbeitsmigration 3. C. ca. 25 %
Information zum Webportal Zanzu der BZgA: „Das Webportal zanzu.de gibt in 13 Sprachen einfache Erklärungen zu den Themenfeldern Körperwissen, Schwangerschaft und Geburt, Verhütung, HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen. Zudem erklärt es die Rechte und Gesetze in Deutschland. Das Portal richtet sich an erster Linie an Multiplikatoren und Multiplikatorinnen (Ärzte und Ärztinnen, Beratungseinrichtungen), die mit verschiedenen Migrantengruppen arbeiten. Das Portal kann auch von erwachsenen Migranten und Migrantinnen selbst genutzt werden, die hier qualitätsgesichert, wissenschaftsbasierte und neutrale Informationen rund um ein sensibles Thema finden.“ (https://shop.bzga.de/zanzu-infoflyer-nr-2-englisch-70930003/. Letzter Zugriff: 31.03.2022) 2
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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2
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Stichwortverzeichnis
A Acquired Immunodeficiency Syndrome 128 ACT 115 Acute Fatty Liver of Pregnancy 180 Aedes aegypti 119 AGREE II 270 Agroforst 23 AIDS 246 AIDS-Station 246 Albert Schweitzer 11 Algorithmus klinischer 264 Allianz für Entwicklung und Klima 24 Anämie 114 bedrohliche 282 Anti-HER2-Therapie 237 Armut 183 ART 128 Artemisinin-Kombinationspräparat 115 Arzt-Patienten-Kommunikation 318 Asylbewerberleistungsgesetz 313 Asylverfahren 313 Ausbeutung 5 Auskultation kindlichen Herztöne 144 Austrittsphase aktive 145 Awareness Creation 232 B Baobab 176 Bauhaus der Erde 24 Beckenendlage Sectio 192 betterSoil e.V. 23 Binnenmigration 310 Biosimilars 237
Blutdruckmanschette 175, 183 Blutung nach der Geburt 97 postpartale 100 Boden 19 Bodenverlust 20 Bonding 211 Bourouwel 296 Breast Health Initiative 2.5 234 Bundeswehr 4 Burkina Faso 5, 183, 246 Bürokratie 280 C Care-Ethik 89 CD4-T-Helferzellen 125 Checkliste Operationssaal 199 Chemotherapie Nutzen 237 CHR Dori 183 Community Health Workers 222 Corona Kollateralschaden 9 Corona-Pandemie 9 COVID-19 124 Covid-19-Impfung 133 COVID-19-Pandemie 67 D Deutsches Leitlinien-Bewertungsinstrument (DELBI) 270 Dammriss 161 Naht 166 Dammverletzung 164 Defibulation 296, 301–303
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 J. Wacker et al. (Hrsg.), Globale Frauengesundheit, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66081-2
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334 Delphi-Methode 266 Depot-Gestagene 37 Depression postpartale 313 Determinanten der Gesundheit 91 Disziplin 283 Dorfhebamme 296 Dry Sex 127 Dye-Test 163 Dyspnoe 251 E Ehrfurcht vor dem Leben 11 Einkommensverteilung 21 Eins-zu-eins-Betreuung 142 Eklampsie 100 Emanzipation 86 Emissionen 18 Empfehlungsgrad 267 Energieverbrauch 20 Entscheidungsfindung Ärzte und Patientinnen 262 ärztliche 260 Entscheidungsträger Gesundheits-und Finanzsektor 262 Entwicklung nachhaltige 18 Entwicklungsdienst 3, 211 Entwicklungshelfer 248 Entwicklungszusammenarbeit 7 Epidemiologie lebenszyklische 317 Erderwärmung 24 Erkrankung hypertensive 97, 102 Ernährung 16 Ernährungsunsicherheit 50–52 Ethnomedizin 84 Evidenz Klassifikation 266 Evidenzbasierte Medizin (EbM) Empfehlungsgrad 267 Leitlinie 266 F Fachgesellschaft medizinische 262 Faktor Mensch 283 Familienplanung 92 natürliche 32 Faszie Verschluss 194 FGM 89, 293, 297, 301
Stichwortverzeichnis FGM 294–297, 300–302, 304–307 FGM/C 150 Fieber 247, 248, 252 Finalphase 250 Fistel genitale 210 vesicovaginale 163, 167 Prävention 169 Fistelbildung 150 Fistelchirurgie 168 Fistelklinik 163 Flucht 312 Frank Johann Peter 4 Frauen 44–54, 56, 57 Freihandel 5 Friedenskämpfer 9 Fruchtwasser Sectio 189, 193 Früherkennung 231 Frühgeburt 115 Frühgeburtlichkeit 105 G Gambia 149 GAVI-Alliance 223 Gebärposition aufrechte 140 Gebäudesektor 20 Geburt 86 Geburtenkontrollkette 33 Geburtsbegleitung 139 Geburtshilfe respektvolle 139 Geburtshilfliche Einrichtung Zugang 102 Geburtsposition der Mutter 158 Geburtsstillstand 143, 169 Geburtsverlauf protrahierter 159, 169 Geburtsverletzung iatrogene 159 Klassifikation 159 Naht 165 Prävention 169 Sphincter 165, 166 Geburtsvorbereitung physiologische 209 Gender-Mainstreaming 45, 56 Genitalverstümmelung 78, 79 weibliche 210 Gerechtigkeit globale 241 Geschlechtsverkehr 85
Stichwortverzeichnis Gesetz der Natur 212 Gesetzgeber 263 Gestagen-Implantat 36 Gesundheit 19 global 8 kindliche 146 mütterliche 146 weltweiter Kontext 10 Gesundheitsformel 64 Gesundheitskompetenz 313 Gesundheitspersonal einheimisches 151 Gesundheitspolitik 4 Gesundheitspolitische Bedeutung 260 Gesundheitsversorgung 277 evidenzbasierte Empfehlungsgrad 267 Leitlinie 266 Gishiri-Schnitt 210 Gleichberechtigung 40 Global Breast Cancer Initiative 218 Global Health Commission 278 Globale Frauengesundheit Definition 10 Ideen 10 GRADE-Arbeitsgruppe (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) 268 GREAT Network (Guideline-driven, Research priorities, Evidence synthesis, Application of evidence, and Transfer of Knowledge) 270 Gruppenprozess nominaler 266 Gute religiöse Praxis 72, 73 H Harmonized Guidelines für Subsaharan Africa (SSA) 261 Harndermatitis 163 Haushaltmethode direkte 98 Health Literacy 222 Healthy Migrant Effect 312 Hebamme 183 Hebammenarbeit 138 Hebammenausbildung 103 HELLP-Syndrom 180 Herzkrankheit koronare 183 Hilfe humanitäre 149 Hilfe zur Selbsthilfe 7
335 Hippokratischer Eid 284 Hitze 47–49, 54 HIV/AIDS 124, 222 HIV-Postexpositionsprophylaxe 130 HIV-Präexpositionsprophylaxe 129 HIV-Prävention 129 Holz 24 Hormonrezeptor 234 Hormonspirale 36 Hospiz Arbeit 249 Bewegung 249 HPV 219 Humus 22 Hyperreflexie 178 I Immunhistochemie 234 Immunisierungsprogramm 150 Impfprogramm 150 Implementierung flächendeckende 269 Indikator 98 Industrialisierung 16 Industrieland 5 Infertilität 87 Initiation 85 Initiationsritus 295, 296 intermittent preventive treatment in pregnancy 116 Interruptio 31 Investitionskosten 238 In-Vitro-Fertilisation 87 IPTp 116 J Jaspers, Karl 206 Joel-Cohen, Schnitttechnik nach 189 Jungfräulichkeit Erhalt 295 K Kaiserschnitt 152 Kaiserschnittrate 102 Kaposi-Sarkom 247 Kehrer, Ferdinand 189 Klimaschutz 18, 23 Klimawandel 10, 43, 44, 46, 51, 56, 57, 63 Kohlenstoffspeicher 22 Kompost 23 Kondom 129 Konsensusfindung 265
336 Konsensuskonferenz 266 Kontrazeptiva 91 lang wirksame reversible 34 orale 38 Konvulsionen 178 Krankheit sexuell übertragbare 39 Krebsbehandlung 223 Krebserkrankung 216 Krebsprävention 221 Krebsregister 216 Kübler-Ross, Elisabeth 250 Kupfer-Intrauterinpessar 35 L Laktationsamenorrhö 33 Landwirtschaft 17 Leboyer, Frédérick 206 Leitlinie Empfehlungsgrad 267 Evidenz 266 Gütekriterien 271 Leitlinienkommission 265 länderübergreifende 261 Lernen voneinander 211 Literaturrecherche Leitlinienentwicklung 266 Löwenmensch 16 Lymphknoten axillärer 235 M Magnesiumsulfat 182 Malaria 112 Malaria tropica 248 Malariaprävention Schwangerschaft 116 Malariaschnelltest 115 Mali 4 Mammakarzinom 219 BET 235, 238 Chemotherapie 237 endokrine Therapie 236 Fernmetatstasierung 232 genetische Ursachen 231 Leitlinie zur Brustkrebsfrüherkennung 267 Lymphknotenstatus 232 Radiatio 235 Rezidiv 238 Risikofaktoren 231 Screening 231 Tamoxifen 236
Stichwortverzeichnis Mastektomie modifizierte radikale 236 Maternal Mortality 96 Maternal Mortality Ratio 98 Medicinische Polizey 4 Medizin traditionelle 223 transkulturelle 207 men having sex with men 126 Menschenrechte 90 Migrant Health 312 Migrantin irreguläre 311 Migration internationale 311 Kurzzeit 310 Migrationshintergrund 311 Mikrobizid 129 Mikrozephalie 120 Minderheiten sexuelle und geschlechtliche 56, 57 Misgav-Ladach-Methode 188 Misgav-Ladach-Sectio 188 Durchführung 188 Nahttechniken 192 Outcome 195 Uterotomie 191 Morbidität und Mortalität mütterliche 142 Mortalität 28 Mother-baby Package 99 Munro-Kerr, John Martin Schnitttechnik nach 189 Mutter-Kind-Beziehung 206 Müttersterbefälle 96 Müttersterblichkeit 29, 87, 96–100, 102, 103, 105 Europa 100 globale 101 Hauptursachen 97 Müttersterblichkeitsrate globale 96 N Nachbesprechung Geburt 141 Nachhaltigkeit 7 Nachhaltigkeitsziel 64, 68 Nahttechnik einschichtig 193 National Cancer Comprehensive Network 234 neglected tropical diseases 117 Neoadjuvante Therapie 237 Nestschutz 133
Stichwortverzeichnis Netzwerk Afrikanischer Krebsregister 217 NGO 151 Normgeber untergesetzlicher 263 Notfallkontrazeption 39 Notfallversorgung geburtshilfliche 100 NTD 117 O Obstetrics unplugged 10 Opioiddosierung 251 Osteopenie 37 P Palliativmedizin 248 Pandemie 124 Pap-Abstrich 219 Partikularismus 89 Partogramm 143, 169 Pathologie in LMICs 234 Pathologie-Paket 234 Patientensicherheit 284 Perinatalperiode 210 Peritoneum Naht 193 Pfannenstiel, Johannes Schnitttechnik nach 189 Pflegeheim 255 Pinard-Hörrohr 145 Plasmodium (P.) falciparum 113 Post-partum IUP 35 Präeklampsie 173–180, 182, 183 Praktisches Jahr 281 Prävention 218, 240 Praziquantel 118 PrEP 129 Preservativ 38 Proteinurie 177 Q Qualitätsmanagement 280 Qualitätsverbesserung 278 klinische Praxis und Forschung 261 Quality of Care network 104 Quotient sFlt-1/PIGF 178, 180 R Radiotherapiegeräte Mangel 238
337 Rassismus 317 Recht sexuelles und reproduktives 32 Reinheit 295 Re-Kolonisierung 2 Renin-Angiotensin-Aldosteron-System 176 Ressourcenlevel 234 Ressourcenverteilung ungleiche 241 Riboflavin 176 Risikofaktoren 217, 221 modifizierbare 231 nicht modifizierbare 231 Risikoidentifizierung 99 Ritual althergebrachtes 211 S Sahel 3 SARS-CoV2 131 Saunders, Cicely 248, 256 Schistosoma haematobium 296, 297 Schistosomiasis 116, 296 urogenitale 118 Schlaganfall 183 Schmerztherapie 252 Schnittführung 190 Schutzsuchende 311 Schwangerenvorsorge 100, 102 Schwangerschaft Vorsorge 183 Schwangerschaftsabbruch 100 Schwangerschaftsprolongation 179 Schweitzer, Albert 256 Schwester-Methode 97 Screening-Programm 218 Sectio Folgeschwangerschaft 191 Misgav-Ladach 188 Sectio caeasarea Misgav-Ladach-Methode 206 schwierige Kindesentwicklung 196 Sectio caesarea 188 see and treat 223 Sex Workers 126 (S.) haematobium 116 Sicherheit 238 SIGN-Gruppe (Scottish Intercollegiate Guidelines Network) 268 Sozial-und Kulturanthropologie 84 Sozialethik 84 Sprachbarriere 318 Sterilisation weibliche 38
338 Stillen Renaissance 211 Strahlentherapie 224 Stress oxydativer 177 Sub-Sahara Afrika 113 survivors unlucky 159 Sustainable Development Goal (SDG) 18, 102 Symphysenruptur 159 Symptomlinderung 239 Systematik 263 Systemtherapie 239 T Tabu 86 Tamoxifen Verfügbarkeit 237 Therapie antiretrovirale 128 Therapiekosten 239 Therapieziel 239 Todesfall mütterlicher 211 Totgeburt 105 Tradition 296 Traditional Birth Attendants (TBA) 87, 153, 183 Transparenz 263 Trauma geburtshilfliches 159 Treatment as Prevention 129 Trendelenburg-Position 189 Trickle-down-Effekt 7 Tropenkrankheit 112 vernachlässigte 117 Tumor komplette Entfernung 235 U Ukraine 9 Angriffskrieg 9 Umwelt gebaute 24
Stichwortverzeichnis Unabhängigkeit 6 Ungleichheit 16 Universalismus 89 Unterernährung 177 Unterschied globaler 230 regionaler 240 Urapidil 182 Ursache 97, 104 Uterus Sectio, Technik nach Misgav-Ladach 191 V Vernix caseosa 209 Verursacherprinzip 21 Virchow 4 W Wasserunsicherheit 53 Weibliche Genitalverstümmlung (FGM) 85 Weltbevölkerung 24 Weltbevölkerungskonferenz 91 Weltgesundheitsorganisation 140 Weltwirtschaft 21 WHO 88 WHO Safe Childbirth Checklist 145 Wirksamkeit kontrazeptive 32 Wissenstransfer 151 Wohlstand 21 World Health Summit 64, 65 Z Zervixkarzinom 218 Ziel politisches 240 Zielgruppen frühe Einbeziehung 260 Zikavirus (ZIKV) 119 Zivilgesellschaft gobale 72 Zwillingsgeburt 99